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Handbuch
Medien und
Geschlecht
Perspektiven und Befunde der
feministischen Kommunikations-
und Medienforschung
Handbuch Medien und Geschlecht
Johanna Dorer • Brigitte Geiger •
Brigitte Hipfl • Viktorija Ratković
Hrsg.
Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
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Ein Handbuch Medien und Geschlecht ist ein essentielles Werk im Bereich der
Kommunikationswissenschaft. Es hat seinen festen Platz im Fach selbst und strahlt
auch in die Nachbardisziplinen aus. Das war nicht immer so, und allein dieser
Sachverhalt gibt zu denken und ist zu würdigen. Die Geschichte der kommunikati-
ons- und medienwissenschaftlichen Geschlechterforschung begann in den 1970er-
Jahren, angeregt von politischen Analysen der Frauenbewegung und kritischen
Selbstreflexionen der Gesellschaftswissenschaften selbst und damit auch im Fach-
gebiet der Publizistik-, Kommunikations- und Medienwissenschaft. Sie setzte sich
fort in Kämpfen um akademische Anerkennung und um akademische Positionen.
Sie war getragen von Theorieentwicklungen, methodologischen und erkenntnistheo-
retischen Diskursen und von empirischer Forschung, die völlig neue Fragen stellten,
zum Teil auch neue Methoden anwandten, aufregende neue Befunde hervorbrachten
und letztlich fruchtbringend auch in den Mainstream des Faches Eingang fanden.
Nicht, dass diese Position der feministischen Kommunikations- und Medienfor-
schung auf ewig gesichert wäre, aber eine beachtliche Etablierung lässt sich kon-
statieren, zugleich aber auch eine frische, innovative Offenheit für Neuentwick-
lungen und Selbstreflexionen.
Es ist dies nicht der erste Sammelband, der einen Überblick zu Medien und
Geschlecht liefert. Wenn man vergleichbare Publikationen über die Jahre betrachtet,
wird uns die historische Entwicklung unserer Mediengesellschaft vor Augen ge-
führt, der unfassbar dynamische soziale Wandel, der Druck der Transformations-
prozesse, in denen wir uns befinden. Mit dieser Dynamik eng verbunden vollzieht
sich die Entwicklung des Faches in seinem Gegenstandsverständnis, seiner Metho-
dologie und Theorienbildung. Vor allem die Dimensionen und Formen der Media-
tisierung und Digitalisierung schlagen allerorten und vielfältig zu Buche. Um hier
nur einige wenige Aspekte zu nennen: Social Media haben die alten Grenzen von
Privatheit und Öffentlichkeit durcheinander gewirbelt; Mediatisierung lässt uns
Körperlichkeit neu betrachten; die Aneignung digitaler Techniken schlägt sich in
neuen Alltagspraktiken und Vergnügungen nieder; Gewaltverhältnisse physischer
wie kommunikativer Art werden neu und, wie ich finde, umfassender und mutiger
betrachtet; die Übergangszonen zu benachbarten Forschungsfeldern und Disziplinen
werden ausgeschöpft, etwa in der Kreation neuer Ansätze wie Intersektionalität;
V
VI Vorwort
Irene Neverla
Inhaltsverzeichnis
VII
VIII Inhaltsverzeichnis
XIII
XIV Autor*innenverzeichnis
Zusammenfassung
In der Kommunikations- und Medienwissenschaft hat sich in den letzten 30
Jahren ein feministisches Forschungsfeld entwickelt, das in seiner gesamten
Breite kaum mehr überblickt werden kann. Ziel des Handbuchs Medien und
Geschlecht ist es, die vielfältigen theoretischen Ansätze und Zugänge sowie
Studien der feministischen Kommunikations- und Medienforschung – mit
Schwerpunkt deutschsprachiger Raum – zu systematisieren und überblicksartig
zusammenzufassen. Die Beiträge des Handbuchs verstehen sich als Einstieg in
die jeweilige Thematik mit umfangreicher weiterführender Literatur, um das
Fachgebiet rasch weiter erschließen zu können.
Schlüsselwörter
Feministische Kommunikations- und Medienwissenschaft ·
Kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung · Gender
Media Studies
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 1
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_85
2 J. Dorer et al.
1
Angerer und Dorer 1994; Fröhlich und Holtz-Bacha 1995; Klaus 1998; Klaus et al. 2001; Dorer
und Geiger 2002; Lünenborg und Maier 2013; Peters und Seier 2016; Thomas und Wischermann
2020, für den englischsprachigen Raum: van Zoonen 1994; Dines und Humez 1995; Ross
et al. 2020.
2
Fröhlich und Holtz-Bacha 1993; Klaus und Reiterer 2021.
Medien und Geschlecht. Einleitung 3
Geiger hat ihre Erfahrungen und ihr Wissen sowohl aus der feministischen Praxis als
auch der feministischen Lehre und Forschung eingebracht. Als Gründungsmitglied
des feministischen Dokumentationsarchivs STICHWORT. Archiv der Frauen- und
Lesbenbewegung. Bibliothek, Dokumentation, Multimedia in Wien (gegründet 1982)
und durch ihre über 30-jährige Lehr- und Forschungstätigkeit als externe Universitäts-
lektorin an den kommunikations- und medienwissenschaftlichen Instituten der Uni-
versitäten Wien, Salzburg und Klagenfurt verfügt sie über ein enorm breites, für das
Handbuch unverzichtbares Detailwissen zu unterschiedlichen Aspekten der Frauen-
bewegung und feministischer Medienforschung. Viktorija Ratković, feministische
Forscherin am Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung der Universität
Klagenfurt, hat die Diskussionen mit ihrem intersektionalen und dekolonialen Blick-
winkel bereichert und aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur nachfolgenden Generation
feministischer Forscherinnen den intergenerationalen Dialog beflügelt und damit
wichtige Anregungen in das Handbuch einfließen lassen. Ebenfalls an der Universität
Klagenfurt hat Brigitte Hipfl am Institut für Medien- und Kommunikationswissen-
schaft seit Mitte der 1980er-Jahre in Forschung und Lehre den Zusammenhang von
Kommunikation, Kultur und Geschlecht bearbeitet. In diesem Zeitraum war sie bis
2019 auch Mitglied der Gremien, die sich für ein universitätsweites Angebot an
Lehrveranstaltungen zu feministischer Wissenschaft und Gender Studies und für die
Einbindung externer Expert:innen3 einsetzen. Johanna Dorer engagierte sich bereits
Anfang der 1990er-Jahre in der feministischen Medienforschung und initiierte am
Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien den
Aufbau eines feministischen Forschungsschwerpunkts inklusive Betreuung feministi-
scher Abschlussarbeiten sowie die Implementierung von Lehrveranstaltungen und
Modulen zur feministischen Medienforschung im Studienplan.4 Zahlreiche externe
Universitätslektorinnen und etliche Gastprofessorinnen brachten Geschlechter-Wissen
und innovative Ansätze in die feministische Lehre ein.
Ein so umfangreiches Projekt kann nur mit Unterstützung vieler realisiert werden.
Unser großer Dank gilt zunächst und vor allem all unseren geduldigen und
engagierten Beiträger:innen, ohne die dieses Werk nicht hätte zustande kommen
können. Darüber hinaus haben uns viele mit Austausch und Anregungen zu ver-
schiedenen Aspekten des Handbuchs unterstützt: Besonders bedanken möchten wir
uns bei Monika Bernold, Regina Köpl, Matthias Marschik, Irmtraud Voglmayr und
für wertvolle Beiträge in der Konzeptionsphase des Handbuchs bei unseren Salz-
burger Kolleginnen Ricarda Drüeke, Martina Thiele5 und insbesondere Elisabeth
Klaus.
3
Wie z. B. Fulbright-Gastprofessor:innen mit Gender-Schwerpunkt aus den USA.
4
Unterstützt und gefördert haben die Umsetzung der damalige Institutsvorstands Prof. Wolfgang
R. Langenbucher und der Studienprogrammleiter Ass.Prof. Klaus Lojka. Damals neu und außer-
gewöhnlich war auch die Vereinbarung, jährlich eine Wissenschaftlerin mit thematischem Gender-
bezug als Gastprofessorin an die Universität Wien zu holen wie Elisabeth Klaus, Eva Warth,
Waltraud Cornelißen, Margreth Lünenborg, Irene Neverla, Susanne Kinnebrock u. a.
5
Martina Thiele ist inzwischen an der Universität Tübingen tätig.
4 J. Dorer et al.
Literatur
Angerer, Marie-Luise, und Johanna Dorer, Hrsg. 1994. Gender und Medien. Theoretische Ansätze,
empirische Befunde und Praxis der Massenkommuikation: ein Textbuch zur Einführung. Wien:
Braumüller.
Dines, Gail, und Jean M. Humez. 1995. Gender, race and class in media. Thousand
Oaks/London: Sage.
Dorer, Johanna, und Brigitte Geiger, Hrsg. 2002. Feministische Kommunikations- und Medienwis-
senschaft. Ansätze, Befunde und Perspektiven der aktuellen Entwicklung. Wiesbaden: West-
deutscher Verlag.
Fröhlich, Romy, und Christina Holtz-Bacha. 1993. Frauen und Massenkommunikation. Eine
Bibliographie. Bochum: Universitätsverlag Brockmeyer.
Fröhlich, Romy, und Christina Holtz-Bacha. 1995. Frauen und Medien. Eine Synopse der deut-
schen Forschung. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Klaus, Elisabeth. 1998. Kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung. Zur Bedeutung
der Frauen in Massenmedien und im Journalismus. Opladen: Westdeutscher Verlag. (Zweite
um eine Einleitung erweiterte Auflage: 2005. Wien: Lit-Verlag).
Klaus, Elisabeth, Jutta Röser, und Ulla Wischermann, Hrsg. 2001. Kommunikationswissenschaft
und Gender Studies. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Klaus, Elisabeth, und Sophia Reiterer. 2021. Literaturübersicht: Kommunikationswissenschaftliche
Geschlechterforschung. https://kowi.uni-salzburg.at/wp-content/uploads/2021/01/Bibliogra
phie_Gender_Media_Studies_Stand27012021.pdf. Zugegriffen am 06.10.2021.
Lünenborg, Margreth, und Tanja Maier. 2013. Gender Media Studies. Eine Einführung. Konstanz/
München: UTB.
Peters, Kathrin, und Andrea Seier, Hrsg. 2016. Gender & Medien-Reader. Zürich: Diaphanes.
Ross, Karen, Ingrid Bachmann, Valentina Cardo, Sujata Moorti, und Marco Scarcelli, Hrsg. 2020.
The international encyclopedia of gender, media, and communication. Hoboken: Wiley.
Thomas, Tanja, und Ulla Wischermann, Hrsg. 2020. Feministische Theorie und Kritische Medien-
kulturforschung. Ausgangspunkte und Perspektiven. Bielefeld: transcript.
Zoonen, Liesbet van. 1994. Feminist media studies. London: Sage.
Teil I
Theorien, Modelle, Zugänge
Feministische Theorie als Fundament
feministischer
Kommunikationswissenschaft
Johanna Dorer
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
2 Feministische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
3 Entwicklungen in der feministischen Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
4 Paradigmenwechsel: die de-/konstruktivistische Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
5 Feministische Theorie in der Kommunikationswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
Zusammenfassung
Die feministische Kommunikations- und Medienwissenschaft kann nicht losge-
löst von den unterschiedlichen Entwicklungen der feministischen Theorie be-
trachtet werden. War es zuerst die Frauenforschung (women’s studies), die Männ-
lichkeit als Norm und Weiblichkeit als von der Norm abweichend analysierte, so
wird mit der Geschlechterforschung (gender studies) nicht nur der Forschungs-
schwerpunkt auf beide Geschlechter gelegt, sondern es geht damit auch ein
Paradigmenwechsel in den Grundlagen der feministischen Theorie einher. Mit
der de-/konstruktivistischen Wende sind theoretische und erkenntnistheoretische
(epistemologische) Positionen neu formuliert worden. Fragen nach dem Herstel-
lungsprozess von Geschlecht (Doing Gender), nach der Dekonstruktion des sex/
gender-Systems, nach der Berücksichtigung weiterer Differenzkategorien wie
Ethnizität, „Rasse“, Klasse, sexuelle Orientierung, Inter/Transgeschlechtlichkeit,
Alter, Religionszugehörigkeit u. a. werden zentral und bedurften einer kritischen
Reflexion und Reformulierung feministischer Basiskategorien. Nach wie vor
Leicht erweiterte und korrigierte Fassung meines Beitrags in Dorer und Klaus (2008, S. 91–100).
Mein Dank gilt Gitti Geiger und Brigitte Hipfl für ihre kritischen Kommentare.
J. Dorer (*)
Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: johanna.dorer@univie.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 7
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_1
8 J. Dorer
Schlüsselwörter
Feministische Theorie · Poststrukturalismus · De-/Konstruktivismus ·
Feministische Epistemologie · Frauenforschung · Geschlechterforschung ·
Feministische Medien- und Kommunikationswissenschaft
1 Einleitung
Wohl wenige Theorien haben innerhalb kurzer Zeit in sämtlichen Disziplinen eine
derartige Verbreitung gefunden wie die feministische Theorie. Daher ist Benhabibs
(1993, S. 9) Diagnose, sie zu den bedeutendsten und avanciertesten Denkströmun-
gen der heutigen intellektuellen und universitären Kultur der westlichen Demokra-
tien zu zählen, unwidersprochen zuzustimmen. Dass wir heute auf eine vielfältige,
stark ausdifferenzierte feministische Medienforschung bzw. kommunikationswis-
senschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung1 blicken können, hat mit dieser
enormen Bedeutung der feministischen Denkströmung zu tun. Es hat aber auch mit
dem die feministische Theorieentwicklung stets begleitenden, stark selbstreflexiven
Moment zu tun, das die verschiedenen Disziplinen vor neue Herausforderungen
stellte. Gerade der im Folgenden näher ausgeführte Paradigmenwechsel, der eine
de-/konstruktivistische Wende in der feministischen Theoriebildung einleitete, führ-
te auch zu einer bis heute anhaltenden wissenschaftstheoretischen Diskussion, zu
einer Kritik und Reformulierung theoretischer Ansätze sowie zu verschiedenen
Versuchen der Systematisierung der feministischen Medienforschung.2
2 Feministische Theorie
1
Die Begriffe werden hier synonym verwendet, vgl. dazu: Dorer und Klaus (2003, S. 550).
2
Vgl. zu früheren Entwicklungen und Systematisierungen Angerer und Dorer 1994 sowie Klaus
1998, 2005. Zuletzt auch: Lünenborg und Maier 2013.
Feministische Theorie als Fundament feministischer . . . 9
(Becker-Schmidt und Knapp 2000; Hark 2001; Kroll 2002; Becker und Kortendiek
2004; Babka und Posselt 2016).
Feministische Theorie ist nach Nagl-Docekal (1999, S. 8–9) und Ernst (1999,
S. 32) nicht über einen gemeinsamen Gegenstandsbereich „Frau“ oder „Geschlecht“
zu bestimmen, sondern basiert auf einem gemeinsamen Erkenntnisinteresse, das die
Produktion von Wissen zur Aufdeckung und Transformation von epistemischen und
sozialen Geschlechterhierarchien umfasst. Feministische Theorie ist also keine
Theorie des Geschlechts, sondern lässt sich nur über eine bestimmte Erkenntnisper-
spektive definieren, die Asymmetrien der gesellschaftlichen Geschlechterkonstruk-
tion in den Blick nimmt.
Feministische Theorie und Forschung hat sich dabei immer einer doppelten
Herausforderung zu stellen: Einerseits geht es um die Entwicklung theoretischer
Konzepte und Modelle zur Analyse hierarchischer Geschlechterverhältnisse und
-zuschreibungen, andererseits um die Entwicklung politischer Strategien zur Besei-
tigung gesellschaftlicher Diskriminierungen auf Grund des Geschlechts (Angerer
und Dorer 1994, S. 12). Nach Ernst (1999, S. 32) führen die vielfältigen Verknüp-
fungen von Geschlechterhierarchien mit anderen sozialen Hierarchien wie etwa
„Rasse“, Klasse, Ethnizität, sexuelle Orientierung, Alter dazu, dass epistemische,
politische und moralische Prozesse für die Einzelnen jeweils unterschiedlich gestal-
tet sind und damit Prozesse der Emanzipation immer sowohl individuell als auch
kollektiv zu analysieren sind.
Obgleich die feministische Theorie ein heterogenes, von Widersprüchen, Dis-
sonanzen und Divergenzen gekennzeichnetes Denkgebäude darstellt, ist die Be-
zeichnung im Singular sinnvoll. Denn die additive Vervielfältigung feministischer
Theorien berge nach Hark (2001, S. 11) immer die Gefahr einer Hierarchisierung
entlang hegemonialer Machtrelationen in sich. Das bedeutet, dass sich zum Beispiel
westliche feministische Theorieansätze als zentrale, nicht-westliche als periphere
Ansätze hierarchisch ordnen ließen. Zudem könne allein durch die Verwendung des
Plurals die Vielfalt der unterschiedlichen Ansätze nicht hinreichend bezeichnet
werden, sodass die Verwendung des Singulars die beste Möglichkeit darstellt.
Den unterschiedlichen feministischen Theoriezugängen ist aber Folgendes ge-
meinsam (Angerer und Dorer 1994, S. 12; Hark 2001, S. 9–11):
• Feministische Theorie versteht sich nicht nur als Geschlechterkritik, sondern auch
als Gesellschafts- und Wissenschaftskritik.
• Auch die eigene Theoriebildung erfolgt in kritischer Reflexion des gewählten
Standpunkts, so dass es immer wieder zu einer Reformulierung feministischer
Basiskategorien und Theorieansätze kommt.
• Interdisziplinarität in den theoretischen Zugängen und empirischen Methoden ist
unabdingbare Voraussetzung feministischer Erkenntnis.
• Die Geschlechter-Ideologie betrifft und hierarchisiert alle gesellschaftlichen Be-
reiche und ist mit anderen Kategorien wie Klasse, „Rasse“, Ethnizität und
Begehren/sexuelle Orientierung verschränkt.
10 J. Dorer
3
Ausführlich dazu: Seifert 1992; Harding 1990.
Feministische Theorie als Fundament feministischer . . . 11
Ausgangspunkt feministischer Forschung ist von nun an, dass ein Verständnis von
Geschlecht als Konstruktion Basis jeglicher feministischer Theoriebildung und For-
schung ist. Gleichzeitig kann aber von einem einheitlichen konstruktivistischen Ver-
ständnis nicht gesprochen werden. Mit der Konstruktionsthese sind also recht unter-
schiedliche Positionen verbunden, die grob gesprochen in folgende drei Strömungen
unterteilt werden können: Zu unterscheiden sind zum einen die sozialkonstruktivisti-
schen und ethnomethodologischen Ansätze, zum zweiten die poststrukturalistischen
Ansätze und zum dritten erkenntnistheoretische Positionen (Pühl et al. 2004, S. 20–22;
Wetterer 2004a, S. 123–138; Maihofer 2004; Hark 2001).
4
Vgl. dazu die Kritik von Pühl et al. (2004, S. 16) und Maihofer (2004, S. 35–36) sowie die Antwort
darauf von Wetterer (2004b).
Feministische Theorie als Fundament feministischer . . . 13
5
Die Grundgedanken der poststrukturalistischen Strömungen haben Angerer und Dorer (1994,
S. 14–16) anderorts ausführlicher dargestellt.
14 J. Dorer
6
Artikulation wird von Laclau und Mouffe (1991, S. 155) in Anlehnung an Karl Marx als nicht
notwendige, aber sich als natürlich gerierende Verbindung mehrerer Elemente verstanden.
Feministische Theorie als Fundament feministischer . . . 15
nismus/Agonismus7 geht davon aus, dass Gleichheit im Sinne von Äquivalenz nur
als Anerkennung der Vielfältigkeit und Differenz zu betrachten ist.8 Der Dualismus
von öffentlicher und privater Sphäre wäre nach Mouffe somit nicht aufzuheben,
sondern zu dekonstruieren und neu zu artikulieren.
Queer-theoretische Positionen kritisieren, beginnend in den 1980er-Jahren, den
gesellschaftlichen Heterozentrismus und die Heterosexualität als System der Hete-
ronormativität und Zwangssexualität (Kraß 2003; Polymorph 2002; Jagose 1997;
Degele 2007). Im Zentrum der Kritik steht die Dekonstruktion der hetero/homo-
Binarität und die Erweiterung der Gender-Kategorie um die Kategorie Sexualität
bzw. Begehren. Demnach wird davon ausgegangen, dass eine heterosexuelle Matrix
in gesellschaftlichen Formationen, Institutionen und Individuen wirksam ist, welche
Ein- und Ausschlüsse produziert und als normative, nicht hinterfragte gesellschaft-
liche Vorgabe fungiert. Fokus der Queer Studies sind die Uneindeutigkeit von
Geschlecht und deren gesellschaftliche Effekte. In der wissenschaftlichen Diskussi-
on wurde die Queer-Theorie mit der von Teresa de Lauretis herausgegebenen Zeit-
schrift „differences“ 1991 eingeführt. Die Queer-Theorie verbindet die Fou-
cault‘sche Diskursanalyse und die von Laclau und Mouffe (1991) entwickelte
Hegemonietheorie mit sprachphilosophischen Positionen und postmodernen Identi-
tätstheorien; sie ist vor allem mit den Arbeiten von Judith Butler, Sabine Hark (1999)
und Antke Engel (2002) verbunden.
Eine Weiterentwicklung feministischer Theorie erfolgte ferner durch die post-
koloniale Theorie (einführend u. a. Gutiérres Rodríguez 2004 sowie Räthzel 2004).
Hier sind v. a. zwei Richtungen von Bedeutung: Zum einen wird durch die Kritik
Schwarzer und Farbiger Frauen am westlichen Feminismus nicht nur die Differenz
zwischen Frauen, sondern auch die Thematisierung von Rassismus und weißem
Feminismus in die Theoriediskussion eingebracht. Zum anderen werden im Rahmen
der Globalisierung aller Bereiche koloniale und postkoloniale Effekte im Kontext
von Geschlecht thematisiert, insbesondere auf der Ebene der globalen Ökonomie,
der Sexualität, der Repräsentation und des politischen Aktivismus. Themen sind
etwa die Konstruktion und Bedeutung von Weißsein, eine Redefinition der „Dritten-
Welt-Frau“, die Kritik an der dualen Konstruktion „Dritte-Welt-Frau“ als Opfer und
„emanzipierte westliche Frau“, Migration und Asylpolitik, Repräsentation von Mi-
grantinnen etc. Gayatri Spivak (1988) entwickelte das Konzept der Subalternität, mit
dem sie aufzeigt, wie subalterne (unterprivilegierte) bzw. (post)koloniale Subjekt-
positionen diskursiv (z. B. durch ihre koloniale Geschichte) produziert und zum
Schweigen gebracht und wie diese durch die Datenerfassung der globalen Institu-
tionen (des Welthandels, der Weltpolitik etc.) in hegemoniales Wissen transformiert
werden und ihnen dadurch bestimmte Positionierungen vorgegeben werden. We-
sentlich ist, dass es nicht um eine marginalisierte Perspektive ganz allgemein geht,
7
Vereinfacht gesprochen handelt es sich bei einem Antagonismus um ein Verhältnis zwischen
Feinden, bei einem Agonismus um ein Verhältnis zwischen Gegnern. (Mouffe 2005, S. 52).
8
Vgl. dazu die Weiterentwicklung der Debatte „Gleichheit versus Differenz“ in Richtung „Gleich-
heiten und Differenzen“ in: Butler und Laclau (1998).
16 J. Dorer
9
Einführend dazu: Walgenbach 2012.
Feministische Theorie als Fundament feministischer . . . 17
10
Der Begriff inkludiert in dieser Verwendung neben postmodernen Identitätskonzeptionen auch
semiotische, neopsychoanalytische und diskurstheoretische Ansätze, die aber im engeren Sinne
nicht zur Postmoderne gezählt werden. V. a. in der US-feministischen Wissenschaft erfolgt meist
eine Gleichsetzung von Poststrukturalismus und Postmoderne. Singer (2005, S. 36–38) übernimmt
mit ihrer Einteilung nach Sandra Harding diese Ungenauigkeit.
18 J. Dorer
Die Feministische Theorie liefert das Fundament und den Rahmen für die kritische
Analyse von Geschlecht und weiteren Differenzkategorien in gesellschaftlichen Kom-
munikationsprozessen. Die feministische Medienwissenschaft als interdisziplinäres
Fachgebiet der kommunikationswissenschaftlichen Disziplin hat sich seit den 1990er-
Jahren ausdifferenziert und nach und nach neuere Erkenntnisse der feministischen
Theorie aufgegriffen. Dabei erfordert die rasche Entwicklung der feministischen Theo-
riebildung ein doppeltes intellektuelles Engagement, nicht nur die aktuellen Theorie-
entwicklungen in der kommunikationswissenschaftlichen Main/Malestream-Forschung,
sondern auch jene in der feministischen Theoriediskussion zu rezipieren und adäquat
umzusetzen.
Seit den 2000er-Jahren wird in der feministischen Medienforschung mehrheitlich
von einem konstruktivistischen Verständnis von Geschlecht ausgegangen. Die The-
men haben sich dabei stark erweitert und umfassen heute den gesamten gesellschaft-
lichen Kommunikationsprozess (Dorer et al. 2019), wenngleich auch noch zahlreiche
Leerstellen auszumachen sind (Dorer 2002; Dorer und Hipfl 2013). Dabei erweist sich
in der empirischen Forschung immer wieder der sozialkonstruktivistische Ansatz, mit
dem die Prozesshaftigkeit des Doing Gender im medialen Produktions- und Rezepti-
onsprozess untersucht wird, als besondere Herausforderung. Auch das Konzept der
Intersektionalität stellt sich in der empirischen Umsetzung (Winker und Degele 2009)
als schwierig heraus. Oft wird eine Beschränkung auf zwei Differenzkategorien, wie
zum Beispiel Geschlecht und Ethnizität, vorgenommen, sodass eine Reihe weiterer
Ungleichheitskategorien gar nicht in den Blick geraten können. Eine dekonstruktivis-
tische Herangehensweise lässt sich vor allem in Bezug auf die wissenschaftliche
Beschäftigung mit Basiskonzepten und grundlegenden Begriffen der Kommunikati-
onswissenschaft auffinden. Dualismen wie Öffentlichkeit versus Privatheit, Informa-
tion versus Unterhaltung, Nachrichten- versus Meinungsjournalismus, öffentlich-
rechtlicher Rundfunk versus kommerzieller Rundfunk, Qualitätsmedien versus Bou-
levardmedien etc. werden auf die implizite geschlechtliche Codierung hinterfragt und
dekonstruiert. Aber auch die Frage, wie Geschlecht im kommunikationswissenschaft-
lichen Kontext neu zu denken ist (Ernst 2002) oder im Medienrezeptionsprozess in
einer sehr komplexen Weise wirksam wird (Ang und Hermes 1994), lässt sich dem
dekonstruktivistischen Vorgehen zuordnen.
Feministische Theorie als Fundament feministischer . . . 19
6 Fazit
Mit der Frage nach den Erfolgen des Feminismus hat Nancy Fraser (2009, 2013)
eine Diskussion angeregt, die aktuell zu einer neuen kritischen Reflexion feministi-
scher Theorieproduktion geführt hat. Fraser (2009) erinnert daran, dass der Neo-
liberalismus mit seinen bekannten Ausformungen von Deregulierung, Privatisie-
rung, Wettbewerb, Abbau von staatlichen Sozialleistungen, Individualisierung und
persönliche Verantwortlichkeit zuerst in Ländern des globalen Südens zu Verwer-
fungen v. a. zum Nachteil für Frauen (Ausbeutung von Frauenarbeit, Verschuldung
durch Mikrokredite) führte, während in sogenannten westlichen Ländern Ziele des
Feminismus umgedeutet bzw. resignifiziert wurden. Die Kritik am Androzentrismus
mutierte zu Forderungen nach Gleichstellungsmaßnahmen, die vielen Frauen auch
neue Wege eröffneten. Einher damit ging auch in der feministischen Theoriepro-
duktion eine Veränderung vom Postulat der Umverteilung bzw. der Beschäftigung
mit politischer Ökonomie hin zu Fragen der Anerkennung von Identität und kul-
tureller Differenz. Zwar erfuhr die vormals meist nur theoretisch bzw. rhetorisch
proklamierte globale Solidarität durch neue Kommunikationstechnologien eine
praktische Grundlage (etwa transnationale Protestaktionen), doch blieben in der
internationalen Öffentlichkeit viele globale Themen (Frauenarmut, globale Unge-
rechtigkeit) zugunsten von Themen wie der sexualisierten Gewalt ausgeblendet. Mit
der weltweiten Finanzkrise 2007/08 wurden auch in sogenannten westlichen Län-
dern die Auswirkungen neoliberaler Wirtschaftspolitik offensichtlich. Fraser (2009)
plädiert daher dafür, basierend auf ökonomischer Kritik, die drei Dimensionen
Umverteilung, Anerkennung und Repräsentation gemeinsam zu denken.
Gesellschaftliche Veränderungen und Verschiebungen, die sich durch die Aus-
wirkungen von Neoliberalismus, Globalisierung (Fraser 2013), Prekarisierung (Lo-
rey 2012), Digitalisierung, Aushöhlung der Demokratie und demokratischer Er-
rungenschaften (Mouffe 2005) und zunehmend selbstdisziplinierender und
-optimierender Individuen (McRobbie 2010) ergeben haben, verlangen nach einer
Neuausrichtung in der feministischen Theorie. Sabine Hark (2013, S. 67) erinnert
daran, dass die Probleme der zweiten Welle des Feminismus nach wie vor ungelöst
sind und daher einer feministischen Theoretisierung bedürfen. Auf der Tagesord-
nung stünden nicht nur Themen wie Zuständigkeit von Frauen für die Reproduktion,
sondern auch Rechtlosigkeit, mangelnder Zugang zu Behausung und Bildung,
Armut, Sexismus, Heteronormativität, Rassismus und Gewalt u. a. Es handelt sich
dabei vorwiegend um Themen, die über die in den letzten Jahren in der feministi-
schen Theorie umfassend diskutierten Identitätspolitiken hinausgehen. Das bedeutet,
sich vermehrt mit sozialer Gerechtigkeit und imperialer Lebensweise (Ulrich Brand)
zu beschäftigen und Perspektiven der kritischen Theorie, der Globalisierungstheo-
rien, Kapitalismuskritik und deren emanzipatorische Ansätze wieder verstärkt in die
feministische Theorie einzubringen.
Das bedeutet aber auch, Widersprüche und Spannungen im feministischen Denken
ernst zu nehmen, wenn Feminismus in ambivalenter Verflechtung von Rassismus und
Sexismus in der politischen Auseinandersetzung auftritt und nur schwer zu einer der
Realität angemessenen Form der Kritik zu führen vermag (Hark und Villa 2017).
20 J. Dorer
Denn längst sind in der politischen Praxis Bewegungen entstanden, die die Instru-
mentalisierung feministischer Ideen vorantreiben. Dazu zählen etwa jene Prozesse,
die unter dem Titel Femonationalismus (Faris 2011) zusammen zu fassen sind,
bei dem nationalistisch-fremdenfeindliche Ideologien mit feministischen Idealen
verknüpft werden, oder unter dem Titel Homonationalismus (Puar 2007), bei dem
LGBT-Anliegen benutzt werden, um Rassismus und Xenophobie zu rechtfertigen.
Dazu ist es wesentlich, die Widersprüche des Feminismus klar zu benennen,
Feminismus als zunehmend universitär verankertes Wissen für Privilegierte einer-
seits und vielstimmige, globale und lokale, widersprüchliche Praxis andererseits.
Ziel feministischer Theorie müsste es nach Hark (2013, S. 71) also sein, nicht eine
„neue kanonisierte Disziplin zu werden, sondern Modi der Produktion von Wissen
zu entwickeln, die an den Widersprüchen der Zeit orientiert sind und zugleich über
diese hinausweisen“. Sie empfiehlt, „die Kunst des Nein-Sagens zu üben“ und
gleichzeitig der „Lust am dissonanten Widerstreit inkommensurabler Perspektiven
(zu) frönen“ und gleich welchen Ausgangs in Konversation zu bleiben und Koali-
tionen zu pflegen.
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Theoretische Perspektiven: Gleichheit,
Differenz, soziale Konstruktion und
Dekonstruktion
Elisabeth Klaus
Inhalt
1 Einleitung: Entwicklungslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2 Gleichheitsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
3 Differenzansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
4 Paradigmenwechsel hin zum Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
5 Sozialer Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
6 Dekonstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
Zusammenfassung
Im Verlauf der Entwicklung der kommunikationswissenschaftlichen Geschlech-
terforschung kamen vielfältige theoretische Zugänge zum Einsatz, um die Ver-
bindungen von Geschlecht und Medien sowie Kommunikation zu erforschen.
Genderforscher*innen reflektierten dabei stets den Stellenwert der Basiskategorie
Geschlecht, deren Komplexität mit der steigenden Zahl an Studien und Veröffent-
lichungen zunehmend deutlicher wurde. Entlang der verschiedenen Bedeu-
tungs- und Deutungsebenen der Kategorie Geschlecht lassen sich vier Ansätze
als unterschiedliche Perspektiven der Gender Media Studies identifizieren.
Gleichheitsansatz, Differenzansatz, sozialer Konstruktivismus und Dekon-
struktivismus stellen unterschiedliche Blickrichtungen der kommunikations-
wissenschaftlichen Geschlechterforschung dar, wobei keiner dieser Ansätze
überholt ist, sondern diese jeweils eine Kritik- und Kontrollfunktion füreinan-
der haben.
E. Klaus (*)
Fachbereich Kommunikationswissenschaft und Interuniversitäre Einrichtung Wissenschaft und
Kunst, Universität Salzburg, Salzburg, Österreich
E-Mail: elisabeth.klaus@plus.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 25
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_2
26 E. Klaus
Schlüsselwörter
Gleichheitsansatz · Differenzansatz · Sozialer Konstruktivismus ·
Dekonstruktivismus · Fachgeschichte
1 Einleitung: Entwicklungslinien
1
Ich gebrauche im Folgenden gender und Geschlecht als Synonyme, ebenso Geschlechterfor-
schung und Gender Studies sowie kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung und
Gender Media Studies.
2
In der 1. Auflage 1998 noch „Geschlechterforschung“ genannt.
Theoretische Perspektiven: Gleichheit, Differenz, soziale Konstruktion und . . . 27
2 Gleichheitsansatz3
3
Ich bleibe bei der Einführung von Gleichheits- und Differenzansatz im damaligen Sprachgebrauch
und spreche verkürzend von ‚Frauen‘ und ‚Männern‘, obwohl die binäre Geschlechterfestlegung
und die Heteronormativität auch bereits damals kritisiert wurden.
28 E. Klaus
4
Vgl. https://waccglobal.org/our-work/global-media-monitoring-project-gmmp/ und https://waccg
lobal.org/gmmp-results-glacial-progress-towards-media-gender-equality-25-years-on/. Zugegriffen
am 03.08.2021.
Theoretische Perspektiven: Gleichheit, Differenz, soziale Konstruktion und . . . 29
3 Differenzansatz
5
Davon zeugen etwa Bücher und Filme wie „Bridget Jones. Schokolade zum Frühstück“ oder
„Warum Frauen nicht einparken können und Männer nicht zuhören“ (für eine Kritik vgl. Herbst
2015; McRobbie 2010).
30 E. Klaus
Gleichheits- und Differenzansatz gehen von zwei Voraussetzungen aus, die sich als
theoretisch unzureichend erwiesen haben. Sie sind erstens einem Realismus ver-
pflichtet, der annimmt, dass es jenseits der Medien und jenseits der sozialen Subjekte
eine unhintergehbare und empirisch zu erfassende gesellschaftliche Realität gibt, die
als Maßstab für die Repräsentationsleistungen der Medien wie für das Medien-
handeln von Menschen gelten kann (vgl. hier und im Folgenden Drüeke et al.
2017; Klaus 2020). Zum zweiten hinterfragen diese Ansätze zwar die kulturellen
Zuweisungen an die Geschlechter, aber nicht deren biologische Stabilität. Die Zwei-
geschlechtlichkeit, dass es Männer und Frauen gibt, bleibt eine der Grundlagen der
Forschung. Beiden Voraussetzungen widerspricht der Konstruktivismus, der „die
Realität“ stets als eine individuelle oder soziale Konstruktion versteht, die nicht
unabhängig von den sozialen Subjekten zu erfassen ist. Die Geschlechterbinarität
gilt dabei als eine der folgenreichsten dieser Konstruktionen. Damit sind Gleich-
heitsansatz und Differenzansatz gleichermaßen der Kritik des Essenzialismus aus-
gesetzt; weil sie Heteronormativität und Heterosexismus nicht weiter hinterfragen,
tragen sie zu deren Stabilisierung bei.
Demgegenüber versteht der Konstruktivismus die Zweigeschlechtlichkeit als
kulturelle und soziale Konstruktion, die die Ausdrucksformen der Subjekte – ihre
Gefühle, ihren Verstand, ihre Körper – prägt. Nicht das Aufspüren und die Heraus-
arbeitung von Differenzen oder das normative Setzen auf Gleichberechtigung leiten
dann die Forschungsbemühungen, sondern die Dekonstruktion von Geschlechter-
polaritäten, weil diese Unterschiede machen, hervorbringen, produzieren. Entspre-
chend werden jene Prozesse herausgearbeitet, die das gendering der Medienorgani-
sationen ermöglichen und das doing gender der mit Medien in Beziehung tretenden
Menschen kennzeichnen. Geschlechterunterschiede, die sich in der Medienproduk-
tion, den -inhalten oder der -rezeption zeigen, werden nun als Mittel zur Ausarbei-
tung, Darstellung und Aufrechterhaltung der Zweigeschlechtlichkeit gesehen.
Daraus ergeben sich weitere Kritikpunkte am Gleichheits- und Differenzansatz,
etwa an derem verkürzten Verständnis von medialer Repräsentation, die als gegeben
und relativ leicht entschlüsselbar angenommen wird. Mit dieser Vorstellung von
Repräsentation ist die implizite Annahme verbunden, dass das (repräsentativ) Gese-
hen- und Dargestelltwerden notwendig positiv sei und der Emanzipation diene.
Demgegenüber fokussiert der Konstruktivismus auf „Ambivalenzen der Sichtbar-
32 E. Klaus
keit“ (Schaffer 2008; Maier 2018). Gerade wenn es um die Präsenz marginalisierter
Gruppen in der Gesellschaft geht, ist Sichtbarkeit häufig nicht mit Anerkennung
verbunden.6
Schließlich steht auch die Rolle von Wissenschaft und die der Wissenschaft-
ler*innen zur Disposition, weil Gleichheits- wie Differenzansatz zwar die Ver-
wobenheit von Forschung und Wissenschaft in die patriarchale Gesellschaft thema-
tisieren, jedoch gleichwohl davon ausgehen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse
prinzipiell transparent und wahr sein könnten. Aus den hier genannten Gründen ist
die erkenntnistheoretische Position des Konstruktivismus heute eine der Voraus-
setzungen der Gender Studies. In der kommunikationswissenschaftlichen Ge-
schlechterforschung ist er in zwei seiner zentralen Varianten präsent: dem sozialen
Konstruktivismus und dem Dekonstruktivismus.
5 Sozialer Konstruktivismus
Der soziale Konstruktivismus fokussiert auf die interaktive und soziale Konstruktion
der Zweigeschlechtlichkeit. Erstmals haben 1987 Candace West und Don Zimmer-
mann vom doing gender gesprochen. Weiblichkeit und Männlichkeit waren
demzufolge nicht nur etwas, das den Individuen von außen zugewiesen wurde, viel-
mehr wurde Geschlecht nun als etwas gesehen, das Menschen tun und ausüben
(Hagemann-White 1984). Die amerikanische Kommunikationswissenschaftlerin
Lana Rakow (1986, S. 21) hat diese doppelte Bedeutung des Geschlechts in der
folgenden Definition zum Ausdruck gebracht: „Gender is both something we do and
something we think with, both a set of social practices and a system of cultural
meanings.“ Die sozialen Subjekte erschaffen demnach in ihrem Denken, ihren sozia-
len Interaktionen und ihren mikropolitischen Aktivitäten zugleich ihr Geschlecht und
(re)produzieren, stabilisieren oder verändern so „das symbolische System der Zwei-
geschlechtlichkeit“ (Hagemann-White 1984).
Lünenborg und Maier (2013) haben diesen Zugang als „interaktionistischen
Konstruktivismus“ bezeichnet. „Er identifiziert Formen des doing gender, die dem
sozialen und symbolischen Handeln eingeschrieben sind“, und untersucht „[p]rimär
[. . .] auf der Mikroebene der handelnden Subjekte [. . .], wie die symbolische Ord-
nung der Zweigeschlechtlichkeit hergestellt, fortgeschrieben und herausgefordert
wird.“ (Lünenborg und Maier 2013, S. 22) Die sozial-konstruktivistische Perspek-
tive der Gender Studies ist also handlungstheoretisch verortet und schließt hierbei
insbesondere an den Symbolischen Interaktionismus (vgl. Krotz 2008) und an Goff-
mans Rahmentheorie (2001) an (dazu auch Dorer und Klaus 2008).
Geschlecht verweist aber nicht nur auf die soziale Ordnung als Strukturzusam-
menhang, sondern weitergehend auch auf die symbolischen und kulturellen Formen,
in denen sich zweigeschlechtliche Denkprozesse und Handlungsweisen verfestigt
haben. Als soziale Konstruktion gefasst, lassen sich die vergeschlechtlichten Tätig-
6
Für den digitalen Raum liefert Drüeke (2019) dazu Beispiele.
Theoretische Perspektiven: Gleichheit, Differenz, soziale Konstruktion und . . . 33
keiten und das gendering von Institutionen umfassender analysieren. Studien, die
von der Perspektive des sozialen Konstruktivismus ausgehen, beinhalten deshalb
implizit oder explizit eine Kritik an den Normen, Verfahrensweisen und Prozessen
innerhalb der Institutionen, da sie die sozial-kulturelle Herstellung der Geschlech-
terdifferenz aufdecken, gerade dort, wo deren Wirkungen auf den ersten Blick
unsichtbar sind oder andersherum sich reaktiv als Folge eines spezifischen Unter-
suchungsdesigns ergeben.
Inzwischen liegen zahlreiche Studien vor, die Medieninhalte als symbolische
Deutungsrahmen im Hinblick auf die darin enthaltenen Geschlechterkonstruktionen
thematisieren. So hat ein Forschungsteam unter Leitung von Margreth Lünenborg
und Jutta Röser mediale Repräsentationen von Führungspersonen aus Politik, Wirt-
schaft und Wissenschaft untersucht (veröffentlicht unter dem Titel „Ungleich mäch-
tig“ 2012). Die Studie konnte zeigen, wie mit und durch Medien geschlechtsspezi-
fische Bilder von Macht und Einfluss hergestellt werden, die sowohl auf tradierte
Männlichkeitsvorstellungen als auch auf modernisierte Geschlechterkonstruktionen
zurückgreifen. Medien adressieren und positionieren ihre Rezipient*innen als ‚Män-
ner‘ oder ‚Frauen‘ und liefern damit Material zum ‚performing identity‘ und zum
doing gender, das allerdings oft komplexer ausfällt, als es die Angebote selber
nahelegen. Ute Bechdolf (1999) hat in ihrer Studie „Puzzling Gender“ herausgear-
beitet, wie Jugendliche das Angebot an Musikvideos dazu nutzen, ihre geschlecht-
lichen Identitäten auszuhandeln. Für das Berufsfeld Journalismus hat Wiebke
Schoon (2009) auf der Basis der Sozialtheorie von Pierre Bourdieu eine umfassende
Analyse des Gendering im Berufsfeld Journalismus vorgelegt, indem sie das mediale
Geschlechterverhältnis als historisch gewordene, damit auch veränderbare soziale
Praxis analysiert. Sie legt dar, wie etwa die Geschlechterhierarchie durch den
journalistischen Berufsmythos unbegrenzter Arbeitszeiten, die vermeintliche Objek-
tivität der Berichterstattung und Konkurrenzrituale aufrechterhalten wird. Auf die
damit ausgeübte symbolische Gewalt reagieren Journalistinnen mit unterschiedli-
chen Taktiken. Die Rezeption von Gewaltdarstellungen in den Medien thematisiert
eine Studie von Jutta Röser (2000). Sie zeigt, dass das Handeln der befragten
Männer und Frauen in die gesellschaftlichen Bedeutungsrahmen von Geschlecht,
Medien und Gewalt eingebunden ist. In der Folge lassen sich Medienaneignungs-
prozesse nicht als geschlechtsspezifisch begreifen, sondern als jeweils kontextuierte
Positionierungen gegenüber einem Medientext.
Ein Nachteil der sich auf Goffman oder den symbolischen Interaktionismus
stützenden Forschung ist, dass „strukturelle Asymmetrien und die Stabilität des
Systems der Zweigeschlechtlichkeit meist nicht erklärt werden können, da sich die
Forschung stärker auf den individuellen Interaktionsprozess konzentriert und weni-
ger auf die Effekte des ‚Doing Gender‘“ (Dorer und Klaus 2008, S. 8). Bei Be-
trachtung des individuellen Handelns bleiben aber die Rahmenbedingungen, die
darin einfließen und dieses präfigurieren, meist unsichtbar. Wie die damit verbun-
denen Grenzen der Erkenntnis erweitert werden und die herrschenden Geschlechter-
konstruktionen destabilisiert werden können, das herauszuarbeiten ist ein zentrales
Anliegen dekonstruktivistischer Perspektiven.
34 E. Klaus
6 Dekonstruktivismus
Fokussiert der soziale Konstruktivismus also wesentlich die Interaktionen der so-
zialen Subjekte und die daraus erwachsenden relativ stabilen Deutungsmuster, die
das symbolische System der Zweigeschlechtlichkeit aufrechterhalten, so nimmt der
Dekonstruktivismus die Art und Weise der diskursiven und sprachlichen Bedeu-
tungsproduktion in den Blick. Der Dekonstruktivismus ist mit dem Namen von
Jacques Derrida verbunden, der einen Dreischritt bestehend aus Rekonstruktion,
kritischer Zerlegung und Neuformulierung postuliert, um gesellschaftliche Bedeu-
tungen offenzulegen und zu verschieben (vgl. dazu Dorer 2019). Hier werden unter
Dekonstruktivismus weitergehend auch poststrukturalistische Perspektiven, beson-
ders Ausführungen von Michel Foucault und Judith Butler, sowie die neueren
Visual, Postcolonial oder auch Critical Whiteness Studies subsumiert. Denn sie
alle basieren auf einer Kritik an den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen
durch die De- und Rekonstruktion unserer als selbstverständlich angenommenen
Wissensbestände.
Seit Mitte der 1990er-Jahre ist in den Sozialwissenschaften eine Hinwendung zur
Linguistik und insbesondere zur Sprechakttheorie sowie eine Neukonzeptionierung
des Diskursbegriffs durch Michel Foucault zu beobachten. Die Sprechakttheorie
arbeitet heraus, dass Reden und Sprechen, die verwendeten Worte, Konzepte,
Metaphern oder Begriffe folgenreich sind, weil Sprache mit der Benennung von
Objekten zugleich Handlungen hervorruft und in diesem Sinne, das, was wir als
„Realität“ begreifen, überhaupt erst erschafft. Sinngebungs- und Repräsentations-
prozesse sind demnach sprachlich verfasst. Der Foucault‘sche Diskursbegriff be-
schreibt die Art und Weise, wie machtvolles „Wissen“ produziert wird, Aussagen,
die unhinterfragt und nahezu unhinterfragbar als wahr gelten. Für Foucault sind
Diskurse „Flüsse von Wissensvorräten durch die Zeit“ (Jäger 2004, S. 23–24), die zu
einem gegebenen Zeitpunkt nur noch jene Wissensbestände mitführen, die Macht
stabilisieren. Mit dieser Bestimmung des Diskurses bleibt jedoch die Möglichkeit
verbunden, den Diskurs zurückzuverfolgen – Foucault verwendet hierfür den Be-
griff der Genealogie bzw. der Archäologie –, um ihn zu dezentrieren und zu dekon-
struieren (Hoy 1998 mit Bezug insbesondere auf Foucault 1981, 1987).
Die amerikanische Poststrukturalistin, Philosophin und Aktivistin Judith Butler
hat auf beide theoretischen Zugänge, die Sprechakttheorie und den Foucault’schen
Wissens- und Diskursbegriff, in ihrem 1991 auf deutsch erschienenen Band „Das
Unbehagen der Geschlechter“ rekurriert (vgl. auch Butler 1997). Ihre Arbeiten
haben einen Paradigmenwechsel im Denken über die Kategorie Geschlecht einge-
leitet. Butler stellt das bis dato zentrale Paradigma der Gender Studies, die Trennung
zwischen sex und gender,7 dem biologischen und dem sozial-kulturellen Geschlecht,
7
Dass die Trennung von sex und gender eine einheitliche und zentrale Grundlage der frühen
Frauen- und Geschlechterforschung war, die dann von den dekonstruktivistischen Gender Studies
überwunden worden wäre, ist derzeit das dominante Narrativ der Gender Studies. Diese Fort-
schrittserzählung, so Tanja Paulitz (2021) sei jedoch problematisch, u. a. weil sie durch die Gender
Studies überhaupt erst etabliert worden sei und die vorhergehenden Phasen vermutlich zu stark
vereinfache. Deshalb bedürfe das Narrativ einer genaueren Untersuchung und Rekonstruktion.
Theoretische Perspektiven: Gleichheit, Differenz, soziale Konstruktion und . . . 35
grundlegend in Frage. Sie arbeitet heraus, dass bereits die Markierung von zwei,
und genau zwei, biologischen Geschlechtern, ihre Benennung als Mann und Frau,
eine kulturelle Tat ist. Das ‚Wissen‘ um zweigeschlechtliche Körper, binär kodierte
Sexualität und ein heterosexuelles Begehren ist Effekt eines immer wieder aufs
Neue wiederholten Sprechaktes, oder anders formuliert: ihrer ständigen Reiteration
und performativen Hervorbringung. Die Dekonstruktion dieses „Geschlechterwis-
sens“ wird damit zu einem wichtigen Moment, um Diskurse zu verändern und die
darin eingeschriebenen Machtverhältnisse zu verschieben. Unsichtbare und in die
Unsichtbarkeit, Prekarität oder Illegalität gedrängte Identitäten erhalten einen
wichtigen Stellenwert in Butlers Gendertheorie, weil sie die Annahme der Ubiqui-
tät von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit verstören und ehemals stabile
Kategorien dezentrieren können. Das ist einer der Ausgangspunkte der Queer
Studies.
Der mit den dekonstruktivistischen Gender Studies verbundene Perspektiven-
wechsel hat auch in der Kommunikationswissenschaft zu neuen Forschungsfragen,
neuen Themensetzungen und veränderten theoretischen und methodischen Heran-
gehensweisen geführt. Die dekonstruktivistische Perspektive beinhaltet die Mög-
lichkeit aufzudecken, wie Dualismen und Differenzsetzungen in den Medien daran
beteiligt sind, ein binäres, hierarchisches, hierarchisierendes und heteronormatives
Geschlechterregime aufrecht zu erhalten.
So hat Johanna Dorer (2004) herausgearbeitet, wie die Kommunikationswissen-
schaft binäre Geschlechtercodes und damit Geschlechterhierarchien im Journalis-
mus und in verwandten Medienberufen (re)produziert. Mit Hilfe der historischen
Biografieforschung konnte deutlich werden, dass Frauen im vermeintlichen Männer-
beruf Journalismus schon lange präsent sind und diesen mitgeprägt haben, aber ihr
Beitrag u. a. durch die Fokussierung auf festangestellte Redakteur*innen in der
Kommunikationsgeschichte unsichtbar gemacht wurde (vgl. dazu Kinnebrock
et al. 2014). Wie in Medienpraxis und Kommunikationswissenschaft durch ver-
meintlich neutrale Begrifflichkeiten die Geschlechterdifferenz mitkonstruiert wird,
zeigen kritische Überlegungen zu zentralen und selbstverständlich verwendeten
binären Ordnungskategorien wie Information und Unterhaltung (Klaus 1996; revi-
sited 2019) oder Fakt und Fiktion (Klaus und Lünenborg 2002). Tanja Thomas et al.
(2011) haben Gouvernementalitätspraktiken analysiert und gezeigt, wie etwa be-
stimmte Genres als Teil eines Wissensregimes „an der (Re)Produktion hegemonialer
Vorstellungen über gesellschaftliche Ordnungen [. . .] mitwirken“ (Thomas 2012,
S. 215).
Insgesamt finden unter der Perspektive des Dekonstruktivismus Körper und
körperbasierte Praktiken, die in Medien erscheinen und durch diese produziert
werden, ebenso wie mediale Identitätsräume und Raumproduktionen stärkere Be-
achtung (z. B. Angerer 2000; Hipfl et al. 2004; Drüeke 2013). Durch die Darstellung
von ‚illegitimen Körpern‘ (Butler 1997, S. 40) in medialen Körperinszenierungen –
wie beispielsweise von Dragqueens, Transpersonen oder Homosexuellen – kann
analysiert werden, welche Körper intelligibel sind und welche nicht. So konnte die
feministische Fernsehforschung zeigen, dass die Darstellung queerer Hauptfiguren
vor allem für eine Stabilisierung tradierter Geschlechterrollen genutzt wird. Queere
36 E. Klaus
Sexualität und queeres Begehren werden in den Sendungen normalisiert und in ein
heterosexuelles Raster gepresst (Bleicher 2013; Maier 2007).
Sowohl der soziale Konstruktivismus als auch der Dekonstruktivismus haben die
Forschungstätigkeit der Media Gender Studies in den vergangenen Jahrzehnten stark
beeinflusst. Weil vor allem der Dekonstruktivismus Wissensregime in Frage stellt,
sind Ergebnisse und Begrifflichkeiten der dekonstruktivistischen Forschung jedoch
stärker von Alltagserfahrungen und Selbstbeschreibungen der sozialen Subjekte
entfernt, als das für die frühen Gender (Media) Studies gilt. Darin steckt eine
Vermittlungsproblematik, die ein Grund dafür sein mag, dass die ursprüngliche
Verbindung zwischen feministischen Bewegungen und Gender Studies sich gelöst
hat und problematischer geworden ist (Knapp 2012).
7 Fazit
ser Studie zeigt eine genauere Analyse, dass die in diesem Beitrag unterschiedenen
vier Perspektiven der kommunikationswissenschaftlichen Geschlechterforschung in
den vorgelegten Arbeiten oft ineinanderfließen. Die verschiedenen Blickrichtungen
der Gender Media Studies ergänzen und befruchten sich also gegenseitig.
In den Gender Studies allgemein und in der kommunikationswissenschaftlichen
Geschlechterforschung im Besonderen wird die Kategorie Geschlecht heute zu-
gleich als soziale und kulturelle Konstruktion gesehen. Damit sind Forschungspro-
jekte, die das mediale Handeln von ‚Männern‘ und ‚Frauen‘ thematisieren, theo-
retisch höchst problematisch, da sie die Annahme des Geschlechterdualismus zur
Voraussetzung haben und so die symbolische Konstruktion der Zweigeschlechtlich-
keit reproduzieren. Zugleich bleiben solche Studien aber sinnvoll und notwendig, da
die Analyse gesellschaftlicher Ungleichheiten als Folgen dieser Konstruktion wei-
terhin ein zentrales Anliegen feministischer Forschung ist. Gelöst wird dieses
Dilemma mit dem Konzept des so genannten ‚strategischen Essentialismus‘, der
zum Zwecke der Untersuchung gesellschaftlicher Ungerechtigkeit an handelnden
Akteur*innen festhält und damit auch ein Subjekt Frau oder Mann als Unter-
suchungskategorie zulässt. (Spivak 2009 [1993]; Mackenthun 2017)
Die Ergebnisse solcher Projekte müssen dann allerdings im Weiteren unter der
Prämisse der sozialen und kulturellen Konstruiertheit von Geschlechterdifferenzen
diskutiert und kontextualisiert werden. Zugleich gilt auch andersherum, dass dekon-
struktivistische Ausarbeitungen vermittlungsfähig bleiben und ihre Relevanz für
eine nachhaltige Gesellschaftsveränderung zeigen müssen. Wenn die Behauptung
stimmt, dass diese eine Verschiebung bewirkt haben, derzufolge nicht die Ge-
schlechterverhältnisse, sondern die Geschlechtsunterscheidungen im Mittelpunkt
des Interesses stehen (Knapp 2018, S. 25), dann wird die weiterhin bestehende
gesellschaftspolitische Bedeutung von Gleichheits- und Differenzansatz deutlich.
Denn Analysen der Geschlechterverhältnisse bleiben für gesellschaftsrelevante
kommunikationswissenschaftliche Gender Studies zentral (siehe auch Thomas
2019). Gleichheits- und Differenzansatz, sozialer Konstruktivismus und Dekon-
struktivismus sind gerade in ihrer gleichzeitigen Existenz und in ihren parallelen
Forschungsanstrengungen produktiv, weil sie dann eine Kontroll- und Kritikfunk-
tion füreinander wahrnehmen können.
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Feministische Medien- und
Kommunikationswissenschaft als kritische
Gesellschaftsanalyse
Tanja Thomas
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
2 Bezugpunkte feministischer Medien- und Kommunikationswissenschaft: Marxismus,
Ideologietheorie und Kritische Theorie der Frankfurter Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
3 Poststrukturalistische und dekonstruktivistische Einflüsse auf feministische Medien- und
Kommunikationswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
4 Gegenwärtige Herausforderungen einer feministischen Medien- und
Kommunikationswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
5 Fazit: Perspektiven und Potenziale feministischer Medien- und
Kommunikationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Zusammenfassung
Feministische (Medien- und Kommunikations-)Wissenschaft hat sich mit
verschiedenen Traditionen Kritischer Theorie verbündet – mit marxistischer
Theorie oder der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule – und in Ausei-
nandersetzung mit postkolonialen, queeren Theorien und den Cultural Studies
poststrukturalistische und dekonstruktivistische Ansätze entwickelt. Der Bei-
trag verbindet die Darstellung der Bezugnahmen auf diese zentralen Traditi-
onslinien – die freilich in sich heterogen sind und zwischen denen es zudem
durchaus eine Reihe von Vermittlungsversuchen gibt – mit Hinweisen auf empi-
rische Untersuchungen zur Bedeutung von Geschlecht in Medienkulturen. Gegen-
wärtige Herausforderungen und offene Fragen an feministische Medien- und
T. Thomas (*)
Institut für Medienwissenschaft, Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland
E-Mail: tanja.thomas@uni-tuebingen.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 43
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_3
44 T. Thomas
Schlüsselwörter
Kritische Theorie · Cultural Studies · Postcolonial Studies · Queer ·
Feministische Theorie
1 Einleitung
„Mehr feministische und kritische Theorie!“ lauten Appell und Überschrift eines
Schwerpunkheftes der Zeitschrift feministische studien im Jahr 2018. Die im Heft
versammelten Texte rufen in Erinnerung, dass feministische Theoriebildung im Zuge
der zweiten Frauenbewegung nach 1968 als entschiedene und radikale Kritik der
‚herrschenden‘ Wissenschaft, wie sie an den Universitäten gelehrt wurde, entstand.
Nicht geringer ist die Sorge um Hochschulen als Ort der kritischen Reflexion gesell-
schaftlicher Entwicklungen, da kritische Theorie und Analyse an den Hochschulen
heute vor besonderen Herausforderungen stehen – auf Seiten der Lehrenden aufgrund
der Reorganisation des akademischen Wissensfeldes mit einer Orientierung auf Wett-
bewerbsfähigkeit, Benchmarking, Evaluationen, neuen Rhythmisierungen von Drittmit-
telprojekt zu Drittmittelprojekt sowie auf Seiten der Studierenden durch Studienge-
bühren, modularisierte Studiengänge und den Zwang zur effizienten Orientierung an
kanonisierten Wissensvorgaben, die auch zu veränderten Selbstverständnissen beitra-
gen.1 Auch angesichts gegenwärtig die Demokratie vielfach herausfordernder gesell-
schaftlicher Entwicklungen gerät kritische Wissenschaft mehr und mehr unter Druck.
Umso notwendiger ist es, die Traditionslinien, Erkenntnispotenziale und emanzipatori-
schen Ansprüche kritischer Wissenschaft zu stärken und im wissenschaftlichen Diskurs
präsent zu halten. Darauf zielt auch der vorliegende Beitrag mit einer Betonung der
Gemeinsamkeiten Kritischer Theorietraditionen, an die feministische Kommunikations-
und Medienforschung anknüpfen: Diese verstehen sich erstens immer auch als Wissen-
schafts- und Gesellschaftskritik, reflektieren zweitens den eigenen gewählten Stand-
punkt der Wissensproduktion und streben damit an, auch die eigenen Basiskategorien
und Theorieansätze zu reformulieren, und sie zielen schließlich drittens auf eine Über-
windung hierarchischer gesellschaftlicher Verhältnisse – sie inkludieren die Umsetzung
in eine politische Praxis (Dorer und Klaus 2008, S. 93).
1
Dem Wandel der Hochschulen widmen sich aus feministischer Sicht das Schwerpunktheft
34(1) der feministischen studien (Camus et al. 2016), zudem Hark und Hofbauer 2018.
Feministische Medien- und Kommunikationswissenschaft als kritische . . . 45
2
Wie auch im Weiteren deutlich wird, bewegen sich Argumentationen häufig theoretisch an
Schnittfeldern: In der Tradition von Kritischer Theorie, die mit der marxistischen verwoben ist,
entwickelte beispielsweise Regina Becker-Schmidt 1985 ihre These von der doppelten Vergesell-
schaftung von Frauen und betonte, dass diese nicht nur materiell-ökonomische, sondern auch
ideologisch-herrschaftliche Implikationen hat (Becker-Schmidt 2004).
46 T. Thomas
Theodor W. Adorno und Max Horkheimer als Vertretern der ersten Generation
Kritischer Theorie und einer Geschlechterforschung auf der Ebene der Medienin-
halte oder der Medienrezeption her. Gründe dafür sind laut Klaus und Thiele (2007,
S. 147) u. a. in einem „undifferenzierten Publikumsbegriff“ zu suchen, der „das
Publikum als bedrohliche Masse von manipulierbaren KonsumentInnen“ erscheinen
lässt und Auswege lediglich in der Gewinnung von Verfügungsmacht über die
Produktionsmittel der Medien sieht.
Deutlicher präsent in gegenwärtigen medien- und kommunikationswissenschaft-
lichen Arbeiten sind die Bezugnahmen auf Vertreter der zweiten Generation der
Frankfurter Kritischen Theorie – und hier insbesondere auf Jürgen Habermas (1995),
dessen Hauptaugenmerk sich auf die Frage der Sicherung der demokratischen
Öffentlichkeit richtet. Die prominent von Nancy Fraser (2001) vorgebrachte Kritik
an seinem Öffentlichkeitsmodell, den Vorstellungen von deliberativer Demokratie
und politischer Öffentlichkeit, bezüglich derer Habermas den Ausschluss von
Frauen zunächst ausblendete, ist von der feministischen Medien- und Kommunika-
tionswissenschaft aufgegriffen worden. Dies hat theoretische wie empirische Pro-
jekte befördert (Wischermann 2003) und wirkt instruktiv bis in aktuelle Arbeiten zu
feministischen Internetöffentlichkeiten hinein (Drüeke und Klaus 2017).
Vorliegende Arbeiten zur politischen Ökonomie von Medien (im deutsch-
sprachigen Raum z. B. Arbeiten von Horst Holzer, Andrea Grisold, Manfred Kno-
che, Werner A. Maier, Christian Fuchs) verbinden marxistische und kritische Über-
legungen, insofern jedwede Kommunikation aus den beiden Perspektiven heraus als
durch das kapitalistische Gesellschaftssystem und kapitalistische Eigentumsverhält-
nisse strukturiert analysiert wird. In einer feministischen Verbindung materialisti-
scher kritischer Theorien mit emanzipatorischen Zielen (Ansatzpunkte liefert
z. B. Ganz 2017) liegen Potenziale für eine Medienforschung, die noch auszuloten
sind. Ansätze für eine feministische Gesellschafts- und Techniktheorie und eine
emanzipatorische Politik zu entwickeln ist damit eine Herausforderung gegenwärti-
ger Forschung, die an Arbeiten feministischer Theoretiker*innen wie Rosi Braidotti,
Donna Haraway und Lisa Nakamura anknüpfen kann.
3
Knapp (1998, S. 28) unterscheidet dabei postmoderne Theorien und Theorien der Postmoderne:
Postmoderne Theorien betrachten Postmoderne als epistemologische Position, während Theorien
der Postmoderne diese als Epochenbegriff auffassen.
Feministische Medien- und Kommunikationswissenschaft als kritische . . . 47
Filmwissenschafterin Ruby Rich schon Anfang der 1990er-Jahre ein ‚Queer New
Cinema‘ aus (zuletzt Brunow und Dickel 2018).
Verbindungen zwischen verschiedenen gesellschaftstheoretischen Bezugnah-
men schafft u. a. Angela McRobbie, die als prominente feministische Stimme der
Cultural Studies mit dem Band „Top Girls“ auch in der deutschsprachigen Debatte
sehr präsent geworden ist. Sie greift auf poststrukturalistische wie auf ideologie-
theoretische Elemente zurück und begründet ihre Schlussfolgerungen u. a. mit
Analysen von Fernsehsendungen, Filmen und Werbeanzeigen: Ihre Arbeiten und
ihre Kritik u. a. am „Warenfeminismus“, der weder politische noch ökonomische
Verhältnisse hinterfragt, sind zu einem Bezugspunkt vielfältiger Analysen etwa
von popfeministischen Zeitschriften (Thomas und Kruse 2013) sowie von Cas-
tingshows wie „Germany’s Next Topmodel“ und deren Rezeption (Stehling 2011,
2015) geworden.
Den Bezug auf poststrukturalistische Überlegungen und Verbindungen zur mar-
xistischen Theorie suchen teilweise Postkoloniale Theorieansätze wie auch Vertre-
ter*innen der Critical Studies of Whiteness. Die Heterogenität des Forschungsfeldes
macht es schwierig, postkoloniale Theorien knapp zu charakterisieren; die Untersu-
chung von Machtformen – Ethnozentrismus bzw. Eurozentrismus „als kulturelle
Varianten von Kolonialismus und Neokolonialismus“ – sowie „ein Interesse an der
diskursiven Macht und den globalen Effekten des Neoliberalismus“ (Kerner 2009,
S. 253) werden verbunden mit einer Kritik u. a. an dichotomisierenden Differenz-
setzungen. Gayatri Chakravorty Spivak und Chandra Talpade Mohanty sind in
diesem Kontext als zentrale feministische Referenzen zu nennen; sie verfolgen
ähnliche Agenden, ihr theoretischer Hintergrund ist dabei erkennbar unterschiedlich:
Spivaks Arbeiten haben ihr die Bezeichnung „feministisch marxistische Dekon-
struktivistin“ (MacCabe 1998, zit. nach Castro und Dhawan 2005, S. 57) eingebracht,
Mohanty steht für Standpunktfeminismus und Sozialkonstruktivismus (ausführlich
Kerner 2009).4 Einen Überblick zu medien-, kommunikations- und kulturwissen-
schaftlichen Arbeiten, die sich auf Postkoloniale Theorien beziehen, liefert Ulrike
Bergermann (2012). Sie teilt diese in verschiedene Felder ein und verweist beispiels-
weise auf Arbeiten, die Sprache, Sprechen und Schrift in ihrer Verwobenheit mit
Visualität, Blick, Räumlichkeit und Perspektive als konstitutive Elemente in der
Hervorbringung von ‚othering‘ erkennbar machen, und benennt Gayatri Chakra-
vorty Spivak, Homi Bhabha und Benedict Anderson als wichtige Referenzen. Wenig
diskutiert sind Verschränkungen von Überlegungen der Critical Whiteness Studies,
von postkolonialen Theorien und Feminismus, die weiterführende Potenziale auch
für medien- und kommunikationswissenschaftliche Studien offenlegen könnten.
Kerner (2009) erinnert an Hazel Carby, die schon in den 1980er-Jahren appellierte:
„White Women listen! Black Feminism and The Boundaries of Sisterhood“. Carby
nahm die heute unter den Stichworten „Intersektionalität“ (Winker und Degele 2009)
4
Castro und Dhawan (2005, S. 63) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Spivak nicht
zwischen Feminismus, Dekonstruktion und Marxismus zu vermitteln suche, sondern es ihr daran
gelegen sei, Leerstellen und Begrenzungen aufzuzeigen – dies ziele auf ein dekonstruktives
„Wieder-Lesen“ Marx’scher Konzepte.
Feministische Medien- und Kommunikationswissenschaft als kritische . . . 49
5
Der Emanzipationsbegriff ist dabei freilich selbst zu reflektieren (vgl. hierzu u. a. Birkle et al.
2012) und zu bedenken, dass kritische Theorie als intellektuelles Projekt nicht umstandslos in
emanzipatorische Praxis mündet (Hark 2005, S. 69).
Feministische Medien- und Kommunikationswissenschaft als kritische . . . 51
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Phänomene des Werdens:
Intersektionalität, Queer, Postcolonial,
Diversity und Disability Studies als
Orientierungen für die Medienforschung
Waltraud Ernst
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
2 Jenseits von Geschlechterbinarität und Heteronormativität: Queer Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
3 Intersektionalität oder Postkategorialität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
4 Behindert werden: Disability Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
5 Diversity oder Queerversity? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
6 Postkolonial – dekolonial – postmigrantisch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
7 Fazit: Medien und Geschlecht als Phänomene des Werdens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Zusammenfassung
Medien und Geschlecht können als vielfältig miteinander verknüpfte Phänomene
des Werdens erforscht werden. Diese methodologische Betrachtung untersucht
Medialisierung von Geschlecht und Vergeschlechtlichung von Medien daher als
Prozesse, die intersektional mit anderen Kategorisierungen und Diskriminierun-
gen verknüpft sind. Unter Berücksichtigung von Intersektionalität sowie Per-
spektiven aus den Queer, Postcolonial, Diversity und Disability Studies werden
Orientierungen für eine anti-rassistische, queer-feministische Medienforschung
entwickelt. Als epistemologische Orientierung dient der agentielle Realismus
Karen Barads, der Forschungsprozesse ebenso in diese Phänomene des Werdens
einschließt.
Schlüsselwörter
Intersektionalität · Queer · Postcolonial Studies · Diversity · Disability Studies ·
Agentieller Realismus
W. Ernst (*)
Institut für Frauen- und Geschlechterforschung, Johannes Kepler Universität Linz, Linz, Österreich
E-Mail: waltraud.ernst@jku.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 57
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_6
58 W. Ernst
1 Einleitung
Medien und Geschlecht können als ambivalente, historisch vielfältige sowie vielfäl-
tig miteinander verknüpfte und widersprüchliche Phänomene des Werdens erforscht
werden. Eine aktuelle methodologische Betrachtung anti-rassistischer, queer-femi-
nistischer Medienforschung unter Berücksichtigung von Intersektionalität sowie
Perspektiven aus den Diversity, Queer, Postcolonial und Disability Studies scheint
daher vielversprechend. Um diesen vielfältigen Verknüpfungen Rechnung zu tragen,
wird vorgeschlagen, Medialisierung und Vergeschlechtlichung als Prozesse zu unter-
suchen, in denen Medien und Geschlecht erst im sozio-kulturellen Zusammenhang
hergestellt werden und Ausdruck finden bzw. verständlich werden.
Um Prozesse der vergeschlechtlichten Medialisierung und der medialisierten
Vergeschlechtlichung zu verstehen, ist es darüber hinaus relevant, die materielle,
soziale und insbesondere auch die virtuelle Basis dieser Prozesse zu berücksichtigen
(Ernst 2020). Das heißt, Medien basieren auf Medientechnologien, durch welche
Zugänge zur Erkenntnis und Gestaltung von Wirklichkeit ermöglicht und gesteuert
werden (Schmidt 2021). Daher werden Medien hier auch als Werkzeuge verstanden,
das heißt, es wird gefragt, wie Prozesse der vergeschlechtlichten Medialisierung und
der medialisierten Vergeschlechtlichung untersucht werden können, die dominante
Medienstrategien unterwandern, diese entlarven oder diesen sogar entgegenstehen
und alternative Sichtweisen bzw. Analysen der Wirklichkeit anbieten (Nakamura
2002, 2013, 2020).
Die Vergeschlechtlichung in, von und durch Medien umfasst vielschichtige und
machtvolle Prozesse, die es zu erforschen gilt – gerade weil Medien das, was als
Wirklichkeit gilt, nicht nur vermitteln, sondern durch ihre weite Verbreitung und
vielfältige Nutzung auch hervorbringen (Thomas und Wischermann 2020; Dorer
und Geiger 2002). Wird Geschlecht dabei als Binarität hervorgebracht, als Unter-
scheidung zwischen zwei sich ausschließenden Geschlechtern Frau und Mann, die
als normal oder natürlich erscheint, muss dieser Hervorbringungsprozess aus Sicht
einer kritischen, transformativen und postkategorialen Mediengeschlechterfor-
schung näher untersucht werden. Ebenso muss analysiert werden, welche Rolle
vielfältiges erotisches Begehren und Vergnügen, sexuelle Praktiken und Beziehun-
gen in solchen medialen Normierungs-, Normalisierungs- und Naturalisierungspro-
zessen von Geschlecht spielen (Butler 2009). Wird Heterosexualität als einzige
denkbare Wirklichkeit inszeniert, oder wird bisexuelle, lesbische und schwule Liebe
als ebenso real präsentiert? Werden sexuelle Orientierungen als fix, angeboren und
unveränderbar dargestellt, oder (wie) erhält die Fluidität erotischer Bezogenheiten,
die Widersprüchlichkeit sexueller Praktiken und Vielfalt von Vergnügen, Beziehun-
gen und Lebensweisen medialen Raum? (Wie) werden plurisexuelle Orientierungen
und Identitäten thematisiert (Maliepaard und Baumgartner 2021)? Wird Geschlecht
dabei als z. B. europäisch, national oder scheinbar neutral, isoliert („frei“) von
anderen Hierarchisierungen inszeniert, müssen die medialen Herstellungsprozesse
untersucht werden, welche die mediale Normalisierung und scheinbare Neutralität
dieser Inszenierungen erzeugen. Denn wie gezeigt werden wird, ist die Ver-
geschlechtlichung von Personen, Gruppen oder Dingen immer aufs engste mit
Phänomene des Werdens: Intersektionalität, Queer, Postcolonial, Diversity . . . 59
Gibt es einen medialen Weg aus der repetitiven Normierung und Naturalisierung von
Geschlechtern und Sexualitäten als binär und heterosexuell? Queer Theory (Jagose
2001) und Queer Media Studies (Köppert 2019) haben hierfür Forschungsansätze
und -fragen vorgelegt. So beschreibt Jagose im genannten Referenzwerk, wie die
kritische Pointe der Queer Theory dort am greifbarsten wird, „wo der normative
Zusammenschluß von anatomischem Geschlecht, sozialem Geschlecht und Sexua-
lität kritisiert wurde. Das ist genau für diejenigen Versionen von Identität, Commu-
nity und Politik von zentraler Bedeutung, die scheinbar ‚natürlich‘ aus diesem
Zusammenschluß hervorgehen. Indem es sich weigert, eine feste Form anzunehmen,
hält queer eine Beziehung aufrecht zum Widerstand gegen alles, was das Normale
auszeichnet.“ (Jagose 2001, S. 127–128) Dieses subversive analytische Potenzial
von Queer Studies hinsichtlich Normen, Normativität und Normalisierung, vor
allem bezüglich (hetero-)normativ sexualisierter Vergeschlechtlichungen, heben
auch noch 20 Jahre später Wiegman und Wilson hervor: „While its focus and
theoretical inheritances vary, antinormativity reflects a broad understanding that
the critical force of queer inquiry lies in its capacity to undermine norms, challenge
normativity, and interrupt the processes of normalization – including the norms and
normativities that have been produced by queer inquiry itself.“ (Wiegman und
Wilson 2015, S. 4) „Queer thinking“ wird hier als auseinandersetzungsfähige,
mobile und dezentrale Praxis dargelegt (Wiegman und Wilson 2015, S. 3), die
methodisch auch auf die Untersuchung medialer Normierungsprozesse anwendbar
ist. Dabei ist es von Bedeutung, im Einzelnen genau herauszuarbeiten, wo und wie
die Normativität etabliert wird und sich manifestiert (Greif 2019). Erst dann ist zu
klären, auf welche Weise die Orientierung an einer „Antinormativität“ bei der
Medienproduktion und -nutzung sowie insbesondere bei der Medienforschung ins
Spiel gebracht werden kann. Im Folgenden wird dieser Ansatz des Sichtbarmachens
und Aufbrechens von Normativität durch einige methodisch und thematisch weg-
weisende Beispiele präzisiert.
Nicht alle Medien sind digital. Je nach Funktion (z. B. Wahlwerbung, Produkt-
werbung) stellen Plakate im öffentlichen Raum machtvolle und ausdruckstarke
mediale Instrumente dar. So untersucht Sushila Mesquita die „Herstellung normali-
sierender Sichtbarkeit“ durch eine Plakatkampagne für die Volksabstimmung zum
Schweizer Partnerschaftsgesetz im Jahr 2005 und kommt zu dem Ergebnis, dass
60 W. Ernst
Intersektionalität wird, wie Gouma und Dorer (2019) erläutern, als „eine herrschafts-
kritische Herangehensweise“ verstanden, „um die gegenseitige Durchdringung so-
zialer Ungleichheitskategorien [. . .] in Verbindung mit den verschiedenen Ebenen
der gesellschaftlichen Diskurse, Institutionen und Subjektpositionierungen zu theo-
retisieren und zu erforschen“ (S. 1). Dies ist für das Verständnis medialer Ver-
geschlechtlichung von zentraler Bedeutung. Die Intersektionalitätsforschung ist
dabei in den letzten Jahren selbst einer kritischen Reflexion unterzogen worden,
die zur Präzisierung der Problematik beiträgt. So diskutiert Julia Schuster (2021)
25 zum Teil nur scheinbar intersektionale Argumentationen in feministischen Me-
dientexten nach der ‚Silvesternacht in Köln 2015‘ und schlägt zur Präzisierung eine
Orientierung am Begriff des „femonationalism“ (Farris 2017) für ein Verständnis
von sexualisiertem Rassismus vor.
Encarnación Gutiérrez Rodriguez kritisiert die (deutschsprachige) Intersektiona-
litätsforschung aufgrund ihrer Ignoranz gegenüber jenen, welche die „Gleichzeitig-
keit von Unterdrückungsverhältnissen“ im eigenen Leben ebenso wie in der Gesell-
schaft schon viel früher aufgezeigt haben und daraus einen theoretischen und einen
62 W. Ernst
Aus dem bisher Erörterten wird deutlich, dass für eine anti-rassistische, queer-
feministische Medienforschung nicht Differenzen, Unterschiede oder die Vielfalt
menschlicher Existenzweisen und deren Verwobenheit das zu erklärende Phäno-
men, das Explanandum darstellen, sondern Prozesse, mit Hilfe derer aus fluidem
uneindeutigem menschlichen Werden und Sein beherrschbare Differenzierungen
herausgeschnitten werden, im Sinne von Karen Barads „agential cuts“ (Barad
2007, 2012). Das zeigen Ansätze aus den Queer Studies genauso wie kritische
Ansätze in der Intersektionaliltätsforschung oder den Disability Studies. Entspre-
chend entwirft Antke Engel, in einer kritischen Weiterentwicklung von Diversity
Studies, eine Orientierung an „queerversity“ als Prinzip für eine politische Praxis
(Engel 2021): „As a political corrective, an ethical attitude, and an aesthetic
strategy the principle of queerversity combines the avowal of multiplicity, ambi-
guity, and alterity with struggles against discrimination, social inequalities, and the
intersectional complexity of regimes of domination. Queerversity as a political
corrective criticizes the exclusions, normalizations, and hierarchizations that go
along with particular measures and institutional formations built on categorizati-
on.“ (Engel 2021, S. 12) Die Kategorisierung selbst wird als problematische
Realität benannt, die hinsichtlich ihrer Verwertbarkeit für Hierarchisierungspro-
zesse analysiert werden soll. Entsprechend wird ein anti-, post- oder transkatego-
rialer Ansatz gefordert.
Doch nicht nur die Differenzierungspraktiken, die Vielfalt einer scheinbar greif-
baren und abgrenzbaren Verwertung zuführen, stehen in der Kritik. Diversitäts-
politik wird auch hinterfragt, wenn sie als Alibi im neoliberalen System funktioniert.
So thematisieren Nikita Dhawan und Maria do Mar Castro Varela im Anschluss an
Sarah Ahmed die Unwirksamkeit von Diversitätspolitiken, wenn sie nur rhetorisch
eingesetzt werden: „The effect is that the non-performative rhetoric prevents com-
batting that which it pretends to abolish“ (Dhawan und Castro Varela 2016, S. 21).
Das heißt, Institutionen brüsten sich oftmals mit Diversity-Zertifizierungen oder
Lippenbekenntnissen zur Diversität, die es praktisch extrem schwierig machen,
Ausschlüsse und Diskriminierung zu thematisieren. Daher ist den Autorinnen zu-
folge eine Kontextualisierung von Intersektionalitätspolitik und Diversitätsmanage-
ment im neoliberalen Pluralismus unabdingbar, da hier Differenzen als Alibi kon-
sumiert werden, damit sie eben gerade keinen spürbaren Unterschied machen, also
keine Infragestellung von Privilegierung darstellen: „It is imperative to situate the
,mainstreaming‘ of intersectionality politics and diversity management within the
historical and economic landscape of neoliberal pluralism and global capitalism that
consumes difference as an alibi so that it does not make a difference.“ (Dhawan und
Castro Varela 2016, S. 22) In ihrer Conclusio sprechen sich die Autorinnen aller-
dings im Anschluss an Gaytri Chakravorty Spivaks Strategie der „affirmative sabo-
tage“ dafür aus, Diversität und Intersektionalität effektiv politisch einzusetzen, da
wir sie nicht nicht wollen können. Dafür erachten sie eine Neugestaltung und
Ergänzung jener Normen für unumgänglich, die diesen Ansätzen zugrunde liegen.
66 W. Ernst
Dies kann demnach durch eine Untersuchung dessen geschehen, was vor und
jenseits der Norm dessen liegt, was aktuell als legitime politische Subjektivität gilt.
Dhawan und Castro Varela fordern hierfür eine konsequent transnationale Perspek-
tive, die historisch informiert und sowohl lokal als auch global verortet ist. Denn nur
in der politischen Praxis kann demnach das Subjekt feministischer Politik entstehen
und Sprache als Handlung performativ wirksam werden. Für die Medienforschung
bedeutet das vor allem auch ein konsequentes Hinterfragen und Dekonstruieren von
„labeling“-Prozessen und davon, wer repräsentiert wen oder was in welchem Kon-
text und auf welche Weise.
Manuela Boatcâ zeichnet die interne Politik der Differenz in Europa historisch nach,
die untrennbar mit der Geschichte der Moderne verknüpft ist: „Genauso, wie die
Geschichte Europas mit der Geschichte derjenigen nicht-europäischen Regionen
verflochten ist, die es eroberte, mit denen es Handel trieb, oder gegen die es sich
verteidigte, ist auch die Geschichte der Moderne durch Kolonialismus, Imperialis-
mus, Sklaverei und Kriegsführung geprägt worden und bis heute damit untrennbar
verbunden.“ (Boatcă 2010, S. 354) Die Soziologin problematisiert den identitäts-
politischen Diskurs der Europäischen Union, der nur eines der „multiplen Europas
zum einzig gültigen hochstilisiert“: „Damit dient ein diskursives Modell, das Euro-
päität als Einheit bzw. als Einzigartigkeit definiert, dazu, die Vielfalt des postkolo-
nialen und postimperialen Europas als Manko zu verkennen sowie mittels der
eingangs diskutierten Moralgeografie des Kontinents eine interne Politik der Diffe-
renz zu reproduzieren, die nur in das Gegenteil von Einheit münden kann.“ (Boatcă
2010, S. 355) Damit setzt die Autorin das außereuropäische (post-)koloniale Denken
und Handeln mit dem innereuropäischen auf erhellende Weise in Beziehung und
macht deutlich, wie historische diskursive Prozesse der Abgrenzung und Ausgren-
zung schleichend hierarchische Differenzierung erzeugen.
Die Aufdeckung der Entstehung und Konsolidierung des modernen Europas auf
Kosten derer, die den europäischen Kolonialmächten unterlegen sind, liegt im Fokus
postkolonialer und dekolonialer Forschung. Nikita Dhawan und Maria do Mar
Castro Varela unterscheiden postkoloniale und dekoloniale Ansätze vor allem hin-
sichtlich ihrer geografischen Ausrichtung. Sie teilen den Fokus auf die Kontinuität
epistemischer, ökonomischer und politischer (post-)kolonialer Macht- und Herr-
schaftsverhältnisse. Demnach sind die postkolonialen Studien (aus Sicht der deko-
lonialen Theoretiker*innen) eher auf „Asien und einige wenige arabische und afri-
kanische Räume“ ausgerichtet, während dekoloniale Studien „verstärkt die Prozesse
der frühen Kolonialisierung Lateinamerikas und der Karibik“ im Blick haben (Cas-
tro Varela und Dhawan 2015, S. 319). Den Autor*innen zufolge „sieht die post-
koloniale Agenda nicht nur eine Re-Positionierung europäischer Erkenntnissysteme
vor, sondern auch den Versuch, die lange Geschichte imperialer Interventionen und
deren nicht umkehrbaren Folgen für die kolonialen Anderen transparent zu machen.“
(Castro Varela und Dhawan 2015, S. 339) An solchen epistemischen Prozessen des
Phänomene des Werdens: Intersektionalität, Queer, Postcolonial, Diversity . . . 67
Außerhalb des Forschungsprozesses oder des Labors gesehen und erforscht, erkannt,
erfasst oder erklärt, und weniger in einem Akt des Erkennens eines vom Erkennen
unabhängigen Projekts, Objekts oder Zusammenhangs. Vielmehr beginnt der For-
schungsprozess – und damit die Hervorbringung des zu erforschenden Phänomens –
schon mit der Problemstellung, der Hypothese und der Formulierung der For-
schungsfrage derer, die in der klassischen Erkenntnistheorie als Erkenntnissubjekt
bezeichnet werden. Im agentiellen Realismus stellen Erkenntnissubjekte gerade
Teile des zu erforschenden Phänomens dar. Sie sind nicht einzelne, autonome
Subjekte, sondern Teil einer Assemblage von Akteur*innen, zu denen auch die zu
messenden, zu erklärenden und zu erforschenden Gegenstände gehören. Ebenso ist
der Forschungsapparat, d. h. die methodische oder experimentelle Vorgehensweise
ein Teil, ein Aspekt des zu erforschenden Phänomens. Dies erfordert eine neue
Relevanz der ethischen und politischen Verantwortung schon bei der Auswahl und
Definition des Forschungsgegenstands, des Problems, das erkannt, beschrieben
und/oder erklärt werden soll: Was wird als gegeben vorausgesetzt? Was wird in
Frage gestellt? Die zu erforschenden materiell-diskursiven Zusammenhänge sind
ebenso in ihrer Aktivität zu verstehen, die letztendlich nicht vollständig berechenbar
wird. Sie bringen allerdings das zu erforschende Phänomen auf aufregende, erkenn-
bare und beschreibbare Weise mit hervor.
Für die Medienforschung ergibt sich daraus eine methodische Öffnung des
Forschungsprozesses hin zur bewussteren Einbeziehung der zu Beforschenden in
partizipativen Forschungsprozessen (Gouma et al. 2014; Thomas et al. 2019).
Assimina Gouma (2020) diskutiert in ihrem Buch Migrantische Mehrsprachigkeit
und Öffentlichkeit ausführlich und kritisch Möglichkeiten und Grenzen partizipati-
ver Forschung im Zusammenhang mit einem mehrsprachigen Radioprojekt: „Par-
tizipative Forschung ist kein ,Rezept‘, sie ist auch kein ,Heilmittel‘ der Sozialwis-
senschaft. Die Euphorie, die mit dieser Methode in Verbindung steht, beruht auf dem
Versprechen, durch Partizipation Machtverhältnisse innerhalb und außerhalb der
Forschungspraxis zu hinterfragen und zu destabilisieren.“ (Gouma 2020, S. 103)
Partizipative Forschung versteht sie in Anlehnung an Paulo Freire und feministische
Forschung in enger Verwandtschaft mit Aktionsforschung als ein Zusammendenken
von Partizipation und kritischen Prozessen der Emanzipation. Dabei bedeutet „der
Anspruch einer emanzipativen Intervention“, wie ihn partizipative Forschung und
Aktionsforschung oft formulieren, „eine Forschungspraxis, die koloniales Verlernen
umsetzt, ohne Differenzen zu negieren“ (Gouma 2020, S. 110).
Im Zusammenhang mit Produzent*innen von Medientechnologien (Computer-
spiele und Suchmaschinen) entwickelte Doris Allhutter mit Kolleg*innen die aus der
Frauenbewegung der 1970er-Jahre stammende Methode der Erinnerungsarbeit für
die Technikforschung weiter (Allhutter et al. 2008). Medienentwickler*innen kön-
nen in Verfahren des Mind Scriptings (Allhutter 2012) in Gruppenprozessen nach
(unbewussten) stereotypen Vorannahmen bezüglich der Mediennutzer*innen „be-
fragt“ werden oder nach wichtigen Entscheidungen, die sie in der Medienentwick-
lung getroffen haben oder nach „richtig guten“ Medieninhalten (Stories, Bilder). In
einem anonymisierten dekonstruktiven Gruppenverfahren können so unbewusste
Einstellungen zu Personen, zu Medieninhalten und deren Gesellschaftsbezug ins-
Phänomene des Werdens: Intersektionalität, Queer, Postcolonial, Diversity . . . 69
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Queer Media Studies – Queering
Medienwissenschaften
Katrin Köppert
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
2 Zentrale Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
3 Entwicklungslinien und Gegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
4 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
Zusammenfassung
Neben der Medialisierung nicht-heteronormativer Geschlechter und Sexualitäten
bzw. der queeren Vergeschlechtlichung von Medien(-körpern) und medialen
Räumen stellt das Queering von Medienwissenschaften eine dritte Option einer
Annäherung an die sich gegenseitig bedingenden Felder der Queer Studies und
Medienwissenschaften dar. Im Zuge der Veränderungen des Fernsehens erleben
insbesondere die Queer Television Studies einen Auftrieb.
Schlüsselwörter
Queering · Intime Öffentlichkeit · Politiken des Privaten · Performative
Medienontologie · Queer Film · Queer Television Studies
K. Köppert (*)
Institut für Geschichte und Theorie der Gestaltung, Universität der Künste Berlin, Berlin,
Deutschland
E-Mail: k.koeppert@udk-berlin.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 73
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_71
74 K. Köppert
1 Einleitung
Würden Gender Media Studies und Queer Media Studies heute nebeneinanderge-
stellt, ließe sich eine klar zu umreißende Differenz nicht leicht ausmachen. Zu sehr
sind ihre Gegenstandsbereiche, Genealogien und Perspektivierungen miteinander
verstrickt. Fast könne behauptet werden, der Unterschied zwischen einer feministi-
schen und auf die Emanzipation von Frauen (ohne Sternchen) orientierten Medien-
wissenschaft wie zum Beispiel die frühe Feministische Filmwissenschaft und den an
der Entnaturalisierung von Geschlecht interessierten Gender Media Studies im
Anschluss an Michel Foucault und Judith Butler sei größer.1 Denn sind nicht auch
Queer Media Studies wie die Gender Media Studies an Fragen der durch Medien
informierten Denaturalisierung von Geschlecht interessiert? Wenngleich der für
Queere Theorie wesentlichen Argumentationslinie folgend Sexualität im Zentrum
der Analyse queerer Medienwissenschaft steht,2 ist es doch zu allererst Geschlecht,
das – wider einer „Metaphysik der Substanz“ (Butler 1991 [1990], S. 49) – als
Konstruktion beschrieben und der Untersuchung (medialisierter) sexueller Identität
zu Grunde gelegt wurde. So bezog sich Michel Foucault in seinem für die Queer
Studies zentralen Buch Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit auf sexuelle
Identität weniger als sexuelle Praktik denn als geschlechtliche Identität (Foucault
1983 [1976], S. 47) und markierte die Frage der Sexualität als eine des Geschlechts.
Und auch der diskursbegründende3 Text Queerer Theorie Gender Trouble (Das
Unbehagen der Geschlechter, Butler 1991 [1990]) von Judith Butler operiert mehr-
heitlich im Diskursfeld gendertheoretischer Fragen. Eine Grenze zwischen Gender
Media Studies und Queer Media Studies zu ziehen, scheint somit hinfällig und
keinesfalls produktiv. Gleichzeitig taucht die Frage auf, was eine gesonderte Ausei-
nandersetzung mit Queerer Medienwissenschaft rechtfertigt und sogar notwendig
macht. Welchen epistemologischen Mehrwert ergibt die Verlagerung des Schwer-
1
In dieser zugegebenermaßen etwas konstruierten Gegenüberstellung verbirgt sich dennoch ein
nicht zu leugnender Gesichtspunkt, der mit der Wissensgeschichte des Feminismus bzw. den
Gender Studies im Zusammenhang steht. Denn obwohl es Judith Butler im Rahmen ihres für die
Gender und Queer Theory zentralen Buches Gender Trouble (Das Unbehagen der Geschlechter,
Butler 1991 [1990]) nicht darum ging, eine Grenzziehung zwischen Feminismus und Gender
Studies herzustellen, legte sie Wert darauf zu betonen, dass sich Feminismus der Kritik stellen
müsse, Politiken der Identität mitunter essentialistisch geführt zu haben (Butler 1995, S. 53). Die
sich im Anschluss an Butlers Thesen richtende Rezeption (Butler 1995, S. 9–12) – so lässt sich auch
feststellen – hat im Weiteren ähnlich wie Butler selbst eine Verantwortung dafür zu tragen, dass
Feminismus und Gender-Theorie durchaus als in Differenz zueinanderstehend wahrgenommen
werden.
2
Gayle Rubin führt in ihrem Essay Thinking sex: Notes for a radical theory of the politics of
sexuality 1984 aus, dass Sexualität nicht auf die Kategorie Geschlecht reduziert werden könne
(Rubin 1993 [1984], S. 22).
3
Kathrin Peters verweist auf Judith Butlers Buch Gender Trouble als diskursbegründend, weil die
enorme und unerwartete Resonanz nicht nur Butler selbst überraschte, sondern die Kraft verdeut-
licht, die sich im Anschluss an die Kontextverschiebung, die Butler für den Feminismus bewirkt
hatte, entzündete (Peters 2020).
Queer Media Studies – Queering Medienwissenschaften 75
punkts weg von Gender hin zu queer, das eben doch nicht nur für geschlechtsbezo-
gen nicht-konforme Praktiken steht. Wenn wir uns die Etymologie des Wortes
einerseits4 und die in radikale Politiken US-amerikanischer AIDS-aktivistischer
Bewegungen ab Ende der 1980er-Jahre eingewobene Wiederkehr des für Diffamie-
rung und Hassrede stehenden Terms andererseits5 in Erinnerung rufen, dann lernen
wir, dass queer mit nicht-konformen sexuellen Praktiken appliziert ist, die Aspekte
des filth und des Abjekten inkludieren. Eben dieser von queer im Sinne radikaler
politischer Praktiken des Verdrehten, Versauten und Perversen ausgehenden Qualität
möchte ich im Folgenden für Fragen von Medien und Medienwissenschaft nach-
spüren.
Queer Studies entstanden Ende der 1980er-Jahre aus einer Gemengelage sozialer
Bewegungen, aktivistischer Protestformen und akademischer Diskurse. Heute mit
dem Vorwurf konfrontiert, es handele sich um ein ausschließlich akademisches
Projekt (Feddersen 2019), lassen sich die Queer Studies – entgegen mancher Ver-
suche der Dehistorisierung bzw. Entkoppelung6 – nicht außerhalb eines aktivisti-
schen Aufbegehrens gegen die offen homophobe Politik der USA im Zuge der
AIDS-Epidemie verorten (Jagose 2001 [1996], 2009). Das Aufbegehren als für
queere Politiken AIDS-aktivistischer Bewegungen zentrale Praxis hat sich in den
akademischen Kontext eingeschrieben. So lassen sich die Queer Studies nicht nur als
eine analytische Rekonstruktion der sozial gestifteten Kohärenz von sex – gender –
desire oder als „theoretische Aufmerksamkeit“ gegenüber dem Regime der Hetero-
sexualität (Hark und Stephan 2005, S. 285) verstehen, sondern als eine Intervention
in eben dieses, an bestimmte (institutionelle) Parameter der Wissensproduktion
4
Queer meint der Etymologie zufolge schräg, aber auch seltsam. Das Wort wird auf die altenglische
Wurzel cwer für krumm oder ungerade bzw. die indogermanische twerkw für wenden zurückge-
führt, bald aber schon als pejorative Attributierung von deplatzierten, störenden, übertriebenen,
verdrehten, versauten und perversen Objekten bzw. Subjekten genutzt (Grahn 1984, S. 276; Leap
1996, S. 101; Poole 2004, S. 145). Spätestens in den 1920er-Jahren wurde der Begriff in den USA
als alltagssprachliches Schimpfwort für vornehmlich homosexuelle Männer unter anderem auch im
Zusammenhang von Selbstbezeichnungen genutzt (Chauncey 1994, S. 101). Im Verlauf des 20.
Jahrhunderts hat es sich zum Schmähwort für gleichgeschlechtliches Begehren ohnegleichen
entwickelt (Dynes et al. 1990, S. 1091).
5
Die Umdeutung des Wortes von einem Schimpfwort zu einer Selbstbezeichnung, später dann zu
einer Beschreibung für eine Theorie lässt sich einerseits als politische Antwort auf die im Kontext
der AIDS-Epidemie wiedererstarkenden homophoben Ressentiments verstehen. Andererseits ist die
„Fehlaneignung“ der verletzenden Rede (Butler 2010 [1997], S. 70) darauf zurückzuführen, dass
der Term in die Verantwortung genommen werden sollte, dem antifeministischen turn innerhalb des
schwul-lesbischen Diskurses entgegenzutreten (de Lauretis 1991, S. iv–vii).
6
Paula-Irene Villa vertritt bezogen auf die Gender Studies die These, dass „[sie] nicht der akade-
mische Arm eines politischen Emanzipationsprojektes“ sind. Emanzipation sei demnach lediglich
„empirisches Objekt der Forschung“ (Villa 2017), nicht aber politischer Einsatz der Forschung
an sich.
76 K. Köppert
gekoppelte Machtregime. Dass Queere Theorie immer wieder innerhalb von Uni-
versitäten problematisiert wird bzw. in dem Moment zum Problem erhoben wird,
wenn sie Probleme anspricht (Ahmed 2017, S. 36–39), verdeutlicht die Intervention,
die sie herzustellen in der Lage ist. Sie als Sensationalismus zu rezipieren (Doyle
2015, S. 9; Ahmed 2017, S. 37), markiert, wie sehr sie Irritationen auszulösen
vermag und wie wenig sie eine auf Konformität hin orientierte theoretische Perspek-
tivierung darstellt. Doch damit nicht genug: Queer Studies in ihrer Referenz auf
aktivistische Formen des Protests haben nicht nur einen Bezug auf Modi des
Aufbegehrens, der Streitlust (Butler 2017), des Dissens (Butler 2011), der Militanz
(Crimp 2002 [1989]), der spaßverderbenden Beschwerde (Ahmed 2014, 2017)
beibehalten, sondern dies in den Zusammenhang der Entwicklung anderer als nur
akademischer Schreibweisen (Cixous 2008; Cvetkovich 2012), theatral-ironischer
Pädagogiken der Ansteckung (Ronell 2010, vgl. auch Jay 2011), künstlerischer
Forschungen (Lorenz 2012) und medialer Technologien (Blas und Cárdenas 2013)
gestellt. Der performative, intervenierende Charakter Queerer Theoriebildung, der
sich dadurch auszeichnet, den Gegenstand, den es zu untersuchen gilt, in Form einer
durch ihre Methoden erzeugten Abweichung, Verschiebung oder Transformation
herzustellen (de Lauretis 1991, S. iv),7 ist damit an die Frage der Medialität – des
Diskurses, der Schrift, des Theaters, der Medientechnologien – gebunden. Sich
Queere Medienwissenschaft auch darüber zu erschließen, die Medialität Queerer
Theorie zu beachten, bedeutet das Feld auszuweiten. Neben der Analyse von Gender
und Sexualität in medialen Formaten bzw. von Medien als queeren Konfigurationen
geht es immer auch um den dekonstruktiven Einsatz von queer in den Medienwis-
senschaften, der unmittelbar an seine Medialität heranführt.
Queer Media Studies werden gemeinhin durch zwei sich gegenseitig bedingende
Herangehensweisen gekennzeichnet (Peters und Seier 2016, S. 13). Zum ersten
beschäftigen sie sich mit an Medien geknüpfte Darstellungsweisen, die Geschlecht
und Sexualität hervorbringen. Dies ermöglicht zu verstehen, welche Mechanismen
am Werk sind, Geschlechternormen und normative Vorstellungen von Sexualität und
Begehren zu produzieren. Wie Geschlechter, Körper und Begehrensrelationen unter
medialen Bedingungen intelligibel, also sag- und lesbar werden (Seier 2007), lässt
sich über diese erste Konzeptionierung nachvollziehen. Zum zweiten markiert die
Verklammerung von Queer Studies und Medienwissenschaft die Erkenntnis, dass
Medien selbst keine unhintergehbaren Entitäten bilden, sondern gleichermaßen wie
Geschlecht und Sexualität hervorgebracht werden (Krämer 2004; Peters 2020).
7
Theresa de Lauretis, die 1991 bestimmend für die Begriffsbildung Queerer Theorie war, hebt die
doppelte Schwerpunksetzung hervor: „Queer Theory betont zweierlei – die konzeptionelle und
spekulative Arbeit neuer Diskursproduktion sowie die notwendig kritische Arbeit der Dekonstruk-
tion dieser Diskurse und dessen, was diese verschweigen.“ (de Lauretis 1991, in der Übersetzung
v. Hark und Stephan 2005, S. 286).
Queer Media Studies – Queering Medienwissenschaften 77
8
Mit den Journalen Feminist Media Studies und Queer Studies in Media & Popular Culture wird
deutlich, dass Queere Medienwissenschaft in den USA weitgreifender verankert ist.
9
Kathrin Peters führt im Anschluss an Marie Luise Angerer sowie Andrea Seier und Eva Warth aus,
dass während queer- und gendertheoretische Ausführungen zur Performativität im weitgehend
männlichen Kanon des Fachs Medienwissenschaft keine Berücksichtigung gefunden haben, sie
umso intensiver in der feministischen Film- und Medienwissenschaft rezipiert worden seien (Peters
2020; vgl. auch Angerer 1999; Seier und Warth 2002).
10
Neben den Professuren soll auch die AG Gender/Queer Studies und Medienwissenschaften der
Gesellschaft für Medienwissenschaft und der von ihr ausgelobte Preis Best Publication Award
Gender & Medien erwähnt werden.
11
Kathrin Peters behauptet, dass im Zuge der Kanonisierung der Medienwissenschaft als Kultur-
wissenschaft neben Marshall McLuhan Walter Benjamin, Paul Virilio, Jean Baudrillard, Vilém
Flusser und Friedrich Kittler zu festen Größen geworden seien, wohingegen von den feministischen
und gendertheoretischen Perspektiven lange kaum Notiz genommen wurde (Peters 2005, S. 326).
78 K. Köppert
wusstem. Da es sich bei den Queer Studies eben nicht nur um Methoden und
Instrumentarien der kritischen Analyse von Medien, Bildern und Technologien im
Rahmen ihrer institutionellen Produktions- und Rezeptionskontexte (Brandes und
Adorf 2008, S. 8) handelt, sondern um an Medien und Technologien gebundene
performative Praktiken, riskante Wissensgrenzgänge (Butler 2011, S. 237), Experi-
mente (Engel 2008) oder Selbstversuche (Preciado 2016 [2008]; Cvetkovich 2012),
weisen sie über fachspezifische Gewissheiten hinaus, an denen sie letztlich aber
gemessen werden. Solange wissenschaftliche Disziplinen und Forschungsbereiche
als Apparate der Verwaltung des status quo in Bezug auf disziplinäre Grenzabste-
ckungen operieren, solange werden Queer Media Studies auf die hinteren Plätze
verwiesen. Queere Ansätze werden somit auf die Position des kann reduziert. Sie
können der forschenden Auseinandersetzung mit Medien hinzugefügt werden, sind
für die Medienwissenschaft aber nicht konstitutiv. Diese Feststellung verführt dazu,
Gegenstände und Konzepte für die Erarbeitung einer queeren Position nur aus den
Beschreibungen der Medienwissenschaft als disziplinärem Feld abzuleiten. Von den
Konzepten, Methodologien und eben auch medialen Verfahren queerer Theorie zu
lernen, um zu verstehen, wie queer die Medienwissenschaften schon immer waren,
tritt entsprechend in den Hintergrund. Ein Queering von Medienwissenschaft heißt
folglich auch, sich – vermittelt durch Ansätze der Anfechtung und Transformation –
den eigenen Durchlässigkeiten bewusst zu werden, um von diesen ausgehend die als
Schicksal begriffenen Normen in den Kreislauf von Iteration und Resignifikation
(Butler 1995 [1993], S. 295–296) zu überführen. Queering Medienwissenschaft ist
also mehr, als queer in den Medien und Medien in den Queer Studies aufzuspüren.
Es impliziert im Sinne eines queer reading (Sedgwick 1985) oder queer commentary
(Berlant und Warner 1995), die Medienwissenschaften als genuin queer zu verste-
hen, um von da aus Konventionen und Normen anzufechten, umzudeuten, zu
veruneindeutigen (Engel 2002).
2 Zentrale Konzepte
2.1 Repräsentation
Für die Queer Studies und deren Interesse, die Dimension von Geschlecht und
Sexualität im Zusammenhang von Subjektivierungsweisen und Vergesellschaftun-
gen zu untersuchen und zu transgressieren, war und ist der Begriff der Repräsenta-
tion zentral. Neben seinem epistemologischen und politischen Sinngehalt der Ver-
gegenwärtigung bzw. Vertretung (Figge 2016, S. 109) bedeutet er auf der Ebene der
medialen Darstellung innerhalb Queerer Theorien die Konstruktion eines Sichtbar-
keitsverhältnisses, das heißt die performative und nicht repräsentative Herstellung
von Bedeutung im Moment des Zu-Sehen-Gebens von Geschlecht und Sexualität
(Schade und Wenk 2011, S. 119). Da der performative Gehalt an zeitlich, räumlich
und medientechnologisch situierte Bedingungen geknüpft ist, wohnt diesem Begriff
der Repräsentation immer schon die Kehrseite des Nicht-Sichtbaren inne. Es kann
nie alles gezeigt werden. Mit keiner Darstellung kann an allen Orten dieser Welt, zu
Queer Media Studies – Queering Medienwissenschaften 79
allen Zeiten unserer Wahrnehmung das Gleiche repräsentiert werden. Daraus resul-
tiert nicht nur die Übereinkunft, Wissen als genuin situiert anzuerkennen (Haraway
1988), sondern die Aufgabe, sich der Ambivalenz der Sichtbarkeit (Schaffer 2008)
zuzuwenden, um nicht vorschnell auf die Frage der Sichtbarkeit als einzig möglicher
Option queerer Repräsentation abzuheben. So kann zwar das Zeigen eines Körpers
die „vermeintlichen Normalitäten und Normativitäten im Feld von Politik, Ökono-
mie und Kultur“ (Paul 2008, S. 320) auf für queere Politiken produktive Weise
kritisieren, aber gleichzeitig die Unsichtbarkeit der realen Mächte, die diese Körper
zurichten, hervorbringen. Andersherum kann das Ausbleiben einer figürlichen Dar-
stellung queere Subjektivitäten und Räume des Begehrens erzeugen (Brandes und
Adorf 2008, S. 10), weil durch die Negation die Rezeption insofern herausgefordert
wird, als wir aufgefordert werden, uns neu in Verbindung dazu zu setzen, was Sehen
und Erkennen bedeutet (Schade und Wenk 2011, S. 119). Dies vermag etwas
Imaginäres freizusetzen, das – insofern es Normen potenziell enthoben ist – schräge,
queere Bilder zu erzeugen in der Lage ist. Weitere medienwissenschaftliche Kon-
zeptionen, die Ambivalenzen der Sichtbarkeit zu thematisieren und für queere
Lesarten zugänglich zu machen, sind unter anderem das Kippbild (Michaelsen
2017), die Mimikry (Lorenz 2009), das Besetzen (Schaffer 2008).
2.2 Performativität
ten und Politischen adressieren. Folge dieser Adressierung ist, die Grenzverwi-
schung der kulturphilosophisch getrennten Sphären der politischen Öffentlichkeit
und individualistischen Privatheit (Arendt 2007 [1958]; Habermas 1990 [1962])
wahrzunehmen. Performativität aus Perspektive von Queer Theory zu betrachten,
ermöglicht daher auch, die Vermischung (medialer) Räume bzw. die Intermedialität
(Hoenes und Paul 2018) hervorzuheben und queer als einen „Raum der Eingänge
und Ausgänge“ zu konzeptionieren, der keine Gemeinschaft konstituiert, sondern
eine „nicht-systematisierte[]“ Ansammlung – eine Versammlung, die „inkommen-
surable[n] Register[n]“ folgt (Berlant und Warner 2005 [1998], S. 92).
Ein weiterer Aspekt, der mit dem Begriff der Performativität einhergeht und aus
medienwissenschaftlicher Perspektive interessiert, ist die Möglichkeit, Handlungs-
macht (agency) von Bildern, Artefakten und Apparaten zu denken. Mit agency ist im
Sinne einer queeren Perspektive auf Performativität nicht der Subjektstatus von
Dingen, also die Fähigkeit souveräner und kreativer Ursprung zu sein, gemeint.
Stattdessen geht es um die Anerkennung von (Medien-)Dingen, die im komplexen
Gefüge aus menschlichen, technischen und ästhetischen Elementen nicht-souverän
(Seier 2016, S. 506), also clumsy, störanfällig, unbestimmt wirken. Veruneindeuti-
gungen, wie sie auf Geschlechterperformances und Sexualitätsdarstellungen bezo-
gen innerhalb queerer Überlegungen diskutiert werden, finden Eingang in das
Denken von Materialität und Medialität. Dieses ist vor allem von Phänomenen
bestimmt, die Medien als dynamische und in ihrer Ontologie unbestimmte begreif-
bar machen, als ontologische Queerness sozusagen (Barad 2015). Wellenüberlage-
rungen (Barad 2003), Äther (Villarejo 2013), Atmosphären (Ahuja 2015), Gerüche
(Sobchack 2013; Marks 2013) schreiben sich aus einer queer-feministisch naturwis-
senschaftlichen Perspektive in die Medienwissenschaften ein, wo sie als Wahrneh-
mungsmedien dem marginalisierten Terrain „gewöhnlicher Verbreitungsmedien“
(Luhmann 1997, S. 197; Leschke 2003, S. 17) zugeschlagen werden. Wahrneh-
mungsmedien, die nicht primär der symbolischen Verständigung, sondern der Ver-
breitung dienen, erlebten über den Link zum Massenmedialen kulturhistorisch eine
Marginalisierung. Hier setzt queer insofern an, als es Potenziale für die Neukonfigu-
rierung sozialer Verhältnisse freisetzt, die sich nicht ausschließlich an symbolischen
Ordnungen des Geschlechts oder Kategorien des Menschlichen ausrichten.
Mit Blick auf die Entwicklungslinie ist queertheoretische Medienanalyse von den
drei großen F’s – Fotografie, Film, Fernsehen – geprägt. Hier soll neben Film
vornehmlich dem Queerem Fernsehen Aufmerksamkeit geschenkt werden. Dies
begründet sich unter anderem durch zwei die Queer Television Studies enorm
antreibende Zäsuren: Die erste lässt sich auf das Jahr 1997 datieren, das Jahr der
Queer Media Studies – Queering Medienwissenschaften 81
coming-out-Episode der Sitcom Ellen, die – so Dana Heller – eine Einteilung der
Queer Television Studies in eine Zeit davor und danach12 bewirkte (Heller 2011).
Die zweite Zäsur stellt das Angebot von Video-on-Demand seit 2007 dar und die
damit einhergehende Produktion von Serien, deren Inhalte nicht mehr durch die
klassischen Medienkonzerne kontrolliert wurden und die sich sukzessive einem
diverseren Publikum öffneten. Die den Streaming-Diensten zugewiesene Rolle,
Fernsehen und Kino revolutioniert zu haben, wirkt sich auf die Präsenz queerer
Charaktere – mittlerweile auch im öffentlich-rechtlichen bzw. Bezahlfernsehen –
aus. Die sich auf deren Erforschung stützenden Queer Television Studies – mit stark
US-amerikanischem Einschlag – kommen ähnlich wie die Zuschauer innen kaum
noch hinterher, sich der medialen Sichtbarkeit queeren Personals zu widmen.
12
Die These der Periodisierung der Queer Television Studies vor und nach der coming-out-Episode
findet ihre Bestätigung darin, dass der populärste Blog, der sich der Sichtbarkeit von lesbischen
Repräsentationen im TV widmet, After Ellen heißt.
82 K. Köppert
Hochzeitsbanketts (Lee Ang 1993 The Wedding Banquet) schwule Schurken (Tom
Kalin 1992 Swoon, Todd Haynes 1991 Poison) ins Zentrum der Aufmerksamkeit
rückten oder Themen wie in früheren Filmen verhandelte sexuelle Praktiken wie
zum Beispiel Klappensex (Frank Ripploh 1980 Taxi zum Klo) und orgiastische
Feiern körperlicher Ambiguitäten (Jack Smith 1963 Flaming Creatures) wiederent-
deckt wurden (Diederichsen et al. 2006), scheint wenig verwunderlich (Doty 2000,
S. 321–322).
Im Zuge der Digitalisierung formiert sich nun ein Queeres Post-Cinema, das „die
Explorierung neuer medientechnischer Landschaften mit der Kritik an biopoliti-
schen Subjektivierungen und neoliberalem Kapitalismus verbindet“ (Deuber-
Mankowsky 2017). Gleichzeitig geht es darum, Post-Kino als eine medientechno-
logische und ästhetische Logik aufzufassen, die in Queerness wurzelt, wobei im
Zuge des Chthulucene13 (Haraway 2016) Figuren der Kontingenz und Praktiken des
Prekären wie zum Beispiel composting (Haraway 2016), leaking/loitering (Chun
und Friedland 2015), contaminating (Tsing 2015) oder poisoning (Blas 2018) für
sexuelle Subjektivierungsweisen zunehmend relevant werden.
3.2 Queer TV
13
In Abgrenzung zum Begriff des Anthropozäns geht es Haraway mit dem Chthuluzän um ein
Zeitalter des Lernens vom Leben anderer Arten in ihrem Werden.
Queer Media Studies – Queering Medienwissenschaften 83
Platzierung in den durch Praktiken der queeren Zitation und Zirkulation gewon-
nenen Netzwerken des Begehrens im TV (Shetina 2018) attestiert und somit zu
Zeiten von Trump die Chance einer Revitalisierung queeren Widerstands zuge-
wiesen (Greenhalgh 2018), wird ihr ein anderes Mal die (neokoloniale) Kommo-
difizierung und Spektakularisierung queerer Körper und kultureller Praktiken wie
culture jamming und drag vorgehalten (Gudelunas 2016; Hodes und Sandoval
2018; Upadhyay 2019).
Oft ernüchtert von der durch das heteronormative Regime vereinnahmten
Darstellung queerer Protagonist innen und ihrer Beziehungen, lässt sich die
Hinwendung zu queer-reading-Strategien beobachten, die, trotz der Abwesen-
heit queeren Personals, das subversive Vergnügen herausarbeiten, Queerness im
Mainstream repräsentiert zu sehen (Heller 2011, S. 676; vgl. auch Doty 1993).
Queere Fernsehwissenschaft stellt demnach ähnlich wie die Filmwissenschaft
auch ein archäologisches Projekt dar, sprich ein retrospektives Queering der
Fernsehgeschichte (Sullivan 2003). Aaron problematisiert jedoch dieses Projekt
als romantisierende Wiederentdeckung einer queeren Vergangenheit, die oft mit
dem neo-liberalen Impuls des Mainstream-TVs einhergehe, LGBTIQ -Themen
zu vereinnahmen (Aaron 2013, S. 170; Becker 2004 [1998], 2006; McCarthy
2005). Als aktuelles Beispiel kann die Serie Transparent (Jill Soloway 2014-lfd.)
des Streaming-Dienstes Amazon Prime angeführt werden. Die darin nostalgisch
verklärten Blicke auf die Cross-Dresser-Szene der 1990er-Jahre sowie das sexu-
elle ‚Babylon Berlin‘ der Weimarer Republik verführen scheinbar dazu, die
Einbettung queerer Lebensweisen in die neoliberale Gegenwart eines Wohl-
stands, der ohne sichtbarer Arbeit einfach da zu sein scheint, an den Rand der
Analyse zu drängen (Haschemi Yekani 2015; Villarejo 2015). Gegenbeispiel
könnte hierzu überraschenderweise Mad Men (AMC, 2007–2015) sein: Die in
Mad Men breit angelegte Nostalgie würde hier nicht eskapistische Flucht sein,
sondern Katalysator der Verhandlung, was queer gegenwärtig noch meint: „anti-
homophobic unmasking of past injustice, neo-liberal faith in identity politics that
celebrates diversity and inclusion, [or] a more transgressive queer challenge to
normativity itself.“ (Hennessee 2017)
Mit Nostalgie als der sehnsuchtsvollen Hinwendung zu einer Vergangenheit, die
gegebenenfalls queerer war als vermutet, ist ein Verhältnis von queer zu Zeit und
Zeitlichkeit beschrieben. Dieses steht bei Amy Villarejo (2013) im Zentrum queerer
Fernsehwissenschaft. Sie interessiert, wie Fernseh-Zeit (television time) Queerness
organisiert und verändert (Villarejo 2013, S. 17). So untersucht sie beispielsweise,
wie technische Neuerungen wie Multikanal-Fernsehen oder Satellitenfernsehen,
Formate wie Reality-TVoder Sitcoms und Raumanordnungen (Fernsehen vom Sofa,
vom Bett, in der U-Bahn) Einfluss darauf haben, wie queer als Modus der Verzöge-
rung oder der Retrospektion gelebt wird und entsprechend straight time, also nach
vorn gerichtete und ohne Brüche imaginierte Zeitlichkeiten heteronormativer
Genealogien, herausfordert. Insofern versteht sie Fernsehen auch als ein Medium,
das ermöglicht, Gesellschaftsverhältnisse der Zukunft auf nicht heteronormative
Weise zu allegorisieren. Nostalgie im Kontext genderqueerer Serienformate ließe
sich demnach als die Zeitlichkeit der Zukunft bezeichnen: Zukunft, so Villarejo,
84 K. Köppert
wird die Zeit des Melodrams sein (Villarejo 2013, S. 29), was schon immer irgend-
wie camp14 war.
4 Ausblick
Wie anfällig Medien für ihre Theoretisierbarkeit sind, das heißt, wie affin Medien
sind, Theorien zu begründen, ist abhängig von ihrer sozialen Relevanz (Leschke
2003, S. 16). Erst wenn Medien innerhalb sozialer Beziehungen relevant wurden,
setzte sich die Wissenschaft mit ihnen auseinander. Im Feld queerer Relationen zum
einen und queerer Denkweisen zum anderen stellt sich jedoch die Frage nach dem,
was sozio-kulturell relevant ist, anders. Müssten aus Sicht nicht-heteronormativer
Ansätze zur Produktion und Rezeption von Medien nicht ganz andere als nur die drei
großen F´s ins Blickfeld Queerer Medienwissenschaft gelangen? Müssten nicht eher
auch informelle Medien wie Mail-Order-Kataloge, Flyer, Dating-CD-Roms Gegen-
stand der Analyse sein? Bestimmt im Feld von queer nicht vor allem auch die Sub-
und Amateurkultur die Herstellung und den Gebrauch von Medien (Regener und
Köppert 2015)? Sind nicht auch der Alltag und die sich im Alltag ereignenden
Phänomene wie Gerüchte (Bruns 2017), Klatsch und Tratsch (Siegel 2006) als
queere Medien zu verstehen? Und wie können wir mit digitalen Störungsquellen
wie Glitch (Strick 2012), Spam (Paasonen 2009), Viren (Parikka 2007) und Bots
(Sinders 2016) aus queerer Sicht weiter und intensiver – queerer – arbeiten? Wenig
ist das nicht, für das noch offene Feld der Queeren Medienwissenschaft.
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Doing Media Theory: Feministische
Medientheorie als künstlerische Praxis
Gabriele Jutz
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
2 Feministische Medientheorien seit den 1990er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
3 Künstlerische Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
Zusammenfassung
Vielfältige Formen zeitgenössischer Medienkunst zeigen das Ineinandergreifen von
feministischer Medientheorie und künstlerischer Praxis. Die Reflexion von Medien
mittels künstlerischer Strategien („Doing Media Theory“) ist ein wichtiges Korrektiv
gegenüber einer allein mit sprachlichen Mitteln agierenden Theorie.
Schlüsselwörter
Feministische Medienkunst · Feministische Medientheorie · Experimentalfilm ·
Feministische Kunstpraxis · Künstlerische Forschung
1 Einleitung
Schon der Begriff „Medienkunst“ wirft Fragen auf, ist doch Kunst generell medial
vermittelt. Selbst eine Engführung auf apparative Medien, wie im vorliegenden Beitrag,
trägt nur bedingt zur Klärung bei. Zur Abgrenzung von herkömmlichen, analogen
G. Jutz (*)
Abteilung für Medientheorie, Universität für angewandte Kunst, Wien, Österreich
E-Mail: gabriele.jutz@uni-ak.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 89
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_61
90 G. Jutz
Medien wurde der Begriff „Neue Medien“ eingeführt, der jedoch nicht minder proble-
matisch ist, da er so unterschiedliche Technologien und Praktiken wie digitales Video,
Computerkunst, Virtual-Reality-Inszenierungen, interaktive Installationen, Game Art
und „Netzkunst“ vereint. Was einst als neue Technologie galt – Video in den 1970er-
Jahren, Computer in den 1980er-Jahren und Internet in den 1990er-Jahren –, ist längst
im Mainstream angekommen. Wer heute von „Medienkunst“ spricht, bezieht sich auf
die Vergangenheit. Gepaart mit dem Adjektiv „feministisch“ wirkt „Medienkunst“ wie
aus der Zeit gefallen: „Feminism has fallen from vogue in contemporary art, and all but
disappeared from new media art and its discourses“ (Behar und Ruzanka 2011, o. S.).
Trotz dieses ernüchternden Befundes möchte ich am Terminus „Feministische
Medienkunst“ festhalten. Als gemeinsamer Nenner für Medien, die auf einer tech-
nischen Apparatur basieren, besitzt „Medienkunst“ nach wie vor distinktiven Wert.
Obwohl im Zeichen des Postfeminismus – insbesondere in seiner neoliberalen
Variante – es keineswegs selbstverständlich ist, dass feministische Anliegen auf
der Agenda von Künstlerinnen stehen, lassen sich gerade in jüngerer Zeit zahlreiche
Beispiele für medienkünstlerische Auseinandersetzungen mit der Kategorie
„Geschlecht“ finden. Was für „Medienkunst“ als Dachbegriff für die hier verhan-
delten künstlerischen Praktiken spricht, ist seine medienreflexive Konnotation.
Sowohl der Experimental- bzw. Avantgardefilm1 als auch die „Neue Medienkunst“2
gelten als hochgradig selbstreferenziell. Ihr Anliegen, Medien mittels Kunst zu
reflektieren, kann als „direct theory“ (Small 1994) bezeichnet werden. Was den
Umgang mit den Herausforderungen einer mediatisierten Welt betrifft, so konzidiert
Rosi Braidotti feministischer Medienkunst sogar einen Vorsprung gegenüber femi-
nistischer Theoriebildung: „There is no question that the creative spirits have a head
start over the masters of meta discourse [. . .]. [A]fter years of post-structuralist
theoretical arrogance, philosophy lags behind art [. . .] in the difficult struggle to
keep up with today’s world“ (Braidotti 1997, S. 525).
Doch was bedeutet es, wenn Diskurs und künstlerische Praxis ineinandergreifen und
Denken sich in Tun – „Doing Media Theory“ – niederschlägt? Diese Frage wird im
Folgenden anhand von zeitgenössischen Beispielen feministischer Medienkunst ausge-
führt.
1
Ich verwende hier ununterschieden „Avantgardefilm“ und „Experimentalfilm“ für filmkünstle-
rische Arbeiten, die auf analogen audiovisuellen Medien basieren – von den Anfängen in den
1910er-Jahren bis zur Gegenwart.
2
Historisch entstanden die „neuen Medien“ im Gefolge des Aufstiegs digitaler Technologien und sind
eng mit der Demokratisierung von Computertechnologie verbunden. Lovink (2006) beschreibt „Neue
Medienkunst“ als „transitorische und hybride Kunstform, als multidisziplinäre ‚Wolke‘ von Mikro-
Praxen“. Der Begriff „neue Medien“ wird bei Manovich (2001, S. 27–61) ausführlich diskutiert.
Doing Media Theory: Feministische Medientheorie als künstlerische Praxis 91
3
Nennenswerte Ausnahmen sind Mellencamps Indiscretions (1990) und Rabinovitz’ Points of
Resistance (1991).
4
Die Begriffe „Cyberspace“ und „Virtual Reality“ sind nicht identisch, obwohl sie bisweilen
synonym verwendet werden: „Cyberspace is the electronic matrix in which the simulations of
virtual reality operate; virtual reality systems are a means to access that space“ (Thornham 2007,
S. 129).
92 G. Jutz
damit verbunden war die Hoffnung, dass das Internet Ungleichheiten beseitigen
würde. Während Sherry Turkle (1997) und Lisa Nakamura (2002) den virtuellen
Wechsel der Identität als befreiende feministische Strategie betrachteten, wurde das
subversive Potenzial entkörperlichter Kommunikation von anderen Theoretikerin-
nen bestritten (Braidotti 1997; Kendall 1998; Daniels 2009). Die nächste Phase
cyberfeministischer Theoriebildung nahm von rigiden Binarismen Abstand. Gängi-
ge Oppositionen wie online/offline, virtuell/real, Körperlichkeit/Körperlosigkeit,
Technoenthusiasmus/Technokritik wurden infrage gestellt und durch komplexere
Erklärungsmodelle ersetzt. Das Internet an sich, so der Tenor, sei weder frauen-
freundlich noch frauenfeindlich. Vielmehr besitze es das Potenzial, „to facilitate
empowerment, oppression, and all points in between“ (Blair et al. 2009, S. 128).
Damit wurde auch der vereinfachenden Sicht, technologische Systeme wie das
Internet seien bloß „Werkzeuge“, deren Gebrauch allein Frauen mit Macht ausstatten
würde, eine Absage erteilt. Zentral für komplexere Erklärungsmodelle ist nicht nur
das Verabschieden kruder binärer Oppositionen, sondern auch die Einsicht, dass
Medien- und Kommunikationstechnologien selbst in Machtstrukturen eingebettet
sind und sowohl ihre Produktion als auch ihr Gebrauch einer historischen Kon-
textualisierung bedürfen.
3 Künstlerische Praktiken
Künstlerinnen nutzen das Internet auf vielfältige Weise, wobei das Medium häufig
für aktivistische, interventionistische und kollaborative Zwecke zum Einsatz kommt.
So nahm etwa Cornelia Sollfranks Female Extension (1997) einen Wettbewerb für
Netzkunst der Hamburger Kunsthalle mit dem Titel „Extension“ zum Anlass,
288 internationale Netzkünstlerinnen zu erfinden, denen sie vollständige Post- und
E-Mail-Adressen zuordnete. Für einen Teil dieser Künstlerinnen generierte Sollfrank
mit Hilfe eines Computerprogramms individuelle Netzkunstprojekte. Während sich
die Kunsthalle über die hohe Beteiligung von Künstlerinnen freute, gingen die
Geldpreise allesamt an männliche Künstler. Die unentdeckt gebliebene Intervention
klärte Sollfrank in einer Presseerklärung auf.
Doing Media Theory: Feministische Medientheorie als künstlerische Praxis 93
Die Künstlerin und Software-Entwicklerin Danielle Sucher stellt unter dem Titel
Jailbreak the Patriarchy (2011) eine Erweiterung für den Webbrowser Chrome zur
Verfügung, der Pronomen und andere geschlechtsspezifische Wörter in ihr männ-
liches oder weibliches Pendant umwandelt. Dermaßen „gejailbreaked“ liest sich
etwa ein Wikipedia-Eintrag zum Thema „Women’s Suffrage“ folgendermaßen:
„Men’s suffrage is the right of men to vote and to run for office“ (Rüst 2013, o. S.).
Miranda Julys und Harrell Fletchers netzbasiertes Projekt Learning to Love You
More (2003–2009) nutzt intensiv die kollaborativen Möglichkeiten des Internet. Die
Besucher der Website learningtoloveyoumore.com5 bekamen verbale Handlungsan-
leitungen, die sie in Form von Zeichnungen, Videos, Fotos oder Texten ausführten
und die sodann von July und Fletcher online gestellt wurden. „Photograph a scar and
write about it“, „Feel the news“ oder „Make a protest sign and protest“ lauteten
einige dieser Anweisungen, denen Menschen aus aller Welt folgten. Julys Interesse
für Kooperationen auf der Basis jeweils aktueller Medientechnologien zeigte sich
bereits 1995, als das damals 21-jährige „Riot Grrrl“ ein Projekt mit dem Titel Joanie
4 Jackie initiierte, das in der Mehrheit unbekannte Filmemacherinnen und deren
Arbeiten durch „video chain letters“ sichtbar machte. Frauen und Mädchen waren
aufgefordert, ein kurzes Video herzustellen, das July ohne zu selektieren auf einer
Videokassette veröffentlichte. Jeder „Videokettenbrief“ enthielt insgesamt zehn
Kurzfilme und wurde – zusammen mit einem Schreiben jeder Filmemacherin – an
die Beiträgerinnen versandt, was zu Feedback und Kooperationen führte.6
Cornelia Sollfranks Hack, der geschlechtsbedingte Exklusionsmechanismen im
Kunstbetrieb aufzeigt, Danielle Suchers Browser-Erweiterung, die für geschlechts-
spezifische Sprache sensibilisiert und Miranda Julys Projekte, die von offensiver
Inklusion zeugen, greifen Anliegen von Künstlerinnen der 1960er- und 1970er-Jahre
auf. Dabei nutzen sie die jeweils neuesten, ihnen zur Verfügung stehenden Medien-
technologien (Video, Internet) und agieren gemäß der Devise: „Online power only
matters if it translates into offline power“ (Ricker Schulte 2011, S. 737).
5
Seit 1. Mai 2009 nehmen July und Fletcher keine Zusendungen mehr entgegen. Die Webseite
wurde 2010 vom San Francisco Museum of Modern Art erworben, wo das Projekt in Form eines
Online-Archivs zur Verfügung steht.
6
2003 übergab July das Projekt an das Bard College, wo weitere vier Videokettenbriefe produziert
wurden. 2017 schenkte July den physischen Bestand des Archivs dem Getty Research Institute.
Eine Dokumentation des Projekts findet sich auf http://www.joanie4jackie.com.
94 G. Jutz
„Meisterwerke“ zugreifen. Proctors Video ist eine direkte Replik auf Bruce Conners
kanonischen Experimentalfilm A Movie (1958), der zur Gänze aus Found Footage,
gefundenem und nicht vom Künstler selbst hergestelltem Filmmaterial, hergestellt
ist. Bestand Conners Fundus aus zufällig entdeckten Zelluloidstreifen, so griff
Proctor bei ihrem Unterfangen, den Inhalt von A Movie nahezu Einstellung für
Einstellung „nachzustellen“, auf die schier unerschöpflichen Bildwelten des Internet
zurück. Das Resultat ist ein kritischer Kommentar sowohl zur zeitgenössischen
Medienkultur als auch zur weiblichen Aneignung bekannter männlicher Kunst-
werke.
Conners A Movie ist eine rasante Collage von Filmmaterial unterschiedlicher
Herkunft: Schnipsel von Western und ethnografischen Filmen, Aufnahmen von
Atomexplosionen, Verkehrsunfällen und Autorennen, Reisefilme und Striptease-
Szenen prallen hier in einer bizarren Gegenüberstellung von Horror und Humor
aufeinander. Proctors Ansatz bestand darin – ausgehend von Conners Film – auf
YouTube und LiveLeak gezielt nach Bildmaterial zu suchen, das geeignet erschien,
den denotativen Inhalt jeder einzelnen Einstellung von Conners Film wiederzuge-
ben, zugleich aber dem unterschiedlichen sozialen, historischen und technologi-
schen Kontext Rechnung zu tragen. An jener Stelle etwa, wo Conner vor Hunger
weinende Schwarze zeigt, finden sich in Proctors Remake weinende Teenager.
„[Today] images of [. . .] privileged adolescents weeping are more ubiquitous than
images of real victims of natural disaster or war, and [. . .] such images are largely
performed explicitly for the camera [. . .]“, erklärt Proctor (MacDonald 2015,
S. 331). Hier wird über das Inhaltliche hinaus ein weiteres Merkmal zeitgenössischer
Medienkultur sichtbar: Während die Bilder, die Conner in den 1950er-Jahren zur
Verfügung standen, aus unterschiedlichen Kameraperspektiven aufgenommen wur-
den, häufen sich in Proctors Video subjektive Einstellungen: „[It’s] all about ME,
documenting MY point of view, giving it priority“, kommentiert Proctor (MacDo-
nald 2015, S. 333). Die Verfügbarkeit von mobilen, kleinformatigen Kameras ver-
führt dazu, das „Ich“ in einer nie dagewesenen Weise zu inszenieren. Diese Proli-
feration subjektiver Blickwinkel ist eines der wesentlichen Merkmale der
Internetkultur.
Proctors Aneignung eines männlichen „Meisterwerks“ darf als genderpolitische
Geste verstanden werden. Ein Vergleich der jeweiligen Eröffnungssequenz macht
dies deutlich: Da, wo im Original wiederholt „Bruce Conner“ in leinwandfüllenden
Lettern erscheint, ist im Remake, gleichfalls in riesigen Buchstaben, „Jen Proctor“
zu lesen. Es entbehrt nicht an subversivem Humor, dass nun der Name einer kaum
bekannten Künstlerin jenen Platz besetzt, der vordem von einem männlichen Autor
reklamiert wurde. Damit nicht genug: Proctor versieht ihren Namen mit animierten
Sternchen, so dass er künstlich glitzert und fügt ihn auch in den Filmtitel ein: „A
Movie by Jen Proctor“. Dieses Überdeterminieren von auktorialer Instanz ist eine
kritische Auseinandersetzung mit Kategorien wie Autorschaft und Originalität.
Indem Proctor von einem weiblichen Standpunkt aus Conners nahezu hysterische
Insistenz auf Urheberschaft nicht nur imitiert, sondern zu übertreffen versucht,
macht sie auf die Lächerlichkeit dieser männlichen Geste aufmerksam.
Doing Media Theory: Feministische Medientheorie als künstlerische Praxis 95
Seit den frühen 1990er-Jahren lässt sich die Tendenz beobachten, dass in zeitgenössi-
schen Kunstpraktiken zunehmend „überholte“, „veraltete“ Medien und Techniken zum
Einsatz kommen (Jutz 2011). Anzeichen anachronistischer Technizität finden sich
insbesondere in Arbeiten, die im Feld der Medienarchäologie verankert sind.
In ihrem Projekt Embroidered Text Messages (2009) stickt Ginger Anyhow kurze
Textnachrichten inklusive Brief-Icon und Datum auf grob gewebten Baumwollstoff.
Das Übersetzen einer neuen Kommunikationstechnologie in die Sprache einer
Jahrtausende alten Technik, die vor allem von Frauen ausgeübt wurde, soll einen
Anlass geben, das Verhältnis von Gender und Technologie zu überdenken. Em-
broidered Text Messages ist aber auch ein Kommentar zu den berührungssensitiven
Interfaces und Touch-Screens, die in unserer digitalen Kultur dominieren. Entgegen
der Annahme, dass sich der Übergang von einem optischen zu einem haptischen
Wahrnehmungsmodus erst mit dem Digitalen vollzogen habe (Parikka 2012, S. 23),
zeigt Anyhow, dass eine Technik wie Sticken ebenso auf die Hand angewiesen ist
wie das Verfassen von Textnachrichten (SMS) auf dem Mobiltelefon.
Medienarchäologische Ansätze fordern zu einer Revision einer an linearem Fort-
schritt orientierten Sicht von Technik auf, wobei der Blick auf vergangene Medienkul-
turen zum Verständnis der Gegenwart beitragen soll. In ihren Arbeiten mit unterschied-
lichen, teils vergessenen Medien verbindet Zoe Beloff genderrelevante Themen,
Narration und medienarchäologische Reflexion. Ihr stereoskopischer Kurzfilm Shadow
Land or Light from the Other Side (2000) basiert auf der gleichnamigen Autobiografie
(1897) des britischen Mediums Elizabeth d’Espérance, deren Fähigkeiten bei spiritisti-
schen Sitzungen zum Einsatz kamen. Für die filmische Umsetzung des Stoffes wählte
Beloff eine 16mm-Stereo-Bolex-Kamera, die es gestattet, dreidimensionale Filme her-
zustellen. In der Geschichte filmischer Aufzeichnungsverfahren blieb diese aus den
1950er-Jahren stammende Kamera eine Marginalie, da es für die Projektion der 3-D-
Filme einer besonderen Linse bedurfte und die ZuschauerInnen außerdem Spezialbrillen
tragen mussten. Für Beloff erschien die Stereo Bolex jedoch die geeignete Apparatur,
das Interesse der viktorianischen Gesellschaft an Spiritismus und Illusionismus zum
Ausdruck zu bringen. Schon der Titel von Beloffs Film – Shadow Land or Light from
the Other Side – ist mehrdeutig, reflektiert er doch zum einen die Welt des Übersinn-
lichen, zum anderen aber auch das Filmmedium selbst. Der Begriff des Mediums wird
bei Beloff nicht zuletzt geschlechtsspezifisch gewendet, indem sie das Funktionieren
von Medien mit patriarchalen Vorstellungen von Weiblichkeit in Verbindung bringt:
„[T]he film explores the psychological underpinnings of this psychic projection, foun-
ded on a deep ambivalence around the role of women. The female medium was
considered an especially suitable conduit to the next world because of her ‚passive
nature‘“ (Beloff o. J.). Medien wie Frauen werden demzufolge ihrer Aufgabe umso
besser gerecht, je unsichtbarer und unauffälliger sie bleiben. Anhand von Shadow Land
entwirft Beloff eine alternative Genealogie von virtueller Realität, die nicht erst mit dem
Cyberspace beginnt.
96 G. Jutz
4 Fazit
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Doing Media Theory: Feministische Medientheorie als künstlerische Praxis 97
Inhalt
1 Einleitung. Die Gegenwart: Vielheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
2 Blick, Code, Subjektivierung: Film als Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
3 Produktion, Rezeption, Technologie: Film als (historische) Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
4 Körper, Materialität, Affekt: Film als Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Zusammenfassung
Die gegenwärtige feministische Filmforschung zeichnet sich durch eine Vielfalt
der Zugänge aus. Die verschiedenen Strömungen erklären die Entstehung
filmisch-visueller Bedeutung bevorzugt über die Decodierung von Film als Text,
über die Analyse (historischer) Produktions- und Rezeptionspraxen von Film
oder über die Auseinandersetzung mit Filmerleben als materiellem, affektivem
Phänomen.
Schlüsselwörter
Kino · Blick · Subjekt · Zuschauer_in · Feministische Filmtheorie
K. P. Hofer (*)
Universität für angewandte Kunst Wien, Wien, Österreich
E-Mail: kristina-pia.hofer@uni-ak.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 99
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_60
100 K. P. Hofer
Feministische Filmforschung der Gegenwart1 zeichnet sich durch die Vielfalt ihrer
Zugänge aus. Obwohl auch frühe oder ‚klassische‘ feministische Ansätze zum Film
durchaus diverse Ziele und Strategien verfolgen, sind theoretische und methodische
(und damit politische) Schwerpunkte aktuell noch breiter gestreut: Mit Laura Mul-
vey und Anna Backman Rogers (2015, S. 11) lässt sich von einer Pluralisierung der
Perspektiven als einer wesentlichen Entwicklung des Feldes sprechen, mit Diana
Pozo (2015a, S. 187) von einer Expansion der Begriffe, die zur Diskussion gestellt
werden. Diese Erweiterungen sind unter anderem auf folgende, sich überkreuzende
Bewegungen zurückzuführen:
1
Parallel zum langen Gegenwartsbegriff der Filmtheorie (zum Beispiel bei Buckland 2015) bezieht
sich auch dieser Beitrag auf Publikationen von den 1990er-Jahren bis heute, wenn er von gegen-
wärtiger Filmforschung spricht.
Feministische Filmforschung 101
Die Annäherung an Film als Text, dessen Grammatik von tief liegenden, geschlech-
terpolitisch bedeutsamen Strukturen geprägt ist und den es deshalb zu decodieren
gilt, stellt in den feministischen Filmwissenschaften eine wichtige Traditionslinie
dar. Seit den 1970er-Jahren thematisieren von psychoanalytischen, poststrukturalis-
tischen und marxistischen Überlegungen inspirierte Autorinnen wie Claire Johnston
oder Laura Mulvey, wie Film an sich, das heißt, kraft seiner (audio-)visuellen
Komposition, Zuseher_innen als vergeschlechtlicht zu positionieren (in anderen
Worten: zu subjektivieren) vermag. Ziel ist hier, das versteckte Wirken von (gesell-
schaftlicher) Ideologie und/oder (psychischem) Unbewussten in den Filmbildern
aufzudecken. So fragt Laura Mulvey (1975), wie generische visuelle Erzählweisen
im klassischen Hollywoodkino (wie zum Beispiel die Gleichsetzung von Kamera-
perspektive mit der Perspektive des männlichen Protagonisten und die Präsentation
von weiblichen Figuren als Spektakel auf Distanz) hierarchische Blickbeziehungen
festschreiben, die eine männlich-heterosexuelle Subjektivierung der Zusehenden
nicht nur privilegieren, sondern andere Dispositionen von Geschlecht, Begehren
und Schaulust praktisch verunmöglichen. Auch Claire Johnston (1973) beschreibt
Filmsprache als eine Instanz, die gesellschaftliche und psychische Realität nicht
einfach nur abbildet, sondern hervorbringt. Sie argumentiert, dass jedes filmische
Mittel in jeder Form von Kino (also continuity editing im Hollywoodfilm genauso
wie das cinéma vérité europäischer Künstler_innen) so lange hegemoniale Ge-
schlechterideologien naturalisiert, solange es sein Verhältnis zu diesen Ideologien
nicht offensiv thematisiert. Wesentlich für diese frühen feministischen Zugänge zu
Film als Text ist, dass sie für die Umcodierung filmischer Sprache als politische
Strategie argumentieren und sich für die Entwicklung von visuellen Codes stark
machen, die Filmschaffende ermächtigen sollen, sexistische Subjektivierungspro-
zesse im System Kino zu stören (Pozo 2015a, S. 189; Klippel 2016, S. 5).
Wenn auch nicht mehr ganz so prominent wie in den 1970er- und 1980er-Jahren
beschäftigen Kernthemen psychoanalytischer und ideologiekritischer Ansätze, wie
die Suche nach feministischer Ästhetik und Autor_innenschaft oder die Frage nach
den subjektivierenden Wirkweisen des Zuseher_innenblicks, viele feministische
Filmforschende bis heute (Chaudhuri 2003, S. 1–3; Cobb und Tasker 2016, Abs. 2–3;
Klippel 2016, S. 14). Wichtig wird dabei ab den 1990er-Jahren zunehmend eine
intersektionale Perspektive, die die Produktion der Kategorie Geschlecht in Ver-
schränkung mit anderen Differenzkategorien zu fassen versucht, wie etwa Richard
Dyers White (1997), das die Repräsentation von ‚normaler‘ Männlichkeit und
102 K. P. Hofer
sich weiblichen Zuseherinnen bis in die späten 1920er-Jahre durch frühe Praxen der
Filmvorführung – zum Beispiel in den von der proletarischen Klasse frequentierten
Lichtspielhäusern des deutschen Kaiserreichs – eröffneten. Catharine Russel (2002)
macht diese Überlegungen zum Ausgangspunkt einer umfassenden Dekonstruktion
des Konzepts des statischen, von Filmbild und Projektion passiv in seinem Bann
gehaltenen Publikums als Norm der Filmwahrnehmung, indem sie aufzeigt, wie
nachhaltig mobiles (weibliches) Blicken sowohl das frühe als auch das postklassi-
sche, digitale Kino konstituiert. Im Kontext der Porn Studies knüpfen sich Diskus-
sionen um Geschlecht, Interaktion und Blickmobilisierung aktuell oft an die Figur
der selbstermächtigenden, vom Fan zur Produzent_in gewordenenen „Prosumer_in“2
und deren Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der sich in digitalen Öffentlichkeiten
neu ausdifferenzierenden Produktionsverhältnisse, wie zum Bespiel in den Sammel-
bänden von Linda Williams (2004), Feona Attwood (2010) und Tristan Taormino
et al. (2013).
Das sich seit den 1990er-Jahren in den Geistes- und Kulturwissenschaften verdich-
tende Interesse an verkörperten (embodied ) Aspekten der (menschlichen) Wahrneh-
mung bringt auch in der feministischen Filmforschung Ansätze hervor, die die Rolle
von Affekten, also von sich körperlich in der Zuschauer_in manifestierenden emo-
tionellen Regungen und Intensitäten, thematisieren (Koivunen 2015, S. 97). Ausge-
hend von der Beobachtung, dass die Ausformung des Zuseher_innenblicks vor allem
in „Film-Körper-Genres“ („body genres“, Williams (2009 [1991]) wie Horrorfilm,
Melodrama oder Pornografie nicht nur (rationalen wie unbewussten) psychischen
Prozessen der Auseinandersetzung mit Bild und Ton unterworfen ist, sondern maß-
geblich auch ihrem viszeralen Erleben,3 lenken diese Ansätze ihren Blick auf jene
Dynamiken, die sich zwischen der individuellen Betrachter_in und dem Film zum
Zeitpunkt ihres Aufeinandertreffens entfalten. Filmerleben erscheint damit als Pro-
zess, in dem verschiedenartige, aber gleichsam lebendige, performative, sich über
den Verlauf der Zeit verändernde, materielle Körper – nämlich jener des Films und
der ihn vermittelnden Technologie(n), jener der umgebenden Architektur(en) und
jener der Betrachter_in – in eine Austauschbeziehung treten.
Ein oft zitiertes Beispiel für affektiv-materielle feministische Kritik ist das Kon-
zept der haptischen Visualität (haptic visuality), wie es Laura Marks in The Skin of
the Film (2000) und Touch (2002) vorstellt. Ausgehend von phänomenologischen
Überlegungen und der Filmtheorie Gilles Deleuzes beschreibt Marks ihren Blick auf
2
Die Bezeichnung „Prosumer_in“ beschreibt hier Mediennutzer_innen, die von ihnen nachgefragte
Inhalte (mit-)hervorbringen und kollaborativ zirkulieren lassen und so ein binäres Verständnis von
(aktiver) Produktion und (passivem) Konsum potentiell in Frage stellen (Reichert 2008, S. 68–69).
3
Viszerales Erleben bezeichnet hier körperliche Empfindungen, im Zuge derer sich Gefühle in nicht
unmittelbar vom Bewusstsein gesteuerten Regungen (zum Beispiel als Schwitzen, Zittern, Weinen
oder in sexueller Erregung) in der Rezipient_in manifestieren.
Feministische Filmforschung 105
5 Fazit
Wie Kristin Lené Hole, Dijana Jelača, E. Ann Kaplan und Patrice Petro in ihrem
Vorwort zum aktuellen Routledge Companion to Cinema and Gender (2017) fest-
stellen, lädt die Vielzahl an politischen Ansätzen und thematischen Spezialisierun-
gen in der gegenwärtigen feministischen Filmforschung zum „Dezentrieren“
(„decentering“, S. 1) der Disziplin ein. Dieser Prozess sei aber keinesfalls mit einer
Schwächung feministischer Interventionen in das Feld ‚Kino‘ gleichzusetzen, son-
dern im Gegenteil als ein wichtiges Potenzial zu erkennen. (Geschlechter-)
Emanzipatorische Projekte, so das Autor_innenkollektiv, bräuchten Vielheiten, da
sie mit komplexen Fragestellungen konfrontiert wären, die von einzelnen, isolierten
Perspektiven immer nur partiell beantwortet werden könnten (Hole et al. 2017,
S. 3–5). Wenn dies tatsächlich der Fall ist, dann hat dieser Beitrag gezeigt, dass
feministischer Filmforschung (im Plural) nicht nur eine sehr produktive Gegenwart,
sondern wohl auch eine arbeitsintensive Zukunft beschieden ist.
4
Zu material turn und Repräsentation siehe Kristina Pia Hofer und Marietta Kesting (2017).
Feministische Filmforschung 107
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Männlichkeiten in den Filmwissenschaften
Sebastian Fitz-Klausner
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
2 Männlichkeitenforschung – Ausbildung einer Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
3 Männlichkeiten im Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
Zusammenfassung
Die filmwissenschaftliche Beschäftigung mit Männlichkeiten kann auf eine kom-
plexe Geschichte mit multiplen Einflüssen und Entwicklungslinien zurückbli-
cken, die auf vielfältige Weise das Zusammenspiel aus männlichen Identitäten,
Körperkonstruktionen und Visualitäten betrachten. Eine wichtige Rolle spielte
hierbei Laura Mulveys Konzept des male gaze. Davon ausgehend sind wichtige
Themenkomplexe Fragen der Erotisierung und Performativität von Männlich-
keiten, ihre Heterogenität und hierarchische Strukturierung sowie die Krise(n) der
Männlichkeit.
Schlüsselwörter
Männlichkeiten · Filmwissenschaft · Körperlichkeit · Psychoanalyse ·
Intersektionalität · Poststrukturalismus
S. Fitz-Klausner (*)
Linz, Österreich
E-Mail: sebastian.fitz-klausner@jku.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 109
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_82
110 S. Fitz-Klausner
1 Einleitung
Wissenschaftshistorische Diskussionen fixieren zumeist das Jahr 1987 als den Be-
ginn der Männlichkeitenforschung (Erhart 2016, S. 14), da zu diesem Zeitpunkt drei
zentrale sozialwissenschaftliche Publikationen erschienen, Changing Men (Kimmel
1987a), The Making of Masculinities (Brod 1987a) und Gender and Power (Connell
1987), denen Tagungen, Journals bzw. Spezialausgaben2 sowie weitere Institutiona-
lisierungsprozesse teils vorangingen, jedoch v. a. folgten (Kimmel 1987b, S. 19;
Connell 2000, S. 17–18). Diesen Entwicklungen gingen langjährige Aushandlungs-
prozesse voraus, die zum einen die Position von „male feminists“ (d. h. von [cis-]
männlichen Autoren) im feministischen Diskurs und zum anderen frühere Diskus-
sionen zu Männlichkeiten betreffen. So war selbst der Begriff (New) Men’s Studies
umstritten, entstammt er doch ursprünglich feministischen Kreisen, um androzen-
trische Forschung zu kritisieren. Während ein Teil der feministischen Kritik partiell
direkt adressiert wurde, indem sich das aufkommende Feld etwa explizit gegen die
reaktionäre Männlichkeitsbewegung sowie Androzentrismus positionierte, waren
andere Aspekte schwieriger zu debattieren. Entsprechend wurden v. a. Probleme
der Konkurrenz um die wenigen institutionellen Mittel für geschlechterwissenschaft-
liche Forschung sowie der Reproduktion privilegierter, da männlich codierter
1
Trotz der zeitlichen Nähe und psychoanalytischen Filmanalysen bleibt What a man’s gotta do
(Easthope 1990 [1986]) zumeist ungenannt, da dieser nicht auf den filmwissenschaftlichen Diskurs
referiert, sondern (ähnlich Theweleit 2005 [1977/1978]) eine allgemein (pop)kulturelle Analyse
anstellt.
2
U. a. „Special issue on men“ (Journal of Social Issues, 1978), „Men, Masculinities and Social
Theory“ (British Sociological Association, September 1988), erste Ausgabe von The Journal of
Men’s Studies (1992).
Männlichkeiten in den Filmwissenschaften 111
umfasst. Mit Rückgriff auf Gramscis Definition versteht Connell unter hegemonialer
Männlichkeit weder zwangsweise die mächtigste noch größte Gruppe, sondern „die
kulturelle Dynamik, durch die eine Gruppe eine Führungsposition beansprucht und
aufrechterhält“ (Connell 2005 [1995], S. 77). Dieses Verständnis von Männlichkeit
gilt zu einem spezifischen Zeitpunkt als akzeptierteste Antwort auf die Frage nach
der Legitimität des Patriarchats, indem es institutionelle Macht und kulturelle Ideale
vereint und somit ihren Vormachtanspruch naturalisiert. In weiterer Folge wird die
Vorrangstellung stabilisiert, indem sich komplizenhafte Männlichkeit an diesem
Verständnis orientiert. Denn anders als hegemoniale Männlichkeit positioniert sich
die komplizenhafte Männlichkeit nicht an vorderster „Front“ (Connell 2005 [1995],
S. 79), profitiert allerdings von der patriarchalen Dividende, indem sie sich unter-
stützend an ihren Idealen ausrichtet. Zugleich werden gewisse Männlichkeiten aktiv
ausgeschlossen, indem sie in Alteritätsprozessen symbolisch mit weiblich codierten
Eigenschaften aufgeladen und somit als „effeminiert“ abgewertet werden. Während
andere Autor*innen (u. a. Norden 1995; Staples 2004 [1982]) derartige Prozesse
entlang einer ganzen Reihe von intersektional wirkenden Machtkategorien (race,
disability, Klasse usw.) theoretisieren, fokussiert Connell exklusiv auf Homosexua-
lität. Um weitere Machtkategorien adressieren zu können, führt Connell Marginali-
sierung als eine zusätzliche Dimension ein, die es erlaubt, die komplexen Inter-
aktionen und Dependenzen mit weiteren Machtkategorien zu analysieren, wie etwa
die systematische Abwertung von Personengruppen bei simultaner Glorifizierung
Einzelner als Männlichkeitsideal (z. B. Schwarze Sportstars) (Connell 2005 [1995],
S. 67–81).
Trotz Kritik – am bedeutsamsten seitens Demetrakis Z. Demetriou (2001) aus
u. a. postkolonialer Perspektive – bleibt das Modell aufgrund der Pluralität von
Männlichkeiten, der doppelten Relationalität (inter-/intrageschlechtlich), des Fokus
auf soziale Praxis und seiner Adaptierfähigkeit eines der wichtigsten Konzepte der
Männlichkeitenforschung – was sich später auch in den Filmwissenschaften ab-
zeichnet.
3 Männlichkeiten im Film
ein Oszillieren zwischen narzisstischer Identifikation mit dem Ideal-Ich (moi) und
dem sadomasochistischen Begehren gegenüber männlichen Idealfiguren bedeutet.
Ähnlich Sedgwicks Ausführungen (1985) zum homosocial desire können männliche
Körper als „erotic object of another male look“ und „homosexual voyeurism“ (Neale
1993 [1982], S. 13–14) nur im Moment ihrer Verdrängung in Erscheinung treten.
Entsprechend wird das Begehren den Körpern gegenüber verdeckt, indem diese als
Objekte von (männlich codierter) Aggression und Gewalt umgedeutet werden
(„looks are marked not by desire, but rather by fear, or hatred, or aggression“, Neale
1993 [1982], S. 18).
Aufgrund der Popularität von Neales Text in der Diskussion zu Männlichkeit als
erotisches Objekt (u. a. Green 1984) kam das Actionkino als zentraler Ort der
Männlichkeitsproduktion sowie des homoerotischen Begehrens zunehmend in den
Blick, da dort das Zusammenspiel von Begehren und Gewalt sichtbar wird (u. a. Kirk-
ham und Thumim 1993a; Tasker 1993; Halberstam 1998, S. 3–5; hierzu auch
Scheibelhofer et al. 2019). Wichtige Impulse gingen in diesem Kontext von Richard
Dyer (1982) aus, der in einem ersten Schritt auf die spezifischen Vergeschlecht-
lichungsprozesse in Mulveys Modell eingeht. Entsprechend der vergeschlechtlichten
Dichotomisierung von Aktivität/Passivität bzw. Sehen/Gesehen-Werden negieren
männliche Models die eigene (weiblich codierte) Passivität, indem ihr Blick (auf
das oder jenseits des Publikums gerichtet), ihre angespannte Haltung und ihr Körper
Zeugnis von Aktivität ablegen. Ihre Muskulatur als solche gilt als Beweis für
Ausdauerkraft, Härte und letztendlich Aktivität.
In einem zweiten Schritt und im Zuge von Forderungen nach Intersektionalität
refokussiert Dyer in White (1997) den Blick auf die Rassifizierung von Filmtech-
nologie und v. a. die Historisierung von whiteness als Konstrukt, das ethnozentrisch
unmarkiert blieb. Am Beispiel des Abenteuerkinos im (post)kolonialen Setting
diskutiert Dyer den muskulösen Weißen Körper als Diskursfragment Weißer Männ-
lichkeit zur Legitimierung Weißer Vorherrschaft, von der andere Körper aus-
geschlossen werden. Indem etwa die Darstellung auf explizit Weiß konnotierte
(Bild)Traditionen rekurriert (u. a. christliche Märtyrer-Ikonografie, als Weiß ver-
kannte antike Statuen, Übermensch-Diskurs), wird dieser „gebaute“ Körper (body-
building) zum Beleg Weißer Überlegenheit, da er seine idealisierte Härte durch
Standfestigkeit und Widerständigkeit gegen jegliche Schmerzen erreiche. Im Kon-
trast zu nicht-Weißen Körpern, deren rassifizierte Nähe zur „Wildnis“ Dyer schon
früher kommentierte (Dyer 1982, S. 67–68), wären die Muskeln Weißer Männer
keineswegs Beleg von Animalität (i. e. naturgegeben), sondern vielmehr Ausdruck
psychischer Überlegenheit (Dyer 1997, S. 146–183).
Grundlegend markiert White auch ein tendenzielles Abwenden von psychoana-
lytischen Modellen (Identifikation, Begehrensstrukturen) hin zu Cultural Studies
und poststrukturalistischen Herangehensweisen. Während in weiterer Folge einzelne
Autor*innen wie etwa Peter Lehman (2007) den gänzlich entkleideten Körper in den
Fokus nahmen, um v. a. das Unbehagen an der (Nicht-)Darstellung von Penissen als
Teil patriarchalischer Kulturen kritisch zu reflektieren, führen andere (u. a. Tasker
1993; Halberstam 1998) die Diskussion auf die nächste (poststrukturalistische)
Stufe, indem sie Maskulinität gänzlich vom cis-männlichen Körper entkoppeln. In
Männlichkeiten in den Filmwissenschaften 115
schon früh kritisiert wurde. So weist – als Teil einer allgemeinen Problematisierung
von eindimensionalen, stabilen Identifikationsprozessen (siehe etwa Mayne 1993) –
Ian Green die exklusive Identifikation mit männlichen Figuren zurück, da in spezi-
fischen Kontexten etwa „schwache, unsichere“ Männlichkeiten „unangemessen für
männliche Identifikation“ (Green 1984, S. 40) seien. Während die eigentliche Dis-
kussion von intersektionalen Perspektiven in der ersten Phase filmwissenschaftlicher
Männlichkeitenforschung weitgehend ein Randthema blieb (u. a. Silverman 1992;
Wiegman 1993), wurde die Pluralität von Männlichkeiten, ähnlich den Ausführun-
gen Connells, relativ früh in einem Machtfeld situiert. In diesem wurde die Über-
legenheit von normativen Männlichkeiten durch die Exklusion von negativen (oft-
mals weiblich codierten) Eigenschaften produziert, indem jene auf marginalisierte
Männlichkeiten projiziert wurden (u. a. Russo 1987; Theweleit 2005). Während der
Protagonist der Gefahr kühl und stoisch ins Auge sieht, brechen die Nebenfiguren in
‚hysterische‘ Panik aus.
In komplexer Reziprozität führt der Prozess der Effemination kulturell und
historisch spezifische Zuschreibungen, intersektional wirkende Machtkategorien
(u. a. race, Sexualität, dis/ability) sowie etablierte Bildtraditionen zusammen. So
wurde etwa jüdische Männlichkeit (race) im 19. Jahrhundert abgewertet und
letztendlich aus der hegemonialen Männlichkeit exkludiert, indem jüdisch kon-
notierten männlichen Körpern diskursiv u. a. ein physisch schwaches Nervenge-
wand eingeschrieben wurde, das dem weiblichen ähnle (z. B. Hysterie). Entspre-
chend war diesen das zeitgenössische Ideal des disziplinierten Soldatenkörpers
verwehrt – trotz aller gegenteiliger Zeugnisse (Gilman 1991). Judith Doneson
zeigt in ihrer Analyse von Vergeschlechtlichungsprozessen in Filmen zur Shoah,
wie das Judentum in seiner Passivität gegenüber einem aktiven nicht-jüdischen
Widerstand verweiblicht wird (Doneson 1997, S. 140–142). In ihrer Diskussion
von Schindler’s List (1993) hebt die Autorin v. a. die Beziehung zwischen Oskar
Schindler und Itzhak Stern hervor, wobei die weiblich kodierten (Haus)Arbeiten
sowie seine unterstützende Position Stern zur „Frau hinter dem erfolgreichen
Mann“ (Doneson 1997, S. 146) machen. Entsprechend sind derartige Marginali-
sierungsprozesse auf multiple Weise in heteronormative Strukturen eingebettet:
Nicht nur werden negative, da weiblich kodierte Eigenschaften zur Abwertung
von männlichen Figuren bzw. Männlichkeiten eingesetzt, oftmals werden die
diversen Männlichkeiten auch in heterosexistische Beziehungen zueinander ge-
stellt – wobei in beiden Fällen die Frage offenbleibt, ob diese Lesarten den Filmen
eingeschrieben oder ein Produkt der Analyse sind. Entsprechend kritisiert Klaus
Rieser (2002) die Eindimensionalität der Effeminierungsargumentation innerhalb
von akademischen Diskussionen, da diese heteronormative Einschreibungen oft-
mals unbewusst reproduzieren. Eine unreflektierte Verwendung des Effeminie-
rungsarguments läuft nämlich Gefahr, „die widersprüchliche Natur von Männ-
lichkeit“ (Rieser 2002, S. 81) zu verschütten, indem eindimensional
„Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ gegenübergestellt werden und somit deren
Gleichzeitigkeit negiert wird.
Männlichkeiten in den Filmwissenschaften 117
Teilweise als Kritik an dem Diskurs, dass sich Männer in einer Krise befänden,
teilweise als Zeichen einer vermeintlichen Veränderung der Gesellschaft dominierte
die „Krise der Männlichkeit“ seit Anbeginn die Diskussionen der (New) Men’s
Studies (Brod 1987b, S. 190–191; Erhart 2016, S. 14). Analog war auch eine ganze
Reihe von frühen Texten zu Männlichkeiten im Film von dieser Thematik geprägt,
um u. a. Mulveys Axiom zur zwanghaften Identifikation mit dem (männlichen)
Ideal-Ich (moi) auf der Leinwand zu problematisieren. Neben der Sonderausgabe
von Camera Obscura namens Male Trouble, deren Herausgeberinnen das Narrativ
teils bedienen, teils verneinen (Penley und Willis 1988), stechen v. a. zwei frühe
Publikationen hervor: Kaja Silvermans Monografie Male Subjectivity at the Margins
(1992) und Pam Cooks Masculinity in Crisis? (1982). Cook spricht die „Krise der
Männlichkeit“ nicht nur früh an, sondern setzt sich mit dieser auch kritisch aus-
einander. So sieht sie in der „Krise“ keine „radical critique of masculinity“, sondern
einzig den Sinn, „that we can mourn its loss“ (Cook 1982, S. 39–40), nämlich den
Verlust einer „normalen“ Männlichkeit. Im Kontrast zu sozialkonstruktivistischen
Perspektiven produziert dieser Diskurs Geschlecht nämlich als ein „coherent system
of some kind“ (Connell 2005 [1995], S. 84), weshalb die Rhetorik um die Krise
privilegierte hegemoniale Männlichkeit abermals ins Zentrum rückt, um sie
(in adaptierter Form) erneut zu legitimieren (u. a. Mädler 2008; Robinson 2000;
siehe hierzu auch Scheibelhofer et al. 2019).
Oftmals gilt in diesem Kontext die Verwundbarkeit und Viktimisierung von
Vertretern der hegemonialen Männlichkeit als Ausgangspunkt für ein Narrativ des
(kathartischen) Ausbruchs (Mädler 2008, S. 230–232). Dass aber masochistische
und sadistische Begehren (abermals im Kontrast zu Mulvey) komplexer im Subjekti-
vierungsprozess verankert sein können, zeigt Silvermans psychoanalytische Dis-
kussion von männlicher Subjektivität und Masochismus in Male Subjectivity at the
Margins. Die Autorin analysiert Männlichkeit (bzw. deren Verlust) als Spektakel,
indem sie Mulveys Konzept mit Jacques Lacans diversen Diskussionen zu Blick-
strukturen rückkoppelt (Silverman 1992, S. 130) – aber anders als etwa bei Dyer ist
das Thema dem Interesse an Subjektivierung hintangestellt. Im Kontrast zum ver-
meintlich normalen Identifikationsangebot zeichnet sie Alternativen nach, indem sie
auf „deviante“, der phallischen Logik nicht entsprechende, Männlichkeiten fokus-
siert (Silverman 1992, S. 1). Anhand des Films It’s a wonderful Life (1946) diskutiert
Silverman schon zehn Jahre zuvor die „forcierte Identifikation vom männlichen
Subjekt mit einem ‚schwachen‘ und ‚kastrierten‘ Vater“, die auf den ersten Blick
paradox wirkt, da doch „Passivität und Masochismus gewöhnlich mit dem weibli-
chen Subjekt assoziiert“ werden (Silverman 2000 [1981], S. 100–101). Während die
Autorin in dieser frühen Publikation Kastration noch in Bezug auf die Nichterfüllung
kultureller maskulinistischer Erwartungshaltungen als persönliche Krise definiert
(Silverman 2000 [1981], S. 106), verschiebt sich ihr Blick in der Monografie auf
den Umgang mit Umbrüchen der symbolischen Ordnung im Gefolge von Kriegen,
Bürgerrechtsbewegung und Feminismus sowie der resultierenden Krise männlicher
118 S. Fitz-Klausner
Männlichkeit in Analysen „inter- wie auch intrasexuelle“ (Jutz 1992, S. 144) Blick-
hierarchien vorschlägt, und in einer Sonderausgabe von Frauen und Film (Männer die
ins Auge gehen), in der v. a. Annette Brauerhoch (1986) und die deutsche Übersetzung
von Dyers Don’t Look Now (Dyer 1986 [1982]) (muskulöse) Männerkörper im
Spannungsverhältnis von Aktivität/Passivität und Sadismus/Masochismus lesen. Ne-
ben dieser Fokussierung auf den Blick stechen insbesondere die beiden Abschluss-
arbeiten (Diplom bzw. Dissertation) von Georg Tillner (1993) und Siegfried Kalten-
ecker (1993) heraus, die sich unter Rückbezug auf Silverman mit der Konstitution von
maskuliner Subjektivität, aber auch (im Falle Kalteneckers) mit Krisennarrativen und
dekonstruktivistischen Ansätzen nach Judith Butler beschäftigen.
Warum äußert sich dann Fenske so kritisch? Trotz einzelner Publikationen
können wir anders als im angloamerikanischen Raum in den 1990er- und 2000er-
Jahren nur langsame Entwicklungen und Institionalisierungsprozesse wahrnehmen.
Abgesehen von wenigen Sammelbänden zum Thema (Hißnauer und Klein 2002a;
Horst und Kleis 2002) finden sich in der Regel nur vereinzelte Beiträge zu Männ-
lichkeiten im Film auf Tagungen3 sowie in Sammelbänden und Sonderausgaben zu
Medialitäten (u. a. Bassett 1998; Brauerhoch 1994; Seeßlen 2001) bzw. zu Männ-
lichkeiten (u. a. Haschemi Yekani 2007; Heckner 2007; Renz 2002; Zahlmann
1998), manchmal sogar ganze Sektionen (u. a. Penkwitt 2004; Steffen 2002; Strunk
2002). Thematisch ist aber von Anfang an ersichtlich, dass die deutschsprachigen
filmwissenschaftlichen Arbeiten zu Männlichkeiten in einem engen Verhältnis zu
den englischsprachigen Diskussionen stehen. Theorien, Themen und Konzepte
werden aufgegriffen und vertieft,4 was sich u. a. auch in den nach 2000 zunehmen-
den Monografien deutlich abzeichnet: von Star Studies und dem spektakulären
männlichen Star-Körper (Weingarten 2004) zu Vergeschlechtlichung in maskuli-
nistischen Genres (Weidinger 2006). Bezeichnenderweise haben sich 2008 gleich
drei Monografien gänzlich oder zumindest zum Teil dem Thema der „Krise der
Männlichkeit“ im Film verschrieben (Fenske 2008; Kappert 2008; Mädler 2008).
4 Fazit
3
Abseits einer Grazer, wissenschaftlich begleiteten Filmschau namens Von bewegten Männern in
bewegten Bildern im Jahr 1997 (Kaltenecker 1997) finden sich einzelne frühe Filmbeiträge in den
Tagungen des Arbeitskreises für interdisziplinäre Männerforschung (seit 2001) und der Frankfurter
kunsthistorischen Tagung Zur Repräsentation von Männlichkeit in der Kunst und in den visuellen
Medien (2000) (Fend und Koos 2002).
4
Während v. a. Autor*innen anderer Disziplinen (z. B. Germanistik: Renz 2002, Geschichte:
Zahlmann 1998) nur zum Teil auf filmwissenschaftliche Diskussionen und Theorien referieren,
zeigt sich allerdings eine Verwandtschaft entlang der Themenkomplexe (u. a. Körperlichkeit, Per-
formativität).
120 S. Fitz-Klausner
zu verstehen ist. Teilweise war es eine aktive Bewegung weg von psychoanalyti-
schen Ansätzen (Lehman 1993, S. 8–9; Cohan 1997, S. 26) sowie der damit
einhergehenden Problematisierung eindimensionaler Identifikation (Mayne 1993),
teilweise eine Orientierung an poststrukturalistischen und performativen Perspektiven
(Hißnauer und Klein 2002b, S. 19), und teilweise waren die filmwissenschaftlichen
Entwicklungen einfach nur in allgemeineren wissenschaftlichen Diskussionen zu
Männlichkeiten eingebettet. Entsprechend sind die besprochenen Themen – die
Objektifizierung von Körpern, Performativität entlang kultureller Narrative, die
Entkopplung vom cis-männlichen Körper, Intersektionalität und Pluralität von
Männlichkeiten – lediglich Schlaglichter komplexerer Entwicklungen, die jedoch
essenzielle Fundamente der Disziplin bilden und um die herum sich bis heute
zentrale Diskussionen formieren: So diskutiert Sally Chivers (2011) die Verschrän-
kung von Männlichkeiten, dis/ability und age im Kontext der „Krise der Männ-
lichkeit“, während Stella Bruzzi (2013) Männlichkeit gänzlich vom Körper löst,
indem sie den vergeschlechtlichten Stil im Actiongenre analysiert. Selbst Terrance
H. McDonalds Konzeption von Männlichkeiten als „relations, becomings and the
unthought“ (McDonald 2018, S. 267) mithilfe von Deleuze führt ihn abermals
u. a. zur „Krise der Männlichkeit“ und Performativität.
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Brigitte Hipfl
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
2 Affektstudien als Gesellschaftskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
3 Affekttheorien und kritische Geschlechterforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
4 Affekte, Medien und Öffentlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
5 Fazit und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Zusammenfassung
Der aktuelle affective turn steht für eine Intensivierung der Erforschung der
gesellschaftspolitischen Bedeutung von scheinbar persönlichen Gefühlen und
für Versuche, das komplexe Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit besser
zu verstehen. Die unterschiedlichen theoretischen Ausrichtungen und Schwer-
punktsetzungen, die die Affektstudien kennzeichnen, reichen in der sozial- und
kulturwissenschaftlichen Affektforschung von praxeologischen, ethnografischen,
phänomenologischen und deleuzianischen Zugängen bis zu ökonomischen Per-
spektiven. Affektforschung hat für die kritische Geschlechterforschung und die
Medienforschung großes Potenzial, indem sie die gesellschaftliche und politische
Relevanz emotionaler Dynamiken sowohl für die Aufrechterhaltung bestehender
Verhältnisse als auch für deren Transformationen deutlich machen kann.
Schlüsselwörter
Affekt · Affektive Öffentlichkeiten · Affektive Ökonomien · Assemblage · Bad
feelings · Intime Öffentlichkeiten · Structures of feeling · Politik von Affekten
B. Hipfl (*)
Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich
E-Mail: brigitte.hipfl@aau.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 125
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_11
126 B. Hipfl
1 Einleitung
und die Proklamation eines affective turn nicht die Genealogie feministischer Ana-
lysen von Emotionen und Affekten vergessen lassen soll (Pedwell und Whitehead
2012, S. 118). So war mit dem Leitspruch der zweiten Frauenbewegung in den
1970er-Jahren „Das Private ist politisch“ die Vorstellung verknüpft, mit der Artiku-
lation von Erfahrungen und Gefühlen im Rahmen von Selbsterfahrungsgruppen
einen ersten Schritt in Richtung einer Veränderung der patriarchalen Verhältnisse
zu setzen (Baier et al. 2014, S. 20–21; Cvetkovich 1992, S. 1). Queer women of
color kritisieren, dass ihre Analysen der komplexen, von Kolonisierungsprozessen
bestimmten Affekte und Gefühle und wie diese als politische Mittel eingesetzt
werden können, in den aktuellen, als Weiß diagnostizierten Affektstudien kaum
aufgegriffen werden (Rowe und Royster 2017; Garcia-Rojas 2017).
Die aktuelle Wende zu Affekten wird als Reaktion auf die in den Kultur- und
Sozialwissenschaften gegen Ende des 20. Jahrhunderts vorherrschende Fokussie-
rung auf Sprache und Diskurse gesehen. Das Interesse richtet sich nun auf Kräfte, die
über Diskurse hinausgehen, womit insbesondere körperliche Dynamiken, Intensitä-
ten und Transformationen ins Blickfeld rücken (Seigworth und Gregg 2010, S. 1). Es
ist jedoch schwierig, sich in den „many lives of affect“ (Hemmings 2005, S. 147), in
denen der rezente affective turn zum Ausdruck kommt, zurechtzufinden. Denn auf
die Frage, was genau mit Affekt gemeint ist, gibt es weder eine einfache noch eine
einheitliche Antwort (Seigworth und Gregg 2010, S. 3). So gibt es nicht „die eine
Ursprungserzählung und nicht die eine Theorie der Affekte“ (Degener und Zim-
mermann 2012, S. 8), wohl aber Debatten und spezifische Texte, die besonders
einflussreich waren. Konkret sind dies zwei Texte – der von Eve Kosofsky Sedgwick
und Adam Frank herausgegebene Silvan Tomkins Reader (1995) und ein Aufsatz
von Brian Massumi (1995) –, die mit unterschiedlichen theoretischen Konzepten
Prozesse des Affizierens und Affiziert-Werdens beschreiben. In der Affekttheorie
des Psychologen Tomkins geht es um angeborene menschliche Affekte, die als
grundlegende Antriebskraft menschlichen Verhaltens gesehen werden. Beeinflusst
von Darwin und systemtheoretischem Denken legt Tomkins in Abgrenzung von der
Psychoanalyse eine Konzeption von Affekten vor, wonach unsere Relationen zu
anderen von Affekten bestimmt sind. Wir entwickeln komplexe Affekttheorien – das
sind unsere affektiven Erfahrungen, an die wir uns in unseren Reaktionen in neuen
Situationen erinnern –, mit denen wir uns mit der eigenen Position in der sozialen
Welt auseinandersetzen. Nach Tomkins bewegen sich die einzelnen in einem Kreis-
lauf aus Gefühlen und Reaktionen, was er z. B. mit der ansteckenden Wirkung des
Lächelns oder Gähnens veranschaulicht (Hemmings 2005, S. 552). Tomkins hebt die
unterschiedlichen Intensitäten von Affekten hervor und konzipiert sie als Affekt-
Paare, die er in positive (Interesse und Neugier, Freude und Aufregung), neutrale
(Überraschung und Bestürzung) und negative (Stress und Angst, Furcht und
Schreck, Zorn und Wut, Scham und Erniedrigung, Ekel) unterscheidet (Angerer
2014, S. 402). Scham kommt eine zentrale Rolle unter diesen Affekten zu und ist ein
128 B. Hipfl
1
Auch damit wird unterschiedlich gearbeitet. Obwohl bei Spinoza, Deleuze und Guattari mit
Körpern auch nicht-menschliche Körper, also auch andere Lebewesen sowie materielle Dinge
gemeint sind, bleibt der Großteil der bislang vorliegenden Arbeiten auf menschliche Körper und
menschliche Erfahrungen fixiert.
2
Im neuen Materialismus und Posthumanismus finden sich vergleichbare Konzeptionen wie
Ko-Konstitution, wechselseitige Verflochtenheit, distribuierte Agency – siehe dazu Waltraud
Ernst (2021).
Affekttheorie – Gender, Medien und die Politik von Affekten 129
und Emotionen und wie sich dies in leiblichen Erfahrungen niederschlägt (Ahmed
2004a, b; Slaby 2018). Ahmed erklärt an Beispielen wie Fremdenhass und Othering,
wie die wiederholte Verwendung abwertender Bezeichnungen für bestimmte soziale
Gruppen dazu führt, dass diese Bezeichnungen an deren Körpern haften bleiben
(stick) und sie in einem Assoziationsraum verankern, in dem zusätzliche, auf eine
Geschichte früherer Assoziationen zurückgehende, abwertende Bedeutungen auf-
gerufen werden (können). Ahmed spricht von affektiven Ökonomien, in denen sich
die affektiv-sinnlichen Wirkungen von Emotionen als soziale Positionierungen von
Körpern und als Grenzziehungen zwischen Körpern materialisieren. Mit zunehmen-
der Intensität der Zirkulation verstärkt sich die affektive Wirkung (Ahmed 2004b,
S. 119–121). Die Verknüpfungen, die im Zuge dieser Prozesse entstehen, können
sich verhärten und zu Orientierungen werden. Damit ist das gemeint, „was manche
Personen, aber längst nicht alle, in bestimmte Räume und Gefüge bruchlos einbindet
und darin in Vertrautheit gleichsam aufgehen lässt“ (Slaby 2018, S. 74). Ahmed
diskutiert dies u. a. am Beispiel von white privilege: Im Großteil der sozialen Räume
der westlichen Welt fühlen sich Weiße Körper wohl, während sie von Nicht-Weißen
Körpern als Blockaden, Schranken und als schmerzliche Beschränkung körperlich
erlebt werden (Ahmed 2007, S. 158).
Eine dritte Orientierung beruht auf der Deleuze’schen Ontologie, in der von
dynamischen Kräftefeldern und einer relationalen Konzeption von Körpern aus-
gegangen wird (Coleman und Ringrose 2013). Hier erweist sich insbesondere das
Konzept der Assemblage als hilfreiches theoretisches Werkzeug, das auf das Pro-
zesshafte und Dynamische, das sich Verändernde fokussiert (Buchanan 2020; Hipfl
2018). Mit dem Konzept der Assemblage werden Dinge oder Phänomene als Gefüge
verstanden, die durch Mannigfaltigkeit gekennzeichnet und immer nur vorüber-
gehend stabil sind. So lässt sich etwa ein Selfie auf Instagram als eine Assemblage
fassen, bei der zumindest die folgenden Komponenten miteinander verknüpft sind:
die Mediennutzer*innen; ein bestimmter Ort oder Anlass; das Handy und seine
Affordanzen; Apps, mit denen die Bilder bearbeitet werden können; der Online-
dienst Instagram, auf dem Fotos von den User*innen geteilt, gelikt, getaggt werden
und diese Daten gleichzeitig mithilfe von Algorithmen analysiert und zu einem
Beispiel der gegenwärtigen Form des (affektiven) Kapitalismus werden; sowie die
Aufmerksamkeitsökonomie als Kraft, die das Begehren der Mediennutzer*innen
vereinnahmen kann (Hess 2015; Karppi et al. 2016; Hipfl und Pilipets 2020). Im
Konzept der Assemblage sind die Relationen zwischen den verschiedenen Kom-
ponenten entscheidend. Sie sind die spezifischen Möglichkeitsbedingungen, die die
Elemente einer Assemblage zusammenhalten (Nail 2017, S. 25). Im Beispiel der
Instagram-Selfies bildet das Bedürfnis der Nutzer*innen nach Konnektivität eine
wesentliche Grundlage für die Zirkulation von Affekten, aus der Kapital geschlagen
wird. Dabei werden Kräfte (wie dominante gesellschaftliche Diskurse und Normen)
wirksam, die auf die Erhaltung bzw. auf den Weiterbestand bestehender Relationen
ausgerichtet sind. Dazu kommen andere Kräfte, wie z. B. (unerwartete) Ereignis-
se, wodurch sich die Relationen verändern können. Diese Dynamik historisch-
spezifischer Machtverhältnisse wird in der Terminologie von Deleuze und Guattari
als ständig stattfindende Prozesse der De- und Re-Territorialisierung bezeichnet.
Affekttheorie – Gender, Medien und die Politik von Affekten 131
Assemblagen leiten uns an, bei spezifischen Situationen und Phänomenen immer
nach den komplexen Relationen zu fragen, welche diese Phänomene zu je spezi-
fischen Zeitpunkten hervorbringen, und dies als einen fortlaufenden Prozess zu
verstehen. Am Beispiel von Instagram-Selfies wird offensichtlich, dass sich diese
Assemblagen durch die diversen Praktiken (wie das Hochladen neuer Bilder, liking,
tagging, flagging etc.) ständig ändern. Wie gesellschaftliche Kräfte wirksam sind,
zeigt sich etwa an der vorherrschenden Ästhetik der digitalen Selbstporträts oder
auch bei den Ergebnissen von Suchanfragen, die dominante gegenderte und ras-
sisierte Vorstellungen reflektieren (siehe etwa Gerrard und Thornham 2020). Gleich-
zeitig verändern sich Assemblagen durch das Dazukommen neuer Elemente, wobei
allerdings im Voraus nicht abschätzbar ist, welche Konsequenzen dies hat. Die
analytische Arbeit mit Assemblagen besteht darin, herauszufinden, wie Assembla-
gen funktionieren und was sie produzieren, um auf diese Weise Einsichten in die
Politik von Affekten zu gewinnen.
Ein vierter Zugang legt mit Begriffen wie affektives Kapital, affektiver Kapita-
lismus und affektive Arbeit den Fokus auf die ökonomischen Dimensionen von
Affekten bzw. auf die Affektivität von Arbeit (Hardt und Negri 2004; Penz und
Sauer 2016; Karppi et al. 2016). Beispiele dafür finden sich in allen Bereichen, in
denen unser Begehren angesprochen und unser Vermögen, zu affizieren und affiziert
zu werden, als Ware bzw. als Serviceleistung oder Managementstrategie vermarktet
wird. Aus postoperaistischer Perspektive wird affektive Arbeit von Hardt und Negri
als Resultat des Wandels westlicher Industriegesellschaften zu einer auf den Um-
gang mit Informationen und auf Dienstleistungen orientierten Ökonomie diskutiert,
in der mit der Herstellung immaterieller Produkte wie Wissen, Kommunikation,
Beziehungen und Gefühle die größte Wertschöpfung im gegenwärtigen Kapitalis-
mus erzielt wird (Hardt und Negri 2004, S. 126–130; Hipfl 2014; Penz und Sauer
2016, S. 63–66). Gleichzeitig verweisen Hardt und Negri jedoch auch auf das
ermächtigende Potenzial, das in affektiver Arbeit – die als Produktion des Lebens,
als lebendige Arbeit gesehen wird – steckt. Die feministische Forschungstradition
der Auseinandersetzung mit affektiver Arbeit in Form der Problematisierung ge-
schlechtsspezifischer Arbeitsteilung und der damit einhergehenden Abwertung von
Reproduktionsarbeit, die Kapitalismus in jeder Phase unterstützt, sowie Theoretisie-
rungen von Sorgearbeit kommen bei Hardt und Negri aber nur am Rande vor (Penz
und Sauer 2016, S. 69). Ein eindrucksvolles Beispiel einer feministischen Analyse
affektiver Arbeit ist Encarnacion Gutiérrez Rodríguez’ Studie zu migrantischen
Hausarbeiterinnen (Gutiérrez Rodríguez 2010, 2014). Diese Studie macht deutlich,
dass ein Ernstnehmen von Affekten heißt, alles, was uns als soziale Wesen ausmacht
– und dazu gehören unsere Beziehungen und all die Dynamiken und Intensitäten, die
aufgrund von geschlechtlichen und globalen Ungleichheiten, historischen Zuschrei-
bungen und Abgrenzungen, aber auch durch neue Relationen aktiviert werden –,
ernst zu nehmen. Nicht übersehen werden sollen bei den Dynamiken affektiver
Arbeit aber auch freud- und lustvolle sowie mögliche widerständige Aspekte (Penz
und Sauer 2016, S. 71). Das Zusammenspiel all dieser Faktoren lässt sich bei
sozialen Medien besonders gut veranschaulichen (Pybus 2015).
132 B. Hipfl
Die kritische Hinterfragung des common sense, Gefühle als etwas Privates, Indivi-
duelles und Natürliches zu verstehen, eint kritische Geschlechterforschung und
Affektstudien. Beide Zugänge problematisieren die binäre Konstruktion von Ver-
stand/Gefühl, Geist/Körper, privat/öffentlich etc. sowie die damit einhergehende,
hierarchisch strukturierte, binäre Konstruktion von Geschlecht (Landweer 2018,
S. 2). Die Affektstudien verstärken mit ihrem Fokus „beyond the naturalized figure
of the feeling woman“ (Greyser 2012, S. 102) und dem differenzierteren Verständnis
der komplexen Relationen von Privatem und Öffentlichem die feministische Werk-
zeugkiste und weisen über das kritische Aufzeigen sozialer Konstruktionen hinaus.
Affektstudien eröffnen einen Weg, um die für feministische Theorie immer schon
zentrale Frage der Verschränkung von Ontologie und Epistemologie (Hemmings
2012, S. 148–149) besser zu verstehen.
Die Beschäftigung mit dem Affektiven in feministischen und queeren Kontexten
ist jedoch für die Forscher*innen voller widersprüchlicher Gefühle, oft anstrengend
und schmerzhaft (Cvetkovichs 1992, S. 1; Probyn 2005; Berlant 2008, S. vii, S. 30;).
So schwingt immer auch die historische sozio-kulturelle Verknüpfung von Weiblich-
keit mit dem Affektiven mit bzw. werden Gefühle wie Scham und Angst re-aktiviert.
Doch wie Ahmed unter Bezug auf Audre Lorde (Ahmed 2010, S. 215–216) ausführt,
geht es nicht darum, Schmerz zu vermeiden oder zu überwinden, sondern heraus-
zufinden, was den Schmerz auslöst, denn „feelings might be how structures get
under our skin“ (Ahmed 2010, S. 216). Die politische Relevanz von Gefühlen wird
bei allen Prozessen, die eine Naturalisierung sozialer Unterschiede anhand von
Geschlecht, Sexualität und/oder Rasse zum Ziel haben, besonders deutlich (Land-
weer 2018; Blickstein 2019).
Eine Richtung in der Auseinandersetzung mit der Politik von Affekten zeigt die
Sackgassen auf, die häufig mit positiv konnotierten, auf die Zukunft ausgerichteten
kollektiven Gefühlen einhergehen. Jack Halberstam (2010 ) problematisiert z. B. an
Queer-Jugendliche adressierte Kampagnen wie „It gets better!“, mit denen nahege-
legt wird, sich an die Hoffnung auf eine Veränderung zum Positiven zu klammern.
Ähnlich argumentieren Lauren Berlant (2011), die von cruel optimism spricht, und
Sara Ahmed (2010), die das Versprechen von Glück problematisiert. Berlants Kon-
zept cruel optimism beschreibt eine Dynamik des Feststeckens (stuckness), die die
Gegenwart kennzeichnet. Konkret ist damit die emotionale Bindung an spezifische
Vorstellungen von einem guten Leben gemeint, die aber aufgrund zunehmender
Prekarität gesellschaftlich nicht mehr gestützt werden. Die Hoffnung, dass es trotz-
dem möglich ist, bleibt aufrecht und behindert gerade dadurch die Entwicklung der
Personen. Ahmed (2010, S. 62) diskutiert die moralische Ökonomie des Glück-
lichseins. Happiness ist für sie eine affektive Form der Orientierung und meint das
durch Erziehung und Medien vermittelte Versprechen von Glück, das auf der Basis
von gendered happiness scripts mit gesellschaftlich als erstrebenswert geltenden
Lebensformen verknüpft ist (Ahmed 2010, S. 54, 59). Weibliches/feministisches/
queeres Begehren, das sich auf anderes richtet, gilt als troublemaking, als feminist
killjoy, weil damit anderen (z. B. den Eltern) das Glück und Wohlbefinden verwehrt
Affekttheorie – Gender, Medien und die Politik von Affekten 133
würde, das auf sozial positiv sanktionierten Lebensweisen ihrer Kinder beruht. Wie
Ahmed (2010, S. 62) betont, eröffnet aber gerade das troublemaking Wege aus den
gesellschaftlich dominanten Glücksversprechen und deren einschränkendem Hori-
zont.
Eine zweite Richtung fokussiert auf als unproduktiv konnotierte Gefühle, auf bad
feelings wie Scham, Angst, Depression, die für queer-feministische Theoretiker*in-
nen und Aktivist*innen zum Ausgangspunkt politischer Intervention werden (siehe
auch von Bose et al. 2015, S. 10). Halberstam (2011) stellt gegen den gesellschaft-
lich vorherrschenden Druck, positiv zu denken und ständig an sich zu arbeiten, um
erfolgreich zu sein, das Potenzial, das in Misserfolgen liegt. Für Halberstam (2011,
S. 3) machen es die mit Misserfolg einhergehenden negativen Affekte wie Enttäu-
schung, Desillusionierung und Verzweiflung möglich, „to poke holes in the toxic
positivity of contemporary life“, die strukturelle Ungleichheiten verdeckt. Unter der
Bezeichnung Feel Tank hat sich in Chicago (später auch in New York, Austin,Texas
und Toronto) eine Gruppe von Aktivist*innen, Künstler*innen und, Theoretiker*in-
nen zusammengeschlossen, um ausgehend von der gegenwärtigen Gefühlsstruktur,
die sie als politische Depression charakterisieren, nach dem Potenzial für Widerstand
zu fragen, das in bad feelings’ wie Hoffnungslosigkeit, Apathie, Angst, Verzweif-
lung, Ambivalenz, Gelähmtheit liegt (Feel Tank Manifesto 2012). Einflussreiche
Affekttheoretikerinnen wie Lauren Berlant und Ann Cvetkovich sind Mitinitia-
tor*innen dieser Bewegung, die ungewöhnliche Protestformen nutzt – wie etwa
jährliche Parades of the Politically Depressed, bei denen die Teilnehmenden
(in Pyjamas und Hausschuhen) Transparente mit der Aufschrift Depressed? It might
be political tragen. In ironischer Form wird damit Depression pathologisierenden
Zuschreibungen entzogen, ein scheinbar privates Problem öffentlich gemacht und
aus sozialer Isolierung durch die kollektive Aktion eine neue, intimisierte Form von
Gegenöffentlichkeit (Tedjasukmana 2015, S. 22).
Eine dritte Richtung setzt sich damit auseinander, wie Politik mit Gefühlen
gemacht wird – und zwar sowohl mit dem Ziel der Aufrechterhaltung bestehender
sozialer Ordnungen und Machtverhältnisse als auch für Intentionen, diese zu ver-
ändern (Slaby und Bens 2019; Bargetz 2018). Ausgangspunkt ist, dass affektive
Bindungen und spezifische Sentiments eine wesentliche Grundlage für (politische)
Gemeinschaften (welcher Größenordnung auch immer) sind und dass die je spezi-
fischen Machtdynamiken einer Differenzierung in minder- und höherwertige Men-
schen insbesondere auf affektiver Ebene wirksam sind. In diesem Sinn kann Ras-
sisierung als paradigmatischer affektiver Prozess verstanden werden, wie Tamar
Blickstein (2019) unter Bezug auf Frantz Fanon argumentiert. Ann Stoler (2004)
macht am Beispiel der niederländischen Kolonialpolitik im 19. Jahrhundert in West-
indien deutlich, dass das Management affektiver Stimmungen in den Kolonien für
die Aufrechterhaltung der imperialen Machtrelationen besonders wichtig war. Auch
die gegenwärtigen Nationalstaaten „govern through affect“ (Fortier 2010), indem
bestimmte kollektive Gefühle mobilisiert werden, die von den Bürger*innen geteilt
werden sollen und damit zu Differenzierungen zwischen denen, die als gleich, und
solchen, die als anders eingestuft werden, führen (Ayata 2019). Dies schlägt sich
etwa in den USA in der Normalisierung der Vorstellung nieder, junge Schwarze
134 B. Hipfl
Männer seien gefährlich und gewalttätig (Ayata 2019, S. 336). Eine Mobilisierung
von Sentiments, die sich auf Geschlecht, Sexualität und Rasse beziehen und in einer
Gefühlsstruktur mündet, die Gabriele Dietze als Ethnosexismus (Dietze 2019) be-
zeichnet, kennzeichnet aktuelle Ausprägungen von Rechtspopulismus in Westeuro-
pa (Dietze und Roth 2020). Dietze verweist auf zwei Gelenkstellen, an denen
Rassismus und Sexismus miteinander verknüpft werden: „die Behauptung, die
eigenen Frauen seien durch fremde Männer gefährdet . . . (und) . . . die Sorge, als
hegemoniale ‚Rasse‘ und Geschlecht auszusterben“ (Dietze 2019, S. 9). Die Über-
tragung solch gefühlsaufgeladener Botschaften, die dazu führt, dass „die mitgeteil-
ten Inhalte . . . affektiv gefühlte Evidenz“ bekommen, nennt Dietze Affektbrücke.
3
Das ambivalente Bedeutungsfeld, das mit dem englischen ‚complaint‘ angesprochen ist und von
Klagen bis zu Kritik reicht, wird von Brigitte Bargetz (2018) mit dem im Deutschen ebenfalls
ambivalenten Jammern gefasst.
136 B. Hipfl
erfolgen sollen, aber Wirkungen bei Affekten nie exakt vorhersehbar sind, da sich
ständig neue Verknüpfungen ergeben können.
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Geschlechterstereotype und
Geschlechterrollen
Martina Thiele
Inhalt
1 Einleitung: Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
2 Theoretische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
3 Geschlechterstereotype in den Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
4 Fazit: Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
Zusammenfassung
Die feministische Forschung zu medialen Geschlechterstereotypen setzte mit
Beginn der Zweiten Frauenbewegung ein. In den Blick genommen werden
seitdem Stereotypinhalte, ihre Produktion und Rezeption. Grundlage der empiri-
schen Forschung ist eine theoretische Auseinandersetzung mit Stereotypen, die
Disziplinen übergreifend geführt wird. Beteiligt sind neben der Psychologie und
Sozialpsychologie, kultur-, geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer sowie als
Querschnittsdisziplin die Gender Studies.
Kommunikations- und medienwissenschaftliche Studien zu Geschlechterste-
reotypen sind überwiegend Medieninhaltsanalysen, untersucht wurden vor allem
Printmedien und Werbung. Neben Differenzierungen und Modernisierungen
belegen die Studien eine hohe Beständigkeit medialer Geschlechterstereotype.
Forschungslücken bestehen hinsichtlich Rezeption und Wirkungen, zudem muss
sich die Forschung weiter epistemologischen Herausforderungen stellen.
Schlüsselwörter
Stereotypdefinitionen · (Dys-)funktionen von Stereotypen ·
Geschlechterstereotype und -rollen · Intersektionalität · Kernel-of-truth debate
M. Thiele (*)
Institut für Medienwissenschaft, Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland
E-Mail: martina.thiele@uni-tuebingen.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 141
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_10
142 M. Thiele
1 Einleitung: Definitionen
Definitionen von Stereotyp sind zahlreich und unterscheiden sich in ihren Akzentuie-
rungen. Der Publizist Walter Lippmann, der den Begriff aus der Fachsprache des
Druckens übernommen hat, bezeichnete Stereotype als „pictures in our heads“. Diese
„Bilder in unseren Köpfen“, so Lippmann in seinem 1922 erschienenen Buch Public
Opinion, würden die Wahrnehmung maßgeblich bestimmen: „We are told about the
world before we see it. We imagine most things before we experience them. And those
preconceptions, unless education has made us acutely aware, govern deeply the whole
process of perception.“ (Lippmann 1998 [1922], S. 90) Im Verlauf des 20. Jahrhun-
derts sind Stereotype häufig als fehlerhaft und realitätsinadäquat definiert worden,
zugleich gibt es Definitionen, die Stereotype eher neutral als kognitive Schemata
beschreiben und Stereotypisierung als Prozess, der auf Kategorisierung und Attribu-
ierung beruht (Thiele 2015, S. 26 ). Kategorisierung meint die Einteilung von
Menschen oder auch Objekten in (soziale) Gruppen, Typen oder Klassen; Attribuie-
rung die Zuschreibung von positiven wie negativen Eigenschaften. Die kognitive
Dimension wird bei Stereotyp-Definitionen hervorgehoben. Beim Vorurteil kommt
noch eine affektive Dimension hinzu, um die stärkere „Gefühlsgeladenheit“ von
Vorurteilen zu betonen. Diskriminierung schließlich weist neben der kognitiven und
affektiven Dimension eine konative auf, was bedeutet, dass Einstellungen und Ge-
fühlen gegenüber Angehörigen einer sozialen Gruppe Handlungen – möglicherweise
diskriminierende – folgen. (Petersen und Six-Materna 2006, S. 430–436)
Stereotype sind aber nicht nur „Bilder in unseren Köpfen“, sie sind auch
konkrete, materielle (Sprach-)Bilder in den Medien, die sowohl im Text als auch
durch ein einzelnes Bild (Foto, Karikatur) oder eine Bildfolge (Comic, Filmse-
quenz) vermittelt werden. Relevant ist die Unterscheidung zwischen Stereotypen
als Kognitionen oder materialisierten Bildern für kommunikationswissenschaftli-
che Studien u. a. deshalb, weil sie die Forschungsbereiche und Untersuchungsme-
thoden bestimmt. Je nachdem, ob Stereotypenforschung als Medieninhalts- bzw.
Repräsentationsforschung betrieben wird oder sich mit denen befasst, die stereo-
type Inhalte (re-)produzieren (Kommunikatorinnen wie Rezipientinnen), kommt
ein anderer Stereotyp-Begriff zum Tragen.
Wer aber stereotypisiert, wer sind die Stereotypisierten? Wer bildet warum welche
Stereotype in Bezug auf wen oder was? Um diese unterschiedlichen Bezugnahmen
zu kennzeichnen, werden die Begriffe Autostereotyp oder Selbstbild, Heterostereo-
typ oder Fremdbild und Metastereotyp verwendet. Dabei gibt das Heterostereotyp
immer auch Auskunft über das Autostereotyp, denn wenn „die anderen“ so und also
„anders“ sind, ergibt sich daraus, wie „wir“ sind. Über Mitglieder der „outgroup“
liegen meist weniger Informationen vor. Heterostereotype weisen daher häufig einen
geringeren Grad an Komplexität auf und tendieren ins Negative. Autostereotype
hingegen betonen stärker positive Eigenschaften bzw. solche Eigenschaften, die von
der eigenen Gruppe positiv gesehen werden. Die gemeinhin positive Bewertung der
Geschlechterstereotype und Geschlechterrollen 143
Kategorien und Stereotype sind selten eindeutig, häufig versammeln sie mehrere
Merkmalsausprägungen, zuweilen Widersprüchliches. Das lässt sich gut am Beispiel
von Geschlechterstereotypen nachvollziehen. Sie beruhen auf der Kategorisierung
nach Geschlecht (zumeist genau zwei Geschlechtern, nämlich „weiblich“ und
„männlich“) und sexueller Orientierung sowie der wiederholten Zuschreibung von
mehr oder weniger positiven Eigenschaften. Doch gibt es neben der Unterscheidung
nach Geschlechtern und sexueller Orientierung weitere Differenzierungen bzw.
Subkategorien, z. B. im Falle von „Frau“ Subkategorien wie „Rentnerin“, „Mäd-
chen“, „Hausfrau“, „Direktorin“, „Touristin“. Merkmale, die sich auf diese Subka-
tegorien beziehen, können sich überschneiden, im Widerspruch zueinander stehen
oder mit anderen Kategorien, z. B. Alter, Ethnizität oder Tätigkeit/Beruf, verbunden
sein. Auf diese Unterschiede innerhalb einer Kategorie verweist auch der Begriff der
sozialen Rolle, worunter die Soziologie und Sozialpsychologie spezifische Anfor-
derungen verstehen, die an soziale Akteurinnen entsprechend ihrer Position gestellt
werden. Wenn verschiedene Rollen, beispielsweise Berufs- und Geschlechterrollen,
mit widersprüchlichen Erwartungen verbunden sind, kann das zu Rollenkonflikten
führen.
So findet sich neben den Begriffen Geschlechterstereotyp und Geschlechterkli-
schee auch der der Geschlechterrolle (Alfermann 1996; Eagly und Karau 2002). Mit
Geschlechterrollen sind bestimmte normative Erwartungen verbunden, die ihrerseits
durch geschlechterstereotype Zuschreibungen entstanden sind, bspw. Erwartungen
an eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung oder ein ‚rollenkonformes‘ Verhalten.
Thomas Eckes (2010, S. 178) sieht sowohl bei Geschlechterrollen als auch -stereo-
typen deskriptive und präskriptive Anteile. Während die deskriptiven Anteile tradi-
tionelle und auch kulturübergreifende Annahmen darüber umfassen, wie ‚Frauen‘
und ‚Männer‘ ‚sind‘, welche Eigenschaften sie haben und wie sie sich verhalten,
beziehen sich die präskriptiven Anteile auf Annahmen darüber, wie ‚Männer‘ und
‚Frauen‘ sein sollen. Stereotypisierung dient letztlich, so Stuart Hall (2004, S. 144)
„der Aufrechterhaltung der sozialen und symbolischen Ordnung.“ [. . .] „Sie klassi-
fiziert Menschen entsprechend einer Norm und konstruiert die Ausgeschlossenen als
‚anders‘“. (Hall 2004, S. 145)
144 M. Thiele
2 Theoretische Positionen
Die theoretische Auseinandersetzung mit Stereotypen ist bestimmt durch die Dis-
kussion über den Wahrheitsgehalt bzw. die Realitätsadäquanz von Stereotypen, die
sog. kernel-of-truth-debate, des weiteren durch die Frage nach individuellen wie
gesellschaftlichen Funktionen und Dysfunktionen von Stereotypen, schließlich
durch Überlegungen zu Intersektionalität und ihrer Bedeutung für die Stereotypen-
und Vorurteilsforschung.
Dass Stereotype schon aufgrund von Verkürzung und Verallgemeinerung wenig mit
„realen“ Vorkommnissen und realen Personen zu tun haben, klingt in den meisten
Stereotyp-Definitionen an. „Wenig“ deutet aber auf einen Rest, ein Körnchen Wahr-
heit, das eine Aussage, sei sie noch so stereotyp, enthält. Über diesen Rest sind
zahlreiche Debatten geführt worden, in die wissenschaftliche Literatur sind sie unter
dem Stichwort „kernel-of-truth-debate“ eingegangen (Lee et al. 1995; Ryan et al.
1996; Filipp und Mayer 1999; Hornsey 2008).
Haben Stereotype nun nichts oder doch zumindest ein bisschen mit der Realität
zu tun? Beiden auf den ersten Blick so gegensätzlichen Positionen gegenüber dem
Wahrheitsgehalt von Stereotypen ist gemein, dass sie die Erfassung „der“ Realität
bzw. einen Abgleich mit der Realität prinzipiell für möglich halten. Sie unterschei-
den sich jedoch in der Perspektive: während die einen den Anteil der Nichtüberein-
stimmung des Stereotyps mit „der“ Realität hervorheben, betonen die anderen den
Anteil der Übereinstimmung.
Vertreterinnen (radikal-)konstruktivistischer Theorien ziehen indes aus erkennt-
nistheoretischen Gründen in Zweifel, dass ein Abgleich mit „der“ Realität machbar
und (empirisch) sinnvoll ist. So lassen sich zwei Positionen unterscheiden, eine
„realistische“ und eine „konstruktivistische“: Während Vertreterinnen der realitäts-
bezogenen Orientierung den Gehalt von Stereotypen und Vorurteilen an „der“
Realität messen und zu dem Ergebnis „verzerrte Darstellung“ oder aber „ein Körn-
chen Wahrheit“ gelangen, geht es den Konstruktivistinnen darum, die Erzeugung,
Verbreitung und möglichen Wirkungen von Stereotypen und Vorurteilen zu unter-
suchen. (Thiele 2015, S. 57) In diese Richtung argumentieren auch Sigrun-Heide
Filipp und Anne-Kathrin Mayer. Selbst wenn es sich bei einem Stereotyp als Ver-
knüpfung von Kategorisierung und Attribuierung nicht um eine falsche Verknüp-
fung handeln sollte, läge der Fehler aber darin, „diese Verknüpfung als naturgegeben
zu deuten, statt als Ausdruck sozialer Rollenzuweisungen“ (Filipp und Mayer 1999,
S. 63). Von Bedeutung, so die Autorinnen, sei weniger die Frage nach dem
Wahrheitsgehalt von Stereotypen als die Frage nach den Funktionen, die Stereotype
für Einzelne und Gruppen erfüllen. (Filipp und Mayer 1999, S. 65)
Schließlich gibt es zwischen diesen Positionen vermittelnde Sichtweisen, die als
„sozialkonstruktivistisch“ oder „rekonstruktivistisch“ bezeichnet werden. Kai Hafez
beschreibt jenen „Mittelweg“ wie folgt: „Der rekonstruktivistische Ansatz geht einer-
Geschlechterstereotype und Geschlechterrollen 145
seits davon aus, dass natürliche wie auch gesellschaftliche Realität weitgehend unab-
hängig vom Subjekt (etwa dem Journalisten) existent sind und vom Subjekt rekonstru-
iert werden können, weil in der Regel Teile der vermittelten Realitätsentwürfe intersub-
jektiv bestätigt werden können, was überhaupt erst die Basis dafür legt, dass Menschen
sich kommunikativ verständigen können, dass jedoch andererseits Realität zu komplex
ist, um als Ganzes erfassbar zu sein und daher selektiert, transformiert und insofern
tatsächlich konstruiert wird.“ (Hafez 2002, S. 17)
Prognostizieren lässt sich, dass solange Stereotypenforschung betrieben wird,
auch die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Stereotypen kontrovers diskutiert
wird. Hier stoßen mit Konstruktivismus und Realismus unterschiedliche wissen-
schaftstheoretische Konzepte aufeinander, die zu unterschiedlichen Fragestellungen
und Hypothesen, Forschungsdesigns und Ergebnissen führen. Gerade auch für die
kommunikationswissenschaftliche Stereotypenforschung und die Gender Media
Studies ist die kernel-of-truth-Debatte von Bedeutung, da stereotype journalistische
Berichterstattung und Werbung häufig mit dem Hinweis auf das „Körnchen Wahr-
heit“, das doch in jedem Stereotyp stecke, begründet wird.
Eine andere Begründung für den Rückgriff auf Stereotype sind die Funktionen, die
sie für das Individuum und für soziale Gruppen erfüllen. Auf sie wird in der
wissenschaftlichen Debatte über Stereotype immer wieder verwiesen. Nur wenige
Wissenschafterinnen kritisieren grundsätzlich den in der Stereotypenforschung
vorherrschenden Funktionalismus (Thiele 2015, S. 60–76) oder setzten sich wie
die Linguistin Uta Quasthoff mit dem „Dilemma der Vorurteilsforschung“ (Quas-
thoff 1973, S. 148) auseinander. Es besteht darin, dass die kognitive Ressourcen
schonende Funktion von Stereotypen und Vorurteilen im Sinne von „Komplexitäts-
reduktion“ mit Blick auf das Individuum positiv bewertet wird, für Gruppen oder die
Gesellschaft als ganze aber die Gefahr besteht, Opfer von auf Denkökonomie
beruhenden Stereotypen und Vorurteilen zu werden. So können sich die für das
Individuum nützlichen Funktionen für die Gemeinschaft als eher schädlich erweisen
– und umgekehrt. Zusammenfassen lassen sich die verschiedenen Funktionen und
Dysfunktionen von Stereotypen unter 1. Wissen, Orientierung, Komplexitätsreduk-
tion, 2. Abwehr, Verteidigung, Vermeidung von Dissonanzen, 3. Identitätsbildung,
-stabilisierung und Integration, 4. Desintegration, schließlich ist 5. von einer politi-
schen Funktion die Rede, die auch als propagandistische oder ideologische Funktion
von Stereotypen bezeichnet wird.
Metaanalysen der bisherigen Forschung zu Stereotypen belegen, dass die meisten Studien
zu Nationen- und Geschlechterstereotypen durchgeführt worden sind. (Dovidio et al.
2010, S. 3–28) Andere Stereotyparten, etwa Religions-, Alters- und Klassenstereotype,
146 M. Thiele
wurden demgegenüber lange Zeit vernachlässigt, stoßen inzwischen aber auf größeres
Interesse. Deutlich zeigt sich, wie sehr wissenschaftliche Beschäftigung mit spezifischen
Stereotyparten durch soziale und politische Kontexte bestimmt und Konjunkturen unter-
worfen ist. (Thiele 2015, S. 381–386)
Doch verlaufen die Grenzen zwischen den spezifischen Stereotypen bzw. Stereo-
typarten nicht eindeutig, wie oben im Abschnitt zu Subkategorien und Substereoty-
pen bereits dargelegt wurde. Stereotype Zuschreibungen beziehen sich selten auf nur
eine Kategorie. Vielmehr kommt es zu Verschränkungen und Interdependenzen,
weswegen auch in der Stereotypenforschung intersektionale Ansätze inzwischen
mehr Beachtung finden (Thiele 2015, S. 79, 2017, 2019). Ausgangspunkt der Über-
legungen zum Zusammenhang von Stereotypenforschung und Intersektionalität ist
die Definition von Stereotypen als Denkschemata, die auf Kategorisierung und
Attribuierung beruhen. Weil häufig mehrere Kategorien miteinander verschränkt
sind, spricht man in der Stereotypenforschung auch von Stereotypkomplexen oder
von Stereotypen und Substereotypen. Und hier ist die Verbindung zu Intersektiona-
lität gegeben. Denn die zentralen Fragen innerhalb der Intersektionalitätsdebatte
lauten, ob und wie welche verschiedenen sozialen Kategorien miteinander verbun-
den sind, wie sich Wechselwirkungen gestalten und wie das Zusammenwirken
verschiedener Kategorien zu Hierarchisierungen und sozialer Ungleichheit führt.
Ziel intersektionaler Forschung ist, multiple Ungleichheitsstrukturen zu analysieren.
Anhaltend sind jedoch die Diskussionen über den Stellenwert einzelner sozialer
Kategorien, die Zahl der zu untersuchenden Kategorien und die Art und Weise ihres
Miteinander-Verschränktseins. Gabriele Winker und Nina Degele, die sich 2009
intensiv mit Intersektionalität auseinandergesetzt haben, halten fest, dass das Kon-
zept keine theoretische Begründung liefere, „warum gerade Rasse, Klasse und
Geschlecht die zentralen Linien der Differenz markieren. Auch andere Kategorien
wie Alter, Generativität, Sexualität, Religion, Nationalität oder Behinderung könn-
ten Berücksichtigung finden“ (Winker und Degele 2009, S. 15).
So bleibt offen, welche Kategorien in welchen sozialen Kontexten bzw. „Domi-
nanzkulturen“ (Rommelspacher 1995) jeweils wichtiger bzw. entscheidender sind und
was für oder gegen eine Hierarchisierung von Kategorien spricht. Das betrifft einzelne
Kategorien ebenso wie die Trias race, class, gender, denn fraglich ist, ob sich patriar-
chale oder rassistische Strukturen allein aus den ökonomischen Verhältnissen ableiten
lassen. Fortgeführt wird damit die Diskussion über Masterkategorien bzw. das, was in
marxistischer Tradition unter Haupt- und Nebenwiderspruch verhandelt wird (siehe
etwa Dowling et al. 2017). Ausdruck dieser Debatte ist auch die Unterscheidung
zwischen Struktur- und Differenzkategorien (Lenz 2010, S. 159; Aulenbacher 2008),
wobei erstere, auf der Strukturebene angesiedelt, Prozesse und Verhältnisse innerhalb
der kapitalistischen Akkumulationslogik beschreiben; Differenzkategorien hingegen,
auf der Ebene der symbolischen Repräsentation und auf der Identitätsebene angesiedelt,
vielfältiger sein können (Winker und Degele 2009). Cornelia Klinger (2008, S. 42–43)
nennt Arbeit, Körper und Fremdheit als allgemeine Strukturkategorien, von denen
ausgegangen werden müsse, um Nationalismus/Imperialismus, Kapitalismus und das
Patriarchat als Herrschaftsverhältnisse, die an diese Kategorien anknüpfen, zu kritisie-
Geschlechterstereotype und Geschlechterrollen 147
ren. Nur so könne die „metaphor of intersectionality“1 produktiv – und das meint in
Richtung Veränderung der bestehenden Verhältnisse – verwendet werden.
Mit der Zeit erfährt der Begriff Intersektionalität eine Neujustierung und teilweise
Ausdifferenzierung, je nachdem, ob eine eher interkategoriale oder intrakategoriale
Zugangsweise (McCall 2001) gewählt wird. Während erstere von gesellschaftlichen
Strukturen und Strukturkategorien wie etwa Klasse, „Rasse“, Geschlecht ausgeht
und Überschneidungen zwischen diesen betrachtet, fordern Vertreterinnen intraka-
tegorialer Perspektiven, soziale Kategorien tatsächlich als sich gegenseitig durch-
dringend und „interdependent“ zu denken und dabei Differenzen und Ungleichhei-
ten innerhalb sozialer Gruppen sowie daraus folgende Inklusionen und Exklusionen
in den Blick zu nehmen. Dieser Ansatz drückt sich beispielsweise aus in dem
Buchtitel Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersek-
tionalität, Diversität und Heterogenität (Walgenbach et al. 2007) oder in Über-
legungen zu Transkulturelle[r] Intrasektionalität als Perspektive in der geschlech-
tertheoretischen Migrationsforschung (Kannengießer 2012). Poststrukturalistische
und (de-)konstruktivistische Ansätze erweitern die Debatte über Intersektionalität
um antikategoriale und antiessentialistische Positionen (siehe etwa Lorey 2008,
2010; Purtschert und Meyer 2010; Horscheidt 2014; Tuider 2015). Sie haben zur
Folge, dass Fragen der Macht und politischen Durchsetzungsfähigkeit auch in der
Debatte über Geschlechter- und Sexualitätsstereotype erneut gestellt werden, denn
wer hat die Macht, Stereotype zu (de-)konstruieren?
Medien und Kommunikation spielen im Prozess der Erzeugung und Vermittlung von
Stereotypen eine wesentliche Rolle. Internationale Vergleichsstudien wie das Global
Media Monitoring Project (GMMP 2015) bestätigen ebenso wie nationale Studien
bis heute jenes Ergebnis, das die US-amerikanische Kommunikationswissenschaft-
lerin Gaye Tuchman schon 1978 (dt. 1980) in The Symbolic Annihilation Of Women
by the Mass Media formuliert hat: Massenmedien drängen Frauen in die symboli-
sche Nichtexistenz oder aber sie stereotypisieren und trivialisieren sie. Ihre mediale
Sichtbarkeit ist also durchaus ambivalent (Schaffer 2008), da zumeist mit Stereoty-
pisierung verbunden. Dabei sind die Unterschiede, was Vorkommen und Inhalte der
Geschlechterstereotype anbelangt, zwischen verschiedenen Arten von Medien
(Print-/audio-visuelle und Online-Medien), zwischen fiktionalen und non-fiktiona-
len Gattungen sowie Werbung und redaktioneller Berichterstattung nicht ausrei-
chend untersucht. Die vorliegenden Studien bestätigen jedoch, dass in den letzten
vier Jahrzehnten nur geringe Fortschritte in Richtung höhere mediale Präsenz von
1
Klinger weist zu Beginn ihres Beitrags (2008, S. 39) auf die terminologische Unterscheidung, die
Patricia Hill Collins zwischen „interlocking structures of oppression“ und „the metaphor of
intersectionality“ getroffen hat, um damit einerseits die gesellschaftliche, andererseits die individu-
elle Ebene der Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Ungleichheit zu kennzeichnen, die aber
ohne Frage miteinander verbunden sind.
148 M. Thiele
Das Internationale Jahr der Frau 1975 befördert auch im deutschsprachigen Raum
die Forschung zu medialen Geschlechterstereotypen (Küchenhoff 1975; Fabris und
Kreuzhuber 1976). Die Küchenhoff-Studie, in der erstmals umfassend Die Darstel-
lung der Frau und die Behandlung von Frauenfragen im Fernsehen untersucht
wurden und auf die sich Forscherinnen bis heute beziehen, konstatiert eine stereo-
type Darstellung, denn „neben dem traditionellen Leitbild der Hausfrau und Mutter
steht das Leitbild der jungen, schönen und unabhängigen Frau“ (Küchenhoff 1975,
S. 241). Auffällig sei zudem, dass „die Fernsehfrau unpolitisch“ sei, eine „Mittel-
schichtorientierung“ vorherrsche und die Berufstätigkeit von Frauen ausgeblendet
bleibe (Küchenhoff 1975, S. 241). Ähnlich lauten die Ergebnisse einer Studie, die
Christine Leinfellner Anfang der 1980er-Jahre für das Österreichische Fernsehen
durchführt. Leinfellner kritisiert „geschlechtsspezifische Klischees“, wonach der
Mann „aktiv“, „mit mehr Fähigkeiten und Begabungen ausgestattet“ gezeigt werde
als die „passive, nie aggressive“ Frau (Leinfellner 1983, S. 112). Kein Thema seien
in den Sendungen des ORF Hausarbeit und Mehrfachbelastungen der Frauen. Be-
rufstätigkeit beschränke sich bei Frauen auf einige wenige Berufe, während das
Berufsspektrum bei Männern deutlich breiter sei (Leinfellner 1983, S. 111). Beson-
ders in den Eigenproduktionen des ORF träten „hausbackene“ Frauentypen auf, die
„wenig attraktiv“ seien, „kaum Gesprächsthemen“ hätten und „in Ausbildung, Beruf
und Intelligenz“ ihrem Partner unterlegen seien (Leinfellner 1983, S. 112). Die
Studie gelangt zu dem Schluss, dass das Fernsehen auf die veränderten sozialen
Verhältnisse zu langsam reagiere.
Das gleiche gilt für die Werbung. Erving Goffmans zuerst 1976 erschienene Studie
Gender Advertisements, für die er über 500 Anzeigen analysiert und kategorisiert hat,
macht darauf aufmerksam, wie Geschlechterunterschiede (aber auch Statusunter-
schiede und Unterschiede innerhalb einer Geschlechterkategorie) in der Werbung
hergestellt werden (Goffman 1979; dt. 1981). Eine wichtige Rolle spielen Größenver-
hältnisse („relative size“), Berührungen („the feminine touch“), Rangordnungen
(„function ranking“), die sich sowohl in beruflichen als auch privaten, familiären
Kontexten widerspiegeln, ritualisierte Unterwerfungsgesten („the ritualization of sub-
ordination“) sowie ein Widerrufen und Einschränken spontan geäußerter Gefühle
(„licensed withdrawal“). Untersuchungen zu Werbung in audiovisuellen Medien be-
stätigen und ergänzen Goffmans Ergebnisse dahingehend, dass auch beim Einsatz von
Ton und bewegten Bildern Interaktionsrituale, Gestiken und Mimiken feststellbar sind,
die Geschlechterdifferenzen reproduzieren. So erscheinen Männer z. B. dynamisch,
weil sie sich im Raum bewegen, ihn durchmessen, Frauen statisch, weil sie in
sitzender oder liegender Position gezeigt werden. Männer überragen die anderen,
Frauen sind optisch und verbal unterlegen. Wenn sie beispielsweise wegen Flecken,
Geschlechterstereotype und Geschlechterrollen 149
profilen reicht mittlerweile von dümmlich bis intelligent, von schön bis hässlich, von
feinfühlig bis gefühllos, von kindlich bis erwachsen oder von albern bis humorlos
[. . .].“ (Krohne 1995, S. 151) Die Akzeptanz der vielfältigeren Repräsentationen von
Männlichkeit erklärte der Autor mit Individualisierungsprozessen und dem allgemei-
nen Wertewandel. Guido Zurstiege erhebt mittels Inhaltsanalyse, wie sich Repräsen-
tationen von Männlichkeiten von den 1950er bis in die 1990er-Jahre in der Anzeigen-
werbung der Zeitschriften Brigitte, stern und auto, motor und sport verändert haben.
Sie hat vom Umfang her zugenommen, und auch die Zahl der repräsentierten Männer
ist in den beiden Zeitschriften, deren Leserschaft überwiegend männlich ist, deutlich
gestiegen. Ein Trend, mit Männern Männer anzusprechen und Männer als Männer
anzusprechen, ist erkennbar. Mittels Faktorenanalyse gelangt der Autor zu einer
Typenbildung mit u. a. dem „Alleskönner“, dem „erfolgreichen“ und dem „attrakti-
ven“ Mann, dem „Praktiker“ und dem „Familienvater“. (Zurstiege 1998, S. 164) Das
Spektrum an Eigenschaften und somit die Zahl an präsentierten Männertypen variiert
von Zeitschrift zu Zeitschrift. Vorherrschend ist dennoch ein Männerbild, das „ihn“ als
erfolgreich, sachlich, sportlich, tüchtig zeigt. Die Eigenschaftszuschreibungen erwei-
sen sich über den gesamten Untersuchungszeitraum als stabil und bestätigen frühere
Ergebnisse (Kotelmann und Mikos 1981).
Im neuen Jahrtausend stellt Christina Holtz-Bacha im Sammelband Stereotype?
Frauen und Männer in der Werbung (Holtz-Bacha 2011) die neuesten Ergebnisse
zum Thema vor. Mit ihrer Frage, ob in der Fernsehwerbung inzwischen „mehr als
Frühjahrsputz und Südseezauber“ stattfinde, greifen Holtz-Bacha und Vennemann
ein Ergebnis auf, das für Kotelmanns und Mikos’ 1981 erschienene Studie titelge-
bend war und das Mikos einige Jahre später noch einmal überprüft hat (Mikos 1988).
Die Auswertung aller in die Stichprobe gelangten Spots ergibt hinsichtlich des
Vorkommens von Männern und Frauen, der Rollen, in denen sie zu sehen sind,
sowie der beworbenen Produkte für Männer Folgendes: „88 Clips (21 %) zeigen in
der Hauptrolle Männer. Diese werben hauptsächlich für Männerkosmetik, Rasier-
bedarf, Autos, Bier, Fast Food und Baumärkte. Außerdem sind Männer häufig
Experten auf verschiedenen Gebieten wie Kaffee, Schokolade, Versicherungen oder
Toilettenreiniger.“ (Vennemann und Holtz-Bacha 2011, S. 90) In 236 Clips (55 %)
kommen Frauen allein oder mit anderen vor, 102 Clips (24 %) kommen ohne
Personendarstellung aus.
Die Autorinnen erkennen eine breite Palette an Frauentypen, die Rollen der
Hausfrau und Mutter hätten eine Aufwertung erfahren, insgesamt erscheinen die in
den TV-Spots dargestellten Frauen „selbstbewusst, unabhängig, zielstrebig, dabei
unbeschwert und lebensfroh.“ (Vennemann und Holtz-Bacha 2011, S. 97) Bevorzugt
werden Frauen in der Freizeit gezeigt, und da träten sie zuweilen in Rollen auf, „die
sich nicht eindeutig bestimmten Stereotypen zuordnen lassen“ (Vennemann und
Holtz-Bacha 2011, S. 95). Sie werden der Kategorie „die Unkonventionelle“ zuge-
ordnet. Die Beschreibungen ihres Auftretens in den Spots deuten auf Brüche mit den
bekannten, traditionellen Frauen-Stereotypen, denn die Frauen sind abenteuerlustig,
dreist, draufgängerisch, verschwenderisch und scheuen auch vor sexistischer Anma-
che attraktiver Männer nicht zurück. Dabei sind sie aber weiterhin ganz überwiegend
jung, schlank, attraktiv.
Geschlechterstereotype und Geschlechterrollen 151
Die mediale Verbreitung von Geschlechterstereotypen wirft Fragen nach der Wir-
kung auf. Sicher kann von Kultivierungseffekten ausgegangen werden. Von frühes-
ter Kindheit an mit Geschlechterstereotypen konfrontiert, bilden sie die Grundlage
unseres (vermeintlichen) Geschlechterwissens. Die Kenntnis positiver wie negativer
Geschlechterstereotype bleibt nicht ohne Einfluss auf die Bildung von Selbst- und
Fremdbildern bzw. Auto-, Hetero- und Metastereotypen und damit auf unser Ver-
halten. Zu den in diesem Zusammenhang auftretenden Phänomenen zählen selfful-
filling prophecy und stereotype threat.
Ersteres meint, dass etwas, von dem man vermutet, dass es so sein wird, dann
tatsächlich eintritt, weil man vermutet, dass es so sein wird – und sich entsprechend
verhält. Auf die realen Folgen von letztlich auf ungeprüften Annahmen beruhenden
Realitätsdefinitionen haben schon William Isaac und Dorothy Swaine Thomas 1928
verwiesen: „If men define situations as real, they are real in their consequences.“
(Thomas und Thomas 1928, S. 572) Diese Aussage ging als „Thomas-Theorem“ in
die Wissenschaftsgeschichte ein.
Stereotype threat erklären Claude M. Steele und Jefferson Aronson so: „It focuses
on a social-psychological predicament that can arise from widely-known negative
stereotypes about one’s group. It is this: the existence of such a stereotype means that
anything one does or any of one’s features that conform to it make the stereotype
more plausible as a self-characterization in the eyes of others, and perhaps even in
one’s own eyes.“ (Steele und Aronson 1995, S. 797) Befürchten Personen, dass sie
aufgrund von negativen Gruppenstereotypen beurteilt werden, beeinflusst das ihr
Verhalten – und zwar häufig dahingehend, dass sie das negative Stereotyp bestäti-
gen. Diese „Drohfunktion“ von Stereotypen kann fatale Folgen haben: Beispiels-
weise schneiden Testpersonen schlechter bei Aufgaben ab, deren Lösung ihrer
Gruppe nicht zugetraut wird. Auch distanzieren sich Personen von jenen Bereichen,
in denen sie mit negativen Stereotypen konfrontiert werden könnten, was z. B. bei
der Studien- und Berufswahl oder im Berufsleben dazu führt, dass trotz vorhandener
Qualifikation bestimmte Karrieren von vornherein ausgeschlossen erscheinen (Kel-
Geschlechterstereotype und Geschlechterrollen 153
4 Fazit: Herausforderungen
Individuum als positiv bewertet, für soziale Gruppen oder die Gesellschaft als Ganze
aber besteht die Gefahr, Opfer von auf Denkökonomie beruhenden Stereotypen zu
werden. Nicht selten verwechselt die in der Tradition funktionalistischer Forschung
stehende empirische Forschung Ursachen und Wirkungen; die behaupteten Funk-
tionen von Stereotypen werden dann zur Legitimierung ihres Vorhandenseins he-
rangezogen. Eine (ideologie-)kritische Auseinandersetzung mit den Funktionen von
Stereotypen ist bislang nur von wenigen Autorinnen geleistet worden. Hier ist ein
Anknüpfen an vorhandene Theoriebestände der Gender und Queer Studies sinnvoll,
wenngleich das performative Dilemma der Benennung und Sichtbarmachung von
Stereotypen selbst noch im Akt des De-Konstruierens und Sich-Widersetzens beste-
hen bleibt. „Umkehrungen“, wie Stuart Hall (2004, S. 159) die Versuche nennt, den
gegenwärtigen Repräsentationsregimes etwas entgegenzusetzen, sind dennoch mög-
lich, Geschlechterstereotype langfristig durchaus veränderbar.
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Sichtbarkeit. Epistemologie und Politik
eines Schlüsselbegriffs analoger und
digitaler Medienrealitäten
Johanna Schaffer
Inhalt
1 ‚Sichtbarkeit‘ als Redefigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
2 Kritiken am Topos Sichtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
3 Sichtbarkeit, digitalisierte Medienrealitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
Zusammenfassung
Trotz jahrzehntelang geäußerter Kritik erweist sich der Begriff Sichtbarkeit
immer noch als brauchbar, um Herrschaftskritik zu betreiben und die Umvertei-
lung gesellschaftlicher Ressourcen zu fordern (‚Mehr Sichtbarkeit für . . .‘). In
kritischen Diskussionskontexten zu digitalen Medienrealitäten ist der Begriff
allerdings grundlegend anders konnotiert. Hier lagert er neben dem Begriff der
Überwachung, verliert also die oppositionelle Konnotation, die er vor allem in
den 1980er-Jahren gewann, und affirmativ verwendet steht er vornehmlich für
Internetpräsenz. Die dargestellten Kritiken an der Verwendung des Begriffs
weisen auf die entmaterialisierenden und naturalisierenden ideologischen Effekte
dieser Redefigur hin und arbeiten die mediale/materielle Bedingtheit der Dimen-
sion, die mit Sichtbarkeit bezeichnet ist, heraus. In den Diskussionspraktiken
kritischer Netzaktivist*innen und Coder*innen lassen sich zudem Begriffe wie
Permeabilität und Exponiertheit finden, und mit whisper (flüstern) und listen
(zuhören, lauschen) Metaphern, die andere Sinnesrealitäten ansprechen, um so
der konzeptuellen Reduktion, zu der Sichtbarkeit tendiert, mit einem umfangrei-
cheren medienpolitischen Vokabular zu entgegnen.
J. Schaffer (*)
Visuelle Kommunikation, Kunsthochschule Kassel, Kassel, Deutschland
E-Mail: johanna.schaffer@uni-kassel.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 159
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_8
160 J. Schaffer
Schlüsselwörter
Sichtbarkeit · Transparenz · Form · Materialität · Netzaktivismus
‚Sichtbarkeit‘ ist eine zentrale Redefigur vor allem oppositioneller politischer Rhe-
toriken. Nach wie vor wird der Begriff analog zu dem der Anerkennung verwendet,
um für minorisierte Subjektivitäten und Wissensformen Geltung, Recht und damit
auch Ressourcen gesellschaftlicher Gestaltungsmacht einzufordern (mehr Sichtbar-
keit für . . .!). So betitelt beispielsweise Viviane Namaste (2000) ihre umfangreiche
Beschreibung der diskursiven Auslöschung der Anwesenheit von Transpersonen
und von Transwissen, auch durch queere Theorieprojekte, mit Invisible Lives. Als
Bestandteil eines oppositionellen, und hier vor allem des feministischen politischen
Vokabulars beginnt Sichtbarkeit im deutschen Sprachraum in den 1980er-Jahren zu
zirkulieren.1 Metaphorisch verwendet, verweist der Begriff auf gesellschaftliche
Durchsetzungskraft, öffentliche Präsenz und damit verbunden symbolische Aner-
kennung („Frauenforschung sichtbar machen“, Appel et al. 1985). Sein Einsatz
verstärkt sich in den 1990er-Jahren, und intensiviert sich noch einmal um ein
Vielfaches seit den 2000er-Jahren. Zeitgleich sind Projekte zu Sichtbarkeit am
Entstehen des Forschungsfeldes der Visuellen Kultur beteiligt (Foster 1988 als
eine der ersten; Mirzoeff 2016 als eine der jüngsten und, wie auch die folgenden,
politisch prononcierten; Kravagna 1997 und Holert 2000 als frühe, auch sehr
politisierte, bzw. Schade und Wenk 2012 für eine neuere deutschsprachige Ein-
führung). In dem Sammelband Anerkennung und Sichtbarkeit. Perspektiven für eine
kritische Medienkulturforschung halten die Herausgeberinnen fest, dass „Anerken-
nung und Sichtbarkeit . . . zu Schlüsselbegriffen vielfältiger öffentlicher Identitäts-
politiken und politischer Auseinandersetzungen um den Zugang zu ökonomischen,
gesellschaftlichen und kulturellen Ressourcen avanciert [sind]“ (Thomas et al. 2017,
S. 11). Der Begriff ist also mit Identitätspolitiken verbunden, und folglich mit
politischen Rhetoriken, die sich weniger auf relationale Strukturen und Prozesse
denn auf isolierbare Einheiten konzentrieren. Zwei Gründe lassen sich anführen für
die politische Aufladung, die er in den letzten dreißig Jahren erfahren hat. Der erste
hat mit der epistemologischen, der zweite mit der politischen Verfasstheit der
1
Sichtbar in die Titelsuchfunktion des Katalogs der Österreichischen Nationalbibliothek eingege-
ben ergibt 36 Einträge bis 1973, 53 Einträge 1974–1987, 300 Einträge 1988–2002 und 2264 nach
2002. Bis Anfang der 1980er-Jahre sind die Arbeiten, die sichtbar im Titel tragen, naturwissen-
schaftlich, verkehrstechnisch oder christlich-theologisch. Erst ab den 1980er-Jahren nimmt der
Begriff in seiner metaphorischen Verwendung im Sinne von gesellschaftlicher Macht und öffentli-
cher Präsenz zu, und zwar gleichzeitig mit dem Anstieg von Publikationen zu Computerisierung
und Digitalität (Stand 27.12.2017; vergleichbare Ergebnisse zu visibility im Katalog der British
Library).
Sichtbarkeit. Epistemologie und Politik eines Schlüsselbegriffs . . . 161
Sichtbarkeit ist etymologisch mit Sehen verbunden, und damit mit einer der grund-
legenden epistemologischen, also Wissen und Erkenntnis betreffenden Leitmeta-
phern westlicher Gesellschaften. Stephen Tyler (1984) legt dar, dass dieses Na-
heverhältnis zwischen Sehen, Denken und Wissen vor allem für die als
indogermanisch klassifizierten Sprachen gilt. Deren Gesellschaften behandeln das
Sehen als hegemonialen Sinn, dem andere Sinne wie der des Hörens, Schmeckens
oder die Kinästhetik als Bewegungsempfindung nur nachgereiht sind. Die enge
Verbindung von physiologischem Sehen mit Wissen, Wirklichkeit und Wahrheit
ist jedoch eine nachmittelalterliche, vor allem durch die Aufklärung begründete. Den
Gesellschaftsordnungen der westlichen Antike und des christlichen Mittelalters galt
das gebildete Seelenauge als erkenntnisleitend, dem physiologische Auge wurde
misstraut (Schleusener-Eichholz 2007). Und in der Tat ist Sichtbarkeit als Topos
politischer Rhetoriken eben deswegen so produktiv, weil sich in dem Konzept
zentrale Dimensionen gesellschaftlicher Realität treffen: die politische, die ästheti-
sche und die epistemologische, also die Bedingungen des Wissens und der Erkennt-
nis (Einsicht!) betreffende Dimension. Also lässt sich mit Sichtbarkeit viel gleich-
zeitig adressieren: sinnliche, das heißt auch subjektive und verkörperte
Wahrnehmung, dann die Wissensordnung, in der diese begründet ist, sowie die
damit verbundenen gesellschaftlichen Strukturen und schließlich die Frage, wie
diese allesamt gesellschaftlich strukturierten Dimensionen mit politischen Rechten
verknüpft sind. Und der Begriff Sichtbarkeit hilft, über Darstellungen als Felder der
Repräsentation zu sprechen, darin Abwesenheiten zu markieren und diese Abwe-
senheiten in ihrer Verbindung zu systematischem und strukturellem Ausschluss zu
thematisieren.
Zum anderen aber ist die Vorstellung der Sichtbarkeit engstens mit den politischen
Idealen der liberalen Demokratie verbunden. Besonders deutlich arbeitet Hannah
Arendt dies in ihrer Beschreibung des öffentlichen Raumes als Raum der geteilten
auditiven und visuellen Wahrnehmung heraus. Das Wort ‚öffentlich‘, schreibt sie,
bedeutet
„daß alles, was vor der Allgemeinheit erscheint, für jedermann sichtbar und hörbar ist,
wodurch ihm die größtmögliche Öffentlichkeit zukommt. Daß etwas erscheint und von
anderen genau wie von uns selbst als solches wahrgenommen werden kann, bedeutet
innerhalb der Menschenwelt, daß ihm Wirklichkeit zukommt. Verglichen mit der Realität,
die sich im Gehört- und Gesehenwerden konstituiert, führen selbst die stärksten Kräfte
162 J. Schaffer
unseres Innenlebens – die Leidenschaften des Herzens, die Gedanken des Geistes, die Lust
der Sinne – ein ungewisses, schattenhaftes Dasein, es sei denn, sie werden verwandelt,
gleichsam entprivatisiert und entindividualisiert, und so umgestaltet, daß sie eine für öffent-
liches Erscheinen geeignete Form finden“ (Arendt 2002 [1972], S. 62–63).
In ihrer 2016 publizierten Studie Talking Back beschreibt Claudia Unterweger die
Arbeit der 2005 in Wien gegründeten Recherchegruppe zu Schwarzer österreichi-
scher Geschichte. Das Buch folgt den Taktiken, die die Recherchegruppe entwickelt,
um den historischen Protagonismus Schwarzer Menschen zu betonen und
„Schwarze Menschen als Subjekte sichtbar zu machen“ (Unterweger 2016,
S. 212). Jedoch weist Unterweger auch darauf hin, dass die vorgeblich evidente
Sichtbarkeit rassifizierter Differenzen davon ablenkt, dass eben diese Sichtbarkeit
ein Effekt rassistischer Herrschaftsmechanismen und „zugunsten der hegemonialen
Gruppe definiert“ ist (Unterweger 2016, S. 22). Auch Josch Hoenes kritisiert in
seiner Arbeit Transmännlichkeiten im Bild westliche Academia für deren „Formen
der Sichtbarkeit“ (Hoenes 2014, S. 15), die Trans-Personen den Status als Protago-
nist*innen der Wissensproduktion vorenthält, sie aber als Objekte des Wissens
behandelt, „mutiert [. . .] zum Tier oder zur fortschrittlichen Lerntechnologie“ (Hoe-
Sichtbarkeit. Epistemologie und Politik eines Schlüsselbegriffs . . . 163
nes 2014, S. 15). Beide Arbeiten bestehen normenkritisch darauf, dass weit über die
Frage der gesellschaftlichen Inklusion hinaus auch die Prozesse und Praktiken der
Sichtbar- und der Unsichtbarmachung Teil gemeinsamer politischer Reflexionen
sein müssen (Butler 2015, S. 5–6).
Oft geäußert ist mittlerweile also der Gedanke, dass Sichtbarkeit keine quanititativ
beurteilbare Qualität ist, im Sinne von mehr Sichtbarkeit gleich mehr gesellschaft-
liche Macht. Wäre dies so, dann müsste in den Gesellschaften des postindustriellen
Nordens/Westens die Macht primär in den Händen junger, weißer, halb bekleideter
Frauen liegen (Phelan 1993, S. 10). Ebenso gilt es zu untersuchen, ob Formen der
Darstellung bzw. Sichtbarkeit bestehende Herrschaftsverhältnisse affirmieren oder
unterwandern. Das lässt sich gut an wahl- oder spendenwerbenden Kampagnen
diskutieren, die auf deutschsprachige Mainstream-Öffentlichkeiten abzielen und
die Präsenz von Schwarzen und PoC (People of Color) Protagonist*innen visuell
signifizieren. Üblicherweise folgen die Visualisierungsentscheidungen dieser Medi-
enprodukte Castinglogiken, die in rassialisierenden Typologien begründet sind. Für
die im Jahr 2000 lancierte Plakatkampagne „Einbürgerung“, erstellt von der Kölner
Agentur Hansen Kommunikation im Auftrag der damaligen Bundesbeauftragten für
Ausländerfragen Marieluise Beck, hieß das zum Beispiel, mit Portraitfotografien
von Personen zu arbeiten, denen durch Textzeilen Herkünfte („Warschau, Braza-
ville, Istanbul“) zugeordnet wurden. Zu diskutieren ist, ob sich diese auf rassialisie-
renden Typologien beruhenden Projekte eignen, um antirassistische Kritiken an
gesellschaftlichen Ausschlüssen und Abwertungen zu formulieren (Schaffer 2008,
S. 92–104). Oft wird zudem betont, dass Sichtbarkeit und ebenso Unsichtbarkeit
nicht einfach gegeben sind, sondern im Verhältnis zu bestehenden Normen und
Identitätsvorgaben hergestellt werden; dass sie somit in engster Verbindung zu
bestehenden Macht/Wissensstrukturen artikuliert und verwaltet werden (Holert
2000, S. 20). Denn die Forderung nach ‚Sichtbarkeit für . . .‘ bedeutet immer auch
eine Affirmation bestehender Normen der Sichtbarkeit, bzw genauer: der Lesbarkeit,
innerhalb derer eben diese Sichtbarkeit eingeklagt wird (Schaffer 2008). Also
erfordert die Herstellung von Sichtbarkeit eine „Anpassungsleistung“ (Mesquita
2011, S. 14) an bestehende Normen, um in ein bestehendes Privilegiensystem
eingeschlossen zu werden – das aber immer noch viele_s ausschließt. Eden Osucha
beispielsweise kritisiert die TV-Serie The L Word und deren entpolitisierende narra-
tive Gesten dafür, dass in ihr Weißsein nicht nur als Norm, sondern als konstitutive
Grundlage fungiert, um von lesbischen Lebensformen zu erzählen (Osucha 2009).
Als limitierend kritisiert wird auch die binäre, d. h. Entweder-oder-Anordnung
von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Sichtbarkeit ist darin meist der positiv bewer-
tete Term, wobei in den 2000er-Jahren auch das Konzept der Unsichtbarkeit positive
Besetzung erfährt, in einer leichten Verschiebung als Unwahrnehmbarkeit beispiels-
weise bei den Theoretiker*innen, die aus der Perspektive der Autonomie der
Migration (z. B. Papadopoulos et al. 2008) argumentieren. Was so der Aufmerk-
164 J. Schaffer
samkeit entgeht, ist, wie sich Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit gegenseitig modulie-
ren und neue Sichtbarkeiten alte Sichtbarkeiten verdrängen. Die gegenwärtige
Aufmerksamkeit der Unterhaltungsindustrie für Transpersonen suggeriert beispiels-
weise, Transsubjektivitäten gäbe es erst jetzt, und verdrängt ältere Weisen Trans zu
sein ebenso wie andere nicht-konforme Geschlechterpraktiken (zu deren Geschichte
Baumgartinger 2017 und Guggenheimer et al. 2013).
Eindrücklich sind auch die Kritiken einer affirmativen Verwendung von Sicht-
barkeit, die darauf hinweisen, dass Hypervisibilität als exzessive Ausgesetztheit an
die Blicke anderer eine Gewaltdimension benennt. Kobena Mercer beispielsweise
zeigt auf, wie „Hyperblackness“ in der Medien- und Unterhaltungsindustrie als
„neues Regime multikultureller Normalisierung“ (Mercer 2016, S. 196) dazu dient,
durch Klassismus gezogene Differenzen zu verdecken. Und schließlich ist mit
Unsichtbarkeit auch keineswegs generell ein Status der Machtlosigkeit verbunden,
ganz im Gegenteil definiert sich die Wirkmacht gesellschaftlicher Normen gerade
über ihre Unsichtbarkeit.
Als Topos, also als gängige Figur eingesetzt, impliziert Sichtbarkeit ebenso wie
Unsichtbarkeit nahezu immer die Naturalisierung ihrer Herstellung, und das heißt
auch die Unbedachtheit ihrer medial/materiell bedingten Herstellungsprozesse, denn
„Sichtbarkeit ist eben nicht Transparenz, sondern ein Anspruch, den es sorgfältig zu
untersuchen gilt“ (Treichler et al. 1998, S. 3). Eine prominente Beschreibung der
medial-materiellen Bedingtheit von Sichtbarkeit findet sich in der Auseinanderset-
zung zu „Perspektive als symbolische Form“ – so der Titel des Aufsatzes, den der
Kunsthistoriker Erwin Panofsky 1927 veröffentlicht. Darin deutet er die weitrei-
chenden epistemologischen Konsequenzen der Zentralperspektive als „Darstel-
lungsdispositiv“ an (Damisch 2010, S. 11), das die westliche Welt bis jetzt bestimmt.
In der Vorstellung eines geometrisch vereinheitlichten Raumes und eines einäugigen
Blicks gründend, begleitet die Etablierung der Zentralperspektive „nicht zufällig“
Beginn und Aufstieg der „modernen Anthropokratie“ (Panofsky 1998 [1927],
S. 756), also der humanistisch-neuzeitlichen Vorstellung der Zentralität und der
Herrschaft des Menschen über sich selbst. Drei fundamentale Achsen der Kritik an
dieser Konzeption des souveränen Subjekts bilden sich in der zweiten Hälfte des
zwanzigsten Jahrhunderts heraus: die psychoanalytische, die marxistische und die
feministische. Alle drei operationalisieren die medientheoretische Frage der Zen-
tralperspektive als ideologische Form. Psychoanalytisch dekonstruiert Jacques La-
can, ansetzend an der ideologischen Geometrie der Zentralperspektive, das ihr
implizite cartesianische Subjekt als Illusion, wenn auch als notwendige, und stellt
dieser Subjektillusion das durch Begehren und Unbewusstes dezentrierte und
gespaltene Subjekt entgegen (Lacan 1986 [1949]). Feministische filmtheoretische
Arbeiten und die marxistischen Apparatustheorien der 1960er- und 1970er-Jahre
knüpfen hier an. Sie weisen auf die Strukturgleichheit von Kamera bzw. kinemato-
grafischem Apparat und Zentralperspektive hin, die beide das blickende Subjekt am
Sichtbarkeit. Epistemologie und Politik eines Schlüsselbegriffs . . . 165
4 Fazit
Mit ‚Sichtbarkeit‘ kann man zwar schnell zur Thematisierung von Herrschaftsver-
hältnissen gelangen, für die Kritik an Effekten von Normen und Prozeduren der
Normalisierung eignet der Begriff sich in seiner bisherigen Ausarbeitung allerdings
wenig. Das ist freilich ein Problem, wenn Rouvroy und Berns Recht haben mit ihrer
Diagnose, dass algorithmische Gouvernementalität fundamentale Konsequenzen
dafür hat, wie Normen entstehen und wie sie Gehorsam hervorrufen (Rouvroy und
Berns 2013, o. S.). Mitbedacht werden sollte zudem, dass Sichtbarkeiten immer auch
ein Effekt von Identifikationstechnologien sind und diese in zunehmend militarisier-
ten Zeiten mit immer umfassenderen Gewaltprozessen in Verbindung stehen.
Ein Vorschlag zum Abschluss wäre, komplexen Situationen mit der Erweiterung
eines kritikfähigen Vokabulars zu begegnen. Statt ‚Sichtbarkeit‘ ließe sich zum
Beispiel der Begriff ‚Exposure‘ weiter verfolgen, der zwar in seiner deutschen
Übersetzung mit ‚Exponiertheit‘ den Verweis auf den fotografischen Belichtungs-
prozess verliert; mit dem sich aber, auch um den überbordenden Rhetoriken der
Privatheit entgegenzutreten, auf Hanna Arendts oben angeführtes Öffentlichkeits-
konzept und ihre Metapher „des blendend unerbitterlichen Lichts“ zurück kommen
lässt, das eine entschieden andere Charakteristik aufweist als das Transparenz-Licht.
Lohnend scheint mir auch der begriffliche Vorschlag, die Forderung nach Transpa-
renz durch das Konzept der Permeabilität zu ersetzen, denn Permeabilität ist ent-
schieden materiell konnotiert (vgl. Paehr et al. 2017). Drittens bleibt spannend,
denjenigen medientheoretischen Überlegungen zu folgen, die digitale Praktiken
aus transgeschlechtlicher, antirassistischer und PoC-Perspektive beschreiben. Denn
hier werden provozierende und auf Zukunft ausgerichtete Metaphern entworfen, die
die gesellschaftlichen Gewaltpraktiken des militarisiert-neoliberalen Kapitalismus
mit „Sichtbarkeitsmodulationen auf der Grundlage mutierbarer, flackernder Signifi-
kanten“ (Cárdenas 2015) aus der Perspektive der Überlebensnotwendigkeit kurz-
schließen.
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fen am 02.01.2018.
170 J. Schaffer
Kirstin Mertlitsch
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
2 Situiertes Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
3 Feministische Standpunkttheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
4 Feministischer Empirismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
5 De/konstruktivistische und postmoderne Epistemologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
6 Postkoloniale, dekoloniale und intersektionale Epistemologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
7 Ausblick: Posthumanismus und New Materialism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
8 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
Zusammenfassung
Ausgangspunkt feministischer Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien ist die
Kritik am Androzentrismus und Sexismus in den Wissenschaften, so auch in
der Medien- und Kommunikationswissenschaft. Grundlegende Begriffe sind
dabei feministische Epistemologien, die wissenschaftsgeschichtliche und wissen-
schaftssoziologische Aspekte miteinschließen, sowie situiertes Wissen, das den
jeweiligen Standpunkt der Forschenden berücksichtigt. Konzepte der feministi-
schen Standpunkttheorien, des feministischen Empirismus und Zugänge de/kon-
struktivistischer und de- bzw. postkolonialer Epistemologien, ebenso wie aktuelle
epistemologische Ansätze zu Diversität, Intersektionalität, Posthumanismus und
New Materialism sind die zentralen Diskurse der feministischen Erkenntnis-
theorie, die auch immer Fragen der Objektivität implizieren.
K. Mertlitsch (*)
Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich
E-Mail: Kirstin.Mertlitsch@aau.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 173
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_12
174 K. Mertlitsch
Schlüsselwörter
Feministische Erkenntnistheorie · Feministische Wissenschaftstheorie ·
Feministische Epistemologie · Situiertes Wissen · Feministische
Standpunkttheorien
1 Einleitung
Eine zentrale Frage der feministischen Erkenntnistheorien wurde von Lorraine Code
am Beginn der 1980er-Jahre in ihrem gleichnamigen Beitrag gestellt: „Is the sex of
the knower epistemologically significant?“ (Code 1981, S. 267–276). Code fragt, ob
das Geschlecht der/des Wissenden (Forschenden) erkenntnistheoretisch relevant ist.
Damit nimmt sie eine neue Perspektive in der Debatte zu klassischen Erkenntnis-
theorien ein. Denn erkenntnistheoretische Fragen werden meist folgendermaßen
formuliert: Was kann ich wissen? Was heißt Erkenntnis? Was ist das Subjekt und
das Objekt von Erkenntnis? Und unter welchen Bedingungen ist Erkenntnis mög-
lich? Ausgangspunkt der feministischen Kritik an klassischen erkenntnistheoreti-
schen Positionen ist, dass das Subjekt der Erkenntnis nicht neutral und unabhängig
von sozialen und politischen Positionen betrachtet werden kann. Feministische
Theoretiker_innen monieren seit den 1980er-Jahren v. a. in europäischen und anglo-
amerikanischen Kontexten die Geschlechtsblindheit und Abwertung von „weibli-
chen Denkpositionen“ innerhalb der Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften
(Alcoff und Potter 1993; Ernst 1999; Harding 1990, 1991; Hartsock 1983; Nagel-
Docekal 2008; Singer 2005).
Der Begriff Feministische Epistemologie, der von feministischen Theoretiker_in-
nen oft synonym mit feministischer Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie verwen-
det wird, lässt sich folgendermaßen ableiten: Erkenntnistheorie versteht sich als „die
Wissenschaft vom Wesen und den Prinzipien der Erkenntnis vom [...] Ursprung, den
Quellen, Bedingungen und Voraussetzungen, vom Umfang, von den Grenzen der
Erkenntnis“ (Gethmann 1972, S. 683). Wissenschaftstheorie (Epistemologie) befasst
sich hingegen mit den theoretischen Reflexionen, Grundlagen und Methoden der
Wissenschaft im Allgemeinen, d. h., sie befasst sich damit, wie wissenschaftliches
Wissen erzeugt wird (Felt et al. 1995, S. 19; Pulte 2004, S. 982). In der deutsch-
sprachigen Forschung werden die Begriffe Erkenntnistheorie und Epistemologie
meist synonym verwendet. Aber genau genommen ist der Begriff Epistemologie
weit umfassender, weil er erkenntnistheoretische Fragen impliziert und über diese
hinausgeht. Denn Epistemologie beinhaltet auch wissenschaftsgeschichtliche und
wissenschaftssoziologische Auseinandersetzungen, die die Denk- und Machtver-
hältnisse bei der Produktion von wissenschaftlichem Wissen thematisieren (Singer
2005, S. 27–28).
Die Perspektive auf Geschlecht ermöglicht es feministischen Wissenschaftstheo-
retiker_innen, die vermeintlich neutrale männliche Position innerhalb der wissen-
schaftlichen Diskurse als androzentrischen Blickwinkel aufzudecken und die
Abwertung von weiblichen Denk- und Erfahrungshorizonten als sexistisch zu ana-
Feministische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie 175
2 Situiertes Wissen
flusst (Singer 2008, S. 286). Donna Haraway spricht von einer Vielzahl partialen,
verortbaren, kritischen Wissens, das mehr Objektivität und durch Positionierung mehr
Verantwortung verspricht (Haraway 1995, S. 82). Sie stellt in ihrem Beitrag „Situiertes
Wissen“ (1995) Fragen dazu, wie wir erkennen bzw. sehen können:
„Wie können wir sehen? Von wo aus können wir sehen? Welche Grenzen hat die Sicht?
Wofür sollen wir sehen? Mit wem kann man sehen? Wer hat mehr als einen Standpunkt?
Wer wird borniert? Wer trägt Scheuklappen? Wer interpretiert das visuelle Feld? Welche
anderen sensorischen Fähigkeiten wollen wir neben der Vision kultivieren?“ (Haraway
1995, S. 87)
3 Feministische Standpunkttheorien
generalisierend, weil auf eine weibliche, westliche, universale Position der Unter-
drückungs- und Lebenserfahrung reduziert, kritisiert (Alcoff und Potter 1993; Col-
lins 1990). Sandra Harding hat in ihren späteren Schriften die klassische feministi-
sche Standpunkttheorie erweitert. Ausgehend vom Standpunkt aller Marginalisierten
und durch das Einbeziehen möglichst vieler Perspektiven soll eine weniger verzerrte
Wissensproduktion und somit eine strong objectivity erreicht werden: „Standpoint
theories argue for ‚starting off thought‘ from the lives of marginalized peoples;
beginning in those determinate, objective locations in any social order will generate
illuminating critical questions that do not arise in thought that begins from dominant
group lives“ (Harding 1993, S. 56). Dieser Zugang impliziert nicht nur die Unter-
schiedlichkeit der Erfahrungen und Emanzipationserfahrungen von Frauen, sondern
aller marginalisierter Gruppen.
4 Feministischer Empirismus
Der kontextuelle Empirismus von Helen Longino und die naturalisierte Epistemo-
logie von Lynn Hankinson Nelson zählen zu den wichtigsten Ansätzen des feminis-
tischen Empirismus, der sich durch evidenzbasierte Erkenntnis- und Wissenspro-
duktion auszeichnet (Longino 1990; Nelson 1990; Singer 2008). Longino und
Nelson gehen davon aus, dass wissenschaftliches Wissen nicht individuell, sondern
durch gemeinsame Praxen in Forschungsgemeinschaften hervorgebracht wird. Wäh-
rend bei klassischen empiristischen Positionen Gegebenes bzw. positive Tatsachen
als Untersuchungsgegenstände vorausgesetzt werden und Wissen durch Methoden
der Beobachtung, Messung und die Durchführung von Experimenten erzeugt wird,
vertreten Longino und Nelson den Ansatz, dass das wissenschaftliche Wissen ein
Ergebnis von sozialen Interaktionen und Aushandlungsprozessen in wissenschaftli-
chen Kollektiven ist (Longino 1990, S. 80; Ernst 1999, S. 125; Rolin 2011, S. 26).
Wissenschaft ist Longino und Nelson zufolge eine soziale Aktivität, findet in
sozialen Zusammenhängen statt und ist daher auch nicht wertfrei. Longino definiert
den kontextuellen Empirismus folgendermaßen:
„Er ist empirisch insofern er Erfahrung als die Grundlage von Wissensansprüchen in den
Naturwissenschaften betrachtet. Er ist kontextuell in seinem Beharren auf der Relevanz des
Zusammenhangs – sowohl des Zusammenhangs der Annahmen, die die Argumentation
unterstützen, als auch des sozialen und kulturellen Zusammenhangs, der wissenschaftliche
Forschung trägt.“ (Longino, zit. nach Ernst 1999, S. 126)
Post- und dekoloniale Ansätze kritisieren ebenso die Setzung eines universalen
Wissenssubjekts und damit auch die klassische feministische Standpunkttheorie.
Patricia Hill Collins hat das Konzept eines black feminist standpoint entwickelt,
das die Ermächtigung von afroamerikanischen Frauen forciert und zugleich euro-
zentrische, koloniale, rassistische und sexistische Machtverhältnisse in Frage stellt
(Collins 1990; Singer 2008, S. 290). Ähnliche Ansätze vertritt der Chicana Femi-
nismus von Gloria Anzaldúa und Cherríe Moraga, die Grenzerfahrungen und -wahr-
nehmungen als zentral für Denken und Erkennen annehmen und den hegemonialen
Feministische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie 179
Für die Gender Media Studies sind weiters von den zahlreichen weiterführenden
Themenfeldern der feministischen Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, die mit
politisch-ethischen Fragen verbunden sind, insbesondere die posthumanen und
neuen materialistischen Denkansätze von Karen Barad (2007), Rosi Braidotti
(2014) und Donna Haraway (2018) zu nennen, die die Verschränkung der Dichoto-
mien Natur/Kultur, Mensch/Nichtmensch aus ethischer Perspektive thematisieren
und damit anthropozentrische und/oder androzentrische Erkenntnisstandpunkte hin-
terfragen. Diese Zugänge kritisieren die Zentralstellung des menschlichen Subjekts
und machen deutlich, dass Materie aktiv tätig und wirkmächtig ist. Daraus geht auch
ein neues Verständnis von Ontologie hervor. Beide Richtungen sind verknüpfbar mit
Debatten zu Demokratie, Gerechtigkeit, ökologischen Krisen, der Klimakatastrophe,
der Tierrechtsbewegung sowie mit Digitalisierung und künstlicher Intelligenz.
Insbesondere die Konzepte der Intraaktion und des agentiellen Schnitts von
Karen Barad (2012), die zu den wichtigsten Ansätzen des Neuen Materialismus
zählen, sind in Hinblick auf erkenntnistheoretische Fragen der neuen Medien rele-
vant. Barad zufolge ist Materialität aktiv tätig und nicht passiv gegeben. In einem
180 K. Mertlitsch
intraaktiven Prozess wird Materie tätig und etwa als Phänomen erkennbar in der
Verschränkung zwischen Beobachter_in und Beobachtetem. Das (Forschungs-)
Subjekt und das (Forschungs-)Objekt sind unzertrennlich und bilden zusammen
mediale Phänomene (vgl. Barad 2012, S. 20). Diese entstehen fortwährend in
intraaktiven Prozessen und werden erst durch sogenannte agentielle Schnitte
bestimmt. Das Konzept der Intraaktion beschreibt die Handlungs- und Wirkmäch-
tigkeit von Materie und ein permanentes dynamisches interaktives Werden in seiner
Unabschließbarkeit. In diesem Zusammenhang spricht Barad auch von Ontoepiste-
mologie, weil Phänomene in Erkenntnisprozessen entstehen bzw. „die Untersuchung
von Erkenntnispraktiken innerhalb des Seins“ vollzogen wird (Barad 2012, S. 100).
Der material turn, der eine neue Ontologie entwirft und damit auch ein erkenntnis-
theoretisches Verständnis tief greifend verändert, wird daher auch als „neue Meta-
physik“ oder als „Revolution des Denken“ bezeichnet (Dolphijn und van der Tuin
2012, S. 13 und S. 85).
8 Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die kritischen Gender Media Studies aktuell
vor der politisch-ethischen Frage stehen, wie mediales Wissen hergestellt werden
kann, sodass Demokratie und Gerechtigkeit befördert werden. Daher bleiben für die
Gender Media Studies weiterhin feministisch-epistemologische Herausforderungen
virulent, Objektivitäts- und Wahrheitsansprüche mit Ansätzen eines situierten, par-
teilichen und lokalen Wissens in Verbindung zu bringen, ohne jedoch zu Relativis-
mus oder Universalismus zurückzukehren: Wie können revidierte Objektivitätsan-
sätze aussehen? Wie kann Wissen über partiale und parteiliche Wissensformen
hinaus hergestellt werden? Was kann als „wahres“ Wissen gelten? Und wie kann
eine gemeinsame verantwortliche Wissensproduktion gestaltet sein? Ernst schreibt,
dass Wirklichkeit insgesamt die Konstruktion eines interaktiven, multilateralen
Prozesses ist, an der Personen teilhaben und in die sie eingreifen (Ernst 1999,
S. 243). Ähnlich argumentiert Singer, bezugnehmend auf Hannah Arendt, wenn
sie formuliert, dass die Wahrheit letztlich zwischen uns entsteht, ohne damit eine
konstruktive Willkür zu meinen (Singer 2005, S. 261). Ein Erkenntnisprozess wäre
demnach ein unabgeschlossener, sozialer und epistemischer Erfahrungsprozess, an
dem Menschen partizipieren und in den sie auch intervenierend eingreifen, wobei für
eine feministische Epistemologie der Gender Media Studies vor allem ethische und
politische Fragen zentral bleiben.
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182 K. Mertlitsch
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
2 Methodologische Überlegungen zur Intersektionalitätsforschung:
Typologie, Analysebenen, Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
3 Methoden der Intersektionalitätsforschung und empirische Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Zusammenfassung
Intersektionalität ist eine herrschaftskritische Herangehensweise, um die gegen-
seitige Durchdringung sozialer Ungleichheitskategorien wie Geschlecht,
„Rasse“, Ethnizität, Klasse und Sexualität in Verbindung mit den verschiedenen
Ebenen der gesellschaftlichen Diskurse, Institutionen und Subjektpositionierun-
gen zu theoretisieren und zu erforschen. Indem gesellschaftliche Diskurse nicht
losgelöst von einer alles umgebenden Medienwelt entstehen, sind Medien als
Ko-Produzenten von Machtverhältnissen für das Konzept der Intersektionalität
besonders interessant. Dabei ist Intersektionalität für die Medienforschung in
mehrfacher Hinsicht eine methodologische und methodische Herausforderung.
A. Gouma
Institut für Inklusive Pädagogik, Pädagogische Hochschule Oberösterreich, Linz, Österreich
E-Mail: assimina.gouma@univie.ac.at
J. Dorer (*)
Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: johanna.dorer@univie.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 183
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_81
184 A. Gouma und J. Dorer
Schlüsselwörter
Intersektionalität · Methodologie · Methoden · Medien · Feministische
Medienforschung · Intersektionale Empirie
1 Einleitung
Davis 1998; Gutiérrez Rodríguez 2011) verbunden ist, konnte die Trias gender,
race and class nicht einfach auf europäische und deutsche Verhältnisse übertragen
werden. Knapp (2005a) erinnert an die unterschiedlichen historischen Entwicklun-
gen, was den Begriff „Rasse“ in Verbindung mit der NS-Vergangenheit betrifft,
sowie an die marxistische Tradition, die den Diskurs der Klassenzugehörigkeit
mitbestimmt. Gleichzeitig betont sie – wie auch andere feministische Forscherinnen
– dass das Konzept der Intersektionalität wesentlich zu einer elaborierten Debatte in
der feministischen Theorieentwicklung beiträgt: Ungleichheit innerhalb und zwi-
schen sozialen Gruppen einerseits und gesellschaftliche Machtverhältnisse anderer-
seits können so neu zusammen gedacht werden. (Knapp 2013; Lutz et al. 2013;
McCall 2005; Davis 2013; Winker und Degele 2009; Yuval-Davis 2013; Walgen-
bach 2013; Collins und Bilge 2016)
In der regen wissenschaftlichen Debatte zum Konzept der Intersektionalität gibt
es einige wesentliche Aspekte, die als gemeinsame Basis gelten. Trotz unterschied-
licher Zugänge ist die Konzentration auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse
entscheidend. Diese gelten als Grundlage und Resultat von sozialen Differenzen
bzw. Differenzierungen, die Ungleichheiten konstituieren und als Legitimations-
grundlage für Ausgrenzung und Diskriminierung einerseits und für Inklusion und
Privilegierung andererseits dienen. Geschlecht, „Rasse“/Ethnizität, Klasse und
Sexualität sind jene zentralen Kategorien sozialer Ungleichheit, die Gesellschaften
strukturieren und für Subjekte quasi als Platzanweiser in der Gesellschaftsordnung
fungieren. Intersektionalität betont das komplexe Ineinanderwirken von Sexismus,
Rassismus, Klassismus und Homophobie in einer Gesellschaft. Im Zentrum einer
Intersektionalitätsanalyse stehen die Wechselwirkungen von gesellschaftlichen
Strukturen und Differenzkategorien sowie der Prozess der gegenseitigen Konsti-
tuierung in ganz spezifischen (gesellschaftlichen, historischen, geografischen,
sozialen, medialen) Kontexten. Als gemeinsame Basis gelten weiters die theoreti-
schen Diskussionen um soziale Gerechtigkeit und Anerkennung. Auch über die
doppelte Anforderung der wissenschaftlichen Theoriebildung einerseits und
Umsetzung in der politischen und sozialen Praxis andererseits herrscht Überein-
stimmung in den verschiedenen Zugängen. (Lutz et al. 2013; McCall 2005; Davis
2013; Yuval-Davis 2013; Walgenbach 2013; Collins und Bilge 2016; Degele 2019)
Parallel zum Erfolg des Intersektionalitätsansatzes entwickelte sich das Konzept
der Diversity für Unternehmen und Organisationen. Ein klarer Unterschied zwischen
den beiden Konzepten liegt in der Schwerpunktsetzung. Geht es bei Intersektiona-
lität um systemische Ungleichheit und um ein politisches Anliegen, so betonen
Diversity-Konzepte die Vielfalt. Ziel des Konzepts der Intersektionalität ist die
Dekonstruktion bzw. Kritik von Herrschafts- und Machtverhältnissen, die sich in
Gesellschaftsstrukturen und Subjektivierungsprozessen auffinden lassen, während
das Diversity-Konzept auf Inklusion der Verschiedenheit abzielt und dabei zur
Individualisierung beiträgt. Ferner unterscheiden sich die beiden Konzepte in ihrer
theoretischen Fundierung. Während intersektionale Ansätze einen Beitrag zur Theo-
riebildung mit politischem Anspruch implizieren, sind Diversity-Konzepte Manage-
mentinstrumente bzw. politische Instrumente (der EU, UNO), um eine Vielfalt an
Subjektpositionen in Organisationen herzustellen, wobei Machtfaktoren und Macht-
strukturen meist unberücksichtigt bleiben. (Degele 2019, S. 346; Meyer 2017,
186 A. Gouma und J. Dorer
S. 143; Collins und Bilge 2016, S. 186; Knapp 2005b; Gutiérrez Rodríguez 2011;
Hagemann-White 2011; Drüeke et al. 2014, S. 3).
Ebene der Identitätskonzepte (wie etwa meist bei quantitativen Analysen), können in
innovativer Weise Überschneidungen und Verschränkungen der Kategorien in einem
größeren gesellschaftlichen Zusammenhang interpretiert werden. Dieser Ansatz ist
daher für die sozialwissenschaftliche Forschung mit qualitativen Methoden und
Einzelfall-Studien am zugänglichsten.
Beim interkategorialen Ansatz stehen Beziehungen, Relationen und Vergleiche
zwischen den sozialen Gruppen bzw. Kollektiven im Zentrum, wobei Kategorien
provisorisch und strategisch vorausgesetzt werden. Komplexität wird bei diesem
Ansatz als Differenzierung mittels Einführung mehrerer sozialer Gruppen verstan-
den (z. B. Mann, Frau kombiniert mit Arbeiter-, Mittel-, Oberklasse und weiss,
schwarz, was zwölf zu vergleichende Gruppen ergibt). (McCall 2005, S. 1786)
Während Knapp (2008) sozialstrukturelle Verankerungen und Wechselwirkungen
betont, wird empirisch (v. a. in sozialpsychologischen Studien) den quantitativen
Methoden der Vorzug gegeben, bei denen die Ungleichheit der Gruppen statistisch
erfasst wird, was zu differenzierten, quantitativen Vergleichsdaten führt, jedoch die
gesellschaftlichen Strukturen von Ungleichheit nicht hinreichend erfasst.
Die Komplexität des Intersektionalitätskonzepts bedeutet aber auch, dass ver-
schiedene Ebenen der Analyse miteinbezogen werden, die dann sowohl verglei-
chend berücksichtigt als auch in die sie bestimmenden Kontexte eingebettet werden
müssen. (Christensen und Qvotrup Jensen 2012, S. 111) Dabei sind sowohl die
Strukturebene als auch die individuelle Ebene zentral für die Analyse. (Yuval-Davis
2013; Kerner 2009; Lutz et al. 2013; Winker und Degele 2009; Meyer 2017)
Unter Rückgriff auf Floyd Anthias Überlegungen schlägt Lutz (2015) einen
Analyserahmen vor, der vier Ebenen berücksichtigt: erstens die Ebene der Diskri-
minierung, die sich auf Erfahrungen von gesellschaftlich Marginalisierten gründet,
zweitens die Ebene der Akteur_innen, die das konkrete Handeln in der intersubjek-
tiven Praxis berücksichtigt, drittens die Ebene der Institutionen mit ihren spezifi-
schen hierarchieproduzierenden Strukturen und Wirkweisen sowie viertens die
Ebene der symbolischen und diskursiven Repräsentation, das sind jene in der
Gesellschaft und in Medien zirkulierenden Zuschreibungspraxen an eine soziale
Gruppe. Diese vier Analyseebenen müssten in der empirischen Erforschung zudem
in ihrer gegenseitigen Durchdringung Berücksichtigung finden. Erst dann kann eine
intersektionale Analyse das kritische Potenzial entfalten, das für die Handlungs-
fähigkeit und das Empowerment benachteiligter sozialer Gruppen notwendig ist.
Ina Kerner (2009) geht bei der Systematisierung der zu berücksichtigenden
Kontexte von drei Ebenen aus. Die erste Ebene betrifft persönliche Zugänge (Sub-
jektivität, Einstellungen, Interaktionen), die zweite die Organisationsebene, fokus-
siert auf Hierarchisierung und Diskriminierungsformen, die dritte epistemische
Zugänge, die sich in Wissen, Diskursen, Symbolen und Bildern erfassen und vor
allem auch über Medienanalysen untersuchen lassen.
Auch Winker und Degele (2009, 2011) gehen bei ihren methodologischen Über-
legungen davon aus, dass verschiedene Ungleichheit generierende Kategorien sowie
die Verwobenheit und Wechselwirkungen zwischen diesen Kategorien auf drei ver-
schiedenen Ebenen zu analysieren sind, und zwar auf der Ebene der Identität und
interpersonalen Subjektivierung, der Ebene der gesellschaftlichen und sozialen Struk-
188 A. Gouma und J. Dorer
turen sowie der Ebene der symbolischen Repräsentationen. Damit sollen auf der
Makro- und Mesoebene soziale Strukturen, die durch Organisationen und Institutio-
nen wirksam werden, auf der Mikroebene unterschiedliche Subjektkonstitutionen und
individuelle Identitätsbildung und auf der Repräsentationsebene die in einer Gesell-
schaft bedeutsamen Symbole und Diskurse erfasst und in Beziehung gesetzt werden.
Um nicht vorweg Ungleichheitskategorien zu fixieren, schlagen Winker und Degele
(2009, 2011) neben der auf der Strukturebene deduktiv gesetzten Kategorien (Gender/
Sexualität, Klasse, „Rasse“, Körper) für die Identitäts- und Repräsentationsebene ein
induktives, offenes Vorgehen vor, wo am Beginn der Forschungsarbeit die Anzahl der
Kategorien nach oben offen ist.
Sie plädieren damit für ein differenziertes Vorgehen bei einer für die Konzeption
eines intersektionalen Forschungsdesigns zentralen Frage, die einer ausführlichen
Diskussion bedarf: Welche und wie viele Kategorien werden miteinbezogen, und wie
werden Kategorien in der empirischen Forschung ermittelt – werden sie induktiv
entwickelt oder fix vorausgesetzt?
Einigkeit besteht nach Meyer (2017) darin, dass soziale Kategorien wie Geschlecht,
Klasse, „Rasse“/Ethnizität und Sexualität etc. nicht lediglich als Differenz-, sondern
als Ungleichheitskategorien zu verstehen sind. In ihrer Mehrdeutigkeit konstruieren
Kategorien je nach gegebenem Kontext entweder eine Form von sozialer Identifika-
tion oder einen sozialen Standort (als Platzanweisung), sodass sie einerseits auf
Identitäten und andererseits auf Herrschaftsstrukturen, die unterschiedliche Machtef-
fekte haben, verweisen. Beide Aspekte sind Gegenstand von Intersektionalitätsstu-
dien. Denn die Differenzierungs-, Abgrenzungs- und Ausschlussprozesse, die
Identitäten (von Individuen und Gruppen) formieren, schlagen sich in machtförmigen
Differenzierungspraktiken nieder und sind dann als Effekte von Macht- und Herr-
schaftsverhältnissen zu analysieren. Das bedeutet ferner, dass Ungleichheitskategorien
binäre, asymmetrische Strukturen (Mann – Frau, Kapital – Arbeit, wir – sie etc.)
hervorbringen, die nicht nur ihre soziale Konstruiertheit verdecken, sondern als natür-
lich gegeben (essenzialistisch) erscheinen. (Meyer 2017, S. 94–99)
Daraus ergibt sich auch, welche Kategorien für die Analyse in Frage kommen. Vier
Ansätze lassen sich hier unterscheiden. (Meyer 2017, S. 127–140) Der erste Ansatz
leitet aus theoretischen und theoriegeschichtlichen Überlegungen die unbedingte Not-
wendigkeit der drei bzw. vier Masterkategorien Geschlecht, Klasse, „Rasse“/Ethnizität
und Sexualität ab. Der zweite Ansatz wägt je nach Analyseebene und Kontext des
Untersuchungsgegenstandes die Relevanz der einzubeziehenden Kategorien ab und
sieht nur für die Strukturebene die Notwendigkeit von drei bzw. vier Masterkategorien
vor, während er auf der Identitätsebene für eine Offenheit der Kategorien plädiert. Der
dritte Ansatz kennt keine Beschränkung auf die Masterkategorien, sondern ist offen für
viele Kategorien. Bedingung für eine sinnvolle Auswahl ist allerdings der Bezug auf ein
herrschaftskritisches Verständnis von Differenz, d. h. hierarchische Dualität, Ein- und
Ausschließungsprozesse, Normierungs- und Spaltungsprozesse etc. Der vierte Ansatz
lässt Anzahl und Inhalt der Kategorien ebenfalls offen, macht diese aber abhängig
davon, inwieweit Ausschlüsse und blinde Flecken sowie eine neue Sicht auf Machtver-
hältnisse sichtbar werden und ob damit ein emanzipatorisches Potenzial verbunden ist.
Bezüglich der Anzahl der zu untersuchenden Kategorien ist weiters zu bedenken, dass
Intersektionalität: Methodologische und methodische Herausforderung . . . 189
aus forschungstechnischen Gründen der Handhabbarkeit bei aller Offenheit aber auch
eine Beschränkung bzw. Fokussierung auf einige wenige Kategorien (vor allem auf der
Strukturebene) notwendig und sinnvoll sein kann.
Bei der Analyse ist zudem zu beachten, dass die offensichtlichste Kategorie nicht
immer die wichtigste sein muss. So schlägt Mary Matsuda (1991, S. 1189) vor, die
„andere Frage“ zu stellen. Sie meint damit, wenn etwas rassistisch aussieht, sollte
zuerst auch die Frage danach gestellt werden, wo hier das Patriarchat beteiligt ist,
wenn etwas sexistisch aussieht, sollte auch die Frage gestellt werden, wo hier
Heterosexismus vorkommt, und wenn etwas homophob erscheint, sollte man fragen,
wo hier Klasseninteressen eine Rolle spielen.
Bezüglich qualitativer Methoden kommt das gesamte Spektrum der in der Sozial-
wissenschaft angewandten Methoden zum Einsatz (van Zoonen 1994; Meyer 2017,
S. 108; Hankivsky und Grace 2015): von ethnografischen Methodenansätzen über
sämtliche Formen von Interviews, wie narrative oder fokusierte Interviews, Leitfa-
deninterviews, Experteninterviews, biografische Interviews und Gruppeninterviews,
teilnehmende Beobachtung, semiotische Analyse, Diskursanalyse, Textanalyse bis
zur Kollektiven Erinnerungsarbeit nach Frigga Haug (1987, 1999), Haug und Hipfl
(1995). Zur Anwendung kommen ferner Dokumentenanalysen, Tagebuchaufzeich-
nungen, der Ansatz der Aktionsforschung sowie qualitative Medientext- und Medi-
eninhaltsanalysen.
Interviews sind in der Intersektionalitätsforschung eine zentrale Forschungsme-
thode, sei es als Teil einer ethnografischen Feldforschung oder als eigenständige
Methode in einem Methoden-Mix. Auf die Besonderheiten in der Interviewsituation,
die bei einer intersektionalen Forschung zu beachten sind, geht Lutz (2015,
S. 40–42) ein. Drei Aspekte sind dabei von Bedeutung. Erstens ist es für die
Interviewer_innen wichtig, die Situiertheit der eigenen Person wie auch jene der
interviewten Person zu reflektieren. Dabei sollte es seitens der Interviewer_innen
nicht zu einer – wie unter anderem von Butler (1991, S. 210) als „Verlegenheits-
klausen“ bezeichneten – Situierung der eigenen Person als weiß, heterosexuell und
der Mittelschicht angehörend kommen. Der/die Interviewer_in sollte offen und
sensibel dafür sein, welche Differenzkriterien der/die Befragte selbst in das Inter-
view einbringt. Intersektionalität muss darnach zweifach berücksichtigt werden: in
den Narrationen der Interviewten und in der Analyse durch die Forscher_innen.
Zweitens ist zu berücksichtigen, dass Interviewte ihre Differenzkategorien selbst in
Verbindung mit bestimmten erlebten Situationen einbringen und dass die primär von
ihnen genannte Kategorie nicht immer die wichtigste und entscheidende Ungleich-
heitsdimension sein muss. Als dritten Aspekt führt Lutz (2015) die Ebene der
Machtverhältnisse an. Dabei geht es darum, Befragte nicht aufgrund von diskrimi-
nierenden gesellschaftlichen Strukturen sofort als Opfer (von Rassismus, Sexismus
etc.) zu bewerten, sondern herauszufinden, wie Individuen in einer bestimmten
Situation, in bestimmten Raum- und Zeit-Kontexten das Zusammenwirken ihrer
verschiedenen Differenzkategorien unterschiedlich verhandeln und sich einmal als
Gewinner_in und ein anderes Mal als Verlierer_in sehen können. Lutz (2015) spricht
Intersektionalität: Methodologische und methodische Herausforderung . . . 191
hier wesentliche Aspekte an, die ganz allgemein für die Auswertung intersektionaler
Analysen relevant sind.
Die ethnografische Methode nimmt eine besondere Stellung ein. Zum einen, weil
ethnografische Feldforschung durch die Kombination mehrerer Methoden die
Komplexität von Kategorien auf verschiedenen Ebenen analysieren, zum anderen,
weil das zeitlich ausgedehnte Forschen im Feld zu sehr diffizilen, facettenreichen
Erkenntnissen führen kann. Allerdings ist der Forschungsaufwand enorm, sodass es in
der Medienforschung erst wenige Beispiele dafür gibt. Christensen und Qvotrup
Jensen (2012, S. 113) zeigen, wie sie intersektionale Forschung mit einer ethnografi-
schen Methode und einem Mixed-Method-Ansatz umsetzen. Ausgehend von der
Festsetzung von den drei Differenzkategorien Geschlecht, Klasse und Ethnizität und
den Ebenen Identität, Struktur und Repräsentation umfasst die ethnografische For-
schung qualitative Tiefeninterviews sowohl mit Personen ethnischer Minoritäten als
auch der Majorität sowie eine teilnehmende Beobachtung an 37 Meetings in je einer
Organisation der beiden Gruppen. Zusätzlich wurden eine Diskursanalyse der Medi-
eninhalte in lokalen und internationalen Medien sowie eine quantitative Umfrage zu
sozialen und symbolischen Profilen der Region durchgeführt. Damit konnten diskri-
minierende und stereotypisierende Medieninhalte mit der differenzierten Aneignung
durch Migranten und Migrantinnen in ihrem Alltag verknüpft und so adäquate
Medienstrategien zur Inklusion sowie medienpädagogische Konzepte zum Empower-
ment entwickelt werden.
Besonders deutlich kann der Prozess des „doing intersectionality“ aber auch in
Gruppendiskussionen hervortreten, wenn die Teilnehmer_innen der Gruppe verschie-
dene Diskriminierungserfahrungen miteinander teilen und ihre individuellen Sicht-
weisen einbringen. Gouma (2019) hat in ihrer Studie zu Medien, Mehrsprachigkeit
und Linguismus mit einem Methoden-Mix aus Gruppen- und Expert_inneninterviews
kombiniert mit Tagebuchaufzeichnungen rekonstruiert, wie unterschiedlich Minoritä-
ten ihre migrantische Identität und Sprachpraktiken (Dialekte, Erst- und Zweitsprache)
verhandeln. Die von Migrantinnen angewandten unterschiedlichen Medien- und Anti-
rassismusstrategien, um soziale Ungleichheiten zu überwinden, korrespondieren
stärker mit Geschlechter- und Klassenverhältnissen.
Das Interview (in unterschiedlichsten Varianten) kommt bevorzugt in Rezeptions-
studien zur Anwendung und wird in der Regel mit Medientextanalysen – vornehmlich
der Diskursanalyse – kombiniert, um die Subjektebene mit der Repräsentationsebene
intersektional aufeinander zu beziehen. Eine aktuelle Studie (Hametner et al. 2019)
zeigt mittels Kritischer Diskursanalyse nach Jäger (2012), wie in Frauenzeitschriften
Musliminnen über das Kopftuch dichotomisiert und entsprechend den „westlichen“
Schönheitsnormen und den „westlichen“ Werten als emanzipiert und normal versus
nicht-emanzipiert und als „die Andere“ klassifiziert werden. Die Analyse der narrati-
ven Interviews mit Rezipientinnen ergibt ein aufgefächertes Bild eines negotiated und
oppositional readings. Die medial vermittelte Stereotypisierung wird einerseits dif-
ferenziert im Medienalltag von Musliminnen verhandelt, andererseits sehen Migran-
tinnen auch Wege des Empowerments, indem sie die Notwendigkeit, sich gegen diese
mediale Zuschreibungen zur Wehr zu setzen, erkennen und als aktive Handlungsauf-
forderung auffassen.
192 A. Gouma und J. Dorer
Ähnlich gehen Lünenborg und Fürsich (2014a, b) vor, indem sie 54 Deutsche
Fernseh-Shows (fiction und non-fiction) mittels Inhaltsanalyse untersuchen und den
Ergebnissen der in Fokusgruppen erhobenen Praxis der Medienaneignung durch
Migrant_innen gegenüberstellen. Auf beiden Ebenen, sowohl jener der Medieninhalte
als auch der Ebene des migrantischen Publikums, erfolgt eine Konstruktion der
„Anderen“. Obgleich Lünenborg und Fürsich ihre Studie als intersektionale Studie
mit den Differenzkategorien Geschlecht und Ethnizität konzipierten, erkannten sie im
Laufe der Forschung den entscheidenden Einfluss der Kategorie Klasse und konnten
durch ihr offenes Verfahren diese weitere Kategorie berücksichtigen. (Lünenborg und
Fürsich 2014a, S. 972) Die Verflechtung medialer Konstruktionen von ethnischer und
geschlechtlicher Andersheit mit der Klassendifferenz verstärkt zum einen Abgrenzun-
gen, erlaubt den sich in der Mittelschicht positionierenden befragten Migrantinnen
zum anderen potenziell entsolidarisierende Distanzierungsstrategien, insbesondere
wenn neoliberale individualisierte Erfolgsideologien akzeptiert werden.
Besondere Aufmerksamkeit in der intersektionalen, wie auch schon zuvor in der
feministischen, Medienforschung haben Casting-Shows erlangt. Die dem neoliberalen
Imperativ eines Selbstmanagements folgenden TV-Shows stehen in der Kritik, ein
„postfeministisches“ Subjekt, gekennzeichnet durch Selbstdisziplinierung, Selbstopti-
mierung sowie Negierung gesellschaftlicher Ungleichheiten, als Norm einer modernen
Gesellschaft zu propagieren. Die Studien von Gabriele Dietze (2012) oder Katharina
Knüttel (2012) argumentieren diskurstheoretisch, dass „Rasse“/Ethnizität insbesondere
in „Deutschland sucht den Superstar“ als Normalisierungs- und Inklusionsnarrativ
fungiert und diesbezüglich Privatsender inklusiver als öffentlich-rechtliche
TV-Anstalten agieren. Die beiden Studien zeigen auch, dass v. a. in „Germany’s Next
Topmodel“ eine so gewonnene „kulturelle Staatsbürgerschaft“ nur innerhalb eines
Rahmens, den ein westlicher Schönheitsdiskurs vorgibt, Gültigkeit hat.
Schon in den 2000er-Jahren haben Beverley Skeggs und Helen Wood (2012)
Casting-Shows und ihr Publikum mit einer intersektionalen Herangehensweise
untersucht. Das Neue an ihrer Studie war, dass sie nicht nur Interviews, Fokusgrup-
pen und Textanalyse als Methode verwendeten, sondern auch Affekte der Rezipien-
t_innen unterschiedlicher Ethnizität und unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit
mittels „text-in-action viewing sessions“ erhoben, um unbewusst erzeugte Affekte
empirisch zu erfassen. Auch in ihrer Studie haben sich Klassenverhältnisse als
bedeutsamer als die weiteren Achsen der Differenz wie Geschlecht, „Rasse“ und
Ethnizität herauskristallisiert.
gen, und versteht sich dann als Kritik und Korrektiv zu Erkenntnissen quantitativer
Forschung. Dies betrifft zum Beispiel die Frage nach der Wirkung sexistischer
Medieninhalte. Die zur Zeit sehr populäre, quantitative Herangehensweise in der
Mainstreamforschung, die von einer simplen Stimulus-Response-These ausgeht,
besagt, dass die allgegenwärtigen, sexualisierten Medieninhalte zu einem verzerrten
Körperbild und zu einem geringeren Selbstwertgefühl bei jungen Mädchen führen.
Linda Duits und Liesbet van Zoonen (2013) greifen die seit den 1980er-Jahren
bestehende Kritik der feministischen Forschung an Sexualisierung auf, die allerdings
erst mit einem Report der American Psychological Association (APA 2007) zu einer
breiten öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion führte. Mit einer intersek-
tionalen, ethnografischen Herangehensweise zeigen sie, wie differenziert sich junge
Frauen verschiedener Ethnizität sexualisierte Medieninhalte aneignen und wie diese
in sehr unterschiedlicher Weise damit umgehen. Schwarze, muslimische Schüle-
rinnen und weiße Mädchen der Mehrheitsgesellschaft an nicht konfessionellen
Schulen sind keineswegs einheitliche Gruppen, die generell als Opfer sexistischer
Medieninhalte gelten können. Vielmehr gibt es auch innerhalb der ethnischen
Gruppen große Unterschiede darin, mediale Formen von Sexismus kritisch in den
Medienalltag zu integrieren. Mit ihrer differenzierten Analyse kritisieren und korri-
gieren Duits und van Zoonen das simple Stimulus-Response-Modell der quantitati-
ven Wirkungsforschung, ohne aber die grundsätzliche Kritik an der zunehmenden
Sexualisierung von Medieninhalten, welche einen gesellschaftlichen Diskurs der
Normalisierung in Gang gesetzt hat, in Frage zu stellen.
Anstrengungen, um quantitative Verfahren für die Intersektionalitätsforschung
sinnvoll anzuwenden, wurden von Scott und Siltanen (2017) unternommen. Sie
prüfen unter Berücksichtigung der Komplexität der intersektionalen Analyse, wie
verschiedene Typen von Regressionsanalysen für die Erforschung intersektionaler
Fragestellungen einzusetzen sind. Als entscheidende Dimensionen, die sie aus der
Diskussion zur Intersektionalität extrahieren und für ihre quantitative Methodik
identifizieren, gelten erstens Kontexte, zweitens heuristische Herangehensweisen,
um die relevanten Ungleichheitskategorien zu identifizieren, und drittens Adressie-
rung der komplexen Struktur der Ungleichheit. Ergebnis ihrer Überlegungen sind
drei Typen von Regressionsanalysen, bei denen Kontexte in unterschiedlicher Weise
(ein Kontext als höhere Ordnung der Interaktion, Vergleich verschiedener Kontexte
oder Kontexte als höhere Ordnungsebene der Analyse) Berücksichtigung finden.
Anhand von Beispielen zeigen sie (für eine soziologische und nicht medienwissen-
schaftliche Fragestellung), dass der multiplen Regressionsanalyse das größte Poten-
zial innewohnt, um intersektionale Fragestellungen quantitativ zu erforschen. Nach-
teil dieser Methode ist, dass Kategorien fix vorgegeben werden müssen und so mit
der fehlenden Offenheit und der Begrenzung auf wenige Kategorien eine Einschrän-
kung des Erkenntnisgewinns verbunden ist. Eine weitere Einschränkung ergibt sich
auch durch die hohe Anforderung an die Auswahl der Kontextkategorien, an ein
stringentes Daten-Set sowie durch die Notwendigkeit, dass die relevanten Kontext-
daten auch verfügbar sein müssen. Eine Anwendung für medienwissenschaftliche
Fragestellungen steht bislang noch aus.
Intersektionalität: Methodologische und methodische Herausforderung . . . 195
4 Fazit
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Methodologiedebatten und
Methodeneinsatz in der
kommunikationswissenschaftlichen
Geschlechterforschung
Susanne Kinnebrock
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
2 Entwicklung von Methodologiedebatten und Methodeneinsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
3 Ausblick: Neue Methoden in der Kommunikationswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
Zusammenfassung
Seit etwa 50 Jahren betreibt die kommunikationswissenschaftliche Geschlechter-
forschung im deutschsprachigen Raum empirische Forschung. Sie hat dabei
eigenständige methodologiekritische Perspektiven entwickelt und den Anspruch
empirisch-kommunikationswissenschaftlicher Aussagen auf Allgemeingültigkeit
und Geschlechtsneutralität häufig in Frage gestellt. Das Methodenrepertoire
wandelte sich mit den verschiedenen theoretischen Ansätzen. Während sich die
frühe kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung auf Frauen kon-
zentrierte und dabei Unterschiede sowie Diskriminierungen v. a. mithilfe stan-
dardisierter Inhaltsanalysen und Befragungen dokumentierte, entwickelte sich
spätestens im Zuge des Differenzansatzes eine Präferenz für qualitative Verfah-
ren. Sie erschienen geeigneter, um individuelle Kommunikationserfahrungen von
Frauen, ihre Subjektpositionierungen und differenten Lesarten zu erfassen. Unter
(de-)konstruktivistischem Paradigma wandte sich die kommunikationswissen-
schaftliche Geschlechterforschung vermehrt der Analyse grundlegender Muster
der Vergeschlechtlichung zu. Das „doing gender“ im alltäglichen Medienhandeln,
aber auch Dualismen in medialen Diskursen werden inzwischen v. a. mithilfe von
Methodentriangulationen beleuchtet.
S. Kinnebrock (*)
Universität Augsburg, Augsburg, Deutschland
E-Mail: susanne.kinnebrock@phil.uni-augsburg.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 199
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_13
200 S. Kinnebrock
Schlüsselwörter
Feministische Methodologiekritik · Qualitative Methoden · Quantitative
Methoden · Feminist Media Studies · Kommunikationswissenschaftliche
Geschlechterforschung
1 Einleitung
1
Es wird in diesem Beitrag die Bezeichnung kommunikationswissenschaftliche Geschlechterfor-
schung verwendet, die als eine Art Dachbezeichnung für verschiedene methodologische und
theoretische Strömungen innerhalb der geschlechtersensiblen Medien-, Kommunikations- und
Öffentlichkeitsforschung fungiert. Das heißt, es sollen hier sowohl frühe Ansätze der kommunika-
tionswissenschaftlichen Frauenforschung, die feministische Medienforschung, Feminist Media
Studies, Gender Media Studies und Queer Media Studies als eingeschlossen betrachtet werden
(siehe auch die Überblicksdarstellung von Wischermann 2018).
Methodologiedebatten und Methodeneinsatz in . . . 201
eigene „Tücken“ (Honegger und Arni 2001; Kinnebrock et al. 2012), was bei der
Definition anfängt: Geschlecht wird zum einen biologisch bzw. sozial-kategoriell
gefasst, um Personen als Mann oder Frau zuzuordnen (englisch: sex). Zum anderen
fungiert Geschlecht als duales System der Bedeutungszuweisung, mittels dessen
nicht nur Verhaltensweisen und Gegenstände, sondern letztlich die gesamte soziale
Welt als feminin oder maskulin etikettiert werden (englisch: gender). Wie „sex“ und
„gender“ als komplex verflochtene Wissenssysteme zueinander in Beziehung gesetzt
werden, ist nicht nur Gegenstand zahlreicher theoretischer Abhandlungen, sondern
auch eine Frage der Empirie. Denn zum einen stellt sich die Frage, wie „sex“ und
„gender“ empirisch operationalisiert werden, zum anderen sind multiple Interaktio-
nen mit weiteren relevanten Sozialkategorien (z. B. sexuelle Identität, Alter, Ethnie,
Herkunft, Milieu) und Kontexten (z. B. spezifisches Medienangebot, Situation,
umgebende Strukturen) zu berücksichtigen. Nicht ohne Grund werden in jüngerer
Zeit für empirische Forschungen der kommunikationswissenschaftlichen Ge-
schlechterforschung zunehmend queere, intersektionale und postkoloniale Perspek-
tiven eingefordert (z. B. Goel 2021; Mertlitsch 2019; Gouma und Dorer 2019), so
dass sich der Gegenstandsbereich der kommunikationswissenschaftlichen Ge-
schlechterforschung zunehmend ausweitet.
Neben der adäquaten Definition und Einbettung von Geschlecht als theoretische
Analysekategorie ist beim empirischen Arbeiten eine weitere „Tücke“ der Kategorie
Geschlecht zu berücksichtigen: Empirische Studien im Allgemeinen (und umso
mehr solche, die mit standardisierten Verfahren arbeiten) nehmen am Anfang Kate-
gorisierungen vor – v. a. auch entlang des biologischen bzw. binär-sozialkategorialen
Geschlechts. Einmal gesetzt, durchziehen diese Kategorisierungen den ganzen For-
schungsprozess sowie dessen Ergebnisse. In der Folge läuft Geschlechterforschung
leicht Gefahr, genau das, was eigentlich hinterfragt werden sollte, nämlich die
grobschlächtige, biologisch begründete Geschlechterdifferenz Mann – Frau, zu
reproduzieren. Dies haben Regine Gildemeister und Angelika Wetterer (1992)
auch als „Reifizierung“ von Zweigeschlechtlichkeit v. a. durch die frühe Frauen-
forschung kritisiert.
Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Methodologie und tatsächliche Methoden
sind im Bereich der kommunikationswissenschaftlichen Geschlechterforschung engs-
tens miteinander verwoben. Sandra Harding, eine einflussreiche feministische Er-
kenntnis- und Wissenschaftstheoretikerin, hat Methoden („methods“) als Techniken
beschrieben, die der empirischen Generierung von Evidenzen dienen (Harding 1987,
S. 2). Methodologien hingegen versteht sie als Logiken, die hinter den jeweiligen
Methoden stehen („a theory or analysis how research does or should proceed“,
Harding 1987, S. 3) und zugleich der Reflexion der konkret eingesetzten Methode
dienen. „Epistemologies“ oder erkenntnistheoretische Betrachtungen wiederum ana-
lysieren die Bedingungen, wie Wissen zustande kommt, und betten damit methodo-
logische Überlegungen in größere wissenschaftliche und gesellschaftliche Zusammen-
hänge ein. Dazu gehört die Analyse, wer ein Wissen erlangen und verbreiten kann
(„knowers“) und was tatsächlich als verbürgtes Wissen („knowledge“) zählt. Dabei ist
es nicht allein die über Methoden gewonnene empirische Evidenz, die eine
202 S. Kinnebrock
2
Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, dass für sogenannte Paradigmenwechsel (Kuhn 1962) oder
Denkstilwechsel (Fleck 1935) normalerweise kaum ein fester Zeitpunkt zu bestimmen ist, weil
Paradigmenwechsel in der Wissenschaft längerfristige Prozesse darstellen. Zum anderen ist zu
bedenken, dass Paradigmen i. d. R. nicht ausgetauscht werden, sondern parallel weiterbestehen,
wobei je nach Zeitabschnitt bestimmte Paradigmen dominanter sind, andere dafür stärker in den
Hintergrund treten. Und schließlich folgen empirische Studien oft nicht einem (oft ex-posteriori
definierten) Paradigma in Reinform, sondern setzen komplexe Studiendesigns um, so dass ihre
Befunde schließlich anschlussfähig an unterschiedliche Paradigmen sind bzw. auch entlang unter-
schiedlicher Paradigmen interpretiert werden können. Die in diesem Beitrag erfolgte Zuordnung von
empirischen Methoden und Studien zu Gleichheitsansatz, Differenzansatz und (De-)Konstruktivismus
stellt einen Strukturierungsversuch dar, der Grenzfälle der Studienzuordnung, die Parallelität von
unterschiedlichen Paradigmen und die Problematik gesetzter zeitlicher Zäsuren damit nicht in Abrede
stellt.
Methodologiedebatten und Methodeneinsatz in . . . 203
3
Siehe für eine ähnliche Debatte im US-amerikanischen Raum z. B. den Sammelband „Beyond
Methodology“ von Fonow und Cook 1991 sowie die Monografien „Liberating Method“ von
DeVault 1999 und „Feminism and Method“ von Naples 2003.
206 S. Kinnebrock
2.3 (De-)Konstruktivismus
Einsatz (siehe als Methodenüberblick z. B. Fraas und Pentzold 2016 und als Anwen-
dungsbeispiel die Dekonstruktion des Internets als „männlich“ von Dorer 2001).
Ebenso werden Inhaltsanalysen – quantitative wie qualitative – weiterhin genutzt
(z. B. Kinnebrock und Knieper 2008), wobei die für eine Dekonstruktion notwendige
Vielfalt der Perspektiven vermehrt über Methodentriangulation (d. h. Methodenkom-
binationen) hergestellt wird. Methodentriangulation wurde z. B. in einer größer an-
gelegten Studie zur medialen Darstellung weiblicher Führungskräfte (Lünenborg und
Röser 2012) angewandt, die quantitative wie qualitative Inhaltsanalysen mit einer
Bildanalyse (zur Methode der Bildanalyse siehe Grittmann 2019) kombinierte und
schließlich noch um Expertinneninterviews ergänzte. In ähnlicher Weise verband ein
Projekt über „Migrantinnen in den Medien“ eine quantitative Inhaltsanalyse der
Berichterstattung mit einer Rezeptionsanalyse, um u. a. Intersektionalität, d. h. das
Interagieren von Differenzkategorien wie Ethnizität und Geschlecht, herauszuarbeiten
(Lünenborg et al. 2014). Der Erkenntniszugewinn von solchen multipel perspekti-
vierten Studien liegt darin, dass ihre Designs Phänomene von unterschiedlichen Seiten
beleuchten und damit nicht nur eine summarisch reflektierende, sondern auch eine
empirisch begründete Dekonstruktion von a priori gesetzten Vorannahmen erlauben.
Auch die Bedeutung der Kategorie Geschlecht kann so im Zusammenspiel mit
anderen Differenzkategorien beleuchtet und ggf. relativiert werden.
Weiterhin fokussieren Studien, die sich dem (De-)Konstruktivismus in seiner
Ausprägung als Interaktionistischer Konstruktivismus (Degele 2008) zuordnen las-
sen, auf menschliches Handeln, wobei genauer analysiert wird, wie dadurch Ge-
schlecht dar- und hergestellt wird („doing gender“). Als handelnde Personen können
dabei sowohl Kommunikator*innen im Bereich der Medienproduktion im Zentrum
stehen als auch Mediennutzer*innen samt ihrer Rezeptionsweisen und schließlich
auch sog. Produser*innen, die v. a. in Sozialen Medien Inhalte gleichermaßen
produzieren und nutzen.
In der (de-)konstruktivistischen Kommunikator*innenforschung kommen ver-
mehrt hoch-qualitative Befragungsformen zum Einsatz – z. B. narrative oder bio-
graphische Interviews. Sie zielen auf die Erhebung von individuellen und situations-
spezifischen Erfahrungen, versuchen aber gleichzeitig deren Schilderungen entlang
gängiger Erzähl- und Deutungsmuster (z. B. dualistische Identitätsbeschreibungen)
zu dekonstruieren (z. B. Lünenborg 1997; Lünenborg und Maier 2018). Diesen
Ansatz verfolgen auch Studien, die entweder (geschlechtsspezifische) Berufserfah-
rungen retrospektiv mittels Oral History erfragen und in der jeweiligen Zeit, in der
sie gemacht wurden, verorten (z. B. Klaus et al. 1993) oder mittels historisch-
hermeneutischer Analysen von Ego-Dokumenten vergangene Erfahrungen mit
dem Gendering im jeweiligen Berufsfeld rekonstruieren (z. B. Klaus und Wischer-
mann 2013; Kinnebrock et al. 2014).
Im Bereich des Medienhandelns von Rezipient*innen wird analysiert, wie Ge-
schlecht im Alltag dar- und hergestellt wird und sich dadurch auf gesellschaftlicher
Ebene binäre Geschlechtsidentitäten verfestigen – oder ggf. auch durch widerspens-
tiges „undoing gender“ auflösen. Die Muster der Dualisierung und Vergeschlecht-
lichung werden dabei in der Regel mit situations- und kontextsensiblen qualitativen
Verfahren der Befragung bzw. Gruppendiskussion und Beobachtung analysiert.
208 S. Kinnebrock
Das heißt, dass sich die methodischen Präferenzen von Studien mit Differenzansatz
und (De-)Konstruktivismus ähneln, doch unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer
Perspektiven auf die Untersuchungsgegenstände und der Art und Weise, wie (die
gleichen) Methoden eingesetzt werden. Geschlecht als Analysekategorie kommt
nicht mehr allein zentrale Bedeutung zu. Zusätzliche Differenzkategorien (darunter
Sexualität/Begehren und damit verbunden individuelle Erfahrungen mit Heteronor-
mativität) sowie Kontextspezifika werden in Studien der kommunikationswissen-
schaftlichen Geschlechter- und Queerforschung berücksichtigt, um die Bedeutung
von (Geschlechter-)Identitäten für das Medienhandeln noch differenzierter analysie-
ren zu können (z. B. Bechdolf 1999; Dorer 2008; Duits und van Zoonen 2011).
Dabei gewinnen komplexe und kontextsensible ethnomethodologische Verfahren
zunehmend an Bedeutung (siehe auch den Beitrag von Sigrid Kannengießer 2019).
Ebenso ist die Methode der Erinnerungsarbeit, die darüber hinaus feministisch-
emanzipatorischen Potenzial entfalten kann, hier einzuordnen (Haug und Hipfl
1995; Hipfl 2021).
Wie schon zuvor auf die feministische Methodologiekritik reagierte der Main-
stream der standardisiert vorgehenden empirischen Sozialwissenschaft teilweise skep-
tisch auf die (de-)konstruktivistische Wende in der Geschlechterforschung. Die Re-
aktionen reichen von einer fundamentalen Verkennung der Erkenntnispotenziale
qualitativer Verfahren (Schnell et al. 2008, S. 115) bis hin zu einem Übersehen von
feministischer Methodologiekritik. Es fällt zumindest auf, dass kommunikationswis-
senschaftliche Einführungsbücher zu standardisierten Methoden kaum thematisieren,
wo feministische Kritik ansetzt und welche Erhebungs- und Analyseverfahren im
Rahmen von Geschlechterstudien weiterentwickelt wurden (z. B. Klammer 2005;
Scheufele und Engelmann 2009; Möhring und Schlütz 2013; Brosius et al. 2015).
Daraus lässt sich schließen, dass die Methodologiedebatten der Geschlechterforschung
kaum Einfluss auf den kommunikationswissenschaftlichen Diskurs zu standardisierten
Methoden genommen haben. Umgekehrt ist aber auch eine vergleichsweise geringe
Beschäftigung der kommunikationswissenschaftlichen Geschlechter- und aktuell
Queerforschung mit standardisierten Methoden und ihren Logiken festzustellen (Kin-
nebrock et al. 2012; Browne und Nash 2016, S. 11), obgleich neue multivariate
Analyseverfahren durchaus Potenziale bergen, das biologische Geschlecht im Ana-
lyseprozess hintanzustellen und die Dekonstruktion bestehender Differenzkategorien
zu unterstützen, indem sie z. B. multiple Identitäten mithilfe von empirisch vorfind-
baren Attributbündeln abbilden. Das heißt, auch mit standardisierten Methoden lässt
sich jenseits des Mann-Frau-Dualismus arbeiten und damit „sex“ wie „gender“ hin-
terfragen (z. B. Kinnebrock 2012).
4 Fazit
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214 S. Kinnebrock
Susanne Kirchhoff
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
2 Metaphernanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
3 Frameanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
4 Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Zusammenfassung
Die methodischen Ansätze von Metaphern-, Frame- und Diskursanalysen verei-
nen eine Reihe von Gemeinsamkeiten. In ihren Forschungsperspektiven treffen
sie sich vor allem darin, dass die wirklichkeitskonstituierende Dimension von
Sprache in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gestellt wird. Dennoch
lassen sich Unterschiede in der Herangehensweise, den theoretischen Grundlagen
und Begriffen ausmachen. Anhand von Beispielen aus der Forschung wird
gezeigt, welche Bedeutung die Metaphern, Frames und Diskurse für die Kon-
struktion von Geschlecht und insbesondere für das Doing Gender in und mit
Medien erlangen können.
Schlüsselwörter
Metaphernanalyse · Frameanalyse · Diskursanalyse · Doing Gender ·
Forschungsmethode und Geschlecht
S. Kirchhoff (*)
Universität Salzburg, Salzburg, Österreich
E-Mail: susanne.kirchhoff@sbg.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 215
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_14
216 S. Kirchhoff
1 Einleitung
2 Metaphernanalyse
Ihre auf Analogien basierende Struktur macht Metaphern zu einem wichtigen Mittel
für das Verständnis der uns umgebenden Welt. Bereits 1936 hatte Ivor A. Richards
argumentiert, dass die Metapher kein primär sprachliches Phänomen, sondern „in
allererster Linie Austausch und Verkehr von Gedanken, eine Transaktion zwischen
Kontexten ist. Denken ist metaphorisch und verfährt vergleichend; daraus leiten sich
die Metaphern der Sprache her“ (Richards 1983, S. 35).
Seit Anfang der 1980er-Jahre findet die wirklichkeitskonstituierende Dimension
von Metaphern durch die kognitive Metapherntheorie von George Lakoff und Mark
Johnson zunehmend das Interesse der Forschung. Die Theorie besagt im Kern, dass
„die Metapher nicht nur eine Frage von Sprache, also von Worten allein“ ist, sondern
dass „die menschlichen Denkprozesse weitgehend metaphorisch ablaufen. Das
meinen wir, wenn wir sagen, daß das menschliche Konzeptsystem metaphorisch
strukturiert und definiert ist“ (Lakoff und Johnson 1998, S. 14).
Zunächst einmal liegt jeder Metapher implizit eine Vergleichsstruktur zugrunde.
Das Beispiel „Unsere Nation wurde aus dem Wunsch nach Freiheit geboren [born]“
(Lakoff und Johnson 1998, S. 90) macht einen komplexen Prozess wie die Entste-
hung einer Nation unserem Verständnis zugänglich, indem er mit einem einfacheren
Prozess – der Geburt – verglichen wird. In einer metaphorischen Aussage werden
jedoch immer nur Teile der Bedeutung eines Wortes auf ein anderes übertragen (bei
vollständiger Bedeutungsgleichheit würde es sich um ein Synonym handeln). Dieser
Prozess wird als „highlighting and hiding“ bezeichnet (Lakoff und Johnson 1998,
S. 18): Indem Metaphern einzelne Aspekte eines Gegenstands hervorheben und
Methaphern-, Frame- und Diskursanalyse 217
andere verbergen, bilden sie Wirklichkeit nicht einfach ab, sondern liefern Interpre-
tationen – Konstruktionen – von Wirklichkeit, die Aufschluss über die jeweils
zugrunde liegende Weltsicht liefern, und so Texte und gesellschaftliche Diskurse
miteinander verbinden (Koller 2005, S. 206).
Darüber hinaus verstehen Lakoff und Johnson (1998, S. 11) sprachlich realisierte
Metaphern als Ausdruck von kognitiven metaphorischen Konzepten („conceptual
metaphors“). Sätze wie „Unsere Nation wurde aus dem Wunsch nach Freiheit
geboren“ sind Teil eines Musters, nach dem der Geburtsakt systematisch auf die
Schöpfung physischer, aber auch abstrakter Entitäten bezogen wird. Weitere Bei-
spiele wie „Seine Bücher sind Produkte seiner fruchtbaren [fertile] Fantasie“,
„Deine Taten werden nur Gewalt erzeugen [breed]“ und „Universitäten sind Brut-
kästen [incubators] für neue Ideen“ lassen sich einem gemeinsamen Konzept
„Schöpfung ist Geburt“ zuordnen (Lakoff und Johnson 1998, S. 90). Metaphorische
Konzepte sind also ein zentraler Bestandteil unseres Denkens und werden im
unreflektierten Gebrauch einer Vielzahl alltäglicher Metaphern sichtbar, so etwa in
den hier zitierten Geburtsmetaphern, die geschlechtsbezogene Konnotationen bein-
halten.
Die kognitive Metapherntheorie ist in den vergangenen Jahren in verschiedene
Richtungen weiterentwickelt worden. Einen wichtigen Input lieferte die theoretische
Modellierung der konzeptuellen Integration von Informationen durch die „concep-
tual blending theory“ von Gilles Fauconnier und Mark Turner (2002). Zoltán Kövec-
ses (2005) beschäftigt sich dagegen mit der kulturübergreifenden Universalität und
der Variation von Metaphern. Tatsächlich weisen viele Metaphern eine ausgeprägte
Kulturspezifik auf. Wenn die metaphorischen Konzepte aber kulturellen Einflüssen
unterliegen, dann müssen sie durch Sprache als Informations- bzw. Bedeutungsträger
vermittelt werden. Maarten Michiel Leezenberg (1995, S. 120–122) geht deshalb
davon aus, dass Sprache und konzeptuelles System sich wechselseitig beeinflussen,
statt den Vorrang des einen vor dem anderen anzunehmen.
Eine ähnliche Perspektive nimmt die sozialwissenschaftlich orientierte Erweite-
rung der kognitiven Metapherntheorie von Rainer Hülsse (2003) ein. Er argumen-
tiert, dass Kognitionen allein nicht ausreichen, um den Gebrauch von Metaphern –
speziell von konventionellen, sog. „toten“ Metaphern – zu erklären (Hülsse 2003,
S. 220–221). Er schlägt daher einen diskursiven Metaphernansatz vor, der an
poststrukturalistische Diskurstheorien anschließt. Metapherngebrauch geschieht
demnach in der Regel automatisch und unhinterfragt, weil bestimmte Diskurse
bestimmte Metaphern bereits vorgeben, mit deren Hilfe Gegenstände gedacht und
ausgesprochen sowie Handlungsspielräume abgesteckt werden (Hülsse 2003,
S. 225–226). Damit eröffnen sich der Metaphernanalyse neue Möglichkeiten, da
sie nun nicht mehr nur mit dem Erscheinen von Metaphern, ihrer Strukturierung in
metaphorischen Konzepten sowie den kognitiven Implikationen und ihren (potenzi-
ellen) Auswirkungen auf die Rezipient_innen befasst ist. Vielmehr kann sie um
relevante Fragen der Diskursforschung erweitert werden, insbesondere danach, an
welchen Positionen in Diskursen welche Metaphern erscheinen, wie sie im Zeitver-
lauf aktualisiert werden und wie sich durch Metapherngebrauch Macht und Wissen
in Form von hegemonialen Bedeutungszuschreibungen verschränken.
218 S. Kirchhoff
Ein Verfahren der systematischen Metaphernanalyse, das auf Lakoffs und John-
sons Verständnis von metaphorischen Konzepten zurückgreift und es für die Sozi-
alwissenschaften nutzbar macht, schlägt Rudolf Schmitt (2017) vor. Es besteht im
Wesentlichen aus sieben Arbeitsschritten, die u. a. die Recherche der für diesen
Gegenstand kulturell üblichen Metaphern und die Reflexion des eigenen Gebrauchs
von Metaphern beinhalten. Außerdem berücksichtigt es das Zusammentragen aller
im Text verwendeten Metaphern, die anschließende Rekonstruktion der metaphori-
schen Konzepte und die vergleichende Interpretation, insbesondere in Hinblick auf
Highlighting und Hiding, Konzeptualisierung von Handlungen, Erfahrungen und
Emotionen sowie fehlende Konzepte im Rahmen der theoretisch kulturell bzw.
diskursiv verfügbaren Alternativen.
3 Frameanalyse
Der Soziologe Erving Goffman (1974) beschreibt Frames als Deutungsrahmen, die
an ein Ereignis, eine Handlung oder einen Gegenstand angelegt werden und auf
diese Weise die neue Information in den eigenen Wissenshorizont einfügen und
damit schlussendlich ermöglichen, in einer sozialen Situation (angemessen) zu
interagieren: „[The term frame denotes] ‚schemata of interpretation‘ that enable
individuals ‚to locate, perceive, identify and label‘ occurences within their life space
and the world at large“ (Goffman 1974, S. 21).
Kognitive Frames entstehen in der permanenten Auseinandersetzung von Men-
schen mit ihrer Umgebung (Reese 2001, S. 11) und sind daher immer in den Kontext
der jeweiligen Kultur eingebettet (Van Gorp 2007). Bertram Scheufele und Ines
Engelmann (2016, S. 445) schlagen deshalb vor, Frames auf drei Ebenen zu betrach-
ten: (1) auf der kognitiven Ebene als Wahrnehmungs- und Bewertungsrahmen, die
sich (2) auf der diskursiven Ebene in Kommunikation mit anderen etablieren und
verändern und sich (3) in Diskursprodukten wie Nachrichtentexten, politischen
Reden etc. manifestieren.
Um die verschiedenen Verortungen von Frames genauer zu lokalisieren, kann auf
der kognitiven Ebene zunächst zwischen journalistischen Frames und Rezipienten-
Frames sowie den strategischen Frames weiterer Kommunikator_innen, etwa aus
220 S. Kirchhoff
Politik und Wirtschaft, unterschieden werden (u. a. Matthes und Kohring 2004;
Dahinden 2006, S. 106–107).
Die Frames in der Berichterstattung können wiederum die Wahrnehmung von
Sachverhalten bei den Rezipient_innen beeinflussen, und zwar entweder in Form
einer Aktvierung oder Veränderung bestehender Frames oder einer Etablierung
neuer Frames.
Schließlich muss Framing (als Etablierung von Bedeutungszuschreibungen) auch
von Agenda Setting (als Etablierung von Themenrangfolgen) und Priming (als
Etablierung von Bewertungsmaßstäben) abgegrenzt werden (Scheufele und Tewks-
bury 2007).
Im Prozess des Framings fließen zum einen die kognitiven Deutungsrahmen der
Journalist_innen in ihre Berichterstattung ein (Frame-Setting), zum anderen bemü-
hen sich Kommunikator_innen bewusst, ihre Deutungen strategisch in den Medien
zu verankern (Frame-Building, Scheufele und Engelmann 2016, S. 444). Wie
Framingprozesse im Journalismus funktionieren ist u. a. in zwei frühen, grundle-
genden Arbeiten von Todd Gitlin (2003, Erstveröff. 1980) und Gaye Tuchman
(1978) untersucht worden. Beide beschreiben Medien als soziale Institutionen, die
spezifische, ideologiegeprägte Formen von Wissen hervorbringen, wobei die Repro-
duktion einer bestimmten Realität in den Nachrichten primär dazu diene, den
gesellschaftlichen Status quo zu legitimieren. Die etablierten Routinen der Bericht-
erstattung, d. h. die nicht hinterfragten Deutungsrahmen der Journalist_innen und
ihre Vorstellungen von Ausgewogenheit und Objektivität erzeugen eine bestimmte
Art von Deutungsrahmen in Texten bzw. Medienframes (für eine ausführliche
Diskussion der Begrifflichkeiten Potthoff 2012, S. 29–78). Aus der Forschung über
die Mobilisierungsstrategien und -potenziale sozialer Bewegungen stammt die
Unterscheidung von diagnostic, prognostic und motivational frames. Framing wird
hier als Ansatz verwendet, um den Kampf um die Produktion, Mobilisierung und
Gegenmobilisierung von Ideen und Bedeutungen in den Blick zu nehmen (Benford
und Snow 2000, S. 613). Soziale Bewegungen entfalten ihr Mobilisierungspotenzial
demnach, wenn es ihnen gelingt, ihre eigenen Deutungsrahmen mit denen der
Adressat_innen in Einklang zu bringen ( frame alignment) und so Resonanz ( frame
resonance) zu erzeugen. Frames sind dann besonders effektiv bzw. resonant, wenn
sie konsistent und empirisch belegbar sind, von glaubwürdigen Personen artikuliert
werden, für die Angesprochenen relevante Anliegen betreffen und an ihre eigene
Lebenswelt bzw. an eigene Erfahrungen sowie an vorhandene Deutungsmuster an-
knüpfen (Benford und Snow 2000, S. 619–621).
Im Rahmen einer Frame-Analyse können Medienframes sowohl induktiv als
auch deduktiv mit quantitativen und qualitativen Verfahren untersucht werden,
außerdem als holistische Frames oder als einzelne Frame-Elemente. Empirischen
Untersuchungen wird zumeist Robert Entmans Definition des Framing-Prozesses
zugrunde gelegt, weil sie besonders gut operationalisierbar ist (Matthes und Kohring
2004, S. 62). Für Entman bestehen Frames in Nachrichtentexten aus vier Elementen:
„To frame is to select some aspects of a perceived reality and make them more salient
in a communicating text, in such a way as to promote a particular problem definition,
Methaphern-, Frame- und Diskursanalyse 221
Empirische Studien der Gender Studies, die explizit mit dem Framing-Ansatz
arbeiten, sind insgesamt selten und konzentrieren sich zumeist auf Medienframes.
Aussagen über Framing-Effekte und -Prozesse lassen sich indirekt im Rahmen des
Differenzansatzes aus Studien zur Rezeption von Medieninhalten durch Männer und
Frauen, zur Diskussion über einen „weiblichen“ Journalismus sowie zu geschlechts-
bezogenen Erfahrungen in Redaktionen ableiten (Lünenborg und Maier 2013,
S. 85–95).
Den Gender Studies zuzurechnende Analysen von Medienframes sind zum einen
auf einzelne Themen bezogen (bspw. zu verschleierten Frauen in Europa: Rosenberger
und Sauer 2012). Auch das strategische Framing feministischer Bewegungen wird
222 S. Kirchhoff
thematisiert (Ferree 2003). Zum anderen wird untersucht, wie Feminismus selbst in
den Medien gerahmt wird (bspw. feministische und islamistische Frauenorganisa-
tionen in der Türkei, Aldikacti 2001; Feminismus in den USA, Lind und Salo 2002).
Im Rahmen des MAGEEQ-Projektes (2003–2005), in dem das Policy Framing von
Maßnahmen zu Gender Equality in mehreren europäischen Ländern, darunter auch
Österreich, untersucht wurde, wurde dagegen ein eigener methodologischer Ansatz
entwickelt (Verloo 2005). Auf theoretischer Ebene kombiniert diese Critical Frame
Analysis Überlegungen zum Framing sozialer Bewegungen mit diskursanalytischen
Machtanalysen und der gendertheoretischen (De-)Konstruktion von Geschlecht. Auf
methodischer Ebene werden Frame-Elemente mittels eines der Grounded Theory
entlehnten Verfahrens in offenen Kategorien ermittelt (Verloo 2005, S. 25).
Der Fokus liegt demnach auf Beschreibungen der Medienberichterstattung, aber
der Framing-Ansatz bietet auch andere Möglichkeiten. Insbesondere können
Erkenntnisse aus dem reichen Fundus der Forschung über Framing-Strategien für
den Feminismus nutzbar gemacht werden. Frame-Alignment, d. h. die strategische
Ausrichtung eigener Frames auf die Frames der Adressat_innen kann bspw. für die
Zustimmung für feministische Anliegen von Bedeutung sein (Walby 2011, S. 73–75).
4 Diskursanalyse
dann als Wissen gilt. Da diese Unterscheidung entweder Ein- oder Ausschließung in
den Kanon des tradierten Wissens (und der Normen, Wertvorstellungen etc.) bedeu-
tet, beruhen Wahrheit und Wissen letztendlich auf einem System von Machtver-
hältnissen. Für Foucault sind daher Macht und Wissen untrennbar miteinander
verbunden (Foucault 1978, S. 34 und S. 51–53). Die Aufgabe der Diskursanalyse
ist es, die Kontingenz der Wissensordnungen in ihrem jeweiligen historischen
Kontext sichtbar zu machen.
Mittlerweile steht eine Vielzahl diskursanalytischer Methoden zur Verfügung, die
eine stärker textanalytische oder eine stärker soziologische Orientierung haben oder
auch beide miteinander kombinieren. Keller (2011, S. 109–111) unterscheidet zwi-
schen einer eher (sozio-)linguistisch orientierten, einer eher auf die Mikroebene
sprachlicher Interaktion in einem situativen Kontext ausgerichteten „discourse ana-
lysis“ und den poststrukturalistisch beeinflussten „Diskurstheorien“. Letztere fokus-
sieren auf die gesellschaftliche Mikro- und Makroebene des Sprachgebrauchs und
greifen dabei stärker auf die Arbeiten von Michel Foucault, Ernesto Laclau, Chantal
Mouffe u. a. sowie die Tradition der Cultural Studies zurück. Die „Kritische
Diskursanalyse“ (z. B. Jäger 2015) vermittelt zwischen der diskursanalytischen
und diskurstheoretischen Perspektive und vereint Elemente von beiden.
Eine wichtige Erweiterung hat die Diskursanalyse durch den Begriff des Dispo-
sitivs erfahren. Das Dispositiv ist „ein entschieden heterogenes Ensemble, das
Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entschei-
dungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philoso-
phische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wie
Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv ist das
Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann“ (Foucault 1978,
S. 119–120).
In den vergangenen Jahren sind gerade auch im deutschsprachigen Raum ver-
schiedene Vorschläge für die Analyse von Dispositiven gemacht worden. Bührmann
und Schneider (2008) sowie Jäger (2015) behandeln dabei Dispositive und Diskurse
gleichrangig, wohingegen Keller (2011, S. 235) Dispositive als „Infrastruktur“ von
Diskursen versteht, in der sich die diskursiven Bedeutungskonstruktionen materia-
lisieren. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass nun das Interesse nicht allein den
Textaussagen und den Mechanismen ihrer Hervorbringung gilt, sondern auch den
nicht-diskursiven Praktiken. Letztere umfassen die unreflektierten, symbolisch auf-
geladenen Handlungsweisen, die Diskurse stützen und aktualisieren (Wrana und
Langer 2007; Bührmann und Schneider 2008, S. 46–50; Keller 2011, S. 256), die
Subjektivierung, mit der Akteur_innen den Diskurs „einverleiben“ (Bührmann und
Schneider 2008, S. 68–75), sowie die materiellen Vergegenständlichungen und
symbolischen Objektivationen, d. h. die materiellen und immateriellen Gegenstän-
den, die der Diskurs und die nicht-diskursiven Praktiken hervorbringen (Bührmann
und Schneider 2008, S. 58–59). Analysiert werden sollen vor allem die Beziehungen
– bzw. das „Netz“ (s. o.) – zwischen diesen drei Elementen, die einander wechsel-
seitig hervorbringen.
Sozialwissenschaftliche Untersuchungen haben sich u. a. mit dem Ausländer-
oder Migrationsdispositiv (Dirim 2015), Sterbe-/Todesdispositiv (Bührmann und
224 S. Kirchhoff
Die Gender Studies haben sich seit ihrer Entstehung umfassend mit dem Poststruk-
turalismus und speziell mit Foucaults Diskurs- und Machtanalysen auseinanderge-
setzt (für einen Überblick Thomas 2013; Wedl 2014). Zwischen Diskurstheorie und
feministischen/queeren Theorien besteht eine enge Verbindung, die sich aus der
Perspektive der letzteren auf ihren Untersuchungsgegenstand ergibt: Geschlecht
als gesellschaftliche Konstruktion lässt sich als eine diskursiv erzeugte Wissensord-
nung im Sinne Foucaults verstehen. Vorstellungen über Männer und Frauen, Männ-
lichkeit und Weiblichkeit sind nicht „natürlich“, sie entstehen vielmehr aus den
Mechanismen der Aussagenproduktion in spezifischen historisch-soziokulturellen
Kontexten, wobei hegemoniale Bedeutungszuschreibungen – die Unterscheidung
von wahrem und falschem Wissen über Geschlecht(er) – immer als Ergebnis von
Machtspielen zu verstehen sind.
Die erkenntnistheoretische wie forschungspraktische Herausforderung besteht
dementsprechend in einer fortwährenden Kritik der Geschlechterrepräsentationen
bzw. der Reflexion darüber, dass alle – auch eigene – Wahrnehmungsweisen von
Geschlecht Konstruktionen sind, die Wirklichkeit strukturieren. Die Dekonstruktion
Methaphern-, Frame- und Diskursanalyse 225
Im Werk Foucaults erscheint der Begriff „Dispositiv“ zum ersten Mal prominent
in „Der Wille zum Wissen“ (frz. 1976, dt. 1977), das als Teil einer Dispositivge-
schichte der Sexualität konzipiert ist. Foucault entfaltet hier ein Verständnis von
Sexualität (und Geschlecht), das gerade nicht nach seiner repressiven Unterdrückung
fragt, sondern vielmehr nach der wissens- und machtpolitischen Konstellation, die
im 19. Jahrhundert – dem Gegenstand der Analyse – eine „umfassende Apparatur
zur Ausbildung und Bewahrung einer Verpflichtung zum Bekenntnis der Wahrheit
über die Sexualität“ (Raffnsøe et al. 2011, S. 38) hervorgebracht hat.
Als weiteres Beispiel entwerfen Andrea Bührmann und Werner Schneider (Bühr-
mann und Schneider 2008, S. 120–122, s. o.) – basierend auf ihrem Vorschlag für
eine Methode der Dispositiv-Forschung – ein Untersuchungsdesign für das Ge-
schlechterdispositiv, mit dem das Verhältnis von diskursiven und nicht-diskursiven
Praktiken, von Diskurs und Subjektivierungsweisen, von diskursiven Praktiken und
symbolischen Objektivierungen bzw. materiellen Vergegenständlichungen sowie von
Geschlechterdispositiv und sozialem Wandel analysiert werden kann. Die Autor_innen
226 S. Kirchhoff
5 Fazit
Im Verhältnis von Metaphern, Frames und Diskursen bilden Metaphern die kleinste
Analyseeinheit und können sowohl für die Untersuchung von Frames als auch von
Diskursen eine wichtige Rolle einnehmen. Metaphern werden häufig als zentrales
Mittel der Analyse von Frames (u. a. Hertog und McLeod 2001, S. 141; Dahinden
2006, S. 79–80) und Diskursen (u. a. Jäger 2015, S. 55–57) angesehen, allerdings
gelten sie dabei vor allem als ein sprachliches Phänomen und werden dementspre-
chend den rhetorischen bzw. narrativen Mitteln zugeordnet (z. B. Pan und Kosicki
1993, S. 61; Keller 2011, S. 266; Jäger 2015, S. 103). Versteht man Metaphern
jedoch im Anschluss an die kognitive Metapherntheorie (Lakoff und Johnson 1998)
als Ausdruck kognitiver Konzepte bzw. untersucht im Rahmen eines diskursiven
Metaphernansatzes (Hülsse 2003), welche Funktion sie im Kampf um Bedeutungen
erfüllen, dann schlägt die Analyse von Metaphern eine Brücke zwischen sich in
Texten und Praktiken manifestierenden Diskursen einerseits und kognitiven Rah-
mungen von Wirklichkeit sowie gesellschaftlichen Möglichkeitsräumen für Hand-
lungen andererseits (vgl. dazu ausführlicher Kirchhoff 2010, S. 144–148).
Frames und Diskurse sind insofern miteinander verbunden, als die Framingstra-
tegien verschiedener Akteur_innen, die sich in Medienframes niederschlagen, einen
Diskurs prägen. Die Diskurstheorie bietet – anders als Metapherntheorie und Fra-
mingansatz – das theoretische und interpretative Instrumentarium, um die sozialen
Praktiken bzw. die historische Kontextualisierung dieser Frames zu analysieren. Sie
kann Wissensordnungen zu einem gegebenen Zeitpunkt beschreiben, die Machtkon-
stellationen bei der Konstituierung hegemonialen Wissens aufzeigen, die involvier-
ten Akteur_innen benennen und die Art und Weise sichtbar machen, in der institu-
Methaphern-, Frame- und Diskursanalyse 227
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Die Analyse latenter Frames und Narrative
durch szenisches Verstehen
Friederike Herrmann
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
2 Erkenntnistheoretische Grundlagen der Analyse latenter Frames . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
3 Narratives Framing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
4 Szenisches Verstehen als Zugang zu latenten Narrativen und Frames . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
5 Die Entwicklung von Hypothesen nach dem Konzept des abduktiven Schließens . . . . . . . 239
6 Beispiel: Schritte einer exemplarischen Analyse des narrativen Framings in einem
journalistischen Beitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
Zusammenfassung
Latente Frames und Narrative sind eine spezifische Form des Framing, die nicht
manifest im Text erkennbar ist. Diese Frames und Narrative stellen – häufig
performativ – einen übergreifenden Deutungszusammenhang her, innerhalb des-
sen Fakten und Ereignisse ausgewählt, in spezifischer Form dargestellt und
verstanden werden. Sie präformieren, meist unbemerkt und unbewusst, unser
Wahrnehmen und Denken. Versteckte Diskriminierungen, Stereotype und Zu-
schreibungen können durch die Analyse solcher Frames sichtbar gemacht werden
als Teil eines unbeabsichtigten Doing Gender. Als methodischer Zugang zur
Analyse latenter Frames eignet sich das szenische Verstehen, die Hypothesenbil-
dung erfolgt auf der Grundlage des abduktiven Schließens.
Das Konzept zum latenten Framing entwickelte ich im regelmäßigen Austausch mit der Soziologin
und Psychoanalytikerin Ilka Quindeau. Ihr danke ich für inspirierende Gespräche und zahlreiche
Hinweise auf weiterführende Theorien.
F. Herrmann (*)
Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt, Eichstätt, Deutschland
E-Mail: friederike.herrmann@ku.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 231
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_17
232 F. Herrmann
Schlüsselwörter
Narrative · Szenisches Verstehen · Latente Frames · Tiefenhermeneutik ·
Abduktion
1 Einleitung
Als latente Frames gelten Frames, die nicht explizit in der Kommunikation formu-
liert sind. Das Konzept knüpft an den Framing-Begriff an, den der Soziologe Erving
Goffman in den siebziger Jahren entwickelt hat (Goffman 2016). Goffman bezieht
sich in seiner Theorie auf Interaktionen, durch die solche Deutungsrahmen evoziert
werden. Die Interaktionen können im Austausch zwischen zwei Menschen stattfin-
den, aber ebenso beispielsweise im Moment des Verstehens eines Textes, also
zwischen Rezipient_innen und dem Produkt von Autor_innen. Goffman geht davon
aus, dass unsere Wahrnehmung und unser Verstehen des Alltags durch Frames
geformt sind. Frames sind Deutungsmuster, durch die unsere Erfahrungen erst Sinn
erhalten. Ohne solche Interpretationsrahmen blieben sie zusammenhangslos und
ohne Bedeutung. Kommunikation ohne Framing wäre im Wortsinne sinnlos. Das
unterscheidet Frames beispielsweise von Stereotypen, die nur in bestimmten Zu-
sammenhängen verwendet werden und Teile eines Frames sind. Frames sind allge-
genwärtig. Wir framen immer.
Sieht man etwa ein Kind auf der Straße spielen, spricht mit einem Freund über
sein letztes Geburtstagsfest oder liest einen Text, werden in der jeweiligen Situation
Deutungsrahmen evoziert. Sie geben der Situation einen Zusammenhang und sind
mit Affekten verknüpft. Dabei ist nicht nur der Inhalt des Gesagten oder des
Handelns entscheidend, sondern auch die Kommunikationssituation, die Interaktion
der Beteiligten. So kann eine eigentlich inhaltlich positive Schilderung eines Ge-
burtstagsfestes von Gefühlen der Langeweile und des Überdrusses begleitet sein.
Diese können in der Kommunikationssituation performativ durch das Arrangement,
beispielsweise durch eine bestimmte Tonlage oder Gesten und Mimik, hervorgeru-
fen worden sein. In geschriebenen Texten wird die Kommunikationssituation oft
durch Erzählfiguren, durch das Arrangement der Inhalte performativ gestaltet. Dies
lässt sich am Beispiel Zeitungstext erläutern: Der Frame steht nicht einfach in der
Nachricht oder ist im Kopf der Rezipient_in vorhanden. Er entsteht im Moment des
Verstehens einer Nachricht, im Raum zwischen Text und Rezipient_in.
Dieses Framing kann die manifeste Aussage eines Beitrages in sein Gegenteil
verkehren. So kann beispielsweise in der scheinbar freundlichen Bereitschaft, einer
jungen Kollegin etwas erklären zu wollen, in Wirklichkeit performativ eine unaus-
gesprochene Abwertung stecken. Der Ratgeber kann damit bewusst oder unbewusst
seine Dominanz demonstrieren wollen oder gar der Kollegin Unfähigkeit unterstel-
len. Für ein solches Framing ist das Arrangement, die Performance einer Kommu-
nikation oder eines Medienbeitrages mindestens ebenso wichtig wie die expliziten
Die Analyse latenter Frames und Narrative durch szenisches Verstehen 233
3 Narratives Framing
In den vergangenen Jahren hat die Analyse des Erzählens eine Renaissance erfahren.
Unter der Kategorie Narrativität werden in ganz unterschiedlichen wissenschaftli-
chen Fachgebieten auch nicht-fiktionale „Wirklichkeitserzählungen“ untersucht
(z. B. Klein und Martínez 2009). Manche sprechen gar von einem narrative turn
(Nünning 2011/12, S. 87). Man geht davon aus, dass Narrative eine Struktur unseres
Denkens und Verstehens darstellen, die sonst unverbundene Fakten und Ereignisse
in eine zeitliche Abfolge und einen Zusammenhang stellen.Einen Konsens über die
wissenschaftliche Definition des Begriffs Narrativ gibt es auch innerhalb der litera-
turwissenschaftlichen Erzähltheorie nicht (zur Problematik der Begriffsdefinition vgl.
z. B. Bietz 2013, S. 81–94). Dennoch lassen sich zwei Aspekte identifizieren, die in fast
allen Studien als wesentlich genannt werden und die zur Beschreibung des narrativen
Framing geeignet sind: Das ist zum einen die zeitliche Dimension von Narrativen, und
zum anderen sind es die Beziehungen, die zwischen den einzelnen Elementen des
Narratives hergestellt werden, beispielsweise zwischen den Akteur_innen und den
Orten. Betrachtet man den zeitlichen Verlauf, bietet dieses „In-Beziehung-Setzen“ eine
Herleitung von Ursachen, Begründungen und Erklärungen. Im Zeitverlauf geschilderte
Ereignisse werden in einem Zusammenhang antizipiert (Nünning 2011/12, S. 90–91;
Miskimmon et al. 2013, S. 5). So verwandeln sich „Ereignisse in eine zusammen-
hängende Geschichte [. . .], die zwischen vergangenen Erfahrungen, Gegenwart und
künftigen Erwartungshorizonten vermittelt“ (Viehöver 2014, S. 137). Narrative haben
also einen dreifachen Zeitbezug: Sie machen Aussagen über Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft.
Verschiedene Autor_innen haben gezeigt, wie journalistische Beiträge – auch
vermeintlich nur Fakten enthaltende Nachrichten – durch Narrative geformt oder
nach Fiske „prewritten“ sind (Fiske 1987, S. 296; vgl. auch Herrmann 2016a;
Hickethier 1997; Luginbühl et al. 2004; Lünenborg 2005). Diese Narrative bestim-
men die Auswahl der Fakten und das Arrangement des Beitrages, beispielsweise den
Aufbau. Aus dieser Perspektive ist die Vorstellung falsch, Medienbeiträge könnten
Ausschnitte von Wirklichkeit einfach abbilden oder gar nur Daten und Fakten
wiedergeben. Medienbeiträge organisieren Ereignisse, sie strukturieren und inter-
pretieren sie nach bestimmten vorgängigen Mustern. Das können beispielsweise
Narrative sein.
Ein solcher narrativer Frame gewann beispielsweise Dominanz nach den Ereig-
nissen der Kölner Silvesternacht 2015/16. Nach den Übergriffen junger Männer vor
allem nordafrikanischer Herkunft auf Frauen auf dem Kölner Domplatz wurde das
Narrativ aktiviert, dass Migranten aufgrund ihrer ethnischen und kulturellen Her-
kunft Frauen belästigen und missbrauchen und sich dadurch deutlich von deutschen
Männern unterscheiden. Dieses Narrativ war Teil eines zweiten, übergeordneten
Narrativs, das im Herbst 2015 in der Bunderepublik entstanden war: Es besagte,
dass Deutschland durch die Flüchtlinge überfordert sei, in der Krise stecke und
deshalb dringend Maßnahmen ergreifen müsse (Herrmann 2016a). Die Übergriffe
der Männer erschienen als Ausdruck dieser angeblichen Gefährdung Deutschlands.
236 F. Herrmann
Vor dem Hintergrund dieser Narrative wurde dann auch die Vergewaltigung und
Ermordung einer jungen Frau in Freiburg Ende 2016 interpretiert. Als damals als
Tatverdächtiger ein afghanischer Flüchtling festgenommen wurde, erschien die Tat
in der Berichterstattung geradezu wie eine logische Folge der Aufnahme von Flücht-
lingen in Deutschland (hierzu und zum Folgenden Herrmann 2018). Die Tat wurde
zu einem national intensiv diskutierten Ereignis, obwohl Vergewaltigungen und
Morde in der Regel kein Thema der überregionalen Medien sind. Doch nun schien
es plötzlich zwingend, dass dieses Ereignis bundesweit im Rahmen der „Flücht-
lingskrise“ diskutiert wird. Medien wie die Bild-Zeitung problematisierten das
Frauenbild der Flüchtlinge, als sei dies die logische Voraussetzung von Vergewalti-
gung und Mord und als gäbe es keine Frauendiskriminierung unter der deutschen
Bevölkerung. Als Einzeltat eines bestimmten kriminellen Mannes schien die Frei-
burger Tat in der breiten Öffentlichkeit nicht mehr diskutierbar. Im Gegenteil wurden
in der Folge auch weitere Belästigungen von Frauen durch Migranten im Rahmen
dieses Narrativs überregional diskutiert. Da solche Taten von Deutschen bislang
meist ein regionales Thema waren (oder im Fall von Belästigungen gar nicht
berichtet wurde), verstärkte diese zunehmende Berichterstattung den Eindruck,
solche Taten würden vor allem von Flüchtlingen begangen. Besonnene Stimmen
sahen sich genötigt, auf die eigentlich selbstverständlich bekannte Tatsache zu
verweisen, dass auch deutsche Männer belästigen, vergewaltigen und morden.
Das Beispiel zeigt, wie machtvoll Narrative sind, indem sie kausale Zusammen-
hänge konstruieren, die im öffentlichen Diskurs Deutungshoheit gewinnen können.
Die Medien wirken als wichtiger Motor des öffentlichen Diskurses, wenn sie die
Narrative wiederholen und fortschreiben. Analysen von solchen Narrativen des
öffentlichen Diskurses wurden bislang vor allem von Politologen und Soziologen
vorgelegt (Gadinger et al. 2014; Miskimmon et al. 2013; Viehöver 2006, 2015).
Wenige Studien adaptieren diesen Ansatz auch für die Kommunikationswissenschaft
(Herrmann 2016a, b, 2018).
Analysen des narrativen Framings eignen sich insbesondere, um unbewusste und
ungewollte Diskriminierungen und Stereotypisierungen in öffentlichen Diskursen
und in Medienbeiträgen sichtbar werden zu lassen und damit auch ein unbemerktes
Doing Gender offenzulegen.
Latente Narrative und Frames entstehen im Moment der Interaktion einer Rezipien-
t_in mit einem Beitrag. Sie entstehen in der Kommunikationssituation, man kann
sagen im Raum zwischen Rezipient_in und Beitrag. Sie werden vom Medienbeitrag
evoziert, sind aber nicht manifest in ihm enthalten. Diese Frames werden im Moment
der Rezeption aktiviert, in der Interaktion mit dem Beitrag. Insofern sind latente
Frames weder allein durch Inhaltsanalysen noch allein durch Rezeptionsstudien zu
erfassen, denn die Botschaft entsteht erst im Moment des Verstehens.
Die Analyse latenter Frames und Narrative durch szenisches Verstehen 237
Für die Analyse dieses Moments, der Kommunikationssituation, eignet sich der
Zugang des szenischen Verstehens, den der Sozialpsychologe Alfred Lorenzer
entwickelt hat (Lorenzer 1976). Der menschlichen Erfahrung des Verstehens liegt
nach diesem sozialisationstheoretischen Ansatz ursprünglich eine interaktive Situa-
tion zugrunde. Wie sich ein Wort und eine Interaktionsform verbinden, macht
Lorenzer am Beispiel der „Spracheinführung in Lebenssituationen“ deutlich (Loren-
zer 1986). So lernt ein Kleinkind vielleicht im vergnüglichen Spiel mit dem Vater
das Wort Ball kennen. Damit wird das Wort Ball realitätshaltig, es wird eine Szene,
und es werden auch Affekte damit verbunden.
Zu einem Begriff gibt es natürlich im Laufe eines Lebens nicht nur eine Inter-
aktion und eine Szene. Man darf sich also dieses Konzept des Spracherwerbs nicht
zu konkretistisch vorstellen. Es ist nicht so, dass das Erleben des Kindes eins zu eins
beim Erwachsenen auftaucht. Aber die Botschaft, die wir später einmal hören,
verbindet sich mit den unbewusst vorhandenen Szenen, die wir mit diesem Begriff
erlebt haben. Sprache ist in dieser Struktur verankert: Verstehen ist stets szenisch
organisiert. Die affektive Färbung der Sprache bleibt in Worten und Begriffen latent
enthalten. Darum ist auch die Muttersprache ganz anders affektiv besetzt als später
erlernte Sprachen.
Das aber ist nicht nur individuell, sonst wäre Verständigung nicht möglich. Die
Kultur, die Gesellschaft prägen die Szenen und das Verstehen mit. In der oben
genannten Ballszene kann die Kultur beispielsweise über die Erfahrungen des Vaters
wirksam werden. Er vermittelt etwa in der Szene, dass Ball mit Spiel und dem
Gefühl des Vergnügens verbunden ist und nicht mit Ehrfurcht und Stillesein, wie es
bei einem heiligen Gegenstand der Fall wäre. Darum gibt es gemeinsame Frames in
einer Kultur, wir verstehen ähnlich.
Das Konzept des szenischen Verstehens kann erklären, warum Wörter, Erzählfi-
guren und ganze Diskurse, warum alles sprachliche Geschehen mit bestimmten
Frames verknüpft wird, die affektiv besetzt sind und interaktiv gestaltet werden.
Die Botschaft eines Medienbeitrages verbindet sich mit den im Kopf vorhandenen
Bildern, die sich aus individueller Erfahrung und deren gesellschaftlich-kultureller
Überformung entwickelt haben.
Man muss in der Auseinandersetzung mit Medienbeiträgen drei Arten von
Szenen unterscheiden (siehe Tab. 1): Da sind zum einen die manifesten Szenen
eines Beitrages, die explizit geschildert werden. Journalistinnen und Journalisten
lernen in ihrer Ausbildung, wie sie solche realen Szenen zeigen oder formulieren, sie
nutzen diese, um Texte attraktiv und lebendig zu gestalten. Diese Szenen beschrei-
ben Menschen in ihrem Handeln und sind insbesondere ein Stilmittel in Reportagen
und Features. Wir sehen oder lesen da beispielsweise eine Szene, in der Kanzlerin
Angela Merkel und der CSU-Politiker Horst Seehofer ein Streitgespräch über das
Flüchtlingsthema führen und Horst Seehofer eine Obergrenze fordert.
Es gibt zweitens die impliziten Szenen, die zwischen den Zeilen stehen. Während
äußerlich nur von dem Streitgespräch die Rede ist, entsteht in den Köpfen des
Publikums vielleicht die Idee einer Beziehung zwischen den Protagonisten, etwa,
dass Seehofer wie ein pubertärer Junge gegen die als „Mutti“ geframte Merkel
aufmuckt.
238 F. Herrmann
Und es gibt drittens noch eine ganz andere Szene, die Szene der Kommunikati-
onssituation, die zwischen dem Medienbeitrag und der Rezipient_in entsteht. Sie
könnte beispielsweise ein Gefühl der Überforderung oder Hilflosigkeit enthalten, das
sich bei der Rezipient_in angesichts der erneuten kontroversen Debatte um das
Flüchtlingsthema einstellt. Selbst Menschen, die Flüchtlingen positiv gegenüber-
stehen, könnten aus dieser affektiven Färbung heraus das Thema Flüchtlinge mit
dem Gefühl der Überforderung verbinden. Dies ist die Szene, aus der ein narrativer
Frame entsteht. Diese Szene wird im szenischen Verstehen untersucht. Sie ist nicht
unabhängig von der Gestaltung des Beitrages, aber nicht unmittelbar in ihm auffind-
bar.
Diese verschiedenen Dimensionen des Szenischen fügen sich zum Arrangement
eines Medienbeitrages, evozieren die Erzählfiguren: die manifesten Inhalte oder
Szenen, die impliziten Szenen und die Interaktion zwischen Text und Rezipient_in.
Lorenzer (1976) spricht von einer „hermeneutischen Doppelstrategie“: Die erzählten
Inhalte werden zu einem Teil der Kommunikationssituation und damit des szeni-
schen Verstehens. Das szenische Verstehen ist insofern im Raum zwischen Aussagen
und Rezipient_innen anzusiedeln, es fokussiert einen Prozess.
Es ist der Prozess der Einbindung von Rezipient_innen in einen Medienbeitrag,
beispielsweise einen Text. Damit unterscheidet sich dieses Verfahren sowohl von
kommunikationswissenschaftlichen Verfahren, die Texte als Produkt unabhängig
von der Rezeptionssituation inhaltsanalytisch betrachten, als auch von Verfahren,
die allein das Ergebnis der Rezeption analysieren. Vergleichbar im Zugang zum Text
über die Rezeption sind Ansätze, die die Aneignung von Texten durch ein Publikum
untersuchen wie die Attributionstheorie (Schwarz 2014), das Framing aus Rezipien-
t_innensicht (Kühne 2014; Matthes 2014) oder auch die Erinnerungsarbeit (Hipfl
2015, 2021). Von ihnen unterscheidet sich das szenische Verstehen jedoch dadurch,
dass es die Aufmerksamkeit auf die nicht bewussten Interaktionen richtet, die ein
Text evoziert. Auch von den Encoding/Decoding-Modellen der Cultural Studies
(Hall 1999; Lünenborg und Maier 2013, S. 124–126) lässt es sich durch diese
Fokussierung abgrenzen.
Die Analyse latenter Frames und Narrative durch szenisches Verstehen 239
Am Anfang der Analyse latenter Frames steht eine überraschende Beobachtung, die
sich mit dem vorhandenen Wissen nicht verstehen lässt. Zu diesen Beobachtungen
entwickeln Forscher_innen Hypothesen. Im oben genannten Beispiel war es die
überraschende Beobachtung der Gefühle von Überforderung und Hilflosigkeit durch
das Thema Flüchtlinge bei Fernsehzuschauer_innen. Es entstand die Hypothese,
dass das Ausmaß der Berichterstattung diese Gefühle beim Publikum hervorruft.
Für die Hypothesenbildung zu solchen neuen wissenschaftlichen Beobachtungen
hat der Semiotiker Charles S. Peirce den Begriff des abduktiven Schließens einge-
führt. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war das philosophische Problem, wie es
in der Wissenschaft zu wirklich neuartigen und überraschenden Erkenntnissen
kommen kann. Wie gehen Wissenschaftler_innen mit Beobachtungen um, die sich
mit bisherigem Wissen oder vertrauten Regeln nicht verstehen lassen? Sie suchen
eine neue Regel oder Erklärung. Aber wie entsteht diese, und warum finden sie aus
der Unendlichkeit der Möglichkeiten eine plausible Hypothese?
240 F. Herrmann
Peirce ging aufgrund von Experimenten davon aus, dass die Prozesse, die der
Wahrnehmung wirklich etwas Neues hinzufügen, nicht vollständig kontrollierbar
und bewusst sind (vgl. hierzu Sebeok und Umiker-Sebeok 1982, S. 36–39). Eine
Hypothesenbildung erscheine insofern immer blitzartig, indem vorhandene Ele-
mente zu etwas Neuem zusammengefügt werden. Diese Form der Entwicklung einer
Hypothese nannte Peirce den „abduktiven Schluss“. Er bezeichnete ihn als ersten
vorbereitenden „Schritt in Richtung wissenschaftlichen Denkens“. Abduktion ist
„der Schritt der Annahme einer Hypothese oder eines Satzes, der zur Vorhersage
desjenigen führen würde, was als überraschende Tatsachen erschiene“ (Peirce zit.
nach Sebeok und Umiker-Sebeok 1982, S. 37–38). Er unterschied davon die grund-
sätzlich anderen Denkweisen der Deduktion und Induktion, die zur Überprüfung
einer Hypothese oder zur Vorhersage ihre Konsequenzen dienen.
Das abduktive Schließen, wie es Peirce entwickelt hat, beruht auf unbewussten
Abläufen. Von den alltäglichen „Geistesblitzen“ unterscheidet sich diese wissen-
schaftliche Denkform dadurch, dass sie einer logischen Kritik und Überprüfung
zugänglich ist (Sebeok und Umiker-Sebeok 1982, S. 37). Sie muss plausibel und
überzeugend sein. Die Hypothese wird anschließend am Material überprüft. Finden
sich dort keine Belege, die die Annahme stützen, wird sie verworfen und eine neue
Hypothese gesucht. Hätte sich etwa im obigen Beispiel gezeigt, dass es keine über-
mäßige Berichterstattung über Flüchtlinge gab, hätte die Hypothese in Frage gestellt
werden müssen.
Ausgangspunkt war eine Irritation über diesen Artikel. Im Nachdenken über die
Auslöser des Affektes der Irritation stellte sich die Vorstellung ein, dass der Autor
des Artikels Hillary Clinton ablehnt und eine Art Zickenkrieg zwischen den Frauen
schildert. Es wurde die Hypothese aufgestellt, dass in diesem Text Hillary Clinton als
Täterin und Lewinsky als Opfer erschien und dabei auch Geschlechterklischees wie
der Zickenkrieg bedient wurden. Bemerkenswert erschien plötzlich auch, dass Bill
Clinton in dem Artikel keine Rolle spielte, obwohl ihm doch eher die Rolle des
Täters gebührte als ausgerechnet seiner Frau.
Der Artikel wurde den Teilnehmer_innen eines Seminars vorgelegt. Sie wurden
aufgefordert, ihre Affekte zu dem Artikel, seinen Protagonist_innen und möglichst
auch zum Autor zu notieren. Anschließend sollten sie die Szenerie wie in einem
Bühnenbild zeichnen. Die Teilnehmer_innen des Seminars entwarfen ein Bühnen-
bild, in dem Hillary Clinton wie eine Furie einer verängstigten und unglücklichen
Monica Lewinsky gegenübersteht. Beide Frauen haben eine unsympathische Rolle,
die typische Geschlechtsstereotype aufgreift. Hillary Clinton aber scheint als Gewin-
nerin aus der Affäre hervorzugehen, während alles Unglück der Verliererin Monica
Lewinsky aus der Verfolgung durch die rachsüchtige Hillary entsteht. Bill Clinton
wurde am Rand der Bühne platziert, er „überließ den Frauen das Theater“, wie es
eine Teilnehmerin formulierte.
In der anschließenden Analyse der Inhalte, von Konstruktion und Wortwahl des
Artikels konnte gezeigt werden, wie durch das Arrangement des Textes das beschrie-
bene Szenario entstanden war. Entscheidend dafür war, wie und an welcher Stelle
des Artikels bestimmte Informationen eingefügt wurden, so dass sie aufeinander zu
folgen schienen und ein Narrativ entstand. Auch die jeweils eingenommenen Per-
spektiven, einzelne Formulierungen und Begriffe trugen zu dem Eindruck bei
(genauer Herrmann 2016b).
Diese konkrete Analyse steht bei diesem Verfahren immer am Ende des Vorge-
hens und dient der Hypothesenprüfung. Das szenische Verstehen fokussiert zunächst
die Kommunikationssituation und entwickelt dazu Hypothesen im Sinne des abduk-
tiven Schließens. Was in der Kommunikationssituation passiert, lässt sich weder
durch Inhaltsanalyse der Beiträge noch durch Befragung von Rezipient_innen er-
schließen. Beobachtet werden muss die Kommunikationssituation selbst und insbe-
sondere auch die in ihr auftauchenden Affekte. Forscher_innen untersuchen dies
auch an der eigenen Reaktion auf einen Medienbeitrag oder Diskurs. Die erste Frage
muss immer sein: Welche Affekte evoziert die Kommunikationssituation?
Zur Präzisierung und Anreicherung der Hypothese und zur Prüfung ihrer Plausi-
bilität kann der Austausch mit anderen Personen gesucht werden, im obigen Beispiel
wurden Seminarteilnehmer_innen einbezogen. Ziel ist dabei nicht, ein scheinbar
objektives Ergebnis zu erarbeiten, das es in der Analyse von Kommunikation nicht
geben kann. Der Austausch kann jedoch zu einem besseren Verständnis des Pro-
blems oder Medienbeitrages beitragen.
Häufig drängt sich bei in diesem Vorgehen ungeübten Personen die kognitive
Auseinandersetzung mit den manifesten Inhalten des Beitrages in den Vordergrund.
Hier kann es hilfreich sein, die Kommunikationssituation wie in einer Bühnenszene
242 F. Herrmann
7 Fazit
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Kollektive Erinnerungsarbeit – ein
partizipativer, kritischer Forschungsansatz
Brigitte Hipfl
Inhalt
1 Einleitung: Zum Entstehungszusammenhang kollektiver Erinnerungsarbeit . . . . . . . . . . . . . . 246
2 Umsetzung und Praxis kollektiver Erinnerungsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
3 Kollektive Erinnerungsarbeit und Gender-Medien-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
Zusammenfassung
Kollektive Erinnerungsarbeit ist eine partizipative, feministische Methode, die
von Frigga Haug in den 1980er-Jahren als Reaktion auf Frauen-Erfahrungen
ausschließende gesellschaftskritische Theorien und als Möglichkeit, die eigene
Beteiligung an Vergesellschaftungsprozessen zu untersuchen, entwickelt wurde.
Die im Kollektiv erfolgenden Analysen von Erinnerungen an eigene Erfahrungen
zielen auf eine Erweiterung der Handlungsfähigkeit ab. Die Methode wird breit
rezipiert, wobei die theoretischen Grundannahmen laufend aktualisiert und die
methodischen Schritte ebenfalls je nach Kontext adaptiert werden.
Schlüsselwörter
Kollektive Erinnerungsarbeit · Kollektive Biografie · Vergesellschaftung ·
Subjektivierung · Handlungsfähigkeit
B. Hipfl (*)
Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich
E-Mail: brigitte.hipfl@aau.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 245
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_15
246 B. Hipfl
Die kollektive Erinnerungsarbeit wurde von der deutschen Soziologin Frigga Haug
in den 1980er-Jahren als feministische Intervention in die zu der Zeit vorherrschen-
den Praktiken der Wissensproduktion und als politisches Projekt zur Befreiung der
Frau entwickelt. Damals führten die Impulse der ‚neuen Frauenbewegung‘, nicht nur
kapitalistische Ausbeutung, sondern auch patriarchale Herrschaft zu kritisieren, für
sozialistische Feministinnen wie sie zu Kämpfen und Spannungen. So resultierte der
Anspruch, die Geschlechterverhältnisse kritisch in den Blick zu nehmen, in Kon-
flikten sowohl mit der Arbeiterbewegung (deren zentrale Frage die Klassenfrage
war) als auch mit dem Marxismus (in dem sich die ‚Frauenfrage‘ auf die Einbezie-
hung von Frauen in die Erwerbsarbeit bzw. ein besseres Familienleben beschränkte)
(Haug 2008). Feministische Theorie und feministischer Aktivismus waren darauf
ausgerichtet, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Frauen unterdrücken, zu pro-
blematisieren und zu verändern. Frauen galten als Opfer unterdrückerischer Struk-
turen. In einem aufsehenerregenden Vortrag unter dem Titel „Frauen – Opfer oder
Täter?“ problematisiert Haug im Rahmen der Berliner Volksuni 1980 diese Sicht. Sie
stellt dagegen, dass Frauen zwar unterdrückerische Strukturen vorfinden, diese aber
nur weiter bestehen können, wenn sie von ihnen unterstützt und damit aufrecht-
erhalten werden. „Der Vergesellschaftungsprozess ist . . . eine Aktivität, in der auf
jeder Stufe Einwilligung hergestellt werden muss“ (Haug 1988, S. 244). Haug
argumentiert, dass Einwilligung als Tat zu verstehen ist, womit sich die Möglichkeit
eröffnet, dass Frauen auch etwas anderes tun und damit etwas verändern können. Sie
schlägt vor, am Beispiel alltäglicher Situationen die Zustimmung von Frauen zu
unterdrückerischen Verhältnissen zu erforschen, um „die Eingriffspunkte heraus-
zufinden, die uns fähig machen, selber zu handeln“ (Haug 1988, S. 247). Das ist kein
leichtes Unterfangen, da die Organisation von Zustimmung stark über ‚Verführung‘
läuft – wie z. B. über Vorstellungen von Glück durch ewige Liebe. Für Forschungs-
und Lernprozesse dieser Art braucht es eine eigene Lernkultur, handelt es sich dabei
doch um einen „Verunsicherungsprozess besonders krisenhaften Ausmaßes, eine
Krise, die sich allein nicht aushalten lässt“ (Haug 1988, S. 248).
Inspiriert von den positiven Aspekten der Selbsterfahrungsgruppen in der zweiten
Frauenbewegung, in denen eigene Erfahrungen mit anderen geteilt wurden, ent-
wickelt sie gemeinsam mit Mitgliedern der Gruppe Frauenformen die Methode der
kollektiven Erinnerungsarbeit. Diese Methode geht jedoch über die Praktiken von
Selbsterfahrungsgruppen hinaus, indem die Erfahrungen rigoros analysiert und
theoretisch bearbeitet werden. Ausgehend davon, dass unsere eigenen Erfahrungen
Beispiele für je spezifische Positionierungen in und Verarbeitungsweisen von gesell-
schaftlichen Normen, Ansprüchen, Erwartungen, Beschränkungen etc. sind, schlägt
Haug vor, diese Erfahrungen und damit uns selbst zum Gegenstand der Forschung
zu machen. Die Analyse der Erfahrungen eröffnet Einsichten in Subjektivierungs-
prozesse und davon ausgehend Ansatzpunkte für Veränderungen in Richtung einer
Erweiterung unserer Handlungsfähigkeit. Haug argumentiert befreiungstheoretisch,
indem sie die gesellschaftlich nahegelegten Formen von Weiblichkeit als ein
Kollektive Erinnerungsarbeit – ein partizipativer, kritischer . . . 247
Gefängnis versteht, aus dem es sich für eine freiere Zukunft zu befreien gilt (Haug
1999a, S. 15). Dies ist eine durchaus herausfordernde Arbeit. Denn wenn wir davon
ausgehen, „daß herrschende Kultur und Ideologie auch durch uns selbst reproduziert
werden, . . . müssen wir im gleichen Zug diese Bereiche studieren, die außer uns
existieren und die wir doch auch produzieren“ (Haug 1999b, S. 38). Dazu kommt die
Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen, die oft auch schmerzhaft ist. Dafür
ist die Entwicklung der Methode selbst ein Beispiel, wie Haug anschaulich skizziert.
Sie spricht von dem Schock, als sie in der Frauengruppe realisierten, trotz ihres
Wissens und ihrer kritischen Haltung „mit Herz und Verstand, mit Gefühl und
Vernunft in diese Gesellschaft verstrickt“ zu sein (Haug 1999a, S. 20). Daraus ergab
sich für sie die Notwendigkeit, gerade diese Verstrickungen zu erforschen, um sich
aus ihnen lösen zu können.
Für Haug ist kollektive Erinnerungsarbeit auch ein Beispiel für eine Form von
Frauenkultur, die gemeinsames Forschen und Lernen ermöglicht. Das Datenmaterial
sind eigene Erfahrungen, die als Erinnerungen verschriftlicht werden. Sowohl für die
Erhebung dieser Daten als auch für die Arbeit mit ihnen hat Haug Richtlinien
entwickelt.
Für Haug ist wichtig, mit der Methode in einem Kollektiv zu arbeiten, da nur in
Gruppen das Potenzial, das in der Erforschung eigener Erfahrungen liegt, wirklich
ausgeschöpft werden kann. Vor dem Hintergrund, dass es um Erfahrungen von
Vergesellschaftung geht, die ja alle gemacht haben, sind im Kollektiv alle Mitglieder
sowohl Forschungssubjekte als auch -objekte. Die übliche Differenzierung zwischen
Forscher*innen auf der einen Seite und Objekten der Forschung auf der anderen fällt
damit weg. Das Kollektiv fungiert als dialogischer Raum, in dem über die Ausei-
nandersetzung mit gegenläufigen Erfahrungen und anderen möglichen Handlungs-
optionen sowie durch kritische Widerrede ein gemeinsamer, emanzipierender Lern-
prozess stattfinden kann.
Im Idealfall wird Erinnerungsarbeit von einer Gruppe praktiziert, die zusammen-
gekommen ist, um ein spezifisches Thema zu bearbeiten.2 Ist das nicht der Fall,
besteht der erste Schritt darin, ein gemeinsames Thema zu finden. Dieses Thema
wird als eine alltagssprachliche Frage formuliert, die sich auf den gelebten Alltag der
1
Die Ausführungen zur Methode beruhen auf Haug 1999a und b.
2
Hinsichtlich der Gruppengröße empfiehlt Haug, dass alle die Möglichkeit haben sollten, sich an
den einzelnen Schritten aktiv zu beteiligen. Auf der Basis ihrer Erfahrungen ist das bei bis zu
12 Personen gut möglich, bei mehr Personen ist es sinnvoll, Untergruppen zu bilden.
248 B. Hipfl
Gruppenmitglieder bezieht und als Trigger fungiert, der bei allen Erinnerungen
auslöst. Ein Beispiel ist etwa die von Haug in einem Kollektiv bearbeitete Fra-
gestellung „Als ich einmal Angst hatte“ (Haug und Hauser 1991). Für das Schreiben
der Erinnerungen gilt: Es soll nur eine Erfahrung, also nur eine Szene beschrieben
werden, diese jedoch möglichst detailliert, ohne Analysen, Erklärungen oder biogra-
fische Kontextualisierungen. Empfohlen wird, die Erinnerungsszene in der dritten
Person zu schreiben, da diese Verfremdung der Erzählperson die Autorin zu einer
genaueren Beschreibung veranlasst. Der Umfang der Erinnerungsszenen sollte nicht
mehr als eine Seite sein. All diese Hinweise sind in den theoretischen Grundlagen
dieses Zugangs begründet: Der Fokus auf einzelne Szenen (und nicht auf biogra-
fische Berichte) resultiert aus dem Interesse an den jeweiligen Positionierungen in
spezifischen Situationen (und an der darin zum Ausdruck kommenden Handlungs-
fähigkeit), wobei es nicht darum geht, die einzelnen Personen zu analysieren. Mit der
Aufforderung, die Erinnerungsszene möglichst detailliert zu beschreiben, soll er-
reicht werden, dass auch Dinge niedergeschrieben werden, die als unwichtig, chao-
tisch o. ä. erscheinen und bei den üblichen Selbstdarstellungen im Allgemeinen
ausgeblendet werden. Haug empfiehlt, zwischen der Formulierung der Forschungs-
frage, des Triggers, und dem Schreiben etwas Zeit einzuplanen (zumindest eine
Nacht), um den unterschiedlichen Schreib-Gewohnheiten der Teilnehmerinnen
Raum zu geben.
Der zweite methodische Schritt besteht in der Analyse der verschriftlichten
Erinnerungsszenen. Dafür sollten alle mit den theoretischen Grundannahmen –
wie Konstruiertheit der eigenen Persönlichkeit, Tendenz der Eliminierung von
Widersprüchen, Konstruktion von Bedeutung und Politik mit Sprache – vertraut
sein. In der (nicht immer bewussten) Auseinandersetzung mit gesellschaftlich an-
gebotenen und zugeschriebenen Subjektpositionen und kulturellen Erzählungen
konstruieren wir uns als Subjekte mit je spezifischer Handlungsfähigkeit. In diesen
Konstruktionen findet sich die Tendenz, Widersprüche zu eliminieren und ein
möglichst stimmiges Bild sowohl für uns selbst als auch für andere zu entwickeln.
Die Anleitung, die Erinnerungsszenarien möglichst detailliert zu verfassen, eröffnet
jedoch einen Weg, an den auf den ersten Blick unwichtig oder nicht passend
erscheinenden Details solche Eliminierungen zu erkennen und Ansatzpunkte für
mögliche andere Entwicklungen zu finden. Da die kollektive Erinnerungsarbeit vor
allem Arbeit an Texten ist, ist es wichtig, die politische Dimension von Sprache zu
verstehen. Sprache ist nicht bloß neutrales Mittel, sondern immer auch Ausdruck
gesellschaftlicher Konventionen und Normen, die uns als sprachliche Formulierun-
gen nahegelegt werden.
Die einzelnen Analyseschritte zielen darauf ab, die „suggestive Bedeutungshaf-
tigkeit“ (Haug 1999b, S. 40) der Texte zu zerstören und einfühlende Interpretationen
zu verhindern. Die gemeinsame Arbeit im Kollektiv beginnt jedoch im ersten Schritt
gerade mit dieser Praktik. Der im Folgenden beschriebene Ablauf wiederholt sich für
jede Erinnerungsszene. Es wird eine Geschichte, die für alle in ausgedruckter Form
bereitgestellt wird, ausgewählt und vorgelesen. Danach wird kurz gesammelt, was
als Botschaft der Autorin verstanden wird, und das Ergebnis des einfühlenden
Kollektive Erinnerungsarbeit – ein partizipativer, kritischer . . . 249
Verstehens als These oder auch in Form eines Sprichwortes3 zusammengefasst. Als
nächstes beginnt die sprachliche Analyse der Texte, mit der die in den Erinnerungs-
szenen konstruierten Bedeutungen in ihre Bausteine zerlegt werden und Distanz zum
Text hergestellt wird.4 Haug hat dafür ein Schema entwickelt, das die Verwendung
der Methode auch in nicht-wissenschaftlichen Kontexten ermöglichen soll und mit
einem einfachen Eintragen von Analyseelementen in Spalten5 beginnt. Zunächst
geht es um die Analyse der sprachlichen Konstruktion des erzählenden Subjekts,
indem untersucht wird, welche Aktivitäten, Emotionen und Motivationen in welcher
Weise vorkommen. In die Spalte der Aktivitäten werden alle Verben, die sich auf das
erzählende Subjekt beziehen, eingetragen. In einer nächsten Spalte werden Worte,
die sich auf Emotionen der Autorin beziehen, notiert. Eine dritte Spalte ist für die
Motivation der Autorin vorgesehen, wobei hier neben dem Eintragen der dafür in
Frage kommenden Worte bereits eine erste Abstraktion in Form einer Rekonstruk-
tion erfolgt. Weiters ist eine Spalte für sprachliche Besonderheiten, die sich in den
Konstruktionen des erzählenden Subjekts zeigen, vorgesehen: Welche Formen von
Verben kommen vor, werden Konjunktiv oder Floskeln etc. verwendet? Auch für
alle anderen, im Text vorkommenden Subjekte (das können Menschen, aber auch
unpersönliche Subjekte oder etwa Dinge mit Subjektstatus sein) werden diese
Spalten eingerichtet und bearbeitet. Den Abschluss bilden zwei Spalten, in denen
Leerstellen bzw. Widersprüche (die darauf verweisen, dass etwas fehlt, um die Szene
plausibel zu machen) aufgelistet werden.
Auf der Basis dieser Analyseschritte ist es nun möglich, analytische Aussagen
darüber zu machen, wie das erzählende Subjekt und die anderen konstruiert werden.
Gearbeitet wird nun nur mehr mit den ausgefüllten Tabellen, es wird nicht mehr auf
die Erinnerungsszene selbst zurückgegriffen. Dabei wird auch herausgearbeitet, ob
in den Konstruktionen Verknüpfungen, die nicht notwendigerweise gegeben sind,
als selbstverständlich vorkommen. Das Ergebnis der Analyseschritte wird schließ-
lich als These formuliert und von Haug als Problemverschiebung bezeichnet. Die
Autorinnen können eine zweite Fassung der Erinnerungsszene schreiben, in der die
angesprochenen Leerstellen und Widersprüche aufgegriffen werden. Allerdings
weist Haug darauf hin, dass dort genauso Strategien der Widerspruchseliminierung
zu finden sind und keinesfalls davon ausgegangen werden kann, dass die beschrie-
benen Erinnerungen immer ‚wahrer‘ werden. Wohl aber werden die Konstruktions-
weisen der Autorinnen besser erkennbar.
Von besonderer Relevanz im Analyseprozess sind die Diskussionen in der Grup-
pe, denn in diesen Diskussionen werden Verbindungen zu vorherrschenden Dis-
kursen, strukturellen Bedingungen, gesellschaftlichen Zwängen etc. wie auch zu
Theorien hergestellt. Darüber hinaus werden in der Gruppe alternative Positionie-
rungen diskutiert. Wie Haug betont, werden die Forschungsergebnisse ertragreicher,
3
Haug hält Sprichworte für besonders gut geeignet, da sie Beispiele für Alltagstheorien sind, in
denen wir ‚denk-fühlen‘.
4
Hier zeigt sich eine große Nähe zur Diskursanalyse.
5
Eine Darstellung dieses Schemas findet sich u. a. bei Bitschnau und Hinteregger (2001).
250 B. Hipfl
wenn es die Rahmenbedingungen erlauben, zusätzliches Material zur Frage, was als
‚normal‘ gilt, einzubeziehen – wie etwa soziologische und historische Studien,
literarische Beispiele und Fotografien als eine andere Form von Erinnerungsarbeit
sowie Populärkultur (z. B. Ratgeberliteratur, verschiedene Medien).
Die Dekonstruktion der Erinnerungsszene macht neue Zusammenhänge sichtbar,
aus denen sich eine neue Forschungsfrage bzw. eine Verschiebung der ursprüng-
lichen Frage ergibt, die dann wieder mit all den Schritten der Erinnerungsarbeit
bearbeitet werden kann. Insofern ist Erinnerungsarbeit ein kontinuierlicher Prozess,
der über Jahre laufen kann. Vor dem Hintergrund, dass jede Erinnerung eine spezi-
fische Möglichkeit beschreibt, sich in den Gefügen aus gesellschaftlichen Struktu-
ren, Konventionen, Zuschreibungen, Begehren etc. zu positionieren, lassen sich aus
den Ergebnissen der Analysen der einzelnen Erinnerungsszenarien verallgemeiner-
bare Aussagen entwickeln.
Bei Haug werden alle Schritte der Erinnerungsarbeit durchgehend von allen
Teilnehmerinnen umgesetzt. Das heißt, die Aufhebung der Differenzierung zwi-
schen Subjekten und Objekten der Forschung wird konsequent durchgezogen,
allerdings braucht es eine Person, die für die Leitung des Prozesses zuständig ist.
Haug spricht von einem „lebenden Widerspruch“ (Haug 1999b, S. 41), da es eine
Leitung braucht, „die zugleich als Nicht-Leitung auftritt, als eine unter anderen, und
dabei gefordert ist als Gleiche und Ungleiche in einem“. Der gemeinsame For-
schungs- und Lernprozess kann (wie jede Form von Lernen) Verunsicherung aus-
lösen, weshalb ein sorgsamer und respektvoller Umgang miteinander wichtig und
darauf zu achten ist, niemanden zu verletzen oder zu beurteilen. Hilfreich ist, immer
wieder deutlich zu machen, dass nicht die Autorinnen, sondern deren sprachliche
Konstruktionen analysiert werden und dabei keine ‚Wahrheiten‘ über die Autorinnen
herausgearbeitet, sondern diese als Beispiele für mögliche Positionierungen in
gegebenen Strukturen verstanden werden.
Für Haug ist Erinnerungsarbeit ein emanzipatorisches Lernprojekt, bei dem der
Prozess selbst schon ein wesentliches Ziel ist. Durch die gemeinsam erarbeiteten
Einsichten in gesellschaftliche Kräfte und Subjektivierungsprozesse wird die Selbst-
reflexion verstärkt und die Handlungsfähigkeit erweitert. Haug grenzt den von ihr
entwickelten methodischen Zugang explizit von Therapie ab. Zudem verweist sie
darauf, dass verschiedenste Variationen der Methode möglich sind.
intra-action betont, dass nicht von bereits gegebenen Subjekten und deren Hand-
lungen ausgegangen werden kann, da Subjekte erst in einem ‚entanglement‘ ver-
schiedener Kräfte und in Intra-Aktionen hervorgebracht werden. Kollektive Biogra-
fie wird nicht länger als reflexive, sondern als diffraktive6 Arbeit verstanden, bei der
dem Zuhören mit allen Sinnen und affektiven Resonanzen eine zentrale Rolle
zukommt. Darüber hinaus wird zur Kenntnis genommen, dass nach Barad jede
Forschungsmethode ein Apparat ist, der die Welt in bestimmter Weise konstituiert
(Davies und Gannon 2012, S. 369–371, 373). Ein ‚retooling‘ der kollektiven
Erinnerungsarbeit aus der Perspektive des neuen feministischen Materialismus fin-
det sich auch bei Lorenz-Meyer (2015).
Auch hinsichtlich der Art und Weise, wie mit den verschiedenen Formen dieses
methodischen Zugangs gearbeitet wird, gibt es große Unterschiede. Die Methode
wird z. B. in bestehenden Strukturen wie Lehrveranstaltungen und Weiterbildungs-
veranstaltungen eingesetzt, wobei eine Person die Moderation übernimmt und die
einzelnen bei der Umsetzung der Methode begleitet, selbst aber meist keine Erinne-
rungsszenen schreibt (z. B. Dorer 2000, 2008; Gonick 2015; Witt-Löw 2020;
Johnson 2018; Stitz et al. 2020). Die Methode wird auch für Forschungsprozesse
im Rahmen von Qualifizierungsarbeiten wie Diplom-, Masterarbeit oder Dissertati-
on genutzt, wobei in manchen Fällen der kollektive Analyseprozess wegfällt und die
Auswertung von der Forscherin/dem Forscher allein gemacht wird (z. B. Remy-
Berzencovic 2000; Stocker 2002; Bauer 2006; Kodym 2012). Und schließlich wird
die Methode als eine Form der Arbeit in Fokus-Gruppen verwendet (Hamm 2020,
S. 67–82). Es werden auch eigene Strukturen für die Arbeit mit der Methode
geschaffen. Diese reichen von Aufrufen für Kollektive, die sich für mehrstündige
Sitzungen face-to-face oder online treffen, bis zu mehrtägigen bis einwöchigen
Klausur-Settings, denen Phasen folgen, in denen die nächsten Arbeitsschritte einzeln
gemacht und dann wieder in der Gruppe diskutiert werden, die sich über Jahre
erstrecken können. In welcher Weise Erinnerungsarbeit umgesetzt wird, ergibt sich
aus den jeweiligen Fragestellungen, spezifischen Kontexten und Möglichkeiten
(McLeod und Thomson 2009, S. 30). So wurde in einem Forschungskollektiv der
Fokus nicht auf die detaillierte Dekonstruktion der einzelnen Erinnerungsszenarien,
sondern auf Ähnlichkeiten, Unterschiede und Elemente, die sich in mehreren Er-
innerungen finden, gerichtet (Crawford et al. 1992). Oder Erinnerungen wurden
nicht nur anhand von Texten bearbeitet, sondern auch anhand von Fotografien,
Zeichnungen, Gedichten, Filmen, digitalen Artefakten und Image-Theater nach
Augusto Boal (wie etwa bei Gannon et al. 2014; Mitchell et al. 2020). Überhaupt
zeigt sich, dass in der Arbeit mit dieser Methode in den verschiedenen Kollektiven
ständig neue Variationen entstehen (Gannon et al. 2018, S. 268). Ein guter Überblick
über verschiedene Formen der Umsetzung findet sich bei Hamm (o. J., 2020, 2021).
6
Diffraktion ist ebenfalls ein Barad’sches Konzept, das sie von Haraway übernimmt und weiter-
entwickelt. Gemeint ist damit ein Denken in Verschränkungen, das die Intra-Aktionen verschiede-
ner Elemente (Theorien, Körper, Praktiken) umfasst (Weibel 2013).
Kollektive Erinnerungsarbeit – ein partizipativer, kritischer . . . 253
Damit mit kollektiver Erinnerungsarbeit produktiv gearbeitet werden kann, sollte bei
der Organisation mitbedacht werden, wie sich Vertrauen unter den Beteiligten
entwickeln kann. Dafür haben sich Workshops von mehreren Tagen bis zu einer
Woche als günstig erwiesen. Davies hat z. B. Klausuren organisiert, in denen neben
der Forschung auch Zeit für andere gemeinsame Tätigkeiten (wie z. B. Kochen)
eingeplant war (Davies 2006, S. 186). Ein Forschungs-Freiraum in diesem Ausmaß
(mit oder ohne Funding) ist jedoch nicht immer möglich; einfacher ist es, einzelne
Halbtage oder Tage zu organisieren. Jedenfalls ist bei der Planung kollektiver Lern-
prozesse mit zu berücksichtigen, dass ein auf Augenhöhe funktionierender Prozess
unter Zeitdruck kaum möglich ist (Stitz et al. 2020).
Wird die kollektive Erinnerungsarbeit tatsächlich durchgehend im Kollektiv
gemacht, ist nach Davies (2006, S. 186) die Freiwilligkeit der Teilnahme wichtig.
Denn die Methode funktioniert nur, wenn die Themen, die bearbeitet werden, für alle
so interessant sind, dass sie sich auf den durchaus herausfordernden Forschungs-
prozess einlassen. Sie betont wie Haug, dass es eine Person braucht, die darüber
hinaus die Leitung und damit auch die Verantwortung übernimmt, die Gruppen-
dynamik im Blick zu haben. Denn ein Forschungskollektiv ist keine homogene
Gruppe, sondern oft hierarchieübergreifend zusammengesetzt (z. B. Lehrende und
Studierende), wobei gerade die Differenzen in der Gruppe die Analyse bereichern
(Stephenson und Kippax 2017, S. 151; Ortner und Thuswald 2012, S. 76–80).
Davies spricht hier eine Form von Verantwortung an, die sich grundlegend von
der Responsibilisierung des Individuums in der gegenwärtig bestimmenden Rheto-
rik des Neoliberalismus mit dem Fokus auf Selbst-Technologien, Markförmigkeit
und Konkurrenz unterscheidet. Die kollektive Erinnerungsarbeit zeichnet sich da-
gegen durch Offenheit gegenüber den sich entfaltenden, dynamischen Prozessen
aus, die es den Gruppenmitgliedern ermöglicht, in der gemeinsamen Arbeit neue
Einsichten zu gewinnen (Davies 2006, S. 184). Gleichzeitig können nicht bearbei-
tete Machtrelationen die Produktivität der Methode beeinträchtigen. Das kann dazu
führen, dass einzelne Geschichten nicht so ernst genommen werden, sich einzelne
Autor*innen durch die Analysen der anderen Mitglieder in ihrem Selbstverständnis
bedroht fühlen bzw. das Forschungsprojekt nicht zu Ende gebracht wird oder sich
die Gruppe auflöst (Clare und Johnson 2000).
Die Verschriftlichung der Analysen im Kollektiv erweist sich ebenfalls als he-
rausfordernd, handelt es sich doch um eine Vorgangsweise, die nicht der üblichen
akademischen Praktik entspricht und erfordert, das eigene Ego zurückzustellen
(Davies und Gannon 2006d). So berichten die Autorinnen, dass das gemeinsame
Schreiben oft an der Kippe stand – wenn z. B. ein Text nach mehreren Runden fertig
zu sein schien und plötzlich wieder eine Verbindung zu einem neuen Konzept
hergestellt wurde. Sie sprechen von den Schwierigkeiten, die Einfügungen von
anderen zu streichen, zu korrigieren, und verweisen auf einen Prozess voller
Schweiß und Tränen.
Wie ertragreich kollektive Erinnerungsarbeit ist, hängt nicht in erster Linie
davon ab, die von Haug vorgeschlagenen analytischen Schritte möglichst genau
254 B. Hipfl
umzusetzen, sondern vor allem davon, was das Kollektiv für die Analyse einbrin-
gen kann: Welche verschiedenen Lesarten und Fragen zu den jeweiligen Erinne-
rungsszenarien, welche für das Themenfeld relevanten Theorien und Forschungs-
felder, welches Wissen über politische Strategien und Taktiken und welche
Vorstellungen von anderen Formen des Seins können für Interventionen in die
bearbeitete soziale Problematik fruchtbar gemacht werden (Stephenson und Kip-
pax 2017, S. 152–153).
Es gibt nur wenige Studien, in denen die Methode speziell zur Erforschung von
Medien-Erfahrungen eingesetzt wird. Diese unterscheiden sich sowohl hinsichtlich
ihrer theoretischen Untermauerung als auch in der methodischen Umsetzung, wobei
nicht immer alle Schritte im Kollektiv durchlaufen werden. Im Vergleich zur
herkömmlichen Rezeptionsforschung, die von Fragen nach Wirkungen, Identifika-
tionen bzw. Aushandlungsprozessen bestimmt ist, steht bei den Arbeiten mit Erin-
nerungsszenarien die Frage nach den von Medien ausgehenden Kräften in den
komplexen und widersprüchlichen Dynamiken von Subjektivierungsprozessen im
Mittelpunkt.
Haug und Hipfl (1995) haben Filmerfahrungen von Frauen mit der Erinnerungs-
arbeit untersucht, wobei sich die Fragestellungen, die im Rahmen einer Lehrver-
anstaltung in Österreich bzw. in Deutschland bearbeitet wurden, auf das Spannungs-
feld zwischen urteilendem Verstand und genießendem Gefühl beziehen. „Als mich
ein Film berührte, den ich schlecht fand“, „Heute lass ich mir ein Gefühl machen“,
und „Weibliches Vergnügen an Filmen, in denen fast ausschließlich Männer vor-
kommen“ waren die Trigger, zu denen Erinnerungen zu Pretty Women und Schlaflos
in Seattle sowie zu Horrorfilmen und Indianerfilmen geschrieben und dann in
mehreren Gruppen analysiert wurden. Zentrales Ergebnis ist, dass es in allen Texten
der Frauen um das „Gefühl ‚zu fühlen‘“ (Haug 1995, S. 173) geht und Gefühl und
Vernunft als strikt voneinander getrennt konstruiert werden. Es kommen Leiden-
schaften, Sehnsüchte und Hoffnungen zum Ausdruck, die allerdings an die
Filme gebunden bleiben und damit das transformative Potenzial von Gefühlen
(in Verknüpfung mit Vernunft) für ein eigenes erfülltes, freud- und lustvolles Leben
nicht produktiv wird.
Mit einer leicht abgewandelten Variante des Haug’schen Zugangs erforschte
Johanna Dorer (2000) Ende der 1990er-Jahre gemeinsam mit Ulrike Weihs und
Studierenden in mehreren Lehrveranstaltungen den Zusammenhang von Geschlech-
terkonstruktionen und Internet-Nutzung. Die Grundlage bildeten Erinnerungen an
Einstiegserfahrungen, die von Frauen zum Thema „Als ich das erste Mal ins Internet
einstieg“ und von Frauen und Männern zum Thema „Das erste Mal in einem Chat“
verfasst wurden. In der Analyse finden sich die damals vorherrschenden, hierar-
Kollektive Erinnerungsarbeit – ein partizipativer, kritischer . . . 255
4 Fazit
Die bis heute bestehende Faszination für die Methode hat damit zu tun, dass zentrale
Einsichten aus der Frauenbewegung für die Forschung nutzbar gemacht werden:
dass wir uns verbünden müssen, dass Veränderungen zu mehr Geschlechterdemo-
kratie gemeinsame Anstrengung erfordern und eine der zentralen Fragen immer die
nach der eigenen Beteiligung an der Aufrechterhaltung bestehender Verhältnisse ist.
Die ermächtigende Wirkung, die allein schon vom Kennenlernen der kollektiven
Erinnerungsarbeit ausgeht, hängt mit dem Anspruch der Methode zusammen, den
Haug (2003, S. 208) so formuliert: „Erinnerungsarbeit ist der Versuch, Selbstblo-
ckierungen durch Gang-und-gäbe-Zurechtlegungen, Widersprüche, die eliminiert
und geglättet sind, Fallen, in die man gegangen ist, Alternativen, die man ausschlug,
herauszuarbeiten, um die Möglichkeit bereitzustellen, Gegenwart und Zukunft durch
Kenntnis des eigenen Wegs dorthin besser gestaltbar zu machen“. Gerade auch für
die Auseinandersetzung mit medialen Bildern und Diskursen, mit den verschiedenen
Kommunikations- und Informationstechnologien sowie den damit verknüpften Sub-
jektpositionen, Versprechungen von Zugehörigkeit und Anerkennung, aber auch
Praktiken des Ausschließens und des Othering eröffnet dieser Zugang produktive
Forschungsmöglichkeiten.
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Ethnographische Forschung
Sigrid Kannengießer
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
2 Ethnographische Ansätze in der kommunikations- und medienwissenschaftlichen
Geschlechterforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
3 Reflexion der Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
Zusammenfassung
In der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Geschlechterforschung
verfolgen ethnographische Arbeiten das Ziel, die Relevanz und die Bedeutung
von Medien und (medial vermittelter) Kommunikation für Geschlechterkonstruk-
tionen und -verhältnisse im Alltag zu analysieren. Unter Einsatz ethnographischer
Methoden kann u. a. untersucht werden, welche Rolle Medieninhalte im Prozess
der Herstellung von Geschlechteridentitäten spielen und wie sich Personen Medien
für die Herstellung ihrer Geschlechtsidentität aneignen. Dabei ist das Besondere
ethnographicher Forschung, dass die Prozesse der Herstellung von Geschlechts-
identitäten und Geschlechterverhältnissen im Alltag untersucht werden.
Schlüsselwörter
Ethnographie · Virtuelle Ethnographie · (teilnehmende) Beobachtung ·
Qualitatives Interview · Feministische Perspektiven
S. Kannengießer (*)
ZeMKI, Universität Bremen, Bremen, Deutschland
E-Mail: sigrid.kannengiesser@uni-bremen.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 261
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_16
262 S. Kannengießer
1 Einleitung
Die Arbeit im Feld bedeutet auch, dass der/die Ethnographin körperlich anwe-
send ist und die verschriftlichten Ethnographien immer auch das Ergebnis der
Interaktionen im Feld sind (Ayaß 2016, S. 338–339).
Ziel der Ethnographie ist eine „dichte Beschreibung“ (Geertz 2009) einer Kultur
(oder von Ausschnitten einer Kultur), mit der diese durch die forschende Person
nicht nur beschrieben, sondern aufgrund der Vertrautheit mit dem Kontext und den je
spezifischen kulturellen Referenzsystemen interpretiert wird. Für die Interpretation
ethnographischer Daten ist es nicht nur notwendig, die historischen und theoreti-
schen Kontexte sowie die strukturellen Bedingungen untersuchter Subjekte und ihrer
Kultur einzubeziehen, sondern auch die gesammelten Daten in Bezug zu bestehen-
den Theorien zu setzen (Willis 2000).
4 Fazit
Ein ethnographisches Vorgehen, das dem Alltagshandeln von Menschen und ihren
Sinnkonstruktionen nachgeht, kann mithelfen, die Rolle und Bedeutung von Medien
und medienvermittelter Kommunikation für die Herausbildung der Geschlechtsiden-
tität, die Gestaltung von Geschlechterverhältnissen und für Schritte in Richtung
Geschlechtergerechtigkeit zu verstehen.
Voraussetzung dafür ist nicht nur ein offenes Vorgehen im Feld, sondern auch ein
hohes Maß an Selbstreflektion durch die forschende Person. In jüngster Zeit ent-
standene Netzwerke für qualitative Forschung und Methoden1 bieten Forschenden
Möglichkeiten für den Austausch auch über ethnographisches Vorgehen.
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1
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press.com) oder das Netzwerk Qualitative Forschung an der Universität Graz (https://netz
werk-qualitative-forschung.uni-graz.at).
268 S. Kannengießer
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
2 Geschlechterverhältnisse in der journalistischen Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
3 Theoretische Überlegungen und Systematisierungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
Zusammenfassung
Journalismus galt lange Zeit als Männerberuf. Aktuelle Erhebungen zeigen, dass
zunehmend Frauen im Journalismus tätig sind, wenngleich in den meisten Län-
dern der Frauenanteil noch deutlich unter der 50 %-Grenze liegt. Weniger Ver-
änderung ist in Bezug auf Führungspositionen auszumachen, die nach wie vor
männerdominiert sind. Die Zunahme von Journalistinnen geht maßgeblich auf
den Wandel gesellschaftlicher Geschlechterdiskurse und auf Fraueninitiativen der
letzten Jahrzehnte sowie auf die Implementierung von Gleichstellungsmaßnah-
men in den Medienorganisationen zurück. Die feministische Forschung hat sich
bereits sehr früh mit der Beteiligung von Frauen an der Medienproduktion be-
schäftigt. Verbunden damit ist bis heute die Diskussion, ob eine Zunahme an
Journalistinnen auch eine Veränderung des Journalismus bewirken kann. Die
Theoretisierung von Gender und Journalismus sowie die Systematisierung des
Forschungsfelds begleiten die bisherige Forschung.
S. Keil (*)
Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Sankt Augustin, Deutschland
E-Mail: Susanne.Keil@h-brs.de
J. Dorer
Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: johanna.dorer@univie.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 271
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_18
272 S. Keil und J. Dorer
Schlüsselwörter
Medienproduktion · Journalistinnen · Führungspositionen · Quotierung ·
Horizontale und vertikale Segmentation
1 Einleitung
Mit dem Begriff Medienproduktion wird im weitesten Sinn die Herstellung einer
Vielzahl unterschiedlicher Medieninhalte bezeichnet. Medieninhalte entstehen dabei
in öffentlich-rechtlichen und privaten Medienorganisationen, in Film- und Fernseh-
produktionsfirmen, Verlagshäusern, Kommunikations- und Werbeagenturen sowie
in Abteilungen für Öffentlichkeitsarbeit von Unternehmen, staatlichen Einrichtun-
gen, politischen und gesellschaftlichen Organisationen. Zudem produzieren zahlrei-
che Blogger_innen im Internet mit mehr oder weniger professionellem Anspruch
Texte, Fotos, Audios und Videos. Vor allem im Internet verschwimmen die vormals
klaren Grenzen zwischen Medienproduktion und Medienrezeption, was zu der
neuen Kategorie der Produser (Producer und User) führte.
Im Folgenden wird – wie in der Kommunikationswissenschaft üblich – eine
Fokussierung auf die Produktion von Medieninhalten durch professionelle Journa-
list_innen und die in diesem Kontext entstandenen wissenschaftlichen Befunde
vorgenommen.
Pionierarbeit hierzu leisteten Neverla und Kanzleiter (1984) mit ihrer Berufsfeld-
studie, die sich erstmals aus geschlechtssensibler Perspektive mit dem Journalismus
als Männerberuf beschäftigte. Sie erhoben für Deutschland nicht nur einen geringen
Frauenanteil von 17 %, sondern stellten auch innerhalb des journalistischen Berufs-
feldes eine horizontale und vertikale Segmentation fest. Horizontale Segmentation
meint dabei, dass Journalistinnen eher in weiblich codierten, politikfernen Ressorts
sowie in den weniger prestigeträchtigen Medien, also eher jenseits klassischer
Medien wie Rundfunk und Tageszeitungen tätig sind. Die vertikale Segmentation
bezieht sich auf die hierarchische Position und meint: Je höher und einflussreicher
die Positionen innerhalb eines Medienunternehmens sind, desto weniger Journalis-
tinnen sind dort vertreten (Neverla und Kanzleiter 1984).
Von dieser bahnbrechenden Studie gingen wichtige Impulse für die weitere
Forschung und die journalistische Praxis aus. Angeregt wurde eine bis heute aktuelle
Diskussion um Fördermaßnahmen wie Frauenquote, Frauenförderpläne und Gleich-
stellungsbeauftragte, welche zuerst in öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten
beginnend Anfang der 1990er-Jahre umgesetzt wurden. Ausgeklammert blieb vorerst
aber eine Quotendiskussion für Aufsichtsgremien. (Holtz-Bacha 1994, S. 102, 107)
Mit der Forderung nach mehr Journalistinnen in der Medienproduktion wurde auch
die Frage angestoßen, ob sich damit die Unterrepräsentanz und diskriminierende
Darstellung von Frauen in den Medieninhalten ändern würde (Keil 1992), eine
Diskussion, die heute sehr differenziert geführt wird (Keil 2001; Klaus 2005;
Lünenborg und Maier 2013; Dorer 2017).
Medienproduktion: Journalismus und Geschlecht 273
1
Eine erste vergleichende Studie aus der Geschlechterperspektive für „westliche“ Länder wurde von
Fröhlich und Lafky (2008) vorgelegt, zuvor hatte Margreth Lünenborg (1997) in ihrer Journalis-
musstudie drei europäische Länder verglichen.
274 S. Keil und J. Dorer
2
Die Anzahl der in den verschiedenen Ländern befragten Journalistinnen und Journalisten variiert
allerdings von 167 in Irland bis zu 909 Befragten in der Schweiz.
Medienproduktion: Journalismus und Geschlecht 275
Nach wie vor gibt es im Journalismus eine vertikale Segmentation, die auch oft mit
dem Begriff der „gläsernen Decke“ umschrieben wird. Als unsichtbare Barriere setzt
sie Grenzen in der Karrierelaufbahn (Fröhlich und Lafky 2008; Steiner 2014).
EU-weit beträgt der Frauenanteil an Führungspositionen in Medienorganisationen
nur knapp ein Drittel. In den höchsten Entscheidungsgremien (Vorstandsmitglieder)
sind Frauen mit nur 21 % vertreten (EIGE 2013, S. 34, 50). Dabei gelingt der
Aufstieg in öffentlich-rechtlichen Medieninstitutionen (35 %) eher als in privaten
(29 %) (EIGE 2013, S. 28). Am geringsten fällt der Frauenanteil mit 29 % bei
Zeitungen aus. (EIGE 2013, S. 29) Die länderspezifischen Unterschiede korrespon-
dieren mit der Gesamtheit des Frauenanteils in Medienorganisationen. Während ost-
und nordeuropäische Länder deutlich überdurchschnittlich viele Journalistinnen in
Führungspositionen aufweisen, liegt Österreich (30 %) knapp unter und Deutschland
(20 %) deutlich unter dem Durchschnitt der EU-Länder (EIGE 2013, S. 91).
Die Beobachtung, dass sich in Online-Redaktionen der Ein- und Aufstieg für
Frauen leichter gestaltet, weil es sich wie bei der Einführung des privaten Rundfunks
Mitte der 1980er-Jahre in Deutschland um ein neues Medium mit zunächst weniger
Prestige und weniger festgefahrenen Strukturen handelt (Bok 2013, S. 44), lässt sich
2018 anhand systematischer Erhebungen nur zum Teil bestätigen. In vier der acht
von Pro Quote untersuchten Leitmedien liegt der vom Verein berechnete Frauenan-
teil an den Machtpositionen in den Online-Publikationen über dem in den Printme-
dien, so zum Beispiel bei Stern Online mit 50,0 Prozent (Print 34,4 %) oder bei Zeit
Online mit 41,3 Prozent (Print 31,4 %). Bei den anderen vier Leitmedien, etwa beim
Spiegel und bei der FAZ, ist der sogenannte Frauenmachtanteil in den Print-Publi-
kationen etwas höher (Pro Quote 2018).
276 S. Keil und J. Dorer
Noch kaum erforscht ist die Beteiligung von Frauen in den obersten Führungs-
gremien global agierender Medienkonzerne. Die durch Konzentrationsprozesse (hori-
zontal, vertikal und diagonal) entstandenen Medienkonglomerate wie der Disney-
Konzern, die US-News Corporation oder Time Warner in den USA, Vivendi in
Frankreich und die Bertelsmann AG in Deutschland vermindern mit ihren Cross-
Ownership-Aktivitäten nicht nur den intermedialen Wettbewerb, sondern haben auch
die Medieninhalte und Arbeitsmärkte für Journalist_innen unter Kontrolle (Dorer
2017, S. 169). Nach Byerly (2014a, S. 108) sind in den zehn größten international
agierenden Medienkonzernen knapp 17 % weibliche Vorstandsmitglieder. Und sie
resümiert in ihrer detailreichen Analyse, dass der Frauenanteil in entscheidungsrele-
vanten Positionen gerade durch den Prozess der Konzentration im Zuge von Zusam-
menschlüssen der größten US- und europäischen Medienkonzerne gesunken ist. Diese
Entwicklung zeigt laut Byerly (2014b, S. 323), dass Medienkonglomerate zur Kon-
solidierung männerdominierter ökonomischer und politischer Macht beitragen und die
Teilnahme von Frauen durch die Verstärkung struktureller Barrieren behindern.
Die Gründe für diese Unterrepräsentanz in Führungspositionen sind sowohl auf
der gesellschaftlichen Ebene, der Organisationsebene als auch der individuellen
Ebene angesiedelt. Besonders häufig haben sich Studien mit Organisations- und
Redaktionskulturen beschäftigt, die wiederum von gesellschaftlichen Geschlechter-
diskursen beeinflusst sind. Als entscheidende Faktoren wurden dabei geschlechter-
stereotype Arbeitszuweisungen, fehlende Netzwerke, die zu Informationsungleich-
gewichten führen, informelle und intransparente Personalentscheidungen, männlich
codierte journalistische Standards, Kommunikationsstile und Konkurrenzrituale
ausgemacht (EIGE 2013, S. 24–36; Klaus 2005; Weish 2003; Dorer 2002; Keil
2000; Lünenborg 1997; Angerer und Lummerding 1995; Neverla und Kanzleiter
1984). Wie allerdings der Prozess des „doing gender while doing journalism“ im
Detail funktioniert, bedarf weiterer Analysen, die – laut Lünenborg (2008, S. 168) –
sowohl prozessual als auch stärker kontextgebunden sein müssten.
Als weiteren Grund für den sehr langsamen Anstieg von Journalistinnen in
Führungspositionen sieht das Europäische Institut für Gleichstellung (EIGE 2013)
im Fehlen von organisationsinternen Maßnahmen zur Gleichstellung. Dazu gehören
Gleichstellungspläne, Gleichbehandlungsbeauftragte, verbindliche Quotenregelun-
gen, Mitarbeiterschulungen in Gleichstellungsfragen, Mentoring-Programme, regel-
mäßiges Monitoring der gesetzlichen Maßnahmen sowie gesetzliche Regelungen
zur Gleichstellung am Arbeitsplatz. EU-weit kommen aber nur in etwa der Hälfte der
Medienbetriebe organisationsinterne Gleichstellungspolitiken zur Anwendung. Ein
entsprechendes Kontrollgremium oder eine Abteilung für Fragen zu Gleichstellung
und Diversity hat nur ein Viertel (EIGE 2013, S. 37). Praktische Maßnahmen wie
etwa die Installierung von Mentoring-Programmen sind nur in knapp 9 % der
Medienorganisationen zu finden (EIGE 2013, S. 40). Es zeigte sich aber, dass genau
dort, wo Gleichstellungsmaßnahmen ergriffen werden, insbesondere bei öffentlich-
rechtlichen Medienorganisationen, der Frauenanteil in Führungspositionen deutlich
höher liegt und entsprechende Gleichstellungspolitiken zur Geschlechtergerechtig-
keit im Journalismus beitragen können (EIGE 2013, S. 39–42).
Als effizient haben sich auch Initiativen von Journalistinnen in Form von infor-
mellen und organisierten Netzwerken erwiesen. Keil (2000) verweist auf die bereits
Medienproduktion: Journalismus und Geschlecht 277
Mit der Forderung nach einem höheren Frauenanteil im Journalismus war meist die
Vorstellung verbunden, dass dies zu einer anderen Berichterstattung führen würde
(Ross 2014). Eine Vorstellung, die insbesondere auch in breit angelegten internatio-
nalen Studien, wie „Women and the Media“ (EIGE 2013), dem „Global Report on
278 S. Keil und J. Dorer
the Status of Women in News Media“ (Byerly und IWMF 2011) oder dem Global
Media Monitoring Project (GMMP 2015), implizit als Subtext enthalten ist.
Die Frage „Gibt es einen weiblichen Journalismus?“ wurde Anfang der 1990er-
Jahre zuerst von Susanne Keil (1992) aufgegriffen. Diskutiert wurde, ob es Unter-
schiede im journalistischen Stil, der journalistischen Darstellungsform, in der jour-
nalistischen Herangehensweise, in der Themenselektion und -aufbereitung oder im
journalistischen Selbstverständnis gibt, ob ein „anderer Blick“ – durch unterschied-
liche Lebenspraxen und unterschiedliche Erfahrungen in Redaktionen und im Alltag
bedingt – einen Einfluss auf die Berichterstattung hätte (Keil 2001, 2002; Lünenborg
1997; Klaus 2005).
Die Beantwortung der Frage erweist sich als komplex und widersprüchlich. „Nein,
aber . . .“ lautet der Befund von Elisabeth Klaus (2005), Journalistinnen würden sich
systematisch von ihren männlichen Kollegen weder in ihrer Arbeitsweise noch in
ihrem journalistischen Selbstverständnis unterscheiden, es gäbe allenfalls manchmal
ein themen- und situationsspezifisches Abweichen von gängigen journalistischen
Praxen. Vielmehr würden sich Unterschiede in der Themenselektion und Themenbe-
handlung erst durch einen explizit feministischen Zugang von Journalistinnen und bei
manchen Themen mit explizitem Geschlechterbezug zeigen (Klaus 2005, S. 193). Die
Schwierigkeit, geschlechtsspezifische Differenzen festzumachen, liegt nicht nur im
theoretischen Zugang, der durch einen differenztheoretischen Ansatz geprägt ist,
sondern auch in der methodischen Herangehensweise. Denn in quantitativen wie auch
in qualitativen Befragungen zum Selbstverständnis und zu Arbeitsroutinen spielen
normative Vorstellungen von der journalistischen Arbeitsweise ebenso eine Rolle wie
gängige gesellschaftliche Geschlechterdiskurse, die die Befragten unbewusst reprodu-
zieren. Zudem kritisierten Lünenborg und Maier (2013, S. 87) die Fragestellung an
sich. Ihrer Meinung nach müsste heute mit einer dekonstruktivistischen Herangehens-
weise das Augenmerk auf das stete Aushandeln von journalistischen Normen und
Praktiken gelegt und einem theoretischen Ansatz des „doing gender while doing
journalism“ gefolgt werden. Im Zentrum der Fragestellung steht dann die Verbindung
zwischen geschlechtsgebundenen und professionellen Praktiken. Denn weder wird
das Geschlecht mit der Übernahme einer professionellen Rolle abgelegt noch gänzlich
überlagert, Geschlecht ist deshalb auch nicht determinierend für professionelles Han-
deln (Lünenborg und Maier 2013, S. 87).
Einen ganz anderen Ansatz, um die Frage nach der Veränderbarkeit – im Sinne
einer gendersensiblen Berichterstattung – zu beantworten, wählt Djerf-Pierre (2011).
Sie verknüpft die Metadaten des Global Media Monitoring Projekts (GMMP 2005)
mit verschiedenen Demokratie-Indices und sämtlichen international erhobenen Gen-
der-Equality-Indikatoren,3 die die Fortschritte eines Landes in Bezug auf die Gleich-
stellung messen. In Verbindung mit den GMMP-Daten zum Autorinnenanteil an der
3
Dazu gehört der Gender Gap Index des World Economic Forums, der die Gleichberechtigung in
einem Land nach mehreren Kriterien misst, der OECD-Index zum Frauenanteil in nationalen
Parlamenten, der Women’s and economics and social rights Index nach Cingranelli und Richards,
der Frauenrechte auf der gesetzlichen Ebene abbildet, und die Equality Scale nach Ingelhart und
Norris, die Einstellungen zu Geschlechterfragen misst.
Medienproduktion: Journalismus und Geschlecht 279
einem „weiblichen Journalismus“ sehen sie dem Paradigma Subjekt zugehörig. Dem
Paradigma Systemtheorie schreiben sie – wie Keil (2000) – eine beschränkte Er-
klärungskraft zu, während sie das Paradigma Kultur/Gesellschaft – und hier insbe-
sondere die Cultural Studies – für weitere Forschungsarbeiten sowohl auf der Mikro-,
Meso- und Makroebene als zukunftsweisend betrachten.
Von Interesse war anfänglich insbesondere die Frage, inwiefern soziologische
Theorien und Ansätze ein Erklärungspotenzial für die Journalismus- und Geschlech-
terforschung bereitstellen. Die Anwendung der Systemtheorie erlaube es nach Keil
(2000) zwar beispielsweise, den Handlungsspielraum von Journalistinnen und Jour-
nalisten in den Medienorganisationen auszuloten, die spezifischen Rahmenbedin-
gungen der redaktionellen Arbeit in den Blick zu nehmen und zu fragen, inwieweit
Medienproduzentinnen in Führungspositionen Einfluss auf Medieninhalte nehmen
können. Wegen der den Medienorganisationen immanenten Machtverhältnisse
erwies sich aber die Anwendung der Cultural Studies als wesentlich zielführender.
Dieser Ansatz legt den Fokus auf das kulturelle Aushandeln von Bedeutungen, mit
denen das Veränderungspotenzial von Journalistinnen in Redaktionen weit besser
analysiert werden kann (Keil 2002; Lünenborg 2001, S. 136–138).
Bourdieus Habitus-Konzept wurde von Wiebke Schoon (2009) aufgegriffen und
zuvor schon von Ulrike Weish (2003) auf das Konkurrenzverhalten in Medienre-
daktionen angewandt. Weish zeigt, dass ein geschlechterstereotyper Habitus in der
journalistischen Praxis wirksam wird, der sich in geschlechtsspezifischen Konkur-
renzstrategien und journalistischen Praxen manifestiert und Journalistinnen oft zum
Nachteil gereicht. Untersucht wurde, welche Durchsetzungsmethoden bei verschie-
denen Medien als legitim oder illegitim gelten, welche geschlechtsspezifischen
Umgangsformen es gibt und wie diese in verschiedenen Hierarchie- und Alters-
segmenten bewertet werden. Eine bedeutende Rolle spielen dabei die gesellschaft-
lichen Geschlechterzuschreibungen, die den journalistischen Habitus beeinflussen
und im Redaktionsalltag als legitimes Konkurrenzverhalten bewertet werden. Weish
gelingt es herauszuarbeiten, wie gesellschaftliche Geschlechterstereotype und ge-
schlechterdifferenter Habitus in Redaktionen ineinander greifen, aber nicht notwen-
dig deterministisch verbunden sein müssen. Denn geschlechterstereotype Zuschrei-
bung und geschlechterstereotypes Verhalten sind ambivalent. Und ein weiblich
codiertes Verhalten kann in bestimmten Situationen sogar zielführend sein (Weish
2003, S. 164–194).
Neben soziologischen Theorien waren auch die Erprobung und Anwendung
dekonstruktivistischer Verfahren für die feministische Medienforschung von Inte-
resse. Das komplexe mehrdimensionale Gender-Konzept, das von Ang und Hermes
(1994) mit einem dekonstruktivistischen Ansatz für den Rezeptionsprozess entwi-
ckelt wurde, hat Elisabeth Klaus (2002) auf den Medienproduktionsprozess ange-
wandt. Ang und Hermes unterscheiden zwischen den gesellschaftlich produzierten
Diskursen zum Geschlecht, den Geschlechterdefinitionen, den geschlechtlich zuge-
wiesenen Orten und Handlungsoptionen, den Geschlechterpositionierungen, und
den von den einzelnen tatsächlich eingenommenen geschlechtlichen Positionen,
den Geschlechteridentifikationen. Klaus (2002) macht deutlich, dass gesellschaftli-
che Geschlechterdefinitionen – wie etwa der lange Zeit vorherrschende gesellschaft-
282 S. Keil und J. Dorer
liche Konsens, Journalismus wäre ein Männerberuf und Männlichkeit mit sachlicher
Berichterstattung und Professionalität untrennbar verbunden – eine bedeutende
Rolle im Professionalisierungsprozess spielten. Als Ausdruck der Geschlechterpo-
sitionierungen im Mediensystem macht sie den nach wie vor geringen Frauenanteil
in Leitungspositionen sowie die Positionszuweisung von Journalistinnen zu weib-
lich codierten und von Journalisten zu den prestigeträchtigen Ressorts aus. Mit dem
Begriff der Geschlechteridentifikationen diskutiert Klaus (2002) die verschiedenen
Handlungsmöglichkeiten und Selbstpositionierungen von Journalistinnen in Medi-
enredaktionen im Rahmen vorgegebener Redaktionsstrukturen.
Die Dichotomisierung von informationsorientierten und unterhaltungsorientier-
ten Genres im Journalismus, versehen mit entsprechender Wertigkeit, ist eine Kon-
struktion der Mainstreamforschung. Mittels dekonstruktivistischen Verfahrens hat
Klaus (2008) diesen gängigen Dualismus von Information und Unterhaltung als
wissenschaftliches Artefakt entlarvt. Sie kritisiert nicht nur die explizite Hierarchisie-
rung, die Information höher als Unterhaltung einstuft, sondern auch die Verknüpfung
mit der Geschlechterkategorie. Empirischen Befunden der Nutzungsforschung, die die
Informationsorientierung von Männern und die Unterhaltungsorientierung von
Frauen belegen würden, weist Klaus grundlegende wissenschaftliche Mängel in
der Kategorienbildung nach. Verletzt wurden die für die Kategorienbildung maßge-
blichen Faktoren Ausschließlichkeit, Eindeutigkeit und Vollständigkeit. Indem
Klaus den Dualismus von Information und Unterhaltung und seine geschlechter-
hierarchischen Zuschreibungen dekonstruiert, markiert sie zugleich eine Neukon-
zeption von informationsorientiertem und unterhaltungsorientiertem Journalismus
bzw. seiner Mischformen (Klaus 2008).
Zur Theoretisierung feministischer Erforschung der Medienproduktion legt
Johanna Dorer (2017, S. 172–175) ein Drei-Ebenen-Modell vor, das das Ineinan-
dergreifen der Ebene der gesellschaftlichen Diskurse, der Ebene des Medien-/Jour-
nalismusdispositivs und der Ebene der redaktionellen Praxen in den Mittelpunkt der
Analyse stellt. Es geht dabei um eine theoretische Einbettung bisheriger und zukünf-
tiger Medienproduktionsforschung. Auf der Ebene der gesellschaftlichen Diskurse
sind Fortschritte von Gleichberechtigung in einer Gesellschaft, Wirk- und Mobili-
sierungskraft feministischer Bewegungen, Vernetzung feministischer Aktivitäten
oder Spill-over-Effekte aus queer-/feministischen Öffentlichkeiten in Mainstream-
Medien zu analysieren. Ziel ist es, die Wechselwirkungen zwischen den Kontinuitä-
ten bzw. Brüchen in gesellschaftlichen Geschlechterdiskursen und den Geschlechter-
und Diversitätsaspekten im Journalismus sowie in Medienorganisationen und global
agierenden Medienkonzernen/Medienkonglomeraten zu erfassen. Auf der Ebene des
Medien-/Journalismusdispositivs geht es darum, die Relevanz, den Relevanzverlust
bzw. die Bedeutungsverschiebung von Journalismus durch gesellschaftliche Verän-
derungen, politische, medienpolitische und juristische Maßnahmen mit Geschlech-
teraspekten in Medien und Medienredaktionen in Beziehung zu setzen. Unter
Einbeziehung von unterschiedlichen journalistischen Kulturen und unterschiedli-
chen ökonomischen Rahmenbedingungen der Medienproduktion in verschiedenen
Ländern/Regionen sind die Auswirkungen auf die Medienproduktion nach Diffe-
renzkriterien wie Geschlecht, Ethnizität, Queerness etc. zu analysieren. Auf der
Medienproduktion: Journalismus und Geschlecht 283
Ebene redaktioneller Praxen, die die Re- und Dekonstruktion der Prozesse von
doing gender (doing ethnicity, doing diversity) umfasst, geht es um die Selbstposi-
tionierung von Journalist_innen im Produktionsprozess. Diese ist mit institutionellen
Arbeitsabläufen und journalistischen Routinen sowie mit gesellschaftlichen Diskur-
sen und Zuschreibungspraxen, was als männlich und weiblich zu gelten hat, zu
kontextualisieren. Dazu gehört auch die Dekonstruktion journalistischer Werte und
Normen wie etwa Objektivität, Neutralität sowie standardisierter Handlungsabläufe,
wie sie etwa durch Selektionsvorgaben und Rechercherichtlinien in Redaktionen
vorzufinden sind.
4 Fazit
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286 S. Keil und J. Dorer
Romy Fröhlich
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
2 Feminisierung der PR – Zur Komplexität von Begrifflichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
3 Studien der deutschsprachigen Forschung zur Feminisierung der PR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
4 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
Zusammenfassung
Die frühen Arbeiten der deutschsprachigen PR-Feminisierungsforschung erweisen sich
im Rückblick als starker Impulsgeber für die allgemeine PR-Berufsfeldforschung in
Deutschland, Österreich und der Schweiz. Mittlerweile hat sich die deutschsprachige
PR-Geschlechterforschung von den angloamerikanischen Vorbildern emanzipiert und
kann auf eine eigenständige Forschungstradition zurückblicken. Der Beitrag skizziert
die wichtigsten Etappen und Erkenntnisse dieser Entwicklung und kontrastiert sie, wo
sinnvoll und nötig, mit der entsprechenden angloamerikanischen Forschung.
Schlüsselwörter
PR-Berufsfeldforschung · Geschlechterforschung · Feministische Ansätze ·
Feminisierung · Gender-switch · Doing gender · Horizontale und vertikale
Segmentation
R. Fröhlich (*)
Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung, LMU München, München,
Deutschland
E-Mail: romy.froehlich@ifkw.lmu.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 287
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_46
288 R. Fröhlich
1 Einleitung
1
Der von Bentele et al. 2015 ermittelte Frauenanteil von 57 % repräsentiert lediglich die Rücklauf-
quote aus der Befragung der Autoren. Außerdem sind Befragungen von Mitgliedern berufsständi-
scher Vereinigungen nicht repräsentativ für das Berufsfeld insgesamt. Die überwiegende Zahl der
Studien wählt aber genau diesen Feldzugang, weil sich damit der Rekrutierungsaufwand in Grenzen
hält.
Berufsfeld Öffentlichkeitsarbeit/PR und Geschlecht 289
Was wird unter der ‚Feminisierung‘ des PR-Berufsfelds verstanden? Zunächst muss
man zwischen quantitativer und qualitativer Feminisierung unterscheiden. Fröhlich
(2015, S. 670) bestimmt quantitative Feminisierung eines Berufsfelds als „die
Entwicklung einer überdurchschnittlich starken quantitativen Zunahme weiblicher
Berufstätiger. Als Referenzebene für ‚überdurchschnittlich‘ können dabei (. . .) ent-
weder Vergleiche mit entsprechenden Feminisierungsentwicklungen in der Arbeits-
welt allgemein oder speziell mit entsprechenden Entwicklungen in ähnlichen oder
vergleichbaren Berufen dienen.“ Wie Fröhlich zeigt, verläuft die quantitative Femi-
nisierung der PR in Deutschland in diesem Sinne tatsächlich überdurchschnittlich.
Ihren Recherchen zufolge hat in keinem anderen Berufsfeld und damit auch in
keinem anderen vergleichbaren Beruf wie z. B. dem Journalismus in den letzten
Jahrzehnten der Anteil weiblicher Berufstätiger so stark zugenommen wie in der PR.
Als qualitative Feminisierung der PR definiert Fröhlich (2015, S. 671) „Entwick-
lungen und Phänomene (. . .), die sich als Folge der rein quantitativen Feminisierung
eines Berufsfeldes unter inhaltlichen, handwerklichen oder berufsständischen
Aspekten zeigen und ergeben wie z. B. die (mögliche) Veränderung organisationaler
Prozesse, der Abläufe, Handlungsweisen oder des Verhaltens (. . .), die (mögliche)
Entstehung eines neuen Berufsverständnisses, die Herausbildung neuer/anderer
ethischer Handlungsüberzeugungen usw. Qualitative Feminisierung steht also für
die (beobachtbaren oder angenommenen) Veränderungen in der Anwendung und
Ausübung eines Berufs, wenn dieser einen deutlichen Anstieg des Anteils von
Frauen unter den Beschäftigten verzeichnet“.
In der US-amerikanischen PR-Berufsfeldforschung wurde die qualitative Femi-
nisierung der PR erstmals Anfang der 1990er-Jahre thematisiert und hierzu eine
optimistische Perspektive entwickelt. Im Fokus stand die These, dass Frauen im
Vergleich zu Männern über bessere kommunikative Kompetenzen verfügten, wovon
das PR-Berufsfeld nur profitieren könne. In der Folge erschienen zahlreiche theore-
290 R. Fröhlich
tische Arbeiten, die die quantitative Feminisierung der PR mit der These von der
qualitativen Verbesserung des Handelns und Verhaltens der PR-Branche insgesamt
in Verbindung brachten (z. B. Aldoory 1998, 2005; Aldoory und Toth 2002; O’Neil
2003). Die Vertreterinnen dieser Sichtweise gehen davon aus, dass es so etwas wie
ein typisch „weibliches Kommunikations- und Handlungsverhalten“ gibt, das inso-
fern für den PR-Beruf von großem Vorteil ist, da es hier um Konfliktvermeidungs-
und -reduktionskompetenz, um ausgleichende und wertschätzende Kommunikation,
um Beschwichtigung und Kompromiss geht. Frauen, so die These, würden das
besser beherrschen als Männer, deren Kommunikation und Verhalten/Handeln eher
auf Wettbewerb und Dominanz ausgerichtet seien. Die quantitative Feminisierung
der PR verschaffe also „feminist values“ den Durchbruch im Berufsfeld (Grunig
et al. 2000), wodurch es zu einem qualitativ aufgewerteten, ethischeren PR-Handeln
komme, das intendierte persuasive Wirkungen von PR besser, schneller und nach-
haltiger erreichen könne als männlich geprägte PR (Hon et al. 1992; Creedon 1991).
Hon (1995) sprach in diesem Zusammenhang von einer „feminist theory of women
in public relations“, Grunig et al. (2000, S. 63) von der „revolution of the heart“.
Damit wurde den bis dahin überwiegend negativ interpretierten Folgen der quanti-
tativen Feminisierung eine explizit positive Perspektive entgegengesetzt. Diese
frühen theoretischen Ansätze der US-amerikanischen Forschung zur qualitativen
Feminisierung der PR wurden dort nicht wirklich weiterverfolgt. Einige empirische
Studien der US-amerikanischen Forschung belegten aber, dass Frauen und Männer
in den PR zum Teil sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Beruf haben und auch
unterschiedliche Erfahrungen mit und im PR-Beruf machen (z. B. Krider und Ross
1997; Aldoory und Toth 2004; Choi und Hon 2002; Andsager und Hust 2005). Ohne
es explizit zu benennen, lieferten diese Studien damit erste Hinweise auf Doing
gender-Prozesse, wonach das soziale Geschlecht nicht als eine biologisch vorgege-
bene, unveränderbare Eigenschaft, sondern als das Produkt performativer Tätigkei-
ten, gesellschaftlicher Zuschreibungen, kultureller Normen etc. verstanden wird und
diese die Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung beeinflussen.
Die quantitative Feminisierung hat bisher weder in den USA noch im deutschsprachi-
gen Raum zu einer gleichberechtigten Verteilung der Geschlechter auf unterschiedlichen
Hierarchiestufen geführt. Obwohl PR-Frauen die Mehrheit im Berufsfeld stellen, schei-
nen sie im Laufe ihrer Berufskarriere an die sogenannte gläserne Decke (glass ceiling)
zu stoßen. Die gesellschaftlichen, organisationalen und strukturellen Ursachen für die
unsichtbare Barriere sind für die Betroffenen selbst oft schwer zu identifizieren. Diese
vertikale Arbeitsmarktsegmentation zeigt sich beispielsweise bei den 30 Dax-Un-
ternehmen, die nur zu 10 % Kommunikationschefinnen haben (Ernst 2013).
Darüber hinaus hat die quantitative Feminisierung der PR bisher auch nicht zu einer
gleichberechtigten Verteilung der Geschlechter über unterschiedliche Teilsegmente
des Berufsfelds geführt. Diese horizontale Segmentation zeigt sich z. B. bei
PR-Agenturen im Vergleich zu PR-Abteilungen in Unternehmen: PR-Frauen arbeiten
Berufsfeld Öffentlichkeitsarbeit/PR und Geschlecht 291
2
Laut aktuellster Erhebung von Bentele et al. (2015) beträgt in Deutschland der pay-gap zwischen
PR-Frauen und -Männern brutto € 20.000/Jahr. Er lässt sich datenanalytisch nicht allein durch
höhere Teilzeitquoten, niedrigeres Alter und niedrigere Positionen bei Frauen erklären (vgl. auch
Fröhlich et al. 2005, S. 86–98). Dieser Unterschied hat sich im Laufe der letzten zehn Jahre kaum
verändert. Hassenstein (2016) konnte zeigen, dass Alter, Berufserfahrung und Leitung bei männ-
lichen Pressesprechern den größten Einfluss auf die Höhe ihres Einkommens haben, bei Presse-
sprecherinnen dagegen nicht. Zum gender pay-gap im britischen Berufsfeld siehe CIPR 2018, CIPR
& WIPR 2017, PRCA 2018.
292 R. Fröhlich
empirische Studien, anhand derer man erkennen kann, dass sich das deutschspra-
chige Feld vom angloamerikanischen zu emanzipieren begann.
3
Ähnlich kritisch äußert sich auch Fitch (2015). Sie verbindet feministische PR-Feminisierungs-
ansätze mit Makro-Ansätzen zur Funktion von PR für und in modernen Gesellschaften und grenzt
die feministisch orientierte PR-Berufsfeldforschung ab zu patriarchalen und kapitalistischen Ideo-
logien theoretischer und angewandter PR.
Berufsfeld Öffentlichkeitsarbeit/PR und Geschlecht 293
nur die Sichtweise der „first world notions of equality“ (S. 390) zuließen. Golom-
bisky (2015) schlägt vor, die Perspektive von ‚gender equality‘ hin zu ‚social justice‘
zu ändern. Die Perspektive der sozialen Gerechtigkeit, so die Autorin, böte viel eher
die Möglichkeit einer umfassenderen Betrachtung von Menschen und Publika – nun
auch unter intersektionalen Aspekten (Alter, Ethnie, Geschlecht, sexuelle Orien-
tierung etc.) – und schließe darüber hinaus auch die Betrachtung von PR als
berufliche Praxis, als wissenschaftliche Disziplin und als soziales Phänomen mit
ein. Zugleich warnt sie davor, hierbei ein allzu europäisches Verständnis von sozialer
Gerechtigkeit zugrunde zu legen, was einmal mehr zur Exklusion von Sichtweisen
aus anderen Regionen der Welt führen würde.
Demgegenüber hat die deutschsprachige PR-Feminisierungsforschung schon
deutlich früher die theoretischen Lücken der angloamerikanischen Forschung
benannt und entsprechende theoretische Ansätze entworfen. Bereits zur Jahrtausend-
wende entwickelte Fröhlich (2001, 2002, 2004, 2015; Fröhlich et al. 2005,
S. 140–158) ihre These zur „Freundlichkeitsfalle“, in der sie speziell die Annahmen
der US-amerikanischen Forschung über die (vermeintlich) besseren Kommunika-
tionstalente von PR-Frauen im Vergleich zu PR-Männern auf den Prüfstand stellte
und sich kritisch mit den Behauptungen zu ‚feminist values in PR‘ und zur ‚revo-
lution of the heart‘ auseinandersetzte. Der Ansatz der „Freundlichkeitsfalle“ geht
nicht von ‚natürlich‘ gegebenen weiblichen Fähigkeiten aus, sondern davon, dass es
der geschlechtsspezifische Mythos von den vermeintlich besseren Kommunikations-
fähigkeiten von Frauen ist, der PR-Praktikerinnen unvorteilhafte Stereotypisierun-
gen zuschreibt und so zu Diskriminierungen führt. Wer zulässt, dass man ihr eine
bessere Kommunikationsfähigkeit als Männern zuschreibt – unabhängig von den
tatsächlichen Fähigkeiten – und wer sich dann auch zulange darauf verlässt, dass
diese Fremdzuschreibung einen Qualifikationsvorsprung gegenüber männlichen
Kollegen darstellt, geht in die Falle dieses spezifischen Doing-gender-Prozesses:
Die zugeschriebenen und möglicherweise in der Sozialisation erworbenen Fähigkei-
ten mögen vielleicht beim Einstieg helfen, werden aber beim Verbleib im Beruf und
Aufstieg zu einem Nachteil, „wenn der ‚weiche‘ Kommunikationsstil von Frauen
(. . .) mit mangelnder Durchsetzungs- und Konfliktfähigkeit oder schwach ausgebil-
deten Führungsqualitäten gleichgesetzt wird – ein Effekt, den ich als ‚Freundlich-
keitsfalle‘ bezeichne: Die betroffenen Frauen müssen und können ohne Probleme
den zunächst an sie gestellten Erwartungen gerecht werden, und zwar nicht zuletzt
auch deshalb, weil diese externe Erwartungshaltung durchaus auch ihrer eigenen
entspricht (. . .). Sie verlassen sich dann aber wohl zu lange Zeit darauf, dass es
gerade ihre geschlechtsspezifischen kommunikativen Fähigkeiten sind, die ihnen das
Fortkommen in Kommunikationsberufen sichern.“ (Fröhlich 2002, S. 240)
Zum beschriebenen Doing-gender-Prozess durch Umkodierung dürfte es vor
allem in hoch kompetitiven Aufstiegsszenarien für Führungs- und Leitungspositio-
nen kommen. Das an und für sich ‚freundliche‘ Stereotyp von der besonderen
kommunikativen Begabung wirkt bei Frauen möglicherweise als Innovations- und
Entwicklungsbremse, denn es zementiert bestehende gesellschaftliche und berufli-
che Verhaltenserwartungen an Frauen und erschwert als dominante geschlechterste-
reotype Erwartungshaltung Veränderungen im weiblichen Selbstkonzept. Umge-
294 R. Fröhlich
Die Kritiken von Röttger und Lüdke sowie die theoretischen Arbeiten von Dorer
und Fröhlich haben der deutschsprachigen PR-Feminisierungsforschung den Weg
für alternative Betrachtungsweisen und Fragestellungen geebnet, die in der anglo-
amerikanischen Forschung bis dahin nicht vorkamen und z. T. bis heute dort nicht
verfolgt werden – obwohl diese zunehmend international veröffentlicht wird. Es gibt
aber erste Hinweise darauf, dass die neuere international publizierte Forschung
deutschsprachiger Autorinnen mit neuen Erkenntnisinteressen und neuen Fragestel-
lungen mittlerweile die angloamerikanische Forschung inspiriert. Denn kürzlich
schreiben Fitch et al. (2016): „(. . .) the numerical dominance of women has contri-
buted to particular conceptualizations of public relations expertise and a highly
gendered occupational identity“ (S. 283) – allerdings ohne den theoretischen Tief-
gang, den bis dahin die deutschsprachige PR-Geschlechterforschung bereits vorge-
legt hatte.
4
Dozier et al. (2007) bestätigen das für die USA; zur Situation in Australien vgl. Surma und
Daymon (2014).
298 R. Fröhlich
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Medieninhalte:
Geschlechterrepräsentationen
und -(de)konstruktionen
Martina Thiele
Inhalt
1 Einleitung: Medieninhaltsforschung in der Kommunikations- und
Medienwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
2 Theoretische Positionen: realistische und konstruktivistische
Medieninhaltsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
3 Geschlecht und Geschlechterverhältnisse: Frauen* zählen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
4 Doing gender und De-Konstruktion – methodologische Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . 307
5 Thematische Schwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
Zusammenfassung
Medieninhalte sind ein wichtiger Gegenstand der Gender Media Studies. Kriti-
siert werden aus feministischer Perspektive zum einen die Unterrepräsentanz von
Frauen* in den Medien sowie die Art und Weise der medialen Konstruktion und
Reproduktion von Geschlechterunterschieden, zum anderen die Themenauswahl
und -gewichtung. Trotz des hohen Stellenwerts, den Medieninhalte für die Kom-
munikations- und Medienwissenschaft haben, gibt es kaum Metaanalysen, die
systematisch erfassen, welche Themen und Inhalte mittels welcher Methoden
untersucht werden. Das gilt auch für die Medieninhaltsforschung der Gender
Media Studies. Explorativ und ausgehend von erkenntnis- und geschlechtertheo-
retischen Positionen lassen sich thematische Schwerpunkte – von Arbeit und
Beruf über Sexualität und Körper, Gewalt und Krieg, Ethnizität und Migration bis
zu Gender als Metadiskurs – identifizieren, die innerhalb der Forschung zu
Geschlecht in den Medien gesetzt wurden.
M. Thiele (*)
Institut für Medienwissenschaft, Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland
E-Mail: martina.thiele@uni-tuebingen.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 303
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_19
304 M. Thiele
Schlüsselwörter
Repräsentation · Realismus und Konstruktivismus · Inhaltsanalyse ·
Diskursanalyse · Unterrepräsentanz · Stereotypisierung · Intersektionalität
1
Im deutschsprachigen Raum ist nicht nur die stärker sozialwissenschaftlich orientierte Kommuni-
kationswissenschaft als Kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung (Klaus 1998)
mit dem Zusammenhang von Kommunikation, Medien, Öffentlichkeit und Geschlecht befasst,
sondern auch die geistes- und kulturwissenschaftlich verortete Medienwissenschaft. Ich verwende
die Bezeichnung Gender Media Studies (Lünenborg und Maier 2013), um die disziplinäre Tren-
nung zwischen Kommunikations- und Medienwissenschaft aufzuheben und zugleich transdiszipli-
näre wie transnationale Perspektiven zu ermöglichen.
Medieninhalte: Geschlechterrepräsentationen und -(de)konstruktionen 305
2
„In den Medien“ meint immer zweierlei: zum einen die Zahl der in Medienunternehmen und
-organisationen beschäftigten Personen, zum anderen die in gedruckten und online verfügbaren,
z. T. audiovisuellen Medien zu sehenden, zu hörenden und erwähnten Personen, d. h. die in den
Medien vorkommenden, medial repräsentierten Personen. Um sie geht es hier.
Medieninhalte: Geschlechterrepräsentationen und -(de)konstruktionen 307
scher Forschung und im Sinne des Gleichheits- und Differenzansatzes (Klaus 1998,
2020) bezogen sich im deutschsprachigen Raum zumeist auf Printmedien, Tages-
zeitungen ebenso wie Publikumszeitschriften (Langer El-Sayed 1971; Ulze 1977;
Schmerl 1989; Röser 1992) und das öffentlich-rechtliche Fernsehen (Küchenhoff
1975; Leinfellner 1983), später dann auch auf öffentlich-rechtliche und privat-
kommerzielle TV-Programme im Vergleich (Weiderer 1993), seltener ausschließlich
auf Geschlechterrepräsentationen im Hörfunk (Prenner 1995; Werner und Rinsdorf
1998; Cornelißen und Grebel 1999). Ab dem Jahr 2000 kommen Untersuchungen zu
Geschlechterrepräsentationen in Onlinemedien und mit der Etablierung des Web 2.0
in sogenannten Sozialen Medien hinzu. Insgesamt hat die Vervielfältigung des
Medienangebots zu mehr Medieninhaltsforschung geführt, gerade auch Geschlech-
terverhältnisse in digitalisierten Öffentlichkeiten sind Gegenstand der Forschung.
Aufmerksamkeit erlangte zuletzt die im Auftrag der MaLisa-Stiftung und ver-
schiedener öffentlich-rechtlicher wie privat-kommerzieller Sender durchgeführte
Studie Rostocker Forscher*innen mit dem Titel Ausgeblendet (Prommer und Linke
2019). Ihr ist zu entnehmen, dass auch 44 Jahre nach der Veröffentlichung der
Küchenhoff-Studie Frauen* und Mädchen* im deutschen Fernsehen und in Kino-
filmen deutlich unterrepräsentiert sind – obwohl in manchen Bereichen leichte
Verbesserungen im Sinne quantitativer Angleichung und qualitativer Differenzie-
rung zu konstatieren sind.
Zu ähnlichen Ergebnissen gelangen internationale Vergleichsstudien wie das seit
1995 alle fünf Jahre durchgeführte Global Media Monitoring Project. Erste Ergeb-
nisse des Erhebungsjahres 2020 bestätigen die quantitative Stagnation bei rund 25 %
Frauenanteil im globalen Durchschnitt. Ebenso zeigt die Auswertung der Krisen-
Berichterstattung während der Covid-19-Pandemie, dass Frauen* als Expert*innen
wie als Betroffene seltener zu Wort kommen. Wenn nur eine von drei Gesundheits-
expert*innen in den Fernsehnachrichten weiblich ist, spiegelt das gleichermaßen die
vertikale Segmentation im Gesundheitswesen wie den medialen gender bias wider.
(GMMP 2020)
Die hier genannten Studien haben zumeist ein inhaltsanalytisches Vorgehen
gewählt, das neben Aussagen zur Quantität des Vorkommens von Frauen*
und Männern* in verschiedenen Medien, Gattungen und Genres sowie beruflichen
Kontexten auch Aussagen zum „Wie“ der Darstellung, zu Geschlechterrollen und
-stereotypen enthält. Kritisiert wird neben der Unterrepräsentanz und „Annihillierung“
(Tuchman 1980) von Frauen* das enge Rollenspektrum, in dem sie im Vergleich zu
Männern* gezeigt werden, sowie die Trivialisierung und Stereotypisierung (siehe
auch Thiele 2019).
Die Entwicklung von der Frauen- über die Geschlechterforschung zu den Gender-
and Queer-Studies sowie die damit einhergehenden Theoriedebatten über doing
gender und Heteronormativität in den 1990er-Jahren haben sich auch auf die
feministische Medieninhaltsforschung ausgewirkt. Zunehmend kritisiert wurde die
308 M. Thiele
5 Thematische Schwerpunkte
In einem Rückblick auf „Zwanzig Jahre Gender- und Queertheorien in der Kom-
munikations- und Medienwissenschaft“ gehen die Autor*innen zwar nicht direkt auf
Medieninhalte ein, nennen aber die Öffentlichkeits-, die Unterhaltungs-, die Popu-
lärkultur- und die Journalismusforschung als diejenigen Bereiche, in denen die
Gender Media Studies ertragreich und innovativ gewirkt haben. (Klaus und Lünen-
borg 2011, S. 101–102) Seitdem sind zehn Jahre vergangen; Medienwandel und
gesellschaftlicher Wandel, Digitalisierung und Globalisierung forcieren die Bearbei-
tung neuer Themenbereiche in den Gender Media Studies und damit eine Erweite-
rung des Spektrums. Zugleich erweisen sich bestimmte Fragestellungen und The-
men – etwa das Missverhältnis in der medialen Repräsentation von Frauen* und
Männern*, Intersektionalität sowie die Dekonstruktion sozialer Kategorien – als
anhaltend relevant.
3
So verwendet Stuart Hall (1999) den Begriff „discourse“ im encoding-decoding-Modell und
spricht vom TV-Programm als „meaningful discourse“.
Medieninhalte: Geschlechterrepräsentationen und -(de)konstruktionen 309
Aus der Sichtung der einschlägigen Forschungsliteratur sowie der Nutzung von
Datenbanken und Bibliografien ergeben sich im Wesentlichen fünf Themenbereiche,
die verschränkt mit der Kategorie Geschlecht medieninhaltsanalytisch untersucht
werden. Das ist zunächst 1. Arbeit und Beruf, 2. Alter, Körper, (Dis-)ability,
sexuelles Begehren sowie 3. Ethnizität und Migration, weiters 4. Kriege, Krisen,
Kriminalität und Gewalt und schließlich 5. Feminismus- und Gender-Diskurse als
publizistische Meta-Diskurse. Diese Themenbereiche sind nicht trennscharf und
auch nicht umfassend. Zudem können hier nur einzelne Studien, Ergebnisse und
Tendenzen der feministischen Medieninhaltsforschung kurz referiert werden.
Ein bis heute gültiges Ergebnis lautet, dass Berufstätigkeit, Reproduktionsarbeit und
Mehrfachbelastung von Frauen* in den Medien, in fiktionalen wie non-fiktionalen
Mediengenres und in der Werbung, zu wenig sowie zu einseitig und stereotyp
thematisiert werden. Statt die Vielfalt an Berufen, bezahlten und unbezahlten Tätig-
keiten, die Frauen* ausüben, zu zeigen und Probleme wie ungleiche Bezahlung und
Aufstiegschancen anzusprechen, findet vor allem in fiktionalen Medienangeboten
eine Fokussierung auf einige wenige Berufe statt, die dann als „typische“ Frauen-
und Männerberufe gelten. Dieser Befund weckt das Interesse an der Ausnahme von
der Regel und damit an den Ausnahme- und Spitzenfrauen in klassischen Männer-
domänen bzw. Berufen, die lange Zeit Männern* vorbehalten waren. Analysiert
werden Quantität und Qualität der medialen Repräsentation von Politikerinnen,
Unternehmerinnen, Wissenschaftlerinnen, Journalistinnen, Kommissarinnen, Ärz-
tinnen, Sportlerinnen etc. – die journalistische Berichterstattung über reale Personen
ebenso wie ihr Vorkommen in fiktionalen Genres (für einen Überblick siehe Thiele
2015, S. 315–366).
Untersucht werden im neuen Jahrtausend insbesondere die medialen Diskurse
über Macht und Geschlecht am Beispiel prominenter, im Rampenlicht stehender
Politiker*innen. So gibt es Studien zu Angela Merkel oder Ségolène Royal (Lünen-
borg et al. 2009; Nieland 2009; Coulomb-Gully 2009), zu SPD-Spitzenkandidat-
innen bei Landtagswahlen (Beck 2016), zu Präsidentengattinnen, die öffentlich als
„Assistentin“, „Aktivistin“ oder „apolitisches Accessoire“ auftreten (Seggelke 2009)
oder auch zu Politikerinnen wie Hillary Clinton, die unterschiedliche Ämter und
Rollen übernommen hat (Riesmeyer und Thiele 2018). Die Studien belegen: Die
häufig aufgestellte Behauptung, dass Geschlecht nebensächlich sei im Politik-
geschäft und nur Kompetenz zähle, ist nicht zutreffend. Vielmehr gilt: „Ein Politiker
ist einfach ein Politiker; eine Politikerin ist jedoch aus Sicht der Journalisten immer
auch eine Frau.“ (Drinkmann und Cabarello 2007, S. 201) Die De-Thematisierung
von Geschlecht, ein undoing gender, nützt Politikerinnen nicht.
Mit dem Wandel der medialen Repräsentation von Macht und Geschlecht in
gleich drei gesellschaftlich relevanten Bereichen beschäftigen sich Margreth Lünen-
borg und Jutta Röser (2012) in ihrer Studie Ungleich mächtig. Konkret untersuchen
sie auf einer breiten empirischen Basis quantitativ und qualitativ das Gendering von
310 M. Thiele
Mit der Etablierung der Gender Studies in der akademischen Ausbildung und
Forschung setzt eine Auseinandersetzung mit dieser (Teil-)Erfolgsgeschichte sowie
der feministischen Bewegungsgeschichte ein, die zugleich die zunehmenden An-
griffe gegen Gender-Forscher*innen und -aktivist*innen sowie den publizistischen
Anti-Genderimus (Hark und Villa 2015; Aigner und Lenz 2019) reflektiert. Dieser
Meta-Diskurs ist wiederum Gegenstand inhalts- und diskursanalytischer Medien-
Studien. So untersucht Eva Flicker (2008) den „Diskurs ‚Frauenbewegung‘ in den
Medien“, Imke Schmincke „Die neue Fraubewegung in den Medien“ (2019), Fran-
ziska Rauchut „mediale Interventionen in die Feminismus-Debatte“ (2018a) und die
„journalistische Gender-Gegnerschaft“ (2020).
Viele weitere Studien wären zu erwähnen, in denen es um publizistische Kontro-
versen über die Gender Studies, die Zahl der Professuren mit Gender-Studies-
Denomination, um geschlechtergerechte Sprache, mehr Diversität in den Medien
oder „Political Correctness und Cancel Culture“ (Thiele 2021) geht. Die publizisti-
schen Kontroversen darüber werden in der Kommunikations- und Medienwissen-
schaft sowie in den Fachzeitschriften und tagesaktuellen Medien geführt. Auch die
Medieninhalte: Geschlechterrepräsentationen und -(de)konstruktionen 313
6 Fazit
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Werbung und Gender-Marketing
Christina Holtz-Bacha
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322
2 Werbeinhalte und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
3 Rezeption und Wirkung von Geschlechterdarstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
4 Gender-Marketing und Femvertising . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
Zusammenfassung
Untersuchungen aus unterschiedlichen Kulturkreisen bestätigen die stereotype
Darstellung von Weiblichkeit und Männlichkeit in der Werbung. Zwar zeigt sich
im Laufe der Zeit eine Erweiterung des Rollenrepertoires der werblichen Reprä-
sentation von Frauen, dennoch sind in den Werbebildern weiterhin Stereotypen
und Diskriminierungen von Frauen allgegenwärtig, die Abhängigkeit und Unter-
ordnung signalisieren. In Wirkungsstudien sind vor allem Effekte kurzfristiger
Art nachgewiesen worden. Langfristige Untersuchungen, die Sozialisierungs-
effekte nachweisen können, sind selten.
Schlüsselwörter
Werbung · Gender-Marketing · Gender · Geschlechterrollen · Femvertising
C. Holtz-Bacha (*)
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Nürnberg, Deutschland
E-Mail: christina.holtz-bacha@fau.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 321
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_47
322 C. Holtz-Bacha
1 Einleitung
Die Darstellung von Frauen in der Werbung und ihre Kritik gehört zu den ersten
Untersuchungsfeldern der Frauen- und Geschlechterforschung. Im Zuge der Zweiten
Frauenbewegung der 1970er-Jahre entstanden die ersten Inhaltsanalysen, die dann in
der Folge bis in die 1980er- und Anfang 1990er-Jahre das überholte Frauenbild in
der Werbung massiv kritisierten. Erst in jüngster Zeit wurde die geschlechtsspezi-
fische Forschung zur Werbung insbesondere in Hinblick auf Gender-Marketing und
Femvertising wieder aufgenommen.
Werbung ist strategische Kommunikation mit dem Ziel, das beworbene Produkt
oder – bei politischer Werbung – Ideen zu verkaufen. Da aber Kaufverhalten selten
direkt zu beeinflussen ist, führt der Weg über die Änderung von Wissen, Meinungen
und Einstellungen. Das Interesse der Werbewirkungsforschung gilt dann auch pri-
mär dem auf dieses Ziel gerichteten Persuasionsprozess. Sie liefert Erkenntnisse
darüber, wie Werbung inhaltlich und formal am besten zu gestalten ist, um die
Wahrscheinlichkeit des Kaufs oder der Wahlentscheidung zu erhöhen. Über die
Beeinflussung der Kaufentscheidung hinaus hat Werbung indessen „Nebenwirkun-
gen“ und nimmt Einfluss auf Wissen, Meinungen, Einstellungen und Verhalten, die
nicht unmittelbar mit dem beworbenen Produkt zu tun haben, wohl aber das Image
des werbenden Unternehmens beeinflussen können. Um Resonanz zu erzeugen,
muss sich Werbung den kulturellen Mustern, Werten und Ideen ihres Publikums
anpassen, weil dieses sich sonst nicht angesprochen fühlt und sich nicht mit den
Situationen und Personen der Werbung identifizieren kann.
Schmidt (1995, S. 41) nennt Werbung daher einen Indikator für den kulturellen
Wandel der Gesellschaft. Werbung ist aber auch ein Faktor gesellschaftlichen Wan-
dels. Sie übernimmt eine Orientierungsfunktion, indem sie Wert- und Normvorstel-
lungen sowie Verhaltensvorbilder vermittelt. Sie stellt „Wunsch- und Distinktions-
potenziale zur Verfügung“ (Zurstiege 2002, S. 129) und arbeitet so bei der sozialen
und individuellen Bewusstseins- und Identitätsbildung mit. Denn mit der Abkehr
von der schlichten Ankündigung zur Verfügbarkeit bestimmter Waren, wie sie die
Frühzeit moderner Wirtschaftswerbung etwa ab 1850 charakterisierte, beginnt Wer-
bung bald, Geschichten zu erzählen, und zielt auf Hoffnungen, Wünsche und
Träume, die sich mit Hilfe der beworbenen Produkte verwirklichen lassen. Werbung
erfüllt also damit auch eine Sozialisations- und Vorbildfunktion und ist Teil der
individuellen wie auch gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit.
Die Analyse von Werbung geschieht also immer vor dem Hintergrund ihrer
Doppelrolle in einer die Gesellschaft reflektierenden und auf diese wiederum zu-
rückwirkenden Funktion. Die Gestaltung der Werbung und deren Strategien sind
daher stets in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu sehen. Bezogen auf die Darstel-
lung der Geschlechter in der Werbung und die Strategien, die der Ansprache von
Frauen und Männern durch die Werbung dienen, bedeutet das: Werbung führt vor,
was eine Gesellschaft für typisch weiblich oder auch typisch männlich hält, welche
Rollen den Geschlechtern zugewiesen und welche Erwartungen an sie herangetragen
werden, welches Verhalten bei Frauen oder Männern akzeptiert oder eben nicht
akzeptiert wird. Gender-Marketing, also die Segmentierung des Marktes nach Frau-
Werbung und Gender-Marketing 323
en und Männern und ihre differenzierte Ansprache, orientiert sich an solchen ver-
meintlich unterschiedlichen Bedürfnissen und verstärkt diese. Trotz dieser differen-
zierten Sichtweise auf die Beziehung von Werbung und Geschlecht rekurrieren die
Werbepraxis – insbesondere der Deutsche Werberat – und auch einige wissenschaft-
liche Studien weiterhin auf die Spiegel-Metapher.
In ihrem Buch „The feminine mystique“, das mit dem Titel „Der Weiblichkeitswahn
oder die Selbstbefreiung der Frau“ auf Deutsch erschien, beklagt Betty Friedan
bereits 1963 für die USA die neuerliche Wiederbelebung des Leitbildes der
Nur-Hausfrau und macht dafür nicht zuletzt die Medien und insbesondere die
Werbung verantwortlich (Friedan 1963, 1966). Die kritische Betrachtung der Wer-
bung bezüglich ihrer Sozialisationsfunktion verstärkt sich dann auch ab den aus-
gehenden 1960er-Jahren im Gefolge verschärfter Werbekritik und der Neuen
Frauenbewegung.
Während die Werbekritik sich allgemein auf die „Kulturindustrie“ (Horkheimer
und Adorno 1985, S. 108–150) und auf den durch Werbung geförderten Waren-
charakter von Kulturprodukten in der kapitalistischen Gesellschaft bezieht (Haug
1971), geraten mit den geschlechtsspezifischen Strategien der Werbung die Dar-
stellung der Geschlechter, zunächst allerdings nur von Frauen, sowie die sich daraus
ergebende vermutete Wirkung ins Blickfeld.
Als strategische Kommunikation geschieht Werbung unter spezifischen Bedin-
gungen, die eine klischeehafte Darstellung fördern. Denn generell dienen Klischees
oder Stereotype der Reduktion von Komplexität, werden jedoch dort problematisch,
wo sie zur Diskriminierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen beitragen.
Geschlechterrollenstereotype beruhen auf der Vorstellung, dass sich die Ge-
schlechter in bestimmten Attributen unterscheiden, die vier Komponenten umfassen,
nämlich Charaktereigenschaften (z. B. Durchsetzungskraft), physische Merkmale
(z. B. Körpergröße), Rollenverhalten (z. B. Führungsrolle, Umgang mit Kindern)
und Berufsrolle (Eisend 2010, S. 419; Grau und Zotos 2016, S. 761). Mit der
Verwendung bzw. Konstruktion solcher Stereotype kann Werbung zur Verstärkung
von Geschlechterbildern beitragen und so die Vorstellungen von Männlichkeit und
Weiblichkeit im Selbst- und Fremdbild, nicht zuletzt bei Kindern, mit beeinflussen.
Ein Großteil der Forschung stützt sich daher auf Inhaltsanalysen und untersucht
die Darstellung von Frauen und Männern in der Werbung. Im Gegensatz zu diffe-
renzierten Konzepten von Femininität und Maskulinität verwendet die Werbefor-
schung Geschlecht überwiegend als binäre Variable (Wolin 2003, S. 113). Wohl
nicht zuletzt aus forschungsökonomischen Gründen (leichtere Zugänglichkeit, ins-
besondere bei Vergleichen über Zeit, sowie einfachere Codierung) beziehen sich
Inhaltsanalysen vorzugsweise auf Printmedien, haben aber, zumal in den USA, auch
früh die Fernsehwerbung berücksichtigt und wenden sich neuerdings der Werbung
im Netz zu. Neben einer im Vergleich zu Männern geringeren Präsenz von Frauen in
der Werbung verwies die frühe Forschung auf ein enges und stereotypes Rollenre-
324 C. Holtz-Bacha
pertoire für Frauen. Eine der ersten Analysen der Zeitschriftenwerbung in den USA
ergab vier Muster in der Darstellung von Frauen und Männern. Die Anzeigen legten
nahe, dass die Frau ihren Platz im Haus hat, dass Frauen keine wichtigen Entschei-
dungen treffen oder wichtige Dinge tun, dass Frauen abhängig sind und männlichen
Schutz brauchen und dass Männer Frauen vorrangig als Sexobjekte betrachten
(Courtney und Lockeretz 1971, S. 94–95). Eine Nachfolgestudie (Wagner und
Banos 1973) befand wenig später, dass in der Zeitschriftenwerbung zwar mittler-
weile mehr berufstätige Frauen zu sehen waren, dafür aber ein höherer Prozentsatz
der nicht-berufstätigen Frauen in passiven und dekorativen Rollen auftrat (vgl. auch
Belkaoui und Belkaoui 1976). Studien zur Werbung im Fernsehen gelangten zu
ähnlichen Ergebnissen (z. B. Ferrante et al. 1988). Frauen sind auch hier unterre-
präsentiert, sie weisen andere Eigenschaften auf als Männer (sind weniger aktiv,
mächtig, rational und intelligent, aber jünger und mehr auf ihr Äußeres bedacht) und
als berufstätige Frauen eher in Berufen mit niedrigem Status präsent (Lazier und
Kendrick 1993, S. 202). Ferner zeigte sich, dass Frauen in der Werbung für be-
stimmte Produktbereiche eingesetzt (Haushalt, Kosmetik) werden, während sie
dafür in anderen (Auto, Alkohol) nicht vorkommen (Busby 1975). Frauen sind
eher im häuslichen Umfeld zu sehen, Männer außer Haus. Männer dominierten als
Sprecher, sie sind die Stimme der Autorität (z. B. Courtney und Whipple 1974).
Nachhaltigen Einfluss auf die weitere Forschung hatte die Studie des Soziologen
Erving Goffman (1981, zuerst 1976), der eine Verbindung zwischen dem Werbebild
und der gesellschaftlichen Stellung der Frau herstellte. Anhand zahlreicher Beispiele
erarbeitete er Kategorien für die Analyse von Geschlechterdarstellungen in der
Anzeigenwerbung, die die gesellschaftliche Bedeutung der Geschlechter, ihre Rang-
ordnung oder stereotype Eigenschaften demonstrieren und damit verfestigen. Dem-
nach zeigen Bildkomposition, Rahmung der Handlung, Blickrichtung der Frauen,
Berührung oder relative Größe der Personen, wie durch diese stilistischen Merkmale
gesellschaftliches Gewicht, Macht, Autorität und Unterordnung erzeugt werden
können. Mittels dieser visuellen Komposition in der Werbung wirken Männer
oftmals unabhängig, kräftig und kompetent, während Frauen Eigenschaften aufwei-
sen, die sie als abhängig, passiv und dem Mann untergeordnet präsentieren.
Eine über einen Zeitraum von 50 Jahren reichende Werbeanalyse verschiedener
US-amerikanischer Zeitschriften, die auch alle von Goffman entwickelten Katego-
rien umfasste, konnte Veränderungen in der Rollendarstellung von Frauen ermitteln
(Mager und Helgeson 2011); demnach bleiben Frauen nicht mehr nur auf die
häusliche Sphäre verwiesen und sind nun auch bei wichtigen Tätigkeiten zu sehen.
Nach wie vor werden Frauen aber in Abhängigkeit gezeigt und als des männlichen
Schutzes bedürfend. Zugenommen hat indessen die Sexualisierung von Frauen in
den Werbeanzeigen, womit auch der Umstand einhergeht, dass Frauen(körper)
häufiger als Männer(körper) eine dekorative Funktion innehaben.
Studien aus aller Welt haben die Stereotypisierung der Geschlechterrollen in der
Werbung bestätigt und sprechen gar von einem universellen Phänomen (Furnham
und Mak 1999). Einige Untersuchungen nehmen internationale Vergleiche vor,
meist für zwei oder drei Länder (vgl. z. B. Browne 1998; Cheng 1997; Gilly 1988;
Hetsroni 2007; Tartaglia und Rollero 2015; Wiles et al. 1995). Erst in den letzten
Werbung und Gender-Marketing 325
häufigsten treten Frauen nun in Freizeitrollen auf, daneben gibt es aber auch Senio-
rinnen, sportliche Frauen und Expertinnen. Die Werbefrauen wirken selbstbewusst,
unabhängig und zielstrebig und dabei unbeschwert und lebensfroh, was auch für
Frauen in der klassischen Rolle als Hausfrau und Mutter zu gelten scheint.
Brosius und Staab legten 1990 eine Langzeitstudie vor, die die Anzeigenwerbung
der Illustrierten stern für die Jahre 1969 bis 1988 analysierte. Die Untersuchung
richtete sich auf die manifesten und – nach dem Vorbild von Goffman – die latenten
Merkmale der Darstellung von Frauen und Männern. Manifeste Merkmale beziehen
sich auf die Häufigkeiten weiblicher und männlicher Protagonisten sowie die Rollen,
in denen sie in der Werbung auftreten. Latente Merkmale sind nonverbale Informa-
tionen, die in den Geschlechterbildern enthalten sind. Während die Untersuchung im
Zeitverlauf eine Ausdifferenzierung der weiblichen Rollen ergab, verwiesen die
latenten Merkmale weiterhin auf die bekannten Geschlechterstereotypen.
Die Untersuchung des Frauenbildes in der Werbung impliziert den Vergleich mit
Männern. Daher liefern die meisten Studien zu Rollenstereotypen Ergebnisse für beide
Geschlechter und erlauben, Unterschiede bzw. Diskriminierungen auszumachen.
Die deutschsprachige Forschung jedoch nahm den Auftritt von Männern in der
Werbung und die Darstellung von Männlichkeit erst relativ spät in den Blick (vgl.
aber Brosius und Staab 1990). Die Pionierstudie dazu stammt von Zurstiege (1998),
der die Darstellung von Männern in Zeitschriftenanzeigen der 1950er-, 70er- und
90er-Jahre analysierte. Männer erwiesen sich hier vor allem als „sportlich, erfolg-
reich, tüchtig und vernunftbegabt“ (Zurstiege 1998, S. 196), zudem waren Männer
vor allem im Kontext von Arbeit und Beruf zu finden. Im Zeitverlauf nahmen
Attribute körperlicher Attraktivität in den Männerdarstellungen zu. Nach dem Vor-
bild von Zurstiege analysierte Dreßler (2008) die Darstellung von Männern in
Anzeigen aus dem stern für die Jahre 1950 bis 2006. Rund zwei Fünftel der Männer
traten in der Freizeit auf, im beruflichen Umfeld dagegen nur 13 Prozent, wobei
Dreßler allerdings ab den 1990er-Jahren eine Tendenz hin zu Berufsrollen ausmacht.
Zurstiege und Dreßler identifizierten mehrere (sieben bzw. sechs) vorherrschende
Männertypen, deren Bedeutung in der Werbung sich im Laufe der Jahrzehnte
wandelt.
Objekt (Wissen) und seiner Bewertung, also einer kognitiven und einer affektiven
Komponente. Werbung kann Einstellungen beeinflussen, indem sie Vorstellungen
von einem Objekt etabliert, verfestigt oder ändert (Weber und Schweiger 2017, S. 8).
Die von George Gerbner und Mitarbeiter(inne)n zunächst im Zusammenhang mit
Gewaltdarstellungen formulierte Kultivierungshypothese schreibt dem Fernsehen
langfristige Wirkungen zu, die sich aus der Kumulation von Eindrücken ergeben,
welche von der Realität abweichen und eher der Medienrealität entsprechen (Gerb-
ner und Gross 1976; vgl. auch Gerbner et al. 2002). Diese Perspektive geht davon
aus, dass Werbung Einstellungen zu und Vorstellungen von den Geschlechtern mit
beeinflusst und Geschlechterbilder formt, bestätigt und verstärkt.
In einer Zusammenschau der werbekritischen Literatur aus verschiedenen Dis-
ziplinen, darunter allerdings keine empirischen Untersuchungen, sieht es Pollay als
gegeben, dass Werbung auf die Gesellschaft einwirkt, und diagnostiziert „nicht
intendierte soziale Konsequenzen“ (Pollay 1986, S. 19). Eisend (2010) kommt
dagegen zu dem Schluss, dass die Befunde der für eine Meta-Analyse herangezo-
genen Studien eher für die Spiegel-Metapher sprechen. In Anbetracht der Ergebnisse
über die Geschlechterbilder, die die Werbung vermittelt, ist dann allerdings von
einem „Zerrspiegel“ (Pollay 1986) auszugehen.
Frauen und Männern verarbeiten Werbedarbietungen unterschiedlich. Nach dem
Selektivitätsmodell nehmen Frauen die Werbung ganzheitlich wahr, während Män-
ner selektiv an die Werbeinformationen herangehen (Darley und Smith 1995; Wolin
2003). In Anlehnung an Bem (1993), der zufolge eine Geschlechteroptik die Kon-
struktion der sozialen Realität beeinflusst und Genderstereotype (re)produziert,
führen Lafky et al. (1996) auch Unterschiede in der Art und Weise, wie Frauen
und Männer die Werbebilder kognitiv verarbeiten, auf die Geschlechteroptik zurück.
Rezeptionsstudien aus verschiedenen Ländern zeigen, dass vor allem Frauen die
weibliche Geschlechterrepräsentation als unrealistisch empfinden. Ebenso reagieren
Frauen und Männer unterschiedlich auf die Darstellung der Geschlechter in der
Werbung, und das gilt insbesondere für sexistische Werbung (Moser und Verheyen
2011; Gramazio et al. 2021; Van Hellemont und Van Bulck 2012). Kritische
Reaktionen richten sich nicht nur gegen die Werbung, sondern können sich auch
ungünstig für das Image des werbenden Unternehmens oder die beworbene Marke
auswirken (z. B. De Young und Crane 1992; Ford et al. 1997; Ford und LaTour
1996; Kotelmann und Mikos 1981; Orth und Holancova 2004; Vennemann und
Holtz-Bacha 2011).
Als problematisch erweisen sich die Effekte attraktiver und oft allzu schlanker
Models in der Werbung. Mit ihren Rollenbildern bietet die Werbung Attraktivitäts-
ideale, die Rezipientinnen und Rezipienten als Orientierung und Vorbild dienen.
Nach der Theorie des sozialen Vergleichs (Festinger 1954) nehmen Frauen und
Männer Aufwärtsvergleiche mit attraktiven Medienpersonen und Abwärtsvergleiche
mit weniger attraktiven Medienpersonen vor und schließen daraus auf ihre eigene
Handlungsmöglichkeit, um der gesellschaftlichen Norm zu entsprechen. Überblicke
über die mittlerweile umfangreiche Forschung zeichnen ein uneinheitliches Bild von
den Wirkungen, verweisen aber größtenteils darauf, dass sich vor allem Frauen an
den Schönheits- und Schlankheitsidealen der Werbung messen. Solche Vergleiche
328 C. Holtz-Bacha
führen zur Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, und Frauen tendieren auch eher
als Männer dazu, diese Ideale als erstrebenswerte Norm anzuerkennen (Hargreaves
und Tiggemann 2004). Einige Studien zeigen indessen, dass die Konfrontation mit
stereotypen Männerbildern sich auch bei Männern negativ auf ihre Körperzufrie-
denheit auswirkt (Agliata und Tantleff-Dunn 2004; Lorenzen et al. 2004).
Kritik an der normierten Weiblichkeit formuliert auch Gill (2008) aus (post-)
feministischer Sicht: Die zunehmende Sexualisierung verbunden mit einer selbst-
bewussten Femininität in der Werbung führe dazu, dass junge Frauen sexualisiertes
Verhalten mit Emanzipation und Handlungsmacht verbinden sowie Heteronormati-
vität als neoliberale Norm akzeptieren.
Ein besonderer Fokus in diesem Zusammenhang richtet sich darauf, welche
Effekte die in der Werbung präsentierten Geschlechterbilder auf Kinder haben und
inwieweit sie die Herausbildung ihrer Geschlechtsidentität und ihr Fremdbild der
Geschlechter beeinflussen. Nach Erkenntnissen aus Studien, die sich auf die soziale
Lerntheorie (Bandura) stützen, übernehmen Kinder Verhaltensmuster auch von
Modellen, die ihnen die Medien präsentieren. Da sich gezeigt hat, dass Männer in
der Werbung das Umfeld von Kinderprogrammen dominieren und sie ein stereo-
types Rollenrepertoire aufweisen, liegt es nahe, dass Kinder entsprechende Ge-
schlechterbilder übernehmen (z. B. Bakir und Palan 2010; Busby 1975; Courtney
und Whipple 1983; Peirce 1989; Pingree 1978). Das gilt u. a. auch für die Berufs-
rollen, die als adäquat für Frauen und Männer gesehen werden und damit eigene
Berufswünsche beeinflussen können.
Geschlechtergerechte Darstellungen und Gegenstereotype haben sich als effektiv
erwiesen, um traditionellen Stereotypen entgegenzuwirken (Chu et al. 2016; Sig-
norielli 1990).
dort weiter, sei „eine noch effizientere, zielgruppenspezifische Ansprache sowie das
Erzielen höherer Preise. Diese geschlechterspezifische Abgrenzung wird oftmals
auch als ‚SheCommerce‘, ‚Female Commerce‘ oder ‚Marketing to Women‘ bezeich-
net.“ (Pyzalski 2017, Hervorhebung im Original). Geschlechterspezifische Anspra-
che nach dem Konzept des Gender-Marketings heißt: „Produktname, Wortklang,
Design und Material des Produkts sollten dem jeweiligen Geschlecht entsprechend
konzipiert werden“ (Pyzalski 2017). Dabei soll gelten: emotionale Ansprache für die
Frau, rationale Ansprache für den Mann.
Gender-Marketing beruft sich auf vermeintliche Unterschiede zwischen Frauen
und Männern in der Wahrnehmung ihrer Umwelt, in der Informationsverarbeitung
und im (Konsum-)Verhalten. Mit der Entwicklung von Mädchen- und Jungen-,
Frauen- und Männerprodukten und ihrer entsprechenden Vermarktung betont das
Gender-Marketing die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und hält damit die
Geschlechterdifferenz als allgegenwärtige gesellschaftliche Norm aufrecht. Nicht
zuletzt Kinder lernen auf diese Art und Weise, was die Gesellschaft als für Mädchen
und für Jungen angebracht hält. So haben Auster und Mansbach (2012) in einer
Studie über das Spielzeugangebot auf der Disney-Store-Webseite festgestellt, dass
die Produkte für Jungen meist aus Actionfiguren, Bausteinen, Autos und Waffen
bestanden und in kräftigen und dunklen Farben gehalten sind, während für Mädchen
Puppen und auf Schönheit, Kosmetik oder Schmuck bezogene Produkte überwie-
gend in Pastellfarben und pink oder lila angeboten werden. Geschlechterneutrale
Spielzeuge, die nicht spezifisch für Jungen oder Mädchen ausgewiesen sind, ähneln
eher den Spielzeugen für Jungen. Wenn also Spielsachen solchermaßen für die
Geschlechter getrennt markiert, vermarktet und dann entsprechend gekauft werden,
beschränken sich die Erfahrungen der Kinder auf das ihnen zugewiesene Spielzeug,
und im Umgang damit erwerben sie verschiedenartige Fähigkeiten, die wiederum
Folgen haben können für ihr zukünftiges Rollenrepertoire und ihre Berufswünsche
(Auster und Mansbach 2012; Cherney und London 2006). Auch die Ergebnisse
dieser Studie bestätigen die „Pinkification“, die die Kritik dem Gender-Marketing
vorwirft.
Femvertising dagegen nimmt für sich in Anspruch, durch „messages of power,
strength and authenticity“ (Becker-Herby 2016, S. 7) die Gleichstellung zu unter-
stützen und weibliches Selbstbewusstsein zu stärken. Der Begriff steht für female
empowerment advertising. Mit Femvertising setzen Werbungtreibende auf nicht-
traditionelle Frauenbilder und Gegenstereotype, die das Selbstwertgefühl von Frau-
en steigern sollen. Damit erhoffen sie sich positive Effekte durch Verbesserungen in
den Einstellungen der Rezipientinnen zur Werbung und zur Marke. Die Forschung
hat gezeigt, dass Femvertising zum Abbau von Reaktanz gegenüber der Werbung
und zu einer Stärkung des Selbstwertgefühls beitragen kann (Åkestam et al. 2017;
Couture Bue und Harrison 2019; Kapoor und Munjal 2019). Bekanntestes Beispiel
in Europa ist die Werbekampagne Real Beauty für die Hautpflegeprodukte der
Marke Dove aus dem Jahr 1994, die die Idee des Femvertising begründete. Statt
schlanker Models zeigten ihre Anzeigen „normal“ proportionierte Frauen, die de-
monstrierten, dass sie sich wohl in ihrer Haut fühlen.
330 C. Holtz-Bacha
5 Fazit
Seit mehreren Jahrzehnten befasst sich die Forschung mit der Darstellung der
Geschlechter in der Werbung und untersucht deren Wirkungen. In der international
und sprachlich zugänglichen Literatur dominieren Untersuchungen aus den USA. Im
deutschsprachigen Bereich ist das Thema populär für universitäre Abschlussarbei-
ten, darüber hinaus bleibt der Forschungsertrag sehr begrenzt.
Untersuchungen von allen Kontinenten und aus unterschiedlichen Kulturkreisen
bestätigen die stereotype Darstellung der Geschlechter. Während im Laufe der Zeit
eine Erweiterung des Rollenrepertoires insbesondere von Weiblichkeit erfolgte, sind
in den Werbebildern weiterhin Diskriminierungen von Frauen auszumachen. For-
schungsbedarf gibt es ferner hinsichtlich weiterer Differenzkriterien wie Ethnizität,
sexuelle Orientierung, Alter etc. Auch die Onlinewerbung fand bislang bezüglich
Geschlecht und weiterer Differenzkriterien kaum Beachtung. In Wirkungsstudien
sind vor allem Effekte kurzfristiger Art nachgewiesen worden. Um Sozialisations-
effekte und den Einfluss der Werbung auf den gesellschaftlichen Prozess der
Geschlechterkonstruktion verfolgen zu können, bedarf es allerdings langfristiger
Untersuchungen, die auch deshalb selten sind, weil sich das Interesse der Werbung-
treibenden zuerst auf den ökonomischen Erfolg ihrer Werbemaßnahmen und nicht
auf gesellschaftsrelevante „Nebenwirkungen“ richtet.
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Feministische Werbekritik zwischen
Selbstregulierung und Aktivismus
Ulli Weish
Inhalt
1 Einleitung: Feministische Repräsentationskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
2 Sexismus – Begriffsentwicklung und Kontext der Anwendungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
3 Postfeministische Phänomene sexistischer Werbeproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
4 Hegemoniale Bildproduktion als normalisierender Sexismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
5 Selbstregulierung der Werbebranche – Chancen und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
6 Adbusting als Markenkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
Zusammenfassung
Feministische Werbekritik ist Gesellschaftskritik an Machtverhältnissen in Alltags-
und Populärkulturen. Mittels aktueller und traditioneller Werbesexismen werden
unterschiedliche Lesarten bereitgestellt. Maximale Aufmerksamkeitsgenerierung
als Richtlinie der Werbeindustrie produziert ‚aufregende‘ Bilder und Botschaften,
die vielfach neue Aspekte von Körperentfremdung im Postmodernismus miterzeu-
gen. Praktische Werbekritik leisten Einrichtungen der Selbstregulierung – wie zum
Beispiel in Österreich das duale System von Werberat und Watchgroups – und
feministische Interventionen etwa mit Strategien des Adbusting oder Culture
Jamming. Zwar stoßen feministische Praktiken von Markenironisierung an Gren-
zen, sie sind aber durch Irritation der Lesarten imstande, kritisches Bewusstsein zu
erzeugen. Dabei können öffentliche Debatten initiiert und Gesetzesinitiativen und
Institutionalisierungsverfahren eingeleitet werden.
U. Weish (*)
Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: ulli.weish@univie.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 335
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_48
336 U. Weish
Schlüsselwörter
Werbekritik · Feminismus · Aktivismus · Adbusting · Selbstregulierung
Sexismen in der Werbung – in Text, Ton und Bild – waren und sind häufig eingesetztes
Stilmittel einer kommerziellen Aufmerksamkeitsgenerierung in „westlichen“ Konsum-
gesellschaften (Goffman 1976; Förster und Weish 2017, S. 15). Sie waren auch früh
Thema kritischer Werbeforschung, etwa in einer UNESCO-Studie, an der sich insge-
samt 28 Regierungen und 22 NGOs beteiligten (UNESCO 1974). Die damals analy-
sierten Geschlechterstereotypen sind größtenteils heute noch gültig (Schmerl 1994,
S. 134; Marschik und Dorer 2002). Neben Wissenschaftlerinnen regten insbesondere
auch feministische Aktivistinnen durch ihre offen ausgetragenen Interventionen – etwa
durch Plakat-Aktionen, Demonstrationen oder subversive Protestkundgebungen (Gei-
ger und Hacker 1989, S. 94–95) – zur Erforschung von sexistischen Werbephänomenen
an. Die wissenschaftliche Kritik an Sexismen und der feministische Aktivismus führten
gemeinsam dazu, dass nun auch die Werbepraxis bei ihren Instrumenten der Selbstre-
gulierung den Aspekt der sexistischen Diskriminierung berücksichtigte.
Die Frauenbewegungen verfolgten mit ihrer Werbekritik, ihrem feministischen
Aktivismus und ihrer engagierten Medien- und Rezeptionsforschung ähnliche Ziele
wie andere soziale Bewegungen der frühen 1970er- bis späten 1980er-Jahre, die den
Anspruch hatten, Bewusstsein zu schaffen, um ökonomische, gesellschaftliche und
kulturelle Hierarchien zu ändern. (Hauser 2012, S. 252–253) In diesem Klima einer
engagierten politischen Öffentlichkeit hat die Medienkritik die Produktionsverhält-
nisse und damit auch die symbolische Bildpolitik der Unter- und Überordnung
massiv in Frage gestellt. Bezug genommen wurde auf die kritische Kulturtheorie,
die heute im Bereich der Medien- und Werbekritik weitgehend in Vergessenheit
geraten ist. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (1994 [1944]) beschreiben in
ihrer radikalen Analyse die Erzeugung von Apathie, Anpassung an die allumfas-
sende Kapitalisierung von Vergnügen als Einkauf sowie Ohnmacht als Grundgefüge
passiver Verortung in der Konsumgesellschaft und entlarven das individuelle Han-
deln als Mythos. „Als Kunden wird ihnen Freiheit der Wahl, der Anreiz des Uner-
faßten (. . .) demonstriert. Objekte bleiben sie in jedem Fall.“ (Horkheimer und
Adorno 1994 [1944], S. 155) Ein Ausdruck der symbolischen Ordnung der
Geschlechter sind kulturelle Botschaften und Bilder, die in ihrer Wirkmächtigkeit
soziale Räume prägen und selbst jede Vorstellung durchdringen. Massenkulturell
propagierte Selbstoptimierungen erscheinen in der Postmoderne weniger eindeutig
als Unterordnung unter eng konstruierte Geschlechternormen. Entsprechende Wer-
bebilder sind zumeist ambivalent codiert und ermöglichen gleichzeitig gesellschaft-
liche Interpretationen von Auf- und Abwertung aufgrund verschiedener Lesarten:
Erotik bzw. Sexyness in Bildern, manifest in erotischer Körpersprache oder auch als
Feministische Werbekritik zwischen Selbstregulierung und Aktivismus 337
Subtext mitgeliefert, geriert sich als Pose der Selbstermächtigung bei gleichzeitiger
Objektifizierung von Frauen und Weiblichkeit. Die Ambivalenz der Werbeaussagen
und die Ambivalenz in der Rezeption werden durch Soziale Medien innovativ (etwa
durch Influencerinnen) perfektioniert. Durch die Allgegenwart der Produkte der
Werbeindustrie in allen Medienkanälen und deren rasche Distribution via Soziale
Medien werden Objektifizierungsprozesse als „Kommodifizierung von Konsumen-
ten“ zusätzlich verstärkt (Bauman 2009, S. 36–37).
Der Begriff Sexismus wurde in den späten 1960er-Jahren analog dem Begriff
Rassismus von der schwarzen US-amerikanischen Frauenbewegung eingeführt
(Salmhofer 2011, S. 364). Er bezeichnet die Abwertung oder Diskriminierung auf
Grund des Geschlechts. In den frühen 1970er- bis späten 1980er-Jahren setzten
sexismuskritische Aktivistinnen auf „strategischen Essentialismus“ (Spivak 1988,
S. 205), um gesellschaftliche Handlungsperspektiven und „praktische“ Solidarität
unter Betroffenen zu erzeugen (Mackenthun 2017, S. 143–144). Ab den 1980er-
Jahren stehen vermehrt die Differenzen unter Frauen im Fokus, und so wird aktuell
eine intersektionale Perspektive auf Verschränkungen von Geschlecht mit Katego-
rien wie Klasse, Ethnie, Alter oder Lebensstil – in politischer, methodologischer wie
theoretischer Hinsicht – eingefordert (Crenshaw 2012, S. 122). Die poststruktura-
listischen Debatten der frühen 1990er-Jahre erweiterten die Analyseperspektiven
von Sexismus weiter um die Kritik an einer heterosexistischen Norm und der damit
einhergehenden Diskriminierung und Abwertung anderer Lebensstile außerhalb
eines dominanten heteronormativen Begehrens (Butler 1991, S. 190–191).
Eine Unterscheidung der Pluralität aktueller Sexismen wird durch die Begriff-
lichkeit von traditionellen und modernen Sexismen in ihrer Ausprägung nach Bene-
volenz, Hostilität und Ambivalenz getroffen (Thiele 2013). Benevolenter Sexismus
kann auch als ‚positiver‘ Sexismus oder als Kavaliersakt und Ritterlichkeit aufge-
fasst werden und ist in vielen Alltagszusammenhängen als ‚Normalität‘ und Zeichen
der Akzeptanz von Frauen als besonders schutzbedürftige Menschen codiert, selten
aber als Abwertung bewusst, die traditionelle Geschlechterhierarchien massiv stützt
und aufrecht erhält (Eckes 2010, S. 184). Benevolenter Sexismus ist eines der
häufigsten Missverständnisse in der Auf- und Abwertung von Subjekten, die damit
einen Objektstatus einnehmen, indem die traditionelle Geschlechterhierarchie im
Sinne der Fortsetzung patriarchaler Überlegenheit als Charme der geschlechtlichen
Gepflogenheiten festgeschrieben wird. Hostiler Sexismus ist dagegen offen feindse-
lig, benennt negative und abwertende Geschlechterstereotype, die verallgemeinert
werden, und perpetuiert und rechtfertigt damit die Statusunterschiede zwischen den
sozialen Geschlechtern (Eckes 2010, S. 184). Die aktuell häufigste Spielart insbe-
sondere in der modernen Werbeindustrie ist der ambivalente Sexismus (Glick und
338 U. Weish
Fiske 1996), der Aspekte von hostilem und benevolentem Sexismus verbindet.
Diese Komplexität erzeugt Uneindeutigkeit und eine Vielfalt von Lesarten und damit
auch vielfältige Widerstandsformen.
S. 94). Die Werbe-Slogans signalisieren dabei Empowerment („Weil ich es mir wert
bin“), Sexualisierung („Ich bin geil, das Produkt auch“) und Objektifizierung (Frauen
als Objekt und Ware). Der eigene Körper wird zum kostenpflichtigen Gestaltungsraum
hegemonialer Schönheitsvorstellungen in einer postmodernistischen Leistungsgesell-
schaft, der die bezahlte Arbeit auszugehen droht und die sich daher zunehmend
klassenübergreifend mit individueller Körperbewirtschaftung zu beschäftigen hat.
Die Konsequenzen (post-)feministischer Rezeption von sexistischer Werbung
sind ironisierende Lesarten, die das Potenzial einer Maskierung in sich tragen
(Förster und Prantner 2016; Potter und Warren 1998). Humor,1 Witz und Ironie
waren lange Zeit in der Werbung verpönt und wurden lediglich für eng definierte
Produkte angewandt. Vielmehr galt Werbung als ‚Produktinformation‘ und sollte
daher seriös und ‚fachmännisch‘ sein, damit das Vertrauen der KundInnen geweckt
und dauerhaft gebunden bleibt. „People do not like to buy from clowns“, das Credo
des berühmten US-Werbers Claude Hopkins aus dem Jahr 1923 (Beard 2008 [1957],
S. 11), gilt seit der Postmoderne nicht mehr. Im Gegenteil: In einer medialisierten
Zeit, in der Werbung allgegenwärtig ist (in allen Medien, im öffentlichen Raum, in
allen Bereichen von Freizeit und Sport bis Schule, Kunst und Kultur etc.) und um
Aufmerksamkeit wirbt, werden neue Wege der Aufmerksamkeitssteigerung bei
KonsumentInnen beschritten, um aufzufallen. Humor in der Werbung wird zuneh-
mend eingesetzt, um Emotionen durch Lachen zu binden und damit ein positives
Image zu kreieren (Weinberger und Gulas 1992, S. 35). Spaß, Witz, Ironie scheinen
keine Grenzen gesetzt und dienen häufig dazu, Diskriminierungen, Abwertungen,
Sexismen zu verschleiern, da Kritik leicht als ‚Humorlosigkeit‘ abgewertet werden
kann (Ford et al. 2008).Werbebotschaften sind immer vieldeutig, häufig werden Witz
und Ironie, Produkt- und Dienstleistungsinformation sowie Botschaften der Diskri-
minierung vermischt und mit sexuellen Stimuli etc. versetzt. Diese Werbestrategien
des Witzes und der Ironie können sowohl als Sexismus oder auch als das Gegenteil –
die Ironisierung von Sexismus – gelesen werden. Daher ist ein ‚postmodernistisches‘
Sujet, das Uneindeutigkeit und Subjektivität zentriert, immer beides (Gill 2007,
S. 111).
Erste empirische Studien zeigen, dass durch zweideutige, humorvolle Werbesu-
jets die emotionale Beteiligung der Betrachtenden steigt und sexistische, abwertende
Lesarten gar nicht mehr wahrgenommen werden. Der Maskierungseffekt führt dazu,
dass durch Lachen die Kritik am dargestellten Sexismus reduziert bzw. sogar völlig
negiert wird (Förster und Prantner 2016, S. 148). In einer Entweder-oder-Logik (Ich
lache, also ist das Sujet lustig!) statt in einer Sowohl-als-auch-Perspektive werden
kulturelle Decodierungen latent unkritisch und feministische Sachkritik bleibt für
einen Wandel in der Werbeethik weiterhin eher irrelevant.
Neben der Ironisierung von Sexismen als Stilelement wird bewusst produzierte
Schockwerbung in Zusammenhang mit Sexismen – z. B. in Kampagnen von Be-
1
Humor ist häufig der Träger von Dominanz. In patriarchalen Kulturräumen wirken hegemoniale
Witze männlich konnotiert und machtverstärkend, Kotthoff 2004, S. 15–17.
340 U. Weish
nen aus dem Agenturbereich und der Medienausbildung bei der Beurteilung von
beanstandeten Sujets miteinzubeziehen. Die Existenz der zivilgesellschaftlichen Watch-
groups in nunmehr drei Städten erhöhte zwar die Bekanntheit des Österreichischen
Werberats, dennoch verfügt die Mehrheit der Bevölkerung über wenig Wissen zu
Selbstregulierung und wenig Ambition zu Beschwerdekultur im Allgemeinen. Da die
Ergebnisse auf den Webseiten des Österreichischen Werberats2 und der Watchgroups in
Wien, Graz und Salzburg3 bekannt gegeben und fallbezogen auch von populären
Medien aufgegriffen werden, stieg in den letzten Jahren die Sensibilität gegenüber
Werbesexismen (Förster und Weish 2017, S. 24). Dennoch wird offener Werbesexis-
mus damit nicht verhindert. Denn gesetzliche Verbote sind aufgrund der Medien- und
Werbefreiheit in Fachmedien und bei Agenturen als Zensur verpönt. Ein Sexismusver-
bot in der Werbung könnte auf Gemeindeebene und der Stadtverwaltung umgesetzt
werden, ist aber immer heiß umkämpft.4
2
www.werberat.or.at.
3
Wien: www.werbewatchgroup-wien.at, Graz: http://www.watchgroup-sexismus.at und Salzburg:
http://watchgroup-salzburg.at.
4
Der in Österreich geltende Rechtsrahmen sowie Rechtsgrundlagen der Vereinten Nationen (UN),
der EU, des Europarats und EU-Richtlinien zu Sexismus in der Werbung sind bei Irina Viola Kappel
(2013) angeführt.Vorschläge, wie sexistische Wirtschaftswerbung über das UWG (Gesetz gegen
den unlauteren Wettbewerb) geregelt werden könnte, erarbeitete Berit Völzmann (2014) für die
Bundesrepublik Deutschland.
Feministische Werbekritik zwischen Selbstregulierung und Aktivismus 343
5
Siehe unter http://zwanzigtausendfrauen.at/satiremagazin/. Die feministischen Ansprüche, die Kri-
tik am vermittelten Medien-Mainstream und die Forderungen an Medienunternehmen und Medi-
enpolitiken sind unter https://zwanzigtausendfrauen.at/2011/10/uber-morgen-nr-1-20000frauen/
einzusehen.
6
Aus einem Gruppeninterview mit den Aktivistinnen am 12.05.2017, moderiert von Ulli Weish.
Alle Beteiligten sind Medien-Arbeiterinnen, entweder Journalistinnen oder Media Professionals im
Agenturbereich.
7
Die gesamte Fallgeschichte findet sich in Weish 2016.
344 U. Weish
Abb. 1 Beispiele feministischer Adbustings als Imitation sexistischer Posen und Textierungen.
(Quelle: „Greif zu!“, Möserlreich, Nr. 5, S. 4; „Schnitzlmizzl“, Vor.gestern, Nr. 2, S. 8; „bad-at-
home“, http://zwanzigtausendfrauen.at/2016/06/fake-zum-sommerloch/)
7 Fazit
Adbusting als subversive Werbekritik kann das grundsätzliche Problem – die Auf-
merksamkeitsökonomie des „Spannens“ und „Starrens“ – nicht per se verändern. Sie
spielt aber mit abweichenden Lesarten, die das Ungewohnte für das Gewöhnliche
einsetzt und damit schockiert (Lasn 2008, S. 15). Durch die Emotionalisierung und
eine kritische Selbstbeobachtung im Umgang mit ungewohnten bzw. in diesem Fall
tabuisierten Bildern kann kritisches Bewusstsein geschaffen und vertieft werden.
Das Ziel kann aber auch ein pragmatisches und konkretes sein: die aktuelle Rechts-
lage in der Werbung zu hinterfragen und neu zu regeln (Völzmann 2014). Kollektive
kritische Lesarten müssen relevant und normalisierende Abwertungspraxis – Sex
sells als eine dominante Spielart unkreativer Werbung – in Zahlen messbar, in
Geldstrafen verwertbar werden. Denn Selbstregulierung setzt Verbindlichkeit bei
allen AkteurInnen der Werbeszene voraus, eine Annahme, die in der Praxis falsch
sein muss, da Werbung auch und insbesondere durch Tabubruch ‚funktioniert‘. Das
praktizistische Doublebind kann nur durch Rechtssicherheit für alle Beteiligten
aufgelöst werden: für die Kreativen als Bild- und TextproduzentInnen, für die
Auftraggebenden als Finanziers, für die RezipientInnen als AdressatInnen von
Werbung und als Zwangsinformierte, die im öffentlichen Raum diesen Werbebot-
schaften ausgesetzt sind. Gerade wenn Werbung so dominant sichtbar und überall –
in jedem sozialen wie medialen Umfeld – eingebaut ist, muss Werbung gesellschaft-
lich neu verhandelt und geregelt werden.
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Feministische Rezeptionsforschung
populärer Medien
Brigitte Hipfl
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350
2 Anfänge: Auf Frauen fokussierte Publikumsforschung – Herta Herzogs
Radio-Soap-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
3 Geschlechtsspezifische Mediennutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
4 Mediennutzung als Prozesse der Vergeschlechtlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
5 Fanpraktiken als potentiell kritischer, queerer Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
6 Feministisch-queere Potentiale digitaler Medienpraktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
Zusammenfassung
Die Popularität von Medien und das je spezifische Engagement der Nutzer:innen
kann nicht allein aufgrund von Analysen der Medienangebote erklärt werden,
sondern erfordert auch Untersuchungen des tatsächlichen Umgangs mit Medien
(inhalten). Eine zentrale Einsicht der feministischen, queer- und gendertheoreti-
schen Auseinandersetzung mit der Rezeption und Nutzung von (Massen)Medien
ist, dass nahegelegte genderbezogene Bedeutungen sowohl übernommen als auch
kritisiert und in Frage gestellt werden können. Die theoretischen Zugänge, mit
denen das Zusammenspiel der strukturellen Macht der Medien und der Agency
der Nutzer:innen konzipiert wird, haben sich im Lauf der Zeit verschoben.
Standen anfangs vor allem die Bedeutungen, die professionell hergestellten
populären Medien zugeschrieben werden, sowie die damit verknüpfte Frage
nach der Politik von Unterhaltung im Mittelpunkt, wurde der Umgang mit
Medien zunehmend als Teil der alltäglichen Praktiken von ‚doing gender‘ verstan-
den. In jüngster Zeit rückt mit den sozialen Medienplattformen die immer schneller
B. Hipfl (*)
Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich
E-Mail: brigitte.hipfl@aau.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 349
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_20
350 B. Hipfl
werdende Zirkulation und emotionale Besetzung der von den Nutzer:innen pro-
duzierten, bewerteten und bearbeiteten Medieninhalte in den Vordergrund.
Schlüsselwörter
Rezeption · Mediennutzung · Geschlechtsspezifische Medienrezeption ·
Subjektposition · Fanfiction · Mädchen- und Frauen-Genres · Postfeministische
Sensibilität
1 Einleitung
1
Medienrezeption steht hier als Begriff für Praktiken des Umgangs mit populärkulturellen Medien,
die auch als Mediennutzung, Medienkonsum, Medienaneignung oder Medienengagement bezeich-
net werden. Da der Fokus dieses Beitrags auf das Spannungsfeld zwischen den in den Medien
nahegelegten genderbezogenen Bedeutungen und der Art und Weise, wie damit umgegangen wird,
liegt, wird in diesem Beitrag nicht der Differenzierung in eine präkommunikative, kommunikative
und postkommunikative Phase der Rezeption, die Lünenborg und Maier (2013, S. 123–146)
vorschlagen, gefolgt. Entsprechend sind auch quantitative Mediennutzungsdaten nicht inkludiert.
Der Begriff Rezipient:innen wird synonym mit Nutzer:innen verwendet.
Feministische Rezeptionsforschung populärer Medien 351
seien. Damit verbunden sind unterschiedliche Gewichtungen der in den Medien für
die Nutzer:innen angelegten Positionen auf der einen Seite und der konkreten
Mediennutzungspraktiken auf der anderen. Zum anderen zeigt sich ein Wandel der
Theorien: Wurden Medien und Mediennutzer:innen zu Beginn als klar voneinander
getrennt konzipiert und danach gefragt, welche Wirkungen Medien auf die Men-
schen haben bzw. welche Bedürfnisse der Nutzer:innen durch Medien befriedigt
werden, wird nun von Ko-Konstitution und der performativen Hervorbringung
spezifischer Subjektivitäten gesprochen.
Das Forschungsfeld Medienrezeption und Gender lässt sich als eine Geschichte
feministischer und gendertheoretischer Interventionen darstellen und illustriert anschau-
lich, wie sich einerseits Schwerpunktsetzungen, theoretische Grundannahmen und for-
schungspraktische Zugänge verändern, andererseits aber bestimmte Fragen, Probleme
und Herausforderungen von Anfang an durchziehen. An ausgewählten Beispielen, die
für je spezifische Zugänge stehen, wird dies im Folgenden veranschaulicht.
Die Medienindustrie hatte von Anfang an großes Interesse am Publikum, hängt doch
ihre Existenz davon ab, dass die Produkte auch tatsächlich genutzt und gut ange-
nommen werden (Ang 1991). Erste umfassende empirische Studien wurden im
Rahmen des in den 1930er-Jahren von Paul Lazarsfeld in den USA gegründeten
Office of Radio Research durchgeführt. Hier sind Herta Herzogs Studien zu Frauen,
die regelmäßig Radio-Soaps anhören (Herzog 1941, 1944) besonders hervorzuhe-
ben, weil sie bereits auf zentrale Spannungsfelder verweisen, die das Forschungsfeld
Medienrezeption und Geschlecht bis heute kennzeichnen (Klaus 2008). Radio-
Soaps waren damals höchst populär und wurden vor allem von Frauen genutzt.
Herzog war daran interessiert, welche Bedeutung die Zuhörerinnen diesen Geschich-
ten in ihrem Lebensalltag zuschreiben. In offenen Interviews wie auch in daraus
entwickelten detaillierten Fragebögen lässt sie die Radiohörerinnen zunächst selbst
zu Wort kommen2 und analysiert die Aussagen dann in der Tradition der Kritischen
Theorie im Hinblick auf ihre gesellschaftspolitische Relevanz.
Obwohl Herzog nicht explizit feministisch argumentiert, kann ihre Vorgangs-
weise aus heutiger Sicht einer feministischen Intervention gleichgesetzt werden. Sie
nimmt die Faszination der Frauen für dieses Genre ernst, obwohl zu ihrer Zeit solche
Angebote zwar kommerziell erfolgreich waren, aber banalisiert werden. Herzog
zeigt auf, dass die Geschichten der Radio-Daytime-Serials von den Hörerinnen
nicht als Fiktionen wahrgenommen werden, sondern als Angebote, mit verschiede-
nen Herausforderungen, die sich aus der eigenen Lebenssituation ergeben, besser
zurechtzukommen. Sie charakterisiert die von den befragten Frauen beschriebenen
2
Herzogs Studien haben sich über mehrere Jahre erstreckt (Herzog 1941), was der damals einzig-
artigen Kombination aus akademischer und kommerzieller Forschung zu verdanken ist.
352 B. Hipfl
Erfahrungen als borrowed experience und verweist kritisch darauf, dass es sich nur
um eine kurzfristige emotionale Entlastung und eine Pseudo-Katharsis handle. Sie
problematisiert, dass Radio-Soaps zum Ersatz für die soziale Wirklichkeit und zur
Anpassung der Frauen beitragen würden, indem sich Frauen für ihr Denken und
Handeln an den Radio-Soaps orientieren (Klaus 2008, S. 236–237). Für Herzog liegt
das Problem nicht bei den Radiohörerinnen, vielmehr hält sie das Medienangebot
und die Art der Ratschläge für unangemessen, da sie Frauen unterstützen, sich mit
der gegebenen Situation zu arrangieren – entweder in Form von ‚wishful thinking‘,
dass sich alles zum Guten wenden werde, oder als Akzeptanz des eigenen Schicksals
durch die Projektion von Schuld auf andere (wenn z. B. Zuhörerinnen aus den
Radio-Soaps lernen, dass Ehemänner ihre Frauen nie verstehen) oder auch durch
das Übernehmen von Patentrezepten (etwa für die Kindererziehung). All dies trägt
jedoch ihrer Meinung nach nicht dazu bei, dass sich die Zuhörerinnen mit den
zugrundeliegenden Problemen auseinandersetzen. Deswegen appelliert Herzog an
die soziale Verantwortung der Produzent:innen und fordert, dass diese Geschichten
bereitstellen, die Informationen über und Analysen von komplexen sozialen Situa-
tionen beinhalten (Herzog 1944, S. 29–32).
3 Geschlechtsspezifische Mediennutzung
Die Popularität des Hollywoodkinos hat in den 1970er-Jahren das Interesse femi-
nistischer Forscherinnen geweckt, führen diese Filme doch vor, welches Begehren
und Wissen eine westliche Kultur wie die der USA kennzeichnen. Die theoretischen
Feministische Rezeptionsforschung populärer Medien 353
nicht ausreicht, anstelle der im Film angebotenen Subjektpositionen nur die Reak-
tionen realer Zuschauer:innen zu erheben.
Radways Studie (wie auch Kritik daran, z. B. von McRobbie 1991, S. 139–140)
führt anschaulich ein Spannungsfeld vor, das sich auch in darauffolgenden feminis-
tischen Rezeptionsstudien zeigt. Es betrifft das Verhältnis der autonomen Lesarten,
die auch von den Medientexten nicht-intendierte Bedeutungszuschreibungen ent-
halten, zur ideologischen Arbeit der Texte, Zustimmung zu hegemonialen Sicht-
weisen und Subjektpositionen bei den Leserinnen zu organisieren. Das Vergnügen
weiblicher Zuschauerinnen besteht unter anderem darin, sich sowohl kritisch mit den
Inhalten auseinanderzusetzen als auch sich emotional darauf einzulassen (van Zoo-
nen 1994, S. 118). Ien Ang (1986) kommt in ihrer Studie zur TV-Serie Dallas zum
Ergebnis, dass die Zuseherinnen trotz der völlig anderen sozio-ökonomischen Be-
dingungen der Serienwelt auf der Ebene der Gefühlsstruktur angesprochen werden
und Parallelen zu eigenen Lebensbedingungen sehen. Insbesondere ist dies die
‚tragische Gefühlsstruktur‘, wie sie etwa in den permanenten Krisen von Sue Ellen,
einer der weiblichen Hauptfiguren, zum Ausdruck kommt.
In medienpädagogischen Zusammenhängen wird gefragt, ob bzw. in welcher
Weise die Nutzung von und Bedeutungszuschreibung zu Medien Formen ge-
schlechtsspezifischer Sozialisation sind. In qualitativen Interviews und standardi-
sierten Befragungen zu den Lieblingsfiguren von Mädchen und Jungen im Fernse-
hen (Götz 2015) definieren sich die Kinder als Mädchen und Jungen und suchen in
den Fernsehangeboten jeweils nach Mädchen- bzw. Jungenfiguren. Allerdings un-
terscheidet sich kaum, was sie in den Fernsehfiguren suchen – nämlich etwas, das ihr
Selbst anspricht und ein Gefühl von Handlungsmächtigkeit, Anerkennung und
Zukunftsperspektive vermittelt. Maya Götz problematisiert jedoch, dass das Mate-
rial, das den Kindern im Fernsehen zur Verfügung gestellt wird, in geschlechtsspezi-
fischer Hinsicht stereotyp und klischeehaft ist (Götz 2015, S. 97).
Bereits Herzog spricht in ihrer Studie zur Rezeption von Radio-Soaps davon, dass
die Radiogeschichten für die befragten Frauen Teil ihres Lebensalltags werden. Aber
erst in den 1980er-Jahren wurde diese Sichtweise verstärkt aufgegriffen und eine
Wende in der Rezeptionsforschung eingeläutet, indem nicht wie bisher von den
Medieninhalten (und deren möglichen Einflüssen) ausgegangen, sondern gefragt
wird, in welcher Weise Medien(inhalte) in je spezifischen Kontexten bedeutsam
werden. Damit werden nicht nur die Nutzer:innen und ihre jeweiligen Lebensbedin-
gungen ernst genommen, es wird auch der Tatsache Rechnung getragen, dass
Mediennutzung vielfach als Gewohnheit oder Ritual und mit wechselnder Aufmerk-
samkeit erfolgt (Hall 1986; Hermes 1993, 1995).
Wie solch habitualisierte Muster mit dem Geschlechterverhältnis zusammenhän-
gen, zeigen etwa Studien zum Medienhandeln im häuslichen Alltag (siehe auch Roth
und Röser 2019). David Morley (1986, S. 139–160) kommt in seiner Befragung von
18 Londoner Familien zur Art und Weise der Nutzung des Fernsehens in der Familie
zu dem Ergebnis, dass den vergeschlechtlichten häuslichen Machtbeziehungen dabei
eine zentrale Rolle zukommt. So wird durchgehend berichtet, dass die Männer in den
356 B. Hipfl
Familien bestimmen, was ferngesehen wird, wobei der Besitz der Fernbedienung ein
materieller Ausdruck dieser Machtbeziehung ist. Die Dominanz der Männer ergibt
sich aus ihrer Position des Ernährers, während sich Frauen für Haushalt und Familie
verantwortlich fühlen. Unterschiede in der Art des Fernsehens – Männer bevorzugen
faktenbasierte Angebote und aufmerksames Fernseh-Schauen, bei dem sie nicht
gestört werden wollen, während für Frauen Fernsehen eine soziale Aktivität ist,
die durch Gespräche und die Ausübung zumindest einer anderen häuslichen Ak-
tivität (wie z. B. Bügeln) gekennzeichnet ist – werden als Ausdruck der häuslichen
Ausformungen der gesellschaftlich vorherrschenden Sicht von Männlichkeit und
Weiblichkeit und der damit verknüpften Arbeitsteilung verstanden. Zwar sprechen
viele Frauen auch davon, wie sehr sie es genießen, ihre Lieblingssendungen (zum
Großteil fiktive Inhalte bzw. Unterhaltungsshows) für sich alleine anschauen zu
können, charakterisieren dies allerdings oft als ‚guilty pleasures‘.
Die Verwobenheit von Alltagsleben und Medien lässt sich gut in medienbio-
graphischen Zugängen erkennen. So belegt Röttger (1994), dass junge Frauen bei
ihrer Suche nach eigenständigen Lebensentwürfen auf diverse Angebote in ver-
schiedenen Medien zurückgreifen. Gleichzeitig scheint es nach Beinzger (2004)
nicht so leicht zu sein, die Orientierung an genderbezogenen Subjektpositionen
und Bildern, die schon früh aus Filmen gewonnen wird, später aufzugeben. Ein
Beispiel für widerständiges Aushandeln von Medieninhalten findet sich etwa bei bell
hooks (1990, S. 3). Sie spricht von gemeinsamen Fernsehabenden in ihrer Familie,
in denen am Beispiel der dominanten, Schwarze ausschließenden Repräsentationen
ausführlich über die Marginalisierung Schwarzer Charaktere und über Rassenpolitik
diskutiert wurde, was für hooks eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung
eines kritischen Bewusstseins war.
Mit Konzeptionen, die – insbesondere beeinflusst von Judith Butlers (1991, 1995)
Theoretisierung von Geschlecht als performative Konstitution – die Natürlichkeit
und Gegebenheit von Geschlecht und Geschlechtsidentität in Frage stellen und
Geschlecht als etwas Prozesshaftes verstehen, an dessen Konstitution wir mitbetei-
ligt sind, verschieben sich auch die Fragestellungen zum Zusammenspiel von
Mediennutzung und Geschlecht. Anstelle einer vorab vorgenommenen Kategorisie-
rung in Frauen und Männer und einer darauffolgenden Prüfung eventueller Unter-
schiede in der Mediennutzung geht es nun um die Frage, ob bzw. wie Geschlecht und
Geschlechterdifferenz in und durch Mediennutzung hervorgebracht wird.
Der Umgang mit und die Aneignung von Medien werden nun als Praktiken der
Vergeschlechtlichung, als ‚doing gender‘ verstanden, die aber nicht völlig selbst-
bestimmt, sondern durch gesellschaftliche Machtrelationen strukturiert sind (Maier
2007, S. 53, 183). Es handelt sich um mehr oder weniger bewusste Positionierungen
in und zu den jeweils gesellschaftlich dominanten, historisch-spezifischen Diskursen
zu Geschlecht. Ang und Hermes (1994) unterscheiden in dem Zusammenhang
zwischen Geschlechterdefinitionen, die in der Gesellschaft vorherrschen, Geschlech-
Feministische Rezeptionsforschung populärer Medien 357
3
Die von Röser als hegemoniale Situation bezeichnete Szene zeigt einen verkleideten Mann, der
eine Prostituierte erwürgt; die von ihr als nicht-hegemonial bezeichnete Szene zeigt eine Frau, die
mittels Kampftechniken einen männlichen Angreifer bezwingt.
358 B. Hipfl
4
Siehe zur Methode der Kollektiven Erinnerungsarbeit auch Hipfl 2021a.
Feministische Rezeptionsforschung populärer Medien 359
Jugendlichen die Welt der Weißen Charaktere von Neighbours mit ihrer eigenen,
stark durch die kulturellen Konventionen und Erwartungen ihrer Familien bestimm-
ten Welt. Das ermöglicht vor allem den Mädchen, sich am Beispiel von Familie,
Verwandtschafts-, Nachbarschafts- und romantischen Liebesbeziehungen intensiv
mit kulturellen, generationalen und Gender-Differenzen auseinanderzusetzen.
Fanstudien setzen sich mit medialen Praktiken auseinander, die über die üblichen
Formen von Mediennutzung hinausgehen und stärker eigene Interessen, Fantasien
und Begehrensweisen zum Ausdruck bringen. Analysen von Fan-Kommentaren
können Einblicke geben, was die Faszination einzelner Medienprodukte ausmacht,
aber auch, was dazu beiträgt, dass sie nachlässt. So hat Joke Hermes (2005) in ihrer
Studie zur Website Jump the shark, auf der Fans von TV-Serien kommentieren,
wenn und warum sie glauben, dass Serien den Höhepunkt überschritten haben,
Aussagen zu den beiden TV-Serien Ally McBeal und Sex and the City untersucht.
In beiden Fällen richtete sich die Kritik auf das Zurücknehmen des Wunsches nach
Freiheit und Individualität zugunsten einer Orientierung in Richtung Familie und
traditioneller Vorstellungen von Weiblichkeit.
Fandom kann zu einem Raum werden, in dem sich marginalisierte Gruppen wie
z. B. Schwule akzeptiert fühlen, wie etwa Heinz Moser (1999) in seiner Befragung
von aktiven schweizerischen Fans des Grand Prix Eurovision-Wettbewerbs5 aus-
führt. All der Glamour, die Inszenierungen der Geschlechterrollen und der Klatsch,
der diese Fernsehshow umgibt, produziert ein lustvolles Camp-Gefühl und regt die
Fans an, z. B. in Travestieshows mit Geschlechterrollen zu spielen bzw. sie zu
parodieren. Fanstudien dieser Art stehen in einer langen Tradition von queer rea-
ding, eines gegen die hegemonialen Bedeutungszuschreibungen gerichteten Lesens
von Mainstream-Medieninhalten, das den Fokus auf die Queerness richtet, die in
diesen Texten immer auch enthalten ist (Doty 1993, S. xi–xii).
Unter den diversen Praktiken von Fans nimmt Fanfiction und Fanart, mit denen
populärkulturelle Texte weiterentwickelt bzw. umgeschrieben werden, eine beson-
dere Rolle ein. Die frühen Beispiele von Fanfiction stammen überwiegend von
Frauen, die Geschichten auf der Basis ihrer Erfahrungen in einer patriarchalen
Gesellschaft umschreiben und z. B. männliche Charaktere in gleichberechtigten
romantischen Liebesbeziehungen positionieren (Hellekson und Busse 2014, S. 75).
Tendenziell konzentrieren sich männliche Fans stärker auf narrative Aspekte, Inten-
tionen etc., währende weibliche Fans überwiegend an der fiktiven Welt und den
Charakteren interessiert sind (Hellekson und Busse 2014). Waren es zu Beginn
5
Der Grand Prix Eurovision (inzwischen als Eurovision Song Constest bezeichnet) ist ein Musik-
wettbewerb, bei dem seit Mitte des 20. Jahrhunderts jährlich Interpret:innen aus den Ländern, die
der europäischen Rundfunkunion angehören, teilnehmen (https://www.eurovision.de/event/index.
html).
360 B. Hipfl
Zines, die in Form selbst produzierter Texte in der Community verbreitet wurden,
läuft der Austausch inzwischen über eigene Fan-Websites, Fan-Foren und Platt-
formen wie Tumblr und Twitter.
Eine spezifische Variante des Umschreibens der Mainstream-Film- und Fernseh-
Inhalte ist Slashfiction, in der es um homoerotische Beziehungen geht. Eines der
ersten, breit diskutierten Beispiele ist die erotische Beziehung zwischen Captain
Kirk und Officer Spock in der US-Science-Fiction-TV-Serie Star Trek. Hier wird das
Genre von Frauen genutzt, um anhand von zwei männlichen Protagonisten sexuelle
Fantasien sowie Fantasien einer gleichberechtigten Arbeits- und Liebesbeziehung zu
entwickeln bzw. Männer feministisch zu zeichnen, indem männliche Körper umge-
formt und z. B. mit neuen erogenen Zonen oder der Fähigkeit, Kinder zu gebären,
ausgestattet werden (Penley 1997, S. 125–131). Aktuelle Beispiele für die Kon-
struktion gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen, die Durchbrechung kon-
ventioneller Gender-Normen und für Veruneindeutungen finden sich etwa in Fan-
fiction zu Vampir:innen-Filmen und Fernsehserien (Labahn, in Bearbeitung).
Inzwischen ist Fanfiction oder Fanart nicht mehr ein vorwiegend von Frauen
genutzter Raum, sondern ein queerer Raum, der durch ein Spiel mit Androgynie, das
Erkunden von Möglichkeiten außerhalb bestehender, vorherrschender Gender-
Konventionen sowie durch Verundeutigungen und Entselbstverständlichungen
gekennzeichnet ist (Jenkins 2018; Hellekson und Busse 2014; Labahn, in Bearbei-
tung). Darüber hinaus verfolgen Initiativen, die als Fanaktivismus bezeichnet wer-
den – wie z. B. Fandom Forward oder die Hawkeye Initiative – das Ziel, die
Faszination für bestimmte popkulturelle Inhalte mit Interventionen in aktuelle For-
men von Ungleichheit (im Hinblick auf Gender, LGBTQIA, race, Herkunft, aber
auch in Bereichen wie Migration, ökonomischer Ungleichheit etc.) zu verknüpfen
(fandomforward.org; The Hawkeye Initiative). So schreiben Fans u. a. nach einer
kritischen Analyse der Gender-Repräsentationen in Marvel-Filmen und Comics die
Geschichten um bzw. werden die männlichen Protagonisten in den sexualisierten
Positionen gezeichnet, in denen die weiblichen Akteurinnen in den Originalen
vorkommen, um damit zu einer Art Bewusstseinsbildung beizutragen. Fans setzen
sich für mehr Diversität in der Populärkultur ein und problematisieren das white-
washing von Charakteren, die in den zugrundeliegenden Texten nicht-Weiß waren
(wird auch als racebending bezeichnet) bzw. setzen sich für eine Besetzung von
Weißen Charakteren mit people of color ein (Jenkins 2018).
Insgesamt ist Fandom als ambivalentes Feld zu charakterisieren: Neben diesen
Fanpraktiken eigen- und widerständiger Lesarten gibt es auch Beispiele von Com-
munities, die sich für ein traditionelles Geschlechterverhältnis einsetzen und myso-
gyne Praktiken und Hass-Kommunikation verwenden (siehe dazu auch Aigner und
Lenz 2019). Zudem wird in der derzeit dominanten neoliberalen Logik, die Subjekte
als Konsument:innen und Unternehmer:innen anruft, usergenerated content von
Fans schnell zu einer Ware, die in der Medienindustrie gut vermarktbar ist (Jenkins
2018; Hills 2016).
Feministische Rezeptionsforschung populärer Medien 361
gleich,6 zudem fallen die klaren Grenzen weg, die für Face-to-face-Communities
zuvor charakteristisch waren, und machen die eigenen Bilder und Statements auch
Menschen zugänglich, die nicht einer durch gemeinsame Anliegen, geteilte Erfah-
rungen und politische Kämpfe gekennzeichneten Community angehören. Zudem
finden sich bereits bei den Camgirls Praktiken wie Self-Branding und die ständige
Inszenierung des eigenen Mikro-Celebrity-Status, die gegenwärtig in den sozialen
Medien allgegenwärtig sind und am deutlichsten im Phänomen der Influencer:innen
zum Ausdruck kommen (Senft 2008, S. 8).
In den feministischen Diskussionen aktueller Video- und Foto-Sharing-Netzwer-
ke wie z. B. Instagram richtet sich der Fokus einerseits auf Aspekte, die als
problematisch angesehen werden, andererseits wird auf das feministische Potential,
das sich hier eröffnet, verwiesen. Für Rosalind Gill, die sich intensiv mit der Frage
auseinandersetzt, welche Formen Gender-Diskriminierungen und -Ungleichheiten
unter den gegebenen Bedingungen annehmen, entwickeln sich aufgrund des Zu-
sammenspiels von postfeministischer Sensibilität und neoliberalen Prinzipien neue
regulierende Praktiken des Schauens (Gill 2019). Die unzähligen Apps, die ver-
schiedene Formen der Selbst-Beobachtung und des Self-Tracking ermöglichen,
verstärken die Aufforderung zu ständiger Selbstkontrolle, die zentrale Charakteris-
tika von Postfeminismus und Neoliberalismus sind. Für beide ist die Rhetorik von
Individualismus, Selbstbestimmtheit und Wahlfreiheit, die mit der Konzeption des
unternehmerischen, sich ständig optimierenden Subjekts einhergeht, bestimmend.
Für Gill (2019, S. 150) kann Postfeminismus7 als gegenderte Version des Neolibe-
ralismus verstanden werden; sie bezeichnet die Effekte der neoliberalen Responsi-
bilisierung der Mädchen und Frauen als postfeministische Sensibilität. Diese schlägt
sich in einer extremen Fokussierung auf die Aufgabe nieder, den eigenen Körper zu
managen, zu formen und zu gestalten, d. h. ständig ‚ästhetische Arbeit‘ zu leisten.
Anstelle von strukturellen Ungleichheiten (und den feministischen Konzepten für
deren Analyse) werden nun die eigenen Wahl-Entscheidungen als Erklärung für
Machtunterschiede herangezogen. Dies geht Hand in Hand mit spezifischen Gefüh-
len, die als angemessen gelten wie „fun, resilient, positive and relentlessy upbeat“
(Gill 2019, S. 152). Was früher nur auf Celebrities zutraf, dass nämlich ihre Körper
in Zeitschriften den kontrollierenden Blicken von Medienrezipient:innen ausgesetzt
werden, gilt nun in intensivierter Form für alle Frauen, die in den sozialen Medien
präsent sind. Sie überwachen sich gegenseitig und vor allem auch sich selbst.
Das queer-feministische Potential von sozialen Medien wird vor allem darin
gesehen, Bewusstsein für genderbezogene Ungleichheit und (strukturelle) Gewalt
zu schaffen bzw. eigene Erfahrungen und Herausforderungen in selbst-bestimmter
Form zu repräsentieren (siehe etwa Mendes et al. 2019). Beispiele sind Hashtag-
6
Wie Senft (2008, S. 7) betont, sind die meisten der von ihr interviewten Camgirls Weiß, able-
bodied, straight bzw. bisexuell und jünger als 40 Jahre.
7
Postfeminismus wird hier im Sinn von Angela McRobbie (2009) verstanden, die in der Populär-
kultur der Jahrtausendwende eine Form der Thematisierung von Feminismus verortet, bei der
einerseits feministische Anliegen akzeptiert, andererseits aber aufgrund der Fokussierung auf
individuelle Wahlfreiheit als nicht mehr nötig erachtet werden.
Feministische Rezeptionsforschung populärer Medien 363
Aktivismus (wie #aufschrei und #MeToo, siehe zu #aufschrei Drüeke und Zobl
2016) oder Blogs bzw. Videoblogs von Trans*, Non-Binary oder genderqueer-
Menschen (z. B. Raun 2016). Aber es werden auch explizit Aktionen gegen das
neoliberale postfeministische Schönheits-Regime in sozialen Medien gesetzt, wie
das von Cat Mahoney (2020) diskutierte Beispiel der Selbst-Repräsentationen von
drei Frauen (einer Bloggerin für Plus-Size-Damenmode und -unterwäsche, einer
Vertreterin der Body-Positivity-Bewegung und einer Personal Trainerin) auf Insta-
gram zeigt. Sie nutzen ihre Körper, die nicht den postfeministischen Normen
weiblicher Schönheit entsprechen und aus dieser Perspektive als unerwünscht bzw.
ungesund gelten, um Widerstand gegen solche Normierungen wie auch gegen die
Sexualisierung und Objektifizierung des weiblichen Körpers zum Ausdruck zu
bringen. Sie dokumentieren die Freude an ihren Körpern und stellen sich mit ihren
Bildunterschriften und Postings gegen die neoliberalen Parameter von Instagrams
visueller Ökonomie. Gleichzeitig sind sie sich dessen bewusst, dass auch sie den
Parametern von Instagram folgen und ihre Repräsentationen darauf ausrichten,
Follower zu kuratieren. Für Mahoney (2020, S. 14) besteht die zentrale feministische
Leistung darin, ein alternatives Vokabular bereitzustellen, mit dem Bilder von
Frauen in einer neoliberalen postfeministischen visuellen Ökonomie verstanden
und diskutiert werden können.
Fehlt ein solches Vokabular (und das damit verknüpfte theoretische Werkzeug),
dann werden selbst Momente bahnbrechender feministischer Repräsentationen in
populären Medien (wie z. B. in den Fernsehserien Desperate Housewives, Game
of Thrones, der Reality-TV-Show Jersey Shore und der Plattform Wikipedia)
de-politisiert und gezähmt, wie eine Rezeptionsstudie von Andrea Press und Fran-
cesca Tripoldi (2021) zeigt. Die Medienangebote werden dann unter Bezug auf
vertraute Aspekte von populärem, postfeministischem Feminismus (wie Individua-
lismus und individuelle Entscheidungen) interpretiert und genutzt. Ein anderes
Beispiel findet sich in einer Analyse der Diskussionen zu Skyler White,8 einer
Protagonistin der erfolgreichen US-TV-Serie Breaking Bad auf der Plattform Reddit
(Hermes und Stoete 2019). Die Kommentare werden drei unterschiedlichen
Sprecher:innen-Positionen zugeordnet: Neben der Position der kritischen, informier-
ten, selbst-kritischen Zuschauer:in findet sich die eines ‚moralischen Realismus‘, die
sich darin äußert, dass Skyler Whites Verhalten (als Mutter bzw. Partnerin in der
Serie) als moralisch gut oder schlecht bewertet wird. In der dritten, von den Auto-
rinnen als ‚public shaming‘ bezeichneten Position wird die Serienfigur und die
Schauspielerin zu einer miteinander verschmolzenen Celebrity-Figur. Hier wird
vom Recht ausgegangen, ‚öffentlich verfügbare‘ Personen beurteilen zu können,
was mit einem Gefühl der Befriedigung darüber einhergeht, dass die eigene Mei-
nung zur Kenntnis genommen wird (Hermes und Stoete 2019, S. 419–420). Für
8
Skyler White ist in der TV-Serie Breaking Bad die Ehefrau des Hauptprotagonisten Walter White,
einem Chemielehrer, der Krebs hat und aus Sorge, ob im Fall seines Todes genug Geld für seinen
behinderten Sohn und für seine Frau (die unerwartet wieder schwanger ist) zur Verfügung sei, mit
der Herstellung synthetischer Drogen beginnt. Immer mehr wird Walter White im Laufe der Serie zu
einem Kriminellen.
364 B. Hipfl
Hermes und Stoete sind Kommentare der Art des moralischen Realismus und des
public shaming Varianten von Celebrity-Klatsch, mit dem Genderfragen (überwie-
gend in traditioneller und mysogyner Weise) diskutiert werden (Hermes und Stoete
2019, S. 423).
7 Fazit
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Domestizierungsansatz: Medienaneignung
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Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
2 Grundannahmen des Domestizierungsansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
3 Entstehungskontext und Entwicklung des Domestizierungsansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372
4 Aktuelle Domestizierungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
5 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378
Zusammenfassung
Der Domestizierungsansatz ist in seinen Grundannahmen und seiner Entwick-
lung eng verknüpft mit der Frage nach dem Zusammenhang von Geschlechter-
ordnungen und häuslicher Medienaneignung. Dieser Fokus hat in aktuellerer
Forschung an Bedeutung verloren. Jedoch ist der Ansatz in besonderer Weise
dazu geeignet, die Aushandlung von Geschlechterverhältnissen in der häuslichen
Medienaneignung sowie die Teilhabe an neuen Medien zu analysieren.
Schlüsselwörter
Domestizierung · Medienaneignung · Häuslicher Alltag · Häusliche
Arbeitsteilung · Ethnografie · Gender
R. Roth (*)
Institut für Medienforschung und Medienpädagogik, Technische Hochschule Köln, Köln,
Deutschland
E-Mail: raik.roth@th-koeln.de
J. Röser
Institut für Kommunikationswissenschaft, Universität Münster, Münster, Deutschland
E-Mail: jutta.roeser@uni-muenster.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 369
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
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370 R. Roth und J. Röser
1 Einleitung
Als eine der ersten arbeitete Dorothy Hobson in ihren Studien zur Medienrezeption
von Hausfrauen (1980) sowie zur Rezeption von Soap Operas (1982) heraus, dass
vergeschlechtlichte Ordnungen des häuslichen Alltags für die Medienaneignung
relevant sind und diese prägen. Sie zeigte, dass die soziale Position nicht nur auf
der Ebene der Textinterpretation für Rezeptionsweisen relevant wird, wie es Stuart
Hall mit seinem Encoding-Decoding-Modell betont hatte (Röser 2015), sondern
auch auf der situativen Ebene: Die alltagsstrukturellen Bedingungen in ihren raum-
zeitlichen und sozialen Dimensionen prägen Medienrezeption. Für Hausfrauen
bedeutet dies die Zuständigkeit für reproduktive Tätigkeiten und die Gebundenheit
an das Häusliche. Hierdurch dominierte bei den Hausfrauen in Hobsons Studie eine
abgelenkte und immer wieder durch Hausarbeiten unterbrochene Medienrezeption.
Auch stellte die häusliche Sphäre für sie vornehmlich einen Ort der Arbeit dar, was
bei vielen Hausfrauen zu Schuldgefühlen führte, wenn sie sich eine Medienrezeption
erlaubten, die allein auf ihr eigenes Vergnügen ausgerichtet war. Diese Schuldge-
fühle korrespondierten mit einer gesellschaftlichen Abwertung von weiblich kon-
notierten und von vielen Hausfrauen rezipierten Genres wie etwa der Soap Opera,
die von Partnern und Ehemännern zudem entsprechend negativ kommentiert wurden
(Hobson 1980; siehe auch Morley 1986). Mit ihren Forschungen lenkte Hobson den
Blick auf bis dahin unbearbeitete Themen rund um das Häusliche und die Lebens-
realitäten von Hausfrauen. Ihre Analysen wurden von weiteren Arbeiten zur Me-
dienrezeption aus dieser Zeit grundlegend bestätigt (etwa Radway 1984; Modleski
1986; siehe auch Bausinger 1984).
Insbesondere David Morley vertiefte die gewonnenen Einsichten und rückte in
seiner Studie Family Television (1986) den häuslichen und familiären Alltag von
Fernsehaneignung in den Fokus. In der Auswertung der Studie konzentrierte er sich
auf die Frage, wie Geschlechterverhältnisse das Häusliche und damit auch den
Fernsehkonsum prägen. Dies entsprach Morleys Interesse für die Verbindung von
Mikro- und Makroperspektive. Zentral war die Feststellung unterschiedlicher Modi
des Fernseh- und Videogebrauchs von Männern und Frauen („styles of viewing“,
Morley 1992, S. 148). Statt diese aber essenzialistisch zu begründen, stellte Morley
(wie vorher Hobson) als Hintergrund dieser Befunde einen geschlechtsgebunden
strukturierten Alltag fest, in dem Frauen und Männern im Sinne einer geschlechts-
Domestizierungsansatz: Medienaneignung und Geschlechterordnungen 373
1
Gray (1987) widerspricht diesen Befunden später allerdings in Teilen, da sie in ihrer Studie zum
Gebrauch des Videorekorders auch in der von Morley beschriebenen Konstellation männlich
dominierte Nutzungsweisen fand (vgl. Morley 1992, S. 218).
374 R. Roth und J. Röser
Vor dem Hintergrund der dargestellten Forschungen wurde schließlich das Domes-
tizierungskonzept im Rahmen des HICT-Projekts – The Household Uses of Infor-
mation and Communication Technologies – entwickelt. Roger Silverstone, David
Morley, Eric Hirsch und Sonia Livingstone führten dieses Projekt Ende der 1980er-
Jahre unter Einbeziehung der (damals) neuen Medientechnologien durch (siehe die
Beiträge in Silverstone et al. 1989; Morley und Silverstone 1990; Silverstone und
Hirsch 1992; ferner Hartmann 2013, S. 45–47). Es ging ihnen vor allem darum,
Medienaneignung in einem breiteren soziotechnischen und kulturellen Rahmen neu
zu definieren, um eine Alternative zu technikdeterministischen Ansätzen zu ent-
wickeln. Das Projekt untersuchte insgesamt 20 Haushalte und startete zu einer Zeit,
als der Einzug von Computern in die private häusliche Welt gerade in den Anfängen
steckte und Satelliten-TV, Spielekonsolen u. Ä. ‚neue‘ Medien waren, so dass es zu
einer Pionierstudie über die Frühphase der Digitalisierung der Haushalte wurde.
Während die Auswertung der Haushaltsfallstudien bruchstückhaft blieb (Hart-
mann 2013, S. 101), zeichnete sich das Projekt durch die Entwicklung wichtiger
theoretisch-konzeptioneller Grundlagen des Domestizierungsansatzes aus. Dabei
wurden die oben dargestellten Analysen und theoretischen Einsichten systematisch
zusammengeführt. Darüber hinaus setzte das HICT-Projekt einen neuen Fokus, der
sich auf die Verhäuslichung von Medien richtete und damit auf den Prozess,
„through which new technologies (of all kinds) are incorporated into the family
and the household, and in that process acquire meanings of all kinds“ (Silverstone
et al. 1989, S. 4). Damit öffnete sich auch der Blick auf die Teilhabe an neuen
Medien (Röser 2007; Röser und Müller 2017), die im familiären und häuslichen
Kontext gefördert oder auch behindert werden kann: „[Audience] practices have to
be seen as situated within the facilitating and constraining microsocial environments
of family and household interaction“ (Morley und Silverstone 1990, S. 32–33).
Bezüglich der Frage nach Machtverhältnissen und ihrer Bedeutung für Medien-
aneignung im häuslichen Alltag bezogen sich die Autor*innen explizit auf die
Analyse von Geschlechterverhältnissen. Einerseits betonten sie die vergeschlecht-
lichte Ordnung des häuslichen und familiären Alltags, durch die Männer und Frauen
unterschiedlich positioniert sind und Medien entsprechend unterschiedlich aneig-
nen: „The domestic sphere is not simply a physical space – it is also a socially
organized space. Just as we argued earlier (. . .) we turn to the significance of the
gendered organization of domestic space within the private sphere – as a fundamen-
tal determinant of the take up and use of different technologies by family members.“
(Silverstone et al. 1989, S. 67–68) Andererseits arbeiteten sie heraus, dass Medien-
technologien vergeschlechtlicht sein können, indem sie mit männlichen oder weib-
lichen Sphären in Verbindung gebracht werden und so z. B. zu „masculinised
technologies“ (Silverstone et al. 1989, S. 78) werden, wie sie es für den „home
computer“ oder für Videospiele analysierten. Ihre Perspektive ist dabei eine explizit
konstruktivistische (Silverstone et al. 1989, S. 71). Medien(technologien), Familie
und Haushalt verstehen sie als geformt durch spezifische historische und gesell-
schaftliche Bedingungen.
Domestizierungsansatz: Medienaneignung und Geschlechterordnungen 375
4 Aktuelle Domestizierungsforschung
2
Etwa der berufliche Kontext bei Pierson (2006).
3
Etwa Alleinerziehende bei Lemor und Anna-Maria (2006), junge Alte bzw. Rentner*innen bei
Silverstone und Haddon (1996) und Röser (2017), „disadvantaged users“ bei Hynes und Rommes
(2006), „Home-Workers“ bei Ward (2006) und „female-headed households“ bei Karl (2007, 2009).
4
Es gab aber auch Paare, in denen beide Partner*innen relativ gleichwertig nutzten. Diese Paare
kamen in der Regel aus dem Studierendenmilieu und lernten das neue Medium im Zuge ihres
Studiums kennen. Neben einem technischem Interesse am Internet waren es insbesondere Impulse
aus Studium, Ausbildung und Beruf, die für die Anschaffung eines häuslichen Internetanschlusses
in den 1990er-Jahren ausschlaggebend waren (Röser und Peil 2010).
376 R. Roth und J. Röser
Nutzung, die sich zuvor explizit internet-distanziert geäußert hatten und Online-
Tätigkeiten teils von ihren Männern erledigen ließen (Röser und Roth 2015).
Nachdem Männer und Frauen den Zugang zum Internet gefunden hatten und die
Medientechnologie immer weniger einer grundlegenden Vergeschlechtlichung un-
terlag, wurden allerdings zweigeschlechtliche Ordnungen des Alltags für die Nut-
zung relevant(er). So wurden Zuständigkeiten rund um das Internet auf inhaltlicher
Ebene geschlechtlich gerahmt und von den Paaren in die von ihnen gelebte (mehr
oder weniger ausgeprägte) geschlechtsgebundene Arbeitsteilung eingefügt (für ent-
sprechende Fallanalysen siehe Röser et al. 2019, S. 177–207; Röser und Roth 2015;
vgl. auch Ahrens 2009). Auf das hier gefundene ‚Einfügen‘ von Medienaneignung
in bereits bestehende häusliche Geschlechterordnungen des Alltags durch die Nut-
zer*innen weist das Domestizierungskonzept schon in seinen Schlüsseltexten hin
(vgl. Silverstone et al. 1989, S. 35–39, 67–71; Morley und Silverstone 1990, S. 38).
Dabei ist dieses geschlechtsgebundene Medienhandeln als Produkt historisch ge-
wachsener und spezifischer gesellschaftlicher Diskurse um Zweigeschlechtlichkeit
zu verstehen, die auf der Mikroebene mit Leben gefüllt werden.
Eine genauere Analyse der sozialen Interaktionen im Paaralltag zeigt zudem, wie
ambivalent sich die häusliche Medienaneignung aus Geschlechterperspektive ge-
stalten kann.5 So betonen einige durchaus routiniert und eigenständig nutzende
Frauen der Studie teilweise ihre Inkompetenz mit dem Internet, um bestimmte
Internettätigkeiten an ihre Partner abgeben zu können. Wie Ann Gray bereits kurz
nach den zentralen Publikationen des HICT-Projekts herausarbeitete, ist diese Stra-
tegie der „kalkulierten Ignoranz“ (Gray 1992, S. 106) im Rahmen eines geschlecht-
lich strukturierten häuslichen Alltags zu sehen, in dem Männern und Frauen
unterschiedliche Positionen und Aufgaben zugeschrieben werden. Die internetdis-
tanzierten Männer im Sample beziehen sich hingegen nicht auf Diskurse um tech-
nische Inkompetenz. Sie scheinen zwar einen gewissen Erklärungsdruck für ihre
geringe Internetnutzung zu verspüren und rechtfertigen sich ausführlich, nennen
aber eher andere Gründe – etwa eine naturnahe statt technikaffine Persönlichkeit
oder eine Ablehnung von „Technikfreaks“ und dem Internet im Allgemeinen.
Medienaneignung wird damit einerseits von zweigeschlechtlichen Diskursen
gerahmt (hier: Männlichkeit und Technikkompetenz) und ist andererseits mit
vergeschlechtlichten Positionen im häuslichen Alltag verknüpft.
5
Die folgenden Aspekte wurden vertiefend in der Dissertation von Raik Roth bearbeitet (Veröffent-
lichung voraussichtlich 2023).
Domestizierungsansatz: Medienaneignung und Geschlechterordnungen 377
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Social Media: Zwischen
Selbstrepräsentation, und Unsichtbarkeit,
Empowerment und Sexismus
Tanja Carstensen
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
2 Unterschiede in Zugang und Nutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
3 Praktiken der Selbstpräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
4 Infrastrukturen, eingeschriebene Diskriminierungen und User_innen-Kämpfe . . . . . . . . . . . 385
5 Vernetzter Aktivismus, neue Öffentlichkeiten und digitaler Anti-Genderismus . . . . . . . . . . . 386
6 Social-Media-Arbeit – unsichtbar, ausgebeutet, entgrenzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
Zusammenfassung
Soziale Medien (u. a. Wikis, Weblogs, Microblogging, soziale Netzwerke) gelten
als besonders user_innen-zentriert und partizipativ; (noch) mehr als vorherige
Internettechnologien aktivieren sie zu Beteiligung, Austausch, Vernetzung und
Selbstdarstellung. Im Anschluss an Erkenntnisse und Perspektiven der frühen
feministischen Internetforschung stellt der Text eine Reihe genderrelevanter
Themen in Bezug auf Social Media vor: Zugang und Nutzung, Praktiken der
Selbstpräsentation, Infrastrukturen, Aktivismus und Öffentlichkeiten sowie
Arbeit.
Schlüsselwörter
Social Media · Infrastrukturen · Selbstpräsentation · Öffentlichkeit · Digitale
Arbeit
T. Carstensen (*)
Ludwig-Maximilians-Universität, München, Deutschland
E-Mail: tanja.carstensen@soziologie.uni-muenchen.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 381
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_79
382 T. Carstensen
1 Einleitung
Seit den 1990er-Jahren gewinnt das Internet an prägendem Einfluss auf nahezu alle
Lebensbereiche. Kommunikation, Informationsbeschaffung und -verbreitung haben
sich erheblich beschleunigt und verdichtet. Mit den so genannten sozialen Medien
hat diese Entwicklung seit Mitte der 2000er-Jahre noch an Dynamik gewonnen. Als
soziale Medien werden Medien bezeichnet, die es Nutzer_innen ermöglichen, Infor-
mationen anderen zugänglich zu machen und zu bearbeiten sowie sich untereinander
auszutauschen (u. a. Schmidt 2013, S. 10). Soziale Medien gelten daher als beson-
ders user_innen-zentriert und partizipativ; (noch) mehr als vorherige Internettech-
nologien aktivieren sie zu Beteiligung, Austausch, Vernetzung und Selbstdarstel-
lung. Die Social-Media-Forscherin boyd (2014, S. 11) macht insbesondere vier
Eigenschaften aus, die soziale Medien kennzeichnen: Persistenz (Inhalte werden
langfristig gespeichert und angezeigt), Sichtbarkeit (durch Vernetzung vergrößert
sich das mögliche Publikum), Duplizierbarkeit (Inhalte sind einfach und schnell zu
verteilen) und Auffindbarkeit (Inhalte können systematisch gesucht werden).
Hinter diesen gemeinsamen Charakteristika steht allerdings eine Vielfalt unter-
schiedlichster Angebote, die sich auf verschiedene Arten systematisieren und klas-
sifizieren lassen (und dabei gleichzeitig keinesfalls trennscharf unterscheidbar sind).
Taddicken und Schmidt (2017, S. 9–13) differenzieren soziale Medien folgender-
maßen: (1) Plattformen, die eine softwaretechnische Infrastruktur für eine Vielzahl
von User_innen bieten. Hierzu gehören soziale Netzwerke (z. B. Facebook, XING),
die in der Regel Persönlichkeitsprofile, Vernetzungs- und Bewertungsmöglichkeiten
anbieten, Diskussionsplattformen (Foren) sowie user-generated-content-Plattformen
(z. B. YouTube, Flickr, Slideshare), die das Bereitstellen von Videos, Fotos, Audio-
Dateien oder Präsentation ermöglichen. (2) Personal Publishing mit Weblogs,
Microblogging und Podcasts, das stärker die einzelnen Autor_innen betont. Auf
Weblogs und in Podcasts können eigene Beiträge geschrieben werden, die chrono-
logisch sortiert erscheinen und von Leser_innen oder Hörer_innen kommentiert
werden können. Auf Microblogs wie Twitter können kurze Nachrichten veröffent-
licht und über Follower_innen sowie themenzentriert über Hashtags weiterverbreitet
werden. (3) Instant Messaging und Chats wiederum zeichnen sich vor allem durch
die Möglichkeit zu synchroner Kommunikation aus, die in Chat-Räumen öffentli-
cher sein kann, bei Instant Messengern wie WhatsApp hingegen über eigene Kon-
taktlisten organisiert ist. (4) Wikis schließlich basieren auf einem Hypertext-System,
das es User_innen ermöglicht, Inhalte der Seiten nicht nur zu lesen, sondern direkt
im Browser zu ändern. Dies unterstützt das gemeinsame Arbeiten an Inhalten und
Dokumenten.
All diese Möglichkeiten haben auch gesellschaftspolitische Implikationen: Zum
einen nehmen die individuellen Ausdrucks- und Handlungsmöglichkeiten zu;
ebenso steigen Chancen auf eine Demokratisierung von Informationen, auf Partizi-
pation an politischen Meinungsbildungsprozessen, Empowerment sowie auf die
Herstellung von Gegenöffentlichkeiten und auf gesellschaftliche Teilhabe (u. a. Mün-
ker 2009). Demgegenüber stehen u. a. Gefahren einer sozialen Spaltung der Gesell-
schaft, Belastungen durch Informationsfülle, steigende Kommunikationsdichte und
Social Media: Zwischen Selbstrepräsentation, und Unsichtbarkeit . . . 383
Das frühe Internet war in den 1990er-Jahren zunächst eine Männerdomäne (u. a.
Spender 1995; Dorer 1997). So lag im deutschsprachigen WWW Ende 1995 der
Anteil der Frauen bei nur gut sechs Prozent (Fittkau und Maaß Consulting 1995), die
Hauptnutzer des Internets waren hoch qualifizierte, junge, Weiße Männer. Dieser
gendered digital divide hat sich inzwischen deutlich verkleinert, ist aber bis heute
nicht aufgehoben: 2016 nutzten in Deutschland 88 % der Männer das Internet
mindestens gelegentlich, gegenüber 80 % der Frauen (Koch und Frees 2016,
S. 421), in Österreich waren es ebenfalls 88,4 % Männer und 81,8 % Frauen (statista
2017). Allerdings fallen Kategorien wie Alter, Einkommen und Bildung deutlich
stärker ins Gewicht (auch Lupton 2015, S. 130). Hinsichtlich der Nutzung unter-
schiedlicher Social-Media-Angebote kommen Koch und Frees (2016, S. 428–429)
für Deutschland aktuell zu dem Ergebnis, dass nur geringe Unterschiede zwischen
den Geschlechtern festzustellen sind. So nutzen beispielsweise 46 % der Männer und
37 % der Frauen mindestens einmal wöchentlich Wikipedia, 23 % der Männer und
30 % der Frauen täglich Facebook. Fotocommunities wie Instagram nutzen je 12 %
der Frauen und Männer und Instant Messenger wie WhatsApp wiederum mit 72 %
etwas mehr Frauen gegenüber 65 % der Männer.
In einzelnen Bereichen finden sich allerdings bedeutsame Differenzen: Besonders
groß sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Bezug auf die aktive
Beteiligung an Wikipedia. In der Stichprobe von Merz und Döring (2010) fanden
sich z. B. lediglich sechs Prozent Frauen unter den aktiven Autor_innen. Zu den
Ursachen liegen unterschiedliche Ergebnisse vor; Hargittai und Shaw (2015) können
beispielsweise einen signifikanten Zusammenhang mit geschlechtsspezifisch unter-
schiedlichen Internetkompetenzen nachweisen; sie zeigen, dass Intensität, Dauer
1
Für einen Überblick über die frühe Forschung zu Internet und Geschlecht vgl. u. a. Dorer (1997),
Neverla (1998) und Carstensen (2009).
384 T. Carstensen
und Rahmenbedingungen der Nutzung – bei denen Männer nach wie vor einen
Vorsprung haben – einen wichtigen Einfluss auf die Beteiligung an Wikipedia haben.
Eckert und Steiner (2013) führen vor allem die wenig einladende Reputation Wiki-
pedias als Grund an. Demgegenüber wurden Weblogs früh als von Frauen und
Mädchen dominierte Sphäre identifiziert (PEW Internet und American Life Project
2007), was u. a. als digitale Fortsetzung der weiblich konnotierten Kulturpraxis des
Tagebuchschreibens interpretiert wurde (Schönberger 2008).
Wie bereits in den frühen Diskursen angedeutet, war mit dem Internet von Beginn an
die Hoffnung verknüpft, dass Identitäten in ‚virtuellen‘ Räumen frei entworfen
werden könnten. Insbesondere Turkle (1998) sah diverse neuartige Möglichkeiten,
die eigene Selbstdarstellung jenseits der sichtbaren Körpermerkmale wie
Geschlecht, Hautfarbe oder Alter beliebig zu gestalten, wodurch diese auch in der
‚realen‘ Welt an Relevanz verlieren könnten. Erste Studien, die im Anschluss an
diese These durchgeführt wurden, kamen allerdings schnell zu dem Ergebnis, dass
die Frage nach dem Geschlecht in der Internet-Kommunikation eine zentrale Rolle
spielt, da dieses offenbar wichtige Orientierung bietet (Döring 2008, S. 127).
Auch die Forschungen zu Social Media kommen zu heterogenen Ergebnissen.
Verschiedene Studien zeigen u. a., dass Authentizität und die Inszenierung einer
‚echten‘ und eindeutigen Geschlechtsidentität gerade bei der Gestaltung der Persön-
lichkeitsprofile von großer Relevanz sind (u. a. Manago et al. 2008). Eine Untersu-
chung von Geschlechterinszenierungen in Selfies auf Instagram zeigt, dass diese
noch stereotyper sind als in Werbeanzeigen in Magazinen (Döring et al. 2016); eine
weitere Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Männer auf Profilbildern auf Facebook
eher dominant und unabhängig zu sehen sind, Frauen hingegen eher unterwürfig und
gefühlvoll (Rose et al. 2012). Auch konnte belegt werden, dass Frauen und Mädchen
in ihrem Verhalten auf sozialen Netzwerkseiten viel stärker be- und verurteilt werden
als Männer und Jungen und in der Folge mehr Aufwand für ihre Selbstdarstellung
betreiben (Bailey et al. 2013; Lyons et al. 2016).
Andere Untersuchungen verweisen auf die Spielräume der Selbstpräsentationen,
identifizieren beispielsweise heterogene Darstellungen von Weiblichkeit auf Web-
logs (van Doorn et al. 2007) oder verweisen auf die Brüche in hegemonialen
Geschlechterbildern beispielsweise durch „Mamablogs“, die über die Sicht auf die
eigene, als negativ empfundene Mutterschaft berichten (Orton-Johnson 2017).
Und schließlich gibt es eine Reihe von Studien, die subversive, ironische und
widerständige Selbstpräsentationen sowie Ausdruckmöglichkeiten für unterschied-
lichste sexuelle Orientierungen ausmachen, mit denen stereotype und binäre
Geschlechternormen sowie hegemoniale Vorstellungen von Sexualität in Text und
Bild in sozialen Medien unterlaufen werden. Beispiele hierfür sind Fotos von Frauen
mit Bärten auf Flickr, die eingeübte Sehgewohnheiten irritieren (Richard et al. 2010,
S. 210–214), oder Transpersonen, die Prozesse körperlicher Veränderungen über
regelmäßige Selfies dokumentieren und veröffentlichen (Vivienne et al. 2016).
Social Media: Zwischen Selbstrepräsentation, und Unsichtbarkeit . . . 385
ökonomische Interessen mit in den Blick nehmen (auch Bivens 2015; Duguay 2016;
Oakley 2016).
Die Geschlechterforschung war von Anfang an auch mit der Frage beschäftigt,
inwiefern das Internet für ein Empowerment, das Erreichen größerer Öffentlich-
keiten sowie eine Stärkung der Solidarität und (weltweiten) Vernetzung von Frauen
untereinander nutzbar gemacht werden könnte (u. a. Consalvo und Paasonen 2002).
Während allerdings zunächst die interaktiven Möglichkeiten des Internets für Mei-
nungsbildung, politische Aktionen und die Entwicklung kritischer Gegenöffentlich-
keiten nur zögerlich genutzt wurden (Carstensen und Winker 2005; Schachtner und
Winker 2005), ist mit Social Media eine aktive, selbst-organisierte queer-feministi-
sche Netzszene entstanden, die sich intensiv austauscht und für Aktionen mobilisiert
(Carstensen 2012). Neben Beispielen für Vernetzungen von Frauen im „Arabischen
Frühling“ (Newsom und Lengel 2012; Schachtner 2013; Khamis 2014) oder in
translokalen Frauennetzwerken (Kannengießer 2012) erhält inzwischen der „Hash-
tag-Aktivismus“ besondere Aufmerksamkeit. Unter Hashtags wie #YesAllWomen,
#aufschrei oder #metoo initiierten Feminist_innen auf Twitter Kampagnen, die die
Aufmerksamkeit u. a. auf die Alltäglichkeit von Sexismus, Rassismus und Gewalt
gegen Frauen richten. User_innen posten individuelle Erlebnisse von Diskriminie-
rung, Belästigung und sexueller Gewalt, die durch Weiterverbreitung oftmals so viel
Aufmerksamkeit erhalten, dass sie von den traditionellen Massenmedien aufgegrif-
fen werden (u. a. Baer 2016; Drüeke und Klaus 2014).
Verschiedene Autor_innen weisen daher darauf hin, dass sich mit Social Media
aktivistisches und politisches Handeln verändert hat; Social Media ermöglichen
Selbstverständigung, generieren Solidarität und befördern neue Formen von politi-
schem Aktivismus, die individuelle Erlebnisse mit kollektiven Handlungen verbin-
den (u. a. Baer 2016). Hervorgehoben werden dabei oftmals die Schnittstellen von
persönlichen Narrationen und vernetzten Öffentlichkeiten, die neue Grenzverschie-
bungen von Privatem und Öffentlichem mit politischen Anliegen erzeugen (Vickery
2016), sowie die Möglichkeiten, ein marginalisiertes Thema zu diskutieren, kritische
Positionen zu entwickeln, größere Öffentlichkeiten zu erreichen und zu mobilisieren
(Drüeke und Klaus 2014, S. 64). Eslen-Ziya (2013) zeigt für die Türkei, dass Social
Media aufgrund ihrer Geschwindigkeit, ihrer Interaktivität und den Möglichkeiten
zur Informationsverbreitung ein Terrain für politische Kämpfe kreiert haben, das
feministischen Gruppen rasch Interventionen, Mobilisierung und Koordinierung
ermöglicht. Dass Weblogs und Twitter intensiv von Feminist_innen genutzt werden,
kann zudem als Hinweis gedeutet werden, dass diese den Ansprüchen insbesondere
queerer Politik entsprechen: Im Gegensatz zu eher abgeschlossenen Homepages, die
oftmals eindeutigen Selbstdarstellungen von Personen, Gruppen oder Organisatio-
nen dienen, sind soziale Medien flüchtiger und entziehen sich starren Kategorisie-
rungen. Über schnelles Positionieren via Kommentarfunktion, Blogroll und Retweet
Social Media: Zwischen Selbstrepräsentation, und Unsichtbarkeit . . . 387
bezeichnet sie Tätigkeiten wie Bloggen oder Postings bei Facebook, bei denen
User_innen das Netz und seine Inhalte mitproduzieren. Diese Tätigkeiten sind, so
Terranova, auch als Arbeit und – weil diese unbezahlt geleistet wird – als Ausbeu-
tung zu betrachten. „free labor“ ist für die Unternehmen, denen die Plattformen
gehören, wertschöpfend; für die User_innen wiederum hoher unbezahlter Aufwand.
Diese an (post-)marxistischen Theorien orientierten Ansätze werden mittlerweile,
wenn auch langsam, um feministische Perspektiven erweitert. Damit wird folgende
Ambivalenz sichtbar: Das Engagement von Frauen in den sozialen Medien stellt
einerseits Partizipation und Empowerment dar, weil dadurch unterschiedliche All-
tagsrealitäten von Frauen öffentlich werden, die normative Annahmen von Weib-
lichkeit in Frage stellen oder herausfordern können (Duffy 2015); zum anderen wird
auf die neoliberalen Mechanismen verwiesen, denen dieses Handeln unterliegt: die
erforderliche Selbstdisziplin, die Notwendigkeit von Selbstvermarktung und unter-
nehmerischem Handeln (Banet-Weiser 2012). Deutlich wird dabei auch der Wider-
spruch, dass feministischer Aktivismus auf profitorientierten und datensammelnden
Plattformen und damit im Kontext ganz spezifischer politökonomischer Rahmenbe-
dingungen stattfindet.
Zudem werden auch die Parallelen zwischen unbezahlter Hausarbeit und digitaler
Arbeit diskutiert. Ähnlich sind sich beide, da sie oft un- oder schlecht bezahlt sind
und als Arbeit und Aufwand unsichtbar bleiben und dabei gleichzeitig für Unter-
nehmen Profit generieren bzw. gesellschaftlich notwendig sind (u. a. Duffy 2015;
auch Jarrett 2016). Zudem erfordern beide kommunikative und affektive Tätigkei-
ten. Duffy (2015) zeigt zum Beispiel, wie die Tätigkeiten von vielen Modeblogge-
rinnen, abgesehen von den wenigen finanziell Erfolgreichen, oftmals unsichtbar und
unbezahlt bleiben und dabei gleichzeitig für Unternehmen extrem verwertbar sind
und von diesen selbstverständlich erwartet werden.
Und schließlich wird diskutiert, inwiefern Social Media die Grenzen zwischen
Beruf und Familie verschieben können. Mit Laptops, Smartphones, Tablets, Blogs
und „Social Collaboration“-Plattformen etabliert sich zunehmend das Phänomen
„Arbeiten immer und überall“ als Normalzustand. Diese Grenzverwischungen zwi-
schen Erwerbsarbeit und anderen Lebensbereichen, bezahlter und unbezahlter
Arbeit sowie Büro und Zuhause inkludiert Chancen auf eine bessere Vereinbarkeit,
aber auch Gefahren höherer Belastungen durch permanente Erreichbarkeit (Huws
2014; Wischermann und Kirschenbauer 2015; Carstensen 2015). Inwiefern diese
Potenziale allerdings auch zu neuen Geschlechterarrangements führen, ist bisher
ungeklärt.
7 Fazit
Die Forschungen zu Social Media und Gender zeichnen sich durch eine Reihe von
Grundfragen aus, die von Beginn an konstitutiv für das Feld waren. Die mittlerweile
vorliegenden vielfältigen Ergebnisse verweisen auf die Gleichzeitigkeit wider-
sprüchlicher Phänomene und Entwicklungen: sich verschärfende Geschlechterun-
gleichheiten, Sexismus und verstärkte Stereotype auf der einen Seite und egalisie-
Social Media: Zwischen Selbstrepräsentation, und Unsichtbarkeit . . . 389
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Teil IV
Historische Medienforschung
Historische „Frauenzeitschriften“.
Von der Lektüre für Frauen zur
Frauenbewegungspresse
Inhalt
1 Definition und Typologisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
2 Erbauliches und Belehrendes für bürgerliche Frauen: Zeitschriften für ein weibliches
Publikum bis 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
3 Einsprüche gegen Geschlechterverhältnisse: emanzipatorische Zeitschriften
bis 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400
4 Von 1918 bis zur NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
5 Frauen als Teil der „Volksgemeinschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404
6 Vom Wiederaufbau zur Konsumgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
Zusammenfassung
Bereits 1695 ist die erste Zeitschrift speziell für Leserinnen erschienen. Sie diente
der Belehrung, Erbauung und Unterhaltung und war für ein bürgerliches und
adeliges Lesepublikum konzipiert. Moralische Wochen- und Monatsschriften für
diese Zielgruppe gab es im Laufe des 18. Jahrhunderts im gesamten deutsch-
sprachigen Raum. Mit dem Revolutionsjahr 1848 setzte dann eine Entwicklung
ein, wo Frauen selbst journalistisch tätig wurden und eine feministische Bewe-
gungspresse ihren Anfang nahm. Der unscharfe Begriff der „Frauenpresse“
bezieht sich auf Zeitschriften, die von Männern für Frauen sowie von Frauen
für Frauen gemacht wurden. Zwei Entwicklungsstränge lassen sich für den
deutschsprachigen Raum nachzeichnen: zum einen Zeitschriften in der Tradition
der Erbauung, Bildung und Unterhaltung, bei denen es implizit um die
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 395
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_22
396 M. Marschik et al.
Schlüsselwörter
„Frauenzeitschriften“ · Erste Frauenbewegung · Frauenbewegungspresse ·
Journalismus von Frauen · Mediengeschichte und Geschlecht
Der Begriff „Frauenzeitschrift“ hat sich in der Medienpraxis und in der Medien-
geschichtsschreibung etabliert, obgleich er definitorisch höchst unscharf einzugren-
zen ist. Das mag in der Genese des Begriffes grundgelegt sein, der beim ersten
Auftauchen um 1800 (Bittermann-Wille und Hoffmann-Weinberger 2000, S. 52)
zweifellos einem „männlichen Blick“ geschuldet war. „Frauenzeitschriften“ lassen
sich trennscharf weder über die Produktions- noch über die Rezeptionsseite und
auch nicht über die ihnen unterstellten frauenrelevanten Inhalte definieren. Das wird
nicht zuletzt am Fehlen eines kongruenten Terminus deutlich, denn alle anderen
Printmedien im historischen Kontext wurden keineswegs unter dem Begriff „Män-
nerzeitschriften“ subsumiert, was einer strengen wissenschaftlichen Kategorisierung
nach Zielgruppen widerspricht.
Eine Definition der historischen „Frauenzeitschrift“ kann daher bestmöglich nur
über eine Abgrenzung auf der Ebene der Intention erfolgen, indem sie periodisch
erscheinende Printmedien umfasst, die sich gezielt an ein weibliches Lesepublikum
wenden. Das impliziert jedoch unscharfe Abgrenzungen zu „Frauenbeilagen“ oder
„Frauenseiten“ in Tages- oder Wochenzeitungen, aber auch zu den um 1900 belieb-
ten, oft ebenfalls periodisch erscheinenden Almanachen und „Frauen-Kalendern“.
Die Klammer über alle Typen von sogenannten Frauenzeitschriften besteht also im
Fokus auf ein „unterstelltes Interesse von Frauen“, das freilich von unterschiedlichen
Produzent*innen different definiert bzw. konstruiert und umgesetzt wird. Aus die-
sem Grund wird der Begriff hier unter Anführungszeichen gesetzt, da er neben seiner
mangelnden wissenschaftlichen Exaktheit und dem Konstrukt eines „weiblichen
Interesses“ außerdem eine essentialisierende Geschlechterdichotomie impliziert.1
(Klaus und Dorer 2006, S. 76)
1
Üblicherweise werden in der Wissenschaft Medien nach Periodizität, Themen, Organisations-
struktur (kommerziell, nicht-kommerziell, öffentlich-rechtlich), Zielgruppen (Fach-, Partei-, Ver-
einspresse, etc.), journalistischer Qualität (Boulevard-, Qualitätspresse), nach Reichweite (über-
regional, regional) etc., differenziert, aber auch bis heute noch unkritisch nach einem der
Geschlechter bezeichnet.
Historische „Frauenzeitschriften“. Von der Lektüre für Frauen . . . 397
Die Unschärfe des Begriffes und die Heterogenität des Gegenstandes erfordern
vorab eine Typologisierung der „Frauenzeitschriften“. Ansätze zur Typenbildung
orientieren sich teils an der Produktions-, teils an der Rezeptionsebene, teils an der
Produktgestaltung in ihren technischen Weiterentwicklungen, zumeist aber an den
Inhalten, wobei die Kategorien oft nicht trennscharf formulierbar sind. Dies gilt für
die Differenzierung in unterhaltende, belehrende, politisch engagierte und themen-
spezifische (Mode, Beruf, Religion . . .) Zeitschriften (Derka 1991, S. 33) ebenso wie
für Versuche einer ideologischen Unterscheidung in eine konservative, sozialisti-
sche, feministische und kommerzielle Frauenpresse (Bittermann-Wille und Hof-
mann-Weinberger 2000, S. 53).
Praktikabler erscheint es daher, von zwei inhaltlichen Hauptsträngen auszuge-
hen. Der im weitesten Sinn unterhaltenden/belehrenden „Frauenzeitschrift“, die
vom moralisierenden Journal über Mode- und Familienzeitungen bis zur modernen
kommerziellen „Frauenzeitschrift“ reicht, steht dann die Tradition der Medien der
ersten Frauenbewegung gegenüber, von den emanzipatorischen Schriften von und
für Frauen, die im deutschsprachigen Raum ab 1848 zu finden sind, über die meist
parteipolitisch verankerte „Frauenpresse“ ab etwa 1900 bis zu den feministischen
Medien ab den 1970er-Jahren. Auch „Frauenzeitschriften“, die dieser Idealtypisie-
rung nicht direkt entsprechen, lassen sich durch Gemeinsamkeiten und Differenzen
zu den beiden Kategorien zuordnen.
Die Ursprünge des Begriffs der „Frauenzeitschrift“ lassen sich Ende des
18. Jahrhunderts festmachen, erste (medien-)wissenschaftliche Definitionsversuche
bereits um 1900. Die ersten Analysen in Gestalt von universitären Abschlussarbeiten
sowie von Aufsätzen und Büchern finden sich um 1970 (Twellmann 1972). Eine
systematischere Aufarbeitung beginnt in den 1980er-Jahren, wobei synchron ein
zunehmendes Interesse an der historischen Aufarbeitung der Zeitschriften (Geiger
und Weigel 1981; Schumann 1987; Lunzer-Lindhausen 1987) sowie an der Analyse
des aktuellen kommerzialisierten Marktes der „Frauenzeitschriften“ (Röser 1991)
und an der Praxis feministischer Medienproduktion (Geiger 1987) festzustellen ist.
Schon aufgrund oft mangelhafter Zugänglichkeit war das Thema der historischen
„Frauenzeitschriften“ lange Zeit eher auf Einzelfallstudien oder konkrete For-
schungsfragen reduziert. Eine massive Verbesserung bezüglich der Verfügbarkeit
in den letzten 20 Jahren hat das Forschungsfeld allerdings quantitativ wie qualitativ
deutlich ausgeweitet. Einen ersten Schritt dazu bildete die Entstehung feministischer
Archive und deren sukzessive Vernetzung, gefolgt vom Aufbau von Datenbanken,
etwa die Zeitschriften-Datenbank der Deutschen Nationalbibliothek oder die Frau-
endokumentation „Ariadne“ der Österreichischen Nationalbibliothek inklusive des
Projektes zu „Frauen in Bewegung 1848–1938“, sowie die Digitalisierung der
Primärquellen etwa durch das „Digitale Deutsche Frauenarchiv“ (DDF) oder die
digitale Bibliothek von „austrian literature online“ und die Zeitschriften-
Digitalisierung durch die Österreichischen Nationalbibliothek „ANNO“. Auch die
ETH Zürich bietet via „e-periodica.ch“ inzwischen einige Frauenzeitschriften der
Schweiz in digitalisierter Form.
398 M. Marschik et al.
Der erste Autor im deutschsprachigen Raum, der sich der Frau als Zeitungsleserin
zuwandte, war der Literat und Sprachwissenschaftler Kaspar Stieler. Er versagte es
im Jahr 1695 bürgerlichen Männern, ihren Frauen und Töchtern die Zeitungslektüre
zu verbieten. (Stieler 1969) Einen Schritt weiter ging der Schriftsteller Georg Philipp
Harsdörffer, der zwischen 1644 und 1649 in Nürnberg unter dem Titel „Frauen-
zimmer Gesprechspiele“, die europaweit erste Zeitschrift für Frauen herausgab, die
ihnen literarisches Grundwissen für die barocke Salongesellschaft vermitteln sollte.
(Kehle 1952, S. 29–31)
Die im England des frühen 18. Jahrhunderts erscheinenden „moralischen Wo-
chenschriften“ (Parsons 2009, S. 92–118) wandten sich als bürgerliche Aufklärungs-
schriften ausdrücklich auch an ein weibliches Publikum. Dieses Modell wurde bald
auch im deutschen Raum2 aufgegriffen, wobei hier die Pflege der deutschen Sprache
und Literatur in den Mittelpunkt rückte. Schon in den 1720er-Jahren kamen auch
eigenständige Blätter zur Information und Erbauung lesender „Frauenzimmer“ auf
den Markt, deren erstes 1725 unter dem Titel „Die Vernünftigen Tadlerinnen“ von
Johann Christoph Gottsched publiziert wurde. Den Prinzipien der Aufklärung ver-
pflichtet, wurden die Leserinnen des Journals erfolgreich ermuntert, sich durch
Zuschriften auch aktiv einzubringen. Ziel war die Kompensation der Bildungsdefi-
zite von Frauen. Dies wurde als Voraussetzung für Vernunft angesehen, die, gemein-
sam mit untadeligem Lebenswandel und einem „vernünftigen“ Gebrauch der Reli-
gion, zum Glück einer guten Ehe führe. (Martens 1971, S. 176)
Auch spätere Frauenzeitschriften des 18. Jahrhunderts richteten sich einzig an
Frauen aus dem urbanen Bürgertum und dem Landadel und blieben deren Weiblich-
keitsidealen verhaftet. Inhaltlich fokussierten sie stärker auf die „schönen Wissen-
schaften“ und blieben in ihren Ansprüchen sogar hinter den Anfangsjahren zurück.
Frauenbildung sollte weniger verstandesmäßig als durch Geschmack und Gefühl
vermittelt werden. (Kehle 1952, S. 531). Das galt sogar für kurzlebige von Frauen
edierte Zeitschriften, so wie die 1779 von Ernestine Hofmann publizierte Zeitschrift
„Für Hamburgs Töchter“, für „Luna“ (1788–1790) von Caroline Friederike von
Kamiensky (Weckel 1998, S. 104) und die 1783 in Speyer von Sophie de La Roche
veröffentliche Zeitung „Pomona für Teutschlands Töchter“. Einzig die von der
schweizerischen Schriftstellerin Marianne Ehrmann mit ihrem Mann Theophil
1790 bis 1792 publizierte Zeitschrift „Amaliens Erholungsstunden“ ergriff ansatz-
weise Partei für Frauen (Neumann 1999).
In Österreich3 entstanden „Frauenzeitschriften“ mit der typischen Verspätung
gegenüber protestantischen Ländern. Joseph Freiherr von Sonnenfels, Rechtsberater
Maria Theresias, brachte 1766 die aufklärerische Zeitschrift „Therese und Eleonore“
heraus, nach wenigen Monaten ersetzt durch „Weibliches Orakel“. (Mixa 1969,
2
Gemeint ist damit das Territorium des heutigen Deutschland.
3
Gemeint ist hier das Territorium des heutigen Österreich.
Historische „Frauenzeitschriften“. Von der Lektüre für Frauen . . . 399
S. 48) In beiden Zeitungen wird evident, dass die durch die Lektüre erworbene
Bildung in erster Linie Sittlichkeit und gute Erziehung vermitteln sollte. Das galt
auch für die von Johann Rautenstrauch ab 1774 redigierten „Meinungen der Babet“,
die am Rande auch politische Themen abhandelten. Jedenfalls sollten Frauen nur
selektiv gebildet werden und keine „Lesesucht“ oder gar „Lesewut“ entfalten
(Lunzer-Lindhausen 1987, S. 314). Vor 1800 entstanden auf dem heutigen Staats-
gebiet Österreichs 12 Frauenblätter, darunter die von 1792 bis 1997 in Graz erschei-
nende „Zeitung für Damen und andere Frauenzimmer“ (Kehle 1952, S. 43), die
erstmals aktuelle politische Informationen enthielt, freilich ohne damit ein Mitspra-
cherecht für Frauen zu verbinden.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also bis 1848, verlor die Idee der
Frauenbildung weiter an Bedeutung. Das biedermeierliche Bürgertum zog sich ins
Private zurück, die Familie als Ort des Friedens sollte im Zentrum des Frauenlebens
stehen. Damit wurden, durch umfangreiche Zensur verstärkt, Fragen der Häuslich-
keit, Geselligkeit und Unterhaltung, vor allem der Mode, zu zentralen Themen der
Frauenzeitschriften. (Krainer 1995, S. 60–61) Die 1816 gegründete „Wiener Mode-
zeitung“, die ab 1818 dreimal pro Woche erschien, erreichte sogar internationalen
Ruf. Speziell in Modejournalen wurden Frauen auch schreibend aktiv. (Bittermann-
Wille und Hofmann-Weinberger 2000, S. 55). Auch in der Ära des Postabsolutismus
bestimmten Modeblätter, unter ihnen „Die Elegante“ und der „Wiener Modespie-
gel“, das publizistische Angebot für Frauen in Österreich. Eine Ausnahme als
vielseitige Journalistin bildete Betty Paoli. Der politischen Restauration zugetan,
veröffentlichte sie Feuilletons, Essays, Reiseberichte und Rezensionen in in- und
ausländischen Medien. (Wozonig 1999) Abgesehen von kurzfristigen Freiheiten im
Jahr 1848 bildete in Österreich dann erst das Staatsgrundgesetz 1867 eine markante
Wende in der inhaltlichen Ausrichtung und Gestaltung der „Frauenpresse“, denn nun
waren Versammlungsfreiheit und die Bildung von Vereinen gestattet, für Frauen
erstmals auch die Ausübung eines Gewerbes sowie der Besuch einer höheren
Schule.
Die zweite Hälfte des langen 19. Jahrhunderts bot mit seinen neuen gesellschaft-
lichen Strömungen auch in „Frauenzeitschriften“ zunehmende Chancen für weibli-
che Bildung und Information. Das inkludierte nun auch Politik sowie die Beschäf-
tigung mit der zunehmend technisierten Welt. Für und immer mehr auch von Frauen
wurden Inhalte wie Geschichte, Politik und Naturwissenschaft in die „Frauenzeit-
schriften“ integriert, die zunehmend illustriert wurden. Das Frauenbild dieser Me-
dien blieb freilich auf die bürgerliche Hausfrau, Mutter und Familienerhalterin
konzentriert. Als Subgenres wurden die Modeblätter ab den 1880er-Jahren durch
belehrende und moralisierende Hausfrauenblätter (Weibel 2012) sowie durch Fami-
lienzeitschriften ergänzt, von denen im deutschen Sprachraum zwischen 1850 und
1914 über 200 gegründet wurden und die in ihrer Mischung aus Bildung und
Unterhaltung auch Männer, vor allem aber erstmals die Arbeiterschaft ansprachen
(Reusch 2015, S. 21). Kurz vor 1900 wuchs dann das Angebot „moderner“, femi-
nistisch-populärer Frauenillustrierter, etwa das in Berlin zwischen 1904 und 1920
erscheinende „Bild der Frau“ (Duttenhöfer 2013, S. 51–62).
400 M. Marschik et al.
Olympe de Gouges feministisches Manifest „Die Deklaration der Rechte der Frau
und Bürgerin“ (1791) wird als erste verschriftlichte Einforderung von Frauenrechten
in der modernen Zeit angesehen. (Thiele-Knobloch 1991) Um 1800 folgten einige
Frauen in Deutschland und der Schweiz, die sich als Autorinnen, Redakteurinnen
und Verlegerinnen ihren Lebensunterhalt verdienten und politisch – im Sinne eines
bürgerlichen Frauenbildes – artikulierten. (Vahsen 2008) So erschienen etwa in der
Deutschschweiz einige feministische Periodika, wie etwa die 1833 einmalig erschie-
nene Zeitschrift „Das Recht der Weiber“. (Weibel 2012) Bis 1918 waren politische
Partizipationschancen von Frauen höchst beschränkt. Das betraf die Bildung, das
Vereins- und Versammlungsrecht und selbst die Medien. Im deutschen Kaiserreich
zwischen 1851 und 1874 war es Frauen dann gänzlich verboten, als Herausgeberin
oder verantwortliche Redakteurin eines Mediums zu fungieren. In Österreich wur-
den fortschrittliche Frauen erst während des Revolutionsjahres 1848 journalistisch
aktiv. In Berlin gründete Louise Aston, eine radikal-demokratisch gesinnte Publi-
zistin, im November 1848 den „Freischärler“, der sich nicht nur gegen die Männer-
herrschaft wandte, sondern auch liberale Frauenansichten kritisierte. Nach sieben
Ausgaben wurde die Zeitschrift verboten. (Klaus und Wischermann 2013, S. 34) Im
Jänner 1849 brachte Louise Dittmar in Leipzig die Zeitschrift „Soziale Reform“
heraus, die eine ökonomische Unabhängigkeit von Frauen forderte, im April aber
wieder eingestellt wurde. (Klaus und Wischermann 2013, S. 25–26) Eine weitere
Vertreterin des Bewegungs-Journalismus war die Schriftstellerin Louise Otto, die
nach der Mitarbeit in diversen Organen der Arbeitervereine im April 1849 die
„Frauen-Zeitung“ gründete. Ihre Hauptforderung war der Einbezug von Frauen in
die aktuellen Debatten über Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Die Zeitung
erschien bis 1852. (Klaus und Wischermann 2013, S. 53–55)
In Österreich fand im August 1848 die erste – von Männern unterstützte –
landesweite Frauendemonstration statt. Deren blutige Niederschlagung veranlasste
Karoline von Perin-Gnadenstein zur Gründung des „Wiener akademischen Frauen-
vereins“, der explizit politische Ziele verfolgte. Die Publizität dieses Vereins wiede-
rum brachte etliche Frauen dazu, anonyme Flugschriften zur Veränderung der
Situation von Frauen, insbesondere für das Frauenwahlrecht, zu veröffentlichen.
Den Vertrieb der Pamphlete und von Zeitungen besorgten „Flugschriftenweiber“, die
oft die einzig greifbaren Ansprechpartnerinnen für den Inhalt der Druckwerke
darstellten. Deshalb standen sie unter polizeilicher Aufsicht und wurden bei inkri-
minierten Inhalten mit Gefängnisstrafen belegt. (Duchkowitsch 2002)
War die feministische Bewegungspresse anfangs von Einzelkämpferinnen getra-
gen, erlaubte die Freiheit zur Vereinsbildung später die Organisierung in formellen
und informellen Netzwerken von Frauen, die sich im deutschsprachigen Raum
zunehmend auch medialer Instrumente bedienten. (Wischermann 2003, S. 90) So
verbreitete der 1865 in Leipzig gegründete „Allgemeine deutsche Frauenverein“
Historische „Frauenzeitschriften“. Von der Lektüre für Frauen . . . 401
das von seiner Präsidentin Auguste Fickert geleitete „Neue Frauenleben“. Pläne,
diese Zeitung als gemeinsames Organ mit dem 1903 gegründeten konservativeren
„Bund österreichischer Frauenvereine“ zu führen, scheiterten an ideologischen
Differenzen, sodass ab 1905 als dessen Vereinszeitschrift „Der Bund“ erschien.
(Bittermann-Wille und Hofmann-Weinberger 2000, S. 56)
Abseits der liberalen, proletarischen und konservativen Vereins- bzw. Parteizei-
tungen etablierten sich in Österreich weitere Frauenzeitschriften, so die katholische
„Österreichische Frauenwelt“ (1911–1919), die freilich vor allem Musterbeispiele
christlicher Lebensführung propagierte. Dagegen widmeten sich die – ab 1869
erscheinenden – Zeitungen von Beamtinnen, zunächst „Die Mädchenschule“
(1876–1883) und später die „Österreichische Lehrerinnen-Zeitung“ (1893–1901),
massiv dem Thema beruflicher Gleichberechtigung und Mädchenbildung.
(Bittermann-Wille und Hofmann-Weinberger 2000, S. 56). Am anderen Ende des
gesellschaftlichen Spektrums angesiedelt war die Zeitschrift „Vereinsblatt – Organ
des Vereines der Heim- und Hausarbeiterinnen“, die ab 1913 von Anna Boschek,
einer führenden Gewerkschafterin und der ersten Frau im Parteivorstand der SDAP,
für die weitgehend rechtlose Gruppe weiblicher Hausangestellter herausgegeben
wurde. Die Zeitschrift, die ab 1924 „Einigkeit“, ab 1928 „Die Hausangestellte“
hieß, wurde bis 1934 produziert. Wesentlich ist schließlich die von Bertha von
Suttner, der Leiterin des Friedensreferates im „Bund österreichischer Frauen“, in
Berlin von 1892 bis 1899 herausgegebene Zeitschrift „Die Waffen nieder!“, die
neben pazifistischen auch frauenemanzipatorische Beiträge enthielt. (Klaus und
Wischermann 2013, S. 149–151)
Frauenwahlrecht und Erster Weltkrieg nahmen in vielen politischen „Frauenzeit-
schriften“ eine zentrale Rolle ein. Doch sie führten, am Beispiel Wiens gezeigt, auch
zu kurzlebigen Neugründungen: So wurde im Rahmen der Frauenstimmrechtsbewe-
gung im Jahr 1911 die „Zeitschrift für Frauenstimmrecht“ gegründet, die Diskus-
sionen um das Wahlrecht und um gesetzliche Geschlechterdiskriminierung medial
aufbereitete. Herausgeberin war die Vorsitzende des Frauenstimmrechtskomitees,
Ernestine von Fürth. Neben Sitzungsberichten des Komitees wurde profund über
nötige Gesetzesänderungen und Entwicklungen in anderen Ländern berichtet und
gegen christlich-soziale Politik opponiert. (Krainer 1995, S. 85)
Die Politik in Kriegszeiten, verbunden mit strenger Zensur, aber auch mit der
Burgfriedenspolitik der sozialdemokratischen Opposition, verhinderte in Österreich
– analog zu Deutschland – die Publikation friedens- wie frauenpolitischer Anliegen.
Doch führten die Kriegsjahre zur Gründung einiger katholischer kriegsverherr-
lichender „Frauenzeitschriften“: So publizierte Hanny Brentano im Auftrag der
„Katholischen Reichs-Frauenorganisation“ die „Österreichische Frauenwelt – Mo-
natsschrift für die gebildete Frau“, in der der Krieg als „Gottesgericht“ interpretiert
wurde (Steinkellner 1985, S. 55; Duchkowitsch 2020, S. 191–194). Und Gottes-
furcht zu lehren, gehörte auch zum Selbstbild des „Arbeiterinnenblatts“, einem von
1914 und 1917 publizierten Blatt der katholischen Arbeiterinnenvereine.
Historische „Frauenzeitschriften“. Von der Lektüre für Frauen . . . 403
Schon kurz nach dem Ende des Krieges versuchten in Österreich gerade die ver-
schiedenen politischen Strömungen ihre Inhalte wieder an Frauen zu verbreiten. So
brachten die Kommunistinnen bereits am 27. Oktober 1945 die erste Ausgabe der
„Stimme der Frau“ heraus, welche in der Folge wöchentlich erschien. Die sozialde-
mokratische Zeitung „Die Frau“ erschien ab November 1945 und wurde 1946 mit
der „Unzufriedenen“ vereinigt. Ebenso erschien Ende 1945 „Die Österreicherin“ des
„Österreichischen Frauenbundes“ mit den Schwerpunkten Kunst und Kultur. Die
Zeitschrift fand kaum Käuferinnen und wurde daher 1949 durch „Frau und Familie“
mit dem Fokus auf Haushalt, Kinder und Beruf ersetzt, auch sie hielt sich nur ein
Jahr. Gleichfalls von Seiten der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) wurde die
„Österreichische Frau“, ein Mitteilungsblatt für Funktionärinnen, sowie die „Frau
von heute“, ein Unterhaltungsblatt mit eingestreuten politischen Inhalten, publiziert.
Ab 1950 erschienen die „Frauenrundschau“ des „Bundes Österreichischer Frauen-
vereine“ sowie etliche katholische Medien für Frauen, deren Titel wie „Das Licht des
Lebens“ (ab 1946), „Gute Stunde“ (ab 1946) oder „Die Mutter“ (ab 1948) die
wesentlichen Inhalte vorwegnahmen. (Krainer 1995, S. 100–103)
Ebenso wurden die Traditionen kommerzieller, vorgeblich unpolitischer „Frauen-
zeitschriften“ nach 1945 nicht nur wieder aufgegriffen, sondern ergänzt und erwei-
tert (Krainer 2019, S. 242). Mit dem steigenden Wohlstand ging ein familiärer
Rückzug vieler Frauen einher, der auch in Zeitschriften für Frauen das – vermeint-
liche – Familienidyll der 1950er-Jahre prägte. Haushaltszeitschriften fokussierten
neben Wohnung, Ehe, Mode und Kindern vor allem auf technische Errungenschaf-
ten, die das Hausfrauendasein erleichtern sollten, Modezeitschriften wie „Die blaue
Stunde“ oder „Die schöne Wienerin“ stellten auf die Frau als Konsumentin
ab. Daneben wurde das Genre der Kundenzeitschrift wiederbelebt, indem etwa das
406 M. Marschik et al.
7 Fazit
Seit geraumer Zeit ist ein verstärktes Interesse an der wissenschaftlichen Aufarbei-
tung der historischen „Frauenzeitschriften“, gerade auch auf Basis ihrer zunehmen-
den elektronischen Verfügbarkeit, auszumachen. Etliche Bücher und Fachartikel
sind erschienen, aber auch im Internet finden sich zahlreiche Einträge. Dass inzwi-
schen sogar „Wikipedia“ zu vielen historischen „Frauenzeitschriften“ und zu etli-
chen Protagonistinnen Einträge bereithält, lässt auf ein zunehmendes populärwis-
senschaftliches Interesse schließen. Gerade wegen der großen Bandbreite des
Untersuchungsgegenstandes wohnt der Analyse von „Frauenzeitschriften“ ein enor-
mes Potenzial inne, Im Sinne der Forschung über die Geschichte von Frauen und der
Historische „Frauenzeitschriften“. Von der Lektüre für Frauen . . . 407
Literatur
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Zeitschriftenarchive
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412
2 Vom Spielzeug für Männer zum Hausfreund der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
3 Das Objekt Radio: „Wie sie ihn sieht“ – „Wie er ihn sieht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416
4 Die Konstruktion des Familienpublikums oder Erziehung zum angemessenen Gebrauch:
Krauses hören Radio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417
5 Familienpublikum und Zeitrhythmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419
6 Fazit: Genderization in medialen Durchsetzungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422
Zusammenfassung
Auf der Grundlage von zeitgenössischen Diskursen zeichnet der Beitrag nach,
wie die binär gedachte Geschlechterordnung die Entwicklung des neuen Medi-
ums Rundfunk in Deutschland vor dem 2. Weltkrieg geprägt hat. In den Blick
genommen wird das Zusammenspiel von Programmstrukturen, Programmange-
bot und Hörer:innenforschung bei der Bestätigung und Neuformierung der
jeweiligen Geschlechterordnungen. Diese waren gleichzeitig im Rundfunk wirk-
sam, wurden von ihm bestätigt und neu hervorgebracht.
Gekürzte und überarbeitete Fassung von: Uta C. Schmidt und Monika Pater. 1997. „Adriennes
Hochantenne“. Geschlechtsspezifische Aspekte medialer Durchsetzungsprozesse am Beispiel des
Rundfunks. Feministische Studien 15(1): 21–33.
M. Pater (*)
Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland
E-Mail: monika.pater@uni-hamburg.de
U. C. Schmidt
Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland
E-Mail: uta.schmidt@uni-due.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 411
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_24
412 M. Pater und U. C. Schmidt
Schlüsselwörter
Genderingprozesse · Einführung neues Massenmedium · Radio · Hörer:
innenansprache · Programmstruktur
1 Einleitung
Für die 1920er-Jahre verkörperte der Rundfunk als das neue Informations- und
Kommunikationsmedium wie kaum ein anderes technisches Produkt Modernität
und Lebensstil, allenfalls vergleichbar mit Motorrad und Auto: „Wo man geht, wo
man sitzt und steht, ist vom Radio heut nur die Red’. Vom Kellerloch bis hoch zur
Mansard’ ist alles drin vernarrt.“ (Leopoldi und Kuttner 1925). Schlager wie
„Adriennes Hochantenne“ brachten die gesellschaftlichen Herausforderungen
durch das neue Medium auf den Punkt: Dort bekommt ein Prozess, der wenig mit
geschlechtlichen Zuweisungen zu tun hat, nämlich die zunehmende Ausbreitung des
Rundfunks als Lifestyle-Attribut, durch die assoziationsträchtige Verbindung mit
junger Frau, „empfangsbereit“ im Bett wartend die richtige Anschaulichkeit.
Radiohören wird hier als vergeschlechtlichte soziale Praxis imaginiert. Das Bei-
spiel versinnbildlicht, wie Frauen qua Geschlecht platziert werden, und zwar „emp-
fangsbereit“ in einer privat-intimen Situation. Diese Assoziation des häuslichen
Empfangs von Rundfunkangeboten zeigt den Stellenwert der Kategorie Geschlecht
bei den Aushandlungsprozessen um das in den 1920er-Jahren neue Medium Rund-
funk. Das ‚Eindringen‘ entkörperlichter Stimmen ins privat gedachte Heim stieß eine
Neuverhandlung öffentlicher und privater Räume an; der Rundfunk formte die
Bedingungen des Öffentlich-Seins um – daher auch die zeitgenössischen Debatten
über Stimme, angemessenes Sprechen und Zuhören, Kosten und Zugang (Schmidt
1998a; Lacey 1996).
Rundfunkpolitische, institutionen- und programmhistorische Studien prägten
lange die deutschsprachige Forschung zur Geschichte des Rundfunks; hier spielte
Geschlecht nur implizit eine Rolle, wenn z. B. männliche Rundfunkpioniere erwähnt
wurden. Dabei lässt die Auseinandersetzung mit Geschlechterordnung im Rahmen
von Rundfunkgeschichte erkennen, dass und wie die Kategorie Geschlecht mit ihren
historisch spezifischen und veränderlichen Zuschreibungen das erste elektronische
Massenmedium prägte, Handlungsmöglichkeiten und Räume strukturierte.
Institutionell wurden vorrangig die Zielgruppenangebote Frauen-, Kinder und
Jugendfunk zum Raum weiblicher Berufstätigkeit in Rundfunkorganisationen.
Neben der Zielgruppe beförderten auch „weichere“ Themen wie Kunst und Literatur
den Zugang von Frauen; die Sendeanstalten folgten hier etablierten Ressortzutei-
lungen der Printmedien (Kinnebrock 2005). Frauen, 1919 mit dem Stimmrecht zu
Staatsbürgerinnen geworden, traten insgesamt selten als Rednerinnen in öffentlichen
Räumen auf. Technisch begründet wurde der Ausschluss von Frauen aus bestimmten
Arbeitsbereichen des Hörfunks, v. a. des Nachrichten-Sprechens (Münkel 1998). Die
höhere Tonlage weiblicher Stimmen war angeblich schwieriger zu übertragen, was
unbegründet war, wie Martensen (2018) herausarbeitet. Die männlich konstruierte
Radiogeschichte: Vergeschlechtlichung des frühen Rundfunks in Deutschland 413
„You couldn’t even go and peel potatoes, because he used to say he could hear the sound of
dropping in the sink above what was coming through the headphones . . . None of us dared to
move a muscle“ (Moores 1988, S. 30).
Die „Radioten“ (Riedel 1987, S. 22) der Anfangsjahre wurden von Seiten der Industrie
zwar als kompetente Ideenlieferanten für technische Verbesserungen geschätzt (Lerg
1980; Dahl 1978, 1983). Der erhoffte wirtschaftliche Profit konnte jedoch nur im
massenhaften Absatz industriell gefertigter Rundfunkgeräte liegen, nicht im Geschäft
mit Bauteilen für eine sparsame Radio,bewegung‘ in Funkvereinen oder Bastelgrup-
pen. Dazu bedurfte es einer Marketingstrategie, die das Radiogerät als unverzichtbar in
der Bedürfnisökonomie auch eines technisch unbedarften Publikums verankerte und
die vor allen Dingen die Ressentiments der weiblichen Käuferschichten gegenüber
dem ‚Spielzeugcharakter‘ verringern half. Die Grundlage für eine Massenverbreitung
lag in der Herausbildung eines konsolidierten Produkt- und Gebrauchswertstandards,
der bei angemessener Preisgestaltung hinreichende Empfangsqualität, Bedienungs-
und Wartungskomfort garantierte und eine gewisse Sicherheit bot, dass das Gerät nicht
in kürzester Zeit schon wieder überholt sei. Erst dann ließ sich das Radiogerät als
unhinterfragbare Begleitung bei Alltagsroutinen und als Freizeitmedium, vor allem
aber als Statussymbol und Distinktionsmittel positionieren.
Der Anschluss von Lautsprechern, d. h. die Möglichkeit, zu mehreren im Raum
Klänge, Stimmen und Geräusche akzeptabel empfangen zu können, markierte in
diesem Zusammenhang einen bedeutenden Schritt in Richtung Massenverbreitung.
Der entscheidende Impuls kam jedoch durch den Einbau von Netzgeräten, die die
aufwendige Wartung der Batterien überflüssig machten, da sie nun das Gerät mit
Strom aus der Lichtleitung speisten. Erst jetzt konnte sich der Radioempfänger
strukturell im Bedürfnishaushalt eines allgemeinen, aus Männern und Frauen, Alten
und Jungen bestehenden Publikums ausbreiten, sieht man von Einschränkungen durch
mangelnde finanzielle Möglichkeiten oder durch fehlende Elektrifizierung ab. Die
Marktstrategie der Rundfunkindustrie ging auf: Der Typ ‚Radiohörer‘ wandelte sich in
kürzester Zeit. Er wurde vom technischen Kenner zur Konsument:in.
Dieser Prozess manifestierte sich anschaulich in einer 1930 anlässlich der Funk-
ausstellung in Berlin diskutierten amerikanischen Studie (Funkillustrierte 1930).
Unter geschlechtersensibilisiertem Blick überrascht, dass im zeitgenössischen Dis-
kurs dem ‚Verweiblichungsprozess‘ der Radioaneignung eine zentrale, explizite
Begründungsfunktion für die Herausbildung bestimmter Gebrauchswertstandards
zukam. So lautete die Analyse für 1926:
„Die Radioapparatur war salonfähig geworden; hiermit mußte ein gewisser Wert auf das
Aussehen gelegt werden. Gleichzeitig war die Bedienung aus der Hand des Bastlers und
Kenners in die Hand der nicht sachverständigen Hausgenossen übergegangen. Die Dame des
Hauses hatte Wohlgefallen gefunden, verlangte daher eine einfache Handhabung und eine
Stationsauswahl, da beim Kaffeekränzchen doch nicht jeder oder jede Anwesende mit dem
gerade Gesandten einverstanden war. Dies auch nur dann, wenn man sich weiter dabei
unterhalten konnte, und hierzu war es unbedingt erforderlich, daß man Wert auf die Reinheit
des Tones legte. Daher steht die Reinheit des Tones an erster und die Möglichkeit der
Stationsauswahl an zweiter Stelle . . .“ (Funkillustrierte 1930)
416 M. Pater und U. C. Schmidt
Die akustischen und optischen Kriterien Aussehen und saubere Wiedergabe sollten
von nun an zu bleibenden Größen des Radiogebrauchs avancieren. Der mit dem
Radiogerät verbundene soziale Distinktionsmechanismus funktionierte nicht mehr
allein über technische Innovation, sondern auch über ästhetische Stimmungswerte
(Baudrillard 1991), die von nun an in der Konsument:innenansprache Frauen zu-
geordnet wurden.
Unter geschlechtergeschichtlichen Gesichtspunkten markiert dieser technische
Entwicklungssprung vom kopfhörerabhängigen Detektor zum Lautsprechergerät
für eine Alltagsgeschichte der Radioaneignung nachgerade ein epochales Ereignis.
Das Hören, zuvor immobil und monadisch, da an Kopfhörerverbindung zwischen
menschlichem Ohr und Apparat gebunden, verlor durch den Lautsprecher seinen
abgeschlossenen, herausgehobenen Ereignischarakter. Von nun an wurde es zu einer
Tätigkeit im Raum. Der Lautsprecher verwandelte die Radiosendung „in ein raum-
belegendes Etwas, das keinen Platz wegnimmt, das vielmehr simultan jeder Tätig-
keit und jedem Ambiente beigeordnet werden kann“ (Friemert 1993, S. 76–77). Erst
als zeitbegleitende Tätigkeit griff das Medium formativ in den Alltag ein, begann
Wahrnehmungsformen zu disponieren. Es erschloss eine neue Dimension des Hö-
rens, und es wurde für eine besondere Berufsgruppe attraktiv: die Hausfrauen.
Zugespitzter formuliert könnte man diesen umfassenden Differenzierungsprozess
hin zum Dabei-Medium auch als den der Verweiblichung der Radioaneignung
bezeichnen: Der Apparat verliert seinen für die Anfangszeit des Radios bestimmen-
den Charakter als technisches Spielzeug von Männern und wird zum Alltagsgegen-
stand von Frauen und Männern. Die Apparatur empfahl sich als Hausfreund, als
Begleiter durch den Tag.
3 Das Objekt Radio: „Wie sie ihn sieht“ – „Wie er ihn sieht“
Eine Massenbasis konnte dem Rundfunk nur erschlossen werden, wenn es gelang,
auch den Frauen und anderen ebenfalls als technisch nicht interessiert vorgestellten
Bevölkerungsschichten das Medium als Erweiterung ihrer Lebensqualität und Er-
füllung unausgesprochener Wünsche zu verkaufen. Dazu entwickelte die Werbung
geschlechtsspezifische Strategien der Ansprache. Gleichsam paradigmatisch zeigt
sich genderization in einem Prospekt, mit dem die Firma Telefunken 1933 aufwen-
dig für ihren Telefunken Wiking warb.
Die gegenüberliegenden Innenseiten des Telefunken-Faltblattes sind strikt ge-
schlechtsspezifisch gestaltet und sprechen von unterschiedlichen Blickweisen auf
das Gerät: „Wie sie ihn sieht“ – „Wie er ihn sieht“ (Telefunken 1933). Als gute
Gastgeberin sieht sie das Gerät von außen, sieht das Bakelitgehäuse, die geeichte
Normenskala und den dynamischen Lautsprecher, Produktcharakteristika, die einen
guten Klang, eine einfache Handhabung, ein ansprechendes Äußeres sowie pro-
blemlose Pflege anzeigen: „Elegant und stabil, in einem praktischen Gehäuse: ein
Radioapparat, auf den man stolz sein kann. Freunde und Gäste bewundern ihn,
lauschen seinem Klang und gestehen, noch nie etwas Schöneres gehört zu haben.“
(Telefunken 1933) Er hingegen sieht das Gerät von innen, sieht die Lichtnetz-
Radiogeschichte: Vergeschlechtlichung des frühen Rundfunks in Deutschland 417
Als eine „Erfindung, die nicht bestellt“ war, musste sich das Radio sein Publikum
erst schaffen (Brecht 1992 [1930], S. 800). Erwartungshaltungen und Nutzungs-
formen des Mediums – heutzutage routinisiert und von klein auf erlernt – beruhen
auf alltäglichen Erfahrungen mit Medienangeboten (Schmidt und Weischenberg
418 M. Pater und U. C. Schmidt
1994, S. 212–219), wie sie in den 1920er- und 1930er-Jahren noch nicht – und schon
gar nicht massenhaft – zur Verfügung standen. Die Auswahl unter den Angeboten
sowie Ort, Dauer und Art des Hörens wurden deshalb im gesellschaftlichen Diskurs
verhandelt. Mit Blick auf ein Massenpublikum stellte die Hörerwerbung das Radio
als häuslichen Gesellschafter und Begleiter durch den Tag dar, der von der Welt
draußen erzählt: „Willst Du nicht mehr alleine sein, lad Dir die Welt in Dein Zuhause
ein“ (zit. n. Schröter 1973, S. 35). Das Zuhause mit der Hausfrau und Mutter als
Mittelpunkt wurde als Ort gemeinsamen Hörens und die Familie als Normalpubli-
kum konstruiert. Das Manuskript Krauses hören Radio (Blasius o. J.) gibt Einblick
in diese Zuordnungspraxis.1 Der Untertitel charakterisiert dieses Hörspiel als „Lai-
enpredigt“ und benennt damit seine Absicht, innerhalb der bevorzugten Hörforma-
tion – der Familie – einen rücksichtsvollen, vernünftigen Umgang mit dem Radio zu
empfehlen. Ausgangspunkt der Handlungsanleitungen sind alters- und geschlechts-
spezifische Vorlieben beim Radiohören, wie sie sich der Autor dieser Hörfolge
vorstellte und wie sie durch empirische Erhebungen der zeitgenössischen Rundfunk-
forschung bestätigt wurden (Eckert 1941).
Die Mitglieder der Familie Krause sind im Wohnzimmer um das Radio versam-
melt und nutzen jede sich bietende Gelegenheit, die Welle mit dem von ihnen jeweils
gewünschten Programm einzustellen. Während der jugendliche Sohn, Max, Sport-
übertragungen bevorzugt, hört die Tochter, Isolde, am liebsten „moderne Rhyth-
men“. Diese wiederum werden von ihrer Mutter, für die Musik Walzer oder Oper
bedeutet, als kultureller Untergang betrachtet. Tante Emilie hingegen favorisiert die
Kochrezepte des Frauenfunks; dem Vater dient das Radio als Geräuschkulisse, in der
der „Lärm“ seiner Familie untergeht. Nutzen würde er das Radio, wenn es Informa-
tionen aus dem Reichstag, also der politischen Sphäre, bringen würde. Schließlich
versöhnt der Bruder der Mutter, Onkel Oskar, die Interessengegensätze der Familie.
Er überzeugt sie davon, ein rücksichtsvolles Hörverhalten anzustreben. Die einzige,
die seine Belehrung rundweg ablehnt, ist die als rechthaberische „Schnatterbüchse“
gezeichnete Tante Emilie.
Über den Diskurs der sozialen Verortung des Radiohörens hinaus gibt das
Manuskript des Hörspiels einen Einblick darin, wie wiederkehrende Bestandteile
des Programms geschlechtsspezifisch kodiert worden sind.2 Denn jedem Programm-
angebot wird hier ein typischer Hörer bzw. eine typische Hörerin zugeordnet. In der
Zuordnung der Programmvorlieben als auch in der familialen Interaktion kommen
1
Das Hörspiel wurde vermutlich Ende der zwanziger Jahre ausgestrahlt. Denn das hier erwähnte
Gerät besitzt einen Lautsprecher und vier Röhren, was 1926 auf der Rundfunkausstellung als
Neuigkeit präsentiert worden war (Riedel 1994, S. 23). Außerdem wird im Text auf eine baldige
Reichstagswahl angespielt; Wahlen fanden 1928, 1930 und 1932 statt (Kolb 1993, S. 84, 121, 137).
2
Unterhaltungsangebote wie das hier betrachtete Hörspiel stellten einen Großteil des Programms
dar. Allerdings sind nur wenige Tondokumente oder Sendemanuskripte dieser alltäglichen Ange-
bote überliefert. Unter Einsatz von Geschlechtsmetaphern thematisieren mehrere frühe Beispiele
die sozialen Funktionen und möglichen Gebrauchsweisen des Radios, z. B. SDR Historisches
Archiv, Nr. 10995, Luftibus (1928); Deutsches Rundfunkarchiv Frankfurt, Nr. 84 U 2527/1,
humoristischer Werbesketch (ca. 1929).
Radiogeschichte: Vergeschlechtlichung des frühen Rundfunks in Deutschland 419
bürgerliche Vorstellungen von der Ordnung der Geschlechter zum Ausdruck. Dies
geschieht z. B., wenn der Vater das letzte Wort hat bei der Auswahl des Programms
(bis er wieder einschläft) oder die Angebote des Frauenfunks mit seiner „nervtötend“
dargestellten Schwester Emilie verknüpft werden – im Übrigen eine Strategie, das
einzige Angebot, das seine Zielgruppe vorrangig und explizit durch das Geschlecht
bestimmt, abzuwerten.
In die Definition von Aufgaben und Funktionen des Radios flossen gleichermaßen
normative Vorstellungen und persönliche Erfahrungen der Produzenten über ihr
Publikum, dessen Hörverhalten sowie erste Nutzungsanalysen ein (Hensel und
Keßler 1935). Zusammen beeinflussten sie die Gestaltung von einzelnen Sendungen
sowie des Gesamtprogramms. Im Rahmen dieses Programms wurde zwar ein all-
gemeines Familienpublikum angesprochen, aber je nach Tageszeit nahmen die
Produzenten nach Alter und Geschlecht unterschiedliche Gruppen in den Blick:
Medial vermittelt fand so eine sozial-räumliche Zeiteinteilung statt, die zu einer
weiteren Homogenisierung gesellschaftlicher Zeitrhythmen beitrug (Moores 1988,
S. 37). Zum Beispiel sollte die 1935 vom Deutschlandsender eingeführte tägliche
Sendung Guten Morgen, liebe Hörer! alle Hörenden mit „lustiger Musik“ und
„lustigen Worten (. . .) aus den Federn“ locken. Zur Begründung der anschließenden
Sendereihe Ständchen für die Hausfrau dienten Vorstellungen von geschlechtsspezi-
fischer Arbeitsteilung: „. . . nachdem Vater gestärkt durch frohe Musik und lustige
Witze das Haus verlassen hat, (wird) die Frau gern mit leichter Musik zu ihrer
Hausarbeit begleitet“ (o.V. 1935, S. 3). Der zeitlich fest strukturierte männliche
Normalarbeitstag wurde durch die Konzeption der Sendeplätze zu den Spitzennut-
zungszeiten – frühmorgens, mittags und am Vorabend – gestützt: In Werkspausen-
und Feierabendsendungen oder Reihen wie Allerlei von zwei bis drei sollten sich die
Berufstätigen durch leichte Unterhaltungsmusik, unterbrochen von wenigen Wort-
beiträgen, von der Arbeit erholen. Im Gegensatz zum „männlichen“ Radiohören, das
mit Freizeit und Privatheit assoziiert wurde, stand „weibliche“ Radionutzung im
Kontext einer unablässigen Haus- und Familienarbeit. Diese sollte vor allem vor-
mittags durch Musik erleichtert und durch Vorträge, z. B. über Kindererziehung,
bereichert werden. Gleichzeitig erweiterten nachmittags, wenn die gröbste Arbeit als
erledigt galt, Nachrichten oder Sendungen zu allgemeinen kulturellen Themen ihren
Horizont (Kuhlmann 1942, S. 7–8). Immer wieder wurde auf die Notwendigkeit
fester Sendeplätze und regelmäßiger Ausstrahlungen hingewiesen, die es den Frauen
ermöglichen sollten, ihren Tagesablauf nach dem Rundfunkprogramm auszurichten
(Kuhlmann 1942, S. 7; Peck 1933/34, S. 365). Das Eigeninteresse der Sender an
einer treuen Hörerinnenschaft wurde als Bedürfnis der Frauen nach regelmäßigen
Sendungen verkauft.
Sobald der männliche Berufstätige in der Wohnung vermutet wurde, brachten die
Sender ein integratives Familienprogramm, das allen Hörenden etwas bieten sollte.
Hierbei handelte es sich um bunte, heitere Sendereihen wie dem Blauen Montag des
420 M. Pater und U. C. Schmidt
3
Für eine ausführliche Beschreibung der Sendung sowie ihrer Einbindung in die nationalsozialis-
tische Rundfunkpolitik und die Freizeitangebote der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ vgl.
Horn 1984.
Radiogeschichte: Vergeschlechtlichung des frühen Rundfunks in Deutschland 421
Auch als Ensemble gelesen ermöglichen die beiden Quellen – das Hörspiel als
Medientext und die empirische Hörer:innenforschung – keine ‚umfassende‘ Sicht
auf das individuelle Medienhandeln. Sie eröffnen allenfalls Einblicke in kollektive
Strukturen und gesellschaftliche Erwartungen. Der Verweischarakter der Texte bietet
jedoch einen vortrefflichen Beleg für das, was hier eingangs mit Luhmann als
zirkuläres Verhältnis von Medienmachen und Mediennutzung tituliert wurde. Darü-
ber hinaus bleibt zu fragen, ob hier der wissenschaftlich belegte Ursprung für das
immer wieder kolportierte Vorurteil liegt, das später von der feministischen Medien-
forschung dekonstruiert wurde (Klaus 2008), Frauen liebten seichte Unterhaltung
und Männer interessierten sich mehr für Politik als Frauen. Erklären lässt sich diese
Entwicklung geschlechtsspezifischer Rundfunkvorlieben mit unterschiedlichen all-
täglichen Nutzungsweisen des Mediums durch Frauen und Männer, mit seiner
Ablenkungsfunktion bei repetitiver, monotoner, nicht aufschiebbarer und niemals
endender Hausarbeit, die immer wieder Unterbrechungen im Hören sowie Konzen-
trationsverlagerungen nötig macht und deshalb nach „leichten“ Programmformaten
verlangt, in die man problemlos immer wieder einsteigen kann.
Freizeit gleichzusetzen ist und dass Frauen und ihre häusliche und familiäre Arbeit
dadurch zusätzlich zu der Unentgeltlichkeit noch einmal abgewertet werden.
Unter frauenzentriertem Blick galt der Rundfunk seit seiner Verstetigung struk-
turell als Dabeimedium, was das gezielte Einschalten und Auswählen nicht aus-
schloss. Spricht man vom Rundfunk als „Hegemon der häuslichen Freizeit“ (Schildt
1993) verkennt man diese in der Verknüpfung von Rundfunk als häuslichem Medi-
um und Haushalt als traditionell weiblichem Arbeitsbereich liegende Nutzungs-
weise. Es stellt sich die Frage, ob die in den Diskussionen um die Rolle des Rund-
funks als Dabei- oder Einschaltmedium immer wieder aufscheinende abwertende
Haltung gegenüber der Dabeifunktion nicht letztlich als eigentlich frauenfeindlich zu
interpretieren ist, da sie konsequent die alltäglichen Nutzungsinteressen – nicht nur –
eines weiblichen Publikums ignoriert.
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Historische TV-Forschung oder die
Nachhaltigkeit von Fernsehen und
Feminismus im 21. Jahrhundert
Monika Bernold
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428
2 Forschungsfelder und Perspektiven historischer TV-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428
3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436
Zusammenfassung
Im Feld der historischen TV-Studies lassen sich gegenwärtig vier Forschungs-
tendenzen ausmachen, die die Nachhaltigkeit von Fernsehen und Feminismus im
21. Jahrhundert dokumentieren. Dazu gehören Untersuchungen von Geschichts-
darstellungen im Fernsehen und solche zu Transformationen der feministischen
Publikumsforschung. Weiters werden Arbeiten zu Postfeminismus, Reality-,
Quality- und Queer-TV nachgezeichnet. Aktuellste Studien signalisieren die
Relevanz von Nachhaltigkeit und Ökologie für queer-feministische Erkenntnis-
interessen und die Bedeutung von Material Studies und Production Studies für
die gegenwärtige historische TV-Forschung.
Schlüsselwörter
Fernsehen · TV-Forschung · Publikumsforschung · Geschichtsdarstellungen ·
Queer-Feminismus · Nachhaltigkeit
M. Bernold (*)
Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: monika.bernold@univie.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 427
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_23
428 M. Bernold
1 Einleitung
Is Television Studies History? Der Titel eines Aufsatzes von Charlotte Brunsdon,
einer Pionierin der feministischen TV-Studies aus Großbritannien, verweist bereits
im Jahr 2008 auf ein Grundsatzproblem, das mit dem Forschungsgegenstand Fern-
sehen seit der Digitalisierung verbunden ist. (Brunsdon 2008) Forschungen zu
Fernsehen wurden spätestens seit der Jahrtausendwende insofern historisch, als
Fernsehen, wie es war, vor allem auch zur produktiven Zeit feministischer
TV-Studien zwischen den 1970er- und 1990er-Jahren, nicht mehr existiert. Das
zentral versendete TV-Programm einzelner Sender oder TV-Anstalten fungiert nicht
mehr als gemeinsame ‚Speisekarte‘ eines Massenpublikums. Das nationale, lineare
und analoge Fernsehen wird zunehmend von digitalen Video-Packages herausge-
fordert, die je nach Lebensstil und Vorliebe von den Nutzer_innen selbst individuell
zusammengestellt werden. Auch traditionelle Sendeanstalten teilen ihr Programm
zunehmend mit dem Publikum im Netz. Das Publikum transformiert sich offenbar in
kulturelle Produzent_innen der eigenen Rezeption. Unter den Bedingungen der
Verwandlung der Zuschauer_innen und TV-Konsument_innen in Prosumer wird
die Frage nach dem weiblichen Publikum, wie sie die historische feministische
TV-Forschung lange Zeit prägte, scheinbar obsolet.
Die feministisch orientierte historische TV-Forschung ist zumindest seit der
Jahrtausendwende mit der Verkündung des Endes des Fernsehens ebenso kon-
frontiert wie mit der Verkündung des Endes des Feminismus und des Endes des
Publikums.
Television after TV: Essays on a Medium in Transition hieß folgerichtig ein viel
rezipierter Band, der von Lynn Spigel und Jan Olssen 2004 herausgegeben worden
ist. Post-TV und Post-Feminismus wurden zu grundlegenden Rahmenerzählungen
für die historische TV-Forschung seit der Jahrtausendwende. Sie signalisieren den
Wandel der technologischen und kulturellen Form Fernsehen und die Veränderung
bzw. Ausdifferenzierung der internationalen Frauenbewegungen. Der wissenschaft-
liche Diskurs zum Fernsehen ist dabei immer noch stark von Forschungstraditionen
des angloamerikanischen Raums dominiert. Auch in einer globalisierten Medien-
kultur und Medienökonomie bestehen freilich nationale und auch regionale Aus-
prägungen von Fernsehen und Fernsehkonsum in ihrer Vielfalt und Widersprüch-
lichkeit weiter. Nationale TV-Traditionen wurden während der letzten Jahre
sicherlich auch in feministischer Perspektive wissenschaftlich bearbeitet, sind aber
an dieser Stelle nur schwer in einen gemeinsamen Blick zu bekommen (u. a. Powiers-
ka 2015; Winter 2021).
2008) jene Serien, die sowohl das Publikum als auch die feministische Kritik
besonders interessierten (u. a. Backman Rogers 2015). Die Frage nach Darstellung
von Männlichkeiten und Weiblichkeiten wurde dabei zunehmend mit Fragen nach
der Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit, Hetero- oder auch Homonormativität
in (nationalen) Programmgeschichten und Geschichten einzelner Serien, Formate
oder Genres verknüpft. Queere Episteme und lesbische Lebenszusammenhänge
haben einige kanonisierte Texte der feministischen TV-Studien der 1980er- und
1990er-Jahre mitgeprägt (u. a. Joyrich 1996; de Lauretis 1987). Im 21. Jahrhundert
entstehen mit der Etablierung von Queer Television Studies zahlreiche weitere luzide
Studien, die dem komplexen Verhältnis von Sexualität und Fernsehen gewidmet sind
(u. a. Helford 2000; Glyn und Needham 2008; Loist et al. 2013; Joyrich 2014;
Villarejo 2014; Hilton-Morrow und Battles 2015).
In dem 2009 erschienenen Sammelband Queer TV. Theories, Histories, Politics
etwa wurden insbesondere am Beispiel spezifischer Genres historische Repräsenta-
tionen von Lesbian und Gay Television in den USA und Großbritannien seit den
1960er-Jahren rekonstruiert (Glyn und Needham 2008). Die Darstellung von quee-
ren Figuren oder des Lebens und Alltags von LGBT-Communities werden historisch
rekonstruiert, aber auch kritisch in Hinblick auf Verwertungsinteressen von Diffe-
renz durch die Medienindustrie beleuchtet. Aktuelle Studien diskutieren postfemi-
nistische und queere Held_innen im Fernsehen nicht nur im Spannungsverhältnis
von Empowerment und neoliberaler Zurichtung, sondern verweisen in kritischen
Befunden auch auf die Gleichzeitigkeit von Postfeminismus und intensivierter
Misogynie, Rassismus, Sexismus und Frauenfeindlichkeit im Fernsehen (Myers
2013).
Reality-TV war das Format, das Fernsehen spätestens seit den 1990er-Jahren
prägte und veränderte. Die Kontextualisierung von Reality-TV mit gesellschaftspo-
litischen Veränderungen insbesondere in Hinblick auf Um- und Abbau des Sozial-
staats war dabei insbesondere aus feministischer Perspektive von Interesse (u. a.
Ouellette und Hay 2008; Negra und Tasker 2014).
Zum einen wurden Makeover-Shows aus der Perspektive postmoderner Körper-
politiken und in Hinblick auf gegenderte Optimierungslogiken des Selbst untersucht.
Reality-TV geriet als Regierungstechnologie im Sinne Foucaults in den Blick
(Bernold 2002; Maier 2007; Seier und Waiz 2014). Andererseits avancieren gegen-
wärtig die Affect Studies (u. a. Angerer 2017) zum wichtigen theoretischen Instru-
ment der Analyse. Im deutschsprachigen Raum untersuchen etwa Lünenborg oder
Hipfl transkulturelle, emotionale Repertoires an global distribuierten Unterhaltungs-
formaten des Reality-TV im Kontext von gesellschaftlichen Macht- und Ungleich-
heitsverhältnissen (Lünenborg et al. 2017; Hipfl 2014).
Feministische Ansätze in der Tradition der Cultural Studies haben gegenwärtig
schließlich eine spezifische Ausprägung von Reality-TV im Blick, in der es zuneh-
mend um Geld, Besitz und Immobilien geht. Gender and Property TV after the
Financial Crisis lautet 2017 der Titel eines Special Issues des Journal of Cultural
Studies, in dem mehrere Beiträge die gegenderten Dimensionen des Phänomens
‚Property TV‘ in Kanada, Großbritannien und den USA untersuchen, ein Format,
434 M. Bernold
das seit der Finanzkrise 2008 ständig expandiert und in dem an die Krise angepasste
Vorstellungen von Besitz, Eigentum und Haushalt verhandelt werden.
Die Herausbildung von Reality-TV Ende der 1990er-Jahre war mit einer zweiten
signifikanten Bewegung verbunden, die als Siegeszug von Quality-TV zu beschrei-
ben ist. Quality-TV ist sozusagen nicht Fernsehen, das Andere von Reality- und
Trash-TV. In den 1990er-Jahren wurde Quality-TV von Kritik und Publikum als
Rettung des Fernsehens, ja sogar des Kinos, als intelligent, progressiv und ideolo-
gisch nah an der Gesellschaftskritik gefeiert. Dies macht die Analyse von Jennifer
Clark (2014) so interessant, die eine Zeitverschiebung konstatiert, die wesentlich
zum Erfolg der Serien beitrage. Die Sopranos oder Mad Man würden epische
Geschichten und Modelle von Männlichkeit entwerfen, die in einer prae-femi-
nistischen Welt handeln, also der gegenwärtig vom Postfeminismus geprägten
Popularkultur eine Art Zeitmaschine entgegensetzen, die in einen Raum führt, in
dem die Effekte der Frauenbewegung noch nicht so deutlich zu spüren sind (Clark
2014). Stabilisierende Bilder und Narrationen von Männlichkeit trugen vielleicht
zum Erfolg von Quality-TV mit bei (Winter 2013; Voigt 2017). Die gesellschaftliche
Wahrnehmung und Wertschätzung dieser Serien jedenfalls verläuft auch gegenwär-
tig entlang gegenderter Konnotationen von high und low culture.
Wie korreliert die Geschichte der Technologie und Institution Fernsehen mit dem
Wandel von gesellschaftlichen Geschlechterordnungen? Im Feld der Institutionen-
und Technikgeschichte haben sich einerseits während der letzten Jahre insbesondere
Arbeiten aus dem Bereich der Production Studies durchgesetzt (u. a. Born 2004;
Mayer et al. 2009). Georgina Born etwa hat die Geschichte der BBC insbesondere in
den 1990er-Jahren institutionengeschichtlich und aus kritisch-feministischer Per-
spektive aufgearbeitet. Helen Warner analysierte die Produktion der Fashion-Kultur
in Mad Man und Sex in the City am Beispiel der Figur der Styl_istin und hat damit
die Herstellung und Veränderung von populären Fashion Codes auch in professio-
nellen Kontexten als einen gegenderten, ethnisch- und klassenspezifischen Prozess
rekonstruiert (Warner 2014). Die Production Studies lenken die Aufmerksamkeit
wieder vermehrt auf die ökonomischen und institutionellen Bedingungen und
Grundlagen der Medienproduktion, die als, jedenfalls bis vor kurzem, vernachläs-
sigter Teil der feministischen Medien- und Kommunikationswissenschaft verstanden
werden.
Der Einzug konstruktivistischer Gendertheorien in die TV-Studies machte die
Analyse der vielschichtigen Vergeschlechtlichung von Technik am Beispiel des
TV-Geräts und dem Dispositiv Fernsehen als spezifischer Anordnung von Technik,
Subjekt und Bild in den 1990er-Jahren erst möglich (u. a. Gray 1992). Repräsenta-
tionskritische und dekonstruktivistisch orientierte Ansätze, aber auch ethnografische
Studien zum weiblichen Publikum und zu Fankulturen haben allerdings die Unter-
suchung der Produktionskontexte der jeweiligen Programme während der letzten
Historische TV-Forschung oder die Nachhaltigkeit von Fernsehen und . . . 435
Jahrzehnte teilweise aus dem Blick verloren. Interessant scheinen daher aktuelle
Versuche, Production Studies, Programmanalyse und Studien zu Gebrauch und
Rezeption spezifischer Programme zu verknüpfen (u. a. Warner 2014). Die technik-
basierte historische Verschiebung der fernsehspezifischen „liveness“ und des ‚flow‘
hin zu einer „real-time“ in datenbasierten Strukturen des digitalen Fernsehens
(Bennett 2008) wird nun auch in der historischen TV-Forschung in ihren Effekten
auf die Konstruktionen veränderten Alltags und veränderter Geschlechterverhältnis-
se seit der Jahrtausendwende verhandelt.
Andererseits hat sich aktuell im Kontext von Posthumanismus und Material
Studies eine Debatte um sustainable media etabliert (Starosielski und Walker
2016), in der es um den vielfältigen Zusammenhang von Umwelt und Medien geht.
Hier rücken Themen wie die Ausbeutung menschlicher und natürlicher Ressourcen
in der Produktion von Medientechnologien und deren Entsorgung (Elektromüll)
oder die Frage nach der zunehmenden Verankerung von Medien und Kommunika-
tionstechnologien in der Landschaft und im urbanen Raum in den Forschungsfokus.
Repräsentationen von Natur und Umwelt im Fernsehen oder die Nachhaltigkeitsbe-
richterstattung werden ebenso untersucht wie die Frage der Nachhaltigkeit am
Beispiel von wirtschaftlichem Handeln der Medienkonzerne selbst. Praktiken,
Medien-Objekte und Infrastrukturen des Medialen, die in die Umwelt eingreifen,
werden auch als Struktur befragt, in der Geschlechterverhältnisse verhandelt werden.
Lisa Parks hat in diesem Feld der historischen TV-Forschung wichtige Akzente
gesetzt. Sie untersuchte die Bedeutung der männlichen Figur des TV-Technikers, der
nach Hause kommt, um das TV-Gerät zu reparieren, für die Praxen und Ideologien
von weißen Frauen der Mittelschicht im suburbanen Amerika der 1950er-Jahre
(Parks 2002). Sie hat gezeigt, wie sehr die Satelliten-Technologien als zentrale
Ausstattung des Fernsehens seit den späten 1950er-Jahren vom militärischen Kom-
plex der USA geprägt und mitdefiniert worden sind und damit gegenderte Vorstel-
lungen von Raum, von Öffentlichkeit versus Privatheit mitetablierten (Parks 2005).
3 Fazit
dem ‚weiblichen‘ oder dem ‚aktiven‘ Publikum wurde durch Fragen abgelöst, die
fluide und kontingente Identitätsformen und die zunehmende Konvergenz von
Fernsehen und Internet in den Blick nehmen. Überlegungen zur Erforschung von
Fankulturen im Netz ergänzen die seltener gewordenen ethnografischen Studien zum
TV-Publikum. Nach der Dominanz von Dekonstruktivismus und Konzepten des
doing gender seit den 1990er-Jahren erhielten aktuelle queer-feministische und
postkoloniale TV-Forschungen zur Geschichte des Fernsehens insbesondere von
den Material und den Production Studies wichtige Impulse. Angesichts einer glo-
balen Medienökonomie und ihren neoliberalen Logiken, die spätestens seit den
1990er-Jahren zunehmend expandiert, werden transnationale und transdisziplinäre
queer-feministische Forschungsperspektiven, die soziale, ökonomische und ökolo-
gische Rahmenbedingungen von Medienkulturen in den Blick nehmen, zukünftig
unabdingbar sein. Die Nachhaltigkeit von Feminismus als queer-feministische
Medienkritik, als Forschung und Aktivismus wird darin programmatisch.
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Geschichte im Fernsehen und Geschlecht
Renée Winter
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
2 Geschichte in televisuellen Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
3 Darstellungen von Nationalsozialismus und Holocaust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
4 Fernsehserien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
5 Reality TV, Living History und Reenactment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446
6 Institutionengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447
7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449
Zusammenfassung
Die feministische Forschung zu Geschichte im Fernsehen erfolgt in Geschichts-
wissenschaften, Kunstgeschichte, Kommunikationswissenschaften und Film-
und Medienwissenschaften. Diese Interdisziplinarität führt zu einer Vielfältigkeit,
aber auch Verstreutheit, so sind die Studien wenig systematisiert und beziehen
sich weniger aufeinander als auf angrenzende Forschungsgebiete, wie Geschlech-
tergeschichte, Geschlechterkonstruktionen in Geschichtsdarstellungen allgemein,
Genre und Geschlecht etc.
Einen Schwerpunkt der Forschung und gleichzeitig das Gebiet mit den diffe-
renziertesten Ergebnissen bildet die Analyse von Geschlechterkonstruktionen in
Repräsentationen von Nationalsozialismus und Holocaust. Mehrere Arbeiten
beschäftigen sich mit Fernsehserien mit historischem Inhalt sowie mit rezenteren
Elementen des Geschichtsfernsehens, wie Reenactment und Living History und
ihren Wechselwirkungen mit Geschlechterdarstellungen. Systematische feminis-
tische Analysen der institutionellen und strukturellen Bedingungen des Ge-
schichtsfernsehens stehen für den deutschsprachigen Raum noch aus.
R. Winter (*)
Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: renee.winter@univie.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 441
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_30
442 R. Winter
Schlüsselwörter
Fernsehen · Geschichte · Geschlecht · Geschichtsdokumentation · Reality TV
1 Einleitung
„Television produces gender differentiated memories of National Socialism and also codifies
– as can be noted in reference to its relevance in the circulation of historical knowledge – a
corresponding gender difference in collective memory.“ (Keilbach 2007, S. 102)
Judith Keilbach (2008), die sich mit dem Geschichtsfernsehen zum Nationalso-
zialismus im öffentlich-rechtlichen Fernsehen in Deutschland beschäftigt hat, setzt
sich insbesondere auch mit der Frage von Geschlecht und Zeitzeug_innenschaft im
Fernsehen auseinander. Während in den 1980er-Jahren weibliche Zeitzeuginnen in
den Geschichtsdokumentationen um Nationalsozialismus mit Alltag, Emotionalität
und Affekt konnotiert waren und mithalfen, einen Opferstatus deutscher Frauen zu
behaupten, kam ihnen in den 2000er-Jahren die Funktion zu, die männlichen
Kriegsveteranen zu entlasten (Keilbach 2007, S. 104, 110).
Eine Privilegierung männlicher Zeugen und die Funktionalisierung der wenigen
weiblichen Zeuginnen als Vermittlerinnen und Übersetzerinnen konstatieren Mari-
anne Hirsch und Leo Spitzer in ihrer Analyse der Dokumentation Shoah (F 1985)
von Claude Lanzmann (Hirsch und Spitzer 1993). Während Frauen in den Erinne-
rungen der Zeitzeugen einerseits eine hilflose und passive Rolle einnehmen, werden
sie in manchen Erzählungen auch mit Gefahr und Tod assoziiert, wenn etwa
insbesondere Frauen mit kleinen Kindern mit unkontrollierbaren und folgenreichen
Panikreaktionen in Verbindung gebracht werden. Die Sprachlosigkeit der Zeuginnen
gehe einher mit der Dethematisierung subjektiver gegenderter Erfahrungen und einer
Repräsentation von Weiblichkeit in Shoah, die Hirsch und Spitzer wie folgt be-
schreiben: „the danger of women, their helplessness and passivity, their emotional
power, and their disembodied haunting presence“ (Hirsch und Spitzer 1993, S. 11).
Johanna Gehmacher analysiert die Konjunkturen der Faszination für Täterinnen
und insbesondere für Frauen der NS-Elite im Fernsehen der 1990er- und 2000er-
Jahre – wie die ZDF-Serie Hitlers Frauen und Marlene. Sie zeigt apologetische und
entlastende Funktionen der populären Fokussierung auf die „Ehefrauen und Gelieb-
ten der NS-Größen“ auf und konstatiert: „[N]icht die Abwesenheit von Frauen im
Bild des Nationalsozialismus, sondern die ubiquitäre Anwesenheit eines Klischees
444 R. Winter
4 Fernsehserien
„Almost all students agreed that we are now living in an age of enlightenment where women
have more choices and more career opportunities. Within this construction of the present, the
past served as a comparative index by which people could measure their relative liberation.
In this regard, television reruns and nostalgia shows might well have served the purpose of
legitimation because they provide us with pictures of women whose lives were markedly less
free than our own.“ (Spigel 1995, S. 27)
Mimi White weist auf die authentifizierende Funktion der die DVD-Edition beglei-
tenden Dokumentation Birth of an Independent Woman hin. Die Dokumentation
impliziere auch ein Eingeständnis, dass die historische Fiktion der Serie der Frage
nach der Geschichte von Frauen nicht gerecht werde (White 2011, S. 156). Sara
Rogers argumentiert, dass Mad Men autonome Frauenfiguren bereitstelle, die,
obwohl sie in der Vergangenheit angesiedelt sind, die Zuschauer_innen in ihrer
Alltagswelt ansprechen (Rogers 2011). Renée Winter wiederum beschreibt die
Funktionen der Bezüge auf historische Geschlechterverhältnisse in der Serie Mad
Men als 1) Wiederholung sexistischer, rassistischer, homophober und antisemiti-
scher Machtverhältnisse, 2) als Möglichkeit, den Fortschritt der Gegenwart zu
behaupten, und 3) als Reformulierung und Rekonstruktion weißer Männlichkeits-
konzepte, die neue und weniger gewaltvolle Praktiken ausloten, ohne mit der mit
weißer Männlichkeit verbundenen Machtposition brechen zu müssen. (Winter
2013).
In gewisser Weise erzeugen demnach manche Serien mit historischem Inhalt, wie
etwa Mad Men, ein ähnliches Verhältnis zur Vergangenheit, wie es Lynn Spigel in
Bezug auf die Wiederausstrahlung älterer Serien beschrieben hat: Neben einer
nostalgischen Funktion bieten die Geschichtsdarstellungen eine Perspektive, die es
erlaubt, sich selbst und die Gegenwart als aufgeklärt, als fortschrittlich und als
gleichberechtigt(er) zu erleben.
6 Institutionengeschichte
Ann Gray und Erin Bell konstatieren für das britische Fernsehen eine generelle
Marginalisierung von Frauen als Produzentinnen, Sprecherinnen und Expertinnen
von und in Geschichtssendungen. Geschichtserzähler der Nation sind auch nach der
Jahrtausendwende vor allem männlich und weiß (Gray und Bell 2013, S. 53). Die
Präferenz für männliche Stimmen drückt sich auch in der Auswahl des Geschlechts
der Voice-over-Sprecher_innen von historischen Formaten aus (Bell 2008, S. 4).
Gray und Bell zeigen außerdem, wie sich sexistische Strukturen mit rassistischen
und homophoben sowie solchen der Altersdiskriminierung verbinden, wenn etwa
die raren Auftritte von Moderatorinnen, Schwarzen Expertinnen oder Historikerin-
nen in der Presse abfällig kommentiert werden (Gray und Bell 2013, S. 55–58).
Insbesondere in als repräsentativ angesehenen Sendungen sind selten Schwarze
Britinnen oder Frauen zu sehen, die nicht Teil der gesellschaftlichen Elite der
dargestellten Epoche sind. Diese Marginalisierung steht auch in Zusammenhang
448 R. Winter
mit von den Fernsehanstalten vermuteten Seh-Präferenzen des Publikums, die Gray
und Bell jedoch in Frage stellen (Gray und Bell 2013, S. 216).
Obwohl es für den deutschsprachigen Raum keine vergleichbaren systematischen
Untersuchungen zu den institutionellen Hintergründen der Geschichtsproduktion im
Fernsehen gibt, ist aufgrund von bisherigen punktuellen Untersuchungen von teil-
weise ähnlichen Ergebnissen auszugehen. Insbesondere das Geschichtsfernsehen
des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Deutschland und Österreich war bzw. ist
jahrzehntelang mit Figuren prominenter weißer männlicher Geschichtenerzähler –
Guido Knopp bzw. Hugo Portisch – und einer „paternalistisch kodierte[n] Vor-
stellung von Politik“ (Bernold 2007, S. 149) verbunden.
7 Fazit
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Geschichte im Fernsehen und Geschlecht 451
Andrea Braidt
Inhalt
1 Einleitung: Filmtheorie – Versuch einer Kanonisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454
2 Wegweisende Ansätze feministischer Filmtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
3 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465
Zusammenfassung
Die „Disziplin“ der feministischen Filmtheorie leistete und leistet einen wesent-
lichen Beitrag zur Analyse gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse sowie zur
Formulierung kritischer Subjekt- und Geschlechtertheorien in zahlreichen ande-
ren Disziplinen und lässt sich somit als Spiegel der theoretischen Auseinander-
setzungen zu Gender und Sexualität auf interdisziplinärer Ebene beschreiben.
Maßgebliche Paradigmen feministischer Filmtheorie sind namentlich der
„spectatorship“-Ansatz, die feministische Bildkritik („Bild der Frau“), die kriti-
schen Erweiterungen und Einsprüche insbesondere durch Cultural Studies und
postcolonial critique sowie Ansätze aus queer theory und kognitiv geprägter
Medienwissenschaft (Filmschemata-Ansatz). Der Versuchung einer teleologi-
schen Darstellung feministischer Filmtheorien widerstehend will der Beitrag
einen Einblick in nebeneinander existierende Ansätze bieten.
Schlüsselwörter
Feministische Filmtheorie · Gender · Schaulust · Männlicher Blick · New Queer
Cinema
A. Braidt (*)
Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: andrea.braidt@univie.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 453
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_59
454 A. Braidt
1988), wirkt im Wesentlichen bis heute, während bis vor wenigen Jahren Haskells
Ansatz als historisch interessant, theoretisch jedoch zu problematisch ad acta gelegt
wurde. Doch die amerikanische Philosophin und Filmwissenschafterin Cynthia
Freeland (1996) griff den „images-of-women“-Ansatz als Gegenentwurf zur psy-
choanalytischen feministischen Horrorfilmtheorie wieder auf und entwickelte ihn
weiter.
Die in vielen Überblicken zu feministischer Filmtheorie favorisierte Darstellung
des images-of-women-Ansatzes als längst überwundenes und verworfenes Theorem
homogenisiert eine vielstimmige Theorienlandschaft und verstellt den Blick auf
außerhalb kanonisierter Denkmodelle entwickelte Theoriemodelle. Und eine aus-
schließlich historisch gedachte Entwicklungsgeschichte kann leicht derartige Homo-
genisierungen und Blickverstellungen produzieren. 1 Trotz dieser Bedenken soll nun
der Versuch einer überblicksartigen Darstellung der feministischen Filmtheorie
versucht werden.
1975 veröffentlichte Laura Mulvey ihren Aufsatz Visual Pleasure and Narrative
Cinema (Mulvey 1975; dt. 1980), der von vielen Autor_innen als Gründungstext der
anglo-amerikanischen feministischen Filmtheorie bezeichnet wird (Cook und Ber-
nink 1999, S. 353). Bereits die einleitenden Sätze weisen Mulveys Text als politische
Kampfansage aus:
„This paper intends to use psychoanalysis to discover where and how the fascination of film
is reinforced by pre-existing patterns of fascination already at work within the individual
subject and the social formations that have moulded him. It takes as starting point the way
film reflects, reveals and even plays on the straight, socially established interpretation of
sexual difference which controls images, erotic ways of looking and spectacle. . . . Psycho-
analytic theory is thus appropriated here as a political weapon, demonstrating the way the
unconscious of patriarchal society has structured film form“ (Mulvey 1975, S. 6).
1
Susan Hayward (1996) legte in ihrem mittlerweile stark kanonisierten filmwissenschaftlichen
Glossar einen historischen Überblick vor. Ihre Einteilung der feministischen Filmtheorie in drei
Phasen – 1968–1974; 1975–1983; 1984–1990s – orientiert sich an lediglich zwei Demarkationsli-
nien, nämlich den Veröffentlichungen „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ (Mulvey 1975) bzw.
Alice Doesn’t. Feminism, Semiotics, Cinema (De Lauretis 1984). Die Konstruktion von drei
historischen, immerhin dreißig Jahre umspannenden Phasen anhand von zwei „phaseneinleitenden“
(britischen bzw. anglo-amerikanischen) Texten mag zwar eine einfache Systematik bieten, gibt aber
letztendlich ein zu verkürztes, vereinfachtes und völlig auf eine bestimmte theoretische Richtung,
die semiotisch-psychoanalytische „Screen Theory“, fokussierendes Bild der feministischen Film-
wissenschaften wieder.
456 A. Braidt
Die Kampfansage ist adressiert an das vom (narrativen) Film bestärkte Subjekt,
dessen Muster der Faszination, dessen Lüste im Individuum und in der gesellschaft-
lichen Formation, durch die es geformt ist, bereits bestehen und die nicht erst vom
Film hervorgebracht werden. Dieses Subjekt ist männlich und, so könnte man
ergänzen, weiß, heterosexuell und bürgerlich. Die Problematik der Faszination mit
diesem subjektkonstituierenden Kino liegt in der Art und Weise, wie dieses die
Geschlechterdifferenz für die Generierung der visuellen Lust interpretiert, denn
diese Interpretation ist von Ungleichheit und Unterdrückung geprägt. Doch diese
Einleitung birgt neben der Kampfansage auch die Imagination einer zukünftigen
Filmpraxis, welche den (bösen) Zauber des Kinos der Vergangenheit (Hollywood)
überwinden kann. Und wahrscheinlich ist es der doppelte Anspruch dieser Formulie-
rungen – Kampfansage und Utopie –, der dem Text seine initiierende Wirkung gab.
Dem Aufsatz liegt die Annahme zugrunde, dass der von Freud konzipierte
„Schautrieb“ (Scopophilie) – ein zunächst unabhängiger, das heißt ungebundener
Trieb, aus dem sich einerseits die Sexualtriebe, andererseits jedoch auch die Ich-
triebe, vermittelt über den Mechanismus der Identifikation, speisen (Freud 1999
[1905]) – für die (lustvolle) Rezeption von Filmen grundlegend ist. Zwei Bewegun-
gen des Begehrens prägen die Schaulust am Kino: Einerseits fasziniert die im
androzentrischen narrativen Film omnipräsente Gestalt der menschlichen Form,
welche dem Betrachter scheinbar so ähnlich ist, wenngleich in einer perfektionierten
Ausführung (Narzissmus), andererseits fasziniert die Möglichkeit, im anonymen,
dunklen Filmsaal ungestraft auf fremde Wesen zu blicken (Voyeurismus). Die
Spannung zwischen Narzissmus und Voyeurismus ist für Freud Hauptantrieb für
das durch das Schauen herbeigeführte Lustempfinden.
Mulvey (1975, S. 11) stellt nun die These auf, dass dieser „Schautrieb“ im Kino
über den Prozess der Identifikation entlang der Achse der Geschlechterdifferenz
bedient wird: Männer, so Mulvey, identifizieren sich mit dem Kamerablick bzw. dem
Blick der männlichen Protagonisten im Film, das heißt, sie übernehmen den aktiven
Part des Sehens, während für Frauen der passive Part des „Angesehen-Werdens“
übrig bleibt.
Mulvey folgt weiters den Freud’schen Prämissen einer phallozentrischen Be-
gehrensökonomie. Für den Mann erzeugt der Blick auf die weibliche Gestalt durch
deren offensichtlichen „Mangel“ die Angst vor der Kastration, das Bild der Frau ist
lustvoll und bedrohlich zugleich. Die Verdrängungsmechanismen gegenüber dieser
Bedrohung - die völlige Verleugnung der Kastrationsdrohung durch die Substitution
der Frau mit einem Fetischobjekt bzw. die übersteigerte Verehrung und Fetischisierung
der weiblichen Form selbst – finden im Kino einerseits im weiblichen Starkult und
andererseits in der obsessiven Reinszenierung des ödipalen Traumas in der Verfolgung
und Beobachtung der Frau bzw. ihrer Entwertung und Bestrafung ihren Ausdruck und
ermöglichen so das Überwinden der Bedrohung und das Erleben der „visuellen Lust“
am narrativen Kino. Die filmische Form, welche diese Mechanismen fortschreibt, also
das narrative Kino, muss, so Mulvey (1975, S. 17), gebrochen werden, damit die
Lüste, welche das Mainstreamkino bedient, dekonstruiert werden können.
Einer der wesentlichsten Codes dieser filmischen Begehrensökonomie wird über
eine spezifische Verschränkung der drei im Kino wirksamen Blicke hergestellt: der
Anfänge feministischer Filmtheorie und Filmwissenschaft 457
Blick der Kamera, die das Geschehen filmt, und der Blick des Publikums, welches
das fertige Produkt betrachtet, werden zugunsten des Blick zwischen den Film-
charakteren unsichtbar gemacht. Dieser Code bewirkt die Konstruktion jenes illu-
sionären Realismus, der die Aktiv/passiv-Dichotomie der Geschlechterordnung
zementiert: Durch die Abwesenheit des kritischen Blicks des Publikums auf den
Film bzw. durch die Abwesenheit der materiellen Existenz der Aufnahme („material
existence of recording“) kann das fiktionale Drama „reality, obviousness and truth“
(Mulvey 1975, S. 18) nicht erreichen.
Der erste Schritt in Richtung feministische Filmpraxis ist „die Entlassung (Befrei-
ung) des Kamerablicks in seine zeitliche und räumliche Materialität und die Entlas-
sung des Blicks des Publikums in eine Dialektik, in eine leidenschaftliche Distan-
zierung (passionate detachment)“ (Mulvey 1975, S. 18; Übersetzung A.B.). Diese
Befreiung, so Mulvey, geht selbstverständlich auf Kosten der (herkömmlichen)
visuellen Lust, was Frauen jedoch lediglich mit einem sentimentalen Bedauern
hinnehmen werden: Ihnen war ja die visuelle Lust am narrativen Kino seit jeher
verwehrt geblieben.
Mit Mulveys Aufsatz ist die Psychoanalyse für die feministische Filmwissen-
schaften fruchtbar gemacht. Joan Copjec (1993), Tania Modleski (1988), Gaylyn
Studlar (1985), Mary Ann Doane (1987) oder Linda Williams (Schlüpmann 1990;
Williams 1996) sind nur einige der vielen Theoretiker_innen, die mit der Psycho-
analyse weiterarbeiteten. Doch Mulveys „Visual Pleasure and Narrative Cinema“
rückte auch die feministische Filmpraxis in den Fokus der theoretischen Auseinan-
dersetzung und schaffte so den Anschluss an die feministische Filmbewegung der
1970er-Jahre. Der angedachte Entwurf eines alternativen Gegenkinos sollte jedoch
nicht nur den Blick auf das zeitgenössische feministische Filmschaffen ermöglichen.
Filmtheoretikerinnen wie Heide Schlüpmann und Miriam Hansen entdeckten auch
das Frühe Kino der Jahrhundertwende als Kino der Frauen (Schlüpmann 1990) und
initiierten ein Feld der feministischen Filmwissenschaften, das gerade in den späten
1990er-Jahren großes Innovationspotential entwickelte. Und schließlich traf Mul-
veys Begriff der „visuellen Lust“ einen neuralgischen Nerv der zukünftigen femi-
nistischen Auseinandersetzungen mit dem Kino: das Vergnügen des (auch weibli-
chen!) Publikums an der aus ideologiekritischer Perspektive betrachtet so
problematischen Form des Hollywoodkinos. Die Figur der Zuseherin, von Mulvey
1975 noch so dezidiert aus ihrem Schauparadigma ausgeschlossen, sollte zu einem
„Star“ der feministischen Filmwissenschaften werden.
„Es ist eben diese Opposition zwischen Nähe und Distanz, Bildkontrolle und Bildverlust,
welche die Möglichkeiten der Schaulust innerhalb der Problematik der Geschlechterdiffe-
renz verorten. Für die Zuseherin besteht eine gewisse Übergegenwärtigkeit des Bildes – sie
ist das Bild. Vor dem Hintergrund der Enge dieser Beziehung kann das Begehren der
Zuseherin nur im Sinne einer Art Narzissmus bezeichnet werden – der weibliche Blick
verlangt ein Werden“ (Doane 1990, S. 45, Übersetzung A.B.).
Dieser Blick ist nicht, wie der männliche, fixiert, sondern ist eine „flexiblere Form
der Wahrnehmung, die immer auch wieder aus sich heraustreten und die männliche
Perspektive einnehmen kann“ (Klippel 2002, S. 172). Dieses potenzielle Oszillieren
vor dem Bild der Weiblichkeit beschreibt Doane als Maskerade, bezugnehmend auf
Joan Rivieres eindringliche Formulierung von 1929:
„Weiblichkeit kann also angenommen und wie eine Maske getragen werden, gleichermaßen
um den Besitz der Männlichkeit zu verstecken und um die Strafen abzuwenden, die der
Entdeckung ob ihres Besitzes folgen würde – gleich einem Dieb, der seine Taschen nach
außen stülpt und lautstark nach einer Durchsuchung verlangt, damit man beweise, dass er
nicht gestohlen hat. Der Leser wird sich nun fragen, wie ich denn Weiblichkeit definiere,
beziehungsweise, wo ich die Grenze zwischen echter Weiblichkeit und Maskerade ziehe.
Doch mein Vorschlag beinhaltet ja, dass es so eine Grenze gar nicht gibt; ob radikal oder
oberflächlich, Weiblichkeit und Maskerade sind ein und dasselbe“ (Riviere zit. nach Doane
1990, S. 49, Übersetzung A.B.).
Mit Berufung auf Foucaults These der Produktivität der Macht plädiert Doane
(1990) für ein Überdenken jener Spectatorship-Theorien, die eine weibliche Schau-
position lediglich in der Verdrängung der eigenen Weiblichkeit sehen. Ihren Vor-
schlag der Maskerade versteht sie als einen Beitrag innerhalb des wachsenden
Interesses, eine weibliche Schauposition für das Kino zu theoretisieren.
Theoretiker_innen im deutschsprachigen Kontext versuchen in der Tradition der
Kritischen Theorie neue Ansätze und Erweiterungen der Zuseher_innenposition zu
formulieren. Gertrud Koch (1989) etwa entwickelt im Rückgriff auf die Kritische
Theorie das Modell der „formalistischen Strukturanalyse“. Koch grenzt sich damit
einerseits von einer rein psychoanalytischen Konzeption des Blicks ab, nimmt jedoch
andererseits unter Bezugnahme auf Sartre den „kategorisierenden männlichen Blick als
Anfänge feministischer Filmtheorie und Filmwissenschaft 459
gesellschaftliche Determinierung“ sehr wohl als Ausgangspunkt für ihre Analyse; der
objektivierende männliche Blick wird als ein Grundmechanismus der Unterdrückung
der Frau beschrieben (Koch 1989). Neben einer psychoanalytisch-triebtheoretischen
Perspektive werden bei Koch also auch ideologische Aspekte des Blicks berücksichtigt,
die im Film als Klischeebilder von Frauen identifiziert werden. Diese stereotypen
Klischees bestimmen als Codes die Rezeption des Films. Kochs „formalistische Struk-
turanalyse“ zielt darauf ab, diese Codes zu entlarven, um den von ihnen transportierten
Bildern der Frau im Hinblick auf ihren „Waren- und Gebrauchswert“ entgegenzuwir-
ken. Das psychoanalytische Paradigma des Blicks erfährt in dieser Konzeption eine
grundlegende ideologiekritische Erweiterung, eine zentrale Rolle der feministischen
Filmtheorie wird dementsprechend unter anderem auch in ihrer Anwendung als eman-
zipatorische Filmkritik ausgemacht.
Eine wesentliche Kritik an der Konzeption der Zuschauerin als „spectatrix“ wandte
sich gegen ihr Unvermögen, Differenzen von weiblichen Subjektpositionen zu
berücksichtigen. Die textuelle Subjektkonstitution der „spectatorship theory“ wurde
von vielen Kritiker_innen als zu fixiert, zu homogenisierend und zu ausschließend
gesehen, der Begriff des „Blicks“ (gaze) verlangte immer mehr nach einer Revision.
bell hooks forderte diese aus der Perspektive von race2 ein:
2
Die Verwendung des Begriffs „race“ ist im englischsprachigen Diskurs noch immer geläufig,
während er im Deutschen aufgrund seiner eindeutigen Aufrufung rassistischer Konzepte fundamental
problematisiert wird. Im Folgenden wird im Zuge der Darstellung englischsprachiger Positionen
„race“ unübersetzt verwendet bzw. im Deutschen dem Begriff Ethnizität der Vorzug gegeben.
3
Ich folge hooks in der Kapitalisierung des Adjektivs Schwarz, das im engeren Sinne keine
Hautfarbe signalisiert, sondern eine Differenzierung einfordert. Schwarz in diesem Sinne ist nicht
„beschreibend“, sondern eine Kategorie der Aneignung und des Verweises auf rassistische Ver-
hältnisse.
460 A. Braidt
„Spaces of agency exist for black people, wherein we can both interrogate the
gaze of the Other but also look back, and at one another, naming what we see. The
‚gaze‘ has been and is a site of resistance for colonized black people globally“
(hooks 1992, S. 116). Schwarze, so hooks, erfahren eine gänzlich andere Sozialisa-
tion bezüglich des Blicks, es war dem Schwarzen Fernseh- bzw. Kinopublikum seit
jeher klar, dass ihr Blick auf Leinwand und Bildschirm ein Nachvollzug Weißer
Unterdrückung bedeutet. (hooks 1992, S. 117) Andererseits ist das Kino der Ort, an
dem der Blick Schwarzer Männer auf Weiße Frauen unsanktioniert bleibt. Schwarze
Männer können den Platz des „spectators“ einnehmen und sich dadurch an einen
imaginären Ort phallozentrischer Macht begeben, an dem der Ausschluss, den sie als
Schwarze aus dieser Macht erleben, ausgeglichen werden kann. Für Schwarze
Frauen besteht eine völlig andere Identifikationssituation, da sie im Mainstreamkino
mit einer Kultur der Missrepräsentation und Unsichtbarkeit konfrontiert sind. Die für
die Identifikation notwendige „Wiedererkennung“ (im Sinne auch von Anerken-
nung) gibt es nicht, denn die (seltene) Repräsentation von „blackness“ dient norma-
lerweise ausschließlich der Intensivierung Weißer Weiblichkeit als Begehrensobjekt
(hooks 1992, S. 119). Für hooks bedeutet das Kinoerlebnis für Schwarze Frauen,
einen Kompromiss einzugehen zwischen Schaulust und Wut über den Ausschluss
aus der Repräsentation: Die Möglichkeiten für Schwarze Zuseherinnen sind, entwe-
der wegzuschauen und Hollywoodbilder aus ihrem Schauhorizont auszuschließen
oder sich indigenen Bildern, dem Black Cinema, zuzuwenden, um nach der Re-
präsentation ihres Begehrens zu suchen.
Antworten auf die Frage nach der weiblichen Schaulust am Mainstreamkino
versucht – aus empirischer Perspektive – die amerikanische Soziologin Jacqueline
Bobo (1988) zu finden. In ihrer Studie zu Spielbergs The Color Purple geht Bobo
der Frage nach, warum der von der Filmkritik wegen seiner stereotypen Darstel-
lungsweise heftig kritisierte Film bei Schwarzen Zuseherinnen durchwegs positive
Rezeptionserlebnisse produzierte (Bobo 1988). Diesem Widerspruch – stereotype
Charakterisierung, positive Rezeption durch diejenigen, die stereotyp qua ethnischer
Zugehörigkeit charakterisiert werden – begegnet Bobo mit dem Encoding/decoding-
Modell der Cultural Studies. Der Kommunikationsprozess wird hier immer in dem je
spezifischen kulturellen Kontext verortet, in dem er passiert. Das Modell der „pre-
ferred/dominant“, „negotiated“ und „oppositional readings“ (Bobo 1988, S. 95)
ermöglicht die Konzeption eines Gegen-den-Strich-Lesens. Marginalisierte Gruppen
können der dominanten Ideologie eines Textes durch resistente Rezeption widerste-
hen, sie können aufgrund von kleinen Textmomenten, die aus der dominanten
Struktur herausfallen, Gegentexte „produzieren“. Bobos Studie gehört zu den ersten
empirischen Untersuchungen über Schwarze Zuseherinnenschaft im Rahmen der
Cultural Studies. Obwohl ihr Zugang in der Entwicklung kritischer Auseinanderset-
zungen mit dem Spectatorship-Modell beispielgebend ist, bleiben auch hier einige
blinde Flecken unreflektiert: Lola Young (1996) weist etwa darauf hin, dass sich
Bobo in den Ausführungen zu den Interviewergebnissen nicht in Relation zu den
Interviewpartnerinnen setzt, eine Unterlassung, die diverse Leerstellen der Studie
hervorbringt. Darüber hinaus bleibt die Kategorie der „Schwarzen Zuseherin“ weit-
gehend unproblematisiert.
Anfänge feministischer Filmtheorie und Filmwissenschaft 461
In ihrer Öffnung der Kategorie der Zuseherin in Hinblick auf die Möglichkeit
differenter, widersprüchlicher Rezeptionen gelingt es Bobo zwar einerseits, dem
psychoanalytischen Paradigma der textuellen Subjektkonstitution etwas entgegen-
zusetzen, sie muss dafür andererseits Vereinfachungen und Generalisierungen in
Kauf nehmen, die ihrerseits wiederum Schließungen produzieren, etwa indem sie
von einer möglichen Identifizierung einer „Schwarzen Zuseherinnenschaft“ ausgeht.
B. Ruby Rich ist eine jener Filmkritiker_innen und theoretiker_innen, die erstmals
den oppositionellen Blick aus der Perspektive lesbischer beziehungsweise queerer
Zuseher_innenschaft theoretisierte. Bereits im Jahr 1981 reagiert sie mit einem zum
Klassiker gewordenen Beitrag in der Zeitschrift Jump Cut gemeinsam mit Edith
Becker, Michelle Citron und Julia Lesage (Becker et al. 1981) auf die negative
Darstellung von Lesben im Mainstreamfilm und auf die Vernachlässigung lesbischer
Themen in der feministischen Filmkritik bzw. -theorie. Vor dem Hintergrund der sich
immer stärker formierenden amerikanischen Lesben- und Schwulen-Bewegung (gay
liberation movement) formulieren die Autor_innen eine umfassende Kritik und
postulieren, dass schon eine einfache Substitution von „Frau“ durch „Lesbe“ eine
radikale Redefinition feministischer Filmkritik bedeuten könnte (Becker et al. 1981,
1995). Diskurspolitisch unendlich wichtig als historisch früher Einspruch gegen das
psychoanalytische Paradigma, das so stark an der heterosexuellen Matrix orientiert
war, blieb die polemische Argumentation von Becker et al. (1981, 1995) einiges
schuldig, denn durch den Ersatz von „Lesbe“ für „Frau“ wird zwar der Horizont der
Auseinandersetzung erweitert, doch der Ausschlussmechanismus bleibt dem Grunde
nach bestehen. Die identitätspolitische Kritik von Auslassungen muss, um nachhal-
tig Veränderung zu bewirken, mehr einfordern als die Addition von den Ausgelas-
senen. Rich setzt sich über zehn Jahre später mit der Verhandlung von ethnischen
Differenzen in einem queeren Kontext auseinander:
„Race is a constructed presence of same-gender couples, one which allows a sorting out of
identities that can avoid both the essentialism of prescribed racial expectations and the
artificiality of entirely self-constructed paradigms. The possibility exists, then, for a kind of
negotiation of identities not found elsewhere, of what Kobena Mercer [. . .] has called an
‚element of reversibility‘“ (Rich 1993, S. 321).
ben, vermag nach Rich also mehr als die Thematisierung exkludierter Gruppen. Er
kann eine Möglichkeit sein, wichtige Perspektiven zur Beantwortung der Fragen
nach rassisierenden Differenzierungen zu fokussieren, ohne die fixierenden Dicho-
tomisierungen früherer Modelle nachvollziehen oder übernehmen zu müssen.4 Und
der oppositionelle Blick eröffnet neue Perspektiven auf Filme, deren Bedeutung
allzu oft in der Kritik festgeschrieben wird. Rich kann also als Vordenkerin der
Queer Theory ausgemacht werden, deren intersektionelle Auseinandersetzung mit
„race“ und „sex“ im Rahmen feministischer Filmtheorie den Anstoß für die Formu-
lierung filmtheoretischer queerer Theoriebildung gab.
Die politische Rekonzeptualisierung, welche Queer Theory vornimmt, entsteht
unter anderem aus der Kritik an den feministischen und lesbisch-schwulen Identi-
tätspolitiken der 1980er-Jahre. Diese politischen Bewegungen waren (und sind) vor
allem an der Erkämpfung politischer Rechte für sogenannte Minderheiten ausge-
richtet und funktionieren unter der Prämisse, Differenzen innerhalb der Gruppe, die
sich als marginalisiert definiert, zu verstellen. Queere Politikformen versuchen im
Gegensatz zu diesen identitätsaffirmativen Diskursen die Prozesse, die an der Her-
stellung der Identitäten beteiligt sind, aufzudecken und zur Schau zu stellen. Es geht
diesen Politikformen nicht länger darum, die Position eines kollektiven „Wir“ zu
entwickeln, von der aus gehandelt wird, sondern es geht darum, die Verfahren, die
ebendieses „Wir“ genauso wie das kollektive „Sie“ im Sinne von „die Anderen“
produzieren, sichtbar zu machen und zu kritisieren.
In welcher Weise hält nun aber diese theoretische Rekonzeptualisierung von
Geschlecht und Sexualität Einzug in die feministische Filmwissenschaft? Zunächst
gilt es festzuhalten, dass bereits 1992 die Filmkritik das label „queer“ bereitwillig
aufgenommen und mit ihm eine neue Art des Filmschaffens ausgerufen hat, das New
Queer Cinema. Ruby B. Rich benutzte dieses „wording“, um in der britischen
Filmzeitschrift Sight&Sound ein schnell wachsendes Filmkorpus, dessen gemeinsa-
mer Nenner weniger eine übergreifende Ästhetik, sondern ihre anti-anpassungs- und
anti-apologetische Haltung sei (Rich 1992), zu charakterisieren. Dieses Kino wäre,
so Rich, der Ausdruck junger Filmemacher_innen, die es ablehnen, „queere“ Iden-
titäten einem „straighten“ Publikum zu erklären, und die auch kein Interesse an der
Konstruktion von positiven Identifikationsfiguren für das „gay liberation move-
ment“ hätten. Ihre Filme sind sexuell explizit, versuchen sich an radikalen Interven-
tionen in der Matrix von Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung und richten
sich vorwiegend an ein „queeres“, im Sinne von „eingeweihtes“, Publikum.
Wie Rich 1992 voraussagte, entwickelten sich die 1990er-Jahre in cinemato-
graphischer Hinsicht wirklich als „Dekade der Queers“, in der es Hits wie Go Fish
(Rose Troche, Guinevere Turner, USA 1994), The Watermelon Woman (Cheryl
Dunye, USA 1995), The Living End (Gregg Araki, USA 1992) und Edward II
4
In meiner Auseinandersetzung mit dem Film When Night Is Falling (Patricia Rozema, CAN 1993)
komme ich zu einem ähnlichen Ergebnis. Die Dichotomisierung durch „racial difference“ in der
Lesbenbeziehung funktioniert als Dekonstruktion heteronormativer Romantikvorstellungen und
ermöglicht einen differenzierten Blick sowohl auf die Thematik von „ethnicity“ als auch Sexualität
(Braidt 1998).
Anfänge feministischer Filmtheorie und Filmwissenschaft 463
(Derek Jarman, GB 1991) aus dem Festival-Zirkus auf die größeren, wenn nicht
großen Leinwände schafften. Die definitive Absage an das „positive image“-Projekt
der Filme früheren Datums wird in einen postmodernen Stil umgesetzt, dessen
zentrale Elemente Pastiche und Ironie, Aneignung und Camp sind. Das diesen
Filmen zugrunde liegende Konzept steht ganz klar im Zusammenhang mit den
Projekten des queeren politischen Aktionismus, wie sie von Engel (2002) beschrie-
ben wurden. Neben dem Einsatz von „queer“ im Feld der Filmkritik zur Beschrei-
bung einer neuen Filmpraxis wurden Herangehensweisen der Queer Theory jedoch
auch für die Filmtheorie fruchtbar gemacht.
Die Ziele der Queer Theory sind gleichzeitig philosophischer, politischer und
erotischer Natur. Sie gipfeln im Projekt, diese Felder zu verbinden, denn Queer
Theory will die hegemonialen Systeme sexueller Unterdrückung und Normalisie-
rung nicht nur analysieren, sondern ihnen auch widerstehen, sie aufdecken oder
umschiffen, indem sie die theoretischen Vorannahmen entblößt, durch welche diese
Systeme ihre beachtliche Macht etablieren, rechtfertigen und behaupten. Macht
meint nicht einfach die physische oder gesetzgebende Kraft, sondern auch die
diskursiven Kräfte, die jeder Kreatur einen Namen ihrer Wahl aufdrücken, die
vorgeben zu wissen, was Geschlecht oder Lust sind oder was sie zu sein haben,
und die vorgeben, welche Rolle Sexualität in den gesellschaftlichen Beziehungen
spielen soll: in Bezug auf Identitätsformierung, Politik, Bildung, Kunst und Reli-
gion, um nur einige der umstrittenen Orte der Vergeschlechtlichung zu nennen. Das
Kino ist mit Sicherheit einer dieser umstrittenen Orte.
In einem Aufsatz zur Lage der feministischen Filmtheorie macht die deutsche
Filmtheoretikerin und Frauen und Film-Mitherausgeberin Heike Klippel (2002,
S. 180–183) zwei Strömungen aus: Zum einen geht es nach wie vor um die
Erweiterungen psychoanalytischer Ansätze, zum anderen ist aber auch eine dezi-
dierte Abkehr vom psychoanalytischen Paradigma zu beobachten. Erweitert werden
die psychoanalytischen Ansätze in Bezug auf die Thematisierung lesbischen Begeh-
rens, eine Erweiterung, die nach Klippel oft in Gegensatz zur „klassischen“ femi-
nistischen Filmtheorie steht, da diese das von der Psychoanalyse a priori gesetzte
Prinzip der Heterosexualität übernommen hat. Queer Studies und Queer Theory in
Anschluss an Judith Butler, aber auch soziologisch orientierte Ansätze der Cultural
Studies prägen hier die Forschungslandschaft. Eine Abkehr vom psychoanalytischen
Paradigma sieht Klippel (2002, S. 181) in den ethno-kritischen und dekonstruktiven
Arbeiten von bell hooks, Trinh T. Minh-ha, aber auch in den von Annette Brauer-
hoch oder Renate Lippert vorgelegten Beiträgen.
Klippels Beobachtungen sind um zwei wesentliche Aspekte zu erweitern. Der
erste Aspekt betrifft die Reformulierung des Blickparadigmas im Zusammenhang
mit der Auseinandersetzung mit den Neuen Medien und den Medienwissenschaften.
Der filmische Blick beziehungsweise der cinematische Apparat wird hier in den
464 A. Braidt
Zusammenhang mit bildender Kunst, Medienkunst, Video und TV gestellt, was eine
grundsätzliche Verschiebung der Perspektiven mit sich bringt. Obgleich die diszi-
plinenübergreifende Betrachtungsweise seitens der Film- und Medienwissenschaft
hin zur Kunstproduktion bzw. zur Kunsttheorie immer mehr Fuß fast – nur kurso-
risch sei an dieser Stelle auf die Arbeiten von Marie-Luise Angerer, Michaela Otto
oder Angela Koch hingewiesen –, steht eine systematische Reformulierung femi-
nistischer filmwissenschaftlicher Paradigmen aus Perspektiven der Praxis bildender
Kunst aus. Anders verhält es sich in der Gegenrichtung: Zahlreiche zeitgenössische
Künstler_innen aus den zeitbasierten Medien nehmen die Paradigmen klassischer,
psychoanalytischer Filmtheorie als thematischen Ausgangspunkt für ihre Arbeiten,
es sei an dieser Stelle beispielsweise auf das Werk von Constanze Ruhm oder Dorit
Margreiter verwiesen.
Der zweite Aspekt betrifft die Kritik psychoanalytischer Filmtheorien aus der
Perspektive kognitiver Wahrnehmungskonzeptionen. Kognitive Filmwissenschaften
beschreiben die Perzeption des filmischen Bildes in gänzlich anderen Kategorien als
in den psychoanalytischen Dimensionen von Voyeurismus und Sadismus. Hier wird
weniger die Lust am Bild – also das „warum“ – in den Mittelpunkt der Auseinan-
dersetzungen gestellt, als vielmehr die Frage nach dem Bildverstehen – also die
Frage nach dem „wie“. Die Entwicklung geschlechterfokussierter Ansätze in diesem
Bereich steht noch weitgehend aus.
Das Wahrnehmen von narrativen Filmen, so Braidt (2008), funktioniert – wie
jeder Wahrnehmungsprozess – über mentale Modelle. Zur Verarbeitung der audio-
visuellen Reize werden „Szenarien“, „Frames“, „Scripts“, „Situationsmodelle“ bzw.
„Schemata“ benötigt, die sich in einem aktiven kognitiven Prozess zu Sinneinheiten
organisieren lassen. Diese mentalen Modelle entwickeln wir aufgrund von Erfah-
rungen, Vorkenntnissen und Handlungsweisen. Dadurch unterscheiden sich die
Modelle der einzelnen Individuen voneinander, weisen jedoch auch Ähnlichkeiten
auf. Nach dem gemeinsamen Kinobesuch gibt es meist Schauerfahrungen, die man
mit anderen teilt, und solche, die man nicht teilt. Was das Sprechen über die
Differenzen der Filmrezeption erschwert, ist die Tatsache, dass wir die mentalen
Modelle nicht bewusst einsetzen, sondern dass es sich dabei um Automatismen
handelt.
Zwei der wesentlichsten mentalen Modelle, die die Wahrnehmung narrativer
Filme steuern, sind nach Braidt (2008) jene Schemata, die es uns ermöglichen,
Geschlecht und Genre wahrzunehmen. Die Wahrnehmung des Films wird funda-
mental davon beeinflusst, ob wir ihn als Western, als Horrorfilm oder als Dokumen-
tarfilm rezipieren. Ob wir das Handeln der Figuren plausibel finden, ob Handlungen
nachvollziehbar erscheinen und ob wir uns mit den Figuren identifizieren können
(also Empathie empfinden), hängt wesentlich davon ab, in welchem generischen
Umfeld wir die Figuren agieren sehen. Doch nicht nur die Generizität spielt eine
Rolle, sondern auch, über welche mentalen Modelle wir das Geschlecht der Figuren
– also Geschlechtszugehörigkeit, Geschlechterrollen, geschlechtliche Selbst- und
Fremdbilder – wahrnehmen.
Anfänge feministischer Filmtheorie und Filmwissenschaft 465
Die Wahrnehmungsschemata von Gender und Genre für den narrativen Film
hängen eng zusammen.5 Genremodelle werden mittels Gendermodellen „gelöst“ –
also wahrgenommen – und umgekehrt. Was etwa als „männlich-adäquates“ Verhal-
ten in einem Western als plausibel und nachvollziehbar wahrgenommen wird, wird
in einem Musical irritieren. Die Wahrnehmung von Gender funktioniert, so Braidts
(2008) These, über die Wahrnehmung des Filmgenres. Diesen Wahrnehmungszu-
sammenhang bezeichnet sie mit dem Terminus „Film-Genus“.
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5
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mehrfach als Beleg für den klassifikatorischen Zusammenhang beider Kategorien angeführt. Siehe
auch Steiner und Liebrand 2003.
466 A. Braidt
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Genealogie neuer
Kommunikationstechnologien und
Geschlecht. Zu den Anfängen des Internets
Johanna Dorer
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
2 Genealogie der frühen Netzentwicklung und dominante Mediendiskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
3 Feministische Diskurse und Praktiken zum frühen Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470
4 Forschung zum frühen Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473
5 Fazit: Zur aktuellen Entwicklung des Internets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478
Zusammenfassung
Neue Kommunikationstechnologien sind ebenso wie die früheren Medien nicht
außerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse zu denken. Das Internet in seiner
Verflechtung mit politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und medialen
Diskursen stellt einen umkämpften Raum dar, wo Macht und Geschlechterver-
hältnisse stets neu verhandelt werden. Der einst dominante Technikdiskurs, der
das Internet mit Technik und Männlichkeit verband, findet nach wie vor seine
Manifestation in gesellschaftlichen Organisationen, in Mainstream-Medien und
im geringen Frauenanteil bei Informatiker_innen. Doch schon in der Frühzeit des
Internets entstanden feministische Diskurse und Praktiken. Sie reichten von
cyberfeministischen Utopien und dekonstruktivistischen Ansätzen über ge-
schlechtergerechte Programmieransätze bis zu liberal-pädagogische Vorstellun-
gen, die die Netzentwicklung hin zum Web 2.0 begleiteten.
Schlüsselwörter
Neue Kommunikationstechnologien · Internet · Geschlecht · Gender ·
Technikmythos · Cyberfeminismus
J. Dorer (*)
Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: johanna.dorer@univie.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 467
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_25
468 J. Dorer
1 Einleitung
Die Anfänge des Internets sind im Kontext einer längeren Entwicklung von Rechen-
maschinen und Computertechnologien in den beiden vorigen Jahrhunderten zu
sehen. Der gesellschaftliche Diskurs ist bestimmt von einer Geschichte des „männ-
lichen“ Erfindergeists, einer Geschichte, die die neue Kommunikationstechnologie
mit einer männlich codierten Technik gleichsetzt. In „Vergessenheit“ geraten war
dabei lange Zeit, welch bedeutenden Anteil Frauen an der Entwicklung der neuen
Technologie hatten. Beispielsweise gilt heute Ada Augusta Byron, Gräfin von
Lovelace (1815–1852), als Pionierin der Computertechnologie. (Plant 1998,
S. 12–40) Die Programmiersprache COBAL wurde von Grace Murray Hopper
(1906–1992) in den 1950er-Jahren entwickelt, und es waren zahlreiche Mathemati-
kerinnen, die maßgeblichen Anteil an der Entwicklung weiterer Programmiercodes
hatten. Während des zweiten Weltkriegs war das Programmieren fast ausschließlich
Frauentätigkeit.1 Erst Ende der 1970er-Jahre, als sich die Informatik zu einem
wichtigen Wirtschaftszweig entwickelte, kam es zu einem raschen Zurückdrängen
der Frauen aus dem Arbeitsfeld und dem Informatikstudium an Universitäten. Der
geringe Frauenanteil in diesem Bereich hält nach wie vor an. (Hoffmann 1987;
Schinzel und Zimmer 1998; Krämer 2015; Chang 2018)
Im Zuge der Entwicklung des Internets war auch die Anwendung der neuen
Technologie nur einigen wenigen von Männern dominierten Bereichen, wie etwa
dem Militär, den Universitäten oder Computer-Subkulturen, vorbehalten. Noch im
Jahr 1995 waren in Europa nur sechs Prozent der Nutzer_innen weiblich, in den
USA gerade einmal doppelt so viel. (Dorer 1997, S. 20) Sehr rasch wurde mit dem
geringen Frauenanteil eine gesellschaftliche Zuschreibungspraxis und ein gesell-
schaftlicher Diskurs etabliert, der das Internet in eine seit langem wirkmächtige
Assoziationskette von Technik – Militär – Expertentum – Männlichkeit eingebunden
hat. Damit waren Frauen nicht nur aus der Produktions- und Anwendungspraxis des
Internets ausgeschlossen, sondern auch aus der öffentlichen Diskussion zum
Internet.
Die Genealogie des frühen Internets lässt sich in einem Drei-Stufen-Modell nach
Lovink und Schultz (1999, S. 299–310) nachzeichnen. Mit der Erweiterung des
Modells um die mediale Repräsentation von Geschlecht weist Dorer (2001a,
S. 45–47) nach, wie der Mainstreamdiskurs der Medien als ein entscheidender
Faktor verstanden werden muss, der den Bedeutungshorizont der symbolischen
1
Nicht nur wegen der Absenz von Männern, die sich im Krieg befanden. Hoffmann (1987)
dokumentiert, dass es in Deutschland bis 1933 mehr habilitierte Frauen in Mathematik gab als in
allen Geisteswissenschaften zusammen.
Genealogie neuer Kommunikationstechnologien und Geschlecht. Zu den . . . 469
2
Die Ausführungen dieses Kapitels beruhen auf der Studie von Dorer 2001a, wobei die von Lovink
und Schulz 1999 vorgenommenen Entwicklungsstufen übernommen wurden.
470 J. Dorer
das Beispiel WikiLeaks (Dorer 2011) und die Konstruktion von Männlichkeit in den
Mainstream-Medien zeigt.
Die dritte Phase (ab etwa 1996 bis 2004, dem Jahr der Facebook-Gründung) war
gekennzeichnet durch die Entwicklung des Internets hin zum Massenmedium. Die
Anzahl der Nutzer_innen stieg rasch an, Klickraten und Userstatistiken und die
Spuren, die Anwender_innen in unzähligen Logfiles hinterließen, wurden markt-
relevant verwertet. Die digitale Vernetzung beschleunigte Globalisierungs- und
Konzentrationsprozesse, veränderte Geld- und Aktienmärkte, die new economy
wurde zur wichtigsten Wachstumsbranche. Das Streben nach politischer Einfluss-
nahme äußerte sich – unter Bezugnahme auf das Thema Kinderpornografie – in der
Diskussion um Kontrolle, Reglementierung, Zensur versus Meinungs- und Medien-
freiheit. Der hegemoniale Kampf wurde nicht zuletzt auf dem Gebiet der Festlegung
von Standards ausgetragen. Denn jede Anwendergruppe hatte ihre eigenen Stan-
dards und Benutzungsregeln entwickelt und dem Netz eingeschrieben. Die ver-
meintliche Technikferne von Frauen war bald als Grund für deren geringen Anteil
im Netz identifiziert, und mittels politisch initiierter Frauenförderprogramme (wie
etwa „Frauen ans Netz“) sollte das „weibliche Defizit“ rasch behoben werden. Mit
dieser Maßnahme wurden aber auch all jene sozio-ökonomischen, temporären,
design- und jargon-spezifischen Bedingungen der geringeren Frauenbeteiligung im
Netz ausgeblendet und Frauen als zu fördernde „Computer-Analphabetinnen“
betrachtet.
Die Mainstream-Medien richteten sich mit zunehmender Kommerzialisierung
des Internets nicht mehr ausschließlich an männliche Anwender, sondern schlossen
nun Frauen mit ein. Die mediale Repräsentation des Internets führte dabei einerseits
zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung von Männlichkeitsbildern und anderer-
seits zur Einführung eines konservativen Frauenstereotyps. Der Rahmen für letzteres
wurde durch die Privatsphäre und die vermeintlichen „natürlichen, weiblichen“
Eigenschaften abgesteckt. Die Medien konstruierten mehrheitlich ein Weiblichkeits-
stereotyp, das die Frau auf Mutter, Köchin und Konsumentin reduzierte und weit
konservativer war als jenes in TV-Soaps. In der Berichterstattung dominierte das
Bild der Internet-Surferin, die an Kinderbetreuung, Kochrezepten und Versandhaus-
angeboten interessiert war. Nur sehr vereinzelt kamen in den Mainstream-Medien
neue Frauenrepräsentationen, wie etwa die wenig qualifizierte Tele(heim)arbeiterin
oder die Multimedia-Powerfrau vor, die dann als „Internetqueens“ gefeiert und als
Ausnahme von der Norm präsentiert wurden.
Doch abseits des vorherrschenden gesellschaftlichen und medialen Narrativs zum
Internet entwickelten sich oppositionelle, feministische Diskurse.
nistinnen waren mit der neuen Technologie nicht nur feministische techno-utopische
Visionen verbunden, sondern vor allem vielfältige Formen der Selbstermächtigung.
Das war auch das verbindende Moment der Cyberfeministinnen, obgleich die Vor-
stellungen, wie dies in Theorie und Praxis erfolgen sollte, sehr unterschiedlich
ausfielen. Der Cyberfeminismus versteht sich dabei als eine vielstimmige
und heterogene Theorie- und Kunstrichtung im Spannungsfeld von Technikkritik
und Aktivismus, der es um die Auflösung oder um die Dekonstruktion des
Geschlechterdualismus geht und sich gegen die männliche Hegemonie des Internets
richtet. Wesentlich war Cyberfeministinnen das emanzipatorische Potenzial neuer
Technologien, die sich Frauen in unterschiedlicher Weise subversiv und selbst-
ermächtigend anzueignen hätten. Erstmals Verwendung fand der Begriff Anfang
der 1990er-Jahre durch australische Künstlerinnen der VNS Matrix sowie durch
Sadie Plant. (Consalvo 2003; Paasonen 2005)
Allen voran haben die Schriften von Donna Haraway und Sadie Plant beginnend
in den 1980er-Jahren die Utopie eines herrschaftsfreien und geschlechtslosen Raums
im Cyberspace, eine damalige Bezeichnung für das Internet, beflügelt. (Drüeke
2020; Ernst 2020) Donna Haraway gilt mit ihrem „Manifesto für Cyborgs“ (1985)
als eine erste Vertreterin des de/konstruktivistischen, cyberfeministischen Ansatzes.
Die Cyborg – als hybride Denkfigur – ist als eine Verschmelzung von Mensch und
Computer konzipiert, die imstande ist, die vorherrschenden dualen Konzeptionen
von Männlichkeit und Weiblichkeit, Technik und Organismus, Natur und Kultur,
Subjekt und Objekt, Tier und Mensch zu unterlaufen, Grenzen aufzulösen und
verschwimmen zu lassen. Haraway beschränkt sich dabei aber nicht auf gesell-
schaftliche Geschlechterdiskurse, sondern bezieht weitere Differenzkriterien in
ihre Cyborg-Konzeption mit ein, wie etwa women of colour als marginalisierte
Identitäten, denen lustvoll subversive Transformationen möglich wären.
Anders, nämlich als weiblich codierten Raum, entwirft Sadie Plant (1998) das
Internet. Sie beschreibt ausführlich, wie in der Technikgeschichte gerade Frauen die
Erfinderinnen der neuen Technologie waren und die entscheidenden Ideen und Impulse
für die Entwicklung des Internets lieferten. Plant setzt die digitale Struktur des Netzes,
dessen Nichtlinearität, Vernetzungsmöglichkeit und Komplexität, in Verbindung mit
der langen Tradition des von Frauen praktizierten Spinnens und Webens. Somit
würden die neue Computertechnologie und der Cyberspace für Frauen eine quasi
natürliche Verbindung darstellen und einen Raum eröffnen, der emanzipatorisch zu
nutzen ist, um gesellschaftliche Machtverhältnisse zu verändern. Sadie Plants (1998)
Gegenkonzept zum „männlichen“ Techniknarrativ fand trotz der technikdeterministi-
schen Ausrichtung und ihres differenztheoretischen Ansatzes eine weite Verbreitung,
eröffnete es doch die Möglichkeit eines neuen technikaffinen feministischen Aktivis-
mus und beflügelte so die Utopie einer Umkehr der Geschlechterhierarchie.
Ein besonderes Interesse der feministischen Forschung galt der Frage nach der
Möglichkeit der Aufhebung der Geschlechterbinarität durch die neugedachte Bezie-
hung zwischen Körper und neuer Technologie. (Stone 1991; Bruckman 1993;
Angerer 1995, 1997, 1999; Turkle 1998) Die Möglichkeit eines anonymen Zugangs,
das Zurücktreten des Körpers im Cyberspace und die damit verbundene Beliebigkeit
der Selbstrepräsentation ließen Utopien von neuen Identitätskonstruktionen und
472 J. Dorer
vom Verschwinden einer geschlechtlichen Identität als zentrale Themen einer neuen
Technikdiskussion breiten Raum einnehmen. Chatrooms und MUDs (multi user
dungeons, das waren textbasierte Onlinespiele) waren dabei jene Räume des Inter-
nets, in denen neue Identitäten abseits von Klasse, Ethnie und Geschlecht erprobt
werden konnten. Gender swapping (Einloggen als ein anderes Geschlecht), auch
manchmal weniger zutreffend als virtuelles Cross-dressing bezeichnet, würde nach
Turkle (1998) ein für das reale Leben gefahr- und konsequenzloses Ausprobieren
einer anderen geschlechtlichen Subjektposition erlauben. Das Verlassen der eigenen
Geschlechterkultur in der virtuellen Realität würde potenziell neue Erfahrungshori-
zonte ermöglichen, und es ließen sich damit geschlechterdifferente Alltagspraxen als
Konstruktionen geschlechtlich geformter Denk-, Gefühls- und Handlungsdiskurse
erkennen. Mit dem Wechsel der Geschlechterposition könnten so gesellschaftliche
Zuschreibungspraxen im Spiel erfahren werden, sodass den User_innen in einer Art
Selbstreflexion die gesellschaftliche Konstruiertheit der eigenen Geschlechteriden-
tität bewusst werden könne. Diese Position wurde vor allem von Lisa Nakamura
(1995) und Susanna Paasonen (2002) nicht geteilt, vielmehr würden sexistische und
rassistische Tendenzen der gesellschaftlichen Praxis durch das Spiel mit Identitäten
noch verstärkt.
An der Überbrückung der Kluft zwischen Utopie und Realität – der ganz
konkreten Arbeit am Programm und am Design des Internets – waren in den
1990er-Jahren wenige Frauen beteiligt. Das emanzipatorische Potenzial der neuen
Technologie wurde aber beispielsweise ganz konkret von der Netzkünstlerin und
Netzaktivistin Rena Tangens ab Ende der 1980er-Jahre umgesetzt. Ihre Kritik
richtete sich gegen den Androzentrismus des Internets und die Vereinnahmung
durch männliche Akteure. Ausgangspunkt ihrer Kritik war die Überlegung, dass es
sich beim Internet um keine neutrale Technik handle, sondern Hierarchieverhältnisse
eingeschrieben wären (ein Ansatz, der später aus dekonstruktivistischer Sicht nicht
geteilt wurde). Ihre ganz praktische Antwort war die feministisch-subversive Selbst-
ermächtigung durch Computer-Hacking und geschlechtsneutrale Softwareentwick-
lung – also die Entwicklung von Programmen und Designanwendungen für das
Internet. (Tangens 1996; Hooffacker und Tangens 1997)
Im Sinne der Selbstermächtigung vertraten Feministinnen in der frühen Phase des
Internets die Vorstellung, Frauen müssten die neue Technologie für eigene Anliegen
nutzen und sich deshalb die verschiedenen Internetdienste und Kommunikations-
möglichkeiten im Netz aneignen. Dale Spender (1996) plädierte trotz Männerdomi-
nanz im Netz und der damit verbundenen Frauendiskriminierung (sexuelle Belästi-
gung im Netz, männlich codierte Softwareentwicklung, frauenfeindliche Netzregeln
etc.) dafür, Computerkompetenzen zu erwerben sowie Netzzugang und Netznutzung
aktiv zu betreiben, um schließlich auch die Gestaltung und Regeln des Netzes zu
verändern. Das Internet würde, so Dale Spender (1996, S. 21), Macht, Reichtum und
Vergnügen bedeuten und wäre prädestiniert für die Konstituierung und Vernetzung
einer „virtuellen Schwesternschaft“.
Gerade in der Vernetzung von Fraueninitiativen, insbesondere im internationalen
Bereich, wurde ein hohes Potenzial der Selbstermächtigung gesehen. Es ging darum,
lokale Frauengruppen, feministische Aktivistinnen und digitale Frauenarchive
national und international zu vernetzen und Erfahrungen untereinander auszutau-
Genealogie neuer Kommunikationstechnologien und Geschlecht. Zu den . . . 473
schen. In einem von der UNESCO finanzierten Projekt brachte die Australierin
Wendy Harcourt (1999) Aktivistinnen und feministische Forscherinnen aus
40 Ländern zusammen. Verhandelt wurden die utopischen Vorstellungen und Mög-
lichkeiten der neuen Technologie einerseits und die realen Bedingungen und aus-
grenzenden Barrieren andererseits. Den unbegrenzt erscheinenden Möglichkeiten
der Kommunikation, des Erfahrungsaustauschs, eines „safe space“ für Frauen stün-
den praktisch beschränkende Zugangsmöglichkeiten durch hohe Kosten der tech-
nischen Ausrüstung, fehlende Netz-Infrastruktur sowie geringe Technik- und An-
wendungskompetenzen vor allem im globalen Süden gegenüber. (Youngs 1999)
Konkrete Erfolge der globalen Vernetzung zeigten sich bereits früh in den vielen
lokal und global initiierten Vernetzungsinitiativen, wie etwa der 1990 gegründeten
Association for Progressive Communications (APC), oder in den elektronischen
Vorarbeiten zahlreicher feministischer Initiativen zur Vierten Weltfrauenkonferenz
in Peking. (Farwell et al. 1999; Mastrangelo-Gittler 1999)
Die feministischen Diskurse und Praktiken zum frühen Internet lassen sich laut
Waltraud Ernst (2020, S. 529–534) nach ihrer aktivistischen Ausrichtung differen-
zieren. Ernst unterscheidet einerseits den digitalen Feminismus als individuellen
Aktivismus, wie von Sadie Plant, Dale Spender oder Sherry Turkle vertreten, der
Individuen Möglichkeiten der Überwindung von Geschlechternormen im Internet
bietet, also individualisierte Handlungsräume zur Selbstermächtigung öffnet, und
andererseits den digitalen Feminismus als kollektive Aktionsform, die den Cyber-
space als Raum für kollektive Handlungsfähigkeit und kollektiven feministischen
Protest sieht, wie etwa von Donna Haraway oder Wendy Harcourt proklamiert. Zu
Letzterem gehören für Ernst (2020) auch die Vernetzung digitaler Frauenarchive
sowie die globalen Vernetzungsaktivitäten unter Einbeziehung feministischer Frau-
engruppen des globalen Südens und außerdem die Formierung massenhafter öffent-
licher Solidarisierung im Internet für feministische Anliegen, wie etwa heute die
Proteste gegen Femizide in Mexiko oder die #metoo-Proteste.
Der (cyber)feministische Diskurs der 1990er-Jahre war nicht nur getragen von
Inspiration und neuen utopischen Gesellschaftsentwürfen, sondern vermittelte auch
eine Aufbruchsstimmung, wie sie im Zuge des „Arabischen Frühlings“ zwanzig
Jahre später in den nordafrikanischen Ländern auflebte. (Dorer 2012) Obgleich den
„späten“ Akteur_innen wie u. a. Lina Ben Mhenni (2012), die maßgeblich mit ihrem
Internetaktivismus die Protestbewegung prägte, die anfänglichen utopischen Zu-
schreibungen und die späteren Ernüchterungen bezüglich des Internets bekannt
waren, beeinträchtige es die selbstermächtigende Stimmung und die Utopien für
eine neue Zukunft kaum. Sehr wohl ahnten sie aber, dass während ihrer Protest-
aktionen die Konterrevolution bereits begonnen hatte.
wie sexuelle Orientierung, race, Herkunft und Klasse kreuzt. Erst in der Zuschrei-
bung werden mehrdimensionale Hierarchien konstruiert. Dies geschieht bereits auf
der Ebene der Wissensproduktion – also wie Technologien erfunden und experimen-
tell erprobt werden, ferner auf der Ebene der industriellen Produktion, unter gege-
benen wirtschaftlichen und weltökonomischen Bedingungen (schlecht bezahlte
Mikroprozessoren-Arbeit durch Frauen in Südostasien oder gesundheitsschädlicher
Cobalt- und Coltan-Abbau durch Kinder und junge Männer in Afrika), drittens auf
der Ebene der Distribution, wie neue Technologien durch geeignete Werbe- und
PR-Strategien auf die Konsument_innen treffen, viertens auf der Ebene der Kon-
sumpraxis, worunter die private und berufliche Aneignung zu verstehen ist. Schluss-
endlich gibt es eine wenig beachtete fünfte Ebene der Elektroschrott-Entsorgung in
Ländern des globalen Südens, wo vorwiegend Kinder und junge Männer das gefähr-
liche Aussortieren verwertbarer Teile übernehmen, um zu überleben. Die Zuschrei-
bungs- und Alltagspraxen erfolgen also in einem sozio-politischen und sozio-
ökonomischen Rahmen, der sich angesichts der Globalisierung im Wesentlichen
an ökonomischen Imperativen orientiert. (Dorer 2001b, S. 243–244, 246–247)
In ihrem Gesamtkontext wurden diese Aspekte des frühen Internets kaum auf-
gegriffen. Überhaupt waren Studien aus der Geschlechterperspektive zu Zeiten des
frühen Internets die Ausnahme. Die erste umfangreiche Aufarbeitung angloame-
rikanischer Literatur zu Frauen und Internet von Dorer (1997) zeigte, dass neben den
Zugangsbedingungen und -barrieren auch Nutzungsarten und Onlineverhalten, kom-
munikative Stile in der Onlinekommunikation sowie Identitäts- und Genderkon-
struktionen im Internet empirisch untersucht wurden. Diese frühen Arbeiten sind
unter anderem mit den Namen Ellen Balka, Amy Bruckman, Valerie Frissen, Susan
Harring, Cheris Kramarae, Leslie Shade, Hoai-An Troung, Gladys We und natürlich
Sherry Turkle oder später mit Liesbet van Zoonen verbunden.
Thema wissenschaftlicher Diskussion war zuerst einmal die Frage, wie Frauen
und Frauenorganisationen einen gleichberechtigten Zugang zu neuen Technologien
erlangen könnten und wie die strukturellen Barrieren zu überwinden wären, die
durch Einkommen, Alter, Herkunft, race, Nationalität und Geschlecht bestimmt
waren. (Balka 1993; Troung 1993) Gründe für den erschwerten Zugang und den
geringen Frauenanteil im Netz waren damals in „westlichen Ländern“ die gesell-
schaftlichen und institutionellen Geschlechterdiskurse, weiters geschlechterstereo-
type Zuschreibungs- und Legitimierungspraxen sowie die Alltagspraxen des doing
gender. Konkret waren (und sind dies teilweise heute noch in Ländern des globalen
Südens) die Zugangsbarrieren für Frauen vor allem durch ökonomische, zeitliche
und soziale Faktoren sowie durch das entsprechendes Wissen bedingt: die hohen
Kosten für die Anschaffung und den Betrieb der Hardware,3 die Zeitknappheit durch
Doppelbelastung, die Unterrepräsentation in höheren beruflichen Positionen, die mit
einem Zugang zum Internet verbunden waren, das Fehlen von weiblichen Vorbildern
3
Noch 1998 waren die Postgebühren für Modems extrem hoch, und nur wenige teure Modem-
Modelle waren postgenehmigt.
Genealogie neuer Kommunikationstechnologien und Geschlecht. Zu den . . . 475
positive Auswirkungen des Internets zeigten sich in einer empirischen Umfrage von
Dittmann und Siegle (1998): Homosexuelle Personen wüssten die Offenheit im Netz
zu schätzen und würden sich besser als im realen Alltag verstanden fühlen. Ein
weiteres Forschungsgebiet betraf Computerspiele. Hier interessierte feministische
Forscherinnen vor allem, wie das männlich codierte Genre durch „starke Frauenfi-
guren“ – wie beispielsweise Lara Croft – verändert werden könnte. (Deuber-
Mankowsky 2001; Richard 2004) Die zunehmende Verbreitung des Internets regte
in weiterer Folge auch die Methodendiskussion an, bei der es um die Frage ging, wie
etwa eine gendersensitive Forschung zum Internet aussehen müsste. (Winker 2004)
Ferner entwickelten Carstensen und Winker (2012) ein Methodendesign, um die
Inhalte und die Nutzung des Internets aus intersektionaler Perspektive zu erforschen.
Mit der zunehmenden Kommerzialisierung des Internets und insbesondere mit der
vierten Phase der Entwicklung – der Etablierung des Web 2.0 und der sozialen
Medien – bestätigte sich das, was schon von der Entwicklung früherer Medien-
technologien wie Telefon, Radio, Fernsehen, Video bekannt war. Mit der Heraus-
bildung des Kommunikationsdispositivs, dessen vorläufigen Höhepunkt das Internet
darstellt, wurden die Anreizungs-, Wissens- und Kontrollmacht zu jenen Regulati-
ven, die mittels Normierung und Disziplinierung die neuen Kommunikationsfrei-
heiten, welche die neuen Kommunikationstechnologien boten und bieten, konterka-
rieren. (Dorer 1999) Obgleich es keinen Zweifel daran gibt, dass die neue
Technologie zur Vernetzung und Emanzipation der Frauenbewegung weltweit bei-
getragen hat, verweisen Sarikakis und Ganter (2012) auf eine neue Kultur der Angst
und eine neue Kultur der Kontrolle, auf die weder die EU-Medienpolitik noch die
Medienpolitik auf globaler Ebene bislang eine geschlechtergerechte Antwort gefun-
den hat. Die Datenverwaltung und -verwertung durch große Internetkonzerne, die
logarithmische Steuerung politischer und privater Medieninhalte und neuere Ent-
wicklungen des Maschinen-Lernens und der Künstlichen Intelligenz (KI) verstärken
gesellschaftliche Stereotypen verschiedenster Differenzkategorien, nicht nur von
gender, race and class. (z. B. Allhutter et al. 2020; Schmidt 2021)
Weiterhin sind aber auch jene Themen aktuell, die bereits mit dem frühen Internet
aufkamen. Mit den un/sozialen Medien entstand eine Vielfalt von Diskriminierungs-
formen hinsichtlich Geschlecht, race, Herkunft, sexueller Orientierung, Klasse oder
Religionszugehörigkeit, wie etwa Hatespeech oder die zahlreichen Formen von
sexueller Belästigung sowie weltweit agierende Plattformen mit pornografischen
Inhalten. Zudem spannen der enorme Druck auf Jugendliche durch die von Influen-
cer_innen lancierten extremen Schönheitsideale oder die von männlichen Jugend-
lichen im Netz verbreiteten teils lebensgefährlichen Kraftproben ein neues, altbe-
kanntes Geschlechterregime auf.
Andererseits haben sich regional und global ein neuer politischer Aktivismus und
neue Online-Ermächtigungsstrategien für feministische Anliegen etabliert, wie etwa
die erfolgreiche Metoo-Bewegung oder Protest-Kampagnen und Vernetzungen von
478 J. Dorer
feministischen und LGBTQ-Bewegungen, die zum Teil auch auf bedeutende Erfolge
verweisen können, letztendlich aber weitgehend ein Minderheitsdiskurs im Verhält-
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Feministische Linguistik – Sprachkritik im
Kontext der Neuen Frauenbewegung
Susanne Hochreiter
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484
2 Neue Frauenbewegung – neue Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484
3 Wiederentdeckte Vorkämpferinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486
4 „Alle Menschen werden Schwestern“: Frauensprache – Männersprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487
5 Sprache – Sprechen – Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488
6 Frauen_Stimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
7 Ausblick: Verändernde Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491
Zusammenfassung
Sprachkritik ist ein wichtiges Element feministischer Politik. Forderungen nach
sprachlicher Anerkennung und Sichtbarkeit, nach neuen Möglichkeiten sprach-
lichen Ausdrucks für Frauen sowie Strategien gegen Dominanzgesten und
Machtpraxen in der Kommunikation begleiten bereits die Anfänge der Neuen
Frauenbewegung. In diesem Beitrag geht es um zentrale Ideen und prägende
Forscherinnen der frühen Phase der Auseinandersetzung.
Schlüsselwörter
Feministische Linguistik · Feministische Sprachkritik · Frauensprache ·
Geschlechtergerechte Sprache · Generisches Maskulinum
S. Hochreiter (*)
Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: susanne.hochreiter@univie.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 483
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_83
484 S. Hochreiter
1 Einleitung
Sprachkritik gehört zu politischen Bewegungen dazu – das war und ist auch in der
Frauenbewegung der Fall. Das beinhaltet neue Begriffe, aber auch neue Sprech-
praxen. Unermüdlich argumentiert und wirbt Luise F. Pusch seit den 1970er-Jahren
genau dafür. Sie gilt gemeinsam mit Senta Trömel-Plötz als Gründerin der feminis-
tischen Linguistik im deutschsprachigen Raum. Gemeinsam mit Marlis Hellinger
und Ingrid Guentherodt haben sie linguistische Pionierinnenarbeit geleistet. Im
Wintersemester 1974/75 hielt Guentherodt an der Universität Trier erstmals ein
Hauptseminar zu „Rollenverhalten der Frau und Sprache“. (FrauenMediaTurm a
o. J.) Der Seminartitel macht deutlich, dass es den feministischen Linguistinnen um
mehrere Dimensionen der Sprache ging: einerseits um die Sprache selbst, um
Begriffe und Grammatik, aber auch um Fragen sprachlichen Verhaltens im Zusam-
menhang mit Geschlechterrollen.
Inspiriert waren die Wissenschaftlerinnen von der politischen Auseinanderset-
zung um Sichtbarkeit von Frauen sowie vom Kampf gegen Diskriminierung und
Sexismus. Eine wichtige Rolle spielten Slogans, die etwa auf Demos gerufen
wurden, aber auch viele neue Wörter, die seitens feministischer Aktivistinnen den
alten entgegengesetzt wurden. So führten beispielsweise die Macherinnen des
Frauenkalenders, der im Herbst 1974 erstmals erschien, 1975 das Pronomen „frau“
(statt „man“) ein. (Frauenmediaturm b o. J.) Wissenschaftlich hatten die Erkennt-
nisse amerikanischer Forscherinnen wie Robin Lakoff und Mary Ritchie Key großen
Einfluss auf die Linguistinnen im deutschsprachigen Raum. Bereits zu Beginn der
1970er-Jahre haben die Amerikanerinnen erste sprachwissenschaftliche Thesen zur
„Frauensprache“ formuliert. Senta Trömel-Plötz, die in den USA Linguistik studiert
hatte, brachte die neuen Theorien in die deutschsprachige Debatte ein. Trotz der
Unterschiede in der Grammatik ging es den Forscherinnen diesseits und jenseits des
Atlantiks wesentlich um sprachliche Sichtbarkeit von Frauen, darum, nicht negiert
zu werden oder nur „mitgemeint“ zu sein. Im Fokus standen bald das „generische
Maskulinum“ und die vermeintliche Neutralität von Sprache. Zudem ging es Ak-
tivistinnen wie Forscherinnen um Kritik an einem sexistischen und generell abwer-
tenden Sprachgebrauch gegenüber Frauen, der diese sexualisiert, verdinglicht und
verniedlicht (z. B. „Fräulein“ für Kellnerinnen). Frauen haben Sprache als Herr-
schaftsinstrument begriffen, als Instrument gesellschaftlichen Handelns, und daher
auch als wichtiges Medium für die eigenen Anliegen und Forderungen entwickelt.
Die Frauenbewegung als gemeinsamer Raum der politischen Reflexion und Orga-
nisation sowie der intellektuellen Entwicklung war und ist für sehr viele Frauen seit
den 1970er-Jahren wichtig – auch für die Schweizer Autorin Verena Stefan. Von
1972 an engagierte sie sich in der Gruppe Brot und Rosen. Im Kontext dieses
aktivistischen Engagements entstand ihr bis heute bekanntestes und ungemein
erfolgreiches Buch Häutungen (Stefan 1975). Es erschien 1975 im damals neu
Feministische Linguistik – Sprachkritik im Kontext der Neuen Frauenbewegung 485
„Sexismus war immer mehr als das, was in der nichtssagenden Geschmeidigkeit politischer
Rhetorik, ‚die Benachteiligung der Frau‘ heißt oder was Soziologen verharmlosend mit
‚traditioneller Rollenverteilung‘ bezeichnen. Sexismus war immer Ausbeutung, Verstümme-
lung, Vernichtung, Beherrschung, Verfolgung von Frauen.“ (Jannsen-Jurreit 1978, S. 702)
Jannsen-Jurreit formuliert hier zentrale feministische Positionen, die sich mit aller
Radikalität gegen die Normalität und die Normen einer Geschlechterordnung stem-
men, die Frauen über Jahrhunderte hinweg als das Andere des Mannes und als
486 S. Hochreiter
3 Wiederentdeckte Vorkämpferinnen
Weniger neu war der Begriff „Feminismus“ selbst und davon abgeleitet das Adjektiv
„feministisch“. Französisch „féminisme“ ist seit der ersten Hälfte des 19. Jh. belegt,
englisch „feminism“ seit den 1870ern (Drosdowski 1989, S. 182). Historische
Belege zeigen, dass der Begriff im Deutschen bereits Ende des 19. Jh. im Kontext
der ersten Frauenbewegung verwendet wurde. Hier beispielsweise in einer (übrigens
antifeministischen und nationalistischen) Schrift von Karl Walcker Die Frauenbe-
wegung. Kritische Betrachtungen, erschienen in Straßburg 1896: „Tüchtige Männer
und Frauen bekämpfen den Feminismus (um diesen im Französischen und Deut-
schen mehr und mehr üblich werdenden Ausdruck zu gebrauchen).“ (Walcker 1896,
S. 5) Auch der Begriff Antifeminismus ist bereits früh etabliert – jedenfalls seit
Hedwig Dohms Buch Die Antifeministen, die mit dieser Essaysammlung den Begriff
prägte. Grete Meisel-Heß schreibt 1904 in ihrer Antwort auf Otto Weiningers Buch
Geschlecht und Charakter:
„Ich hörte vor kurzer Zeit jemanden dies Thema, sowie alles, was mit Feminismus im
Zusammenhang steht, als »ausgesungen« bezeichnen. Ausgesungen – abgedroschen. Was
wäre darüber noch zu sagen? Diese Ansicht muß umso verblüffender erscheinen, als zur Zeit
häufiger denn je dickleibige Werke herauskommen, die ihr Thema, nämlich den Antifemi-
nismus [. . .] behandeln [. . .].“ (Meisel-Heß 1904, S. III)
Viele der Pionierinnen und Autorinnen der älteren Frauenbewegung und deren
Schriften werden jedoch erst von den Feministinnen der 1970er-Jahre neu entdeckt:
Faschismus und Nationalsozialismus haben Vereine, Zeitschriften, Verlage und
andere Institutionen der Frauenbewegung wie auch der lesbischen und schwulen
Subkultur zerstört. Die Feministinnen der neuen Frauenbewegung haben durch ihre
unermüdliche und akribische Recherche zahlreiche Texte gerettet, Schriftstellerin-
nen, Künstlerinnen, Wissenschaftlerinnen und ihre Werke wiederentdeckt und den
Brückenschlag zu den Vorkämpferinnen hergestellt. Auch diesen war Sprache wich-
tig gewesen: Das zeigt sich nicht nur darin, dass viele Frauenrechtlerinnen in
unterschiedlicher Weise publizierten, sondern auch welcher Mittel sie sich bedien-
Feministische Linguistik – Sprachkritik im Kontext der Neuen Frauenbewegung 487
ten. Hedwig Dohm wurde schon genannt, aber auch Rosa Mayreder oder Helene
Stöcker u. a. sind als Literatinnen hervorgetreten, die mit spitzer Feder, mit Ironie
und Satire die Forderungen der Frauenbewegung vertraten.
„Dohm greift die Argumente und Denkfiguren, auch die sprachlichen Wendungen der
Gegner_innen jeder Frauenemanzipation auf und treibt deren Denken sozusagen auf die
Spitze, um zu zeigen, was es damit auf sich hat. Das Denken der Antifeministen zur
Kenntlichkeit entstellen, das ist ihre Strategie – eine viel genutzte Strategie scharfer politi-
scher Satire.“ (Maurer 2018)
Eine Strategie, derer sich auch die Feministinnen jüngerer Generationen bedie-
nen. Satire und Ironie spielen in der öffentlichkeitswirksamen Arbeit von Luise
F. Pusch eine große Rolle, die in zahlreichen Glossen und Essays feministische
Sprachkritik medial einer breiten Leser*innenschaft zu vermitteln suchte.
„Frauensprache bedeutet: Frauen reden mit Selbstvertrauen und Sicherheit, mit Autorität,
mit Gefühl, mit Zärtlichkeit, entwickeln ihre eigenen Stile, literarische, alltagssprachliche,
professionelle, poetische, werden hörbar, hören sich gegenseitig und werden gehört. Frauen-
sprache heißt Veränderung.“ (Trömel-Plötz 1982, S. 76)
1
Die Courage war eine feministische Zeitschrift, die von 1976 bis 1984 in West-Berlin erschien.
488 S. Hochreiter
auch im Rundfunk. Unter dem Titel Das Deutsche als Männersprache veröffent-
lichte sie eine Auswahl dieser scharfsinnig-witzigen Kommentare zum Gegenwarts-
deutsch in Theorie und Praxis zusammen mit linguistischen Aufsätzen zum Thema,
die ebenfalls mit Ironie punkten und eine breite Öffentlichkeit erreichen. Der Begriff
„Männersprache“ markiert dabei eine vermeintlich neutrale Sprachnorm und dis-
kutiert von dieser Setzung aus, was mit einer solchen Sprache einhergeht, aber auch,
welche Alternativen es gibt. Der Band wird mit einem Aufsatz mit dem Titel „Von
Menschen und Frauen“ eröffnet. In diesem Text erörtert Pusch – ausgehend von der
Aussage des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl „Wer ja zur Familie sagt,
muss auch ja zur Frau sagen“ (Pusch 1984, S. 15) – die Frage, ob Frauen als
Menschen (mit)gemeint sind, und begründet, warum das generische Maskulinum
Frauen ausschließt. Es ist ein Beitrag unter vielen, mit denen Pusch auf satirisch-
ironische Weise und anhand zahlreicher Beispiele zu verdeutlichen sucht, dass und
auf welche Weise gängiger Sprachgebrauch Frauen diskriminiert. Die Forderungen
auf den Punkt gebracht: „Frauen wollen sprachlich gewürdigt werden und sprach-
lich sichtbar sein.“ (Pusch 2008, S. 40)
Es geht aber sowohl den Aktivistinnen als auch den Wissenschaftlerinnen um
mehr: Sprachliche Auslassung und Negierung wird mit Gewalt in Verbindung
gebracht: einerseits, indem sprachliche Unsichtbarmachung als Gewalt verstanden
wird, andererseits, weil sprachliche Gewalt mit anderen Formen von Gewalt, die in
der patriarchalen Gesellschaft Frauen gegenüber stattfinden, verbunden ist.
„Die Folge der männlichen Allergie gegen das Femininum ist dessen nahezu vollständige
Verdrängung aus der Sprache, mit anderen Worten: die sprachliche Vernichtung der Frau,
denn ihre genuine sprachliche Existenzform ist das Femininum.“ (Pusch 1984, S. 11)
Ein zentraler Strang der Debatte verhandelt die Frage der Gewalt, die sich sprach-
lich nicht nur ausdrücke, sondern auch Gewalt erzeuge. Abwertendes Sprechen,
sprachliche Ausblendung und männliche Definitionsmacht: All dies zeitigt aus Sicht
der feministischen Linguistinnen Konsequenzen in Hinblick auf Wahrnehmungen,
Bewertungen und schließlich Handlungen.
Senta Trömel-Plötz hat nach ihrem Buch Frauensprache – Sprache der Veränderung
(1982), das starke Resonanz erfahren hat, 1984 einen weiteren Sammelband ver-
öffentlicht, der dem Thema Gewalt durch Sprache gewidmet ist. Es geht um nicht
weniger als – wie es im Untertitel heißt – „Die Vergewaltigung von Frauen in
Gesprächen“. Trömel-Plötz schreibt:
„Mit Hilfe von sprachlichen Äußerungen, durch Sprechen, wird hier anderen Gewalt
angetan, denn wir handeln, indem wir sprechen. [. . .] Mit Hilfe unserer Sprache erfassen
wir die Welt, und mit Hilfe von Sprache konstruieren wir unsere Wirklichkeit.“ (Trömel-
Plötz 1984, S. 50 und 51)
Feministische Linguistik – Sprachkritik im Kontext der Neuen Frauenbewegung 489
Die Ausgangsthese ist einerseits, dass Sprache Welt und Wirklichkeit schafft, und
andererseits, dass „Geschlecht zählt“: Mehr als alle anderen Eigenschaften einer
Person – sei es Herkunft, Alter oder Status – entscheide Geschlecht darüber, wie wir
handeln bzw. behandelt werden. Dies gelte auch für das Gesprächsverhalten: „Nicht-
verbale und verbale männliche Machtausübung sind möglich, weil potenziell phy-
sische Gewalttätigkeit herangezogen werden kann, sollten wir uns der verbalen
Machtausübung erwehren.“ (Trömel-Plötz 1984, S. 15)
Es entstanden zahlreiche Studien, die männliches und weibliches Sprechen und
Kommunizieren im weitesten Sinne untersuchen (u. a. Lakoff 1975; Key 1975;
Trömel-Plötz 1982). Die Ergebnisse legen deutliche Unterschiede auf allen Ebenen
der Sprache nahe: Der Wortschatz von Frauen sei geprägt von ihren spezifischen
Tätigkeits- und Lebensbereichen (Haushalt, Kinder, Mode), sie sprechen „verniedli-
chend“, um freundlich zu erscheinen, und bedienen sich häufiger einer Frageinto-
nation in Aussagesätzen. Generell zeige sich in „Frauensprache“ ein „unbestimmt-
indirekter und unsicherer Sprechstil“ (Samel 2000, S. 34). Zugleich seien Frauen
höflicher als Männer und sowohl in Aussprache als auch in Syntax besser und
korrekter als diese. Diese Ergebnisse der „erste[n] Dekade feministisch-linguistischer
Forschung“ (Samel 2000, S. 38) waren den Forscherinnen Beweis für die Machtlosig-
keit von Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft.
Historisch sind es zuerst Forschungen zur Organisation von Redebeitragswech-
seln, die einen „theoretischen Ausgangspunkt für die feministische Gesprächsana-
lyse bilden“ (Samel 2000, S. 149). 1974 erschien der Aufsatz von Harvey Sacks,
Emanuel A. Schegloff und Gail Jefferson, in dem die Autor*innen die Mecha-
nismen des Wechsel von Redebeiträgen beschreiben. Ausgehend von dieser Studie
konnten feministische Wissenschaftlerinnen verschiedene geschlechtsbezogene
Formen des Gesprächsverhaltens analysieren. Ausgangspunkt dieser Arbeiten ist
die Annahme, dass einerseits Männer in Gesprächen dominieren, dass sie also auf
verschiedenen Ebenen des Gesprächs Privilegien und Macht innehaben, und dass
andererseits Frauen benachteiligt und diskriminiert werden. Samel spricht von
einem „Dominanz-Unterdrückungs-Konzept“, das lange Zeit forschungsleitend
gewesen sei. (Samel 2000, S. 153) Es basiert auf der These, dass sich Macht-
strukturen auch im Gesprächsverhalten zeigen. Untersucht wird, wer wen wie oft
unterbricht, wer welche Konventionen (Höflichkeit, Stil) bricht oder inhaltlich
dominiert. Senta Trömel-Plötz zählt folgende Gesprächsphänomene als Beispiele
männlichen Dominanzverhaltens auf: Männer ergreifen öfter das Wort und spre-
chen länger als Frauen, sie unterbrechen Frauen systematisch, sie bestimmen das
Gesprächsthema, sind aber weniger an der Entwicklung des Themas beteiligt
(Gesprächsarbeit leisten eher Frauen). (Trömel-Plötz 1984, S. 58–61). Sie resü-
miert die Position von Männern in gemischtgeschlechtlichen Gesprächen: „Männer
zählen mehr, sind wichtiger, sind besser, sind mehr wert als Frauen.“ (Trömel-Plötz
1984, S. 63)
490 S. Hochreiter
6 Frauen_Stimmen
Die Gewalt im Gespräch findet auf mehreren Ebenen statt und hat verschiedene
Facetten. Im Kern sind es jedoch zwei Elemente, die nach dieser Auffassung
zuungunsten von Frauen wirksam werden: eine grundsätzliche Abwertung von
Frauen sowie von Weiblichkeit einerseits und damit verbunden das Nachwirken
historischer Redeverbote2 andererseits. Birgit Kienzle verdeutlicht in einem Artikel
1989 diesen Zusammenhang, wenn sie u. a. auf biblische Redeverbote bei Paulus
hinweist: „Das Weib schweige in der Gemeinde“ oder „Zu lehren gestatte ich der
Frau nicht“ – diese Sätze – heute z. T. anders gedeutet (Braun 2019) – dienten als
Rechtfertigung der Unterdrückung von Frauen.
„Die wenigen Frauen, die heute öffentlich reden, im Bundestag, im Fernsehen in Diskussi-
onsrunden, auf Konferenzen und Tagungen, erleben dieses noch immer wirksame Rede-
verbot, erfahren, daß sie noch immer nicht reden dürfen wie Männer, daß sie knapp, schnell,
präzise zur Sache reden müssen, daß sie sich sprachlich nicht so breit auslassen und
darstellen dürfen wie ihre männlichen Vor- und Nachredner oder Diskussionspartner.“
(Kienzle 1989, S. 52)
Eingedenk des Skandals, den die SPD-Politikerin Lenelotte von Bothmer 1970
auslöste, als sie in einem Hosenanzug ans Redepult des deutschen Bundestags trat,
wird deutlich, wie prekär öffentliches Sprechen von Frauen damals – also vor erst
50 Jahren – war. Vorausgegangen war diesem bewusst gesetzten Akt ein Kommentar
des damaligen Vizepräsidenten des Bundestags, Richard Jaeger von der CSU, dass
er keiner Frau erlauben würde, das Plenum in Hosen zu betreten oder gar in solcher
Kleidung zu sprechen. (Tatarinov 2018) Nicht nur Redeordnungen, sondern auch
Kleiderordnungen waren zu dieser Zeit sehr strikt. Von Bothmer setzte ein Zeichen
in einer feministischen Tradition, die nicht um Erlaubnis fragt, sondern sich Rechte
und Räume erkämpft. 51 Jahre vor ihr sprach Marie Juchacz (SPD) als erste Frau
überhaupt im Bundestag. In Österreich war es die Sozialistin und Pionierin der
Frauenbewegung, Adelheid Popp, die 1919 als erste Frau eine Rede im Nationalrat
hielt. Nach 1848 wirkten erst 1971 in der 39. Legislaturperiode des Schweizerischen
Parlaments Frauen wieder im National- und Ständerat mit.
Für die feministische Position war früh klar: Die Analyse muss zu einer veränderten
Praxis führen. So manifestierte sich die Kritik an einer Sprache, die Frauen unter-
drückt, in konkreten sprachpolitischen Maßnahmen: in Empfehlungen, Richtlinien
und Leitfäden für einen nicht-sexistischen und geschlechtergerechten Sprach-
gebrauch. Aber auch Schulbuch- und Wörterbuchkritik sind Bestandteil sprach-
2
Eine wesentliche Rolle spielt, dass Frauen in vielen Teilen der Welt über lange Zeit keine
anerkannten Rechtssubjekte waren. Vgl.: Holzleithner 2002.
Feministische Linguistik – Sprachkritik im Kontext der Neuen Frauenbewegung 491
kritischer und -politischer feministischer Arbeit. Ingrid Samel nennt die Maßnahmen
sprachpolitisch insofern, als „nicht ausschließlich linguistisch begründbare Empfeh-
lungen der Sprachveränderung geäußert werden beziehungsweise Änderungswün-
sche auch von linguistischen Laiinnen aus sozialen Beweggründen (etwa die Ver-
besserung der Situation der Frau) vorgebracht werden“ (Samel 2000, S. 127). 1980
formulierten Ingrid Guentherodt, Senta Trömel-Plötz, Luise Pusch und Marlies
Hellinger die ersten deutschen „Richtlinien zur Vermeidung sexistischen Sprach-
gebrauchs“ (Trömel-Plötz et al. 1980). Zahlreiche weitere folgten.
Wie erfolgreich feministische Sprachwissenschaft und -politik waren, zeigt sich
nicht nur daran, dass diese Richtlinien in vielen Institutionen umgesetzt wurden,
sondern auch daran, wie sehr Praxen und Fragen sprachlicher Sichtbarmachung bis
heute präsent sind.
Literatur
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FrauenMediaTurm b. o.J. Feministisches Archiv und Bibliothek (FMT). Frauen als Gründerinnen:
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492 S. Hochreiter
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Teil V
Medien im Kontext von Politik und Ökonomie
Öffentlichkeit herausfordern?
Feministische Perspektiven auf
Öffentlichkeit
Regina Köpl
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496
2 Bürgerliche Öffentlichkeit als Idealtypus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496
3 Feministische Kritik an klassischen Öffentlichkeitskonzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497
4 Öffentlichkeit neu denken – Konzepte einer feministischen Theorie von
Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500
5 Neue Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502
6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505
Zusammenfassung
Seit den 1970er-Jahren haben feministische Theoretikerinnen die Geschlechter-
ignoranz klassischer Öffentlichkeitstheorien kritisiert. Zentraler Bezugspunkt der
Kritik war die Engführung klassischer Öffentlichkeitstheorien auf politische
Kommunikation sowie die Dichotomisierung von öffentlicher und privater Sphä-
re und die Einschreibung von Frauen in das Private. Eine feministische Perspek-
tive richtet sich daher auf die Kritik an der sozialwissenschaftlichen Schlüssel-
kategorie Öffentlichkeit (in einem normativen oder praxologischen Verständnis),
auf die Entwicklung feministischer Öffentlichkeitsmodelle sowie auf neue
Herausforderungen durch die Globalisierung und das Internet.
Schlüsselwörter
Öffentlichkeit · Privatheit · Feministische Öffentlichkeitstheorien ·
Frauenöffentlichkeiten · Feministische Öffentlichkeiten · Feministische
Öffentlichkeitsmodelle
R. Köpl (*)
Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: regina.koepl@univie.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 495
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_4
496 R. Köpl
1 Einleitung
Seit mehr als 50 Jahren hat der Begriff Öffentlichkeit in den Sozialwissenschaften
Dauerkonjunktur. 1962 ist Jürgen Habermas Habilitationsschrift „Strukturwandel
der Öffentlichkeit“ erschienen. In der Folge wurde um eine Diskursethik gerungen
(u. a. Habermas 1992), Gegenöffentlichkeiten beschworen (u. a. Negt und Kluge
1972) und spätestens mit der Durchsetzung des Web 2.0 ein neuer Strukturwandel
von Öffentlichkeit ausgerufen (u. a. Imhof 2011). Es gibt keine verbindliche Defi-
nition von Öffentlichkeit. Öffentlichkeit kann als virtueller Raum gedacht werden
(u. a. Drüeke 2017), als diskursive Selbstverständigungsorganisation der Gesell-
schaft (u. a. Habermas 1983) oder als Interaktionszusammenhang, „der die Alltags-
welt der Bürgerschaft mit der Welt politischer Entscheidungen verknüpft“ (Rucht
2010, S. 9). Vorstellungen über Öffentlichkeit sind konstitutiv für jede Demokratie-
theorie. Je nach Demokratieverständnis werden unterschiedliche Funktionen von
Öffentlichkeit hervorgehoben (Marx Ferree et al. 2002). Der Begriff der Öffentlich-
keit kann als Kampfbegriff gesehen werden, mit dem sich die Forderung nach
politischer Teilhabe verbindet, oder als zentrale demokratiepolitische Norm, die es
zu verteidigen gilt. Vor allem aber ist er „doppelsinnig: Er kann sowohl einen
empirisch erkennbaren Sachverhalt als auch eine Idee vorstellen . . .“ (Hohendahl
2000, S. 3).
Aufgrund ihrer Verschränkung mit gesellschaftlichen Geschlechterordnungen hat
die feministische Auseinandersetzung mit den sozialwissenschaftlichen Schlüssel-
kategorien Öffentlichkeit und Privatheit eine lange Tradition. FeministInnen kri-
tisierten u. a. die Geschlechterignoranz liberaler Öffentlichkeits- und Demokra-
tietheorien und stellten die Engführung klassischer Öffentlichkeitstheorien auf
politische Kommunikation (Parlamente und Medien) sowie die Dichotomisierung
von Öffentlichkeit und Privatheit in Frage. Mit dem Slogan Das Private ist politisch
hat die Neue Frauenbewegung seit den 1970er-Jahren darauf aufmerksam gemacht,
dass Öffentlichkeit immer mit Privatheit zusammengedacht werden muss. Es gilt,
sowohl die Bedeutung der Begriffe selbst als auch ihr Verhältnis zueinander den
jeweiligen gesellschaftlichen Machtverhältnissen entsprechend neu zu bestimmen.
Als Sphäre zwischen Staat und Gesellschaft entstand moderne bürgerliche Öffent-
lichkeit im ausgehenden 18. Jahrhundert. Als Folge der Emanzipationsbestrebungen
des neu entstandenen Bürgertums grenzte sich ein zunächst in Kaffeehäusern oder
Salons räsonierendes Publikum, gedacht als Versammlung von Privatleuten, sowohl
gegen die absolutistische Obrigkeit wie auch gegen die Masse des Volkes ab
(u. a. Fraser 1990). Im Laufe des 19. Jahrhunderts führte das Entstehen von
Massenpresse und neuen Formen der politischen Organisation – z. B. (Massen-)
Parteien – zu einer Ausweitung der öffentlichen Sphäre, die nun ein breites Mas-
senpublikum umfasste. Zu den zentralen Funktionen von Öffentlichkeit zählen
gesellschaftliche Selbstverständigung durch (rationale) Aushandlungsprozesse,
Öffentlichkeit herausfordern? Feministische Perspektiven auf Öffentlichkeit 497
Feministinnen betrachten die starre Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit und
die Zuweisung von Frauen als Genusgruppe in die private Sphäre als zentralen
Bezugspunkt bürgerlich patriarchaler Geschlechterverhältnisse. „The dichotomy
between the privat and the public is ... what the feminist movement is about“
(Pateman 1983, S. 281). Durch die Abwertung des Privaten als vorpolitisch blei-
ben Machtasymmetrien in privaten und intimen Beziehungen ausgeblendet. Ge-
schlechtsspezifische Formen von Diskriminierung werden unsichtbar und gesell-
schaftliche Ungleichheiten (re)produziert (u. a. Young 1987; Hausen 1976). Fraser
verweist auf die Funktion solcher Klassifikationen in hierarchisch strukturierten
Gesellschaften: „In political discourse, they are powerful terms that are frequently
deployed to delegitimate some interests, views, and topics and to valorize others“
(Fraser 1990, S. 73).
Ausgehend von den privaten Erfahrungen von Frauen forderten Feministinnen
Selbstbestimmung über den eigenen Körper, deckten die vielfältigen Formen sexua-
lisierter Gewalt auf und problematisierten die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung.
Denn, „Hausarbeit, Familiengefüge, die Frage, wer die alte Mutter pflegt, sind
gesellschaftliche Fragen – und kein privates Detail“ (Villa 2009, S. 118). Der
bekannte Slogan „Das Private ist politisch“ stand auch für eine Strategie der
Feminisierung der als formalisiert wahrgenommenen bürgerlich patriarchalen
Öffentlichkeit durch Tugenden, die traditionell Frauen zugeschrieben werden,
wie Empathie, Fürsorge oder persönliche „Bindung an Stelle sachbezogener
498 R. Köpl
3.2 Exklusionen
1
„Die Norm besitzt keinen unabhängigen ontologischen Stellenwert, und dennoch kann sie nicht
auf ihre Erscheinungen reduziert werden. Sie wird durch ihre Verkörperung (re)produziert, durch
die Handlungen, die sich ihr anzunähern suchen, durch die Idealisierungen, die in und durch solche
Handlungen reproduziert werden“ (Butler 2009, S. 85).
500 R. Köpl
Mit dem Slogan Das Private ist politisch wurde auf die „Allgegenwart des Politi-
schen“ (Greven 1994, S. 291) hingewiesen und ein Politikbegriff eingefordert, der
nicht auf (nationalstaatliches) Entscheidungshandeln verkürzt ist. Das Politische ist
nicht auf die eigens dafür eingerichteten Institutionen und reglementierten Verfahren
beschränkt, z. B. Parlamente, Regierungen, Verwaltung, Parteien, Verbände etc.,
sondern umfasst „any persistant pattern of human relationships that involves, to a
significant extent, power, rule, or authority.“ (Dahl 1963, S. 6). Politische Aushand-
lungsprozesse können den innerfamiliären Umgang mit Hausarbeit ebenso betreffen
wie Vereinbarungen im Freundeskreis. Selbstverständigung kommt immer dann ins
Spiel, wenn traditionelle Bedeutungszuschreibungen, Werte oder Regelungen brü-
chig geworden sind. Ein aus seiner nationalstaatlichen Umklammerung befreiter
Politikbegriff verweist auf vielfältige, auch unorthodoxe Formen und Arenen poli-
tischen Handelns sowie auf die Notwendigkeit der Neuvermessung von Öffentlich-
keit und Privatheit (Köpl 2008). So sind die zunehmende Verschmelzung von Politik
und Unterhaltung in den Medien (Politainment), aber auch Protestformen wie die
Regenbogenparade nicht a priori unpolitisch, sondern können zur Thematisierung
bisher marginalisierter Anliegen und zur Erlangung von Deutungshoheit in gesell-
schaftlichen Verständigungsprozessen beitragen.
Von einer Vielzahl von Öffentlichkeiten geht auch das Drei-Ebenen-Modell von
Elisabeth Klaus aus (zuletzt Klaus 2017). Für Klaus liegt die zentrale Funktion von
Öffentlichkeit auf gesellschaftlichen Verständigungsprozessen, die auf drei unter-
schiedlichen – analytisch trennbaren – Ebenen stattfinden. Die einzelnen Ebenen
unterscheiden sich in ihrem Organisationsgrad, in Hinblick auf unterschiedliche
Kommunikationsformen und -praxen sowie in ihrem Grad an Professionalisierung.
Die erste Ebene sind Alltagsöffentlichkeiten, also persönliche Begegnungen von
BürgerInnen, sei es im Stiegenhaus oder auf der Parkbank neben dem Kinderspiel-
platz. Ohne klare Rollenverteilung kann es dabei zu einem gleichberechtigen Aus-
tausch von Meinungen und Erfahrungen kommen. Gegenöffentlichkeiten, wo Inte-
ressen artikuliert und zu Forderungen gebündelt werden, sind auf einer mittleren
Ebene angesiedelt. Sie kennzeichnet eine erste Ausdifferenzierung in Spreche-
rInnen- und ZuhörerInnenrollen; es kann sich dabei u. a. um Vereine, Verbände oder
Protestbewegungen handeln. An der Spitze der Pyramide steht die komplexe Öffent-
lichkeit, bestehend aus dem institutionellem Entscheidungssystem (Regierungen,
Parlamenten etc.) und den etablierten Massenmedien. Hochgradige Professionali-
sierung, eine unumkehrbare Rollenverteilung zwischen SprecherInnen und Pu-
blikum sowie top-down-Kommunikation charakterisieren komplexe Öffentlichkeiten.
Die drei Ebenen sind nicht starr voneinander abgegrenzt, sondern durchlässig und
miteinander verschränkt.
5 Neue Herausforderungen
5.1 Transnationalisierung
und transnationalen Öffentlichkeiten sowie nach der Rolle des Internets in Hinblick
auf die Mobilisierungs- und Durchsetzungskraft transnationaler sozialer Bewegun-
gen und ihrer Proteste.
5.2 Netzöffentlichkeiten
Ausgehend von der aktuellen Entwicklung des Web 2.0. stellt das Internet eine
zentrale Herausforderung für jede Theorie der Öffentlichkeit dar. Mit dem Internet
sind sowohl neue Teilöffentlichkeiten als auch komplexere Beziehungen zwischen
den einzelnen Öffentlichkeiten entstanden: So betreiben reichweitenstarke Printme-
dien und Rundfunkanstalten selbst Online-Ausgaben mit Kommentarfunktion. Netz-
aktvistInnen produzieren und distribuieren selbst Inhalte, sodass die Rollenvertei-
lung zwischen ProduzentInnen und passivem Publikum durchlässiger geworden ist.
Zudem ist in den letzten Jahren eine in ihren Ansätzen und Positionen sehr hetero-
gene feministische Netz-Szene entstanden (u. a. Drüeke 2015).
Einerseits erleichtert das Internet die Vernetzung von feministischen AkteurIn-
nen, wodurch eine breitere und internationalere Öffentlichkeit für gemeinsam
geteilte Problemlagen entsteht. Die aktuelle #Metoo-Kampagne ist ein Beispiel für
das Entstehen transnationaler Teilöffentlichkeiten und verweist auf die Ausweitung
der Mobilisierungschancen durch soziale Medien. Zudem werden alternative Le-
bensentwürfe und sexuelle Orientierungen im Netz stärker sichtbar. Auch queer-
feministische Strategien haben ihren Platz in der Internetkommunikation. Offen
bleibt jedoch, ob mit der Pluralisierung von Lebensformen im Netz auch die
Hoffnung auf einen breiten gesellschaftlichen Diskurs über heteronormative Leit-
vorstellungen verbunden werden kann. Die Vervielfältigung der Teilöffentlichkeiten
im Web 2.0. wird nicht von allen Feministinnen positiv bewertet. So warnt vor allem
die ältere Generation vor einer Zersplitterung feministischer Öffentlichkeiten
(u. a. Fraser 2010). Feministische Auseinandersetzungen um Positionen, Themen
oder Strategien werden im Netz stärker sichtbar. Die algorithmusgesteuerten Selek-
tionsmechanismen von Plattformen und Suchmaschinen – Stichwort Filterblasen –
können jedoch die Nischenbildung innerhalb der feministischen Netz-Szene begüns-
tigen. Interviews mit deutschen globalisierungskritischen AktivistInnen zeigen
außerdem, dass es neben virtueller Vernetzung auch gemeinsame Aktionen und
persönliche Treffen – also traditionelle Versammlungsöffentlichkeiten – braucht,
um sich einer Bewegung längerfristig anzuschließen (Daphi 2012).
Andererseits bietet das Internet nicht nur Raum für emanzipatorische Bewegun-
gen und Inhalte, sondern auch für neue Formen antifeministischer und maskulinisti-
scher Propaganda. Frauen sind von Hate-Postings, Cyber-Mobbing oder den Anfein-
dungen von Trollen, die sich als Provokateure in feministische Netz-Öffentlichkeiten
einschleichen, stärker betroffen als männliche Netzaktivisten (u. a. Gruber 2012).
Viele Aktivistinnen ziehen sich in der Folge zurück. Die Empörung über Hate-
Speech verweist auf die Notwendigkeit der Aushandlung von normativen Kriterien,
wie und in welcher Form etwas öffentlich gesagt werden darf. Auch im Netz sind die
Partizipationschancen durch kulturelle und sozioökonomische Positionierungen
504 R. Köpl
bestimmt. Der digital divide realisiert sich in einer Kombination von Geschlecht,
Bildung, Region, Einkommen und Alter (Carstensen 2012, S. 24). Vor allem ältere,
sozial schwache Frauen aus ländlichen Gebieten, aber insbesondere Frauen aus
Teilen Afrikas und Asiens haben weniger Zugang zum Internet und damit geringere
Chancen auf den Erwerb digitaler Kompetenzen. Die digitale Spaltung betrifft nicht
nur Fragen des Zugangs, sondern auch die Sichtbarkeit im Netz. Frauen sind in der
Blogszene aktiver, die höchst gerankten Blogs werden jedoch von Männern
geschrieben. Nur 10 % der Wikipedia-Einträge stammen von Frauen, und feminis-
tische Beiträge wurden bereits gelöscht (Carstensen 2013, S. 114–115).
6 Fazit
Jede feministische Theorie von Öffentlichkeit steht vor der Aufgabe, die formellen
und informellen Ausschlussmechanismen zu benennen, die den Zugang zu Öffent-
lichkeit sowie die Definition dessen, was öffentlich verhandelbar ist, begrenzen.
Zudem ist keine wie auch immer geartete Rekonstruktion des Begriffs Öffentlichkeit
dagegen gefeit, selbst wiederum neue Ausschlüsse zu produzieren. Um neuen
Marginalisierungen u. a. auch durch weiße Mittelschicht-Feministinnen entgegen-
zuwirken, forderten women of color bereits früh die Einnahme einer intersektionalen
Perspektive, verstanden als Fokus auf die Verschränkung von kultureller, religiö-
ser und ethnischer Zugehörigkeit sowie Klassenzugehörigkeit und Geschlecht
(u. a. Meyer 2017).
Feministische Öffentlichkeitskritik richtete sich gegen dualistische Setzungen
wie weiblich – männlich, öffentlich – privat etc. Dennoch stehen auch feministische
Ansätze vor dem Dilemma, dass sie, um politisch handlungsfähig zu bleiben, genau
jene Kategorien brauchen, die sie eigentlich dekonstruieren müssen (Braidotti 1994,
S. 20). Dies gilt für ein gemeinsames WIR-Frauen ebenso wie für die Dichotomie
Öffentlichkeit – Privatheit. Einen Begriff in Frage zu stellen, „heißt zu fragen, wie er
funktioniert, welche Besetzungen er trägt, welche Ziele er anstrebt, welche Verän-
derungen er erfährt. Das veränderliche Leben dieses Begriffes schließt seine Ver-
wendung nicht aus“ (Butler 2009, S. 290).
Angesichts von Datenaggregation und Datendistribution durch internationale
Konzerne wie Facebook, Google u. a., aber auch von Hate-Speech braucht es
verstärkt Regelungen zum Schutz der Privatsphäre. Bereits 2001 hat Beate Rössler
neben dem Recht auf ein Zuhause auch auf die Dimensionen informationelle
Privatheit (Kontrolle über Weitergabe und Verwendung persönlicher Informationen)
und dezisionale Privatheit (Definitionsmacht über das, was einem als privat gilt)
hingewiesen (Rössler 2001). Die mit 25. Mai 2018 in Kraft getretene EU-
Datenschutz-Grundverordnung gilt aber erst als ein erster Schritt in Hinblick auf
die transnationale Regelung von informationeller Privatheit.
Es geht also nicht darum, vorschnell Kategorien aufzugeben, sondern diese an
den geänderten gesellschaftlichen Kontext anzupassen. In Hinblick auf ein Konzept
von Öffentlichkeit ohne essenzialistische A-priori-Fixierungen schlägt Fraser vor,
die Idee der Öffentlichkeit reflexiv zu verwenden, d. h. „sie förmlich auf sich selbst
Öffentlichkeit herausfordern? Feministische Perspektiven auf Öffentlichkeit 505
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2
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Medien, Öffentlichkeit und Geschlecht nicht als voneinander unabhängige Entitäten zu denken,
sondern als wechselseitig aufeinander bezogene prozessuale Begriffe zu begreifen (Thiele et al.
2012).
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Media Governance, supranationale
Medienpolitik und Feminismus
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510
2 Supranationale Dokumente und politische Maßnahmen bezüglich
Geschlechtergleichstellung und Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
3 Gender-Mainstreaming und Umsetzung der Geschlechtergleichstellung
in Medienorganisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515
4 Neue Herausforderungen für Frauen im Internetzeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518
5 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523
Zusammenfassung
Medienpolitik und Media Governance beschäftigen sich mit internationaler und
nationaler Politikgestaltung und sind in der feministischen Medienforschung erst
zögerlich aufgegriffen worden. Wesentliche Impulse zur Förderung geschlechter-
sensibler Medieninhalte und Medienproduktion kamen zuerst von feministischen
Bewegungen und wurden in der Folge in Empfehlungen und Dokumenten von
Unser besonderer Dank gilt Johanna Dorer und Brigitte Geiger für die umfangreiche inhaltliche und
formale Überarbeitung des Beitrags.
B. E. Kassa
Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Universität Wien, Wien, Österreich
Department of Journalism and Mass communication, Haramaya University, Dire Dawa, Äthiopien
I. Korbiel · K. Rozgonyi (*) · L. Winter · K. Sarikakis
Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: izabela.korbiel@univie.ac.at; krisztina.rozgonyi@univie.ac.at; lisa.winter@univie.ac.at;
katharine.sarikakis@univie.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 509
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_26
510 B. E. Kassa et al.
Schlüsselwörter
Geschlecht · Feminismus · Supranationale Institutionen · Globale Medienpolitik ·
Media Governance
1 Einleitung
lung auf dem Arbeitsmarkt und gleicher Lohn für gleiche Arbeit werden in den
Rechtsvorschriften der Europäischen Union wie der Einheitlichen Europäischen
Akte von 1986 und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeit-
nehmer von 1989 als Grundrecht wiederholt. Die Europäische Union verfolgt in
ihrer Gleichstellungspolitik vier Strategien: formalrechtliche Gleichstellung, Frauen-
förderung mittels positiver Diskriminierung, seit den 1990er-Jahren Gender-Main-
streaming und zuletzt ein weitgefasstes Diskriminierungsverbot, das neben dem
Geschlecht ethnische und soziale Herkunft berücksichtigt (Abels 2014, S. 1).
Verbindliches EU-Recht wird in Verordnungen und Richtlinien festgeschrieben,
wobei die Berücksichtigung von Geschlecht in Bezug auf Medienfragen lange Zeit
fehlte. Die Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste („Fernsehen ohne Grenzen“)
von 1989 als das bedeutendste Rechtsinstrument der Europäischen Union im audio-
visuellen Bereich behandelt ebenso wie spätere Überarbeitungen von 1997 und 2007
Fragen der geschlechtsspezifischen Diskriminierung nur ganz allgemein, insofern als
die audiovisuelle Kommunikation die Menschenwürde nicht verletzen und Diskri-
minierung aufgrund von Geschlecht, „Rasse“, Nationalität und Religion nicht be-
inhalten dürfe. (EIGE 2013; Byerly und Padovani 2017; Dackweiler 2017, S. 52;
Sarikakis und Nguyen 2009, S. 208; Sarikakis 2013, S. 170)
Ein weiterer Eckpfeiler der EU-Gleichstellungspolitik sind die Aktionsprogram-
me der Europäischen Kommission seit den 1980er-Jahren und die fünfjährigen
Rahmenstrategien für die Gleichstellung (EU-Fahrpläne). Die Aktionsprogramme
sehen zudem finanzielle Mittel vor, um die europäische Vernetzung von Gleich-
stellungsexpertInnen zu unterstützen und die Umsetzung der bestehenden Vorschrif-
ten zu überprüfen. Das dritte Aktionsprogramm (1991–1995) wiederholt die Forde-
rung, Geschlechterstereotypen im sozialen und medialen Alltag zu vermeiden. Es
gilt außerdem als die thematische Weichenstellung für die Vierte Weltfrauenkon-
ferenz (wo Medienagenden erstmals eine bedeutendere Rolle spielen) und ferner für
das Konzept des Gender-Mainstreaming, das im Vierten Aktionsprogramm (1996–
2000) einen zentralen Stellenwert bekam. Das sechste Aktionsprogramm, der EU-
Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern (2006–2010) sieht die
Einrichtung eines „Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen (EIGE)“ vor.
Mit dem Strategiedokument für die Gleichstellung von Frauen und Männern (2010–
2015) fokussiert die Europäische Kommission insbesondere auf geschlechtsspezi-
fische Gewalt. Die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat
zuletzt die Gleichstellung der Geschlechter und Gender-Mainstreaming im Doku-
ment Eine Union der Gleichheit: Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter
(2020–2025) explizit als Priorität der EU kommuniziert (European Commission
2020).
Auch das Europäische Parlament ist in der Geschlechterpolitik aktiv und betont
die Wichtigkeit, gleichstellungspolitische Initiativen finanziell zu unterstützen (Eu-
ropäisches Parlament 2019). Die Themen der Gleichstellung werden vom Ausschuss
für die Rechte der Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter (FEMM) auf-
bereitetet. Neben der Verabschiedung von europäischen Gesetzen erstellte das Eu-
ropäische Parlament u. a. eine Entschließung zu den Folgemaßnahmen im Anschluss
an die Aktionsplattform von Peking (2000/2020(INI), Pkt.18). Darin werden die
514 B. E. Kassa et al.
1
Beschlossen 2011 und 2014 in Kraft getreten.
Media Governance, supranationale Medienpolitik und Feminismus 515
Im Jahr 2013 veröffentlichte der Europarat den Bericht Women and Journalists
First (Council of Europe 2013), der sich an JournalistInnen wendet und darauf
abzielt, in der Öffentlichkeit und den Medien tradierte Geschlechterstereotype
bewusst zu machen und kritisch zu hinterfragen. Im selben Jahr organisierte der
Europarat die erste Konferenz zur Darstellung und Sexualisierung der Frau in den
Medien, um mit einem Expertinnen-Netzwerk medienpolitische Maßnahmen zu
erarbeiten (Sarikakis 2013). Mit der letzten Gleichstellungsstrategie (2018–2023)
adressiert der Europarat ausdrücklich beide Geschlechter, womit nicht nur weibli-
chen, sondern auch männlichen Stereotypen in den Medien mit geeigneten medien-
politischen Maßnahmen zu begegnen ist (Council of Europe 2018).
nahme vorab auf ihre Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis zu prüfen ist.
Die Analyse hat dabei auf mehreren Ebenen zu erfolgen, wie der geschlechtsspezi-
fischen Verteilung von Ressourcen, der in Institutionen geltenden Normen und
Werte, der Repräsentation oder den rechtlichen Regelungen (Sarikakis 2014).
Gender-Mainstreaming impliziert die Idee, dass jene, die über Entscheidungsmacht
verfügen, auch für die Erzielung der Geschlechtergerechtigkeit verantwortlich zu
machen sind. (Holzleithner 2009, S. 81; Hofbauer und Ludwig 2005) Nach Pollack
und Hafner-Burton (2000) hängt der Erfolg (aber auch der Misserfolg) von Gender-
Mainstreaming von mindestens drei Faktoren ab: den politischen Möglichkeiten,
welche die EU-Institutionen bieten, den europäischen Netzwerken und ihren mobi-
lisierenden Strukturen sowie den strategischen Maßnahmen der Umsetzung.
Was nun den Bereich der Medien betrifft, stellen Sarikakis und Nguyen (2009)
allerdings fest, dass es kaum gelungen ist, Gender-Mainstreaming in den medienpoli-
tischen Rahmen der Europäischen Union zu integrieren. EU-Gleichstellungspolitiken
wurden für viele Bereiche wie Arbeitsmarkt, Bildung, Wirtschaft etc. formuliert, die
Medienpolitik blieb allerdings unberücksichtigt. Sarikakis und Nguyen (2009) orten die
Gründe des Scheiterns von Gender-Mainstreaming – hinsichtlich der beiden Aspekte
mediale Repräsentation von Frauen und Partizipation von Frauen an Entscheidungs-
prozessen – in der strukturellen und dynamischen Machtkonstellation in den EU-In-
stitutionen, im Einfluss und der Marktmacht von Medienkonzernen und einzelnen Parti-
kularinteressen sowie in der Priorisierung privater Sektoren vor öffentlichem Interesse.
Wie wenig Eingang gleichstellungspolitische Empfehlungen und Maßnahmen
der Europäischen Union in Medienorganisationen gefunden haben, zeigt eine vom
Europäischen Institut für Gleichstellungsfragen initiierte Studie (EIGE 2013). Für
die Stärkung der Position von Frauen in Medienbetrieben ist ein umfangreiches
Repertoire an Instrumenten notwendig, wie Gleichstellungspläne, Gleichbehand-
lungsbeauftragte, verbindliche Quotenregelungen, Schulungen in Gleichbehand-
lungsagenden, Mentoring-Programme, internationale, nationale und regionale Netz-
werke, regelmäßiges Monitoring und wissenschaftliche Studien und vieles mehr.
(Dorer 2017) Nach der in 27 EU-Ländern plus Kroatien durchgeführten Studie
(EIGE 2013) hat nur etwa ein Viertel der Medienunternehmen einen Gleichstel-
lungs- bzw. Frauenförderplan und nur rund ein Fünftel setzt Maßnahmen zur Sicher-
stellung von Chancengleichheit und Diversität. Über eine Abteilung für Gleich-
stellung und Diversität verfügen nur 16 %, über eine Gleichstellungsbeauftragte
nur 14 % der Medienunternehmen. Maßnahmen zur Förderung von Frauen in
Entscheidungspositionen (wie Mentoring-Programme, Schulungen von Mitarbeite-
rInnen in Gleichbehandlungsagenden etc.) gibt es nur in 9 % der Medienorganisa-
tionen. Deutlich geworden ist, dass in öffentlich-rechtlichen Medienunternehmen
alle gleichstellungspolitischen Maßnahmen häufiger umgesetzt werden als in
privaten Medien. Wenig überraschend zeigt sich, dass der Anteil von Frauen in
Führungspositionen in öffentlich-rechtlichen Medienunternehmen mit umfangrei-
cheren Gleichstellungsmaßnahmen auch messbar höher ist (EIGE 2013, S. 37–42;
Ross und Padovani 2017).
Ein wichtiges Instrument zur Geschlechtergerechtigkeit stellen Frauenquoten
dar. Obwohl immer wieder umstritten, erweisen sie sich, wo Quotenvorgaben umge-
Media Governance, supranationale Medienpolitik und Feminismus 517
setzt wurden, als eine erfolgreiche Maßnahme. Für deutschsprachige Medien fordert
die Initiative Pro Quote eine Frauenquote von 30 % für Führungspersonal in allen
Medienberufen (Grimme-Institut 2014). Darüber hinaus setzt sich die neu gegrün-
dete Initiative Pro Quote Film vor allem für Frauen in der Filmindustrie ein.
Demnach sollten weibliche Charaktere über 35 Jahre häufiger in Drehbüchern
vertreten sein. Die Initiative schlägt einen Anteil von 50 % Frauen im deutschen
Film als Voraussetzung für eine öffentliche Förderung vor. Obwohl Frauen fast die
Hälfte der Hochschulabschlüsse im Fach Regie ausmachen, liegen die Fördergelder
des Deutschen Filmförderfonds (DFFF) zu 82 % bei von Männern geleiteten Pro-
duktionen (Wietstock 2017; Prommer und Loist 2019).
Mit Hilfe der Einführung einer Quote könnte die „gläserne Decke“ für Frauen in
Medienorganisationen durchbrochen werden. Als Beispiel führt Van Bauwel (2017)
den hohen Frauenanteil in Entscheidungspositionen und Vorständen von Medien-
organisationen in Nordbelgien an und auf das Quotengesetz zurück, das in börsen-
notierten und in öffentlichen Unternehmen auf einen Frauenanteil von mindestens
33 % in Vorständen verpflichtet. Zuiderveld (2011) zeigt, dass aufgrund der süd-
afrikanischen Arbeitsgesetze über Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit einige
dunkelhäutige Journalistinnen in historisch weißen und von Männern dominierten
Zeitungen rekrutiert wurden und ihnen der Weg zu Entscheidungspositionen eröffnet
wurde.
Auch bezüglich der Medieninhalte zeigen sich Umsetzungsschwierigkeiten von
EU-Medienpolitik und Gender-Mainstreaming. Mit Bezug auf die von der BPfA
geforderte geschlechtergerechte Darstellung in den Medien kritisieren Sarikakis und
Nguyen (2009) die Europäische Union ob ihrer mangelnden Aktivität. Erst im Jahr
2020 beschäftigt sich die Gruppe Europäischer Regulierungsstellen für audiovisu-
elle Mediendienste – das Gremium aller nationalen Regulierungsbehörden in der EU
– zum ersten Mal mit dem Frauenbild in audiovisuellen Medien, formuliert aber nur
weiche und unverbindliche „Empfehlungen“ und verweist auf Good-Practice-Bei-
spiele einzelner Medienorganisationen der Mitgliedsländer (European Regulators
Group for Audiovisual Media Services 2020). Der zwei Jahre davor von der
Europäischen Plattform der Regulierungsbehörden (die nationale Regulierungs-
behörden auch von Nicht-EU-Ländern umfasst) vorgelegte EPRA-Gender-Bericht
zeigte deutlich, dass die Unterrepräsentation von Frauen ein nicht mehr zu akzep-
tierendes Problem im europäischen audiovisuellen Mediensektor ist (European
Platform of Regulatory Authorities 2018). Der EPRA-Gender-Bericht bestätigt unter
Bezugnahme auf das Global Media Monitoring Project (GMMP 2015) und weiterer
nationaler Studien die klischeehafte und diskriminierende mediale Darstellung von
Frauen und vermerkt gleichzeitig kritisch, dass den nationalen Regulierungsbehör-
den keine ausreichenden Rechtsgrundlagen und keine Sanktionsmöglichkeiten für
eine Veränderung stereotyper Darstellung in audiovisuellen Medien zur Verfügung
stehen.
Trotz dieser offensichtlichen Defizite hat die jüngste Revision der EU-Richtlinie
über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-Richtlinie Audiovisual Media Services
Directive) es 2018 verabsäumt, diese Probleme anzugehen. Jenseits der hohen An-
sprüche für ein Verbot audiovisueller Inhalte, die zu Hass aufstacheln oder aufgrund
518 B. E. Kassa et al.
Die vergangenen zwanzig Jahre haben keine wesentlichen Fortschritte bei der
Umsetzung des Abschnitts J der Pekinger Erklärung gezeigt (Gallagher 2017;
Padovani und Pavan 2017). Es mangelt immer noch an aggregierten Daten über
die Geschlechterpolitik in den Medien und ihre Auswirkungen, zudem an neuen
methodischen Überlegungen und systematischer Forschung. Es bedarf eines kon-
tinuierlichen Monitorings, um Fragen des Gender-Mainstreamings auf allen politi-
schen und organisatorischen Ebenen im Mediensektor zu behandeln. Außerdem sind
Media Governance, supranationale Medienpolitik und Feminismus 521
weitere Forschungsarbeiten notwendig, die sich auf die Entwicklung, Relevanz und
Wirkung von politischen Maßnahmen konzentrieren, um auf zukünftig virulente
Fragen im Bereich Medien und Geschlecht adäquate Antworten zu finden. Padovani
(2018) fordert, Forschung zu fördern, die ein vertieftes Verständnis der normativen
Rahmenbedingungen und der Geschlechtergleichstellung ermöglicht und das politi-
sche Bewusstsein dazu fördert. Die wachsende Zahl feministischer policy-Studien
und ein gestiegenes Interesse an der Entwicklung politischer Maßnahmen (Padovani
und Pavan 2017) wurden bislang allerdings in der Politikgestaltung nationaler wie
auch internationaler Institutionen zu wenig berücksichtigt (Gallagher 2017).
Anhang
Tab. 1 (Fortsetzung)
Dokument/Maßnahme Ziele, Inhalte Jahr Akteur
Gemeinschaftscharta der Hauptgrundsätze des 1989 Europäische
sozialen Grundrechte der europäischen Union
Arbeitnehmer Arbeitsrechtsmodell,
u. a. Gleichbehandlung von
Frauen und Männern
Richtlinie 89/552/EWG Gleichstellung von Frauen und 1989 Europäische
„Fernsehen ohne Grenzen“ Männern in audiovisuellen Union
Medien
Drei Aktionsprogramme Initiativen zur Sensibilisierung 1982– Europäische
„Chancengleichheit für Frauen und Förderung der aktiven 1991 Kommission
und Männer“ Beteiligung von Frauen am
Entscheidungsprozess auf allen
Ebenen der Gesellschaft
Pekinger Aktionsplattform Medien als einer der 1995 Vereinte
(BPfA) 12 Hauptproblembereiche: Nationen
(Nachfolgekonferenzen: Erhöhung der Mitwirkung und
Peking +5, +10, +20) des Zugangs von Frauen bei
Ausdrucksmöglichkeiten und
Entscheidungsprozessen in und
durch Medien und neue
Kommunikationstechnologien
Vertrag von Amsterdam Rechtlich verbindliche 1999 Europäischer Rat
Festschreibung von Gender-
Mainstreaming in allen
Politikbereichen und
Politikprozessen
Empfehlung Nr. 1555 (2002) Verbesserung des negativen 2002 Parlamentarische
zum Bild der Frau in den Frauenbildes in den Medien Versammlung des
Medien Europarats
Richtlinie 2004/113/EG Gleichbehandlung von 2004 Europäischer Rat
Gleichbehandlungsrichtlinie Männern und Frauen beim
Zugang zu und bei der
Versorgung mit Gütern und
Dienstleistungen
Richtlinie 2006/54/EG Chancengleichheit und 2006 Europäisches
Gleichbehandlungsrichtlinie Gleichbehandlung von Parlament und
Männern und Frauen in Arbeits- Europäischer Rat
und Beschäftigungsfragen
Fahrplan für die Gleichstellung Vorschlag, die 2006 Europäische
von Frauen und Männern geschlechterspezifische Kommission
(2006–2010) Benachteiligung mithilfe von
21 spezifischen Aktionen zu
beseitigen
Empfehlung Nr. 1799 (2007) Förderung nicht-stereotypischer 2007 Parlamentarische
zum Bild der Frau in der Frauenbilder Versammlung des
Werbung Europarats
(Fortsetzung)
Media Governance, supranationale Medienpolitik und Feminismus 523
Tab. 1 (Fortsetzung)
Dokument/Maßnahme Ziele, Inhalte Jahr Akteur
Strategie für die Gleichstellung Bekämpfung 2010 Europäische
von Frauen und Männern 2010– geschlechtsspezifischer Kommission
2015 Ungleichheiten in der
Beschäftigung und
geschlechtsspezifischer Gewalt
Resolution 1751 (2010) und Bekämpfung sexistischer 2010 Parlamentarische
Empfehlung Nr. 1931 (2010) Stereotype in den Medien Versammlung des
Europarats
Übereinkommen des Das erste rechtsverbindliche 2011, Europarat
Europarates zur Verhütung und internationale Instrument zur 2014
Bekämpfung von Gewalt gegen Verhütung und Bekämpfung in
Frauen und häuslicher Gewalt von Gewalt gegen Frauen und Kraft
(Istanbul-Konvention) Mädchen
Strategie für die Gleichstellung Beseitigung der Unterschiede 2013 Europarat
der Geschlechter 2014–2017 im Hinblick auf Beschäftigung, und
und Strategie für die Einkommen, Renten und 2018
Gleichstellung der Geschlechter Führungspositionen,
2018–2023 Beseitigung
geschlechtsspezifischer Gewalt,
Unterstützung für die Opfer,
Förderung der Gleichstellung
der Geschlechter und Rechte
der Frau weltweit
Women and Journalists First Beseitigung von 2015 Europarat
(aktualisiert) Geschlechterstereotypisierung
in den Medien
Entschließung bez. IKT (2015/ Gleichstellung der Geschlechter 2016 Europäisches
2007(INI)). und Stärkung der Frauen im Parlament
digitalen Zeitalter
Empfehlung zur Probleme der Branche aus der 2017 Ministerkomitee
Geschlechtergleichstellung im Perspektive der des Europarats
audiovisuellen Sektor Geschlechtergleichstellung,
u. a. ungleiche Verteilung der
Mittel für audiovisuelle Inhalte
Eine Union der Gleichheit: Gleichstellung der Geschlechter 2020 Europäische
Strategie für die Gleichstellung als Priorität von Kommission
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Politische Kommunikation und Geschlecht.
Politikerinnen in den Medien
Christina Holtz-Bacha
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530
2 Politische Kommunikation empirisch erfassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531
3 Politische Akteurinnen und Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532
4 Darstellung von Frauen in der politischen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533
5 Rezeption und Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536
6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537
Zusammenfassung
Politik ist ein männliches Geschäft. Ungeachtet einer wachsenden Zahl von
Politikerinnen auch in höchsten politischen Ämtern, gelten Frauen in der Politik
als die Anderen. Das wirkt sich vor allem in der medialen Berichterstattung über
Politik aus. Die Bilder von Politikerinnen und Politikern, die über die Medien
verbreitet werden, können einen Einfluss auf politische Vorstellungen, Einstel-
lungen und politisches Verhalten haben.
Schlüsselwörter
Geschlecht · Politik · Politikerinnen · Politische Berichterstattung · Politisches
Interesse
C. Holtz-Bacha (*)
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Nürnberg, Deutschland
E-Mail: christina.holtz-bacha@fau.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 529
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_29
530 C. Holtz-Bacha
1 Einleitung
Politik ist eine männlich geprägte Welt. Allen Quoten und einigen erfolgreichen
Karrieren von Frauen zum Trotz klafft weltweit ein gender gap in den Parlamenten
und Regierungen. Noch nicht einmal in den hinsichtlich der Gleichstellung der
Geschlechter fortschrittlichen nordeuropäischen Staaten konnte die Kluft geschlos-
sen werden. Nach den Zahlen des Global Gender Gap Report (2021, S. 19) hat
lediglich Island die Lücke beim politischen Empowerment zu 76 % geschlossen,
Norwegen und Finnland zu deutlich mehr als 60 %. Im weltweiten Durchschnitt liegt
der Wert bei 22,3 % (2021, S. 15). Das bedeutet konkret: Unter Berücksichtigung
von drei Indikatoren, nämlich des Frauenanteils in den Parlamenten, auf Minister-
ebene und der Anzahl der Jahre, in denen das Land von einer Frau regiert wurde,
macht die Differenz zur völligen politischen Gleichstellung in Island 24 % aus, in
Finnland 33 % und in Norwegen 35 %. Unter den drei deutschsprachigen Ländern
schneidet Österreich mit Platz 17 beim Ranking nach politischem Empowerment am
schlechtesten ab. Die Schweiz erreicht Platz 12 und Deutschland Platz 10. Der
Frauenanteil in den Parlamenten liegt zwischen 42 % (CH) und 31,5 % (D), der
Anteil der Ministerinnen zwischen 42,9 % (CH) und 57,1 % (A). Bei der Einstufung
wirkt sich also die Zahl der Jahre, in denen eine Frau an der Spitze der Regierung
stand, aus. Deutschland verdankt seine vergleichsweise gute Einstufung der Kanz-
lerschaft von Angela Merkel, und die Schweiz der Vertretung von Frauen im
Bundesrat (Global Gender Gap Report 2021, S. 105, 199, 359).
Die Geschlechterdifferenz in Regierungen und Parlamenten ist nur ein Indikator
für die männliche Dominanz in der Politik. In Europa erhielten Frauen das Wahlrecht
erst ab Anfang des 20. Jahrhunderts, in Frankreich und Italien zum Beispiel erst nach
dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in der Schweiz gar erst 1971. Aufgrund ihres
Vorsprungs konnten Männer daher die Spielregeln festlegen, und Frauen mussten
sich den vorhandenen Strukturen und Prozessen anpassen. Sie kamen als „Fremde“
in die Politik (Schöler-Macher 1994), als Outsider. Die öffentliche Sphäre galt als
Sache der Männer, Frauen waren auf die private Sphäre verwiesen. Erst die Frau-
enbewegung und der Kampf um das Wahlrecht für Frauen beendete allmählich den
Ausschluss der Frauen vom öffentlichen Leben.
Auch der Journalismus galt lange als männliches Geschäft. In den Medienunter-
nehmen ist der Frauenanteil nur langsam angestiegen. Die Worlds of Journalism
Study verzeichnet für 2014–2015 für Österreich einen Anteil von 40,8 % Frauen im
Journalismus, für Deutschland 40,1 % und für die Schweiz 38,5 %; für alle drei
Länder gilt, der typische Journalist ist männlich (Dingerkus et al. 2016; Hanitzsch
et al. 2016; Josephi et al. 2019, S. 81; Lohmann und Seethaler 2016). Zudem gilt im
Journalismus eine vertikale Segregation (Klaus 2005, S. 161–171; Neverla 1983):
Journalistinnen sind in führenden Positionen nach wie vor eine Minderheit. Weltweit
beträgt der Anteil von Frauen auf Top-Positionen in Medienunternehmen 22 %,
Deutschland liegt mit 19 % sogar noch unter dem globalen Durchschnittswert
(Robertson et al. 2021, S. 3). Die horizontale Segregation, das heißt, die Verteilung
von Männern und Frauen in den Ressorts entsprechend den traditionellen Rollen-
Politische Kommunikation und Geschlecht. Politikerinnen in den Medien 531
Ein Großteil der Forschung zu politischer Kommunikation stammt aus dem Umfeld
von Wahlen. In Wahlkampagnen geht es um die Teilhabe an der politischen Macht,
somit stellt sich die Frage nach Geschlechterdifferenzen im Kampf um Wählerstim-
men und sich möglicherweise daraus ergebenden ungleichen Chancen auf Macht-
erwerb und -erhalt.
Mit der wachsenden Zahl von Frauen in der Politik wendet sich auch die
Forschung der Rolle des Geschlechts für die politische Kommunikation zu. Vor
allem in den USA, wo durch die Vielzahl von Wahlen für politische Ämter und das
personalisierte Wahlsystem zahlreiche Anlässe für die Untersuchung von Wahl-
kämpfen bestehen, gibt es etwa ab den 1980er-Jahren zahlreiche Studien zu den
Kampagnen von Frauen und Männern im Vergleich. Aufgrund der großen Bedeu-
tung, die die Wahlwerbung im Fernsehen für US-Wahlkämpfe hat, dominieren
Analysen der Fernsehspots.
Das Geschlecht gehört, ebenso wie andere soziodemografische Merkmale, zu den
short cuts, also den Abkürzungen, die Wählerschaft und Medienpublikum nehmen,
um aufwendige Informationsbeschaffung zu vermeiden, wenn sie Kandidatinnen
und Kandidaten zu beurteilen haben. Politikerinnen, die in den Wahlkampf einstei-
gen, zumal wenn sie unbekannt sind, müssen daher berücksichtigen, dass ihre
Kampagnenaktivitäten einer stereotypen Beurteilung unterliegen, die einerseits mit
bestimmten Erwartungen an das Geschlecht verbunden ist und andererseits die
Kriterien der männlich geprägten Welt der Politik heranzieht. Kandidatinnen müssen
mit ihrem Auftreten beidem gerecht werden: Sie müssen eine „weibliche“ Seite mit
Frauen üblicherweise zugeschriebenen Charaktereigenschaften und den daraus ab-
geleiteten Themen- und Problemlösungskompetenzen demonstrieren und auf der
anderen Seite vermitteln, dass sie für das harte Geschäft der Politik und sogar
militärische Befehlsgewalt hart und robust genug sind (Huddy und Terkildsen
1993a, b; Iyengar et al. 1997; Meeks 2012; Zulli 2019). Frauen geraten damit in
die Situation eines double bind, das heißt eine Situation, in der sie kaum gewinnen
können: Was immer sie tun, um in der Situation zu bestehen, ist falsch; sie sind auf
einer Gratwanderung (vgl. auch Jamieson 1995). Geben sich die Frauen kühl,
kalkulierend und aggressiv, um sich für die Politik zu empfehlen, riskieren sie
Ablehnung als „Mannweiber“; betonen sie die vermeintlich weiblichen Eigenschaf-
ten, gelten sie als zu schwach für die Härte des politischen Geschäfts. Mittlerweile
haben zahlreiche Studien analysiert, wie Frauen und Männer bzw. einzelne Politi-
kerinnen und Politiker mit dieser Herausforderung umgehen (z. B. Cooper 2009;
Duerst-Lahti 2007; Herrnson et al. 2003; Lawrence und Rose 2010; McGinley 2009;
vgl. auch Bystrom 2017, S. 42). Ob playing the gender card Frauen für ihre Wahl-
kampagne also anzuraten ist, lässt sich nicht pauschal beantworten, sondern ist
abhängig von der Persönlichkeit der Kandidatin, dem politischen und kulturellen
Umfeld sowie der Zielgruppe.
Während es zum Beispiel in Deutschland Angela Merkel in ihren Wahlkam-
pagnen jeweils vermieden hat, sich als Frau zu präsentieren und ihre Weiblichkeit
auszuspielen, präsentierte sich die österreichische Präsidentschaftskandidatin Benita
Politische Kommunikation und Geschlecht. Politikerinnen in den Medien 533
Das Bild, das sich die Wählerschaft von der Politik und den politischen Akteuren
macht und das letztlich auch die Wahlentscheidung beeinflussen kann, beruht selten
auf persönlichen Begegnungen und direkten Erfahrungen, sondern entsteht durch die
Vermittlung der Medien.
Medienanalysen zur Darstellung von Frauen in politischen Zusammenhängen
machen den weitaus größten Teil der Forschung zum Themenkomplex Geschlecht
und politische Kommunikation aus. In Anbetracht der Ausrichtung der Politik an
männlichen Akteuren geht es dabei zunächst ganz allgemein um die Frage, in
welchem Umfang und in welcher Rolle Frauen in der politischen Berichterstattung
vorkommen. Die Forschung erfolgt zudem vor dem Hintergrund der steten Klage
von Politikerinnen, die Medienaufmerksamkeit gelte zuerst ihrem Äußeren und
ihrem Privatleben, während sie Schwierigkeiten haben, mit ihren Themen an die
Öffentlichkeit durchzudringen (z. B. Koch-Mehrin 2007; Ross und Sreberny-
Mohammadi 1997; Roth 2007; Schmidt 2007; Sreberny-Mohammadi und Ross
1996). Das Bild, das sich die Wählerinnen und Wähler von Politikerinnen machen,
534 C. Holtz-Bacha
hat wiederum Auswirkungen auf deren politische Karrierechancen, aber auch die
politischen Akteure selbst sind keineswegs unbeeinflusst von dem, was die Medien
über die Politik und diejenigen, die in der Politik tätig sind, berichten.
Die Auseinandersetzung mit der medialen Darstellung von Frauen und Männern
setzte mit Betty Friedans Kritik an Medien und Werbung (Friedan 1963) und der von
der UNO für 1975 bis 1985 ausgerufenen Dekade der Frauen sowie den Initiativen
der Unesco ein, die zu Bestandsaufnahmen der bis dahin vorliegenden Studien
führten (Ceulemans und Fauconnier 1979; Gallagher 1981, 1992, S. 1–2). Aufsehen
erregte Gaye Tuchman 1978 mit ihrer Diagnose der symbolischen Nicht-Existenz
(symbolic annihilation) von Frauen in den Medien. Unter Bezugnahme auf Gerbners
Kultivierungshypothese (Gerbner et al. 2002) stellte Tuchman fest, dass Frauen in
den Medien abwesend sind, der Trivialisierung unterliegen und auf Herd und Haus
verwiesen sind, während Männer die öffentliche Sphäre dominieren. Zugleich
kritisierte sie aber auch die Forschung, sich vor allem und insbesondere hinsichtlich
politischer Fragestellungen auf Männer konzentriert zu haben (Tuchman 1978).
Bezogen auf das Frauenbild im Fernsehen, war in Deutschland 1975 die später so
genannte Küchenhoff-Studie zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen: „Als Politi-
kerinnen, Expertinnen oder Funktionärinnen, also in Funktionen, in denen Sach-
verstand, Kompetenz und Wissen vielfach als notwendige Voraussetzungen angese-
hen werden, kamen Frauen nur in verschwindend geringem Maße zu Wort“
(Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit 1975, S. 200–201). Die
Analyse bestätigte für das deutsche Fernsehen die generelle Benachteiligung von
Frauen: Frauen kommen seltener vor als Männer, sie werden seltener in handlungs-
tragenden Rollen präsentiert, ihre Darstellung erfolgt oft bezogen auf den Mann.
Politik spielt bei der Konstruktion des Frauenbildes selten eine Rolle, für Frauen
wichtige Themen werden vernachlässigt. Männer handeln, Frauen kommen vor; und
das erst recht in der Politik, so lautete der pointierte Befund, der analog auch für das
österreichische Fernsehen galt (Leinfellner 1983). Ähnlich fasst Velte 20 Jahre später
ihre Forschungssynopse zusammen: „Politik spielt bei der Konstruktion des Frauen-
bildes keine Rolle“ (1995, S. 252).
Die Berichte von internationalen Monitoring-Projekten (Global Media Moni-
toring Project 1995, 2000, 2005, 2010, 2015, 2020) sowie Studien aus verschie-
denen Ländern und zu verschiedenen Medien bestätigten die geringe Repräsen-
tanz von Frauen in der Berichterstattung und als Quellen der Berichterstattung,
die Geschlechterstereotypisierung sowie das mediale Interesse an ihrer äußeren
Erscheinung und ihrem Privatleben. Außerdem wird über Frauen oft negativer
berichtet als über Männer (Cornelißen und Küsters 1992; Gidengil und Everitt
2006; Kahn 1994, 1996; Kahn und Goldenberg 1991; Lemish und Tidhar 1999;
Ross und Sreberny 2000; Schmerl 1989, 2002; Williams 2021; Zoch und Turk
1998).
Als Erklärung der medialen Unterrepräsentanz diente das Argument, dass die
Medien damit lediglich die geringe Beteiligung von Frauen am politischen Prozess
spiegeln würden. Entsprechend wäre zu erwarten gewesen, dass mit der steigenden
Anzahl von Frauen in Parlamenten und Regierungen auch ihre Präsenz in der
Berichterstattung zunehmen würde. Zudem wurde auf die männliche Dominanz in
Politische Kommunikation und Geschlecht. Politikerinnen in den Medien 535
den Politikressorts der Medien verwiesen; auch hier galt die Hoffnung, dass mit
einer Zunahme von Journalistinnen auch Frauen in der Politik eine bessere Berück-
sichtigung finden würden. Allerdings beziehen sich solche Erwartungen nur auf die
quantitative Präsenz, nicht aber auf die qualitativen Aspekte der Berichterstattung,
also die Art und Weise, wie die Medien berichten und welches Bild von Frauen sie
vermitteln. Die Erwartung, ein größerer Anteil von Journalistinnen könnte den
Umgang der Medien mit Frauen in der Politik verbessern, setzt voraus, dass das
Geschlecht die journalistischen Produktionsroutinen überlagert.
Tatsächlich haben sich die Befunde auch Jahrzehnte später nur wenig verändert.
Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts heißt es: Der gestiegenen Beteiligung von
Frauen am öffentlichen Leben zum Trotz sind Frauen in der Medienberichterstattung
erheblich unterrepräsentiert, und zwar vor allem in den Printmedien (Humprecht und
Esser 2017; Lünenborg und Röser 2012; Pallaver und Lengauer 2008; Poindexter
2008; Shor et al. 2015; Van Aelst et al. 2008). Auch der neueste Bericht des Global
Media Monitoring Project von 2020 hat ergeben, dass Frauen im weltweiten Durch-
schnitt nur in 20 % der politischen Nachrichten vorkommen, in Nordamerika und in
Europa auch nur zu 26 % bzw. 22 % (S. 22). Ebenso kommt Ross zu dem Schluss,
dass Bild und Sprache in der Politikvermittlung den Status quo verfestigen und
Politikerinnen als Novum betrachten; auch höchste politische Ämter schützten
Frauen nicht vor sexistischer Behandlung (Ross 2017, S. 186–187). Der Focus auf
das Äußere, nicht zuletzt bei hochrangigen Politikerinnen, spiegelt sich in der
Tendenz, Frauen häufiger im Bild zu zeigen als Männer (Humprecht und Esser
2017; Lünenborg und Maier 2015).
Mittlerweile liegen differenziertere Befunde darüber vor, was die Berücksichti-
gung von Frauen und Männern in der Medienberichterstattung beeinflusst und die
Benachteiligung von Frauen fortschreibt. So fanden Shor et al. (2015) in einer
Analyse US-amerikanischer Zeitungen, dass soziale Ungleichheiten die entschei-
dende Determinante für die Unterschiede in der Berichterstattung sind. Da sich die
Medien auf Top-Positionen in Politik, Wirtschaft und Sport konzentrieren, wo
Männer dominieren, erreichen Frauen seltener die Aufmerksamkeit der Medien.
Zwar scheint eine Zunahme von Journalistinnen in Leitungspositionen ebenfalls
Einfluss auf die Berichterstattung zu haben, laut Shor et al. (2015) sprechen die
Befunde dieser Untersuchung aber dafür, dass sich der gender gap erst schließt,
wenn mehr Frauen in jene Positionen aufgestiegen sind, auf die sich das Interesse der
Medien richtet. In einem Vergleich der Zeitungs- und Fernsehberichterstattung in
fünf europäischen Ländern und den USA konnten Humprecht und Esser (2017)
einen Zusammenhang zwischen der Dominanz männlicher Werte (Maskulinität nach
Hofstede 2001) sowie der Geschlechtergleichstellung in einem Land und der Re-
präsentanz von Frauen in der politischen Berichterstattung feststellen. Zudem be-
stätigte sich auch hier, dass journalistische Auswahlroutinen Frauen benachteiligen.
Prenner (1995) schlägt daher vor, die gängigen Nachrichtenwerte wie Sensationa-
lismus, Nähe, Aktualität etc. um den Nachrichtenfaktor Androzentrismus zu
ergänzen.
Ob sich die Berichterstattung mit einem höheren Frauenanteil in den Redak-
tionen, auf höheren Positionen und im Politikressort ändern und damit die gender
536 C. Holtz-Bacha
Dass Frauen sich weniger für Politik interessieren und auch weniger über Politik
wissen als Männer, gilt als eine Konstante der Forschung über die Zeit und im
internationalen Vergleich (z. B. Curran et al. 2009; Fortin-Rittberger 2016; Fraile
2014). Für diesen beharrlichen gender gap gibt es mehrere Erklärungen. Da
politisches Interesse und politisches Wissen üblicherweise in Befragungen ermit-
telt werden, könnte ein Grund für die Unterschiede in den jeweils verwendeten
Frageformulierungen und -inhalten liegen (Fortin-Rittberger 2016) oder, was
durchaus miteinander zusammenhängt, in einem anderen Politikverständnis von
Frauen. Naheliegend ist zudem, dass der gesellschaftliche Kontext mitentscheidet,
ob und wie Frauen Zugang zur Politik finden (Westle 2001). Da das politische
Interesse zu denjenigen Variablen gehört, die in einem engen Zusammenhang mit
Mediennutzung stehen, lassen sich daraus Erklärungen für Unterschiede im Me-
dienkonsum, im Umgang mit den Angeboten sowie deren Wirkungen ableiten
(Schweiger 2007).
Wie die (bessere) Präsenz von Frauen in der politischen Berichterstattung bzw.
ihre Abwesenheit auf das Medienpublikum wirkt, ist vergleichsweise selten unter-
sucht worden. Finden Politikerinnen mediale Aufmerksamkeit, kann das den Ein-
druck, die Politik sei ausschließlich ein männliches Geschäft, verändern (Banducci
et al. 2012, S. 169) und Frauen zu politischer Aktivität motivieren (Campbell und
Wolbrecht 2006; Wolbrecht und Campbell 2007).
Empfehlungen für die Kommunikationsstrategien von Kandidatinnen und Kan-
didaten lassen sich aus solchen Studien ableiten, die die Reaktionen auf Wahlkam-
pagnen und Medienauftritte von Frauen und Männern untersucht haben. Solche
Studien gibt es vor allem aus den USA und zu politischer Werbung im Fernsehen
(Bystrom 2004, 2017). Auch wenn die Befunde nicht eindeutig sind, scheint es
sowohl für Frauen als auch für Männer ratsam, in ihrer Wahlwerbung auf „weibli-
che“ und auf „männliche“ Themen und Eigenschaften zu setzen. Auf Negativwer-
bung reagieren Wählerinnen und Wähler unterschiedlich; während Frauen aggres-
sive Werbung eher ablehnen, wirkt sie auf Männer womöglich sogar motivierend zur
Stimmabgabe (Bystrom 2017, S. 44–45). Frauen wie Männer haben bei ihrer Selbst-
darstellung allerdings zu berücksichtigen, dass sie von der Wählerschaft mit stereo-
typen Erwartungen an die Geschlechterrollen konfrontiert sind (Huddy und Terkild-
sen 1993a, b).
Politische Kommunikation und Geschlecht. Politikerinnen in den Medien 537
6 Fazit
Der gestiegenen Beteiligung von Frauen an der Politik sowie ihrem Aufstieg in
höchste politische Ämter zum Trotz gilt Politik immer noch als ein männlich
markierter Lebensbereich, dessen Regeln es Frauen schwer machen, in die Politik
ein- und in der Politik aufzusteigen. Weiterhin zeigen sich Unterschiede im Umgang
der Medien mit Politikerinnen und Politikern, wobei insbesondere das Interesse der
Medien an der äußeren Erscheinung und dem Privatleben von Frauen zu kritisieren
ist. Da Wählerinnen und Wähler nur in seltenen Fällen direkten Kontakt zu politi-
schen Akteuren haben, sind sie auf die Vermittlung der Medien angewiesen, um sich
ein Bild von Kandidatinnen und Kandidaten zu machen, das dann wiederum Einfluss
haben kann auf die Wahlentscheidung. Solange Frauen seltener als Männer im
politischen Medienkontext zu sehen sind und politikferne Merkmale ihr mediales
Image prägen, wird es für Frauen schwierig sein, nicht mehr als „Fremde“ in der
Politik betrachtet zu werden. Das ist nicht zuletzt deshalb relevant, als sich gezeigt
hat, dass eine bessere Sichtbarkeit von Frauen in der Politik auch politische Einstel-
lungen und die politische Beteiligung von Frauen positiv beeinflussen kann.
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Rechtspopulismus und Geschlecht im
Internet: Wie rechtspopulistische Parteien
Geschlecht und Sexualität verhandeln
Birgit Sauer
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544
2 Die Vergeschlechtlichung rechtspopulistischer Kommunikations- und
Mobilisierungsstrategien im Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545
3 Identifizierung offener Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549
4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550
Zusammenfassung
Rechtspopulistische Parteien und Organisationen haben rascher als andere Par-
teien den Vorteil des Internets, insbesondere der sozialen Medien, für die Mobi-
lisierung für ihre Anliegen erkannt. Sie sind im Vergleich zu traditionellen
politischen Parteien Pioniere der netzbasierten politischen Kommunikation und
konnten sich somit rasch international vernetzen und ihre Inhalte verbreiten. Die
wissenschaftliche Forschung hat bislang zu wenig beachtet, dass Geschlecht und
Sexualität eine bedeutende Rolle im rechtsextremen und rechtspopulistischen
Diskurs spielen, der dadurch aktuell eine Art Modernisierung erfährt. Durch die
Instrumentalisierung des Sexualitäts- und Geschlechterdiskurses im Sinne einer
femonationalistischen Argumentation werden sexistische, homophobe und
rassistisch-nationalistische Argumente mit rechtspopulistischen Themen ver-
woben und zu einem doppelten Antagonismus zugespitzt. Neue rechtspopulisti-
sche Geschlechter- und Sexualitätsdiskurse dienen der Durchsetzung kultureller
Hegemonie als Basis zukünftiger politischer Herrschaft.
Schlüsselwörter
Rechtspopulismus · Antagonismen · Anti-Gender-Kampagnen · Homophobie
B. Sauer (*)
Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: birgit.sauer@univie.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 543
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_38
544 B. Sauer
1 Einleitung
Die neuen sozialen Medien kreieren ambivalente Formen von Öffentlichkeit. Man-
che Forschungen gingen davon aus, dass der virtuelle Raum des Internets jenen eine
Stimme geben könnte, die bislang in der (Medien-)Öffentlichkeit kein Gehör fanden
(kritisch Caiani und Parenti 2013). Zudem gab es euphorische Überlegungen, dass
die Kommunikation im Netz traditionelle Geschlechterzuschreibungen, ja Zwei-
geschlechtlichkeit überhaupt erodieren könnte, weil in der körperlosen Kommuni-
kation das Geschlecht leicht verändert werden kann. In der Tat öffnen das Internet
und neue soziale Medien Räume, in denen sich emanzipatorische soziale Bewegun-
gen organisieren und global mobilisieren können, wie das Beispiel #MeToo zeigt,
in denen sich zudem nicht-heteronormative Sexualitäten und andere Geschlechter
artikulieren und vernetzen können.
Allerdings zeigt die Netz-Kommunikation rechtsextremer und rechtspopulisti-
scher Akteur_innen, dass politische Öffentlichkeit im Internet „gestört“ ist (Bennett
und Pfetsch 2018), ja dass Online-Medien der Verbreitung rechtspopulistischer, anti-
feministischer, homophober und damit verknüpft migrationsfeindlicher Inhalte die-
nen (z. B. Ebner 2019; Giuliani et al. 2019). Manuela Caiani und Mitarbeiter_innen
(Caiani und Parenti 2009; Caiani und Wagemann 2009) sprechen daher von der
„dunklen Seite des Webs“. Ein Online-Rechtspopulismus prägt diese Kommunika-
tionsformen mit spezifischen Themenframes, Narrativen und Bildern.
Im Unterschied zu traditionellen politischen Parteien bilden rechtspopulistische
Parteien gleichsam eine Avantgarde der politischen Kommunikation im Netz.
Online-Medien sind für rechtspopulistische Akteur_innen besonders geeignet, um
ihre politischen Kommunikations- und Mobilisierungsstrategien voran zu treiben
und um ihre „dünnen ideologischen Inhalte“ (Mudde 2004, S. 543) in sogenannten
Echokammern zu verbreiten. Geschlecht und Sexualität sind zentrale Inhalte dieser
politischen Strategie. Zum einen macht Geschlecht, machen Frau- und Mannsein
körperlich ‚betroffen‘ und Nutzer_innen dadurch direkt ansprechbar, und zum
anderen bilden Geschlecht und Sexualität Paradigmen für die antagonistische rechts-
populistische Mobilisierung von Themen: Mit der Artikulation von binärer Zwei-
geschlechtlichkeit lassen sich (vermeintliche) Gegensätze, aber auch die rechts-
populistische Überzeugung der Notwendigkeit sozialer Ungleichheit aufrufen.
Die Frage nach der Bedeutung von Geschlecht und Sexualität für die rechts-
populistische Mobilisierungs- und Kommunikationsstrategie hat in den vergangenen
Jahren verstärkte wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren (Norocel 2010; Noro-
cel et al. 2020; Dietze und Roth 2020). Die Analyse von vergeschlechtlichten und
sexualisierten Online-Debatten rechtspopulistischer Parteien und Organisationen in
Europa rückte in zwei EU-finanzierten Forschungsprojekten (E-Engagement against
Violence/E-Eav und Race, Age, Gender/RAGE) ins Zentrum. In der letzten Dekade
entstand aus diesen Projekten eine Reihe von Publikationen, die das Internet und
neue soziale Medien als Orte rechtspopulistischer Geschlechter- und Sexualitäts-
mobilisierung untersuchen (z. B. Texte in Ranieri 2016; Lazaridis und Campani
2017; Pajnik und Sauer 2018). Die kritische Geschlechterforschung konnte zeigen,
dass und wie rechtspopulistische Parteien die Geschlechterbinarität und Geschlech-
Rechtspopulismus und Geschlecht im Internet: Wie rechtspopulistische . . . 545
Die Transformation liberaler Demokratien, von Colin Crouch (2008) als „Post-
demokratie“ bezeichnet, hat die Parteienlandschaft dramatisch verändert. In vielen
Ländern der Welt führte dies zur strategischen Modernisierung rechtsextremer Par-
teien als rechtspopulistische Parteien und hatte ihren politischen Aufstieg und
massive Wahlgewinne zur Folge. Gerade rechtspopulistische Akteur_innen nutzen
neben den klassischen Instrumenten der politischen Kommunikation wie Parteipres-
se, Flugblätter und Plakate neue Kommunikationstechnologien wie z. B. Websites,
Twitter, Facebook, Instagram, YouTube, Blogs und Vlogs als Instrumente, um
Anhänger_innen und Wähler_innen anzusprechen (Caiani und Parenti 2009,
S. 281–282; Mazzoleni et al. 2003). Der „Medienpopulismus“ (Mazzoleni 2014)
gewann insbesondere durch die und in den neuen sozialen Medien an Fahrt (Pajnik
und Sauer 2018).
In Europa waren rechtspopulistische Parteien im Vergleich zu anderen Parteien
weit früher im Internet und in neuen sozialen Medien präsent (Sauer und Pingaud
2016). Erstens sind Internet und soziale Netzwerke kostengünstige Instrumente, um
Sichtbarkeit zu erlangen (Tateo 2005), Wahlkampagnen zu führen und Wähler_in-
nen zu mobilisieren. Zweitens vergrößert die Omnipräsenz des Internets, seine
vergleichsweise leichte Zugänglichkeit und simple Kommunikation durch Klicks
und ‚Likes‘ die potenzielle Anhänger_innenschaft dieser lange Zeit randständigen
Parteien (Margetts 2006). Drittens begreifen sich rechtspopulistische Parteien oft als
von den etablierten Medien falsch oder unterrepräsentiert, während Internetmedien
ihnen ungefilterte Aussagen sowie Kontrolle über ihre Botschaften erlauben und so
eine uneingeschränkte Verbreitung ihrer Inhalte gewährleisten. Viertens stellen
Online-Medien eine direkte Verbindung zu den Bürger_innen her. Fünftens spricht
die Multimedialität neuer sozialer Medien – Texte, Blogs, Bilder und Vlogs – vor
allem junge Menschen an, die bevorzugte Zielgruppe rechtspopulistischer Parteien
und rechtsextremer Gruppen (Gerstenfeld et al. 2003, S. 38; Caiani und Parenti
2009, S. 282). Sechstens ermöglicht das Internet rechtspopulistischen Parteien
internationale Kooperationen und Vernetzung, um Ideologien, Narrative, Bilder
und Videos auszutauschen. Anonymität und Distanziertheit der neuen Kommunika-
tionstechnologien bilden schließlich siebtens ein perfektes Umfeld für die Organi-
sation von Zustimmung zu den kontroversen Themen und antagonistischen Positio-
nen rechtspopulistischer Parteien eines ‚Wir‘ gegen ‚die da oben‘ und gegen ‚die
546 B. Sauer
1
Bulgarische Nationale Union (Bulgarski Natsionalen Saiuz, BNU), eine rechtsnationalistische
Partei, und Attack (Ataka), eine ultranationalistische Partei; die Dänische Volkspartei (Dansk
Folkeparti, DF) und die Vereinigung a.k.a. (Free Press Society, Trykkefrihedsselskabet), eine
zivilgesellschaftliche Organisation gegen den Islam; die (Wahren) Finnen (Perussuomalaiset, PS)
und die ultranationalistische Vereinigung Suomen Sisu (SuSi); die französische Nationale Front
(Front National, FN) und die Bewegung der Aktivisten gegen die Islamisierung (Riposte Laïqu); die
rechtsextreme Goldene Morgenröte (Chryssi Avgi) und die rechtsradikale Orthodoxe Volksver-
sammlung (Laikos Orthodoxos Synagermos); die italienische neofaschistische Partei Neue Kraft
(Forza Nuova, FN) und die neonazistische Skinhead-Bewegungen (Lealtà e azione und Milizia); die
Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) und die Bewegung pro Österreich (BPÖ), die gegen musli-
mische Moscheen und Kulturzentren mobilisiert; die rechtspopulistische Slowenische Demokrati-
sche Partei (Slovenska demokratska stranka, SDP) und die mit der katholischen Kirche verbündete
Bürgerinitiative für die Familie und die Rechte der Kinder (Civilna iniciativa za družino in pravice
otrok, CIFRC); die United Kingdom Independence Party (UKIP) und die English Defence League
(EDL), eine zivilgesellschaftliche Organisation gegen den Islam.
Rechtspopulismus und Geschlecht im Internet: Wie rechtspopulistische . . . 547
2
Ein Beispiel ist die Dänische Volkspartei, die nur deshalb LGBTIQ-Rechte positiv hervorhebt, um
auf die Bedrohung, die angeblich von homophoben Muslim_innen und ‚dem‘ Islam ausgeht,
hinzuweisen (Kuhar und Ajanovic 2018, S. 147).
548 B. Sauer
4 Fazit
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Medienindustrie und Geschlecht:
Ökonomische und machtpolitische Aspekte
globaler Medienproduktion
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554
2 Eigentums- und Machtverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555
3 Medienproduktion und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558
4 Strukturelle Barrieren und Gegenmaßnahmen in der Medienproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560
5 Ökonomische Aspekte der Medieninhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563
6 Globalisierter Arbeitsmarkt der Medientechnologie bzw. Hardware . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565
7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566
Zusammenfassung
Medien sind nicht nur kulturelle Instanzen einer Gesellschaft, die gesellschaftli-
che Normen und Diskurse als Konstrukteure von Welt präsentieren und in diesem
Sinne auch Geschlechterstereotypen aufrechterhalten. Sie sind als Medienindus-
trie auch ein bedeutender Wirtschaftssektor, der spätestens seit den 1990er-Jahren
Die Autorinnen danken den Herausgeberinnen des Buches, insbesondere Ass.-Prof. Mag.
Dr. Johanna Dorer für die Unterstützung beim Verfassen dieses Kapitels. Die Rezensionen und
Verbesserungsvorschläge waren inspirierend und haben im Wesentlichen zur Entstehung des Textes
beigetragen.
B. E. Kassa
Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Universität Wien, Wien, Österreich
Department of Journalism and Mass communication, Haramaya University, Dire Dawa, Äthiopien
E-Mail: bruktimail@gmail.com
O. Kolokytha · I. Korbiel · K. Rozgonyi (*) · K. Sarikakis
Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: olga.kolokytha@univie.ac.at; izabela.korbiel@univie.ac.at; krisztina.rozgonyi@univie.ac.
at; katharine.sarikakis@univie.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 553
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_27
554 B. E. Kassa et al.
Schlüsselwörter
Medienindustrie · Geschlecht · Führungspositionen · Ökonomie der
Medieninhalte · Globalisierter Medienarbeitsmarkt
1 Einleitung
Ein erster Blick auf den Frauenanteil in der Medienindustrie weltweit zeigt einen
deutlichen Nachholbedarf: Nur eine von vier Top-ManagerInnen in Medienunter-
nehmen ist eine Frau, nur 21 % der FilmemacherInnen und nur 23 % der Film-
darstellerInnen sind weiblich (UN Women 2015). Auch auf europäischer Ebene
sehen wir ein ähnliches Bild. In Medienorganisationen der EU-Länder (inklusive
Kroatien) sind 25 % der Vorstandspositionen von Frauen besetzt. Die öffentlich-
rechtlichen Anbieter sind dabei mit 29 % deutlich aufgeschlossener als private
Anbieter, die nur 21 % Frauen im Vorstand aufzuweisen haben. (European Institute
for Gender Equality 2013, S. 27–29; Ross 2014b)
Feministische Forscherinnen haben zur Erklärung des geringen Frauenanteils in
Entscheidungsfunktionen verschiedene Modelle und theoretische Ansätze entwi-
ckelt, die im Wesentlichen strukturelle und hegemoniale Kräfte in einer Gesellschaft
als Hauptgrund für Geschlechterungleichheit identifizieren und als Anknüpfungs-
punkte für eine notwendige Veränderung hin zu Geschlechtergerechtigkeit sehen.
Die Hypothese der Ratio of Recurrent and Reinforced Residuum wurde von
Ramona Rush und Carol Oukrop in den 1960er-Jahren entwickelt und besagt, dass
das Verhältnis von Frauen zu Männern in Medienorganisationen (1 : 3 bzw. 1 : 4)
aufgrund systemischer und struktureller Barrieren nicht verbessert werden kann,
denn eine kapitalistische und patriarchale Gesellschaftsformation würde einen
gleichberechtigten Zugang zum Kommunikationssektor behindern. Nach mehr als
50 Jahren trifft diese These noch vielfach auf Führungspositionen im Mediensektor
zu, und sie behält insbesondere für fast alle global agierenden Medienkonglomerate
nach wie vor ihre Gültigkeit. (Rush et al. 2005, 2011)
Ein mögliches Veränderungspotenzial wird mit dem Modell der kritischen Masse
(critical mass theory) erkennbar. Dieses besagt, dass Frauen erst dann sichtbaren
Einfluss auf Organisationsstruktur und Medieninhalte nehmen können, wenn sie
zumindest zu einer größeren und sichtbaren Minderheit auf allen Führungsebenen
werden. (Childs und Krook 2008) Erst eine Normalisierung der Präsenz von Frauen
Medienindustrie und Geschlecht: Ökonomische und machtpolitische Aspekte . . . 555
vor allem im oberen Management würde den Weg für eine größere und damit
gerechtere Anzahl von Frauen auf allen Ebenen der Medienproduktion frei machen.
Eine Mindestquote von 30 % war somit für die frühen Frauenförderpläne eine erste
Option, die Situation in Medienunternehmen zu verändern. (Steiner 2012)
Die Gründe, warum Frauen, auch wenn sie in einer höheren Anzahl in einem
Medienunternehmen anzutreffen sind, keine Entscheidungspositionen erreichen,
lassen sich mithilfe der Metapher der gläsernen Decke erklären. Die unsichtbaren
Barrieren, mit denen Frauen am Arbeitsplatz konfrontiert sind, sind dabei vielfältig
und betreffen sowohl Arbeitsbedingungen, gesellschaftliche Zuschreibungspraxen
als auch Ausschließungsrituale. (Byerly 2011a) Im Medienbereich ist die gläserne
Decke vor allem bei Führungspositionen, in männlich dominierten Ressorts und in
den historisch gewachsenen Redaktionskulturen nach wie vor präsent. (Steiner
2012, S. 214)
Weiters haben Wissenschaftlerinnen wie Djerf-Pierre (2005) und Zuiderveld
(2011) Bourdieus Feldtheorie aufgegriffen und zeigen, wie die vier Kapitalsorten
(ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital) in der Medienindus-
trie zwischen den Geschlechtern unterschiedlich verteilt sind und so Frauen den
Zugang zu Führungspositionen erschweren. Ökonomisches Kapital drückt sich
beispielsweise nicht nur in der Eigentümerstruktur der Medienunternehmen aus,
sondern auch in den materiellen Ressourcen, die für Kinderbetreuung und Externa-
lisierung der Hausarbeit zur Ausübung einer Führungsposition notwendig sind.
Mangelndes soziales Kapital zeigt sich beispielsweise im Fehlen unterstützender
Netzwerke und Seilschaften für Frauen in Medienberufen und der Mangel an
symbolischem Kapital in der Abwertung bzw. in der zu geringen Anerkennung
journalistischer Leistungen von Frauen.
Diese Modelle dienten feministischen Forscherinnen auch dazu, adäquate Ansätze
zur Veränderung und Vorschläge für medienpolitische Maßnahmen zu entwickeln, die
auf Geschlechtergerechtigkeit im Mediensektor abzielen. Eine umfassende feministi-
sche politische Ökonomie der Medienindustrie, die sämtliche Facetten ungleicher
Geschlechterverhältnisse systematisch sowohl auf globaler Ebene also auch auf Orga-
nisations- und individueller Ebene berücksichtigt, steht allerdings noch aus.
Das Konzept des Eigentums, das durch die Investition einer Person und die damit
verbundenen Stimmrechte repräsentiert wird, „is a site of gendered struggle for
control over decisions affecting employee-management relations, facilities manage-
ment, investment and expansion, programming, and other matters associated with
running a company that produces and disseminates program content“ (Byerly 2011b,
S. 28). Jüngste Studien zum Zugang von Frauen zu finanziellen Ressourcen, die für
Start-ups die Grundlage für Eigenverantwortung bedeuten, zeigen einen markanten
Gender Investment Gap. Weltweit betrachtet, erhalten Unternehmerinnen von den
Kapitalanlegern in der Frühphase der Unternehmensgründung durchschnittlich mehr
556 B. E. Kassa et al.
als eine Million Dollar weniger als Männer, obwohl sie mehr als doppelt so viel pro
investiertem Dollar erwirtschaften. (Abouzahr et al. 2018)
Seit den 1980er-Jahren erfolgte in einem von der Politik begünstigten neolibera-
len Klima eine Liberalisierung und Deregulierung der Medienmärkte. Die Folge
waren ökonomische und publizistische Konzentrationsprozesse, die zu horizontalen
(intramediären), vertikalen und diagonalen (konglomeraten) Konzentrationen im
Mediensektor führten. Die horizontale Konzentration zeichnet sich durch die Über-
nahme von Medien einer Mediengattung (z. B. Tageszeitungen) in einem Verbrei-
tungsgebiet aus, während die vertikale Konzentration die Integration von Beschaf-
fung, Produktion und/oder Vertrieb in einem Medienunternehmen meint (z. B. wird
ein Filmhändler zum Filmproduzenten und Filmverwerter). Heute haben wir es
vorwiegend mit diagonalen Konzentrationsprozessen zu tun. Mischkonzerne, in
Form von Medienkonglomeraten, operieren auf verschiedenen Medienmärkten
und können durch ihre Cross-Owner-Aktivitäten in der Programmproduktion, der
Verwertung, im Vertrieb-, Werbe- und PR-Geschäft enorme Synergieeffekte erzie-
len. (Dorer 1995, S. 108)
Die Entwicklung hin zu Medienkonglomeraten führte zu einer globalen Medien-
industrie, die sich durch die Dominanz westlicher weißer Männer auszeichnet. Sie
verfügen als Entscheidungsträger über enorme publizistische und ökonomische
Macht und ließen bislang wenig Raum für die Beteiligung von Frauen (Byerly
2013, 2014c). Indem sich Fusionen und Übernahmen zu einem globalen Trend
entwickelten, sind Medienkonglomerate auf der ganzen Welt entstanden. Zu den
führenden Medienkonzernen gehören Vivendi und Lagardere (Frankreich), Bertels-
mann AG (Deutschland), Time Warner, Disney, News Corp und Viacom (USA),
Grupo Televisa (Mexiko), Times of India Group (Indien) und Naspers (Südafrika).
In all diesen Medienkonzernen waren und sind Frauen auf der Führungsebene und
daher in Entscheidungspositionen unterrepräsentiert. Byerlys (2014c) Analyse der
Frauenpräsenz im Vorstand dieser Medienkonglomerate ergab, dass im Jahr 2012
durchschnittlich nur 21 % der Vorstandsmitglieder Frauen sind (Tab. 1). Der Frau-
enanteil reicht dabei von 10 % in der Grupo Televisa bis 40 % beim Disneykonzern.
Ein halbes Jahrzehnt später zeigen die Daten, dass trotz eines signifikanten Anstiegs
des Frauenanteils in Entscheidungspositionen in einigen Medienkonzernen, wie
etwa bei Vivendi (Frankreich), wo Frauen die Hälfte der Vorstandssitze einnehmen,
Frauen nach wie vor unterrepräsentiert sind oder sogar, wie im Falle der Grupo
Televisa (Mexiko), ganz verschwunden sind. Die Vorstandsriege der Grupo Televisa
wurde somit im Jahr 2017 zu einer reinen Männerdomäne. Insgesamt ist aber
festzustellen, dass in den größten Medienkonzernen Fortschritte zu beobachten sind.
So ist beispielsweise in den fünf Jahren der Frauenanteil bei Lagardere (Frankreich)
von 17 % auf 44 % gestiegen und bei News Corp von 6 % auf 27 %. Die Gründe und
Maßnahmen, die diese Veränderung bewirkten, bedürfen einer detaillierteren Unter-
suchung.
Darüber hinaus wird die Führungsebene der 100 größten internationalen Medi-
enkonzerne ebenfalls mehrheitlich von Männern gestellt. Bei 30 von ihnen gibt es im
Top-Management keine einzige Frau. Im Durchschnitt sind 80 % der DirektorInnen
Medienindustrie und Geschlecht: Ökonomische und machtpolitische Aspekte . . . 557
Tab. 1 Frauenanteil auf der Entscheidungsebene in den weltweit größten globalen Medienkon-
zernen
Frauenanteil Frauenanteil
im Vorstand im Vorstand Umsatz in
Medien- 2012 2017 Mrd.
konzern Hauptsitz Eigentümer abs. in % abs. in % (2017)
Disney USA Investoren 4 40 % 4 33 % € 50,259
Company (von 10) (von 12)
News Corp USA Investoren 1 6% 3 27 % € 32,178
(von 17) (von 11)
Vivendi Frankreich Investoren 4 33 % 6 50 % € 10,819
(von 12) (von 12)
Time Warner USA Investoren 2 18 % 2 22 % € 26,487
(von 11) (von 9)
Bertelsmann Deutschland Familie 5 24 % 3 20 % € 16,985
AG (von 21) (von 15)
Viacom USA Investoren 2 18 % 3 20 % € 23,176
(von 11) (von 15)
Grupo Mexiko Investoren 2 10 % 0 0% € 4,659
Televisa (von 20) (von 20)
Lagardere Frankreich Investoren 1 17 % 7 44 % € 7,391
(von 6) (von 16)
Naspers Südafrika Investoren 3 21 % 3 18 % € 5,509
(von 14) (von 17)
Quelle: Byerly 2014c; Institut für Medien- und Kommunikationspolitik 2017
Männer, 17 % der Führungskräfte Frauen, und es gibt nur sechs weibliche CEOs, die
Unternehmen der Top-100-Liste führen. Zu dieser Männerdominanz kommt die
westliche Vorherrschaft in der globalen Medienindustrie. Diese zeigt sich etwa in
der Verortung der Hauptsitze der Konzerne: dreizehn sind in Europa (Niederlande,
Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien, Schweden, Norwegen, Finnland,
Spanien, Dänemark, Portugal, Schweiz und Belgien), je drei in Nordamerika (USA,
Kanada, Mexiko) und in Asien (Japan, China, Indien) sowie lediglich einer in Afrika
(Südafrika) bzw. Südamerika (Brasilien). Für den Frauenanteil macht es jedoch
keinen Unterschied, ob das Unternehmen in einem westlichen Land seinen Hauptsitz
hat oder nicht. (Edström und Facht 2018)
Deutlich geringer als bei den genannten Medienkonglomeraten ist der Frauenan-
teil in den fünf größten Online-Konzernen Amazon, Apple, Alphabet (Google),
Facebook (Meta) und Microsoft. Noch 2012 wiesen die „Big Five“ gerade einmal
eine Frau im Vorstand auf, was in den Mainstreammedien auch ausführlich kom-
mentiert wurde. Im Laufe der letzten fünf Jahre hat sich dies zwar geändert: Bei den
„Big Five“ stieg der durchschnittliche Frauenanteil auf 20 %, allerdings ist dies
geringer als der Anstieg auf 26 % bei den neun weltweit größten Medienkonzernen
ohne Berücksichtigung der Onlinekonzerne (Tab. 2).
In der Praxis hat sich gezeigt, dass es erst zu einem Wendepunkt in der Einfluss-
nahme kommen kann, wenn mindestens drei Frauen im Vorstand vertreten sind. Das
558 B. E. Kassa et al.
Tab. 2 Frauenanteil auf der Vorstandsebene in den fünf größten Online-Konzernen (Big Five)
Frauenanteil im
Jahresumsatz Vorstand abs. Jahresumsatz
Frauen im Vorstand in Mrd. und in % in Mrd.
Unternehmen (2012) (2012) (2018) (2017)
Amazon 1 Shelly Reynolds $ 61,09 4 26,7 $ 177,87
(seit 2007) (von 15)
Apple 1 Andrea Jung $ 156,5 4 23,5 $ 229,23
(seit 2008) (von 17)
Google 1 Ann Mather $ 46,04 1 7,1 $ 110,85
(Alphabet) (seit 2005) (von 14)
Facebook 1 Sheryl Sandberg $ 5,09 2 13,3 $ 40,65
(seit 2012) (von 15)
Microsoft 1 Dr. Maria Klawe $ 73,72 6 30,0 $ 89,95
(2009–2014) (von 20)
Quelle: Reuters 2018 (Vorstände); Statista 2017 (Jahresumsätze)
dürfte auch die kritische Masse sein, die notwendig ist, damit Frauen auch Entschei-
dungen maßgeblich mitbestimmen können. (MSCI 2016)
Insgesamt verweist der wachsende Trend zu Medienkonglomeraten und Medien-
monopolen auf die anhaltende wirtschaftliche und politische Medienmacht von
Männern und verstärkt bestehende strukturelle Barrieren für Frauenstimmen im
öffentlichen Diskurs (Byerly 2014a). Nach Montiel (2012, S. 310) ist die Forderung
nach einer geschlechtergerechten Verteilung in Besitzstrukturen, in Vorstandsetagen
und in Führungspositionen direkt von den allgemeinen Menschenrechten, und zwar
vom Recht auf Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit ableitbar.
Der geringe Frauenanteil in Entscheidungspositionen hat jedenfalls weitreichende
Folgen für die Medienproduktion, da Frauen praktisch die Möglichkeit verlieren,
bestehende sexistische Stereotypen, die in den kulturellen Medienprodukten vorherr-
schen und Grundlage für geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gewalt sind,
in Frage zu stellen (Byerly 2014c; Montiel 2012).
3.1 Nachrichtenindustrie
Die Nachrichtenproduktion ist nach wie vor männlich dominiert (Byerly 2014b).
Daran hat sich in den letzten Jahrzehnten wenig geändert. Sowohl in Entscheidungs-
positionen als auch in Nachrichtenredaktionen sind Frauen in der Minderheit. Die
Entwicklung zur Geschlechterparität verläuft langsam und je nach Land sehr unter-
schiedlich. (Sarikakis 2013, S. 7) Der „Global report on the status of women in the
news media“, der Daten in 59 Ländern erhob, weist nur 27 % Frauen im
Top-Management von Nachrichtenmedien und 36 % Frauen als Reporterinnen auf.
(Byerly 2011b, S. 9) Zwischen den einzelnen Mediengattungen gibt es wenig
Medienindustrie und Geschlecht: Ökonomische und machtpolitische Aspekte . . . 559
Dass Frauen in der Medienindustrie nach wie vor mit einer gläsernen Decke
konfrontiert sind, liegt vor allem an strukturellen Mechanismen, die auf gesellschaft-
licher, organisatorischer und auf individueller Ebene wirksam sind. Joan Acker
(1990) macht in ihrem Modell vier relevante Bereiche aus, die geschlechtsspezifi-
sche Organisationsstrukturen konstituieren: Geschlechtervorstellungen und Dis-
kurse in der Gesellschaft, Arbeitsteilung, Interaktionsrituale in Organisationen und
eigene Identitätsarbeit. Alltägliche Praktiken erschaffen so geschlechtsspezifische
Arbeitsbereiche und Arbeitsteilung, Einkommens- und Statusungleichheiten, eine
(Re-)Produktion kultureller Geschlechterbilder sowie eine hierarchische Einordnung
der Leistung und der eigenen Person.
Meist sind es intransparente Verfahren, wo persönliche Kontakte und Netzwerke
von Bedeutung sind, um in eine Entscheidungsposition aufzusteigen. In der Freizeit,
bei informellen und privaten Kontakten, zu denen Frauen selten Zugang haben,
werden Karrieren geplant und Personalentscheidungen getroffen und so Frauen in
ihren Karrierebestrebungen behindert (Ross und Azzalini 2017). Unter der Annahme
Medienindustrie und Geschlecht: Ökonomische und machtpolitische Aspekte . . . 561
das Arbeitsklima, sondern auch auf das Selbstbewusstsein und die Gesundheit der
belästigten Person. Anhaltende sexuelle Belästigung hindert Journalistinnen effizi-
ent davor, in Entscheidungspositionen aufzusteigen (White 2009; Melki und Mallat
2016). Online-Belästigung und sexualisierte Gewalt im Journalismus wird nun auch
von internationalen Organisationen aufgegriffen und als entscheidende Strategie zur
Verhinderung von Geschlechterparität erkannt (UNESCO 2018; OSCE Representa-
tive on Freedom of the Media 2016).
Bislang hat sich die feministische Forschung in Bezug auf Medieninhalte damit
beschäftigt, wie Geschlechterverhältnisse in den Inhalten repräsentiert werden, wie
Medieninhalte die eigene Geschlechteridentität mitkonstruieren (Ang und Hermes
1994) und welche Konsequenzen medial repräsentierte Geschlechterstereotypen für
eine Gesellschaft und deren Vorstellung von Geschlecht haben. Ökonomische
Aspekte von Medieninhalten blieben bislang weitgehend unberücksichtigt. Medien-
inhalte sind aber nicht nur Kulturgüter, sondern auch Wirtschaftsgüter. Dieser
Doppelcharakter zeichnet einen Medieninhalt somit nicht als eine Ware wie jede
andere aus. (Albarran 2004; Kiefer und Steininger 2015) Betrachtet man den öko-
nomischen Wert eines Medieninhalts globaler Medienkonzerne, so setzt sich dieser
zu rund 70 % aus den Kosten für Produktion und Rechteinhaber sowie Kosten der
Sendeanstalten zusammen und zu rund 30 % aus den Verbreitungskosten. (Boston
Consulting Group 2016, S. 33) Medienökonomische Untersuchungen beschäftigen
sich aktuell mit der Verschiebung der Kostenstruktur im Zuge des Eintritts neuer
Online-Anbieter (wie etwa Amazon) und der Frage, wie sich dadurch der Werbe-
markt zwischen öffentlich-rechtlichen, privaten und Online-Anbietern verändert.
Die feministische Forschung könnte hier neue Akzente setzen. Zu fragen wäre,
wie durch das Programmbudget der Rundfunkanbieter immer wieder Zweige-
schlechtlichkeit hergestellt wird und ob nicht in den unterschiedlichen Kosten für
Produktions- und Ausstrahlungsrechte ein Gender Bias enthalten ist. (Dorer 2002,
S. 67) Zu beobachten ist jedenfalls, dass für Sendungen wie Soaps und Serien, die
mehrheitlich von Frauen gesehen werden, die Produktionskosten niedrig sind. Das
Gleiche gilt für die Zielgruppe Kinder, wobei hier die Verbindung (Frauen und
Kinder) auf eine geschlechterstereotype Kontingenz verweist. Den sogenannten
„Frauengenres“ stehen schier unbezahlbare Sendungen wie Formel 1 oder Fußball-
übertragungen für mehrheitlich männliche Rezipienten gegenüber. Das würde
bedeuten, dass Billigproduktionen für die Zielgruppe Frauen jenen Sendungen für
die Zielgruppe Männer gegenüberstehen, deren Kosten ökonomisch und rational
nicht mehr zu begründen sind. Eine feministische Untersuchung zur Unverhältnis-
mäßigkeit der Kosten für Produktion und Übertragungsrechte steht bislang aber aus.
(Dorer 2002, S. 67–68)
Eine erste Annäherung an den vermuteten Gender Bias liefert eine Erhebung der
Boston Consulting Group (2016). Zu berücksichtigen ist, dass es eine eindeutige
Geschlechterzuordnung nicht gibt. Rezeptionsstudien zeigen aber, dass nicht-
fiktionale Sendungen eher von Männern rezipiert werden, Unterhaltungssendungen
mehrheitlich von Zuseherinnen. Der Sport hingegen gilt nach wie vor als eine
Männerdomäne. Nicht ersichtlich ist in dieser Studie der Umstand, dass die Produk-
tionskosten für verschiedene Unterhaltungssendungen stark differieren. Tab. 3 zeigt
die Unterschiede bei den Produktionskosten in Verhältnis zur Zuschauerschaft. Der
564 B. E. Kassa et al.
Sport hebt sich in der Analyse dadurch hervor, dass er 60 % des Budgets bean-
sprucht, aber nur 16 % der gesamten Zuschauerschaft erreicht. Im Gegensatz dazu
machen die Ausgaben für Unterhaltungsprogramme nur 37 % der Gesamtkosten,
aber 74 % der ZuseherInnen aus.
Dass für Fernsehanbieter die Übertragung von Sportveranstaltungen in den
Vereinigten Staaten und Europa populär ist, ist nicht neu (Cave und Crandall
2001). Rupert Murdochs Fox Broadcasting markiert 1993 einen Wendepunkt in
Bezug auf die Kosten für Fernsehrechte. Foxs aggressiver und erfolgreicher Markt-
eintritt basiert auf der Überbietung anderer Sender (LA Times 2016). Diese Super-
inflation stellte v. a. die Idee europäischer öffentlich-rechtlicher Sender in Frage, die
den Sport als Kulturgut (Taylor und Thomaß 2017, S. 117) und nicht als gewinn-
bringende Quelle sehen (Smith 2017). Damit zusammenhängend stellt sich für
feministische Forscherinnen die Frage, warum Fernsehanbieter keine Scheu vor
diesen hohen Kosten haben, und weiters, ob öffentlich-rechtliche Anbieter durch
diese Entwicklung nicht das männliche Publikum verlieren. Die hohen Produktions-
und Übertragungskosten von Sportsendungen symbolisieren Wichtigkeit und sie
produzieren damit auch die Aufwertung des männlichen Zusehers.
Die Auf- oder Abwertung von Sendungen erfolgt somit auch durch die Höhe der
Produktions- und Übertragungskosten und nicht nur durch eine inhaltliche Anrufung
eines männlichen oder weiblichen Publikums. Medienorganisationen produzieren damit
auf zweifache Weise einen Gender Bias: zum einen durch die Zielgruppensegmentation,
indem sie sogenannte Männer- und Frauengenres ausstrahlen, zum anderen auch durch
die ökonomische Wertigkeit, die sie diesen Sendungen beimessen. (Dorer 2002, S. 68)
Neben der Erhebung genaueren Zahlenmaterials könnte sich feministische For-
schung auf die Forderung nach einer Teilstrategie des Gender Mainstreaming – dem
Gender Budgeting – beziehen. Die gleichstellungspolitische Strategie des Gender
Budgeting, in der österreichischen Bundesverfassung seit 2009 für staatliche Insti-
tutionen verankert, zielt darauf ab, Einnahmen und Ausgaben auf Geschlechterge-
Medienindustrie und Geschlecht: Ökonomische und machtpolitische Aspekte . . . 565
fängnisstrafen verurteilt, und Frauen mit Vergiftungen infolge ihrer Arbeit werden
mangelhaft oder gar nicht medizinisch versorgt. Damit Arbeiterinnen von ihren
(wenigen zugesicherten) Rechten keinen Gebrauch machen können, gibt es eine
ständige Rotation der Belegschaft. Das System funktioniert folgendermaßen: Nach
zwei bis drei Monaten schließen 150–200 Auszubildende ihre Ausbildung ab und
müssen die Fabrik verlassen, um Platz für die nächsten Einsteigerinnen zu schaffen.
Die ständige Rotation ermöglicht dem Unternehmen und seinen Tochtergesellschaf-
ten oder Outsourcing-Partnern steigende Gewinne auf Kosten der Arbeiterinnen und
verhindert die Möglichkeit der Selbstorganisation in Form von Gewerkschaften.
(Pratap 2013)
Die letzte Etappe der IT-Industrie wird in den Müllbergen von Elektronik-Schrott
in Teilen Afrikas, in Zentralasien, der Karibik und in Ozeanien sichtbar. Hier wird
ein Großteil der Mobiltelefone und Computer aus dem sogenannten Westen meist
illegal oder als „Spende“ entsorgt. (Baldé et al. 2017, S. 49) Von Buben und jungen
Männern werden ohne jeglichen Schutz wiederverwendbare Elemente aussortiert,
um sie zu verkaufen. Die giftigen Dämpfe, die bei der Trennung von Kunststoff und
verwertbaren Mineralien freigesetzt werden, beeinträchtigen nicht nur die Gesund-
heit, sondern reduzieren erheblich die Lebenserwartung. Mit dem Ausblenden dieser
geschlechtlich kodierten postkolonialen Praxen in der Hardware-Produktion und
-Verwertung erfolgt nicht nur eine Reduktion ökonomischer Prozesse auf einzelne
Medienunternehmen bzw. Medienkonglomerate, sondern auch eine unvollständige
Betrachtung der geschlechtlich segregierten Medienindustrie.
7 Fazit
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570 B. E. Kassa et al.
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572
2 Status Quo: Die Unterrepräsentanz in Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573
3 Erklärungsansätze für die Unterrepräsentanz: Argumente der Branche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576
4 Weibliche oder männliche Sichtweisen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579
5 Gründe für die Unterrepräsentanz von Frauen: Genderspezifische Barrieren . . . . . . . . . . . . . 580
6 Fazit: Erste Schritte für den Wandel in der Branche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582
Zusammenfassung
Die Film- und Fernsehindustrie ist geprägt durch branchenkulturelle Rahmenbe-
dingungen und Barrieren, die auf sämtlichen Ebenen geschlechtsspezifisch wir-
ken. Verschiedene Studien verweisen ausführlich darauf, dass Frauen in fast allen
künstlerischen Positionen in Film- und Fernsehproduktion unterrepräsentiert
sind: sei es als Regisseurin, Produzentin, Drehbuchautorin oder als Schauspiele-
rin. Die Film- und Fernsehindustrie lässt sich also durch einen starken gender
bias charakterisieren, durch den Frauen in allen Bereichen strukturell benachtei-
ligt werden; somit kann man von einer als männlich konstruierten Industrie
sprechen. Allerdings gibt es gerade in den letzten Jahren Initiativen auf nationa-
ler, aber auch auf EU-Ebene dieser Problematik entgegen zu steuern.
E. Prommer (*)
Universität Rostock, Rostock, Deutschland
E-Mail: elizabeth.prommer@uni-rostock.de
S. Loist
Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, Potsdam, Deutschland
E-Mail: s.loist@filmuniversitaet.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 571
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_28
572 E. Prommer und S. Loist
Schlüsselwörter
Produktionskultur · Filmindustrie · Gender bias · Geschlechtergerechter
Zugang · Film · Gender · Ungleichheit · Pro Quote Film · Filmförderung
1 Einleitung
1
Teile dieses Beitrages wurden in Loist 2018 publiziert.
Filmindustrie: Branchenkultur mit Gender Bias 573
Wie viele Frauen und Männer arbeiten in der Filmbranche, in welchen Gewerken
und in welchen Positionen? Um diese Frage zu beantworten, sind jüngst in Deutsch-
land, Österreich und der Schweiz – aber auch bei den europäischen Nachbarn – unter
Beteiligung der jeweiligen Filminstitute oder Förderinstitutionen aktuelle Studien
entstanden (Hochfeld et al. 2017; Prommer et al. 2017a; Flicker und Vogelmann
2018; Häberlin et al. 2015; Aylett 2016; Follows und Kreager 2016). Auch in den
USA gibt es eine Reihe regelmäßig erscheinender Studien, die Zahlen zu Gender
und Diversität vor und hinter der Kamera von Hollywood-Produktionen erheben
(Hunt et al. 2018; Lauzen 2018a; Smith et al. 2018). Im Vergleich wird deutlich, dass
die Genderungerechtigkeit in der Branche nicht auf nationale Produktionskontexte
beschränkt ist, sondern sich systematisch durch die gesamte internationale Filmin-
dustrie zieht.
Die Zahlen werden vor allem für die wichtigsten kreativen Stabspositionen
erhoben. Hier sind in allen Bereichen (Spielfilm, Dokumentarfilm, Animation,
Fernsehen, Kinderfernsehen) deutlich mehr Männer in kreativen Leitungsfunktionen
tätig, obwohl in den meisten Ländern die Anteile in der Ausbildung fast paritätisch
sind (Aylett 2016). Die Zahlen beziehen sich meist auf die sogenannten Above-the-
Line-Positionen. Unter diese fallen Positionen und Gewerke in der Filmproduktion,
die im Vorspann eines Filmes genannt werden, also Produktion, Regie, Drehbuch
und Kamera. Dies sind in der Regel auch die Positionen, die in der Entwicklungs-
phase der Filmprojekte bereits feststehen und die in der Diskussion um kreative
Teams für Fördermechanismen und Daten-Monitoring relevant sind (Flicker und
Vogelmann 2018, S. 37). Diese Schlüsselpositionen haben auch den größten Einfluss
auf die weitere Vergabe von Teampositionen und entscheiden über die Diversität der
Figuren und der Besetzung. Im Gegenzug und mit der Tendenz zur geringeren
Wertschätzung wird von Below-the-Line-Positionen gesprochen, also oft hierar-
chisch tiefer angesiedelten Positionen am Set, in denen meist weibliche Assistentin-
nen beschäftigt sind, wie die Continuity, die Regie-Assistenz oder die Caster*innen
im Bereich Kinofilm oder Reality-TV (Grindstaff 2015). So bestätigt auch die
aktuelle österreichische Erhebung für die Filmindustrie diese vertikale Segmenta-
tion: je weiter unten eine Stabsstelle in der Hierarchie angesiedelt ist, desto mehr
Frauen arbeiten in diesem Bereich (Flicker und Vogelmann 2018, S. 15).
Betrachtet man die Anteile von Frauen in den jeweiligen Gewerken, die die
verschiedenen Studien für einzelne Länder ausweisen, dann gibt es selbst innerhalb
von Europa deutliche Unterschiede. Den geringsten Anteil an weiblichen Regiefüh-
574 E. Prommer und S. Loist
Europa (2006–2013) 18
A (2012–2016) 26
CH (2013–2014) 24
D (2011–2015) 23
F (2008–2012) 21
GB (2006–2013) 14
I (2006–2013) 11
S (2017) 40
USA (2018) 8
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45
Abb. 1 Regie: Anteil von Frauen in % im Ländervergleich. (Quellen: Lauzen 2019, S. 26;
Hochfeld et al. 2017, S. 14; Follows und Kreager 2016, S. 27; Aylett 2016, S. 51; Flicker und
Vogelmann 2018, S. 15; Häberlin et al. 2015, S. 15; Swedish Film Institute 2017, S. 6)
renden, der je nach Jahr zwischen 2 und 8 % liegt, gibt es in den USA (siehe Abb. 1).
In Europa liegt der Frauenanteil bei der Regie bei durchschnittlich 18 %, im
Einzelnen bei 11 % in Italien, 24 % in der Schweiz, 14 % in Großbritannien, 21 %
in Frankreich, 23 % in Deutschland und 26 % in Österreich (Hochfeld et al. 2017,
S. 14; Aylett 2016, S. 149; Flicker und Vogelmann 2018, S. 15; Häberlin et al. 2015,
S. 15). Auch in den skandinavischen Ländern liegt der Frauenanteil bei der Regie bei
ca. 15 % (Edström und Mølster 2014) – mit einer Ausnahme: In Schweden liegt der
aktuelle Anteil von Regisseurinnen bei 40 % (Swedish Filminstitut 2017, S. 6).
Für die unterschiedlichen Gewerke liegen nicht für alle Länder vergleichbare
Daten vor (siehe Abb. 2). In der Funktion einer Produzent*in waren in Deutschland
bei 42 % der Filme Frauen beteiligt, aber nur 14 % wurden von Frauen allein
produziert. Im Bereich Drehbuch bewegt sich der Anteil von Frauen in Deutschland
um die 23 %. In den anderen Gewerken der deutschen Filmproduktion gibt es relativ
ausgewogene Positionen (Szenografie), solche mit starker Überrepräsentanz von
Männern (Ton und Kamera um die 90 %, Schnitt 70 %) oder von Frauen (Kostüm
mit 80 %) (Hochfeld et al. 2017, S. 14). Für Österreich zeigt sich eine ähnliche
Verteilung in den kreativen Schlüsselpositionen: Der Anteil der Produzentinnen liegt
bei 16 % und bei Drehbuchautorinnen bei 29 %. Deutlich wird hier auch ein Gender
Pay Gap, so liegt in fast jeder Stabsposition der Anteil der Honorare von Frauen
unter dem Frauenanteil (Flicker und Vogelmann 2018, S. 15). In Großbritannien
Filmindustrie: Branchenkultur mit Gender Bias 575
90
80
Kostüm 79
46
42
Szenografie 31
57
30
Schnitt 15
21
29
23
Drehbuch 15
16
35
16
14
Produktion 26
26
32
12
10
Kamera 6
4
5
4
Ton
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Morgenröte) und Nicolette Krebitz (Wild ), häufig als das ‚Jahr der Regisseurinnen‘
bezeichnet, zeigt der aktuelle deutsche Diversitätsbericht einen Regisseurinnen-
Anteil von lediglich 22 % (BVR 2017, S. 6) und damit keine signifikante Ver-
änderung für den Bereich Regie seit 2009. Auch für die Bereiche Drehbuch (68 %
ausschließlich von Männern verfasst) und Produktion (58 % ausschließlich von
Männern produziert) gibt es keinen Anstieg der Frauenanteile (Prommer 2018).
Im Rahmen von unzähligen Debatten taucht hartnäckig eine Reihe von teils wider-
sprüchlichen Argumenten auf, warum Frauen in kreativen Führungspositionen un-
terrepräsentiert sind. Das Schwedische Filminstitut hat die Argumente der Branche,
sich für die Unterrepräsentanz von Frauen in den kreativen Stabsstellen zu entschul-
digen, pointiert zusammengefasst. Es gäbe erstens nicht genug kompetente Frauen,
zweitens hätten diese nicht genug Erfahrung und würden drittens gar nicht Regie
führen wollen. Viertens würde eine mögliche Quote zu geringer Qualität der Filme
führen, und die Industrie, die ja wüsste, was gut für die Branche ist, und genderblind
sei, da es ja nur um Qualität gehe, würde keinen Wechsel brauchen (Swedish Film
Institute 2017, S. 18). Im Folgenden wird auf diese Argumente eingegangen und
gezeigt, dass gender bias jeweils eine entscheidende Rolle spielt.
Häufig wird darauf verwiesen, dass es einfach „keine guten Frauen“ als Regisseu-
rinnen gäbe. Verfügbare Absolvierendenzahlen von Filmhochschulen legen dabei
nahe, dass ein großes Potenzial weiblicher Filmschaffender vorhanden ist, das aber
nicht in der Branche ankommt (Jenke 2013, 2015; Slansky 2011; Aylett 2016). In
Deutschland sind durchschnittlich 40 % der Filmhochschul-Alumni Frauen. In
Studiengängen wie Regie, Schnitt/Montage, Produktion und Drehbuch ist knapp
die Hälfte der Studierenden weiblich. In Szenografie studieren überwiegend Frauen,
nur im Bereich Ton und Sound-Design (fast 90 %) und Cinematography (75 %)
studieren überwiegend Männer (Hochfeld et al. 2017, S. 26). Das Gleiche gilt für
Österreich, an deren Filmakademie über 40 % der Studierenden Frauen sind (Flicker
und Vogelmann 2018, S. 33). Der Vergleich des Potenzials von Frauen, das heißt der
Anzahl der Absolventinnen von Filmhochschulen vor 15–20 Jahren, und der aktuell
tatsächlich in den jeweiligen Positionen im Kino- und Fernsehbereich tätigen Frauen
zeigt Folgendes: In den Bereichen Regie, Drehbuch und Szenografie arbeitet nur die
Hälfte der Frauen, die es potenziell könnten, in der Produktion ist es ein Viertel.
Lediglich im Bereich Ton stimmt das Potenzial mit der Anzahl von im Markt tätigen
Frauen überein. Auffällig sind die Differenzen im Bereich Schnitt/Montage. In
diesem Bereich haben vor 15–20 Jahren überwiegend Frauen studiert, jetzt werden
Filmindustrie: Branchenkultur mit Gender Bias 577
jedoch nur ein Fünftel aller Filme von Frauen geschnitten und montiert, somit
kommt nur ein Viertel des Potenzials zum Zuge.
Die Studie Cut Out of the Picture des britischen Regieverbands Directors UK
zeigt ebenfalls klare Unterschiede bei der Karriereentwicklung. Während nach dem
zweiten Film noch fast zu gleichen Teilen Männer und Frauen Filme machen, wird
es für Frauen nach dem dritten und vierten Film ungleich schwerer als für ihre
männlichen Kollegen. Stephen Follows und Alexis Kreager (2016) zeigen auch, dass
bei steigendem Filmbudget der Frauenanteil sinkt und damit die Karriereentwick-
lung für Frauen eindeutig erschwert ist. Andere internationale Studien bestätigen
diese Effekte: Sowohl für die erfolgreichsten amerikanischen Filme einer Dekade
(2007–2017) als auch für die französische Produktionslandschaft (2006–2016) gilt,
dass Männer mehr Projekte realisieren konnten als Frauen (Smith et al. 2015, 2018;
La Deuxième Regard 2018).
Eine weitere Verschärfung der Situation entsteht aus der Tatsache, dass Erfahrung
und Einkommen sich ebenfalls bedingen. Der massive Gender Pay Gap, das
geschlechtsspezifische Lohngefälle, im Film- und Fernsehbereich ist auch an diese
Parameter gekoppelt. Für Deutschland hat Jörg Langer (2016, S. 38) ein geschlechts-
spezifisches Lohngefälle von durchschnittlich 25 % festgestellt. Fehlende Chancen
und die deutlich schlechtere Bezahlung führen fast logischerweise dazu, dass Frauen
ihre erlernten Berufe verlassen und in andere, möglicherweise branchennahe, Posi-
tionen ausweichen.
Ein Argument gegen Frauen ist Qualität, die einerseits als kommerzieller Erfolg oder
künstlerischer Erfolg gesehen werden kann. Als kommerzielle Qualität würden dann
Einspielergebnisse und Box-Office-Umsätze zählen. Filme von Frauen haben
gegenüber Filmen mit männlicher Regie durchschnittlich geringere Besucher*in-
nenzahlen und spielen somit auch geringere Umsätze an der Kinokasse ein (Prom-
mer und Loist 2015, S. 13–14; Diening et al. 2017; Hochfeld et al. 2017, S. 17;
Follows und Kreager 2016, S. 116). Auf den ersten Blick spricht das für einen
geringeren kommerziellen Erfolg der Filme von Frauen. Der zweite Blick zeigt
allerdings, dass Frauen in der Filmproduktion in allen Bereichen strukturell benach-
teiligt sind. Dies beginnt bei der mangelnden Finanzierung der Stoffentwicklung im
Bereich Drehbuch, zieht sich durch die Produktionsstufen von Finanzierung bis zur
Umsetzung durch die Gewerke und ist auch im Vertrieb sichtbar.
Die durchschnittliche Förderung von Filmprojekten mit weiblicher Regie ist in
Europa in allen Ländern geringer als jene für Regisseure (Aylett 2016, S. 39–40). In
Deutschland erhalten Frauen für ihre Projekte nur zwei Drittel der Summe, die Filme
mit männlicher Regie erhalten (Prommer und Loist 2015, S. 1; Diening et al. 2017).
Die geringe Förderung geht oft mit einem geringeren Filmbudget einher. Eine Frau
bekommt nur gut die Hälfte der Mittel je Produktion (56 %). Filme mit sehr hohen
Budgets werden fast ausschließlich von Männern in der Regie gemacht (Prommer
578 E. Prommer und S. Loist
und Loist 2015, S. 11–12). Diese ungleiche Verteilung der Fördermittel gilt auch für
Österreich und die Schweiz (Flicker und Vogelmann 2018; Häberlin et al. 2015).
Neben der geringen Filmförderung, die einem Projekt mit einer Regisseurin
zukommt, hat diese damit auch ein geringes Gesamtbudget zur Verfügung (BVR
2017, S. 11). Dieses insgesamt niedrigere Budget führt offensichtlich zu einem vom
Verleiher antizipierten geringeren kommerziellen Potenzial, da Filme von Regisseu-
rinnen mit einer geringeren Kopienzahl starten. Die kleinere Kopienzahl führt zu
einem niedrigeren Einspielergebnis dieser Filme. Im Independentfilm-Bereich wer-
den Filme von Regisseurinnen oft von kleineren Verleihern gekauft und mit wenig
Kopien gestartet (Child 2015). Diese Fakten führen dazu, dass Filme von Frauen
wenig sichtbar sind. Die globale Filmauswertung zeigt, dass 2013–2015 nur 3 %
aller Kinoaufführungen Filme von Frauen betrafen, obwohl sie für 15 % der
gestarteten neuen Filme standen (Verhoeven und Coate 2018). Die Sichtbarkeit der
Filme von Regisseurinnen wird außerdem durch fehlende oder negative Kritiken
beeinträchtigt. Auch der Bereich der Filmkritik wird von Männern dominiert. Männ-
liche Kritiker schreiben erstens seltener über Filme von Frauen, und zweitens
bewerten sie diese häufig schlechter als weibliche Kritiker (Lauzen 2018b; Diening
et al. 2017).
Die durchschnittlich höheren Besucher*innenzahlen bei von Männern inszenier-
ten Filmen in Deutschland liegt an einigen wenigen sehr erfolgreichen „Ausnahme-
filmen“, wie Der Medicus (2013), Fack ju Göthe (2013), Männerherzen (2009) oder
Kokowääh (2011). Diese Filme führen zu einer Verzerrung der Unterschiede. Nimmt
man diese Filme, die in dem Fünfjahres-Zeitraum von 2009–2013 lediglich fünf
Prozent aller Filme ausmachen, bei der Durchschnittsberechnung heraus, so unter-
scheiden sich Filme, die von Frauen oder von Männern inszeniert wurden, nur
geringfügig bei den absoluten Besucher*innenzahlen (Prommer und Loist 2015,
S. 13–14).
Wenn jedoch eine Frau Regie führt oder produziert, geht sie effizienter mit ihren
Fördermitteln um. Ein Mann braucht in der jeweiligen Position mehr als das
Dreifache der Fördermittel, um eine*n Besucher*in ins Kino zu locken. Fasst man
die deutschen Fördersummen zusammen, so wird eine verkaufte Kinokarte eines
männlichen Regisseurs mit fast 41 Euro über Filmförderung subventioniert und die
verkaufte Kinokarte für einen Film einer Regisseurin mit nur 13 Euro. Auch
Produzentinnen benötigen weniger Filmförderung, um eine*n Kinobesucher*in zu
generieren (17 Euro eine Produzentin vs. 42 Euro ein Produzent) (Prommer 2018,
S. 4).
Die genaue Analyse zeigt also, dass der gender bias der Branche sich durch alle
Ebenen zieht und auch die Definition kommerzieller Qualität beeinflusst.
Definiert man Erfolg hingegen als künstlerischen Erfolg, dann müssen Filmpreise
bzw. die Nominierung für Preise sowie die Teilnahme an Filmfestivals betrachtet
Filmindustrie: Branchenkultur mit Gender Bias 579
werden. Hier sind von Frauen inszenierte Filme erfolgreicher, indem sie häufiger
Filmpreise gewinnen.
Die Studie Wer dreht deutsche Kinofilme? zeigt, dass 58 % der deutschen Filme
2009–2013 mit weiblicher, aber nur 46 % derer mit männlicher Regie Preise
gewannen. Zudem waren Filme von Regisseurinnen auch häufiger auf Filmfestivals
zu sehen (durchschnittlich 3,3 Festivals pro Film mit weiblicher und 2,7 Festivals
mit männlicher Regie) und haben einen längeren Festivallauf (Prommer und Loist
2015, S. 15–17). Auch im europaweiten Vergleich nehmen Filme von Regisseurin-
nen häufiger an nationalen und internationalen Festivals teil und gewinnen mehr
Filmpreise (Aylett 2016, S. 58–61). Diese Ergebnisse lassen jedoch nicht den
Umkehrschluss zu, dass die Programmgestaltung der Festivals paritätisch Filme
von Regisseur*innen zeigt. Weil es zahlenmäßig viel weniger Filme von Regisseu-
rinnen gibt, die ja nur bei ca. 20 % der Filme Regie führen, sind diese trotzdem bei
den von der Branche als A-Festivals bezeichneten Events wie Berlinale, Cannes,
Venedig, Toronto unterrepräsentiert (Smith et al. 2014; Hannemann 2016; Krainhö-
fer und Schreiber 2016). Eindrücklich zeigten dies die 82 Frauen, die sich im Jahr
2018 auf den Stufen des Filmfestivals in Cannes präsentierten, um zu zeigen, dass in
72 Jahren 1688 Regisseure im Festival ihre Filme zeigten und nur 82 Frauen
(5050X2020 2018). Das ist ein Fakt, der seit Jahren auf einflussreichen Festivals
wie Cannes und Venedig diskutiert wird (La Barbe 2012; Lauzen 2016; Vivarelli
2018a) und sich langsam in Selbstverpflichtungen niederschlägt (Vivarelli 2018b).
Filme von Frauen sind somit bei Jurys und Festivalgestalter*innen angesehener.
Das vielgeäußerte Argument der rein qualitativen Selektion von Filmstoffen und
Besetzung von kreativen Positionen, auf die Frage, warum Frauen nicht zum Zuge
kommen, muss angesichts dieser Ergebnisse also klar mit dem gender bias beant-
wortet werden.
Es lohnt sich auch ein Blick auf die Verknüpfung von Produktionsbedingungen
hinter der Kamera mit dem, was vor der Kamera bzw. auf der Leinwand passiert. In
Österreich, Deutschland und Großbritannien haben Studien jeweils gezeigt, dass bei
Produktionen, in denen mehr Frauen kreative Leitungspositionen besetzen, auch
mehr weibliche Protagonist*innen vorkommen (Flicker und Vogelmann 2018,
S. 18–21; Prommer und Linke 2017; Follows und Kreager 2016, S. 33). Das ist
signifikant in Bezug auf aktuelle Erhebungen, die zeigen, dass nur ein Drittel aller
Filmrollen in Hollywood oder der Protagonist*innen im deutschen Fernsehen weib-
lich sind. Für das Kinderfernsehen sieht es mit einem Verhältnis von 1 : 3 sogar noch
deutlich schlechter aus (Prommer et al. 2017b). Männer, die Regie, Kamera, Pro-
duktion und Drehbuch in ihrer Hand haben, lassen uns weniger Frauen auf Lein-
wand oder Bildschirm sehen. Umgekehrt werden mehr Frauen sichtbar, je mehr
Frauen die Positionen Regie, Drehbuch oder Produktion besetzen. Das gilt für das
Kino und – noch ausgeprägter – für das Fernsehen. Eine weibliche Redakteurin
besetzt fast dreimal so viele weibliche Protagonistinnen wie ein männlicher Redak-
580 E. Prommer und S. Loist
teur. Sind Drehbuch und Produktion von Frauen besetzt, dann werden ebenfalls
signifikant mehr weibliche Protagonistinnen sichtbar. Das heißt, je mehr Frauen
hinter der Kamera in Leitungsfunktionen agieren, desto mehr Frauen sehen wir auf
der Leinwand als Protagonistinnen.
Hinzu kommt der Fakt, dass Frauen in Above-the-line-Positionen weitere Frauen
in andere kreative Schlüsselpositionen holen. Produzentinnen arbeiten doppelt so oft
mit einer Regisseurin, mehr als doppelt so oft mit einer Autorin und auch deutlich
häufiger mit Szenografinnen zusammen. Regisseurinnen arbeiten öfter mit Dreh-
buchautorinnen und Kamerafrauen zusammen (Hochfeld et al. 2017, S. 19 und
S. 44). Der Österreichische Film Gender Report und der britische Bericht der
Directors UK stellte einen generellen Anstieg von Frauen in anderen Stabstellen
fest, wenn eine Frau Regie führt. Frauen sind also nicht das Problem im Netzwerk
(Flicker und Vogelmann 2018, S. 21; Follows und Kreager 2016, S. 32–33).
auch für die öffentliche Filmförderung (31 %) eine Frau in der Regie negativ
betrachtet würde (Aylett 2016).
Das bedeutet, dass Erfolge von Frauen anders bewertet werden. Aufgrund des
oben beschriebenen, beharrlich anzutreffenden unconscious bias werden Frauen –
trotz erfolgreicher früherer Produktionen – nicht wahrgenommen und oftmals Män-
ner bevorzugt. Zusätzlich zu dieser Benachteiligung verlieren Frauen Zeit und
Energie, weil sie sich ständig bewähren und konstant Strategien entwickeln müssen,
wie sie strategisch mit dem bias umgehen (Hochfeld et al. 2017, S. 36–37).
Die skizzierten Studien der letzten Jahre belegen deutlich, dass alle Bereiche der
Film- und Fernsehbranche von diskriminierenden Strukturen durchzogen sind. Dies
beginnt bei der Stoffentwicklung im Bereich Drehbuch, zieht sich durch die Pro-
duktionsstufen von Finanzierung bis zur Umsetzung durch die Gewerke und ist auch
im Vertrieb sichtbar. Dies hat einerseits mit einem gender bias in der Wahrnehmung
des Arbeitskontexts zu tun, und andererseits mit einem gendering der Produktions-
kulturen, d. h., wie bestimmte Gewerke und Positionen im kreativen Prozess bzw. in
der Kreativbranche durch Geschlecht konstruiert werden (Banks 2009, S. 87). Wir
können von einer gegenderten, männlich-konstruierten Industrie sprechen, da
Frauen in allen Bereichen strukturell benachteiligt werden. Für eine Branche, die
sich selbst als künstlerisch und kreativ bezeichnet, sind die vorherrschenden Stereo-
type erschreckend traditionell und wenig fortschrittlich.
Bisher gibt es für Deutschland keine film- und fernsehindustriespezifischen
Gleichstellungspläne (außer in den öffentlich-rechtlichen Sendern beim festange-
stellten Personal), die versuchen, die strukturellen Barrieren aufzubrechen. Die
Förderchefin der deutschen Filmförderungsanstalt (FFA), Christine Berg, ist gegen
eine Quote, meint aber immerhin: „aber man kann verlangen, dass es Frauen
genauso schwer oder leicht haben wie Männer“ (zitiert nach Diening et al. 2017).
Im Vergleich ist die Förderchefin des Schwedischen Filminstituts, Anna Serner,
mit dem „schwedischen Weg“ und der Strategie konkreter Zielvorgaben von min-
destens 40 % geförderter Projekte von Frauen viel klarer in ihrem Bestreben, Gen-
dergerechtigkeit in der Branche herzustellen (Serner 2017). Dabei zeigt das Beispiel
Schweden, dass auch ohne gesetzliche Quote eine 50 %ige Beteiligung von Frauen
an Kinofilmen erreicht werden kann (Swedish Film Institute 2018). Notwendig ist
jedoch der politische Wille, durch Zielvorgaben, Einforderung von Personalent-
scheidungen und Sichtbarmachen von Frauen als Regisseurinnen und Produzentin-
nen einen Wandel zu fördern.
Anders geht die europäische Co-Produktionsförderung Eurimage vor, die durch
ein Bonuspunkte-System die Gleichstellung fördert. Bei Eurimage wird nicht nur die
Regie betrachtet, sondern auch der Inhalt der Filme (Castro Martinez 2016). Zusätz-
lich fördert Eurimage auch die Produzentinnen, da diese vermehrt mit Regisseurin-
nen und Drehbuchautorinnen zusammenarbeiten und so auch mehr Frauen auf der
Leinwand sichtbar werden. Auch das Österreichische Filminstitut hat 2016 ein
582 E. Prommer und S. Loist
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Queere Filmkultur: Produktionsformen
und Infrastruktur
Skadi Loist
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585
2 Zentrale Konzepte und Debatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587
3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591
Zusammenfassung
Zu einer queeren Filmkultur gehört mehr als nur die Bestimmung, was „queerer
Film“ ist. Zu einem Queer Cinema gehören immer seine spezifischen Produkti-
ons-, Vertriebs-, Rezeptions- und Diskurskontexte. In einer kulturwissenschaftli-
chen Betrachtung queerer Filmkultur werden Filme als soziale Praxis beleuchtet.
Das umfasst ihre programmliche Einbettung, die Orte, in denen sie gesehen
werden, die Diskurs- und Diskussionsräume wie Kinos, Filmclubs oder Film-
festivals. So kommen auch persönliche und institutionelle Netzwerke von Film-
und Kinokultur in den Blick.
Schlüsselwörter
Queere Filmkultur · New Queer Cinema · Queere Filmfestivals · #Actout ·
Produktionskultur
S. Loist (*)
Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, Potsdam, Deutschland
E-Mail: s.loist@filmuniversitaet.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 585
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_62
586 S. Loist
1 Einleitung
Zur Realisation einer queeren Filmkultur gehört mehr als nur die Bestimmung, was
„queerer Film“ ist. Zu einem Queer Cinema gehören immer seine spezifischen
Produktions-, Vertriebs-, Rezeptions- und Diskurskontexte. Für einen Überblick
aus textuell orientierter filmwissenschaftlicher Perspektive, in der eine affirmative
LGBT-Filmgeschichte und die Definition von Queer Cinema anhand von Narrativen
wie dem Coming-out, Repräsentation von LGBT-Figuren oder queeren Regisseur:
innen gezeichnet wird, sei auf die Vielzahl bestehender Texte verwiesen (u. a. Russo
1987; Dyer 1977; Dyer und Pidduck 2003; Benshoff und Griffin 2004, 2006; von
Diepenbroick und Loist 2009; Mennel 2012; Deuber-Mankowsky 2016; Brunow
und Dickel 2018; Frankenberg 2021). Auch zum Verhältnis von Queer Theory und
Filmtheorie bzw. zu einer queeren Perspektivierung von Film- und Medienwissen-
schaft mit Stichworten wie Blick/Gaze, Auteur, Genre, Performativität, Intersek-
tionalität und Affekt wurden bereits verschiedene Überblicksartikel verfasst (Tedja-
sukmana 2016; Loist 2018a; Köppert 2019).
Der Beitrag stützt sich in der Betrachtung queerer Filmkultur auf Ansätze der
britischen Cultural Studies und versteht Film als soziale Praxis (Turner 2006). Damit
einher geht eine individuelle Mediennutzung und komplexe Aneignung von Me-
dientexten (Lesarten) (Hall 2004), die im Feld queerer Kultur eine eigene Form des
Queer Readings hervorgebracht hat (Doty 1993). Ein zentraler Aspekt der Cultural
Studies ist die kulturelle Einbettung von Medien- und Bedeutungsproduktion im
„circuit of culture“ (du Gay 1997). In diesem Modell des Doing Cultural Studies
beschreiben Paul du Gay, Stuart Hall und Kolleg:innen, dass die Bereiche Reprä-
sentation, Identität, Produktion, Konsum und Regulation integrale Bestandteile für
die Entstehung von Bedeutung kultureller Produkte sind, die nicht unabhängig
voneinander analysiert und gedacht werden können (du Gay et al. 1997, S. 3–4).
Mit dieser Perspektive ist für die queere Filmkultur ein weit gespanntes Netz aus
Filmproduktions- und Distributionskontexten relevant. Es geht ebenso um die Filme
wie um ihre programmliche Einbettung, die Orte, an denen sie gesehen werden,
sowie die Diskurs- und Diskussionsräume wie Kinos, Filmclubs oder Filmfestivals.
So kommen auch persönliche und institutionelle Netzwerke von Film- und Kino-
kultur in den Blick.
Hier eröffnen sich weitere Anschlüsse an verschiedene Felder der Film- und
Medienwissenschaften. Zum einen ist das die Verbindung zur New Cinema History,
die eine Kinogeschichtsschreibung anhand einer Geschichte der Kinobesuche
schreiben will anstatt auf Texte und Ästhetik zu setzen (Petrychyn 2020). Die Film
Festival Studies liefern einen Beitrag zur Kontextualisierung von queerer Filmkultur,
indem sie beschreiben, wie queere Filmfestivals performativ durch ihre Filmauswahl
ein Queer Cinema mitdefinieren, gegenöffentliche Diskurs-, Aushandlungs- und
Begegnungsorte herstellen und auch in größere Medienindustrie-Kontexte einge-
bunden sind (Loist 2015, 2018b; Damiens 2020). Auch die Media Industry Studies
und Production Studies stellen einen Ansatz bereit, der sich die Verknüpfung von
Repräsentation, Produktion und Vertrieb von Film und auch Queer Cinema anschaut
(Herbert et al. 2020; Ng 2021).
Queere Filmkultur: Produktionsformen und Infrastruktur 587
Einer den Cultural Studies verpflichteten Perspektive folgend wird das (New) Queer
Cinema im politischen queeren Projekt verortet, wobei die Entwicklung einer
queeren Filmkultur eng mit dem Aufbau einer entsprechenden Festival-Infrastruktur
und der Entwicklung einer eigenen kollektiven Produktionskultur verwoben ist.
Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre wurde eine neue Art des Geschichten-
erzählens mit einer queeren Haltung sichtbar, die Filmkritikerin B. Ruby Rich 1992
mit dem Begriff New Queer Cinema beschrieben hat (Rich 1992, 2013). Dabei ging
es ihr darum, Filme hervorzuheben, die mit einer Selbstverständlichkeit queere
Geschichten erzählen, ohne dabei (abweichende) Gender oder Sexualität zu ent-
schuldigen, um Toleranz zu bitten oder einem heteronormativen Mehrheitspublikum
zu erklären (Aaron 2004). Es sind Filme, die im Kontext der Zeit stehen, in dem das
Schimpfwort „queer“ zurückerobert und als Selbstbezeichnung und politisches Pro-
jekt positiv aufgeladen wird. „Queer“ bedeutet hier mehr als schwul-lesbisch, es geht
um fluide Identitäten – jenseits von eindeutigen oder gar binären Kategorien wie
Mann/Frau und homo/hetero. Dies schließt auch Solidarität zwischen marginalisier-
ten Gruppen und eine antirassistische und antikapitalistische Haltung ein, die im
Kontext des AIDS-Aktivismus steht (Woltersdorff 2003; Genschel et al. 2001).
Dieses neue queere Kino entsteht in einer Zeit der Politisierung des AIDS-
Aktivismus im Umkreis von ACT UP und Queer Nation in den USA und Groß-
britannien. Gleichzeitig entsteht es in einer Zeit, in der sich eine gewisse Infrastruk-
tur für queere Filmkultur bildet. Produktionstechnisch ist dies die Zeit, in der
Independent-Film technisch mit der Verbreitung von Video breiter zugänglich wird
– durch Videokameras, aber auch durch den Vertrieb von Videokassetten. Schon
Mitte der 1980er-Jahre ist eine kleine Gay New Wave mit Filmen wie Mala Noche
(Gus Van Sant, USA 1985), Desert Hearts (Donna Deitch, USA 1986), My Beautiful
Laundrette (UK 1985) sichtbar. Darüber hinaus differenziert sich Independent- und
Arthouse-Film weiter aus, und innerhalb verschiedener Nischenmärkte entsteht auch
ein queerer Zielgruppenmarkt. Es bilden sich erste thematisch spezialisierte Ver-
leiher wie Wolfe Video, Strand Releasing oder TLA in USA, Peccadillo in Groß-
britannien und Edition Salzgeber und später Pro Fun in Deutschland.
Filmfestivals sind essentielle Orte für Filmkultur, für Kino als soziale Formation.
Filmfestivals sind Schaufenster für Innovationen und liefern mit ihrer Filmauswahl
bestimmte Einblicke in das Filmgeschehen. Mit ihrem kuratorischen Programm
stellen sie Zusammenhänge her, kontextualisieren Themen, Ästhetik sowie Film-
schaffende und stellen einen Diskursraum bereit. Schwul-lesbische Filmfestivals
588 S. Loist
gibt es als wiederkehrende Events und Institutionen seit Ende der 1970er-/Anfang
der 1980er-Jahre zuerst in Nordamerika und Westeuropa. Beeinflusst von gesell-
schaftlichen Verhältnissen oder (juristischen) Repressalien in Bezug auf (Homo)
Sexualität und Genderidentität, oft in Verbindung mit lokalen und regionalen ak-
tivistischen Bewegungen, entstehen in den folgenden Jahrzehnten LGBT/queere
Filmfestivals fast überall auf der Welt (Loist 2013; Dawson und Loist 2018).
Filmfestivals sind als Begegnungsräume, wo Film, Filmschaffende und Publikum
aufeinandertreffen, wichtige Orte für Filmkultur. Queere Filmfestivals sind darüber
hinaus Orte, an denen eine Community sichtbar wird und wo queere Filmkultur
performativ entsteht: als reale Orte, wo queere Personen zusammenkommen, aber
auch als diskursiver Ort und damit eine Form der Gegen- oder Interventionsöffent-
lichkeit, wo aktive Aushandlungsprozesse stattfinden, z. B. darüber, was im jewei-
ligen historischen und lokalen Kontext queer bedeutet (Ommert und Loist 2008).
Die Filmauswahl bestimmt dabei performativ, was als Queer Cinema gilt, und gene-
riert im nächsten Schritt auch performativ eine temporäre (Festival-)Community,
bestehend aus Personen, die sich vom Festival und seiner Filmauswahl angesprochen
und eingeladen fühlen. Dabei kommt es auch immer wieder zu Protesten und Erup-
tionen, wenn Teile der queer Community sich nicht oder falsch von ihrem Festival
repräsentiert sehen (Loist 2015, S. 206–214).
Ende der 2010er-Jahre waren mehr als 270 queere Filmfestivals aktiv und bilden
einen eigenen Subcircuit der größeren globalen Festivallandschaft (mit über 6000
aktiven Festivals), in dem queere Filme global zirkulieren (Loist 2018c). Sie sind
dabei auf vielfältige Weise mit der Filmindustrie, mit Produzent:innen, Verleihern,
Kinos und Branchennetzwerken verbunden. So ermöglichen sie lokalen Zuschauer:
innen mit internationalen Filmen, Themen und Filmschaffenden in Kontakt zu
treten. Über den inhaltlichen Austausch hinaus, sind Filmfestivals für Filmschaffen-
de inzwischen auch ökonomisch wichtig. Für kleinere Independentproduktionen
sind Filmfestivals wichtige Stationen in der Auswertungskette und bilden über die
gezahlten Screening Fees eine Einnahmequelle, wenn in der enger werdenden Kino-
landschaft nicht mehr alle Festivalfilme in den kommerziellen Vertrieb und die
Kinoauswertung kommen. Auch in Zeiten einer (nicht nur pandemiebedingt) zuneh-
menden Online-Auswertung sind Festivals weiterhin relevante Orte für direkten
Austausch mit dem Publikum und Orte, wo Aufmerksamkeit für spezifische Filme
entsteht (Brunow 2020; Loist 2022).
Für Deutschland ist Manfred Salzgeber als einflussreicher Akteur für die bundes-
deutsche queere Filmkultur hervorzuheben (Speck 2016; Feistel 2008). Er war als
Schauspieler und späterer Verleiher in Rosa von Praunheims wegweisendem Film
Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (BRD 1969)
involviert. Der Film intervenierte in die Diskussion zur Abschaffung des § 175, der
seit der Weimarer Republik, verschärft in der NS-Gesetzgebung und auch nach der
Wiedervereinigung bis 1994 Homosexualität unter Strafe stellte, und wurde auf der
Kinotour die Initialzündung der bundesdeutschen Homosexellen-Bewegung. Salz-
geber, der auch in die Gründung der Deutschen Kinemathek und des Arsenal-Kinos
involviert war, hat sich als Kinomacher und Kurator der Berlinale-Sektion Panorama
für den schwul-lesbischen Film eingesetzt. Als Kurator einer Sektion des A-Festivals
Queere Filmkultur: Produktionsformen und Infrastruktur 589
hatte er damit großen Einfluss auf die Sichtbarkeit queerer Filme und queerer Film-
kultur, und zwar einerseits für queere Festivals und ihre Communities, aber anderer-
seits auch im größeren internationalen Festival- und Arthousebereich (Loist 2018c).
Die Festivalkurator:innen der queeren Filmfestivals weltweit kamen zur Berlinale,
um geeignete Filme zu entdecken und in ihren heimischen Festivals zu zeigen. Diese
Festivalprogrammer bildeten ab 1987 die Jury des Teddy Awards. Als erster queerer
Filmpreis eines A-Festivals verlieh der Teddy Filmen internationale Sichtbarkeit. Bis
in die 2000er-Jahre war der Teddy der einzige queere Filmpreis von diesem Stellen-
wert, der über alle Sektionen hinweg Sichtbarkeit für queere Filme und Filmschaf-
fende herstellt. Auf den A-Festivals in Venedig und Cannes werden der Queer Lion
bzw. die queere Palme erst seit 2007 und 2010 verliehen.
2.3 Produktionskultur
(marginalisierten) Personen haben ein Recht auf Arbeit im Feld der Kulturproduk-
tion, daher dürfen Kategorien wie Gender, Sexualität, race, Alter, körperliche Fähig-
keiten nicht zu Diskriminierung führen. Es wird eine Diversität der Darstellenden
und Filmschaffenden angestrebt. Diese Diversität bedeutet auch die Anerkennung
und Mobilisierung von verschiedenen Lebenserfahrungen. Wie das Beispiel der
Reflektion um Futur Drei zeigt, geht es auch hier um die Erweiterung der erzählten
Geschichten. So können Schauspieler:innen und Kulturschaffende allgemein ihre
diversen Lebenserfahrungen in die Darstellung und Erzählung von diverseren Ge-
schichten einbringen. Dies zielt jedoch nicht auf eine essentialistische Argumenta-
tion, in der nur schwule Schauspieler oder Autor:innen schwule Figuren spielen oder
schreiben können und sollen. Ihr Beruf ist es ja, Rollen auch jenseits ihres Lebens
darzustellen. Gleichzeitig gilt es aber, Kontextwissen und Erfahrungen, die jenseits
der Normen und der Mehrheitsgesellschaft vorhanden sind, für komplexere und
nuanciertere Darstellungen in der Arbeit der Branche zu nutzen.
3 Fazit
Queere Filmkultur umfasst mehr als einen Kanon an Filmen mit LGBT/queeren
Figuren oder von queeren Filmschaffenden. Ein relevanter Teil einer Filmkultur sind
Diskurse der Produktionskulturen: Wer kann und darf welche Geschichten wie
erzählen? Ein weiteres Element ist die Zirkulation, Rahmung und Zugänglichkeit
queerer Narrationen. Spezialisierte Verleiher bringen queere Stoffe auf die Leinwand
oder die Bildschirme. Queere Filmfestivals wählen Stoffe aus, kontextualisieren sie
in ihren Programmen und liefern so ihre Definitionen von Queer Cinema ebenso wie
auch einen Ort für Begegnung und Aushandlung von queeren Identitäten und
Communities. Als ein Netzwerk bieten sie eine Infrastruktur für queere Filmkultur,
die sowohl Filme als auch die Diskurse um Film verbindet.
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Teil VI
Frauenbewegungen und Feminismus
und/in Medien
Die Neue Frauenbewegung in den Medien
Imke Schmincke
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598
2 Repräsentation von Frauenbewegungen in den Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599
3 Medienstrategien feministischer Akteurinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603
4 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605
Zusammenfassung
Die mediale Repräsentation der zweiten Frauenbewegungen bzw. von Frauenpo-
litik zeigt sich in einem vorwiegend negativen Framing der Ziele und Personen,
die die Frauenbewegung ausmachen. In der Berichterstattung der Mainstream-
Medien dominieren Personalisierung, Sexualisierung, Spaltung und Normalisie-
rung, mit denen feministische Anliegen lächerlich gemacht und zurückgewiesen
werden. Die Darstellung feministischer Themen in den Medien ist jedoch auch als
Wechselwirkung mit spezifischen feministischen Medienstrategien zu verstehen,
mittels derer es Feministinnen teilweise recht erfolgreich gelungen ist, den öffent-
lichen Diskurs zu beeinflussen. Allerdings bleiben die Möglichkeiten einer radi-
kalen feministischen Kritik in den Mainstream-Medien begrenzt. Jedoch haben
das Internet und Social Media den Kommunikations- und Aktionsraum für
feministische Bewegungen erweitert.
Schlüsselwörter
Neue Frauenbewegung · Medien · Öffentlichkeit · Feministische Öffentlichkeit ·
Mediale Repräsentation
I. Schmincke (*)
Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland
E-Mail: imke.schmincke@soziologie.uni-muenchen.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 597
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_40
598 I. Schmincke
1 Einleitung
Soziale Bewegungen brauchen Öffentlichkeit und sind daher auch auf mediale
Öffentlichkeit angewiesen (Neidhardt 1994). Mit Hilfe der Medien lassen sich
Unterstützer_innen gewinnen, Themen und Forderungen in eine breite Öffentlich-
keit tragen und dadurch Meinungsbildung und politische Entscheidungsprozesse
beeinflussen. (Geiger 2002a) Das gilt in sehr spezifischer Weise auch für die
Frauenbewegungen. Gerhard bezeichnet als Frauenbewegung „bestimmte Formen
gemeinsamen sozialen Handelns, die darauf gerichtet sind, sozialen Wandel herbei-
zuführen und [. . .] im Geschlechterverhältnis Bevormundung, Ungerechtigkeit und
soziale Ungleichheit zu beseitigen.“ (Gerhard 2009, S. 6) Nach Lenz, die Frauen-
bewegungen als mobilisierende kollektive Akteur_innen versteht, ist von Frauenbe-
wegungen nur im Plural zu sprechen, weil diese an sehr verschiedenen Orten und
Zeiten entstanden und mit unterschiedlichen Themen Geschlechtergerechtigkeit
einforderten (Lenz 2008, S. 22–23). Im deutschsprachigen Raum gibt es zwei große
Bewegungen oder Wellen; die erste Frauenbewegung entstand in der Mitte des 19.
Jahrhunderts, die zweite oder Neue Frauenbewegung im Kontext der neuen sozialen
Bewegungen Ende der 1960er-Jahre. Seit den 1990er-Jahren lässt sich nun auch von
einer dritten Welle sprechen, um Perspektivenverschiebungen und neue Ausrichtun-
gen im Feminismus begrifflich zu fassen und abzugrenzen. Während für die erste
(bürgerliche) Frauenbewegung das Recht auf Ausbildung und Berufstätigkeit sowie
das Wahlrecht wichtige Themen waren, beschäftigte sich die zweite Frauenbewe-
gung stärker mit Fragen der körperlichen und sexuellen Selbstbestimmung, mit
Themen wie Gewalt, Arbeit und gleichberechtigte Teilhabe in relevanten gesell-
schaftlichen Bereichen wie Politik, Bildung, Kultur und Medien. Die dritte Welle ist
Ausdruck der großen Heterogenität der Bewegung und stellt zugleich eine intersek-
tionale und eine queerpolitische Kritik des ‚Wir Frauen‘ als zentraler kollektiver
Identität der Bewegung dar.
In allen Phasen der Frauenbewegung ging und geht es jedoch darum, Öffentlich-
keit für feministische Anliegen zu schaffen. So bildete Louise Otto-Peters mit ihrer
1849 gegründeten Frauenzeitung den Anfang der organisierten Frauenbewegung in
Deutschland. Auch in Österreich entstanden in dieser Zeit erste Frauenvereine und
ab 1899 die erste politische Frauenzeitschrift Dokumente der Frauen (Krainer 2016,
S. 208). Der Kampf um Öffentlichkeit war für die Frauenbewegung auch deshalb so
zentral, weil er Grundfeste der bürgerlichen Geschlechterordnung berührte: die
Trennung, Hierarchisierung und Vergeschlechtlichung der öffentlichen und privaten
Sphäre, die den Ausschluss von Frauen begründete. Daher mussten Frauen andere
Formen der Vernetzung und Einflussnahme entwickeln, um politisch Gehör zu
finden. Erst feministische Wissenschaftlerinnen haben darauf hingewiesen, dass
mit einem traditionellen Verständnis von Öffentlichkeit, Politik und sozialen Bewe-
gungen, welches den impliziten vergeschlechtlichten und vergeschlechtlichenden
Charakter nicht reflektiert, die Wirkung der Frauenbewegung nicht adäquat einge-
schätzt werden kann. Fraser kritisiert in dieser Hinsicht Habermas’ Verständnis von
Öffentlichkeit und plädiert für eine Fokussierung auf „subalterne Gegenöffentlich-
keiten“ (Fraser 1996, S. 163). Klaus entwirft ein eigenes Modell, um die Bedeutung
Die Neue Frauenbewegung in den Medien 599
Dass ‚Frauenthemen‘ in den Medien heute als politische und nicht private
Angelegenheit geframt werden (das heißt in einen bestimmten Kontext und Inter-
pretationsrahmen gestellt werden), geht auf die Wirkung und Erfolge der zweiten
Frauenbewegung zurück. In der BRD und Österreich bildete sich eine autonome
Frauenbewegung Anfang der 1970er-Jahre u. a. im Kampf um das Recht auf
Schwangerschaftsabbruch. Alice Schwarzer hatte 1971 mit dem Stern die soge-
nannte Selbstbezichtigungskampagne initiiert. 374 (prominente) Frauen erklärten
auf der Titelseite der auflagenstarken Wochenzeitschrift, sie hätten eine Abtreibung
vorgenommen. Alice Schwarzer war durch diese Aktion und ihr 1975 erschienenes
Buch Der kleine Unterschied zur öffentlich bekanntesten Feministin Deutschlands
geworden. Als Journalistin beherrschte sie die Medienlogik und journalistischen
Routinen, sodass sie erfolgreich in den Mediendiskurs eingreifen konnte. Dennoch
wurde sie, da sie von den Medien als Repräsentantin der Frauenbewegung inszeniert
wurde, als solche persönlich beleidigt und diffamiert (Schwarzer 1977, S. 241–250).
Wie Schneider (2010) herausarbeitet, zielte die Personalisierungsstrategie der Medien
auf eine Abwertung, Entpolitisierung und Delegitimierung feministischer Anliegen,
indem Alice Schwarzer – in Gleichsetzung mit der Frauenbewegung – als deviante
Person konstruiert wurde. Neben der Personalisierung und Psychologisierung ging es
vor allem darum, Alice Schwarzer als „Nicht-Frau“ – als unweiblich, unattraktiv, ledig,
kinderlos und maskulin – zu diffamieren (Schneider 2010, S. 68–69).
In Österreich wurde die sozialistische Politikerin und erste Frauenministerin
(1990–1995) Johanna Dohnal in ähnlicher Weise wie Schwarzer als Person und
Stellvertreterin für feministische Anliegen medial angegriffen. Dohnal, anfangs als
Wiener Gemeinderätin und Landtagsabgeordnete tätig, wurde 1979 Staatssekretärin
für allgemeine Frauenfragen in der Bundesregierung. Wenig später initiierte sie die
‚Aktion Medienbeobachtung‘, deren Ziel die kritische Auseinandersetzung mit
Geschlechterstereotypen im österreichischen Fernsehen war. (Kreisky und Nieder-
huber 1998)
Das negative Framing und die komplexen Wechselwirkungen zwischen Frauen-
bewegungen und Medien waren auch Gegenstand empirischer Untersuchungen zur
zweiten Frauenbewegung in US- und UK-Printmedien, vor allem bezogen auf die
Anfangsphase von 1968 bis in die 1980er-Jahre (Cancian und Ross 1981; Huddy
1997; Costain et al. 1997; Ashley und Olson 1998; Barker-Plummer 2000, 2010;
Bradley 2003; Mendes 2011a, b). In ihrer Studie zeigen Cancian und Ross (1981),
dass die mediale Repräsentation von Frauen bzw. ‚Frauenthemen‘ eng mit der
Frauenbewegung verbunden war, was dazu führte, dass auch die Thematisierung
bestimmter, zuvor marginalisierter feministischer Anliegen zunahm. Wie Mendes
(2011a, b) stellen sie darüber hinaus fest, dass die zweite Frauenbewegung in ihren
Anfangsjahren (1966 Gründung der National Organization for Women [NOW], ab
1968 Gründung verschiedener Consciousness-Raising-Gruppen) kaum mediale
Aufmerksamkeit erfuhr, während ab Anfang der 1970er-Jahre vermehrt und auch
positiver über die Aktivitäten der Frauenbewegung berichtet wurde. Ashley und
Olson (1998) untersuchten die Berichterstattung in den Jahren 1966 bis 1986 und
fanden folgende journalistische Bearbeitungs- und Darstellungsformen, mittels derer
Feministinnen marginalisiert und delegitimiert wurden: Gebrauch von Anführungs-
Die Neue Frauenbewegung in den Medien 601
zeichen, Fokus auf das äußere Erscheinungsbild der Feministinnen, Betonung von
Konflikten innerhalb der Bewegung, Dethematisierung von bestimmten feministi-
schen und frauenpolitischen Anliegen und die Konstruktion von Feministinnen als
deviante und bedrohliche Personen. Barker-Plummer (2010) betont, dass Personali-
sierung oder die Betonung von Konflikt typische journalistische Darstellungsrouti-
nen bzw. Strategien sind, es aber bezogen auf die Frauenbewegung auch genderspe-
zifische Framings gab, die den Zusammenhang von äußerem Erscheinungsbild und
einem Anerkennen oder auch Absprechen von Weiblichkeit direkt mit den feminis-
tischen Anliegen verknüpften. Personalisierung/Individualisierung, Trivialisierung,
Sexualisierung und vor allem Konstruktion von devianter Weiblichkeit waren sehr
verbreitete journalistische Strategien, mit Hilfe derer die Anliegen der Frauenbewe-
gung als illegitime Vorstellungen abqualifiziert werden sollten.
Wie Mendes (2011a, b) in ihrer Analyse der Medienberichterstattung zur Frauen-
bewegung in den USA und Großbritannien 1968–1982 hervorhebt, bestand eine
zentrale Strategie gerade darin, die Bewegung in legitime und illegitime Feminis-
tinnen zu spalten und dadurch erstere zu normalisieren (Mendes 2011b, S. 491).
Während einige Feministinnen von den Medien mit den Zusätzen ‚Hausfrau‘,
‚Ehefrau‘, Mutter von Kindern als Norm präsentiert wurden, wurden andere als
‚radikal‘ und ‚lesbisch‘ portraitiert und damit sie und ihre feministischen Anliegen
als deviant und anormal abgewertet. Diese Strategie der Spaltung, die einerseits
Normalisierung, andererseits Abwertung bedeutete, findet sich auch in der Bericht-
erstattung zum FrauenVolksBegehren 1996/97 in Österreich, wie Geiger (2002b,
S. 110–114) herausarbeitet. Die Initiative wurde von den Repräsentantinnen des
FrauenVolksBegehrens als ‚neue Frauenpower und Neubeginn‘ geframt, was dann
auch sehr erfolgreich von den Mainstream-Medien übernommen wurde. Gleichzei-
tig aber haben die Medien diesen Frame auch dazu benutzt, um den Feminismus der
1970er- und 1980er-Jahre als veraltet abzuwerten.
Insgesamt kam es in der Medienberichterstattung zu einem vermehrten Aufgrei-
fen und einer Normalisierung feministischer Themen. Diese Entwicklung ging ab
den 1970er-Jahren aber auch auf Medienstrategien der feministischen Akteurinnen
zurück, wie van Zoonen (1992) mit Blick auf die Frauenbewegung in den Nieder-
landen und Barker-Plummer (2000, 2010) mit Blick auf die USA herausarbeiten.
Beide kritisieren, dass bisherige Forschungsansätze das Verhältnis von Bewegung
und Medien zu eindimensional und deterministisch verstanden hätten. Tatsächlich
sei eine Wechselwirkung zu beobachten. Frauenbewegungen würden ihrerseits auch
versuchen auf die Berichterstattung Einfluss zu nehmen, sie nutzten die Medien als
Ressourcen und entwickelten eigene Medienstrategien. Barker-Plummer plädiert
überzeugend für einen analytischen Fokus, der stärker die Wechselwirkung, die
Interaktionen und strategischen Kommunikationen zwischen Medien und sozialen
Bewegungen in den Blick nimmt.
Dass eine negative Berichterstattung in den Massenmedien jedoch auch positive
Effekte für die Mobilisierung und Solidarisierung haben kann, zeichnet Pater (2006)
in einer Analyse der Berichterstattung der reichweitenstarken deutschen BILD-
Zeitung anlässlich des Andersen/Ihns-Prozesses 1974 und der Gegenkampagne
von Seiten der Frauenbewegung nach. Gegen die Kriminalisierung lesbischer
602 I. Schmincke
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Feministische Medien und Öffentlichkeit:
Zeitschriften der Neuen
Frauenbewegungen
Brigitte Geiger
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610
2 Charakteristika feministischer (Print-)Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610
3 Diversifizierung feministischer (Print-)Medien im deutschsprachigen Raum . . . . . . . . . . . . . 612
4 Strukturen und Entwicklungen: Zur Praxis feministischer (Print-)Medien . . . . . . . . . . . . . . . . 615
5 Dokumentation, Sammlung und Erschließung feministischer Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . 621
6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623
Zusammenfassung
Für Frauenbewegungen ist der Zugang zu Medien und Öffentlichkeit, der für alle
sozialen Bewegungen wichtig ist, aufgrund der vergeschlechtlichten Dichotomie
von Öffentlichkeit und Privatheit besonders voraussetzungsvoll. Die Schaffung
eigener Räume und Kommunikationsstrukturen begleitete daher ab den 1970er-
Jahren die Konstituierung der zweiten Frauenbewegung. Eine zentrale Rolle
spielten dabei feministische Printmedien, vor allem Informationsblätter und Zeit-
schriften, als selbstbestimmte Artikulationsmittel für Kommunikation und Aus-
tausch nach innen sowie für die Mobilisierung und Intervention nach außen.
Zwischen Selbstorganisation, egalitärer und partizipativer Kommunikationskul-
tur und Professionalisierung entstand eine vielfältige Zeitschriftenlandschaft, in
der feministische Themen und Diskurse entwickelt wurden. Trotz Verlagerungen
feministischer Informations- und Medienarbeit ins Internet spielen Zeitschriften
auch weiterhin eine wichtige Rolle im feministischen Medienrepertoire.
B. Geiger (*)
Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: brigitte.geiger@univie.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 609
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_41
610 B. Geiger
Schlüsselwörter
Feministische Medien · Feministische Öffentlichkeit · Frauenbewegung ·
Frauenzeitschriften · Alternativmedien
1 Einleitung
Soziale Bewegungen sind für ihre Konstituierung und die Intervention in gesell-
schaftliche Verhältnisse auf Öffentlichkeit angewiesen. Für die Frauenbewegungen
war (und ist) der Zugang zu Medien und Öffentlichkeit aufgrund der (bis heute
wirksamen) geschlechterdichotomen Entgegensetzung von Öffentlichkeit und Pri-
vatheit und damit verbundener Ausschlüsse besonders voraussetzungsvoll. Wie
schon die erste Frauenbewegung (Wischermann 2003; Marschik et al. 2022) schuf
sich daher auch die zweite Frauenbewegung ab den 1960er-Jahren eigene Räume,
Kommunikationsstrukturen und Medien, in denen Erfahrungen und Kritik artikuliert
und neue Sichtweisen und ein feministisches Selbstverständnis entwickelt werden
konnten. Die wachsende Vielfalt an selbstorganisierten feministischen Medien bildet
wichtige Kristallisationspunkte dieser Bewegungsöffentlichkeiten, zum einen für
Informationsaustausch und Diskussion nach innen, zum anderen für Mobilisierung
und die Artikulation von Anliegen und Forderungen nach außen.
Als relativ billige und regelmäßig erscheinende Medien waren Informations-
blätter und Zeitschriften von Beginn an wichtige Informationsmittel der neuen
Frauenbewegung und daher auch bevorzugter Gegenstand theoretischer Reflexion
und empirischer Untersuchungen zu feministischen Medien. Sehr stark von enga-
gierten Praktikerinnen getragen, entstehen die meist kleineren Studien zu einzelnen
regionalen Kontexten und Medien oft im Rahmen universitärer Abschlussarbeiten
oder im Umfeld feministischer Informations- und Dokumentationsstellen; Anlässe
sind vielfach Themenschwerpunkte oder Jubiläen feministischer Zeitschriften (u. a.
Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis für Frauen 1991; Geiger et al. 1991;
Gruppe feministische Öffentlichkeit 1992; Susemichel et al. 2008; Geiger und Hauser
2012), im Kontext medialer Transformationen behandelt das Feminist-Media-Projekt
feministische Print- und Onlinemedien in Europa. (Zobl und Drüeke 2012; http://
www.grassrootsfeminism.net).
1
Ich verwende im Beitrag das Gender-Sternchen je nach dem zeitlichen Kontext, von dem jeweils
die Rede ist.
612 B. Geiger
Identität (z. B. Geiger 1989; Lünenborg 1992; Krainer 1995) und verstehen femi-
nistische Medien (im Anschluss an Castells’ Konzept von Identität in der Netzwerk-
gesellschaft und McDermott 1994) als Brennpunkte vernetzter Communities bzw.
thematischer und ideologischer Interpretationsgemeinschaften.
Feministische Medien wurden auch unter dem Aspekt der Alternativmedien, die
in der Tradition Neuer Sozialer Bewegungen der 1970er-Jahre stehen, diskutiert.2
Jenny Gunnarsson Payne (2012) untersucht den Ertrag von Theorieansätzen zu
Alternativmedien für ein Verständnis von feministischen Medien und betont, dass
für deren Analyse jedenfalls die Aspekte Dynamik, Kontingenz und Komplexität zu
berücksichtigen sind. Dem entsprechen offene und differenzierte Modelle und Kon-
zepte von Alternativmedien besser als jene Theorien, die mit starren Gegensätzen
von Gegenöffentlichkeit und Mainstream, Basis und Institution arbeiten. Sie bezieht
sich u. a. auf die Typologie von Atton (2002), die differenzierte empirische Bezug-
nahmen auf Inhalt, Form und Kontext erlaubt. (Gunnarsson Payne 2012) Bailey
et al. (2008) unterscheiden vier theoretische Zugänge, die jeweils unterschiedliche
Funktionen von Alternativmedien in den Vordergrund rücken, wie z. B. die Kon-
stitution und Partizipation einer Community (oder Bewegung) oder eine Alternative
zum Mainstream in Inhalt und Produktionsweise. Das Feminist-Media-Projekt ori-
entierte sich für seine Bestandsaufnahme an den Kategorien von Lievrouw (2011)
und erörtert deren Relevanz für sozialen Wandel entsprechend entlang von Reich-
weite, Position und Aktivitäten sowie dem Bezug zu feministischen Diskursen.
(Zobl und Reitsamer 2012, S. 46–47)
2
Nachdem in den letzten Jahren eine Desavouierung und Aneignung des Begriffs Alternativmedien
durch rechtsradikale Bewegungen, Trump, Identitäre und die Coronaleugner erfolgte, wird der
Begriff heute für Medien sozialer Bewegungen und aktueller Protestbewegungen nur mehr selten
verwendet, in wissenschaftlichen Arbeiten mittlerweile kritisch diskutiert oder dient gar als Be-
zeichnung für rechtsradikale Medien. (Hoffacker 2020; KJM 2020) Hier werden die Begriffe
Alternativmedien und alternative Öffentlichkeit dem vorrangigen zeitlichen Fokus entsprechend
in der ursprünglichen emanzipatorischen Tradition verstanden.
Feministische Medien und Öffentlichkeit: Zeitschriften der . . . 613
3
Die Zeitschriftensammlung umfasst derzeit knapp 1000 internationale und deutschsprachige
feministische Titel. Der österreichische Bestand ist weitgehend vollständig und beinhaltet seit den
2000er-Jahren auch elektronische Newsletter, nicht aber Online-Zeitschriften oder Blogs. Eine
detaillierte Auswertung der zugehörigen Zeitschriftendatenbank für den österreichischen Teil
erfolgte mit Stand 2010 zuletzt für Geiger und Hauser (2012).
Feministische Medien und Öffentlichkeit: Zeitschriften der . . . 615
dungsstrukturen zeigt oder bei der Verteilung von Arbeit und Verantwortung,
wie sie auch aus anderen feministischen Kontexten bekannt sind. (Doderer und
Korteniek 2010)
Eine spezifische Herausforderung für feministische Medien ist das Verhältnis zur
jeweiligen Bezugsgruppe – d. h. der eigenen Gruppe, lokalen Szene oder allgemein
„der Bewegung“. Für einen gemeinsamen Austausch sind Schwerpunktthemen und
offene Redaktionssitzungen vorgesehen, außerdem werden Heftpräsentationen und
Gesprächsrunden organisiert. Leichter realisieren lassen sich Partizipationsansprü-
che, wo eine enge Verbindung zwischen Zeitung (als Organ und Forum) und lokaler
Bewegung besteht, wie z. B. in der Anfangszeit der AUF (Geiger und Hacker 1989).
Eine rege Beteiligung erreichten regionale Frauenzeitschriften vor allem in der
Consciousness-raising-Phase mit einer Fülle an Erfahrungsberichten. (Figdor 2005)
Mitte der 1980er-Jahre bekundeten Leserinnen von AUF und an.schläge zwar eine
Bereitschaft zur aktiven Beteiligung, eine reale Umsetzung war aber von Faktoren wie
Nähe zur Redaktion, eigener Aktivismus oder Bildung abhängig. (Geiger 1989) In
einer sich diversifizierenden Bewegung und mit steigenden Ansprüchen an feministi-
sche Medien verlagert sich die Beteiligung zunehmend zu aktivistischen und/oder
beruflichen Expert*innen bzw. professionell schreibenden Frauen. (Geiger 1996) Da
Honorare nur selten gezahlt werden können, erfordert es ein unterstützendes Netzwerk,
um diese spezifische Qualität mit vielfältigen Perspektiven zu gewährleisten. Man-
gelnde Resonanz und Entfremdung zu sich wandelnden feministischen Kontexten
können auch die Einstellung eines Mediums befördern.4 Internet und Social Media
erweitern Interaktions- und Vernetzungsmöglichkeiten, sind aber auch eine zusätzliche
Arbeitsbelastung. Um 2010 nutzte daher nur ein Drittel der europäischen feministi-
schen Printmedien Social-Media-Auftritte. (Zobl und Reitsamer 2012, S. 29) Nach dem
Internethype und negativen Erfahrungen fordert etwa Sandoval (2011) bezüglich linker
Alternativmedien(theorien) ein Überdenken des Partizipationsparadigmas.
Ein weiteres immer wieder thematisiertes Problemfeld sind prekäre Produktions-
bedingungen, fehlende Ressourcen und Beschränkungen durch nebenberufliche
Medienproduktion. So arbeiteten in Österreich Mitte der 1980er-Jahre alle befragten
Redaktionen unbezahlt (bis auf fallweise bezahlte Layout-Arbeiten); keine verfügte
über eigene Redaktionsräume. Zehn Jahre später hatte zumindest die Hälfte der
größeren Zeitschriften bezahlte Arbeitsplätze. Damit einher gehen geringe Reich-
weiten und große, vielfach unregelmäßige Erscheinungsintervalle. (Geiger 1996)
Mit steigenden Ansprüchen an Inhalt, Form und Vermittlungsleistungen in einem
diversen und dezentralen feministischen Umfeld und den Bestrebungen, berufliches
und feministisches Engagement zu verbinden, setzte auch im Medienbereich ein
Professionalisierungsprozess ein. Im Zuge dessen verändert sich die kollektive
Organisation hin zu Spezialisierung, Arbeitsteilung und klaren Verantwortlichkeiten.
Es wird in Auswahl und Aufbereitung der Inhalte, in Layout und Gestaltung
4
So beschleunigen das Abflauen der zweiten Frauenbewegung und Verschiebungen zu den Gender
Studies und in der Lesbenbewegung etwa die Einstellung der beiträge zur feministischen theorie
und praxis (Notz 2008) und von Ihrsinn (Büchner 2008).
Feministische Medien und Öffentlichkeit: Zeitschriften der . . . 617
5
Dafür wurde neben Flugblättern und Plakaten die österreichische Zeitschriftenproduktion von
1972–1990 auf Artikelebene formal und nach der STICHWORT-Schlagwortsystematik erfasst und
analysiert. Der Datenpool ist über die STICHWORT-Homepage online recherchierbar (http://www.
stichwort.or.at).
Feministische Medien und Öffentlichkeit: Zeitschriften der . . . 619
In diese Debatten und hegemoniale Diskurse interveniert seit 2009 das mehr-
sprachige Migrazine. Online Magazin von Migrantinnen für alle (http://www.
migrazine.at) als ein Forum für selbstbestimmte Artikulation und migrantische
Wissensproduktion. Mit einem Verständnis der Kategorie ‚Migrantin‘ als politischer
Identität, einer konsequent (eingeforderten) intersektionalen Perspektive und Infra-
gestellung der Privilegien von Mehrheitsangehörigen erweitert dieses postmigranti-
sche Medium, so Viktorija Ratković (2018), ganz entscheidend die innerfeministi-
sche Diskussion und Praxis.
6
Links zu den genannten Einrichtungen finden sich auf der Homepage des Dachverbands i.d.a.
unter http://www.ida-dachverband.de.
622 B. Geiger
6 Fazit
7
Die Bestände sind unter http://www.zdb-opac.de nach einzelnen Archiven unter der Leihverkehrs-
region „ida“ abfragbar.
Feministische Medien und Öffentlichkeit: Zeitschriften der . . . 623
auch mit ihren haptischen Qualitäten weiter unverzichtbar. Hier ist auch die staatli-
che Medien- und Frauenpolitik gefordert, mit Rahmenbedingungen und öffentlicher
Förderung diese für Demokratie und Geschlechtergerechtigkeit wichtige Vielfalt an
Medien zu unterstützen.
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Digitale Öffentlichkeiten und feministische
Protestkulturen
Ricarda Drüeke
Inhalt
1 Einleitung: Zur Digitalisierung von Protestformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630
2 Feministische Online-Öffentlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631
3 Fazit: Potenziale und Herausforderungen feministischer Protestkulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . 636
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637
Zusammenfassung
Digitale Öffentlichkeiten sind ein umkämpfter Raum, der Formen der emanzipa-
torischen Partizipation, aber auch des Konflikts beinhaltet. Feministische und
hegemoniekritische Öffentlichkeitsmodelle benennen diese Formen und Ebenen
von Öffentlichkeit, die für den Selbstverständigungsprozess einer Gesellschaft
bedeutsam sind. Die Nutzung digitaler Medien von feministischen Akteur*innen
hat sich mit den technologischen Entwicklungen verändert: So wurde das Internet
zunächst hauptsächlich zur Informationsdarstellung genutzt, während sich in den
letzten Jahren vor allem Hashtags und Blogs als wirkungsvolle Plattformen zur
Herstellung von Gegenöffentlichkeiten erwiesen haben. Allerdings zeigen sich
gerade online vermehrt Angriffe auf feministische Akteur*innen, so dass zwar
einerseits die Sichtbarkeit feministischer Bewegungen und Themen erhöht wird,
jedoch gleichzeitig digitale Räume als Freiräume verteidigt werden müssen.
Schlüsselwörter
Feministische Öffentlichkeiten · Digitale Vernetzung · Protestkulturen · Hashtag-
Aktivismus · Netzfeminismus · Internet
R. Drüeke (*)
Fachbereich Kommunikationswissenschaft, Universität Salzburg, Salzburg, Österreich
E-Mail: ricarda.drueeke@sbg.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 629
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_42
630 R. Drüeke
1
Ich spreche von Feminismus und Feminist*innen, weil ich auf diese Theorietradition rekurriere,
gleichwohl ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass es nicht den einen Feminismus gibt, sondern
verschiedene Feminismen und auch in feministischen Zusammenhängen Macht- und Hierarchie-
verhältnisse, die sich in Exklusionen und Privilegien äußern, wirksam sind. Auch bringt der Fokus
auf Aktivismus von Frauen* zahlreiche Verkürzungen hinsichtlich weiterer Identitätskonstruktio-
nen und Diskriminierungsformen mit sich (Kanai und Dobson 2016).
Digitale Öffentlichkeiten und feministische Protestkulturen 631
2 Feministische Online-Öffentlichkeiten
Die zunehmende Nutzung des Internets rief in den 1990er- und 2000er-Jahren
euphorische Sichtweisen auf das emanzipatorische Potenzial des Neuen Mediums
hervor. Sadie Plant (2000) und Donna Haraway (1991) entwarfen Utopien eines
feministischen Cyberspace. Dieser schien Räume für Frauen* zu eröffnen und die
Dichotomie zwischen Technik und Geschlecht in Frage zu stellen (vgl. auch van
Zoonen 2002). So wurden neben Vorstellungen eines Cyberfeminismus vor allem
die Möglichkeiten, feministische Räume im Internet zu eröffnen, betont. Zahlreiche
Studien zeigten die Bedeutung des Internets für frauen*politische Netzwerke und
Akteur*innen sowie für ein Empowerment von Frauen* und Mädchen*. Deren
Öffentlichkeiten wurden unter Bezugnahme auf Nancy Fraser (2001) als Gegen-
öffentlichkeiten zu einer hegemonialen Öffentlichkeit gesehen, die so einerseits
Schutz für die Entwicklung von Ideen und Positionen bieten, andererseits auch dazu
dienen, Positionen öffentlich zu artikulieren (Drüeke und Winker 2005; Travers
2003). In und durch solche Gegenöffentlichkeiten können „media at the margins“,
wie etwa feministische Blogs, formiert werden, wobei sowohl die Zahl der Medien
als auch die Zahl der Ränder unabgeschlossen ist (Rodriquez 2017).
Diese Gegenöffentlichkeiten lassen sich dabei differenzieren in Frauen*öffent-
lichkeiten, wo sich z. B. Mädchen und Frauen* ihre eigenen Räume im digitalen
Netz schaffen, und feministische Öffentlichkeiten, in denen frauen*politische Netze
und Akteur*innen das Internet als Plattform zur Information, der Partizipation und
der Mobilisierung nutzen (Drüeke und Klaus 2018). In frühen Studien wurde
insbesondere der Nutzen des Internets als Informationsplattform betont und gleich-
zeitig herausgestrichen, dass das Potenzial für Vernetzung zwar gegeben sei, jedoch
noch zu wenig genutzt werde. Zentral für frauen*politische Netzwerke war die
Verzahnung zwischen Online- und Offline-Aktivismus, wie sich etwa an bundesweit
agierenden Frauennetzwerken, die zu Themen wie sexualisierte Gewalt arbeiten,
zeigte, die das Internet zur Informationsbereitstellung nutzten, politische Aktivitäten
jedoch vor allem offline durchführten (Sude 2005). Damit können die klassischen
frauen*politische Netzwerke im Internet zwar das Potenzial haben, Gegenöffentlich-
keiten herauszubilden, häufig standen die einzelnen Initiativen und Gruppierungen
aber unvernetzt nebeneinander. Jedoch kann das Internet insbesondere für Mädchen
und junge Frauen*, die sich zu bestimmten Themen austauschen wollen, einen
geschützten Raum darstellen, den sie nach ihren eigenen Vorstellungen modellieren
(Schachtner 2005). Angela Tillmann (2010) streicht die Bedeutung von Blogs und
Homepages heraus, in denen Mädchen individuell und kollektiv ihre Themen und
Bedürfnisse artikulieren und so die Möglichkeit haben, mit diesen sichtbar zu sein
und gehört zu werden – auch wenn solche Räume nicht zwangsläufig zu einem
Empowerment beitragen, eröffnen sie Räume sowie die Möglichkeit, neue Subjekt-
positionen und Anerkennungspraxen auszuprobieren (Tillmann 2010, S. 247). Mäd-
chenräume können so als eigene Online-Communities Prozesse der Identitätskon-
struktion unterstützen. Des Weiteren eröffnet das Internet die Möglichkeit der
632 R. Drüeke
jedoch auch kritisch gesehen, wie Fotopoulou (2017) auf der Basis ihrer Interviews
mit Frauen*gruppen in Großbritannien herausstreicht, da diese Offline-Aktivismus
nach wie vor als entscheidend für den Zusammenhalt ansehen und die geforderte
Präsenz in digitalen Medien als belastend empfinden. Auch Jodi Dean (2009) hat auf
diese von ihr als neoliberal eingeordnete Verknüpfung von Aktivismus und Online-
Sein hingewiesen, welche ein ständig aktives Individuum voraussetzt, das Online-
Inhalte rezipiert und produziert.
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Feministische Veranstaltungs-
Öffentlichkeiten
Rosa Reitsamer
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642
2 Musikbezogenes Handeln von Frauen: ein historischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642
3 Women’s Music und Frauenmusikfestivals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643
4 Riot Grrrl und Ladyfeste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645
5 Feministische Musikarchive und Musiker*innen-Netzwerke im Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . 646
6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648
Zusammenfassung
Frauen hatten zu allen historischen Epochen einen eingeschränkten Zugang zu
professioneller Musikausbildung und -ausübung, der bis heute strukturbildend für
die westliche Kunst- und Popularmusik ist. Dagegen intervenieren seit den
1970er-Jahren feministische Veranstaltungs-Öffentlichkeiten in musikkulturellen
Feldern: angefangen von der „Women’s Music“ und den Frauenmusikfestivals
der 1970er- und 1980er-Jahre über das Riot-Grrrl-Netzwerk der 1990er bis hin zu
den queer-feministischen Musikfestivals und digitalen feministischen Musik-
archiven, die nach der Jahrtausendwende gegründet wurden.
Schlüsselwörter
Veranstaltungs-Öffentlichkeiten · Women’s Music · Frauenmusikfestivals ·
Ladyfeste · Feministische Musikarchive · Riot Grrrl
R. Reitsamer (*)
Institut für Musiksoziologie, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Wien, Österreich
E-Mail: reitsamer@mdw.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 641
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_43
642 R. Reitsamer
1 Einleitung
Instrumente und Genres beschränkt blieben (Hofmann 1991; Green 1997). Mit der
Entstehung des öffentlichen Musiklebens geriet diese vor allem von Frauen getra-
gene Tradition der musikalischen Salons allerdings bald in Vergessenheit.
Das öffentliche Musikleben formierte sich mit dem Entstehen der Oper in Italien
um die Mitte des 17. Jahrhunderts und der Herausbildung des Konzertwesens seit
dem frühen 18. Jahrhundert. Dieser Prozess vollzog sich zeitgleich mit der zuneh-
menden Entgegensetzung von Öffentlichkeit und Privatheit, durch die außerhäus-
liche Aktivitäten und öffentliche Anliegen dem Mann zugesprochen wurden, wäh-
rend Frauen auf das Haus verwiesen und Weiblichkeit mit der privaten Sphäre
verbunden wurde. In Verbindung mit dem historisch etablierten Vorrecht der Männer
auf professionelle Musikausbildung und -ausübung hatte der Dualismus von Öffent-
lichkeit und Privatheit und seine Bindung an Zweigeschlechtlichkeit und Hetero-
normativität zur Folge, dass auch die Institutionen des öffentlichen Musiklebens
weitgehend von Männern geprägt wurden.
Diese historischen Entwicklungen sind bis heute strukturbildend für die westliche
Kunstmusik, aber auch für die Felder der Popularmusik, in denen sich die Aus-
schlüsse und Marginalisierung von Frauen fortsetzen. Die Arbeitspraktiken der
Popularmusikindustrie sind durch traditionelle Geschlechterideologien informiert,
weswegen die Führungs- und Kreativebenen von Männern dominiert werden und
Musikerinnen individuelle und strukturelle Benachteiligungen erfahren (Negus
1992). Die Karrieren von Musikerinnen sind aufgrund dieser Benachteiligungen
kürzer, und ihr kommerzieller Erfolg ist nicht nur in männlich dominierten Genres
wie der Rockmusik geringer als jener von männlichen Musikern (Kearney 2017),
sondern auch in allen anderen Musikgenres (Whiteley 2000). Zudem stehen bei der
Vermarktung von Musikerinnen ihre Körper und ihre Sexualität anstatt ihre musi-
kalischen Leistungen im Vordergrund (Lieb 2013).
Als Reaktion auf diese Arbeitspraktiken der Musikindustrie und auf Basis des
Bedürfnisses von Feministinnen nach einer Musik, die ihre Lebensrealitäten adres-
siert, entwickelte sich in den späten 1960ern die Women’s Music. Bayton (1993)
zufolge ist Women’s Music eine nicht-maskuline, folk-beeinflusste Musik von, für
und über Frauen, die die phallische E-Gitarre zugunsten der Betonung von Stimme
und der Verwendung von akustischen Instrumenten ablehnt. Inspiriert von der Idee
der Women’s Music, die sich ausgehend von den USA rasch in Westeuropa verbrei-
tete, wurden Frauen verstärkt als Musikerinnen aktiv und riefen mit der Organisation
von Workshops, Konzerten und Musikfestivals eigene Räume für die Produktion,
die Aufführung und den Konsum der Women’s Music ins Leben. Als zentrale
Praktiken des feministischen Musikmachens der Zweiten Frauenbewegung trugen
die Women’s Music und die (temporäre) Übernahme von Veranstaltungsräumen
wesentlich zur Konstitution lokal verankerter Frauenöffentlichkeiten bei (Reitsamer
2014). Doderer definiert Frauenöffentlichkeit als eine „Öffentlichkeit, die Frauen-
und Lebenspolitik, Emanzipation und feministische Inhalte als gemeinsamen
644 R. Reitsamer
Gegenstand hat“ und Räume produziert, „indem sie eigene Diskurse lanciert und
sich eigene Räumlichkeiten schafft“ (Doderer 2002, S. 73). Die durch musikbezo-
genes Handeln hergestellten Frauenöffentlichkeiten der 1970er- und 1980er-Jahre
lassen sich somit als „Gegenöffentlichkeit“ definieren, weil sie in Abgrenzung und
Opposition zur bürgerlich-patriarchalen und zur patriarchal-linken Öffentlichkeit
stehen (Dackweiler und Holland-Cunz 1991). Sie orientierten sich am differenz-
feministischen Diskurs der Zweiten Frauenbewegung und zielten auf die Sichtbar-
machung und Förderung von Musikerinnen und einer feministisch-lesbischen
Frauenkultur ab. Die geschaffenen Frauenräume eröffneten zudem Möglichkeiten
der bewussten Reflexion über die Situation von Musikerinnen und ermutigten
Frauen abseits männlicher Bevormundung und Kontrolle, Musik als Mittel für die
Artikulation von feministischen und lesbischen Identitäten und der Zugehörigkeit
zur Frauenbewegung zu nutzen.
In Deutschland fand die Women’s Music eine Umsetzung mit den Flying Lesbi-
ans, die als erste deutsche Frauenrockband mit ihrer gleichnamigen Schallplatte in
die Geschichte einging, und der Band UnterRock, die ebenfalls eine Platte mit dem
Titel „Mach mal deine Schnauze auf“ (1980) veröffentlichte, auf der sich die
lesbische Hymne „Heterowelt – leck’ mich am Arsch“ findet. Indem sie ein kon-
kretes feministisch-lesbisches Musikerbe in Form eines Tonträgers hinterließen, sind
diese beiden Bands allerdings Ausnahmen unter den zahlreichen Musikgruppen im
deutschsprachigen Raum. Von der ersten österreichischen Frauenpunkband A-Gen
53, die sich weniger in der Frauenbewegung als im Punk verortete, existiert bei-
spielsweise keine Platte. Aber auch in Großbritannien fehlten vielen feministischen
und lesbischen Musikerinnen in den 1970ern und 1980ern die finanziellen Ressour-
cen für die Aufnahme, Produktion und Distribution von Tonträgern oder sie lehnten
aus politischen Gründen eine Kooperation mit der von Männern dominierten Musik-
industrie ab (Withers 2014). Eine stärkere Verankerung feministischer Veranstal-
tungs-Öffentlichkeiten in musikkulturellen Feldern fand in den USA statt. Zahlrei-
che feministische und lesbische Performerinnen wie etwa Meg Christian, Sweet
Honey in the Rock oder Cris Williamson veröffentlichten ihre Musik u. a. auf dem
unabhängigen Plattenlabel Olivia Records, das von 1973 bis ca. Mitte der 1980er-
Jahre existierte und sich der Women’s Music widmete. Zudem finden Frauenmu-
sikfestivals seit den 1970ern jährlich statt, und Musikerinnen-Workshops wie etwa
Girl Rock Camps können auf eine lange Tradition zurückblicken.
Die Orientierung der Frauenmusikfestivals am Differenzfeminismus weißer Mit-
telschichtsfrauen stieß jedoch bald auf Kritik. Am Beispiel des National Women’s
Music Festivals beschreiben Eder et al. (1995), wie die weitgehende ethnische
Homogenität des Organisationsteams, der Performerinnen und der Besucherinnen
zu symbolischen und realen Ausschlüssen von Women of Color führte und der
Versuch, einen „sicheren Raum“ für alle Frauen zu schaffen, letztlich durch die
mangelnde Thematisierung rassistischer Strukturen scheiterte. Die Debatte um Aus-
schlüsse aus Frauenräumen erweiterte sich mit der Kritik von Trans-Aktivist*innen,
die in den USA die „Womyn Born Womyn“-Politik des Michigan Womyn’s Music
Festivals auf ihren Essentialismus befragten und zum Boykott des Festivals auf-
riefen.
Feministische Veranstaltungs-Öffentlichkeiten 645
Nicht zuletzt aufgrund der Kritik von Women of Colour, postkolonialen Femi-
nist*innen und Trans-Aktivist*innen entstehen Anfang der 1990er-Jahre neuere
feministische Strömungen, an denen eine jüngere Generation von Frauen* maß-
geblich beteiligt ist. Diese Generation versteht ihren Aktivismus und ihre Netzwerke
häufig als Teil des Third-Wave-, Pop-, Hip-Hop- oder Punkrock-Feminismus, weil
sie sich verstärkt im Feld der Popularkultur verortet und die kritische Beschäftigung
mit Popkultur als wesentliche Komponente für die Herstellung feministisch-queerer
Gegenöffentlichkeiten begreift. Zu diesen neueren feministischen Aktivismen zäh-
len u. a. Riot Grrrl, Ladyfeste und Girl Rock Camps.
Seit der Jahrtausendwende erweitern Individuen und kleine Kollektive diese (trans-)
lokalen Veranstaltungs-Öffentlichkeiten, indem sie die Möglichkeiten des Internets
für den Aufbau von feministischen Musiker*innen-Netzwerken wie etwa Female
Pressure und die Gründung von digitalen Musikarchiven nutzen, um weibliches,
feministisches und queeres Musikschaffen in der Vergangenheit und Gegenwart zu
dokumentieren. Dieser archivarische Aktivismus ist Teil eines größeren global
verbundenen Netzwerks, das sich mit der (Re-)Konstruktion alternativer und oppo-
sitioneller Popularmusikgeschichte beschäftigt (Baker und Huber 2013) und die
vielfältigen Arten veranschaulicht, wie das feministisch-lesbische Musikerbe der
Zweiten Frauenbewegung verhandelt wird. Eichhorn (2013) beschreibt diese Ver-
handlungen als „genealogical politics“, weil sie Dialoge und Allianzen zwischen
Feministische Veranstaltungs-Öffentlichkeiten 647
6 Fazit
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Feminismen, Kunst und Medien
Romana Hagyo
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652
2 Auseinandersetzungen mit und Aneignungen von neuen Medien- und
Kommunikationstechnologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653
3 Die Auseinandersetzung mit geschlechtlich codierten Körpern, Räumen und
Repräsentationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656
4 Fazit und Ausblick: Verweigerte Normierung und vervielfältigte Identitäten . . . . . . . . . . . . . 657
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659
Zusammenfassung
Der Beitrag macht Hoffnungen und Erwartungen zum Thema, die mit der Nut-
zung jeweils neuer medialer Kommunikationsformen seit den 1960er-Jahren
durch feministisch und queer motivierte bildende Künstlerinnen verbunden
waren und sind. Exemplarisch werden feministische und queere künstlerische
Arbeiten vorgestellt, die sich mit Repräsentationspolitiken, mit dem Selbstbild,
mit Körper und Kamera und mit geschlechtlich codierten Räumen auseinander-
setzen. Die Künstler_innen befragen und erproben das Potenzial jeweils neuer
Technologien mit der Intention, die Präsenz von Künstlerinnen zu erhöhen,
Geschlechterrollen und geschlechterbezogene Zuschreibungen zu konterkarieren,
ironisch zu überspitzen, neu zu formulieren oder umzuschreiben und Ungleich-
heiten auf der Basis von Geschlecht*, Herkunft, sozialer Situation (und weiteren
Faktoren) zu kritisieren.
R. Hagyo (*)
Akademie der bildenden Künste Wien, Wien, Österreich
E-Mail: mail@hagyo.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 651
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_63
652 R. Hagyo
Schlüsselwörter
Feminismus · Kunst · Medienkunst · Videokunst · Digifeminismus ·
Cyberfeminismus · Gender Studies
1 Einleitung
1
Unter anderem „WACK! Art and the Feminist Revolution“ (Los Angeles, 2007), „Global Femi-
nisms: New Directories in Contemporary Art“ (New York, 2007), „Gender Check. Rollenbilder in
der Kunst Osteuropas“ (Wien und Warschau, 2010), „Woman. Feministische Avantgarde“ (mehrere
Städte in Europa seit 2010, Wien 2016/2017).
Feminismen, Kunst und Medien 653
(von Sprache, Höhlenmalerei bis social media) „ein Verständnis des gestaltenden
Moments der entsprechenden Medien“ (Heilmann et al. 2011, S. 12) und somit
deren Eingebunden-Sein in Prozesse der Bedeutungskonstitution fokussiert (von
Falkenhausen 2002, S. 10).
Das verstärkte Interesse von Künstlerinnen an Radio-, Fernseh-, Video-, Film- und
Audiotechniken (beginnend mit den 1960er-Jahren) im Rahmen des Prozesses der
Infragestellung des traditionellen Werkbegriffs war nicht nur durch deren zuneh-
mend einfache Verfügbarkeit motiviert, sondern hatte von Beginn an ein politisches
Moment: Künstlerinnen wollten dabei sowohl auf Inhalte als auch auf Strukturen der
medialen Produktion verändernd einwirken, um Prozesse der Kommunikation
demokratischer zu gestalten. In den künstlerischen Ansätzen der 1960er- und
1970er-Jahre ist „eine Wechselwirkung zwischen feministisch inspiriertem gesell-
schaftlichem Protest, formaler Innovation und der Verwendung neuer Medien“ zu
erkennen (Medosch 2016, S. 3). Thematisiert wurden sowohl die Rolle als Frau und
Künstlerin – häufig unter Rückgriff auf eigene Biografien und persönliche Erfah-
rungswelten – als auch stereotype Geschlechterrollen. In den Fokus gerückt wurde
dabei auch die Beteiligung massenmedialer Produktionen an der Herstellung von
Konventionen des Zusammenlebens, im Speziellen an geschlechterbezogenen Rol-
lenzuschreibungen.
Sanja Iveković, die als erste kroatische Künstlerin ihre Arbeit als feministisch
bezeichnete, fertigte in der Reihe „Double life“ (1975) eine Gegenüberstellung von
massenmedialen Frauendarstellungen und persönlichen (Familien-)Fotografien
an. In der Serie findet sich beispielsweise das Motiv der Frau in der Wiese: Ein
Werbesujet der Firma Knorr ist einer privaten Fotografie der Künstlerin gegenüber
gestellt. In der Fotoserie „Consumer Art“ (1972) wendet die polnische Künstlerin
Natalia LL (Lach-Lachowicz) eine ähnliche Strategie an: Sie macht das eigene
Gesicht zum Bild-Sujet, referiert damit auf massenmediale Darstellungen der all-
täglichen Aktivitäten des Essens, Trinkens und der Sexualität sowie deren
geschlechterbezogene Darstellungskonventionen und Verhaltensnormen, unter
anderem indem durch die Serialität der Fotografien der ungetrübte visuelle Genuss
verweigert wird. Dies sind zwei Beispiele künstlerischer Interventionen, mit denen
die Verbindung von Sexualität, Körper und Konsum, die zu der Zeit in den Medien
vorherrschend war, in Frage gestellt wird (Kowalczyk 2010, S. 39).
Speziell der Arbeit mit der Videokamera wurde das Potenzial einer relativ neuen
Ausdrucksform zugeschrieben, die noch nicht von den Parametern des Kunstbe-
triebs und dessen als männlich konnotierten Geniekult geprägt war (Parker und
Pollock 2008, S. 25). „Video als Medium der Emanzipation“ (Rosenbach 1982)
bot die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem „Wechselverhältnis zwischen
654 R. Hagyo
Selbstbild, visuellem Apparat und Bildtradition“ (Adorf 2002, S. 83).2 Die Foto- und
Videokameras fungierten als Gegenüber in der Auseinandersetzung mit dem eigenen
Körper, seinen Grenzen und geschlechtlichen Rollenzuschreibungen (beispielsweise
in den erwähnten Arbeiten von Natalia LL und Sanja Iveković). Kritisch ist anzu-
merken, dass die Verbindung von „Frau“ und „Körper“ die Gefahr birgt, die
historische Dichotomie von Frau/Körper versus Mann/Geist neu festzuschreiben.
Mit digitaler Kommunikation im World Wide Web war in den 1990er-Jahren der
Wunsch nach der Demokratisierung von Kommunikation und nach neuen Möglich-
keiten der Partizipation verbunden. Die Möglichkeit, virtuelle Identitäten nicht nur
annehmen zu können, sondern auch mit diesen zu experimentieren, brachte die
Erwartung mit sich, geschlechterspezifische, klassenbezogene und ethnische Grenz-
ziehungen überwinden oder zumindest umarbeiten zu können (von Falkenhausen
2002, S. 9). Die Vorstellung, im so genannten Cyberspace Geschlechterrollen zu
wechseln und neu gestalten zu können, motivierte Künstlerinnen und Theorieschaf-
fende, das Potenzial digitaler Kommunikation auszuloten und zu fragen, „wie denn
das Subjekt im Raster von Realität und Virtualität koordiniert sein könnte“ (Angerer
2007 [1999], S. 293). Donna Haraway (1995) stellte die Frage nach einer feminis-
tischen Politik, die sozialistisch und wirkungsvoll gestaltet wird. Die Cyborg,
Mischwesen aus Organismus und Maschine, fungiert als Denkfigur, um gesellschaft-
liche Wirklichkeiten zu beschreiben, und als Projektionsfläche für die Diskussion
von Handlungsspielräumen. In der Rezeption wurde der Figur der Cyborg das
Potenzial zugeschrieben, geschlechtliche Rollen im World Wide Web aufheben oder
umgestalten zu können, Donna Haraways Überlegungen zu feministisch-
solidarischem Handeln traten in diesem Prozess in den Hintergrund (Arns 2004,
S. 9). Unter dem Label Cyberfeminismus experimentierten mehrere Künstlerinnen
mit Identitäten: So veröffentlichte z. B. die australische Gruppe VNS Matrix 1991
„A Cyberfeminist Manifesto for the 21st Century“ (Barratt o.J.; VNS Matrix 2007
[1991]), Eva Grubinger gestaltete einen „Netzbikini“ (1995), und Lynn Hershman
kreierte „Telerobotic Dolls“ (1995–1998): Tillie and CyberRoberta sind zwei Pup-
pen und gleichzeitig virtuelle Figuren, deren Augen als Kameras fungieren. Über
eine Webseite ist es möglich, Tillies und CyberRobertas Umgebung mit deren Augen
zu sehen und auf diese Weise räumliche Distanzen zu überwinden. Dahinter steht die
Idee, mit Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine zu experimentieren, um
neue Handlungsspielräume für Frauen zu schaffen. Das Projekt stand in Zusammen-
hang mit Lynn Hershmans Arbeit an ihrem Film „Conceiving Ada“ (1997). Der Film
beschäftigte sich mit Ada Lovelace, die als eine der ersten Frauen über das Potenzial
von Computern nachdachte, ohne dass ihrer Arbeit öffentliche Anerkennung zukam.
2
Zu diesen Themen arbeiten beispielsweise Friederike Pezold und Joan Jonas.
Feminismen, Kunst und Medien 655
unter anderem in ihrer Funktion als Werkzeuge der Selbstkontrolle und -optimie-
rung. Mit diesem Spannungsfeld zwischen Selbstermächtigung und Selbstkontrolle
via Social Media beschäftigte sich beispielsweise die Online-Ausstellung „Body
Anxiety and a new wave of digifeminist art“ (2016). Sie gab auch Einblicke in die
Auseinandersetzung von Künstlerinnen mit Körper- und Repräsentationspolitiken,
mit geschlechterbezogenen Stereotypen und der Frage nach Handlungsmacht im
Web 2.0. Gezeigt wurden unter anderem die Videoarbeiten von Randon Rosenbohm,
„My rejected selfies“ (seit 2014) und von Victoria Campbell, „Auto-Interviews“
(2013–2015), welche die Nutzung der Handykamera zur täglichen bis stündlichen
Anfertigung von selfies oder Videos, die in sozialen Netzwerken geteilt werden,
kritisch und ironisch thematisierten.
Während in der nicht nur künstlerischen feministischen Praxis der 1970er- und
frühen 1980er-Jahre die Suche nach der so genannten Identität der Frau von großer
Bedeutung war, schlugen Rozsika Parker und Griselda Pollock bereits 1981 vor, in
künstlerischen Arbeiten aufzuzeigen, auf welche Weise Geschlechteridentitäten
kulturell hergestellt werden (Parker und Pollock 2008, S. 41). Kaja Silverman fragte
nach der „Handlungsfähigkeit [. . .] im Feld des Sichtbaren“ (Silverman 1997, S. 48).
Sie argumentiert, Jaques Lacan und Roger Caillois folgend, dass Menschen die
Eignung und den Wunsch haben, ihre Pose an ein imaginäres Bild anzupassen, aber
auch die Anpassung verweigern können (Silverman 1997, S. 46–48). Sie verweist
auf die Möglichkeit, Bildrepertoires umzuarbeiten, zu erweitern und in Frage zu
stellen. Die im Folgenden vorgestellten künstlerischen Arbeiten (Video und Foto-
grafie der 1960er bis 1980er) greifen psychoanalytische Ansätze zu Blickregime, zur
geschlechtlichen Kodierung von Konstellationen des Blickens (nicht nur) im Kino
(Mulvey 1975, S. 59; Silverman 1997, S. 44) auf und fokussieren Wechselwirkun-
gen des Blickens, Prozesse der Subjektivierung und das Verhältnis zwischen Körper
und Kamera.
Letícia Parente, eine der ersten brasilianischen Künstlerinnen, die in den 1970er-
Jahren mit Video arbeitete, setzte sich mit der Wechselwirkung zwischen Zuschrei-
bungen an den Raum des Zuhauses und an den Körper der Frau auseinander.
„Preparação I“ (1975) fokussiert die Auseinandersetzung mit dem eigenen Gesicht,
dem Spiegel und der Kamera (Lamioni 2013, S. 5) anhand der Vorbereitung für das
Verlassen des Hauses: Vor dem Spiegel stehend, bedeckt sie Mund und Augen mit
Bandagen, um mit schwarzem Schminkstift Mund und Augen aufzumalen (Lamioni
2013). Das Video „Tarefa 1“ (Leticia Parente, 1982) zeigt zwei Frauen in einer
Waschküche: Während die eine am Bügelbrett liegt (und wie ein Wäschestück
gebügelt wird), leistet die andere als Hausangestellte die Arbeit des Bügelns – eine
visuelle Artikulation des Zusammenwirkens der Faktoren Geschlecht*, Herkunft
und soziale Position in der Herstellung von Ungleichheiten.
Feminismen, Kunst und Medien 657
Im Nachdenken über Feminismen und Kunst gilt es, die Unterschiedlichkeit der
sozialen, geografischen und politischen Kontexte zu beachten, denen die Arbeiten
entstammen (Pachmanová 2010, S. 93). Das Schreiben über feministische und/oder
queere künstlerische Positionen als Auseinandersetzung mit minorisierten Subjekt-
positionen ist „in besonderem Maße einer potenziellen Verstrickung von politisch-
emanzipativen und diskriminierenden Diskursen ausgesetzt“ (Bartl 2012, S. 19).
Auch wenn Werke beispielsweise den so genannten privaten Raum des Zuhauses
nutzen oder zum Thema machen, ist dieser in den jeweiligen Kontexten unterschied-
lich konnotiert. Das Zuhause beispielsweise, das Martha Rosler als Produktionsort
für „Semiotics of the Kitchen“ nutzt, um unter anderem Lebensrealitäten unbezahlter
häuslicher Arbeit zum Thema zu machen, ist für Hausangestellte ein Raum bezahlter
Arbeit (in „Tarefa 1“ von Letícia Parente), in dem ihnen unter Umständen gar keine
Privatsphäre zusteht. In autoritären Regimes wiederum kann es als geschützter oder
sogar als einzig möglicher Ort politischen Handelns dienen. In diesem Sinne kann
beispielsweise eine Lesart von „Body Beautiful“ (Martha Rosler), Kriegsdarstellun-
gen ins traute Heim zu bringen und so das Politische in den privaten Raum zu holen,
nicht für Arbeiten gelten, die in autoritären Regimes den privaten Raum als Ort des
politischen Handelns konzipieren.
Neuere Ansätze,3 den Handlungsspielraum im „Feld des Sichtbaren“ (Silverman
1997, S. 48) zu erweitern, gehen von der Annahme aus, dass dem Zeigen nicht nur
ein Potenzial der Normierung innewohnt, sondern auch die Möglichkeit, den Akt der
Anpassung an imaginäre Bilder zu verweigern, Darstellungskonventionen in Frage
zu stellen oder umzuschreiben.
Im Sinne einer „Politik der Bilder“, verstanden als „Redefinition dessen, was
gesehen und gesagt werden kann“ (Holert 2015, S. 8), greifen sie zu den künst-
lerischen Mitteln der Veruneindeutigung, des Verunklärens und des Vervielfältigens
von Identitäten, um „kulturell begründete Alteritäten und Diversitäten zum Thema“
zu machen (Paul 2001, S. 9) und Geschlechterdichotomien und mit diesen verbun-
dene Zuschreibungen und Normierungen in Frage zu stellen. Katrina Daschners
Videoarbeit „Pferdebusen“ (2017) nutzt die Mittel der (De-)Maskierung, das Spiel
zwischen Licht und Dunkelheit, das Material Leder und das tierische Fell, um
Identitäten zu vervielfältigen und queeres Begehren auf eine Weise zum Thema zu
machen, die dem Publikum Platz für eigene Bilder im Kopf lässt. Die Filminstalla-
tion „Toxic“ von Pauline Boudry und Renate Lorenz befragt filmische Repräsenta-
tionen von Geschlechteridentitäten, indem zwei Personen mit uneindeutigen
geschlechtlichen Identitäten ihre eigenen Körper unter Zuhilfenahme von Klei-
dungsstücken und Objekten entgrenzen und erweitern. Auf diese Weise wird
gezeigt, wie vergeschlechtlichte Körper hergestellt und auch vervielfältigt werden
können.
3
Für einen Überblick siehe Adorf und Brandes 2008.
Feminismen, Kunst und Medien 659
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660 R. Hagyo
Sigrid Kannengießer
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662
2 Die Rolle von Medien für das Aufkommen translokaler Frauenbewegungen . . . . . . . . . . . . . 663
3 Die Medienaneignung translokaler Frauenbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664
4 Potenziale und Grenzen der Medienaneignung translokaler Frauenbewegungen . . . . . . . . . 666
5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667
Zusammenfassung
Frauenbewegungen konstituieren sich nicht zuletzt durch ihre Medienaneignung
über nationale und kulturelle Grenzen hinweg. Vor allem Online-Medien wie
Email, Mailinglisten, Wikis, Online-Foren u. a. ermöglichen die translokale und
transnationale Vernetzung und Mobilisierung. Online-Netzwerke wie facebook
und Micro-blogging-Dienste wie twitter werden für die Vernetzung, für die
Organisation ereignisbezogener feministischer Kampagnen sowie neben Websei-
ten und Weblogs auch für Öffentlichkeitsarbeit benutzt. Im Zuge transnationaler
Vernetzung werden allerdings oft bestehende Ungleichheiten zwischen den
Akteurinnen in verschiedenen Regionen und Ländern und innerhalb dieser fort-
geschrieben und neue entstehen.
Schlüsselwörter
Frauenbewegungen · Netzwerke · Translokalität · Transnationalität ·
Feminismus · Medienaneignung · Online-Medien · Digitale Kluft
S. Kannengießer (*)
ZeMKI, Universität Bremen, Bremen, Deutschland
E-Mail: sigrid.kannengiesser@uni-bremen.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 661
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_44
662 S. Kannengießer
1 Einleitung
1
Für Analysen lokaler Frauenbewegungen in unterschiedlichen nationalen Kontexten siehe Bei-
träge in z. B. Lenz et al. 2000; Griffin und Braidotti 2002; Becker und Kortendiek 2004; Fer-
ree 2018.
Transnationale Frauenbewegungen im medientechnologischen Wandel 663
Bereits die Frauenbewegungen der ersten Welle verteilten Postkarten, Poster und
Flyer, um feministische Öffentlichkeiten für ihre Forderungen herzustellen.2 Die
Vernetzung von Frauen sowie feministische Öffentlichkeiten, die „Gesellschaftskri-
tik auf der Basis des beobachteten Geschlechterverhältnisses [formulieren]“ (Klaus
2005, S. 115), blieben dabei überwiegend an lokale Räume gebunden. Mit dem
Wandel der Medientechnologien veränderten sich auch die Möglichkeiten der Ver-
netzung von Frauen und Frauenbewegungen über ihre jeweiligen Orte hinweg.
Bereits vor der Etablierung des Internets waren Frauenorganisationen translokal
vernetzt, z. B. über Rundbriefe und Informationsblätter oder den Einsatz von Fax-
Geräten (Gittler 1999, S. 93; Rentschler 2015). Durch die Verbreitung von Online-
Medien eröffneten sich auch für Frauen und Frauenbewegungen neue Formen und
Wege der Vernetzung und damit neue Optionen, feministische translokale Öffent-
lichkeiten herzustellen (siehe zum Beispiel Heinrich-Böll-Stiftung/Feministisches
Institut 2002).
Die Weltfrauenkonferenzen haben seit den 1970er-Jahren maßgeblich dazu bei-
getragen, dass sich translokale Frauenbewegungen konstituieren konnten (Finke
2005, S. 89–90 und S. 111). Diese Bemühungen waren zunächst durch europäische
und US-amerikanische Frauen(organisationen) dominiert. Später erhielten durch die
Weltfrauenkonferenzen aber auch Frauen(organisationen) aus den ökonomisch
weniger entwickelten Ländern immer mehr Einfluss auf globaler Ebene (Finke
2005, S. 91–93; siehe auch Pettman 2004, S. 50).
Die Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 war, auch in Hinblick auf ihre digitale
Vernetzung, eine Zäsur für die translokale Frauenbewegung, denn zeitgleich zu den
Vorbereitungen der Konferenz etablierte sich das Internet (Gittler 1999, S. 91).
Anlässlich dieser Konferenz nutzten Nichtregierungsorganisationen (NRO) On-
line-Medien, um das NRO-Forum Platform for Action vorzubereiten: Auf Webseiten
wurden Dokumente hochgeladen und über Email-Verteiler Informationen ausge-
tauscht (Gittler 1999, S. 94–96). Die Online-Kommunikation diente nicht nur der
inhaltlichen Vorbereitung der NRO-Aktionen, sondern beförderte auch ein Gemein-
schaftsgefühl (Gittler 1999, S. 95), und es entstand zwischen Feministinnen des
globalen Südens und des globalen Nordens auf der Weltfrauenkonferenz in Peking
eine gemeinsame feministische Perspektive (Finke 2005, S. 99; Walters 2005,
S. 123) – trotz vielfältiger Differenzen und kontroverser Debatten.
Feministische Bewegungen waren immer schon durch Auseinandersetzungen
unter anderem um Fragen nach Repräsentation, Gleichheit und Homogenität ge-
prägt. So forderte Sojourner Truth als ehemalige Sklavin und Frauenkämpferin
‚weiße‘ Feministinnen 1851 in Ohio auf, sich auch für die Rechte afro-
amerikanischer Frauen einzusetzen (Frey Steffen 2006, S. 33). Gayatri Chakravorty
2
Siehe für einen kurzen historischen Abriss der Medienaneignung feministischer Bewegungen
Gunnarsson Payne 2012, zur frühen translokalen Frauenbewegung siehe z. B. Rupp 2011.
664 S. Kannengießer
Spivak (2003) stellt mit „Can the Subaltern Speak?“ die Frage nach den Repräsenta-
tionsmöglichkeiten subalterner Frauen im öffentlichen Raum, und Chandra Talpade
Mohanty findet in feministischen Texten der 1980er-Jahre die „Dritte-Welt-Frau“ als
ein singuläres, monolithisches Subjekt vor, das in Prozessen des „diskursiven
Homogenisierens“ (Mohanty 1988, S. 63) konstruiert werde.
Zudem ist in die translokale und transnationale Vernetzung eine digitale Kluft
eingeschrieben, die sich vor allem entlang eines „Nord-Süd-Gefälles“ zeigte und
zeigt: So waren es zunächst überwiegend Frauen aus den Industrieländern, die über
Internetzugang, entsprechende digitale Technologien und Sprachkompetenzen ver-
fügten, um sich online zu vernetzen und austauschen zu können.
3
Hasebrink und Domeyer definieren ein Medienrepertoire als die Gesamtheit der Medien, die eine
Person regelmäßig nutzt (Hasebrink und Domeyer 2012, S. 758). Auch Organisationen oder andere
soziale Gebilde können über Medienrepertoires verfügen, die dann die Gesamtheit der Medien
umfassen, die eine Organisation oder ein Netzwerk regelmäßig nutzt.
Transnationale Frauenbewegungen im medientechnologischen Wandel 665
4
Ein Beispiel für ein translokales Netzwerk von Frauen und Frauenorganisationen ist die Associa-
tion for Progressive Communications Women’s Networking Support Programme, das sich Online-
Medien für die translokale Netzwerkbildung aneignet (Kannengießer 2014).
666 S. Kannengießer
Mit der Etablierung von Internetmedien in den 1990er-Jahren ging die Hoffnung
einher, dass die ‚neuen‘ Medien „Frauen neue Formen interpersoneller politischer
Beziehungen und neue Formen der Entwicklung über traditionelle kulturelle Erfah-
rungen hinaus ermöglichen“ (Harcourt 2002, S. 27; siehe auch Harcourt 2008). So
sollten Online-Medien dazu beitragen, 1) die Kluft zwischen den Geschlechtern zu
überbrücken, da Frauen und Männer gleichermaßen Mitglieder digitaler Netzwerke
sein könnten, 2) geopolitische Klüfte zu überwinden, da sich Personen aus verschie-
denen Regionen vernetzen könnten, 3) die Kluft zwischen Intellektuellen sowie
Aktivisten und Aktivistinnen zu mindern, da beide Akteursgruppen Teil der digitalen
Netzwerke seien könnten (Harcourt 1999, S. 220–221).
Diese euphorischen Zuschreibungen an Online-Medien für feministische Vernet-
zung und Geschlechtergerechtigkeit wurden jedoch enttäuscht. So haben auch
Online-Medien nicht zur (weltweiten) Geschlechtergerechtigkeit beigetragen, und
auch heute noch bestimmen Gefälle in Zugang und Beteiligung die translokale
Vernetzung von Frauen und Frauenorganisationen, sind es doch in ökonomisch
weniger entwickelten Ländern vor allem die gut ausgebildeten Frauen der Mittel-
schicht, welche sich über Online-Medien translokal vernetzen (Kannengießer 2014).
Auch sind translokale Netzwerke von Frauen und Frauenorganisationen mitnich-
ten konfliktfrei, wie Hartmann am Beispiel der „postkolonial-cyberfeministischen“
Mailing-Liste Undercurrents zeigt (Hartmann 2006). Die Konfliktlinien werden hier
u. a. aus einer intersektionalen Perspektive erklärt, da die Kommunizierenden sich in
sozio-kulturellen Kategorien wie Ethnizität unterscheiden (Hartmann 2006, S. 156).
Außerdem werden gerade feministische Öffentlichkeiten, welche über Online-
Medien hergestellt werden, zunehmend durch anti-feministische Interventionen
irritiert und gestört (siehe zum Beispiel zu twitter und Anti-Feminismus: Drüeke
und Klaus 2014).
5 Fazit
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Transnationale Frauenbewegungen im medientechnologischen Wandel 669
Susanne Hochreiter
Inhalt
1 Einleitung: Sprache und Kommunikationspraktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672
2 Sprache und Gespräche: Theorieentwicklung: Defizit, Differenz und Konstruktion . . . . . . 673
3 Non_Verbale Kommunikation: Körpersprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676
4 Sprache und Kommunikation in Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677
5 Richtlinien, Sprachleitfäden, Wörterbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679
6 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683
Zusammenfassung
Kommunikation – verbal und nonverbal – ist in der feministischen Forschung ein
zentrales Thema. Es geht um den Zusammenhang von Geschlecht, Sprache und
Kommunikation. Neben der Kommunikationswissenschaft leisten Disziplinen
wie Linguistik, Psychologie, Soziologie und Ethnologie wesentliche Beiträge
zur Forschung. Die feministische Auseinandersetzung mit dem Themengebiet
verfolgt seit den 1970er-Jahren zwei zentrale Stränge: Einerseits geht es um
Sprache selbst, um das Sprachsystem und um sprachliche Praxis. Andererseits
liegt das Interesse im Bereich der Interaktion: verbale und nonverbale Kommuni-
kation im Zusammenhang geschlechtlicher Codierungen sprachlichen Verhaltens
sowie die Bedeutung von Kommunikation für die Ausbildung von Geschlechts-
identität und Geschlechterdifferenzen.
Schlüsselwörter
Feministische Kommunikationsforschung · Feministische Linguistik ·
Feministische Sprachkritik · Gender-Linguistik · Verbale und nonverbale
Kommunikation
S. Hochreiter (*)
Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: susanne.hochreiter@univie.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 671
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_77
672 S. Hochreiter
sowohl auf Ebene des Gesprächsstils als auch in Hinblick auf Argumentations-
strategien (Kotthoff 1993, S. 111). Helga Kotthoff stellt fest, dass Geschlecht und
sozialer Status in Gesprächen wirksam werden, betont aber, dass ein Aufbrechen von
Geschlechterstereotypen generell erstrebenswert sei: Wenn weibliches Sprechen als
passiv und wenig durchsetzungsfähig erscheint, männliches Sprechen hingegen als
aggressiv, dann seien beide Formen wenig attraktiv (Kotthoff 1993, S. 112).
Eine dritte Hypothese, die so genannte Code-switching-Hypothese, beschreibt
das Sprachverhalten von Frauen als eines, das je nach Anlass und Situation Sprach-
varietäten (Codes) wechselt. Hier wird weder von einem Mangel der Ausdrucks-
fähigkeit von Frauen ausgegangen noch von einer Andersartigkeit weiblichen
Sprachverhaltens. Frauen hätten vielmehr eine eigene kommunikative Kompetenz
entwickelt, sich sozialen Erwartungen anzupassen (Samel 2000, S. 38).
Sehr viel Aufmerksamkeit erhielt die Hypothese von den „zwei Kulturen“ von
Maltz und Borker (1991), der zufolge Frauen und Männer verschiedene Kommuni-
kationsprinzipien verfolgten. Das Modell erfuhr sowohl in der breiteren Öffentlich-
keit als auch in der Fachwissenschaft starke Resonanz, erntete jedoch auch ent-
schiedene Kritik. Als fragwürdig und spekulativ bewertet wurden Annahmen wie
solche einer getrennten geschlechtlichen Sozialisation sowie die Auffassung homo-
gener Geschlechtsgruppen. Breit rezipiert und kritisiert wurden die Arbeiten von
Deborah Tannen (1991, 1995). Sie untersuchte u. a. Gesprächsabsichten und -the-
men, Reaktionen und Unterbrechungen bzw. Überlappungen in Gesprächen als eine
Form interkultureller Kommunikation zwischen Frauen und Männern in privaten
und beruflichen Gesprächen. In Tannens zugespitzter Lesart der Zwei-Kulturen-
These sprechen Frauen auf der Ebene der Beziehung, während Männer auf Pro-
blemlösung fokussieren und damit eine Asymmetrie in der Gesprächssituation
herstellen. (Tannen 1991, S. 78–79) Problematisch ist an dieser Dichotomisierung
eine essenzialisierende Festschreibung, die Sprecher*innen von Verantwortung ent-
bindet, aber auch Möglichkeiten zur Veränderung negiert. (Ayaß 2008, S. 83–97)
Ein weiteres Modell bietet die Sexstereotypentheorie. Demnach spiele das Ge-
schlecht in sprachlicher Interaktion insofern eine Rolle, als damit unterschiedliche
stereotype Erwartungen und Vorstellungen aktiviert würden. Differenzen im Sprach-
verhalten würden erst durch die geschlechtstypische Wahrnehmung der Betrach-
ter*innen entstehen. (Thaler 2005, S. 102)
Die Weiterentwicklung der Theoriebildung greift langjährige Kritik auf und
diskutiert seit Anfang der 1990er-Jahre das Ineinanderwirken bzw. die Intersek-
tionalität weiterer Differenzkategorien wie Alter, Herkunft, Ethnizität oder soziale
Schicht. Einerseits galt es zu klären, wie diese Interrelationen theoretisch zu fassen
sind, und andererseits stellte sich die Frage nach adäquaten Untersuchungsmetho-
den. Die Differenzthese war nicht länger tragfähig: Eine binäre Konzeption von
Geschlecht erschwert nicht nur das Erfassen der vielfältigen Diskriminierungs-
dimensionen, sondern übersieht auch die sozio-historische Prägung von Geschlech-
termodellen und damit auch die Möglichkeit zu deren Veränderung.
Eine Neuorientierung für die feministische Linguistik boten konstruktivistische
Modelle, die eine Verbindung der systematischen Untersuchung von Gender als
soziale Konstruktion mit dem Konzept des „doing gender“ nach West und Zim-
Kommunikation, Sprache und Geschlecht 675
merman ermöglichen sollten. Methodisch bedeute dies „eine Anwendung der Ana-
lyseperspektive der ethnomethodologischen Konversationsanalyse auf die Ge-
schlechterthematik“ (Klann-Delius 2005, S. 14).
Ethnomethodologische Untersuchungen fragen nach dem Wie der Produktion
von sozialer Wirklichkeit (Bergmann 1981, S. 12). Soziale Wirklichkeiten existieren
nicht jenseits sozialen Handelns, sie stellen sich im Gegenteil immer im konkreten
Vollzug, in der konkreten Interaktion her, und zwar nach bestimmten Regeln,
Annahmen und „Methoden“. Dies gilt auch für Geschlecht. Garfinkel fragt daher
danach, wie sich eine Person in einer Gesellschaft als „Frau“ oder „Mann“ wahr-
nehmbar macht und wie sie als „Frau“ oder „Mann“ identifizierbar wird. (Garfinkel
1967)
Judith Butler hat die Auffassung der sozialen Produktion von Kategorien wie
Geschlecht radikalisiert. Sie bezieht sich u. a. auf John L. Austins Sprechakttheorie.
In ihrem Buch Das Unbehagen der Geschlechter (1991) arbeitet Butler eine per-
formative Theorie der Geschlechter aus. Geschlechtsidentitäten sind demnach der
Sprache nicht vorgängig, sondern entstehen durch performative Sprechakte. Butler
liest Austin mit Michel Foucaults Diskurstheorie. Diskurse wirken demnach pro-
duktiv, bringen Realität hervor. Mit Jacques Derrida versteht Butler Sprache als
Handlung dann, wenn Äußerungen in wiederholbaren und nachvollziehbaren For-
meln tradiert werden, die bestimmten sprachlichen Konventionen entsprechen. Per-
formativität ist „immer Wiederholung einer oder mehrerer Normen; und in dem
Ausmaß, in dem sie in der Gegenwart einen handlungsähnlichen Status erlangt,
verschleiert oder verbirgt sie die Konventionen, deren Wiederholung sie ist.“ (Butler
1995, S. 36)
Ebenfalls einflussreich wurde Judith Butlers Buch Haß spricht. Zur Politik des
Performativen (2006). Darin beschäftigt sie sich mit der Frage, wie Sprache ver-
letzen kann. Akte des Benennens, des Zuschreibens, der Auslassung, der Nicht-
Benennung sind als Handlungen, die Personen als Individuen oder in Gruppen
betreffen, wirksam. Personen, die abwertend bezeichnet oder nicht genannt werden,
erfahren – je nach Instanz, die spricht – eine Aberkennung von Würde oder auch
ihrer Existenzberechtigung.
Die gegenwärtige Forschung zu Geschlecht, Sprache und Kommunikation ist
bemüht, das Zusammenspiel von Faktoren wie Geschlecht, soziale Schicht, Status
und Macht, Kontext/Situation, Alter und Stereotype mit einzubeziehen und im
Zusammenspiel zu verstehen. In Bezug auf Sprachverhalten werden etwa neuroana-
tomische Grundlagen von Kognition und Sprache untersucht (z. B. Ferstl et al. 2008;
Kaiser et al. 2009; Friederici 2021), aber auch der Einfluss von Medien. Frühe
linguistische Forschung im Bereich Internetkommunikation weist auf persistierende
Muster hin: Untersuchungen zeigen, dass Geschlechterunterschiede in computer-
gestützter textbasierter Kommunikation dazu tendieren, Frauen zu benachteiligen
(Herring 2005, S. 209; Koch et al. 2005). Die Studienergebnisse zur neueren
Entwicklung bezüglich sozialer Medien stimmen Forscherinnen (Götz und Prommer
2019; Götz und Becker 2019) nachdenklich, denn in sozialen Medien wären Selbst-
präsentation von Frauen und Männern konservativer als im Fernsehen. Zudem gibt
es Studien zu Hate Speech und Cybermobbing im Netz – Phänomene, die in hoher
676 S. Hochreiter
Zahl auch Männer betreffen (Nadim und Fladmoe 2019). Anti-Feminismus, Trolling
und Mansplaining zielen jedoch in spezifischer Weise auf Frauen ab. (Ganz 2019)
Zahlreiche Angriffe gegen geschlechtliche und sexuelle Minderheiten sowie gegen
migrantisierte Personen und BIPOC werden in Ministerien und von NGOs doku-
mentiert (z. B. Antirassistische Initiative in Deutschland oder ZARA in Österreich).
Sprachgebrauch und nonverbales Verhalten unterscheidet zwar Geschlechter als
Gruppen, aber auch innerhalb der Geschlechtergruppen können Unterschiede beste-
hen. Geschlecht ist darüber hinaus nicht immer im Mittelpunkt. Stefan Hirschauer
(1994) argumentiert, dass es auch Kontexte der Geschlechtsneutralität gäbe und dass
Prozesse des „undoing gender“ berücksichtigt werden sollten. Die These, wonach
Gender immer die wichtigste Kategorie in einem Gespräch sei, wie zu Beginn der
feministischen Forschung postuliert wurde, ist vor allem im Verhältnis zu anderen
Differenzkategorien nicht haltbar. (Kotthoff und Nübling 2018, S. 300)
Ein großer Teil feministischer Forschung zu Sprache sowie zu verbaler und nonver-
baler Kommunikation ist verknüpft mit Medien. Schließlich ist mediale Interaktion
und Repräsentation zweifach bedeutsam: einerseits als breit zugängliche Quelle und
andererseits im Stellenwert, der Medien in Hinblick auf die Re_Produktion, Vermitt-
lung und Co-Konstruktion von Geschlechterkonzeptionen zukommt (z. B. Wolf
2008).
Schon im Band Gewalt durch Sprache von Senta Trömel-Plötz untersuchen
mehrere Aufsätze Unterschiede in der Konversation von Männern und Frauen bei
Redelänge, Themenwechseln oder Unterbrechungen exemplarisch an Fernsehdis-
kussionen und stützten damit Defizit- und Differenzannahmen (1984, S. 201–319).
Vor dem Hintergrund konstruktivistischer Ansätze legte dann Helga Kotthoff Fall-
studien zur „Inszenierung von Expert(innen)tum“ in Gesprächen vor, in denen sie
der Frage nachgeht, „wie Geschlecht in konkreten Interaktionen als relevante Kate-
678 S. Hochreiter
gorie hergestellt wird“ (Kotthoff 1993, S. 79). Ihr Fazit: Männlich codierter Ge-
sprächsstil stelle auf individuelle Statusdemonstration und Durchsetzung ab und sei
daher wenig partnerschaftlich orientiert, während Frauen meist einen „weiblichen“
Gesprächsstil pflegen, der partnerzentriert und themenorientiert sei. Konkurrenz-
kommunikation werde höher bewertet, Frauen „unterliegen“ daher oft mit ihren
kooperativen Redebeiträgen. Hierarchien und geschlechtlich codierte Asymmetrien
seien aber schon dem Medium selbst eingeschrieben, wie Kotthoff betont: Die
„stilistische Normalität“ werde nicht nur in der konkreten Situation ausgehandelt,
„sondern ist schon in den Medien vorgängig präsent“ (Kotthoff 1993, S. 92). Zu
ähnlichen Ergebnissen kommt Ulrike Gräßel mit dem Befund, dass zwar in den von
ihr untersuchten Fernsehdiskussionen die signifikantesten Differenzen in Bezug auf
Status festzustellen waren, Geschlecht aber damit stets verwoben sei: So „scheint es
relativ egal zu sein, wie Männer und Frauen tatsächlich reden, da auch ähnliches
oder gar gleiches Sprachverhalten unterschiedlich wahrgenommen, eingeordnet und
bewertet wird“ (Gräßel 2004, S. 66). Studien (z. B. Mulac et al. 1985) legen nahe,
dass trotz der zahlreichen Einflüsse, die Sprachverhalten prägen, wie Status, Alter,
Milieu oder Kontext, stereotype Erwartungen die Wahrnehmung von Sprachverhal-
ten beeinflussen können. Belege dafür finden sich auch in der Internetkommunika-
tion (Braun 2004, S. 23; Zeweri 2015).
Vielfach erforscht wurde die Rolle von Medien im Zusammenhang mit der
Herstellung und Repräsentation von Geschlecht und da insbesondere die Rolle der
Printmedien und des Fernsehens. Visuelle Formen von Repräsentation sind ein
zentraler Aspekt der Analyse.
Beispielsweise untersuchte Christiane Schmerl (2004) die visuelle Darstellung
von Frauen und Männern auf Pressefotografien und deren Rezeption durch Leser*in-
nen, die der vorherrschenden Kopfbetonung bei Männerbildern mehr Kompetenz
zusprachen als der mehrheitlich dargestellten Körperbetonung von Frauen. Anderer-
seits zeigen Untersuchungen, dass es in einigen Medien bereits zu einer weniger
asymmetrischen visuellen Repräsentation kommt. (Grittmann 2012; Kinnebrock
und Knieper 2008) Dies gilt aber noch nicht, wenn weitere Achsen der Differenz
wie „race“ oder Religionszugehörigkeit dazu kommen. (Dietze 2009)
Auch Werbung wurde intensiv erforscht. In Gender Advertisements (1976) zeigt
Erving Goffman anhand von Bildwerbung, „wie normativ und asymmetrisch die
Geschlechterglaubensvorstellungen sind“, welche sie nicht nur reproduziert, son-
dern hyperritualisiert (Kotthoff und Nübling 2018, S. 309).
Im Anschluss an Goffmans Arbeiten analysierten feministische Forscher*innen
in zahlreichen weiteren Studien die deutlich sexistischen wie auch die subtil stereo-
typen Geschlechterdarstellungen der Werbung (für einen Überblick Holtz-Bacha
2019). Sprachsystem und Sprachgebrauch werden dabei in wechselseitiger Bedingt-
heit mit dem „Sozialsystem“ betrachtet, also dem gesellschaftlichen Kontext von
Kommunikation, der von Traditionen und Hierarchien geprägt ist. Mühlen Achs
untersucht an Werbebildern konventionalisierte körpersprachliche Darstellungen
von Weiblichkeit und Männlichkeit in ihrer „scheinbaren Normalität und Alltäglich-
keit“ (Mühlen Achs 1998, S. 42). Spielräume für Verschiebungen von Gendernor-
men können insbesondere in der Popkultur entwickelt und genützt werden. Musi-
Kommunikation, Sprache und Geschlecht 679
ker*innen – wie David Bowie oder Madonna – gelten als Vorbilder, die in ihren
Performances und Videos zur „Auflösung traditioneller Präsentationsformen von
Zweigeschlechtlichkeit“ beigetragen haben (Ayaß 2008, S. 143). Während jedoch
einige Künstler*innen Geschlechternormen unterlaufen, bedienen andere nicht nur
binäre Modelle, sondern kreieren hypermaskuline und -feminine Bilder (u. a. im
Hip-Hop). Die (Fach)Diskussion unterstreicht die Notwendigkeit intersektionaler
Zugänge, da sowohl „race“ als auch „class“ für Identitätskonstruktionen und Insze-
nierungen in der Pop(musik)kultur bedeutsam sind. (Bechdolf 1999; Shabazz 2013;
Halliday und Payne 2020)
Insgesamt erscheinen Geschlechternormen heute im deutschsprachigen Raum als
in Bewegung: Einerseits zeigen sie sich in einigen Bereichen als sehr beständig,
während zugleich queere und trans*gender Communities für Nonbinarität kämpfen
und es gesetzlich möglich ist, unter bestimmten Voraussetzungen eine dritte Ge-
schlechtsoption zu wählen.1
Am Beispiel von Frauen und Männern in Spitzenpositionen in Politik, Wirtschaft
und Wissenschaft zeigt sich eine ambivalente Entwicklung: Einerseits ist eine
Renaissance der Inszenierung stereotyper Männlichkeit zu beobachten, andererseits
kommen traditionelle Geschlechtervorstellungen in der Bildberichterstattung in
Bewegung (Grittmann 2012, S. 127). Stereotype Weiblichkeit wird in der Reprä-
sentation von Führungspersonen nicht mehr ungebrochen aufgerufen – eine auf-
grund der zunehmenden Bedeutung von visueller Information besonders relevante
Entwicklung. Dennoch bleibt ein Genderbias wirksam: auf Ebene der Bildauswahl,
der Sichtbarkeit oder traditioneller Formen der Vergeschlechtlichung, insbesondere
bei Porträts einzelner Akteur*innen. (Grittmann 2012, S. 165)
Für feministische Forscher*innen war früh klar: Die linguistische Analyse muss zu
einer veränderten sprachlichen Praxis führen. Die Kritik an einer Sprache, die Frauen
unterdrückt, manifestierte sich in konkreten sprachpolitischen Maßnahmen: in Emp-
fehlungen, Richtlinien und Leitfäden für einen nicht-sexistischen und geschlechter-
gerechten Sprachgebrauch. Aber auch Schulbuch- und Wörterbuchkritik sind Be-
standteil sprachkritischer und -politischer feministischer Arbeit. Ingrid Samel nennt
die Maßnahmen sprachpolitisch insofern, als „nicht ausschließlich linguistisch be-
gründbare Empfehlungen der Sprachveränderung geäußert werden beziehungsweise
Änderungswünsche auch von linguistischen Laiinnen aus sozialen Beweggründen
(etwa die Verbesserung der Situation der Frau) vorgebracht werden“ (Samel 2000,
S. 127).
1
Deutschland (seit 2018): „divers“ oder „ohne Angabe“; Österreich (2018, Erweiterung 2020):
„divers“, „inter“ oder „offen“ bzw. „kein Eintrag“; Schweiz, Liechtenstein, Luxemburg: bisher
keine Optionen jenseits von „männlich“ oder „weiblich“.
680 S. Hochreiter
Ziel war und ist es, Frauen sprachlich anzuerkennen und sichtbar zu machen, um
auf diese Weise zur Gleichberechtigung auch in anderen Lebensbereichen beizutra-
gen. Bereiche, auf die sich die Empfehlungen und Richtlinien beziehen, sind Namen,
Anredeformen und Titel, Berufs-, Amts- und Funktionsbezeichnungen, generell
Personenbezeichnungen sowie Pronomen.
Inzwischen liegen etliche Studien vor, die die These, wonach sprachliche Gleich-
berechtigung Effekte hat und etwa andere berufliche Perspektiven von Frauen
fördert, unterstützen. Ein Beispiel ist die Untersuchung von Dries Vervecken und
Bettina Hannover Yes, I can! (2015). Berufen, die nur im Maskulinum angeboten
wurden, schrieben Kinder einen höheren Status zu, sie hielten sie aber auch für
schwerer zugänglich. Anders bei der Vergleichsgruppe: Kinder beiderlei Ge-
schlechts trauten sich auch ungewöhnliche Berufe eher zu, wenn sie in der Paarform
(z. B. Astronaut/Astronautin) präsentiert wurden.
Bereits 1980 formulierten Ingrid Guentherodt, Senta Trömel-Plötz, Luise Pusch
und Marlies Hellinger die ersten deutschen „Richtlinien zur Vermeidung sexisti-
schen Sprachgebrauchs“. Zahlreiche weitere in allen deutschsprachigen Ländern
folgten.
Politisch ist das Thema Geschlecht und Sprache seit Mitte der 1980er-Jahre auf
der Agenda. Zentrale feministische Forderungen in Gesetzen und amtlichen Rege-
lungen wurden Schritt für Schritt verbindlich umgesetzt, Anreden und Personenbe-
zeichnungen in der Verwaltung symmetrisch geregelt.
In Deutschland fand im Hessischen Landtag 1985 eine erste Anhörung zur
Gleichbehandlung von Frauen und Männern in Gesetzestexten statt. Weitere Bun-
desländer folgten, Jurist*innen machten Vorschläge für die Benennung von Frauen
und Männern in der Verwaltungs- und Gesetzessprache, und schließlich kam das
Thema auch im deutschen Bundestag an. 1991 erschien das vom Bundesministerium
der Justiz herausgegebene und rechtsverbindliche „Handbuch der Rechtsförmlich-
keit“, in dem für die Vorschriftensprache ein Abgehen vom bis dahin üblichen
Maskulinum vorgesehen wird. Allerdings ist erst in der dritten Auflage aus dem
Jahr 2008 die Rede davon, dass Frauen ebenso wie Männer in juristischen Texten
direkt anzusprechen und sichtbar zu machen seien (HdR 2008, Teil B, 1.8, 111).
In Österreich hat Ruth Wodak, Pionierin der kritischen Diskursanalyse, gemein-
sam mit Gert Feistritzer, Sylvia Moosmüller und Ursula Doleschal 1987 unter dem
Titel Sprachliche Gleichbehandlung von Frau und Mann linguistische Empfehlun-
gen für den öffentlichen Bereich veröffentlicht. (Wodak et al. 1987) Im „Handbuch
der Rechtssetzungstechnik“ von 1990 ist eine allgemeine Leitlinie enthalten, wo-
nach Frauen und Männer gleichermaßen anzusprechen sind; Organe, Funktions-
bezeichnungen und Rechtsvorschriften sollten geschlechtsneutral formuliert werden.
(BKA 1990) 2004 wurde im Bundesgesetz über die Gleichbehandlung u. a. in § 9
das „Gebot der geschlechtsneutralen Stellenausschreibung“ festgelegt. (GlBG 2004)
Die Schweizerische Bundeskanzlei sprach sich 1991 für möglichst kreative
Lösungen im Interesse der „Sprachliche[n] Gleichbehandlung von Frau und
Mann“ in der Vorschriften- und Verwaltungssprache aus: Mit der Paarbildung,
„Geschlechtsneutralisation und -abstraktion sowie mit der Möglichkeit zu Umfor-
mulierungen“ (Schweizerische Bundeskanzlei 1991, S. 49) sollten jeweils passende
Kommunikation, Sprache und Geschlecht 681
2
Weitere wichtige Wörterbücher des Deutschen sind das Österreichische Wörterbuch und Das
Wörterbuch der deutschen Sprache (Wahrig).
682 S. Hochreiter
6 Ausblick
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transcript.
3
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684 S. Hochreiter
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Teil VII
Gewalt-, Dominanzverhältnisse und/in Medien
Medienethik und feministische
Medienforschung
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692
2 Unverbundene Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692
3 Medienethische Geschlechterforschung und feministische Medienethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696
4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698
Zusammenfassung
Feministische Medienforschung, feministische Ethik und medien- und kommuni-
kationsethische Forschung und Theoriebildung haben sich über einen langen
Zeitraum weitgehend parallel entwickelt. Erst in einem jüngeren Fachdiskurs
werden die beiden Forschungsstränge zusammengebracht. Der Beitrag skizziert
die zunächst unverbundenen Diskurse der Kommunikations- und Medienethik,
feministischen Ethik sowie feministischen Medienforschung, um auf dieser Basis
den Fachdiskurs der vergangenen zehn Jahre aufzuarbeiten, welcher diese Dis-
kurse explizit zusammendenkt. Die Auseinandersetzung mit Wertvorstellungen
und gesellschaftlichen Grundwerten ist ein die Diskurse verbindendes Anliegen.
Schlüsselwörter
Medien- und Kommunikationsethik · Feministische Medienethik ·
Medienethische Geschlechterforschung · Feministische Medienforschung ·
Feministische Ethik
L. Krainer (*)
Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich
E-Mail: larissa.krainer@aau.at
S. Kannengießer
ZeMKI, Universität Bremen, Bremen, Deutschland
E-Mail: sigrid.kannengiesser@uni-bremen.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 691
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_33
692 L. Krainer und S. Kannengießer
1 Einleitung
2 Unverbundene Diskurse
Aus historischer Perspektive lässt sich zeigen, dass der medien- und kommunikati-
onsethische Diskurs über lange Zeit zwei relevante feministische Forschungsfelder,
nämlich zum einen die feministische Medienforschung und zum anderen die femi-
nistische Ethik in der Philosophie, kaum berücksichtigt hat (wohingegen vielfache
Bezugnahmen auf die Tradition der philosophischen Ethik genommen werden).
Umgekehrt hat die feministische Medienforschung über lange Zeit kaum Bezug
auf die Medien- und Kommunikationsethik genommen und wurden in der feminis-
tischen Ethik Medienthemen zunächst kaum behandelt (Krainer 2014, S. 20–24,
2015, S. 42–45). Schnittstellen zeigen sich am ehesten in der Pornografiedebatte
(exemplarisch: Schiele 1992).
Für die Medien- und Kommunikationsethik lässt sich dies sowohl anhand der
Überblicksliteratur des Fachbereichs der Medienethik illustrieren (exemplarisch:
Krainer 2001; Debatin und Funiok 2003) als auch der thematischen Gliederung
von Handbüchern (exemplarisch: Schicha und Brosda 2010; Heesen 2016) entneh-
men, die praktisch genderfrei sind. Auch eine detaillierte Analyse von Monografien
und Aufsätzen über einen Zeitraum von 1989 bis 2011 (Krainer 2014, S. 19–20)
zeigt, dass nur in sehr wenigen Publikationen gender- oder geschlechtsspezifische
Aspekte thematisiert wurden.
1
Mit dieser Begriffsverwendung soll nicht unterstellt werden, dass Frauen- und Geschlechterfor-
schung immer als feministische Forschung im Sinne einer politischen Ausrichtung zu betiteln ist,
wir nehmen hier aber primär feministisch orientierte Ansätze in den Fokus.
Medienethik und feministische Medienforschung 693
„Werte begründen das moralische Handeln – Normen begrenzen und sanktionieren es. Werte
haben, verglichen mit Normen, etwas Attraktives, sie gehen – bei aller Verbindlichkeit – mit
der Erfahrung von Freiheit, des Bei-sich-Seins, der Eröffnung von Horizonten zusammen.
Normen haben demgegenüber etwas Restriktives, Einschränkendes, konkret Festmachen-
des“ (Funiok 2016, S. 324).
Die Kommunikations- und Medienethik fragt nach der Konstruktion und Gültig-
keit gesellschaftlicher Grundwerte wie Freiheit, Gerechtigkeit oder Würde in
(medienvermittelten) Kommunikationsprozessen. In der Medienethik werden dabei
nicht nur die Medieninhalte und die Produktionsprozesse untersucht, sondern auch
die Aneignung der Medieninhalte sowie die rechtlichen Rahmenbedingungen und
die Verfasstheiten der Mediensysteme:
„Medienethik erhebt, analysiert und reflektiert Wertvorstellungen und Normen auf unter-
schiedlichen Ebenen: auf der gesellschaftlichen Makroebene (z. B. Gesetzgebung, Medien-
regulierung), auf der Mesoebene der Organisationen (Medienunternehmen, Dachverbände
etc.) sowie auf der Mikroebene der handelnden Individuen (Produzent_innen und Rezi-
pient_innen).“ (Krainer et al. 2016, S. 10)
„Mit affirmativen Maßnahmen gegen Ungerechtigkeit meine ich solche Mittel, die darauf
abstellen, ungerechte Folgewirkungen gesellschaftlicher Verhältnisse auszugleichen, ohne
den zugrunde liegenden Rahmen anzutasten, der diese Verhältnisse hervorbringt. Unter
transformativen Maßnahmen verstehe ich dagegen Mittel, die beabsichtigen, ungerechte
Folgewirkungen zu beheben, indem man gerade die zugrundliegenden Voraussetzungen
dieser Verhältnisse neu strukturiert.“ (Fraser 2003, S. 47).
Ein (wiederum eher spezifischer) Blick in den Fachbereich der feministischen Medien-
forschung zeigt, dass etwa anhand der von Klaus (1998) skizzierten drei unterschied-
lichen (teilweise auch im historischen Verlauf zu sehenden) Paradigmen der For-
schung (Gleichheitsansatz, Differenzansatz, [De-]Konstruktivismus) zwar Parallelen
zu Fragestellungen innerhalb der feministischen Ethik sichtbar, kaum aber explizit
Schnittstellen zur Medienethik thematisiert werden. Das verwundert zumindest inso-
fern, als gerade im Paradigma des Gleichheitsansatzes in einer Vielzahl von Studien
die Diskriminierung und Trivialisierung von Frauen in den Medien analysiert bzw.
nachgewiesen wurde und sowohl Gerechtigkeit als auch Diskriminierung Schwer-
punkte innerhalb der Medienethik sind. Auch die im Differenzansatz vorgenommenen
Analysen gesellschaftlicher Strukturen und Machtverhältnisse lassen sich mit Themen
der Medienethik verbinden (insofern das Thema der Macht die Medienethik von jeher
beschäftigt, exemplarisch Altmeppen 2016), ebenso die Analyse von medialen Gen-
dering-Prozessen, die Klaus dem (De-)Konstruktivismus zuordnet (Klaus 1998,
S. 14–18), sofern diese in einen Zusammenhang mit dem medienethischen Unter-
suchungsgegenstand der Norm- und Wertvorstellungen gebracht werden. Feministi-
sche Medienforschung ist insgesamt sehr wertorientiert und könnte eigentlich grosso
modo als ein ethisch motiviertes Unterfangen verstanden werden. Dennoch stellt das
explizite Thematisieren ethischer Fragen eher die Ausnahme dar, wofür etwa die
Analyse von „Sexismus in deutschen Nachrichtenmagazinen“ von Winter (2001) als
exemplarisches Beispiel angeführt werden kann, die sowohl in ihren theoretischen
Überlegungen die „interdisziplinäre Dimension Geschlechterforschung“ (S. 23–29)
mit der „[n]ormativen Dimension“ (Diskussion medienethischer Ansätze, S. 29–35)
verbindet, als auch in der Darstellung der Analyseergebnisse ethische wie normative
Aspekte berücksichtigt (S. 77–146).
696 L. Krainer und S. Kannengießer
Eine systematische Literaturanalyse (Krainer 2014) zeigt, dass die wenigen Publi-
kationen, die kommunikations- und medienethische Ansätze sowie feministische
Medienforschung bis 2011 zusammenbrachten, folgende Themen analysierten und
reflektierten: Sexualität bzw. Pornografie (mit speziellem Fokus auf Gewalt) (Kieran
1998; Gordon und Kittross 1999), Diskriminierung bzw. Abwertung von Trans-
sexualität in Filmen (Krah 2002), das Vorkommen von „Heldinnen in Computer-
spielen“ (Zaremba 2010), „Genderrituale in der Mobilkommunikation“ (Peil 2011),
Domestizierungspraktiken im Laufstegritual von „Germany´s next Topmodel“ (De-
cker 2011) oder Cyberbullying (Katzer 2011).
In zwei jüngeren Tagungsbänden werden sowohl theoretische wie normative
Perspektiven skizziert sowie empirische Fallbeispiele gesammelt, um die Kategorie
„Gender im medienethischen Diskurs“ zu erhellen (Grimm und Zöllner 2014) sowie
„interdisziplinäre Untersuchungen zu Medien, Ethik und Geschlecht“ (Kannengie-
ßer et al. 2016) nachzuzeichnen. Dabei zeigt sich, dass medienethische Geschlech-
terforschung bzw. feministische Medienethik im Sinne einer deskriptiven Ethik
„Geschlechterkonstruktionen in medienvermittelten Kommunikationsprozessen in
Hinblick auf Werte und Normen“ analysiert und als normative Ethik moralische
Einschätzungen (Urteile, Normen und Werte), die in diesem Kontext als wünschens-
wert erachtet werden, formuliert und begründet (Krainer et al. 2016, S. 11) sowie im
Sinne der Diskurs- und Prozessethik sich darüber hinaus mit dem Zustandekommen
von ethischen Entscheidungen auf überindividueller (kollektiver) Ebene befasst und
Vorschläge für die konkrete Etablierung, Durchführung und Evaluation ethischer
Entscheidungsprozesse entwickelt. Im Fokus stehen dabei z. B. die für beide An-
sätze relevanten Kriterien der gleichberechtigten Partizipation in Entscheidungspro-
zessen, in denen ethische Fragen wie etwa Wert- oder Normvorstellungen verhandelt
werden.
Zur Systematisierung einer gendersensiblen Medienethik schlägt Grimm (2014,
S. 8) vor, die Verbindung „genuin ethischer Fragen mit der Gender-Thematik“
sowohl auf der Mikro- als auch der Meso- und der Makroebene zu verfolgen. Auf
der Makroebene wäre etwa zu untersuchen, „inwiefern (. . .) Medien die Idee der
Geschlechtergleichheit im Sinne gleicher Freiheitsrechte als Grundwert unserer
liberaldemokratischen Gesellschaft widerspiegeln“. Auf der Mesoebene der Me-
dienunternehmen gehe es darum zu klären, wie „Machtstrukturen genderspezifisch
ausgeprägt sind“, also z. B. um berufliche Gleichstellung in Medienorganisationen
und anderen Unternehmen in der Kommunikationsbranche. Die Mikroebene bezieht
sich auf das handelnde Individuum, hier soll nach Grimm z. B. die Ausprägung von
Gender in Entscheidungs- und Handlungsprozessen sowie die Übernahme von
Verantwortung strukturiert erfasst und analysiert werden (Grimm 2014, S. 8).
Aus theoretischer Perspektive fällt auf, dass sich Gerechtigkeit als Kernthema
einer genderspezifischen Medienethik aufdrängt (Weber 2016) und die Überlegungen
von Fraser zu Gerechtigkeit und Anerkennung, die sie aus ihrer kritischen Auseinan-
dersetzungen mit Habermas, Benhabib, Honneth und Joas gewinnt (Fraser 2003),
Medienethik und feministische Medienforschung 697
für mehrere Autor*innen eine anregende (z. B. Kannengießer 2011; Klaus 2016), aber
auch kritikwürdige Perspektive darstellen (Günter 2016).
In empirischen Studien untersuchen Autor*innen Medienphänomene aus einer
medienethisch-geschlechtertheoretischen Perspektive. Einen Schwerpunkt bilden
dabei Analysen medialer Repräsentationen in Hinblick auf die Konstruktion von
Geschlechterbildern und mit diesen verbundenen Werturteilen. So weist Döveling
(2016) auf der Grundlage einer Analyse populärer Serienformate auf ein medienpä-
dagogisches Desiderat hin, das die Dekonstruktion hegemonialer Geschlechterver-
hältnisse betrifft. Ein weiteres Beispiel ist die Analyse von Familienbildern im
medialen Diskurs durch Tank und Prinzing (2016), in der die Autorinnen unter
Bezugnahme auf Frasers Gerechtigkeitstheorie zu der Erkenntnis gelangen, dass
ein traditionelles Familienbild dominiert.
Internetmedien erweitern die Untersuchungsgegenstände feministischer medien-
ethischer Analysen: Drüeke (2016) analysiert z. B. die Twitterkampagne #aufschrei
aus einer medienethisch-feministischen Perspektive. Die Rahmenbedingungen me-
dialer Repräsentationen und Diskurse werden aus einer medienethischen Perspektive
in den Blick genommen, wenn Weigand (2014) die Beurteilungsrichtlinien, nach
denen problematische Geschlechterdarstellungen im Jugendmedienschutz beurteilt
werden, analysiert und Röben (2014) den Blick auf die Produzierenden medialer
Inhalte lenkt und fragt, ob mehr Frauen in Medienberufen die Berufsmoral erhöhen,
wobei sich zeigt, dass Ethik keine Frage des Geschlechts ist.
4 Fazit
Während innerhalb der feministischen Medienethik auf der theoretischen Ebene genuin
medienethische Anknüpfungspunkte (z. B. zwischen „Feminismus, Pragmatismus und
Medienethik“, Filipović 2016) gesucht und gefunden werden, stehen die empirischen
Untersuchungen der medienethischen Geschlechterforschung eher in der Tradition der
feministischen Medienforschung, wobei aktuell deutlicher als davor medienethische
Aspekte berücksichtigt werden.
Wiewohl die Fachdiskurse aus den Bereichen der Medien- und Kommunikations-
ethik und der feministischen Medienforschung über einen langen Zeitraum kaum
Bezug aufeinander genommen haben, lassen sich wichtige Perspektiven einer fe-
ministischen Medienethik ausmachen. Die beiden Diskurse weisen viele Schnitt-
stellen auf (Krainer et al. 2016, S. 10–13), deren weitere kooperative Bearbeitung
lohnend erscheint. Dazu zählen insbesondere:
auf der Mikroebene der handelnden Personen (z. B. Journalist*innen oder Rezi-
pient*innen),
• das Anliegen, zwischen Theorie und Anwendungsfeldern zu vermitteln,
• das Verfolgen politischer Anliegen und Interessen.
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Geschlechtsbasierte Gewalt:
Berichterstattung, Diskurse und
feministische Interventionen
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702
2 Geschlechtsbasierte Gewalt: Begrifflichkeit und Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703
3 Medien, Gewalt und Geschlecht: Debatten und Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705
4 Feministische Anti-Gewalt-Bewegung: Strategien und Handlungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711
5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716
Zusammenfassung
Geschlechtsbasierte Gewalt war und ist ein wichtiges Aktionsfeld der Frauen*be-
wegungen und Gegenstand der Frauen*- und Genderforschung. Enttabuisierung
und Sichtbarmachung der verschiedenen Formen geschlechtsbasierter Gewalt
sowie die Etablierung als soziales Problem und Unrecht waren wichtige Inter-
ventionen. Medien und öffentliche Diskurse spielen daher eine zentrale Rolle für
die Prävention von Gewalt; sie haben einen wesentlichen Anteil an der Stabili-
sierung wie auch Veränderung symbolischer Genderordnungen und geschlecht-
licher Gewaltverhältnisse. Die feministische Medienforschung ist mit ihrer Kritik
daher umfassend involviert, explizit beziehen sich Forschungen zum Themenfeld
vor allem auf zwei Bereiche – Analysen der Repräsentationen geschlechtsbasier-
B. Geiger (*)
Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: brigitte.geiger@univie.ac.at
B. Wolf
Frauenhelpline, Verein AÖF Autonome Österreichische Frauenhäuser, Wien, Österreich
Mank, Österreich
E-Mail: office@birgitwolf.net
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 701
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_36
702 B. Geiger und B. Wolf
ter Gewalt und öffentlicher Diskurse sowie die feministische Praxis begleitende
Reflexionen der Kontexte, Handlungsfelder und Interventionen von Anti-Gewalt-
Initiativen. Der Beitrag gibt Einblick in die Anfänge der Anti-Gewalt-Bewegung,
ihre enge Verknüpfung mit feministischem Aktivismus und liefert einen explo-
rativen Querschnitt zur feministisch-kommunikationswissenschaftlichen Auf-
und Bearbeitung des strukturellen und globalen Gesellschaftsproblems der gen-
derbasierten Gewalt.
Schlüsselwörter
Gewalt an Frauen* – Genderbasierte Gewalt · Sexuelle/sexualisierte Gewalt ·
Anti-Gewalt-Bewegung · Gewalt in den Medien · Gewaltprävention · Hashtag-
Aktivismus
1 Einleitung
1
Wir verwenden in der Folge Gewalt an Frauen oder Gewalt an Frauen* je nach historischem und
institutionellem Kontext.
Geschlechtsbasierte Gewalt: Berichterstattung, Diskurse und . . . 703
2
Kritisiert wird an der Istanbul-Konvention allerdings ein binäres Geschlechterverständnis. Zwar
definiert die Konvention Geschlecht im Sinne von Gender und inkludiert die sozial konstruierte
Dimension, dennoch fehlen eine LGBTIQ+-Perspektive sowie etwa die Inklusion von Genital-
verstümmelung bei intergeschlechtlichen Menschen (Rabe und Leisering 2018, S. 11–12).
706 B. Geiger und B. Wolf
auf individuelle familiäre Pathologie und ein Bias entlang von race und class
(Meyers 1997). Angela Koch (2015) problematisiert in einer umfassenden Auf-
arbeitung die Darstellbarkeit und Medialisierung von sexueller Gewalt. Unbestritten
wichtig ist die durch die Frauenbewegung angeregte Enttabuisierung und zuneh-
mende mediale Sichtbarkeit geschlechtsbasierter, sexualisierter Gewalt. So half sie
besonders Betroffenen von Missbrauch bei der Auseinandersetzung mit ihren Er-
fahrungen und ihrem Umfeld, indem sie Begriffe und Namen zur Verfügung beka-
men und Erlebnisse als Gewalt benennen konnten (Kitzinger 2001). Umgekehrt
können Berichte aber auch negative Gefühle triggern, und die damit einhergehende
Opferzuschreibung zeitigt auch problematische Effekte der Reproduktion ge-
schlechtlicher Hierarchien. Wie sehr Frauen „Gewaltdrohung, Ohnmacht und be-
schränkte Bewegungsräume als ‚normalen‘ Bestandteil des Alltags erleb[en]“, zeigte
sich in Gruppendiskussionen von Rösers Rezeptionsstudie (Röser 2000, S. 351) und
wird gegenwärtig vom Hashtag-Feminismus thematisch aufgegriffen. Entsprechend
setzte sich Heberle (1996) früh kritisch mit der feministischen Strategie des speaking
out gegen sexuelle Gewalt auseinander, die in ihrem performativen Charakter
patriarchale/männliche Macht stärke und sexuelle Gewalt zu einem Bestandteil
vergeschlechtlichter Identität mache. In Von Opfern reden plädiert Moser (2007)
deshalb für kritische Reflexion und einen situativen Opferbegriff, Hagemann-White
(2019) dekonstruiert das Opfer/Täter-Begriffspaar entlang der Entwicklung der
feministischen Gewaltdiskussion.
Ambivalenzen und Defizite medialer Thematisierung geschlechtsbasierter Ge-
walt machen auch drei aktuelle Untersuchungen deutlich. So zeigt die Erhebung von
Basisdaten zur Darstellung geschlechtsspezifischer Gewalt im deutschen Fernsehen
(Linke und Kasdorf 2021), dass diese in gut einem Drittel der analysierten Sendun-
gen in unterschiedlichen Programmsparten und Genres sichtbar wird, am häufigsten
in Krimiserien. Dabei dominieren Darstellungen und Erzählungen teils expliziter
und schwerer, vor allem körperlicher Gewalt, wohingegen strukturelle Dimensionen
selten adressiert werden. Einzelfälle und besonders schwere Gewalt prägen auch die
Berichterstattung über Gewaltdelikte an Frauen* in deutschsprachigen Printmedien
und das insbesondere in Boulevardmedien; weitaus häufigere, alltägliche Gewalt-
handlungen finden kaum Erwähnung (MediaAffairs 2020; Meltzer 2021). Frauen als
Betroffene bekommen nach wie vor wenig Raum (ein Fünftel gegenüber rund der
Hälfte mit Täterfokus, Meltzer 2021). Auch im Fernsehen (Linke und Kasdorf 2021)
oder in Anti-Gewalt-Kampagnen (Wolf 2018) fehlt häufig eine differenzierte Be-
troffenenperspektive. Positiv ist, dass verharmlosende Berichte ebenfalls seltener
geworden sind (Meltzer 2021). Voyeuristische und sensationalistische Darstellungen
sowie unpassendes Wording dominieren vor allem im Boulevard. Bezüglich ver-
schiedener Betroffenengruppen geschlechtsbasierter Gewalt betont die Media-
Affairs-Studie, dass als soziale „Randgruppe“ großteils über Migrantinnen berichtet
wird, während Risikogruppen wie Frauen*, die auf Pflege/Assistenz angewiesen
sind, Frauen* mit Suchtproblematik oder Sexarbeiter*innen ausgespart bleiben.
Frauen* mit nicht-binärer Geschlechtsidentität und LGBTIQ+-Personen sowie Kin-
der und Jugendliche als Betroffene oder Zeug*innen von häuslicher Gewalt an
Fauen* bleiben unsichtbar (Wolf 2021). Selten erfolgt eine thematische Einordnung
708 B. Geiger und B. Wolf
Der erfolgreich etablierte Frame „Gewalt an Frauen* als Unrecht“ machte das
Thema auch für diskursive und politische Instrumentalisierungen attraktiv, diente
als Legitimation für Kriege in Kosovo und Afghanistan (Klaus und Kassel 2008)
und wird prominent in Abgrenzungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden im
„Krieg gegen den Terror“ nach 9/11 sowie gegen globale Migrationsbewegungen in
Stellung gebracht. Insbesondere die muslimische Frau mit dem Kopftuch als visu-
ellem Symbol rückt als Opfer rückständiger patriarchaler Kulturen ins Zentrum
polarisierender Geschlechter- und Migrationsdiskurse (Klaus und Drüeke 2010).
Ab 2016 befeuert dann das „Ereignis Köln“ – die Gewaltausschreitungen in der
Silvesternacht 2015/16 – die Ethnisierung bzw. Kulturalisierung von Sexismus und
genderbasierter Gewalt, dienten die Übergriffe doch verallgemeinernden Konstruk-
tionen des gefährlichen männlichen Flüchtlings, gefährdeter westlicher Geschlech-
terdemokratie und zu beschützender einheimischer Frauen (Dietze 2016a; Scheibel-
hofer 2016). Auch in den öffentlich-rechtlichen Sendern ARD und ZDF wird eine
homogenisierte Tätergruppe als die „Anderen“ markiert und in der politischen
Debatte als Konsequenz vor allem Abschiebung und Verschärfung der Asylgesetz-
gebung diskutiert. Zu kurz kommen Kontextualisierung und Analyse von Sexismus
als strukturelles Problem, die Perspektiven der Betroffenen und die Stimmen von
Expert*innen und Feministinnen (Drüeke 2017). Auch in den Folgejahren wird in
den Medien die Herkunft der Täter häufiger genannt, als es dem statistischen Anteil
entspricht (Hestermann 2019). Nach Meltzer (2021) werden diese Fälle zwar nicht
überproportional berichtet, aber stärker zum Politikum gemacht. Hier wird eher auf
strukturelle Gründe bzw. wiederkehrende Tatmuster hingewiesen, während deutsche
Tatverdächtige vor allem als Einzelfall behandelt werden. In diesem Othering
werden Belästigungen und Übergriffe nun nicht mehr bagatellisiert, sondern ver-
schoben auf als „fremd“ konnotierte Gefährder. Diese Narrative werden in der Folge
insbesondere von rechten Parteien und Bewegungen aufgegriffen. So lancierte etwa
2018 die Identitäre Bewegung an #aufschrei anknüpfend ein Kampagnen-Video mit
dem Titel und Hashtag „120 Dezibel“. Im Video werden angebliche Forderungen
nach Frauenrechten mit rechter Ideologie, geschlechterbinären, rassistischen und
antifeministischen Positionen verknüpft und von einer De-Legitimierung feministi-
scher Politiken begleitet (Drüeke und Klaus 2019). Öffentliche Aufmerksamkeit
gewann die Kampagne durch die Nutzung der Netzwerklogiken von Social Media.
Adlung et al. (2021) diskutieren an dieser Kampagne die ambivalente Rolle und
Dynamik affektiver Öffentlichkeiten, wo die Kampagne die politische Legitimität
suchte durch Strategien der Dissonanz, in denen sich eine rassistische Solidarität
gegen die liberale staatliche Ordnung stellte.
Gegen dieses Kulturalisieren und rechte, rassialisierende Vereinnahmung femi-
nistischer Positionen mobilisierte unmittelbar nach den Ereignissen in der Kölner
Silvesternacht etwa der Aufruf „Gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus. Immer.
Überall. #ausnahmslos“. Gabriele Dietzes Konzepte des „Ethnosexismus“ für „Se-
xismen, denen sexualisierte Rassismen zugrunde liegen“, (Dietze 2016b, S. 178)
und „sexuellen Exzeptionalismus“ (Dietze 2019) für Überlegenheitsnarrative in
Geschlechtsbasierte Gewalt: Berichterstattung, Diskurse und . . . 711
5 Fazit
den Einfluss der Medien und wen wir als Opfer sehen, erörtern Hayes und Luther
(2018), wie die Überschneidung mehrerer marginalisierter sozialer Kategorisierun-
gen eher dazu führt, dass den Menschen der Status eines wahren Opfers abge-
sprochen wird. Sie unterstreichen aber auch das Potenzial der Medien, zu einem
besseren Verständnis von Verbrechen und Viktimisierung beizutragen, und die
Möglichkeit, sich mit den neuen Medien gegen Viktimisierung und Viktimisierungs-
wahrnehmung zu wehren.
Insofern ist genderbasierte Gewalt als eine Querschnittsmaterie kommunikations-
wissenschaftlicher Forschung anzusehen. Forschungsdesiderata wären medien- und
genreübergreifende Studien, welche verschiedene Gewaltformen und Betroffenen-
gruppen, auch und vor allem weniger präsente, untersuchen sowie Rezeption und
Nutzung traditioneller wie neuer Medien integrieren. Weiters werden Langzeitstu-
dien über Entwicklungen gesellschaftlicher Diskurse und journalistischer Themati-
sierung – ihrem Anteil an Stützung von vergeschlechtlichten Gewaltverhältnissen
wie an Information und Aufklärung über Gewaltdynamik und -folgen – sowie über
Inhalt und Wirkung feministischer Kampagnen und Aktivismen für Gendergerech-
tigkeit und ein gewaltfreies Leben benötigt. Dafür müsste eine kritische feminis-
tisch-kommunikationswissenschaftliche Reflexion der zentralen Rolle der Medien in
ihrer Informations- und Kontrollfunktion zu Schutz und Prävention bei genderba-
sierter Gewalt auch Gegenstand von Forschungsprogrammen und Ausschreibungen
sein und auch entsprechende Lehrstühle und Forschungszentren etabliert werden.
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Antifeminismus und Antigenderismus
in medialen und digitalen Öffentlichkeiten
Inhalt
1 Einleitung: Was bedeutet Antifeminismus heute? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 722
2 Forschung zu Antifeminismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723
3 Antifeministische Ideologien und Strategien in medialen und digitalen
Öffentlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 724
4 Fazit: Relevanz und geschlechterpolitische Verortung von Antifeminismus . . . . . . . . . . . . . . 727
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728
Zusammenfassung
Antifeminismus zeigt sich heute in verschiedenen Strömungen wie männerzen-
triertem oder familienzentriertem Antifeminismus, Antigenderismus oder völ-
kischem Antifeminismus. Digitale Öffentlichkeiten, Print- und Onlinemedien
tragen zu seiner Verbreitung bei. Forschungen zum deutschsprachigen Anti-
feminismus widmen sich antifeministischen Artikulationen in Print- und Online-
medien sowie maskulinistischen Online-Aktivitäten. Sie identifizieren zentrale
antifeministische Ideologien und Strategien wie die Verbreitung antifeministi-
scher Positionen durch Online-Medien, eine Neubehauptung hegemonialer
Männlichkeit, die diskursive Täter-Opfer-Umkehr und die Verwendung von Hate
Speech.
Schlüsselwörter
Antifeminismus · Antigenderismus · Maskulinismus · Internet · Printmedien
I. Aigner (*)
Bochum, Deutschland
E-Mail: a.isolde.aigner@gmail.com
I. Lenz
Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland
E-Mail: ilse.lenz@rub.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 721
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_45
722 I. Aigner und I. Lenz
1
Als emanzipative Männer werden jene Männer bezeichnet, die die Neue Frauenbewegung unter-
stützen und sich gegen die hegemoniale Männlichkeit und Dominanz engagieren (Lenz 2008).
2
Maskulinismus stellt eine Ideologie dar, die eine männliche Vorherrschaft rechtfertigt. Männer und
Frauen werden als grundlegend verschieden betrachtet, während die Annahme einer sozialen
Konstruktion von Geschlecht abgelehnt wird (Brittan 1989, S. 4).
Antifeminismus und Antigenderismus in medialen und digitalen . . . 723
2 Forschung zu Antifeminismus
3
Als diskursive Ereignisse lassen sich „medial groß herausgestellte Ereignisse“ beschreiben, die
„Richtung und Qualität des Diskursstrangs, zu dem sie gehören, mehr oder minder stark beeinflus-
sen“ (Jäger 2009, S. 162).
724 I. Aigner und I. Lenz
4
Sagbarkeitsfelder stellen Aussagen dar, „die in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten
Zeit geäußert werden (können)“ (Jäger 2009, S. 130). Ihre Bestimmung gibt auch Aufschluss
darüber, was in dem jeweiligen Zeitraum nicht sagbar ist.
Antifeminismus und Antigenderismus in medialen und digitalen . . . 725
Kommentare unter den Artikeln verlinkt werden, was die Verbreitung antifeminis-
tischer Denkweisen erhöht (Drüeke und Klaus 2014, S. 62–68). Aber auch das
Lancieren antifeministischer Positionen durch Online-Medien trägt zur Verbreitung
und Relevanz antifeministischer Denkmuster bei. Die Online-Artikel folgen hier
eher einem Agenda-Setting einzelner Akteure sowie ganzer Redaktionen und nicht
einer recherchierten, objektiv informierenden Berichterstattung (Ganz und Meßmer
2015, S. 68).
Eine weitere Strategie innerhalb maskulinistischer Online-Aktivitäten stellt die
Verwendung von Hate Speech dar, also von „Aussageformen, die sich in beleidi-
gender bzw. abwertender Form gegen marginalisierte Personen bzw. Spreche-
r innenpositionen richten. Dazu gehören diskriminierende Anreden ebenso wie
konkrete Gewalt-, Vergewaltigungs- und Morddrohungen“ (Ganz und Meßmer
2015, S. 65). Hate Speech dient einerseits dazu, bestimmte (Personen-)Gruppen
zum Schweigen zu bringen (Ganz und Meßmer 2015, S. 65), verfolgt aber anderer-
seits das Ziel der Mobilisierung von Anhänger innen, um Sympathisant innen mit
einem symbolischen Code zur Gewalt anzustacheln, ihre emotionale Zuwendung zu
gewinnen und dem „Gegner“ dauerhaften Schaden zuzufügen (Rosenbrock 2012b,
S. 43). „Eine gleichberechtigte und plurale, öffentliche Auseinandersetzung wird so
massiv gehemmt und allzu oft setzen sich vereinfachende und populistische Argu-
mentationslinien fest“ (Illgner 2018, S. 261).
Sowohl innerhalb maskulinistischer Online-Aktivitäten als auch bezüglich anti-
feministischer Artikulationen im medialen Diskurs lassen sich zentrale antifeminis-
tische Denkmuster und damit verbundene (Diskurs-)Strategien identifizieren.
Als zentrale Strategie maskulinistischer Akteure wurde ermittelt, dass hegemo-
niale Männlichkeit behauptet und neu begründet werden soll. Claus (2014, S. 51)
spricht von einer „Resouveränisierung von Männlichkeit“, was allerdings voraus-
setzen würde, dass alle Männer vor dem Einsetzen der Frauenbewegung souverän
gewesen seien. Das ist eher für Männer der gesellschaftlichen Elite anzunehmen,
aber weder für Arbeiter noch für schwarze Männer zutreffend. Maskulinistische
Akteure streben angesichts gesellschaftlicher Veränderungen zu mehr Gleichheit –
die auf den Wertewandel, die Frauenbewegung und die Gleichstellungspolitik zu-
rückgehen – eine Neubehauptung von hegemonialer Männlichkeit an: Dabei spielen
Semantiken von Bedrohung und männlichem Opferstatus eine wichtige Rolle.
Feminist innen werden als alterisierte Antagonisten imaginiert, die die Existenz
der Antifeminist innen bedrohen, um deren eigene Identität zu bestärken (Ganz
und Meßmer 2015, S. 70).
Durch die Annahme einer gesamtgesellschaftlichen Benachteiligung von Jungen
und Männern soll ein allgemeiner männlicher Opferstatus begründet werden (Drü-
eke und Peil 2015, S. 283; Gruber 2012, S. 170; Aigner 2012, S. 51; Claus 2012,
S. 126; Rosenbrock 2012a, S. 70; Weiss 2013, S. 49). Dabei werden meist selektiv
Benachteiligungen in einzelnen Feldern wie etwa die zurückgehenden Abituranteile
von Jungen, männlich besetzte Einfacharbeit etwa als Müllmänner oder Sorgerechts-
fragen bei Trennungen selektiv aufgeführt, während Strukturen wie die weiterbe-
stehende Einkommensungleichheit oder die Unterrepräsentation von Frauen in
Entscheidungspositionen völlig ausgeblendet werden.
726 I. Aigner und I. Lenz
S. 283; Ganz und Meßmer 2015, S. 67; Möller 1999, S. 180; Wamper 2017, S. 348).
Feministische kritische Positionen werden hier zu vermeintlich hegemonialen Dis-
kurspositionen stilisiert und deren Legitimität bestritten, während die eigene
patriarchalisch-hegemoniale Position heruntergespielt wird (Möller 1999, S. 206).
Daran knüpfen die Analysen zu Antigenderismus an, der sich gegen gesellschaft-
liche Liberalisierungs- und Modernisierungstendenzen richtet (Mayer et al. 2018,
S. 56). Antigenderistische Positionen, wie die Behauptung, dass die Gender-Studies
Teil einer „(staats-)feministische[n] Staatsräson“ (Hark und Villa 2015b, S. 23)
seien, verweisen auf den Versuch der Reklamierung einer bürgerlichen Gesell-
schaftsordnung als „natürliche, wahre Ordnung“, während die Genderforschung
die „bürgerliche Familie als Keimzelle der Gesellschaft“ grundlegend in Frage stelle
(Maihofer und Schutzbach 2015, S. 212).
Im völkischen Antifeminismus zeigt sich eine ideologische Abgrenzung gegen-
über anderen antifeministischen Strömungen: Die soldatische Männlichkeit (zur
Verteidigung der Volksgemeinschaft) wird als einzig ‚wahre‘ Männlichkeit verhan-
delt, während sogar der unternehmerische Mann abgelehnt wird (Wamper 2017,
S. 354). Das unterscheidet völkischen Antifeminismus etwa von maskulinistischen
Männlichkeitsentwürfen.
erforschen und ob diese bereits ein „Standing“ erreicht haben: „Standing refers to a
group being treated as an actor with voice, not merely as an object being discussed
by others“ (Ferree et al. 2002, S. 13). Indem Journalist innen also Akteuren (und
deren Aussagen) eine Plattform einräumen, wird diesen ermöglicht, einer breiteren
Öffentlichkeit die eigene Deutung von Ereignissen und Sachverhalten zu vermitteln.
Auf diese Weise erhalten jene Akteure mehr Macht und Einfluss. Ein „Standing“
würde sich insbesondere in der Öffnung für und Übernahme von antifeministischen
Positionen zeigen, beispielsweise in Form von entsprechenden Gastbeiträgen
(Aigner 2012, S. 47; Weiss 2013, S. 47). In einer Untersuchung zu leitmedialen
Geschlechterdiskursen von Aigner5 wird zudem aufgezeigt, dass sogar innerhalb
gleichstellungspolitischer Postulate antifeministische Diskurse indirekt rezipiert
werden, indem die Befürwortung von Gleichstellungspolitik mit einer Abgrenzung
von feministischen Postulaten verknüpft wird.
Zum Weiteren erscheint die Untersuchung von Antifeminismus im Verhältnis zu
anderen geschlechterpolitischen Diskurspositionen – wie z. B. geschlechterkonserva-
tiven Positionen oder einer ökonomisch orientierten Befürwortung von Gleichstel-
lungspolitik – im medialen Diskurs als sinnvoll. So könnte ausgeleuchtet werden, ob
und wie sich diese gegenseitig verdrängen, ersetzen, ausschließen oder verstärken
und verschärfen, indem sie z. B. in ihrer Bündelung die Marginalisierung feminis-
tischer Positionen vorantreiben.
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5
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Gewaltverhältnisse und Sprache
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732
2 Frühe Arbeiten zu Sprache und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732
3 Der linguistic turn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734
4 Strategien im Umgang mit sprachlicher Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735
5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737
Zusammenfassung
Medien sind ohne Sprache nicht denkbar. Unter Einsatz von Worten wird Wissen
weitergegeben und hergestellt, werden Meinungen vermittelt und Kritik geübt.
Eine kritische Auseinandersetzung mit Medien erfordert insoweit das differen-
zierte Studieren von Sprache an und für sich. Sprache ist nie harmlos. Es war der
linguistic turn, der insbesondere innerhalb der Gender und Queer Studies ver-
tiefte Auseinandersetzungen mit „Gewalt und Sprache“ ausgelöst hat. Diese
betreffen sowohl die (Hetero-)Normativität von Sprache als auch die Permanenz
gewalttätiger Begriffe.
Schlüsselwörter
Sprache · Gewalt · Rassismus · Sexismus · Linguistic turn · Feministische
Sprachforschung · Heteronormative Sprache · Resignifizierung
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 731
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_37
732 M. Castro Varela
1 Einleitung
Bereits frühe Arbeiten innerhalb der deutschen Philologie und Philosophie haben
sich mit dem Zusammenhang von Sprache und Gewalt beschäftigt. Erinnert sei an
zwei wichtige Interventionen im deutschsprachigen Raum, die mit wichtigen histo-
rischen Ereignissen einhergingen. Sie finden bemerkenswerterweise heute nur selten
im Zusammenhang mit Sprachgewalt Erwähnung: zum einen die Veröffentlichung
LTI – Notizbuch eines Philologen von Victor Klemperer (2007 [1947]), der dort die
sogenannte „Lingua Tertii Imperii“, die Sprache des Dritten Reiches, analysiert.1
1
LTI wurde unter dem Titel Die Sprache lügt nicht (Originaltitel: „La langue ne ment pas“) als
Fernsehfilm dokumentiert. Der Titel weist darauf hin, dass es Klemperer vor allem darum ging, die
Gewalttätigkeit des deutschen Nationalsozialismus in dessen Sprache zu entlarven.
Gewaltverhältnisse und Sprache 733
LTI greift in gewisser Weise der Diskursanalyse vor und weist auf Sprache als
notwendige Herstellungsgehilfin von „Wirklichkeit“ und „Wahrheit“ hin. So zeigt
Klemperer auf, welche nazistischen Wahrheiten wie durchgesetzt wurden und wie
die Rhetorik der Nazis das Denken der Menschen für die „Sache“, den „Führer“ und
die „Nation“ vereinnahmte. Ebenso weist er auf die Konsequenzen für das Denken
der nachfolgenden Generationen hin. So lässt sich Sprache, Klemperer zufolge, nicht
mit einem Regierungswechsel verändern. Es sind konstante Kämpfe notwendig,
damit die Sprache – und mithin auch die Gemeinschaft der Sprechenden – verlernt,
im Sinne der Gewaltherrschaft zu sprechen.
Zum anderen finden sich die ersten feministischen Studien zu sexistischer Spra-
che und Sexismus in der deutschen Sprache in der Philologie. Sie schließen aller-
dings nicht an die Studie von Klemperer an, obschon sie in ähnlicher Weise
argumentieren, dass Sprache Teil und Stütze eines Gewaltverhältnisses – in diesem
Falle des Patriarchats – ist. Hier sind vor allem die Veröffentlichungen der Be-
gründerinnen der feministischen Linguistik Luise F. Pusch (1984) und Senta Trö-
mel-Plötz (1979, 1982, 1984) zu nennen, die in den 1980er-Jahren wichtige politi-
sche und wissenschaftliche Debatten entfachten, die uns heute noch vertraut sind.
Nicht nur wurde der Sexismus der deutschen Sprache differenziert aufgezeigt und
skandalisiert, sondern auch Vorschläge gemacht, wie diesem zu begegnen sei. So
schreibt Trömel-Plötz (1982, S. 156): „Änderungen der Sprache heißt, daß wir die
Definitionen der Männer von uns nicht mehr akzeptieren.“
Diese zwei Beispiele zeigen an, dass die politische Skandalisierung von Sprache
durch die Sprachwissenschaft im deutschsprachigen Kontext nicht geschichtslos ist.
In Bezug auf die feministischen Debatten muss hinsichtlich der theoretischen
Bezüge geradezu ein Bruch konstatiert werden. Bereits vor dem sogenannten lingu-
istic turn wurde hier auf die Gewalttätigkeit von Sprache aufmerksam gemacht,
allerdings unter anderen wissenschaftstheoretischen Prämissen. Die Analysen sind
beispielsweise weder als Diskursanalysen noch intersektional angelegt. Pusch und
Trömel-Plötz gehen – wie damals üblich – von einer unhinterfragten Zweige-
schlechtlichkeit aus und postulieren ein Herrschaftssystem, in dem eine Gruppe
(„Männer“) die andere („Frauen“) unterdrückt. Die Untersuchungen unterlaufen also
nicht den der deutschen Sprache innewohnenden biologistischen Essentialismus und
gehen stattdessen von einer universalen problematischen homogenen Kategorie
„Frau“ aus (Castro Varela und Konuk 1995).
Eine andere Kritik kommt vonseiten der Pädagogik. Im anglofonen Raum
beginnt Mitte der 1980er-Jahre eine Diskussion zu dem, was Jim Cummins und
Tove Skutnabb-Kangas als Linguizismus (linguicism) bezeichnen. Untersucht wird
hier die in den USA und Kanada zu beobachtende Nicht-Anerkennung von Zwei-
und Mehrsprachigkeit als auch die Missachtung von Minderheitensprachen
(Skutnabb-Kangas und Cummins 1988; Skutnabb-Kangas 1990). Robert Phillipson
(1992) spricht in diesem Zusammenhang gar von einem imperialistischen Lingui-
zismus und fordert ein Recht auf das Lernen und Sprechen von Community-
Sprachen ein. İnci Dirim (2010) hat diese Thesen für den deutschsprachigen Raum
überprüft und kritisiert mit Blick auf Deutschland und Österreich einen hegemonia-
len Monolinguismus, der mit einer Diskriminierung von Mehrsprachigkeit und
734 M. Castro Varela
Der linguistic turn (dt. sprachkritische oder sprachanalytische Wende), der seit
Beginn des 20. Jahrhunderts für die Anstrengungen steht, sprachliche Vermittlung
differenziert zu untersuchen, versetzte nicht nur die Philosophie und Literaturwis-
senschaft, sondern auch die Geistes- und Sozialwissenschaften in Bewegung und
schärfte den analytischen Blick auf den Sprachgebrauch und die Konstruktion von
Wirklichkeit über Sprache. Der Begriff linguistic turn wurde Richard Rorty (1967,
S. 9) zufolge von dem Wiener Wissenschaftstheoretiker und Philosophen Gustav
Bergmann (1964) geprägt, wird aber vor allem mit Rortys Sammelband The lingu-
istic turn. Essays in philosophical method von 1967 assoziiert. Die Vorstellung, dass
es keine Realität jenseits von Sprache gibt, ermöglichte ein neues Nachdenken über
Rassismus, Geschlecht und Sexualität. Postkoloniale, feministische und queere
Studien wie auch Untersuchungen innerhalb der Critical Race und Cultural Studies
fokussieren darauf aufbauend nicht nur, wie rassistische Verhältnisse historisch
entstanden sind, sondern auch wie diese persistent diskursiv hervorgebracht werden.
Zumeist stützen sich diese dabei auf poststrukturalistische Paradigmen und Austins
Sprechakttheorie (1972 [1962]). Eine der wichtigsten Annahmen der Critical-Race-
Theorie ist, dass Sprache nicht nur unterwirft, sondern ebenso die rassistisch unter-
werfbaren Subjekte erzeugt und dabei gleichzeitig eine unhintergehbare Differenz
zwischen dem europäischen, weißen „Wir“ und den „Anderen“ postuliert. Bereits zu
Beginn der Kolonisierung im 15. Jahrhundert versuchten Schriften europäischer
Gelehrter die (kulturelle) Differenz zwischen Europäer*innen und Kolonisierten
darzulegen (Hall 1994). Eine der Konsequenzen dieser machtvollen Praxis war die
Konstruktion von „Rassen“ und die vielfältigen Wortschöpfungen, die die Subjek-
tivierung nicht nur markierten, sondern auch durchsetzten (Nduka-Agwu und Horn-
scheidt 2010; Arndt und Ofuatey-Alazard 2011). Die Herstellung normativer Körper
war unweigerlich verknüpft mit der Produktion essentialisierender Sprachschöpfun-
gen.
Mittlerweile liegen in den Kultur- und Sozialwissenschaften wie auch innerhalb
der Gender und Queer Studies eine Reihe von Untersuchungen und Studien vor, die
den macht- und gewaltvollen Einsatz von Sprache im Alltag, in der Politik und in
den Medien analysieren. Wir können dabei unterscheiden zwischen philosophischen
Studien, die (sprach-)theoretisch etwa die Dynamiken zwischen Subjekt, Sprache
und Handlungsmacht untersuchen (grundlegend Austin 1972 [1962]; Foucault 1991
[1969], 1981 [1972]; weitergehend etwa Butler 1998: Dhawan 2007), und empiri-
schen, zumeist sozialwissenschaftlichen Studien, die sich unter anderem diskurs-
analytisch Themen wie Ausgrenzung und Stigmatisierung durch Sprache annähern.
Zu letzteren zählen im deutschsprachigen Raum unter anderem die Arbeiten des
Gewaltverhältnisse und Sprache 735
Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) unter der Leitung von
Siegfried Jäger (etwa Jäger und Link 1993) und des Wiener Instituts unter der
Leitung von Ruth Wodak (etwa Wodak et al. 1990).
Feministisch postkoloniale Arbeiten finden sich insbesondere im anglofonen
Raum. So konnte Sara Mills (2005) in einer Diskursanalyse, die auf der postkolo-
nialen Diskursanalyse Edward Saids aufbaut, zeigen, wie sich während der kolonia-
len Herrschaft Klassen- und Gender-Diskurse mit rassistischen Diskursen überlapp-
ten und vermischten. Said (2009 [1978], 1992) hatte bereits in seinen Schriften auf
die Produktion der „Anderen“ aufmerksam gemacht und darauf, wie der Orientalis-
mus auch in den Medien das Bild der „muslimischen Anderen“ stabilisiert.
Die postkoloniale Theoretikerin Marie-Louise Pratt (2009) hat aufgezeigt, wie
linguistische Gewalt in den Medien eingesetzt wird. Sie spricht in diesem Zusam-
menhang von Sprache, die zur Waffe wird, um zu Kriegszwecken eingesetzt zu
werden (weaponization of language in warfare). So können die „Gegner_innen“
sprachlich gedemütigt und verachtet werden bzw. sprachlich Gegner_innenschaft
hergestellt werden.
Lann Hornscheidt (2012) hat viel diskutierte neue Vorschläge für eine deutsche
Sprache zur Diskussion gestellt, die die normative Zweigeschlechtlichkeit über-
windet. Zuvor wurde bereits in Debatten um die heteronormative Verfasstheit der
Sprache immer wieder um neue Formen geschlechterkritischer Schreibweisen des
Deutschen gestritten. So sorgte das Buch Verletzende Worte von Herrmann et al.
(2007) und viele weitere Schriften der Autor*innen dafür, einen Unterstrich bei
vergeschlechtlichten Nomen zu nutzen. So soll sichtbar gemacht werden, dass
Zweigeschlechtlichkeit eine gewaltvolle Konstruktion darstellt, die durch gramma-
tikalische Normen gestützt wird. Der Einsatz des Asterisks (*) folgt demselben
Argument und erweitert dieses, indem ein Asterisk auch nach Nomen wie etwa
Frau* und Mann* gesetzt werden kann, um auf den Konstruktionscharakter dieser
Begriffe aufmerksam zu machen. Die Diskussion hierzu wird zum Teil erbittert
geführt. Während einige Hochschulen, Journals, Zeitschriften und Verlage diese
neuen Schreibweisen akzeptieren, lehnen andere sie vehement ab.
Die Diskussion darüber, wie mit der normativen Vergeschlechtlichung der deut-
schen Sprache umgegangen werden kann, überlappt sich mit andauernden Debatten
um Worte, die als gewaltinduzierend gesehen werden bzw. denen vorgeworfen wird,
(historische) Gewalt zu transportieren und zu reproduzieren. Dazu zählen vornehm-
lich rassistische Begriffe. Vorgeschlagen werden hier unter anderem der Verzicht auf
die Nutzung, der Ersatz oder die Andeutung des Wortes, ohne dass dieses ausge-
schrieben oder ausgesprochen wird. Der Duden hat darauf bereits reagiert. In der
24. Auflage desselben findet sich zum rassistischen Begriff für schwarze Menschen,
für das sich in liberalen intellektuellen Kreisen die Bezeichnung N-Wort durchge-
setzt hat, ein kleiner blauer Kasten, der darauf hinweist, dass der Begriff von einigen
Menschen als diskriminierend empfunden wird.
736 M. Castro Varela
5 Fazit
Medien, die neben der Exekutive, Legislative und Judikative oft als „vierte Gewalt“
bezeichnet werden, verfügen über ein besonderes Gewaltpotenzial. Beschreibungen
und Adressierungen in den Medien sind oft nicht nur unangemessen, sondern eben
auch gewaltvoll. Rassistische und sexistische Begrifflichkeiten sind in vielen Publi-
kationen eher die Regel denn die Ausnahme. Des Weiteren ist die Heteronormativität
Gewaltverhältnisse und Sprache 737
der deutschen Sprache eine Tatsache, die häufig nicht als Problem wahrgenommen
wird. Subjekte werden durch Sprache verletzt und als verletzlich hervorgebracht.
Es liegen nun auch einige gute Handreichungen für Journalist*innen vor, die
konkrete Vorschläge unterbreiten, wie über minorisierte Gruppen geschrieben und
berichtet werden kann, ohne diese zu verletzen (etwa AntiDiskriminierungsBüro/
Öffentlichkeit gegen Gewalt 2013; TransInterQueer und Wild 2014). Diese entlassen
nicht aus der notwendigen dekonstruktiven Wachsamkeit, die dazu nötigt, Sprache
nicht als gegeben, sondern vielmehr als historisch geworden zu betrachten ebenso
wie die Subjekte, die in dieser geformt werden und diese sprechen und schreiben.
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Hate Speech im Internet
Kathrin Ganz
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 739
2 Hate Speech im Internet und Geschlecht: Ausmaß, Formen und gesellschaftlicher
Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741
3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746
Zusammenfassung
Im Internet lassen sich verschiedene Formen geschlechtsbasierter Belästigung
und sexistischer Hate Speech beobachten. Zahlreiche Studien bewerten dies als
Ausdruck eines Geschlechterkampfes um Sprechpositionen in digitalen Öffent-
lichkeiten. Die Forschung beschäftigt sich mit den Formen und Hintergründen
von Hate Speech, aber auch mit Möglichkeiten der Gegenwehr. Dass dabei
oftmals ein binäres und dualistisches Geschlechterbild reproduziert wird, zeigt
die performative Wirkkraft von geschlechtsbezogener Hate Speech.
Schlüsselwörter
Hate Speech · Online Harassment · Sexismus · Internet · Öffentlichkeit
1 Einleitung
Hate Speech (dt. Hassrede) ist die aktuell prominenteste Ausprägung verbalisierter
Missachtung im Internet. Auch Geschlecht und Geschlechterverhältnisse werden im
Internet häufig im Modus von Hate Speech adressiert. Geschlechtsbezogene Formen
K. Ganz (*)
Margherita-von-Brentano-Zentrum, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland
E-Mail: kathrin.ganz@fu-berlin.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 739
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_39
740 K. Ganz
Der Forschungsstand zu Ausmaß und Verbreitung von Hate Speech und Online
Harassment ist lückenhaft. Verschiedene Formen, Varianzen in der Intensität von
Online Harassment und Spezifika von Online-Kulturen (z. B. Online-Games, soziale
Medien) werden kaum berücksichtigt. Die Studien konzentrieren sich zudem auf die
Betroffenen; zu den Ausübenden von Hate Speech liegen keine Daten vor. Nach
einer Studie des Pew Research Center haben 40 Prozent aller US-amerikanischen
Internetnutzer_innen Belästigung im Internet erfahren. Insgesamt sind Männer etwas
häufiger von Online Harassment betroffen als Frauen. Frauen erleben signifikant
häufiger Online Harassment in Form von sexualisierter Belästigung und Stalking.
Zudem habe Online Harassment auf Frauen häufiger eine verstörende Wirkung als
auf Männer. Junge Internet-Nutzer_innen seien stärker betroffen als ältere, wobei
junge Frauen vermehrt besonders schwere Formen von Online Harassment erleben.
Afro-amerikanische und hispanische Internet-Nutzer_innen seien signifikant häufi-
ger mit Online Harassment konfrontiert als weiße Internet-Nutzer_innen (Pew
Research Center 2014). Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte stellt
in einer EU-weiten Erhebung zum Ausmaß von Gewalt gegen Frauen fest, dass im
EU-Durchschnitt elf Prozent der Internet-Nutzer_innen seit dem 15. Lebensjahr
bereits Online Harassment in Form von ungewollten, anstößigen und sexuell expli-
ziten Nachrichten in Emails, SMS-Nachrichten, Chats und in sozialen Netzwerken
erhalten haben (FRA 2014, S. 97). Aufgrund der höheren Internet-Nutzungsintensi-
tät in dieser Altersgruppe sind junge Frauen zwischen 18 und 29 Jahren deutlich
stärker betroffen als ältere Frauen (FRA 2014, S. 105). Dies gilt auch für Cyber-
Stalking, das vier Prozent aller Frauen zwischen 18–29 Jahren innerhalb eines Jahres
erlebt haben (FRA 2014, S. 81; vgl. Maple et al. 2012). Trotz der dünnen Datenlage
wird in der Literatur oftmals davon ausgegangen, dass Frauen besonders stark von
Online Harassment betroffen sind und dass Mehrfachdiskriminierung mit einem
größeren Risiko einhergeht, verbalen Angriffen im Internet ausgesetzt zu sein
(Citron 2014, S. 13–14). Dieser Eindruck stützt sich auf die qualitative Analyse
von besonders schweren Fällen von Online Harassment.
742 K. Ganz
Die Mehrzahl von Arbeiten zu Hate Speech bzw. Online Harassment und Ge-
schlecht sind qualitative Erhebungen, vergleichende Fallanalysen und (auto-)
ethnografische Ansätze. Sie zeigen, wie persistent Hate Speech und Online Harass-
ment gegenüber Frauen als Mittel in der Auseinandersetzung um Sprechpositionen
in digitalen Öffentlichkeiten eingesetzt werden.
In digitalen Kommunikationsräumen entspinnen sich immer wieder Konflikte in
Folge von erniedrigenden und frauenfeindlichen Äußerungen. Susann C. Herring
zeigt, dass dafür regelmäßig Frauen verantwortlich gemacht werden, deren Kritik zu
Zensur umgedeutet wird. Auf diese Weise werden Frauen dazu gedrängt, sich den
vorherrschenden, von libertären kulturellen Normen geprägten Kommunikationsfor-
men unterzuordnen (Herring 1999, S. 151–152). Die darin zum Ausdruck kom-
mende Angst vor dem Vordringen von Frauen in männliche Domänen tritt, so Sarah
Banet-Weiser und Kate Miltner (2016, S. 173), derzeit gehäuft in Form einer
„popular misogyny“ zu Tage, die sie als Gegenbewegung zum aktuellen popkultu-
rellen Feminismus-Trend deuten. Jill Filipovic (2007, S. 303) geht davon aus, dass
Belästigung im Internet den Zweck verfolgt, Frauen von gesellschaftlicher Teilhabe
auszuschließen. Emma Alice Jane (2013), die als Journalistin seit über 15 Jahren mit
sexistischen Kommentaren und Emails konfrontiert ist, nutzt – ebenso wie Filipovic
– eigene Erfahrungen als Ausgangspunkt ihrer Analyse. Sie zeigt, dass die sexuali-
sierte, homophobe und frauenfeindliche Rhetorik der Belästigung über viele Jahre
nahezu unverändert zirkuliert (Jane 2013, S. 560).
Eine kommunikationswissenschaftliche Befragung von sich als Frauen positio-
nierenden Bloggerinnen aus den USA, dem Vereinigten Königreich, der Schweiz
und Deutschland von Stine Eckert (2017) zeigt, dass von 109 Bloggerinnen 73,4
Prozent Erfahrungen mit verschiedenen Formen von „online abuse“ gemacht haben,
die von negativen Kommentaren über Stalking, Vergewaltigungsdrohungen bis hin
zu Offline-Konfrontationen reichen. Bloggerinnen, die sich als Feministin positio-
nieren oder über politische Themen bloggen, sind im Vergleich zu anderen deutlich
häufiger mit derartigen Reaktionen konfrontiert (Eckert 2017, S. 10–12). Damit
stützt diese Studie die gängige These, dass Online Harassment vermehrt auf Frauen
abzielt, die sich öffentlich zu politischen Themen äußern.
Sylvia Pritsch (2011) beschäftigt sich mit der Verschränkung von Trollen und
Sexismus, den sie als „Machtkampf um den sozialen Raum des Sprechens“ (Pritsch
2011, S. 240) deutet. Sie geht davon aus, dass öffentliche Äußerungen von Frauen
„ein attraktives Ziel für Troll-Attacken darstellten“ (Pritsch 2011, S. 234). Ziel
dieser sprachlich-symbolischen Verletzung sei es, „das Selbstbild des Anderen
anzugreifen“ (Pritsch 2011, S. 237). Betroffenen werde verwehrt, darüber zu ent-
scheiden, welche Informationen sie als privat erachten und unter welchen Bedin-
gungen sie öffentlich sprechen. Die Unbestimmtheit der verletzenden Rede bezüg-
lich etwa der Frage, ob mit einer Drohung eine ernsthafte Gefährdung einhergeht,
erschwert es, „Deutungsmacht über die Phänomene als Sexismus im Netz zu
Hate Speech im Internet 743
Meldung in der Regel danach, ob sie von vielen Nutzer_innen wahrgenommen wird.
Auf diese Weise können etwa Gerüchte strategisch zur Belästigung von Dritten
eingesetzt werden (Citron 2014, S. 56–72).
Einschlägig beobachtet werden konnten die von Citron beschriebenen Dynami-
ken im Fall Gamergate. Gamergate formierte sich seit 2014 als radikale Bewegung
gegen progressive Inhalte in Computerspielen und wird von Allaway (2014) als
Hass-Gruppe eingeordnet. Die Kampagne wurde in IRC-Chats und Image-Boards
koordiniert (Eickelmann 2017; Mortensen 2016; Mantilla 2015, S. 83–91).
Hate Speech und Online Harassment werden in öffentlichen Debatten nach wie vor
oft trivialisiert und die Verantwortung auf Betroffene verlagert. Die Annahme, im
Internet seien andere Regeln des Umgangs wirksam als in anderen sozialen Kon-
texten, führt nach Citron dazu, dass Hass normalisiert wird. Ähnlich wie bei häus-
licher Gewalt und sexueller Belästigung am Arbeitsplatz sei ein Prozess des Werte-
wandels notwendig (Citron 2014, S. 73–91). Pritsch (2011, S. 238) stuft die
Rechtfertigung von Gewalt als Metagewalt ein. Aktuell sind Betroffene darauf
angewiesen, individuelle und Community-basierte Strategien des Umgangs mit Hate
Speech und Online Harasssment zu finden. Die Strategie, Belästigungen im Internet
zu ignorieren („don’t feed the trolls“), um die „eigene Verletzbarkeit und damit die
Tat des anderen nicht öffentlich anzuerkennen“ (Pritsch 2011, S. 241), lehnen viele
feministische Bloggerinnen explizit ab. Durch ein „pluri-mediales Öffentlichma-
chen“ ringen sie um die Anerkennung der eigenen Verletzbarkeit, um Verletzung
in Richtung Handlungsmacht zu verschieben (Pritsch 2011, S. 241). Ein Beispiel, in
dem diese Strategie von feministischen Bloggerinnen kollektiv umgesetzt wird, ist
die Plattform hatr.org, die Hass-Kommentare in dekontextualisierter Form öffentlich
macht (Bretz et al. 2012; Pritsch 2011; Sadowski 2016). In den letzten Jahren sind
zudem verschiedene Informationsangebote entstanden, die über den Umgang mit
Online Harassment informieren (Brickner 2014; Brodnig 2016; Debate-Dehate.de
o. J.; Friedman et al. 2016).
Die von Eckert befragten Blogger_innen reagieren auf Angriffe, indem sie
Kommentare moderieren, Beleidigungen veröffentlichen und öffentlich für Solida-
rität eintreten. Sie passen aber auch das eigene Verhalten an, indem sie bestimmte
Themen meiden oder sich aus digitalen Öffentlichkeiten zurückziehen (Eckert 2017,
S. 14). Ein Teil der Betroffenen wende sich zudem an die Polizei oder Anwält_innen,
meist ohne Erfolg. Eckert plädiert dafür, „online abuse“ als geschlechtsbezogene
Straftat („gendered crime“) zu klassifizieren (Eckert 2017, S. 16–17). Einen Über-
blick der Möglichkeiten, die das deutsche Recht kennt, um gegen Online Harass-
ment vorzugehen, sowie von möglichen Rechtsinnovationen, hat Ulrike Lemke
vorgelegt (Lembke 2016; für Österreich vgl. Klagsverband.at o. J.).
Untrennbar mit der politischen Auseinandersetzung mit Hate Speech und Online
Harassment verbunden ist die Frage, ob diffamierende Adressierungen im Netz als
Ausdruck freier Rede zu betrachten sind. Eickelmann argumentiert, dass sowohl die
Forderung nach einer Sanktionierung von Hate Speech als auch das Beharren auf der
Rede- und Meinungsfreiheit „an einem konsensualen Universalismus orientiert sind,
der tendenziell die Juridifizierung mediatisierter Missachtung sowie die Entpoliti-
sierung des Internets stützt“ (Eickelmann 2017, S. 21). Dadurch werde ein Opfer-
status festgeschrieben, während widerständiges Potenzial unsichtbar werde. Die
Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen des Rechtes ist jedoch
aus netzpolitischer Perspektive Teil einer Politisierung von Hate Speech, weshalb
Ganz (2013, S. 19) dafür plädiert, die Kommunikationskultur digitaler Öffentlichkeit
dezidiert als eigenständiges netzpolitisches Thema zu setzen. Diesen Weg haben
in den letzten Jahren verschiedene zivilgesellschaftliche Akteur_innen verfolgt
746 K. Ganz
(Amadeu Antonio Stiftung 2015; Schmidt 2011). Das Ziel, wirksame Gegenstrate-
gien zu entwickeln und mit einer Kritik staatlicher Grundrechtseinschränkungen in
der digitalen Welt zu verbinden, ist eine wichtige Herausforderung feministischer
Netzpolitik (Henschel und Schmidt 2014).
3 Fazit
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Teil VIII
Differenzen und/in Medien
Migrantinnen in der Medienproduktion
Bärbel Röben
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752
2 Das Forschungsdreieck: Medien – Geschlecht – Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753
3 Studien zu Migrantinnen in der Medienproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 756
4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760
Zusammenfassung
Migrantinnen sind als Journalistinnen nach wie vor stark unterrepräsentiert. Eine
intersektionale Perspektive, die sowohl Geschlecht als auch Ethnizität im Zu-
sammenhang mit Medienproduktion analysiert, ist bislang noch die Ausnahme
und eröffnet ein weites Feld der Theoretisierung und empirischen Erforschung.
Anleihen sind dabei aus der Migrationsforschung, der Geschlechter- und Diver-
sitätsforschung sowie der Journalismusforschung zu entnehmen, um unter ande-
rem der Frage nachzugehen, ob eine höhere Produktionsbeteiligung von Journa-
listinnen mit Migrationshintergrund auch zu einer anderen, vielfältigeren
medialen Repräsentation von Migrant_innen führt.
Schlüsselwörter
Migrantinnen · Medienproduktion · Journalismus · Geschlecht · Intersektionalität
B. Röben (*)
Attendorn, Deutschland
E-Mail: b.roeben@arcor.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 751
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_64
752 B. Röben
1 Einleitung
Der Erhalt kultureller Identität gilt laut UNO als Menschenrecht. Die Mitglieder-
staaten sind demnach verpflichtet, allen Menschen allgemeine Repräsentationsrechte
zuzugestehen. Dies gilt nicht nur für die Repräsentation von Migrant_innen in
Medieninhalten, sondern auch für deren Repräsentation in Medienredaktionen
(Rommelspacher 2001, S. 175). Nach wie vor sind aber Migrant_innen im Ver-
hältnis zu ihrem Anteil in der Gesamtbevölkerung (Eurostat 2016) auf beiden
Ebenen – Medieninhalte und Medienproduktion – stark unterrepräsentiert.
In den Vereinigten Staaten wird bereits seit den 1970er-Jahren von Berufsver-
bänden der Anteil von ethnischen Minderheiten in Tageszeitungsredaktionen erho-
ben. Die Dokumentation der American Society of Newspaper Editors (2019) zeigt,
dass seit Beginn der Erhebungen 1978 der Anteil der Minderheiten von rund vier
Prozent auf rund 21 Prozent im Jahre 2019 gestiegen ist. Außerdem zeigt die
statistische Erfassung, dass von diesen Journalist_innen mehr als ein Fünftel der
Leitungsebene in Medien angehört.
Im deutschsprachigen Raum stoßen entsprechende Initiativen erst um die Jahr-
tausendwende auf größere Resonanz. Aber trotz des Nationalen Integrationsplans
und zahlreicher Medieninitiativen wie etwa jener des Vereins „Neue Deutsche
Medienmacher“ (2021) haben in Deutschland fünf bis zehn Prozent der Journa-
list_innen einen Migrationshintergrund, d. h., sie sind selbst nicht mit deutscher
Staatsangehörigkeit geboren oder haben zumindest einen Elternteil, auf den dies
zutrifft. Bei der Wohnbevölkerung kommen Menschen mit Einwanderungsgeschich-
te aber auf einen Anteil von etwa 26 Prozent (Neue Deutsche Medienmacher_innen
2021, S. 10).
Eine Untersuchung für Österreich zeigt, dass nur knapp fünf Prozent der Journa-
list_innen nicht in Österreich geboren wurden und/oder Eltern mit einem auslän-
dischen Geburtsort haben (Österreichischer Intergrationsfonds 2012, S. 5). Auch
hier gab es einen nationalen Aktionsplan und Initiativen von Migrant_innen, wie
etwa das transkulturelle Gratis-Magazin „biber“ (2017), um stärker für das Thema zu
sensibilisieren.
Diverse Definitionsversuche von „Migrationshintergrund“ für Migrant_innen
und ihre Nachkommen können als exkludierende und daher problematische Zu-
schreibungen gesehen werden. Andererseits stellen aber amtliche Definitionen jene
Analysekategorien für die Wissenschaft bereit, mit denen Diskriminierungen,
z. B. beim Medienzugang, empirisch erforscht werden können. So stieg die For-
schung zu Migrant_innen in der Medienproduktion in Deutschland erst 2005 an, als
das Statistische Bundesamt „Migrationshintergrund“ definierte und den Anteil der
Bevölkerung mit Einwanderungsgeschichte erhob (Statistisches Bundesamt 2021).
Mediale Teilhabechancen und -hürden konnten von nun an durch einen Vergleich
von Journalist_innen mit und ohne Migrationshintergrund ermittelt werden (Röben
2013, S. 123–133).
Migrantinnen in der Medienproduktion 753
aufdecken, wie die Prozesse des doing gender und doing ethnicity miteinander
verknüpft werden und zu unvereinbaren Verhaltensanforderungen an und zur Min-
derbewertung der Leistungen von Journalistinnen mit Einwanderungsgeschichte
führen. Das wird beispielsweise dann sichtbar, wenn von ihnen einerseits Bezüge
zu ihrem Herkunftsland (Sprache, Kultur, Religion) erwartet werden und dies aber
andererseits als mangelnde journalistische Neutralität abgewertet wird.
Geißler und Pöttker entwickelten das Konzept der interkulturellen medialen Inte-
gration, das einen neuen normativen Gestaltungsrahmen für die mediale Teilhabe in
der Einwanderungsgesellschaft bietet, der auf gegenseitiger aktiver Akzeptanz von
Mehrheitsgesellschaft und eingewanderten Minderheiten beruht (Geißler und Pött-
ker 2005, S. 5–10; Herczeg 2010, S. 169–180). Damit wird eine Annahme opera-
tionalisiert, die Geschlechter- und Migrationsforschung teilen, nämlich dass Mit-
glieder einer Gesellschaft erst dann gleichberechtigt sind, wenn ihre vielfältigen
Identitäten Anerkennung finden und verhindert wird, dass hierarchisierende Diffe-
renzsetzungen soziale Ungleichheit schaffen und festigen (Röben 2008, S. 141). Das
bedeutet für Migrant_innen in der Medienproduktion, dass sie proportional zu ihrem
Bevölkerungsanteil im Redaktionspersonal vertreten sein sollen und ihre spezi-
fischen Qualifikationen und Perspektiven gleichberechtigt in die journalistische
Arbeit einbringen können (Geißler und Pöttker 2005, S. 74). Vor dieser Folie
analysierten Johanna Dorer und Matthias Marschik auch die Migrationsbericht-
erstattung in Europa (2006, S. 28). Viktorija Ratković (2018, S. 52) problematisiert
am Konzept der interkulturellen medialen Integration vor allem, dass für Angehörige
ethnischer Minderheiten dabei immer nur der Platz der Repräsentant_innen einer
bestimmten ethnischen Gruppe vorgesehen ist.
Bis Ende der 1990er-Jahre gab es nur wenige Fallstudien mit Migrantinnen und
Medienproduktion im Fokus.1 Wichtige Impulse für die Gleichstellung von Mi-
grant_innen gingen damals von Frauenbeauftragten aus, die auch Erfahrungen der
Frauenbewegung mit der Quote thematisierten (Niemann 2000).2 Allein vier Publi-
kationen befassten sich mit dem europäischen Modellprojekt „Mehr Farbe in die
Medien“, das in Deutschland 20 Migrantinnen ermöglichte, ein Volontariat in öffent-
lich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu absolvieren (Gries 1998; Hatef 1998; Jungk
1999; Zwick 1996). Die Produktionsbeteiligung von Migrantinnen in Alternativme-
dien wurde in einer Fallstudie zum Offenen Kanal Berlin thematisiert (Linke 1997).
Nach der Jahrtausendwende erschienen zwei Studien zur Produktionsbeteiligung
von Journalistinnen mit Migrationsgeschichte in Frankfurter Medien (Röben 2008)
und im Berliner Hörfunk (Fritsche 2009). Ein erstes empirisches Forschungsprojekt
„Migrantinnen in den Medien“ (Lünenborg et al. 2011) unter Leitung von Margreth
Lünenborg förderte das NRW-Integrationsministerium 2008 bis 2011. In einem
Teilprojekt zum Fernsehen wurde dabei auch die Produktionsebene in den Blick
genommen (Lünenborg und Fürsich 2014). Für Österreich hat Assimina Gouma
(2012) erste Erfahrungen von Migrantinnen als Journalistinnen in einem
Mainstream-Medium kritisch aufgearbeitet und theoretisiert.
Den explorativen Untersuchungen zu Migrant_innen in der Medienproduktion
stehen nur drei empirische Studien gegenüber, in denen Migrantinnen explizit
thematisiert werden. Röben (2008) und Fritsche (2009) untersuchen die Verschrän-
kung von Gender und Ethnizität, um Diskriminierungen – bei Anteil und Positio-
nierung in den Redaktionen und beim Berufszugang – zu ermitteln. Lünenborg und
Fürsich (2014) fokussieren auf Fragen der Identitätskonstruktion. Ihre zentralen
Erkenntnisse werden unter Heranziehung jüngerer Untersuchungen vorgestellt, in
denen teilweise nach Geschlecht unterschieden wird.
1
Zum Beispiel Koch 1996 (Porträts von sechs männlichen und vier weiblichen Journalist_innen mit
Minoritätenhintergrund) und Prenner 1995 (Analyse ethno- und androzentristischer Nach-
richtenselektionsfaktoren).
2
Die Quoten-Diskussion hält bis heute an, vgl. für viele: Neue deutsche Medienmacher_innen
2021, S. 87.
Migrantinnen in der Medienproduktion 757
3
Zur Situation im öffentlich-rechtlichen Rundfunk vgl. auch Sultan 2011 und Röben 2013,
S. 130–131.
758 B. Röben
4
„Der auffälligste Unterschied zu den Deutschen [sic] zeigt sich bei der sozialen Herkunft“, denn
40 Prozent stammen aus „Familien von Arbeitern und einfachen Dienstleistern“ (Geißler et al.
2009, S. 113).
5
Inzwischen ist Diversität in deutschen Medienhäusern zwar gefragt, aber noch immer gibt es nur
einzelne Maßnahmen und keine Diversity-Strategie zur Erleichterung des Berufszugangs für
Journalist_innen mit Migrationshintergrund (Neue deutsche Medienmacher_innen 2020).
Migrantinnen in der Medienproduktion 759
die meisten Befragten sich zuerst als Expertinnen in ihren jeweiligen Fachgebieten
betrachteten – „ein Selbstbild, das der etablierten Ideologie des Journalisten als
neutralem Beobachter zuzuordnen“ sei (Lünenborg und Fürsich 2014, S. 14–15).
Diese Anpassung an das gängige journalistische Selbstverständnis stellte auch
Mercedes Pascual Iglesias fest: Erfolgreiche Migrant_innen „betrachten sich als
Teil der Mehrheitsgesellschaft (. . .) Ihr journalistisches Selbstverständnis für die
Themenwahl und -umsetzung haben sie in Deutschland ausgebildet, so dass es sich
von dem deutschstämmiger Kollegen kaum unterscheidet“ (Pascual Iglesias 2005,
S. 164). Für ihre Identitätsbildung, so Lünenborg und Fürsich, ist zudem die
Zugehörigkeit zur Mittelschicht, der die meisten Journalist_innen entstammen,
wichtiger als ihre Biografie als Frau und Migrantin, d. h. Klasse erweist sich als
zentrale Differenzkategorie. Sie betrachten beruflichen Erfolg als persönliche Leis-
tung und „verstehen systemische Geschlechterungleichheit bzw. mangelnde Multi-
kulturalität als eine Hürde, welche mit individuellen, persönlichen Strategien ge-
meistert werden kann“ (Lünenborg und Fürsich 2014, S. 16) – ganz im Sinne
neoliberaler Gesellschaftsordnungen. Die gleiche Ansicht vertraten Journalist_innen
mit „bürgerlicher Herkunft“, die Oulios (2009, S. 140) interviewte.
Lünenborg und Fürsich kritisieren, dass sich im Fernsehen keineswegs die
Vielfalt der Migrationserfahrungen wiederfindet und machen dafür ideologische
Selbstwahrnehmungen von Migrantinnen mitverantwortlich: „Solange sie der Mit-
telschicht angehören, müssen sie sich nicht an den Kämpfen um weibliche und
ethnische Identität beteiligen“ (Lünenborg und Fürsich 2014, S. 17). Die Aussagen
der Frauen seien zwar „ideologisch mit einer postmigrantischen Identität verbun-
den“, ihre Distanzierungsstrategien entlang der Grenzziehung Klasse stellten aber in
Frage, ob eine bessere Repräsentation im Personal auch mehr inhaltliche Vielfalt
bedeutet (Lünenborg und Fürsich 2014, S. 17–18).
4 Fazit
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762 B. Röben
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764
2 Othering, Migrationsmanagement und Medien als „white man’s world“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 764
3 Migration als Thema der Kommunikations- und Medienforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 766
4 Fazit: Kritische Perspektiven als produktive Herausforderung für die
Kommunikations- und Medienforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773
Zusammenfassung
Migrant*innen fanden lange Zeit sowohl in Medien als auch in der Kommunika-
tions- und Medienforschung nur wenig Beachtung. Die mittlerweile zahlreichen
Arbeiten, die Migrationsphänomene in den Fokus rücken, zeigen auf, dass Reprä-
sentationen von Migrant*innen u. a. vom Paradigma der Integration und von
Kulturalisierungen geprägt waren bzw. nach wie vor sind. Analysen von Darstel-
lungen gegenderter Migrationserfahrungen stellen zudem fest, dass gerade entlang
der Kategorien Geschlecht, Religion und (zugeschriebener) Ethnie/race Prozesse
der Grenzziehung zwischen ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘/VerAndertem erfolgen.
Schlüsselwörter
Migrant*innen · Muslimische Frau · Othering · Migrationsmanagement ·
Integrationsparadigma
V. Ratković (*)
Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich
E-Mail: viktorija.ratkovic@aau.at
A. Gouma
Institut für Inklusive Pädagogik, Pädagogische Hochschule Oberösterreich, Linz, Österreich
E-Mail: assimina.gouma@ph-ooe.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 763
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_65
764 V. Ratković und A. Gouma
1 Einleitung
Die Grenzen des Sagbaren in Bezug auf Migration und Migrant*innen werden in der
Öffentlichkeit verhandelt, und zwar unter hegemonialen Bedingungen. Diese Be-
dingungen können als eine sozial konstruierte Wirklichkeit bzw. als Differenzver-
hältnisse zusammengefasst werden, die der Genderkategorie in den Medienberichten
über die Akteur*innen der Migration vorgelagert sind und die aus der theoretischen
Perspektive des othering betrachtet werden können.
Bei der Migrationsfrage tragen Medien durch stereotype Berichterstattung und
die Verbreitung von nationalistischen und neoliberalen Narrativen zur diskursiven
Verfestigung des othering (Hall 1996, 2000; Olalde und Velho 2011; Gouma 2020),
d. h. der VerAnderung (Reuter 2002) bei. Markierungspraktiken haben weitreichen-
de kollektive Folgen für die Protagonist*innen der Migration. Die diskursiven
Kämpfe rund um Migrationsphänomene und die Synergieeffekte zwischen Media-
tisierung und Rassismus/Neoliberalismus/Rechtspopulismus führen zu politischen
Migrant*innen in Medientexten als Thema der Medien- und . . . 765
Subjektkonstruktionen, die Giorgio Agamben (1998) als „bare life“ (das nackte
Leben) versteht: Das nackte Leben als das Ergebnis politischer Macht auf Körper,
die nicht als Teil des hegemonialen gesellschaftlichen Selbstverständnisses zählen.
Dadurch ist es möglich, bestimmte Subjekte an die Ränder des politischen und
juristischen Systems zu drängen bzw. eine hegemoniale Definition von migranti-
schen Subjekten zu verfestigen, die durch ihre Exklusion aus dem juristischen und
politischen Spektrum zugleich das legitime „Volk“ mitkonstituiert. Bei den diskur-
siven Kämpfen rund um diese Subjektivierungs- bzw. Ausschlussprozesse geht es
nicht nur um die Bedeutung von „Volk“, „Migrant*in“ etc., sondern um das binäre
Denken als zentrales Mittel des othering im kolonialen europäischen Verständnis.
Postkoloniale westliche Gesellschaften sind davon noch immer zutiefst beeinflusst
(Gilroy 2005; Mohanty 2013), weil in rassistischen Verhältnissen othering zur
Festigung von white privilege (Carr 2017) beiträgt.
Einen wesentlichen Beitrag zu othering leistet die Medienöffentlichkeit, indem
darin Migrationsphänomene überwiegend als „Problem“ behandelt werden. Gestärkt
wird der Problem-Diskurs durch die politischen „Eliten“ (Dijk 1992), die je nach
Weltanschauung fordern, dass Migration gestoppt bzw. im Sinne des Migrations-
managements – des mittlerweile dominanten politischen Paradigmas – kontrolliert
wird. In der medialen Öffentlichkeit wird die „Problem“-Perspektive – teilweise von
redaktioneller Routine, prekären Reflexions- und Rechercheressourcen (Weish
2015; Fleras 2016) und populistischen Dynamiken unterstützt – verbreitet und
vervielfältigt. Augie Fleras (2016) weist darauf hin, dass in der westlichen Bericht-
erstattung, Migrant*in zu „sein“ – solange das nötige Kleingeld fehlt, um die
Verwandlung zur Kosmopolit*in zu erwirken –, nichts anderes bedeutet, als „pro-
blem people“ zu sein: Menschen mit Problemen, die Probleme verursachen. Durch
das Zusammenwirken unterschiedlicher gesellschaftlicher Systeme hat sich der
Standpunkt „Migration ist ein Problem“ zu einer dominanten Alltagstheorie bzw.
als common sense durchgesetzt. Migration als Recht, soziale Bewegung, Phänomen
und Realität in einer globalisierten, vernetzten und von Ungleichheiten gekenn-
zeichneten Welt zu behandeln, ist dagegen eine bisher politisch inopportune Positi-
on. (Bojadžijev und Liebelt 2014; Gouma 2020) Ein bedeutender Aspekt bei der
Konstruktion des „Problems“ ist das „othering through gendering“: „This image of
the non-civilised, aggressive and violent young male migrant at the same time
creates the ‚native girl‘ as a helpless victim that seems deprived of agency and in
need of a saviour ready to fight on her behalf.“ (Mayer et al. 2016, S. 94) Besonders
seit dem „Ereignis Köln“ (Dietze 2016) trugen mediale Diskurse wesentlich zur
Festigung dieser Darstellung migrantischer Männlichkeit bei (siehe auch Boulila
und Carri 2017).
Das dominante politische Paradigma des Migrationsmanagements (Messinger
und Ratković 2017) ist indes ein neoliberales Angebot, das verspricht, sowohl das
„Problem“ als auch das Nord-Süd-Verhältnis durch othering zu kontrollieren und
damit zu regieren: „Migration ist positiv, sofern sie nützlich ist.“ (Georgi 2010,
S. 153–154) Migrationsmanagement betrachtet Migration zwar als einen normalen
Prozess, tritt jedoch für „regulated openness“ ein, um einen maximalen „Gewinn“
für den jeweiligen Nationalstaat zu erzielen. Die aktuelle Verschränkung einer
766 V. Ratković und A. Gouma
(vgl. Lünenborg und Maier 2017; Bonfadelli et al. 2010; Trebbe 2009; Müller
2005a, b; Weber-Menges 2005). Untersucht wird die Darstellung und Repräsentati-
on von Migrant*innen1 in den Medien, Mediennutzung und -aneignung von Mi-
grant*innen sowie die Rolle von Migrant*innen in der Medienproduktion
(zu Medienproduktion siehe Röben 2022). Einbezogen werden verschiedene theo-
retische Bezugsrahmen, bei der Analyse von medialen Repräsentationen von Mi-
grant*innen vor allem Agenda Setting, Framing und Stereotypenforschung (Trebbe
2009, S. 12; Spindler 2011; Lünenborg und Maier 2017). Kaum Berücksichtigung
findet die Verknüpfung der Kategorien Geschlecht und „Ethnizität“ in der deutschen
Kommunikationswissenschaft. Sie bildet bis in die 2010er-Jahre eine Leerstelle.
(Lünenborg et al. 2011) Mittlerweile gibt es allerdings zahlreiche Studien, die
Geschlecht in den Fokus rücken und dabei zunehmend intersektional vorgehen
(Lünenborg und Fürsich 2014).
Printmedien werden dabei am häufigsten, Fernsehinhalte (Hipfl 2018; Ortner
2007), Filme, Werbung und PR hingegen seltener analysiert – und das, obwohl
Migration gerade in zahlreichen Spielfilmen und Dokumentationen thematisiert
wird. Dies kann zum einen damit erklärt werden, dass sich Printmedien leichter
auswerten lassen, zum anderen damit, dass politischen Inhalten der Presse hoher
Stellenwert eingeräumt wird (Müller 2005a, S. 111). Auch Forschungsarbeiten, die
sich explizit mit Migrantinnen befassen, fokussieren vor allem auf ihre Darstellung
in den Printmedien, wobei das Nachrichtenmagazin Der Spiegel das meist beforsch-
te Medium ist. (Inhalts-)Analysen von Fernsehfilmen und TV-Dokumentationen
fußen laut Lünenborg et al. (2011, S. 28–39) auf kleiner empirischer Basis, wes-
wegen sie eher als explorativ zu bezeichnen sind.
Die Auseinandersetzung mit Migration in den (deutschsprachigen) Kommunika-
tionswissenschaften ist zudem Konjunkturen unterworfen: So handelt es sich hierbei
zeitweise geradezu um ein Modethema (Geißler und Pöttker 2009a, S. 7). Nicht
zuletzt hat, wie etwa Braun et al. (2018, S. 10) feststellen, gerade der ‚lange Sommer
der Migration‘ bzw. die darin offenkundig gewordene ‚Krise‘ des europäischen
Grenzregimes ab 2015 zu einem Anstieg der Nachfrage nach Wissen über Migration
geführt, was sich u. a. an der Bereitstellung von Fördermitteln für entsprechende
Forschungsprojekte zeigt. Fluchtbewegungen haben in den letzten Jahrzehnten
immer wieder zu verstärktem Interesse am Thema Migration geführt, wobei der
Fokus zumeist auf bestimmte Gruppen gelegt wurde und gegenderte (Flucht-)
Erfahrungen nur selten in den Blick gerückt wurden (für einen Überblick siehe
Horz 2020).
1
Die Autor*innen der im Folgenden zitierten Studien verwenden jeweils unterschiedliche Bezeich-
nungen, die z. T. auch unterschiedliche Gruppen/Menschen betreffen (z. B. Ausländer*innen,
Gastarbeiter*innen, Frauen/Männer mit Migrationshintergrund, Migrant*innen). An diesen Be-
zeichnungen zeigen sich die jeweils dominanten Diskurse rund um und Perspektiven auf Migration,
die hier aus Platzgründen nicht ausgeführt werden können. Im Folgenden werden diese Bezeich-
nungen synonym mit Migrant*innen verwendet.
768 V. Ratković und A. Gouma
Der Beginn der Auseinandersetzung mit dem Thema Migration in Medien hängt mit
dem ‚Gastarbeiter*innen‘-Phänomen zusammen: Aufgrund des ab Mitte der 1950er-
Jahre beginnenden Wirtschaftsaufschwungs wurden u. a. in Österreich und Deutsch-
land Menschen aus dem südlichen Europa und nördlichen Afrika als Arbeitskräfte
angeworben. Der Hauptfokus vieler deutschsprachiger Arbeiten auf dem Themen-
gebiet Medien und Migration liegt seit dem Beginn der verstärkten Auseinander-
setzung ab den 1970er-Jahren auf der Darstellung von Migrant*innen in Medien
(Müller 2005b). Seit der ersten systematischen Untersuchung (Delgado 1972) bis in
die Mitte der 2000er-Jahre zeigen die Ergebnisse, dass Migrant*innen in Medien
erstens nur selten vorkamen, zudem – so beispielweise die repräsentative Fernseh-
studie von Krüger und Simon (2005) – Migrantinnen deutlich seltener als Migranten
(Krüger und Simon 2005, S. 113; zur Einordnung siehe auch Lünenborg et al. 2011,
S. 22–24). Bobber et al. (1996) weisen etwa in ihrer Untersuchung zur Darstellung
von Migrantinnen in drei nordrhein-westfälischen Printmedien nach, dass auslän-
dische Frauen in den 1550 Beiträgen ihres Samples nur vierzehnmal zum Subjekt der
Nachricht werden (Bobber, S. 9). Zweitens kommen Migrant*innen insgesamt meist
als passive Objekte der Berichterstattung (Bonfadelli und Moser 2007), drittens
meist stereotyp und viertens meist in negativen Zusammenhängen vor.
Dabei ist es allerdings wichtig festzuhalten, dass bis in die 2000er-Jahre hinein
weibliche Migrantinnen in den meisten Forschungsarbeiten ‚mitgemeint‘ waren,
d. h. dass Geschlecht nur selten in den Blick genommen wurde. Dies entsprach
auch den dominanten Zugängen der deutschsprachigen Migrationsforschung ins-
gesamt, die Migration überwiegend im Kontext arbeitssuchender Männer themati-
sierte. Die Migration von Frauen wurde lange Zeit lediglich als Heirats- oder
Familiennachzugsmigration wahrgenommen, was allerdings nicht den Tatsachen
entspricht. So waren etwa in Deutschland um die 20 % der angeworbenen ‚Gast-
arbeiter*innen‘ Frauen, auch war die Erwerbsarbeitsquote von zugewanderten Frau-
en lange Zeit höher als jene der nicht-eingewanderten Frauen (Treibel 2008,
S. 121–122). Forschungsarbeiten, die Medientexte aus der Zeit der ‚Gastarbeit‘
aus einer explizit geschlechterkritischen Perspektive heraus betrachten, stellen fest,
dass ab den 1970er-Jahren die Berichterstattung über Migrant*innen zwar zuge-
nommen hat, dass allerdings auch hier der männliche ‚Gastarbeiter‘ im Fokus steht,
d. h. weibliche ‚Gastarbeiter*innen‘ finden nur selten Erwähnung und kommen eher
als ‚Anhängsel‘, d. h. Ehefrauen vor. Dabei sind zwei Diskursstränge bestimmend:
erstens jener, der ‚Gastarbeiter*innen‘ als Täter*innen in den Vordergrund stellt,
zweitens jener, der diese als Opfer darstellt. (Koch et al. 2013; Toker 1996) Interes-
sant ist jedoch, dass Migrantinnen in fiktionalen Formaten schon seit dem Ende der
1960er-Jahre deutlich sichtbarer waren als in der nachrichtlichen Berichterstattung.
So stellt Bulut (2000) in ihrem explorativen Überblick deutscher Film- und Fernseh-
770 V. Ratković und A. Gouma
produktionen nicht nur fest, dass die Arbeitsmigration von Frauen in diesen schon
früh thematisiert wurde, sondern auch, dass eine positive Entwicklung der Frauen-
rollen vom Objekt zum Subjekt festzustellen ist (Bulut 2000, S. 261).
Der erste Sammelband, der sich explizit mit der Darstellung von Migrantinnen in
den deutschen Medien beschäftigt, versammelt Einzelfallanalysen, etwa zu Brigitte
oder Der Spiegel (Röben und Wilß 1996). Bereits in diesem Band wird nicht nur
deutlich, dass Migrantinnen häufig als ‚Fremde‘ dargestellt werden, sondern auch,
dass die Figur der muslimischen Frau einen zentralen Stellenwert in der Darstellung
von Migrant*innen einnimmt. So analysiert Huhnke (1996) in ihrem Beitrag die
durch die Medien produzierten, patriarchal strukturierten Fantasien von der „frem-
den Frau“ und setzt sich detailliert mit den Stereotypen auseinander, die über
Migrantinnen in deutschen Medien hergestellt werden. Huhnke zeigt dabei auf,
dass Medienbilder von Migrantinnen von kolonialen Macht- und Denkstrukturen
geprägt sind, was etwa in Bezugnahmen auf Mythen des „Orientalismus“ und des
„erotischen Exotismus“ deutlich wird (Huhnke 1996, S. 121). Muslimische Frauen
werden verschleiert, Osteuropäerinnen wie auch schwarze Frauen halbnackt oder
nackt gezeigt (Huhnke 1996, S. 128–130).
Lange Zeit lag der Fokus nicht nur der Medien, sondern auch der deutschspra-
chigen Kommunikations- und Medienforschung auf der ‚muslimischen Frau‘. Die
Ergebnisse spiegeln dabei Huhnkes Befunde zum größten Teil wider (Pinn 1997;
ZIF 2002; Neumann 2002; Schiffer 2007; Dietze 2009). So zeichnet Röder (2007)
anhand eines großen empirischen Korpus die Darstellung muslimischer Frauen im
Nachrichtenmagazin Der Spiegel nach. Farrokhzad (2002, 2006) stellt wiederum
fest, dass Berichte über muslimische Frauen häufig Bezug auf die Geschlechter-
verhältnisse im Islam nehmen, die Kopftuch-Debatte thematisieren und häufig
implizieren, „dass alle Musliminnen tendenziell fanatisch und ideologisch verblen-
det sind“ (Farrokhzad 2006, S. 75). Gerade die Debatten rund um das Kopftuch
stehen vielfach im Fokus, wobei das Kopftuch in Abgrenzung zu früheren Darstel-
lungen nicht mehr als Teil der Inszenierung muslimischer Frauen als ‚Orientalinnen‘
herangezogen wird, sondern als Zeichen von Rückständigkeit beschrieben wird
(Farrokhzad 2002). Auffallend ist dabei, dass gerade der Kleidungsstil muslimischer
Frauen herangezogen wird, um den Grad ihrer angeblichen Fremdheit zu visualisie-
ren: Muslimische Frauen, die keinen Hidjab tragen, werden als moderne Muslimin-
nen beschrieben, d. h., ihnen wird Modernität und Aufgeklärtheit zugeschrieben
(Farrokhzad 2002; Paulus 2007; Röder 2007; Schiffer 2007) Neben der Religion
wird auch das Herkunftsland herangezogen, um Differenz zu konstruieren und zu
betonen, wobei der angeblich modernen westlichen Frau – je nach Herkunftsland
anhand unterschiedlicher Aspekte – als rückständig inszenierte Migrantinnen gegen-
übergestellt werden (Farrokhzad 2006; Lünenborg et al. 2011; Drüeke et al. 2012;
Özcan 2013). Vor allem die Emanzipation von weiblichen Migrantinnen (wie sie von
der Mehrheitsgesellschaft definiert wird) bzw. auch der ‚muslimischen Frau‘ wird
dabei lange Zeit als Messlatte für den Integrationsfortschritt (vor allem der musli-
mischen Bevölkerung) herangezogen (Huth-Hildebrandt 2002, S. 163). Gabriele
Dietze spricht in diesem Kontext von der „okzidentalistischen Dividende“ (Dietze
2009), womit gemeint ist, dass sich okzidentale Frauen gerade im Vergleich zur
Migrant*innen in Medientexten als Thema der Medien- und . . . 771
‚muslimischen Frau‘ als besonders frei imaginieren (können) – und damit u. a. Se-
xismus in der ‚eigenen‘ Gesellschaft ausblenden (können) (Drüeke et al. 2012).
Die Figur der ‚muslimischen Frau‘ ist zudem häufig in die ebenfalls seit den
1970ern in der Migrationsberichterstattung relativ dominante Erzählung rund um
den Opfer-Täter-Gegensatz eingebettet. Migrantinnen werden häufig als Unter-
drückte mit Kopftuch abgebildet und als Opfer kultureller Gewalt in Zusammenhang
mit Viktimisierungsdiskursen gebracht (Georgiou 2013; Moorti und Ross 2002).
Von Frauenmigration wird vor allem aufgrund der Gefahr des Menschenhandels
abgeraten. (Schaeffer-Grabiel 2011) Im Gegensatz dazu werden männlich gelesene
Migranten eher als Täter und damit in Zusammenhang mit Kriminalisierungsdis-
kursen bzw. als Sicherheitsrisiko dargestellt. (Scheibelhofer 2017; Spindler 2011;
vgl. auch Beitrag von Scheibelhofer et al. 2019) Die Reduktion der medialen
Repräsentation auf die Opfer-Täter-Ordnung spiegelt ein zentrales Narrativ wider
und klammert damit das breite Spektrum der Bedeutungen und Ambivalenzen, die
gegenderte Mediendiskurse in Zusammenhang mit Migration hervorbringen, aus.
Die Relevanz der Opfer-Täter-Stereotypen in der medialen Berichterstattung ist
dabei eng mit postkolonialen Kontinuitäten verknüpft, als das Framing von Gewalt
Stereotype und essentialisierende Unterscheidungen (‚der Westen‘ als progressiv
und bedroht, ‚der Rest‘ als rückständig und bedrohlich) festschreibt (Mattoscio und
MacDonald 2018, S. 1117). Eine Zuspitzung erfuhr dieses Framing vor allem im
Zusammenhang mit dem ‚Ereignis Köln‘, wobei Gabriele Dietze (2016) in ihrer
Analyse der Narrative rund um dieses Ereignis den Begriff Ethnosexismus einführt.
Dieser bringt zum Ausdruck, dass gerade ethnisch markierte Menschen (in diesem
Fall junge zugewanderte Männer) von sexualisierten Rassismen, die ihnen eine
angeblich problematische, ‚rückständige‘ Sexualität zuschreiben, diskriminiert wer-
den. Fallweise werden allerdings auch weibliche Migrant*innen durchaus als Be-
drohung beschrieben, etwa im Zusammenhang mit Sexarbeit: So erscheint laut
Radostina Patulova (2007) der europäische Osten in westeuropäischen Medien in
Gestalt eines „undefinierten, bedrohenden FrauenÜberkörpers“ (Patulova 2007,
S. 12), d. h. eines Körpers, der u. a. durch sexuell übertragbare Krankheiten den
national definierten und als gesund imaginierten Volkskörper gefährdet (siehe auch
Ratković 2009).
Seit Beginn der 2010er-Jahre mehren sich allerdings auch Befunde, die auf einen
Wandel der Berichterstattung über weibliche Migrant*innen hinweisen: So stellen
Margreth Lünenborg, Katharina Fritsche und Annika Bach (2011) in ihrer groß
angelegten Studie zur Darstellung von Migrantinnen in fünf deutschen Tageszeitun-
gen fest, dass das Bild des hilfsbedürftigen, weiblichen Opfers zwar quantitativ
dominiert, dass aber gleichzeitig auch „vielfältige andere Rollenkontexte und Le-
bensentwürfe sichtbar“ werden (Lünenborg et al. 2011, S. 144). Migrantinnen als
selbstverständlicher Teil der Gesellschaft kommen vor allem in Lokalteilen von
Zeitungen vor, in denen „alltagsweltliche Bezüge [sowie] eine differenzierte und
vielfältige Berichterstattung“ (Lünenborg et al. 2011, S. 144) zu finden sind, wäh-
rend die Politikberichterstattung „auffällig negativ und konfliktzentriert“ ist. Hier
erscheinen Migrantinnen häufig als anonyme Gruppe und kommen selbst kaum zu
Wort (Lünenborg et al. 2011, S. 145). Auch die Studie von Martinez Lirola (2014)
772 V. Ratković und A. Gouma
zeigt auf, dass Migrantinnen auch in modern konnotierten Rollen gezeigt werden,
wobei traditionelle Stereotype etwa aufgebrochen werden, indem Migrantinnen als
Nutzerinnen neuer Technologien beschrieben werden (Martinez Lirola 2014,
S. 89–90). Migrant*innen werden zunehmend – und gerade im Einklang mit dem
oben beschriebenen Nützlichkeitsparadima – als Bereicherung für die Wirtschaft
und Gesellschaft dargestellt (Lünenborg et al. 2011). Besondere Aktualität erfährt
dieses Paradigma durch die Covid-Pandemie, als hierbei die Frage der Übernahme
von Care-Arbeit durch Marginalisierte in den Fokus gerückt wurde (Holzberg et al.
2021).
Sowohl an der medialen Repräsentation von Migrant*innen als auch anhand der
Trends in der (deutschsprachigen) Kommunikations- und Medienforschung lassen
sich Konjunkturen und dominante öffentliche Diskursen rund um Migration ablesen.
Dabei stellt sich nicht nur die grundsätzliche Frage, wie Medien Differenz inszenie-
ren und manifestieren, sondern auch, wie diese Prozesse in einer Art und Weise
beforscht werden können, die nicht wiederum zu einer Verfestigung und Normali-
sierung von hierarchisierenden Differenzkonstruktionen beiträgt.
Der ‚lange Sommer der Migration‘ im Jahr 2015 hat auch dazu geführt, For-
schungsfragen und Paradigmen der Kommunikationswissenschaft in Bezug auf
Migration zu überdenken – gerade weil das Integrationsparadigma kaum dazu
beitragen konnte, diese Ereignisse zu beschreiben oder zu verstehen (vgl. etwa
Grill et al. 2015). Brigitte Hipfl (2016) plädiert in diesem Sinne für eine Neuorien-
tierung der Kommunikationswissenschaft, die mit der Einbeziehung neuerer theo-
retischer Überlegungen und kritischer Konzepte einhergeht. So schlägt sie u. a. die
Verknüpfung der Kommunikationswissenschaft mit der Frage der Mobilitätsregime
vor, also die Betrachtung der Tatsache, dass Mobilität und Bewegung für die Gesell-
schaft konstitutiv sind, sich aber nicht alle Menschen frei bewegen dürfen (Hipfl
2016, S. 6) Im Fokus ihrer Überlegungen steht allerdings auch die Verantwortung
von Wissenschaftler*innen selbst, da gerade die Wissensproduktion rund um Mi-
gration Fragen danach aufwirft, in welcher Beziehung die Forscher*innen zum
Forschungsstand stehen. (Hipfl 2016, S. 8).
Manuela Bojadžijev und Regina Römhild (2014) argumentieren wiederum da-
für, Migrationsforschung zu „entmigrantisieren“ und die Gesellschaftsforschung zu
migrantisieren. Intersektionale Zugänge können wesentlich zu diesem Forschungs-
desiderat beitragen und die Interdependenz von Gender-, aber auch Klassenverhält-
nissen im Feld von „Migration und Medien“ zu verdeutlichen. Gesellschaftsfor-
schung zu migrantisieren würde in diesem Fall bedeuten, auch den theoretischen
Rahmen zu erweitern: Postkoloniale Theorie, Gendertheorien wie auch rassismus-
und kapitalismuskritische Theorien würden ermöglichen, wichtige Schnittmengen
Migrant*innen in Medientexten als Thema der Medien- und . . . 773
zwischen dem Phänomen der Migration, der Medien und der Migrationsgesellschaft
zu untersuchen.
Und nicht zuletzt stellt sich die Frage, wie kritische Ansätze, die nicht per se auch
geschlechterkritisch angelegt sind, so einbezogen werden können, dass weibliche
Migrant*innen in entsprechenden Forschungsarbeiten nicht wiederum lediglich
‚mitgemeint‘ werden. Denn obwohl niemand als Migrant*in geboren wird, werden
manche Menschen nicht zuletzt durch Medien und auch Wissenschaft laufend zu
Migrant*innen gemacht, was für sie und auch für die Gesellschaft mit realen und
zumeist negativen Konsequenzen verknüpft ist. Diese Prozesse in den Fokus zu
rücken und die Kategorie Migrant*in gleichzeitig als politische Identität zu ver-
stehen, als „Bezeichnung eines oppositionellen Standorts“ im Sinne einer „feminis-
tischen und antirassistischen Parteilichkeit“ (Yurtsever-Kneer 2004), stellt weiterhin
eine herausfordernde, aber auch produktive Aufgabe für die Kommunikations- und
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Whiteness und Geschlecht
Giuliana Sorce
Inhalt
1 Einleitung: Critical Whiteness Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780
2 Critical Whiteness Studies in der Medien- und Kommunikationswissenschaft . . . . . . . . . . . 781
3 Postkoloniale Kritiken von Whiteness und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 784
4 ‚Farbenblinde‘ Medien in Post-Rassismusgesellschaften? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785
5 Whiteness und Geschlecht in digitalen Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 786
6 Medien als Interventionsort für antirassistische und feministische Onlinekampagnen . . . . 787
7 Fazit: #CommunicationSoWhite: Eine disziplinäre Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 788
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 789
Zusammenfassung
Als Reaktion auf den strukturellen Rassismus in den USA entwickeln sich die
Critical Whiteness Studies (CWS) als zentraler Forschungszweig, der die Verstri-
ckung von Whiteness und Geschlecht auch intersektional betrachtet. In Studien
zu Whiteness und Geschlecht in der Film-, Journalismus-, Werbe- und Internet-
forschung werden mediale Strategien der Normalisierung von Whiteness sichtbar
gemacht, welche zur Verfestigung rassistischer und sexistischer Gesellschafts-
ordnungen beitragen. Digitale Medienproduktionen werden hinsichtlich ihrer
Potenziale diskutiert, Stereotypen aufzubrechen, zeigen ‚Rasse‘ und Geschlecht
dennoch vielfach in gewohnten Mustern. Trotz ihres Ermächtigungspotenzials
sind digitale Plattformen und Algorithmen grundlegend in die Reproduktion
weißer Dominanz verstrickt.
Schlüsselwörter
Whiteness · Geschlecht · Rassismus · Critical Whiteness Studies · Postkoloniale
Studien · Mediale Diskriminierung
G. Sorce (*)
Institut für Medienwissenschaft, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland
E-Mail: giuliana.sorce@uni-tuebingen.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 779
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_67
780 G. Sorce
Die Critical Whiteness Studies (CWS) zielen auf die Dekonstruktion rassifizierter
Normrahmen von Whiteness und der daraus resultierenden soziokulturellen Macht-
verhältnisse. In medien- und kommunikationswissenschaftlicher Forschung werden
Strategien der Normalisierung von Whiteness analysiert, die sich beispielsweise in
der Überrepräsentanz von weißen, aber auch in negativ konnotierten Konstruktionen
nicht-weißer Personen zeigen. Arbeiten der CWS sind als Reaktion auf den struk-
turellen Rassismus in den USA zu sehen (Hacker 2005), „mit einer paradigmati-
schen Umkehrung vom kritischen Blick auf die rassistischen Konstruktionen des
‚Anderen‘ hin zu Whiteness als ‚the unmarked marker‘“ (Tißberger 2006, S. 8). Sie
fordern, Whiteness als soziale Position und nicht (nur) als biologisches Merkmal zu
lesen, und kritisieren die Erhaltung von gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen mit
und durch Whiteness.
Die CWS verstehen Whiteness als intersektional. In ihren Analysen von Gerichts-
verfahren, in denen Diskriminierung in Bewerbungs- und Einstellungsverfahren
schwarzer Amerikanerinnen im Fokus standen, zeigt Kimberlé Crenshaw (1991)
die Verwobenheit von Geschlecht, ‚Rasse‘ und Klasse als wechselseitige Unterdrü-
ckungsmechanismen (triple oppression). Audre Lorde (1984) konstatiert zudem,
dass Whiteness in der Verknüpfung mit Geschlecht und Klasse als privilegierendes
Identitätsmerkmal fungiert. Die Sensibilisierung für Unterdrückungsmechanismen,
die auf der Verknüpfung mehrerer Identitätskategorien beruhen, geht auch auf In-
terventionen innerhalb von Frauenbewegungen zurück. Beispielsweise bemängelt
bell hooks (1992) am ‚weißen Feminismus‘ der siebziger Jahre, dass er sich selbst
unkritisch gegenübersteht und damit die Macht seiner eigenen Whiteness übersieht.
Die oft schwierige Verbindung feministischer und antirassistischer Emanzipations-
diskurse hat in der deutschsprachigen Literatur Gabriele Dietze (2013) am Beispiel
zweier US-amerikanischer Frauenbewegungen aufgegriffen. Als einflussreiche fe-
ministische Theoretikerinnen verbrachten Audre Lorde und bell hooks in den acht-
ziger und neunziger Jahren zudem einige Zeit in Berlin und setzten mit ihrer queer-
feministischen Arbeit „zentrale Impulse zur Debatte über race, class und gender in
der Bundesrepublik“ (Thomas 2020, S. 60). Die Diskussionen rund um Rassismus,
Klassismus und Heterosexismus in Frauenbewegungen sind als „innerfeministische
Auseinandersetzungen“ zu lesen (Thomas 2020, S. 59), die auch in deutschsprachi-
gen akademischen Wissenskulturen Spuren hinterlassen haben. Während angloame-
rikanische CWS-Arbeiten primär die Schwarz/Weiß-Kluft veranschaulichen, finden
in den deutschsprachigen Gender (Media) Studies kritische Auseinandersetzungen
über Migration, Heteronormativität und Postkolonialität statt (Dietze 2006; Wollrad
2005).
Medien- und kommunikationswissenschaftliche Studien haben gezeigt, welche
Bedeutung Whiteness und Geschlecht auf allen Ebenen der Textproduktion zukommt
– von der Zusammensetzung der Produktionsteams, der ausgewählten Narrative, über
die Handlungsmacht von (fiktiven) Charakteren bis hin zur medialen Repräsentation
normativer Identitäten (Prommer und Linke 2019). Schon 1992 kritisierte hooks in
ihrem berühmten Essay Eating the Other den ‚Konsum‘ weiblicher Blackness, der
Whiteness und Geschlecht 781
In den Anfängen der Critical Whiteness Studies (CWS) wurde häufig auf wegwei-
sende Arbeiten aus der Literaturforschung Bezug genommen; so waren beispiels-
weise die Werke der US-amerikanischen Schriftstellerin Toni Morrison von großer
Bedeutung. Morrison (1995) beschreibt u. a., dass weiße Schriftsteller*innen –
historisch gesehen – schwarze weibliche Figuren hauptsächlich einbrachten, um ihre
eigene Freiheit hervorzuheben und der Sklaverei gegenüberzustellen. Diese Art der
Indienstnahme des „schwarzen Anderen“ hat eine metaphorische Funktion; in Er-
zählungen bildet die ‚reine‘ weiße Herrin das Gegenstück zur ‚dreckigen‘ schwarzen
Arbeiterin, die dominiert und beherrscht werden muss (Morrison 1995, S. 67). Die
Gleichsetzung von Whiteness mit ‚Reinheit‘ ist ein wiederkehrender Kritikpunkt in
einer Reihe von (medienbezogenen) Arbeiten der CWS (Hall 1997; Wollrad 2005;
Shankar 2020).
In der Filmwissenschaft untersuchen Forscher*innen das Erbe dieser symboli-
schen Kontrastierung, maßgeblich in Bezug auf die Arbeiten des britischen Film-
wissenschaftlers Richard Dyer. In seinen Analysen von Spielfilmen, die beginnend
mit den 1930ern eine Zeitspanne von über 50 Jahren umfassen, beschäftigt er sich
insbesondere mit der filmischen Inszenierung von Whiteness. Hier zeigt Dyer, wie
neben Sprache und Dialogformen auch technische Elemente wie Beleuchtungstech-
niken genutzt werden, um Whiteness und Blackness zu kontrastieren. Auch Maske
und Kostüme unterstreichen diese Kontrastierung (Bernold 2011). So werden weiße
Protagonist*innen als ordnungsweisende und ‚moderne‘ Charaktere positioniert,
schwarze (Neben-)Darsteller*innen als chaotische und urweltliche Pendants (Dyer
1997).
Das Geschlechterverhältnis im Film wird zum Mittelpunkt der Arbeiten von
Laura Mulvey, die in ihrem einflussreichen Essay Visual Pleasure and Narrative
Cinema Mulvey (1989) den „männlichen Blick“ der Kamera anprangert und damit
eine Reihe psychoanalytisch-feministischer Filmanalysen anregt. Dabei konzentriert
sich Mulvey auf Darstellungs- und Konsumformen weißer Weiblichkeit für ein
männlich-weißes Publikum; mit Blackness beschäftigt sie sich nur marginal. Hier
knüpft Lola Young (1996) an und untersucht in ihrem Buch Fear of the Dark die
Repräsentation von schwarzen Frauen in britischen Filmen. In ihrer Analyse erkennt
sie kaum Unterschiede in der stereotypisierten Darstellung schwarzer Frauen zwi-
schen Produktionen, die von weißen oder von schwarzen Teams realisiert wurden,
was Rückschlüsse auf die Verankerung gesellschaftlicher Identitätszuschreibungen
zulässt.
782 G. Sorce
Ähnlich wie Morrison (1995) zeigt Eske Wollrad (2005) am Beispiel des Spiel-
films Dangerous Minds die Bedingungen der Einnahme von Machtpositionen durch
weiße Protagonistinnen als abhängig von der filmischen Präsenz schwarzer Figuren.
Diese These untersucht Yvonne Tasker (1993) in Bezug auf Maskulinität und
‚Rasse‘ anhand schwarzer Actionfiguren. Durch trainierte Körper, sexuelle Aus-
strahlung und Verbindungen zu urbanen Kontexten dienen schwarze Nebendarsteller
als Helfer für den eigentlichen (weißen) Helden. Mithilfe bekannter Filmbeispiele
wie Stirb langsam oder Lethal Weapon skizziert Tasker (1993) den symbolischen
Einsatz schwarzer (Neben-)Darsteller*innen in Hollywoodproduktionen und kon-
statiert, dass die als ‚milieugeschädigt‘ konstruierten schwarzen Figuren erst durch
ihre Freundschaft mit den weißen Helden in ihrer Maskulinität bestätigt werden.
Blicken wir auf die Entwicklung deutschsprachiger Arbeiten der CWS in der
Medienforschung, so beschäftigt sich etwa Maja Figge (2015) mit Verschränkungen
von rassifizierten filmischen Inszenierungen auf narrativer Ebene im Kontext der
(Wieder-)Herstellung von Deutschsein im Kino der fünfziger Jahre. Sie konstatiert
eine Manifestation der weißen Männlichkeit als Symbolbild deutscher Nationali-
dentität in der Folge des nationalsozialistischen Regimes. In deutschen Filmpro-
duktionen der Nachkriegszeit folgt die Narration dem weißen männlichen Helden,
der durch seine Krisenbewältigung die „narrative Herstellung und Stabilisierung
hegemonialer Männlichkeit“ gewährleistet (S. 26). Schwarze Charaktere fungieren,
so Figge, zur Stärkung von marginalisierenden Stereotypen, die „ihnen jegliche
Individualität“ absprechen (S. 31). Diese symbolische Kollektivierung und primäre
Identifikation über ‚Rasse‘ deckt sich wiederum mit Dyers These, dass Blackness die
Identität grundlegend markiert, während Whiteness nichts „Identitätsstiftendes“ in
sich birgt (Dyer et al. 1994, S. 67). Monika Bernold (2006, 2020) untersucht die
mediale Sichtbarkeit von nicht-weißen Subjekten in Dokumentarfilmen mit Fokus
auf Afrika und kritisiert daran die „bildpolitische Viktimisierung“ schwarzer Frauen
(Bernold 2020, S. 124) sowie die Hervorhebung des weißen Erzählers als „Held des
Films“ (Bernold 2006, S. 24).
Im Bereich der Printmedien werden Whiteness und Geschlecht in verschiedenen
Teilelementen der Produktionskette diskutiert; von der Themenauswahl über die
Textproduktion bis zu den veröffentlichten Inhalten und Darstellungsweisen. In
aktuellen Rassismusdebatten gibt es beispielsweise eine wiederkehrende Beschwer-
de nicht-weißer Journalist*innen, dass sie immerzu als Expert*innen für Rassismus-
fälle fungieren müssen. Neben der Produktionskette sind auch journalistische Texte
an sich geeignet, um die Verstrickungen von Whiteness und Geschlecht in Medien-
und Kommunikationskontexten offenzulegen (Walgenbach 2006; Meyers 2013;
Akinro und Mbunyuza-Memani 2019).
In ihrer historischen Arbeit befasst sich Katharina Walgenbach (2006) mit Whi-
teness, Geschlecht und Klasse in der deutschen Zeitschrift Kolonie und Heimat. Sie
untersucht die Diskurse des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft (ge-
gründet 1907 in Berlin), der Mischehen in Kolonien unterbinden und vor dem mit
ihnen einhergehenden Verlust von (weißem) Deutschsein warnt. In den Beiträgen
der Zeitschrift wird diese Entwicklung als „Verkafferung“ (S. 1712) beschrieben, die
Whiteness und Geschlecht 783
nur durch die Reproduktion der eigenen ‚Rasse‘ und die Weitergabe deutschen
Kulturguts abgewendet werden kann. Als Medium wird die Zeitschrift genutzt, um
die Macht des Weißseins für Autor*innen und Leser*innen zu festigen. Auch
zeitgenössische Frauenzeitschriften werden immer wieder für ihre Bildpolitik kriti-
siert, beispielsweise im Falle von technisch aufgehellten Coverfrauen (Akinro und
Mbunyuza-Memani 2019).
In der anglo-amerikanischen Journalismusforschung beschäftigen sich Wissen-
schaftler*innen mit der Verstrickung von Geschlecht und ‚Rasse‘ in der medialen
Darstellung schwarzer Frauen. Im Anschluss an die CWS kritisiert Marian Meyers
(2013) die Diskriminierung schwarzer Frauen in US-amerikanischen Nachrichten-
sendungen im Fernsehen, auf YouTube sowie in Zeitungen. Sie entwickelt die
Archetypen „Powerful Black Bitch“ und „Black Lady“ (S. 142) und legt so die
symbolische Stereotypisierung schwarzer Frauen offen. Insbesondere in der Krimi-
nalberichterstattung lenkt die Darstellung oft von der sexualisierten Gewalt gegen
schwarze Frauen ab, indem sie die Armut der Opfer oder ihre aufreizende Kleidungs-
wahl fokussiert. Meyers (2013) knüpft damit dezidiert an die Hypersexualisierungs-
These weiblicher Blackness von bell hooks (1992) an.
Die kritische Dekonstruktion visueller Darstellungsformen von Geschlecht und
Whiteness und der damit einhergehenden normativen Gesellschaftsbilder sind der
Fokus einschlägiger Arbeiten in der Werbeforschung. Evident werden diese Debat-
ten im Zuge der #BlackLivesMatter-Bewegung sowie dem Rebranding von kolonial-
rassistisch geprägten Konsumprodukten wie der „Zigeuner“-Sauce von Knorr oder
dem Uncle Ben’s-Reis. Die rassistische Bebilderung in deutschen Werbekampagnen
wird zum Gegenstand der kritischen Analysen von Steffi Hobuß (2008). Sie dekon-
struiert unter anderem eine rassifiziert-sexistische Werbekampagne einer Fernseh-
zeitschrift mit dem Slogan „Irgendwann nimmt man nicht mehr irgendwas. HörZu:
Machen Sie keine Kompromisse – auch nicht am Kiosk“. Auf dem Kampagnen-
poster ist eine schwarze Frau mit afrikanischem Gewand und Schmuck, Unterlippen-
platte und traditioneller Gesichtsbemalung zu sehen. Sie sitzt auf dem Schoß eines
weißen Geschäftsmannes und umarmt ihn, während er sie an der Hüfte und am Gesäß
festhält. Die Bildpolitik dieses Werbesujets setzt „Whiteness als Herrschaftsinstru-
ment“ fort (Hobuß 2008, S. 217), wobei die überspitzt-sexualisierte Exotisierung
der schwarzen Frau an bekannte Muster anschließt, die bereits von feministischen
CWS-Wissenschaftler*innen wie Patricia Hill Collins (2002) und bell hooks (1992)
theoretisiert wurden.
In Verbindung mit Geschlecht widmet sich auch Shalini Shankar (2020) der
Frage, wie weiße Vorherrschaft durch Werbung (re)produziert wird und wie sie
zirkuliert. Shankar dekonstruiert in ihrer Arbeit die medialen Normen und Logiken
der amerikanischen Werbung, in der weiblich konnotierte Konsumgüter von Weiß-
heit ‚regiert‘ werden. Hygieneprodukte und Beautyartikel werden in Werbetexten
und Bebilderung traditionell vorrangig mit weißen Körpern beworben, wodurch
Whiteness wieder einmal mit ‚Reinheit‘ gleichgesetzt wird (Morrison 1995; Hall
1997; Wollrad 2005). Shankar konstatiert zwar, dass im Werbemainstream mit
marginalen ethnischen Spezialmärkten für nicht-weiße Konsument*innen White-
784 G. Sorce
Im Anschluss an die CWS sind postkoloniale Kritiken von Whiteness als eigener
Forschungszweig der Medien- und Kommunikationswissenschaft zu verorten (Sho-
me 2016). Stuart Hall (1997) zeigt in seinem berühmten Essay Das Spektakel des
‚Anderen‘ das Vermächtnis der Kolonialzeit in den Bildern der Massenmedien, in
denen „race-Stereotypen aus der Zeit der Sklaverei oder des populären Imperialis-
mus des späten neunzehnten Jahrhunderts“ (Hall 1997, S. 155) transportiert werden.
Eurozentrische Blickregime, Medienästhetiken und Repräsentationen in transnatio-
nalen Medientexten werden weiterhin in der Verknüpfung von Whiteness und
Geschlecht sichtbar (Hegde 2011).
Als eine der zentralen Vertreter*innen der postkolonialen Medien- und Kom-
munikationswissenschaft betrachtet Raka Shome (2014) die Konstruktion von Whi-
teness und Weiblichkeit in globalen Medienkulturen. Sie argumentiert, dass die
Gleichsetzung von Blackness mit Hypersexualität in der medialen Repräsentation
von weißer Weiblichkeit umgedreht wird. Am Beispiel von Prinzessin Diana von
Wales analysiert Shome (2014), wie Prominenz und Whiteness mit nationaler (west-
licher) Identität und klassischen Geschlechterrollen verbunden wird. Gerade bei
ihren internationalen Auftritten ist Dianas Wohltätigkeit im britischen Kolonialismus
eingebettet. Wenn Diana ein schwarzes unterernährtes Kind in den Armen hält,
äußert sich die westlich-weiße Dominanz als ‚weißes Rettersyndrom‘. Diana, so
Shome, wird von der internationalen Presse heiliggesprochen, nicht zuletzt durch
ihre stark mediatisierte Identität als Mutter.
Auch prominente Frauen wie Angelina Jolie oder Madonna werden in Bezug
auf ihre Philanthropie und ihre aktivistischen Auftritte in internationalen Medien
aufgrund der Adoption von nicht-weißen Kindern aus dem globalen Süden über
ihre weiße Mutterschaft idealisiert (Shome 2011). Durch ihre neue Mütterlichkeit
wird die hoch-mediatisierte Sexualität von Jolie und Madonna zugunsten einer
reinen weißen Weiblichkeit verdrängt. Inderpal Grewal und Caren Kaplan (1996)
argumentieren dementsprechend, dass globale Weiblichkeit nur mit und durch
Whiteness funktioniert. In der deutschsprachigen Literatur ist es Eske Wollrad
(2005), die die Institution der weißen Mutterschaft in den Blick nimmt. Das Erbe
der Kolonialzeit produziert noch heute eurozentrische Identitätsnormen, welche
durch postkoloniale Kritiken von Whiteness und Geschlecht sichtbar gemacht
werden können.
Whiteness und Geschlecht 785
Forscher*innen der (kritischen) Internet Studies konstatieren, dass das Internet ein
weißer Kommunikationsraum ist, geschaffen von weißen Männern für weiße Män-
ner (Nakamura 2008). In ihrer systematischen Literaturanalyse arbeitet Jessie Da-
niels (2013) die Rolle von Whiteness und Rassismus in der Infrastruktur sowie den
Nutzungsweisen des Internets heraus und kritisiert die sozialen Ungleichheiten, die
globale Technokulturen prägen. Die Schichten verschiedener Herrschaftsstrukturen
um ‚Rasse‘ und Geschlecht werden bereits in der Arbeitskultur großer Technikkon-
zerne sichtbar. Beispielsweise beschreibt Amitava Kumar (2001) die Ausbeutung
südasiatischer Programmierer im Silicon Valley, während Karen Hossfeld (2001) die
Missachtung der wertvollen Arbeit lateinamerikanischer Frauen in der Internetbran-
che kritisiert.
Die in digitale Informationskontexte eingebaute Misogynie greift Safiya Noble in
ihrer mediensoziologischen Arbeit auf. Ihr mehrfach ausgezeichnetes Werk Algo-
rithms of Oppression: How Search Engines Reinforce Racism (2018) behandelt die
intrinsisch marginalisierende Logik von Suchmaschinen. Google eröffnet einerseits
Zugang zu Informationen, doch diese Daten sind nicht ‚neutral‘, sondern bleiben
eingebettet in dominante Hegemonievorstellungen, die gerade im Zusammenspiel
von Geschlecht und Whiteness sichtbar werden. Durch algorithmische Verknüpfun-
gen werden diskriminierende und rassismusfördernde Inhalte weiterverbreitet. Für
ihre Analyse führt Noble eine Reihe von Suchanfragen durch, mit eindeutigem Fazit:
Suchergebnisse für Bilder von „black girls“ sind pornografisch, die automatische
Vervollständigung der Suchanfrage „why are black girls so . . .“ führt zu Resultaten
wie „slutty“ oder „angry“. Google, so Noble, sei somit auch auf dieser Ebene als ein
eigenes Politikum zu diskutieren, denn Nutzer*innen werden durch rassistisch
geprägte Suchergebnisse in diskriminierenden Weltanschauungen sozialisiert, wel-
che Whiteness als Norm zementieren (Noble 2018).
Die Verbindung von Rassismus und sexualisierten Angriffen in digitalen Kon-
texten hat inzwischen einen eigenen Forschungszweig hervorgebracht, mit einer
Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten, die sich spezifischen Onlinephänomenen
widmen. So argumentieren Madden et al. (2018), dass sexualisierte Angriffe in
sozialen Netzwerken intersektional zu betrachten sind. In ihrer Arbeit beziehen sich
die Wissenschafter*innen auf Moya Baileys Theoretisierung des „Misogynoir“ (die
Misogynie gegen schwarze Frauen). Madden et al. (2018) analysieren, wie Blog-
ger*innen die rassistischen Online-Angriffe auf die schwarze Komödiantin Leslie
Jones in ihren Texten verarbeiten. Die Forschungserkenntnisse veranschaulichen die
erhöhten Angriffe auf schwarze Frauen in digitalisierten Öffentlichkeiten. Auch
Kishonna Gray (2012) greift diese Thematik auf und erforscht die Erfahrungen
nicht-weißer Frauen in Online-Communities am Beispiel von zwölf Xbox-Live-
Spielerinnen, die von sexualisierten Angriffen aufgrund ihrer Ethnizität berichten.
Da Xbox-Live sowohl Sprach- als auch Videokommunikation ermöglicht, werden
Latina-Spielerinnen sichtbar und somit ethnisiert. Dies führt zu Beschimpfungen,
Angriffen und Marginalisierung durch (hauptsächlich) weiße, männliche Mitspieler.
Auch werden Spielerinnen mit Nutzernamen („gamertags“), die auf eine weibliche
Whiteness und Geschlecht 787
It remains to be seen whether the emerging digital space can create new ways of whiteness
that are not older forms of whiteness, but new, progressive, reconfigured whiteness that lives
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Klasse und Geschlecht. Zur Repräsentation
von vergeschlechtlichter Klasse im
Reality-TV
Irmtraud Voglmayr
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 794
2 Begriffsbestimmung Klasse – Schicht – Klassismus – Gouvernementalität . . . . . . . . . . . . . . . 795
3 Mediale Repräsentationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 798
4 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 804
Zusammenfassung
Lange Zeit war der Klassenbegriff, auch in der Verschränkung mit der Struktur-
kategorie Geschlecht, eine vernachlässigte Kategorie in der deutschsprachigen
Medienforschung. Erst mit dem Auftauchen des sogenannten Unterschichten-
fernsehens nehmen viele Studien Klasse zum Ausgangspunkt ihrer Analysen.
Relevant ist der Begriff insbesondere für Untersuchungen zum Reality-TV, denn
hier werden vorherrschend Angehörige der unteren Klassen, ausgestattet mit
einem klassenspezifischen Habitus, in alltagsnahen Geschichten dargestellt. Zwei
theoretische Ansätze dominieren die aktuelle Forschung: der Gouvernementali-
tätsansatz nach Foucault und das Konzept des Klassenhabitus nach Bourdieu,
wenngleich beide durchaus miteinander verknüpft werden, wie die hier versam-
melten Studien zeigen. Zentrale Fragestellungen, die mit dem Phänomen Reali-
tätsfernsehen einhergehen, sind vor allem die Einpassung in die neoliberale
Unterhaltungskultur und die Ausbeutungslogiken der Sendeanstalten.
Schlüsselwörter
Vergeschlechtlichte Klasse · Intersektionalität · Habitus · Gouvernementalität ·
Repräsentation
I. Voglmayr (*)
Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: irmtraud.voglmayr@univie.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 793
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_68
794 I. Voglmayr
1 Einleitung
„Racism and sexism can be exploited in the interests of class power. Yet no one
wants to talk about class“, schrieb bell hooks (2000, S. 7). Für ein Verständnis und
die Analyse populärkultureller Darstellungen, die im Kontext zunehmender sozialer
Ungleichheit und fortschreitender Prekarisierungsprozesse in der Gesellschaft zu
verorten sind, muss der Strukturzusammenhang von Geschlechter- und Klassen-
ungleichheit wieder aufgegriffen werden, zumal die Verschränkung von Geschlecht
und Klasse mit Beginn der neoliberalen Ordnung fast gänzlich aus dem Blick
geraten ist (Kemper und Weinbach 2009; McRobbie 2010; Winker und Degele
2009). Klaus (2015, S. 39–40) stellt fest, dass der Begriff „class“ oder „Klasse“ in
den bekanntesten Einführungen, Readern und Lexika der englisch- wie deutsch-
sprachigen Cultural Studies paradoxerweise nicht zu finden ist, wenngleich der
Klassenbegriff aus der Geschichte der britischen Cultural Studies nicht wegzuden-
ken ist. Insbesondere für die Cultural Studies im deutschsprachigen Raum sieht
Klaus (2015, S. 44) eine Ausblendung und Vernachlässigung des Klassen-Konzepts
und weist auf die unterentwickelte theoretische und empirische Auseinandersetzung
mit dieser zentralen Differenzkategorie hin. Gerade im Zusammenhang von ver-
schärften sozialen Gegensätzen und den damit verbundenen veränderten medialen
Repräsentationsweisen liege hier eine besondere Notwendigkeit und Herausforde-
rung. Auch Lünenborg und Fürsich (2014) mussten in ihrer Studie zur Sichtbarkeit
von Migrantinnen im deutschen Fernsehen feststellen, dass die Dimension der
Klasse zunehmend relevant wurde und eine Verschränkung von Geschlecht und
Ethnizität nicht ausreichte. „Es wurde deutlich, dass im deutschen Fernsehen Klas-
senunterschiede durch ethnische und geschlechtsspezifische Unterschiede artikuliert
werden“ (Lünenborg und Fürsich 2014, S. 17). Mit dem Konzept der Intersek-
tionalität wird zwar ein Ansatz geboten, die Wechselwirkung zwischen den ver-
schiedenen Strukturkategorien Geschlecht, Klasse, „Rasse“ und Körper in den
Forschungsblick zu nehmen (Winker und Degele 2009), allerdings bleibt die Ver-
wobenheit von Geschlecht und Klasse zumeist unberücksichtigt – „the uncool
subject is class“ (hooks 2000). Stehling (2014) folgert aus ihrer Analyse der Casting-
showformate America’s Next Top Model und Germany’s Next Topmodel, dass die
Perspektive der Intersektionalität sowohl Wechselwirkungen zwischen verschiede-
nen Ungleichheitskategorien aufzeigen als auch ihre Unsichtbarkeiten deutlich ma-
chen kann. Es bedürfe allerdings weiterer Forschung, „um auch die Ebenen von
kapitalistischen, neoliberalen und insbesondere gouvernementalen Prozessen in die
Analyse zu integrieren“ (Stehling 2014, S. 30).
Diese Lücke in den Forschungen zeigt, dass für die Analyse gesellschaftlicher
Transformationsprozesse Klasse auch auf kultureller Ebene und in Bezug auf Medien-
produktionen eine unverzichtbare Kategorie darstellt. Mittlerweile finden klassenver-
wandte Begriffe als Reaktion auf die zunehmenden strukturellen Ungleichheiten, die
aus einer kulturalistischen Sichtweise mit individuellem kulturellen Versagen und
falschen Entscheidungen marginalisierter Gruppen legitimiert werden, langsam Ein-
gang in die Kommunikations- und Medienwissenschaften (Klaus 2015, S. 42–43). In
dem von Ulla Wischermann und Tanja Thomas (2008) herausgegebenen Sammelband
Klasse und Geschlecht. Zur Repräsentation von vergeschlechtlichter Klasse . . . 795
Dass der Klassen- und vor allem Schichtenbegriff wieder langsam ins Zentrum
medienwissenschaftlicher Diskurse rückt, hängt mit den aktuellen globalen Un-
gleichheitsdynamiken zusammen, die eine rasch wachsende Kluft zwischen Arm
und Reich zu einer ökonomischen wie gesellschaftlichen Herausforderung machen.
Der Klassenbegriff steht in der Tradition von Theorien sozialer Ungleichheit, die
marxistische Klassentheorien, Schichtungstheorien bis hin zu neueren Ansätzen
über Milieus und Lebensstile umfassen (Winker und Degele 2009, S. 42). Soziale
Ungleichheit, benachteiligte Schichten, Prekarität, Marginalisierung, all diese häufig
verwendeten Begriffe im deutschsprachigen Raum sind mit dem der Klasse eng
verwandt, schreibt Klaus (2015, S. 39). Kadritzke (2017, S. 74) arbeitet bewusst mit
dem Begriff der Klasse, weil damit von den Produktionsverhältnissen ausgegangen
wird, die die Mechanismen und Institutionen der Verteilung des gesellschaftlichen
Reichtums bestimmen, aus denen klassenspezifische Lebenschancen resultieren.
Dagegen setzen die modernen Schichtungstheorien bei Einkommensverteilungen
und Konsumniveau an. Er kritisiert den gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen
Diskurs, der vorrangig die soziale Mitte fokussiert, in der die ganze Gesellschaft
fast aufzugehen scheint – mit Ausnahme von Elite oben und Arme unten (Kadritzke
2017, S. 12).
796 I. Voglmayr
tem der Zuschreibung von Werten und Fähigkeiten, die aus dem ökonomischen
Status heraus abgeleitet oder besser: erfunden und konstruiert werden“ (Kemper und
Weinbach 2009, S. 17). Den Ausgangspunkt von Klassismus und Antiklassismusre-
flexionen bilden demnach Menschen, die ökonomisch und kulturell in der Gesell-
schaft ‚unten‘ verortet sind bzw. verortet werden und daraus resultierende Diskri-
minierungs- und Unterdrückungserfahrungen machen (Kemper und Weinbach 2009,
S. 13). Kritisiert wird allerdings am Klassismus-Ansatz, der in den USA entstanden
ist, dass das Benennen und Bekämpfen von Vorurteilen die Debatte von einer
antikapitalistischen hin zu einer antidiskriminatorischen Position verschiebe (Gou-
ma und Yun 2015, S. 4–5). Nicht mehr der Kampf gegen die Klassengesellschaft
verbunden mit kollektiven Handlungsmöglichkeiten und Emanzipation, sondern der
Kampf gegen die „Respektlosigkeit“ bestimme diesen akademischen Diskurs (Bir-
kner 2015, S. 35).
In den deutschsprachigen Untersuchungen zu medialen Repräsentationen stehen
bislang weniger die Klassenbeziehungen im Fokus, sondern der Rückgriff auf
Foucaults Begriff der Gouvernementalität, der sich weit über die Formen der
politischen Regierung auf Formen der Selbstregierung und auf Selbsttechnologien
erstreckt. Indem Reality-TV durch mediale Berater_innen Richtlinien für eine Le-
bensführung jenseits wohlfahrtsstaatlicher Absicherung entwirft, lädt es zur Ein-
übung in die Praktiken eines individualisierten Selbstunternehmertums ein (Thomas
2009, S. 68). Vor allem Makeover-Formate zielen auf den Lebensstil prekärer
Protagonist_innen, der durch die Formierung, Selbstkontrolle und Bearbeitung mit
dem und durch das Fernsehen verändert bzw. optimiert werden soll (McRobbie
2010; Seier 2014; Waitz 2014). Foucault fokussiert vor allem Mechanismen der
Fremd- und Selbstführung, jene Ensembles aus Verstehensformen, Zurichtungsstra-
tegien und Selbsttechnologien, die aus Menschen Subjekte und mit denen sie sich
selbst zu Subjekten machen (Bröckling 2007, S. 31). Sein Regierungsbegriff ver-
mittelt zwischen Macht und Subjektivität und ermöglicht zu untersuchen, „wie
Herrschaftstechniken sich mit ,Praktiken des Selbst‘ verknüpfen und Formen poli-
tischer Regierung auf Techniken des ,Sich-selbst-Regierens‘ zurückgreifen“, so
Lemke (2005, S. 334). Für Waitz, der den foucaultschen Regierungsbegriff mit
dem Schichtungsmodell zusammendenkt, problematisieren die gegenwärtigen Dis-
kurse um das „Unterschichtenfernsehen“ eine Regierung des Selbst, denn Fernsehen
als soziale Dienstleistungsagentur appelliert direkt an die Technologie des Selbst und
trägt so dazu bei, das Gestalten von sozialen Beziehungen und Verhaltensmustern
durch Wissensproduktion und regulierende Interventionen machbar erscheinen zu
lassen (Waitz 2014, S. 33).
Einen feministischen Klassenansatz verfolgt McRobbie (2010, S. 169), indem sie
sich mit der zunehmenden Feminisierung gesellschaftlicher Klassenkategorien und
-grenzen und deren Materialisierung im weiblichen Körper auseinandersetzt. Klassen-
grenzen werden an den Körpern der Frauen festgemacht und Klassenkonflikte über
das kulturelle Kapital in populären Fernsehformaten ausgetragen. McRobbie, die an
Bourdieu anknüpft, spricht in diesem Zusammenhang von vergeschlechtlichter Klasse
und legt den Fokus darauf, „wie Frauen als Protagonistinnen ihrer Klasse und als
798 I. Voglmayr
3 Mediale Repräsentationen
Die Repräsentation sozialer Realität, sei es in Form von Erzählungen aus dem
Arbeiter_innenleben oder von sozialen Randgruppen, vor allem eingepasst in die
fiktionale Sendeform des Fernsehspiels, war in der Geschichte des Deutschen
Fernsehens in den 1960er-Jahren durchaus ein Themenschwerpunkt (Bleicher 2014,
S. 78). Mit der strategischen Anpassung der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten an
die drohende Konkurrenz kommerzieller Programmanbieter in den 1980er-Jahren
erfolgte allerdings eine Abkehr vom Konzept gesellschaftskritischer Unterhaltung.
Erst seit der Jahrtausendwende werden neue Formate zur Darstellung des Sozialen
entwickelt, die scheinbar dokumentarische Einblicke in die soziale Realität der
unteren Klassen vermitteln (Bleicher 2014, S. 81). Nach dem medialen Verschwin-
den der Arbeiter_innenklasse tauchen nun die „Prekären“ als neue Protagonist_in-
nen und zugleich als neue „Unterklasse“ in den Reality-Formaten auf, wenngleich
Prekarität nicht auf ein reines Unterschichtenphänomen reduziert werden kann.
Prekarisierung bedeutet nicht nur mangelnde Absicherung durch Lohnarbeit, son-
dern „umfasst als Verunsicherung und Gefährdung die gesamte Existenz, den Kör-
800 I. Voglmayr
per, die Subjektivierungsweisen“ (Lorey 2012, S. 13). In den letzten Jahren hat
insbesondere der österreichische Privatsender ATV Reality-Formate entwickelt, die
auf prekäre Lebens- und Arbeitswelten abzielen und damit Fragen zur medialen
Wissensvermittlung über soziale Klassen sowie zum Akt sozialer Klassifizierung
aufwerfen.
Zu den Sozialfiguren, die den Zustand der Lebenswelten des abgehängten
Prekariats repräsentieren, zählen dann Teenager-Mütter (Voglmayr 2015a, b),
Gemeindebau-Bewohner_innen (Voglmayr 2018) oder Jugendliche (Seier 2014),
die entweder via Fernsehen Handlungsanweisungen zur Verbesserung ihrer sozialen
Lage erhalten oder einfach in ihrem (Ausgeh-)Alltag dargestellt werden. Keine
zentrale Rolle spielt in diesen Formaten die Verschränkung von „Rasse“ und Klasse,
„Whiteness“ als unsichtbare und unmarkierte Norm durchzieht diese Sendungen.
Eine Ausnahme stellt allerdings das ATV-Format Das Geschäft mit der Liebe dar,
das „einsame“ und „liebeshungrige“ österreichische Männer auf der Suche nach
Frauen in Osteuropa begleitet. Gemäß dem stereotypen Ost-West-Gefälle werden
aus der männlichen Perspektive Frauen aus dem Osten als käuflich, konsumhungrig,
unterwürfig und nicht feministisch „infiziert“ dargestellt, das Ziel verfolgend, über
österreichische Männer in den Genuss des westlichen Lebensstils zu gelangen. Hier
manifestieren sich normative Vorstellungen und Fantasien von Weiblichkeit in den
Beschützer- und Versorgerkonstruktionen westlicher Männer, die folglich aus dem
reichhaltigen „Warenangebot Frau“ auswählen können.
Voglmayr hat im Rückgriff auf McRobbies Ansatz der vergeschlechtlichten
Klasse die Lebenswelten des abgehängten Prekariats auf ATV untersucht und auf-
gezeigt, wie in unterschiedlichen Repräsentationsformen des Sozialen Klassendis-
kriminierung, zeitgenössische Unterhaltungskultur und Quote als Herrschaftsinstru-
ment zusammenwirken. Die untersuchten Formate verhandeln das brisante soziale
Thema „Jugendschwangerschaften“ bzw. dringen in die realen Lebenswelten von
Gemeindebau-Bewohner_innen ein. In beiden populärkulturellen Medienformaten
werden uns Protagonist_innen aus den unteren Gesellschaftsschichten, ausgestattet
mit einem klassenspezifischen Habitus entlang von Stereotypisierung und Stigmati-
sierung vergegenwärtigt. In ihrer Repräsentationsanalyse der erfolgreichen Doku-
Soap Teenager werden Mütter verfolgt Voglmayr (2015a, b) den Verlauf der medial
konstruierten Intersektionen zwischen Klasse und Geschlecht. So wird die anfäng-
liche produktive Wissensvermittlung über Verhütungsmethoden, Abtreibung, frühe
Schwangerschaft und Geburt an prekäre junge Frauen zunehmend durch die Dar-
stellung von „sozialer Verwahrlosung“ als bestimmendes Klassenmerkmal in den
späteren Staffeln abgelöst. Auf die zunächst angebotene Bereitstellung von Optionen
zur (Selbst-)Bearbeitung des Themas sowohl für die Kandidat_innen als auch für die
Rezipient_innen folgt eine schnelle Wende hin zur Darstellung „obszöner“, „früh-
reifer“ Sexualität, erlittener Gewaltbeziehungen und zeitweiliger Obdachlosigkeit
(Voglmayr 2015b, S. 49–50). Mediale Inszenierungen wie diese reproduzieren einen
Diskurs über jugendliche Mutterschaft, der über die Grenzen von Klasse und
Ethnizität hinweg „mit einem ganzen Set negativer Bedeutungen von gescheiterter
Weiblichkeit und mangelnder Rücksichtnahme auf das Kindeswohl versehen“ ist
(McRobbie 2010, S. 124).
Klasse und Geschlecht. Zur Repräsentation von vergeschlechtlichter Klasse . . . 801
Bereich durch Alltagspraktiken abgesichert wird, ein soziales Wissen über Klassen-
verhältnisse produziert, das weit über die Grenzen des ritualisierten Fernsehgenres
hinausgeht und die Klassenverhältnisse legitimiert, so McRobbie (2010, S. 181).
Aus dem Blick geraten im Diskurs zu Reality-TV bisher vor allem die Ausbeu-
tungslogiken der Fernsehsender (Voglmayr 2015b, S. 51). Im Spannungsfeld von
prekärer Arbeit und sozialer Anerkennung müssen die monate- und oftmals jahre-
langen Fernsehauftritte von marginalisierten Kandidat_innen, die keineswegs nur
„Medienopfer“ sind und die den TV-Anstalten durch ihre intimen Enthüllungen zu
hohen Einschaltquoten verhelfen, einer genaueren Analyse unterzogen werden. Für
eine entsprechende Analyse kann das Konzept der „affektiven Arbeit“ nutzbar
gemacht werden, denn gerade in der Unterhaltungsindustrie steht die Erzeugung
und Handhabung von Affekten, ähnlich wie bei der Sorgearbeit, im Mittelpunkt
(Hardt und Negri 2002, S. 304). Hipfl (2014) und Seier (2014) haben dieses Konzept
in die österreichische Kommunikations- und Medienwissenschaft eingeführt, weil in
der verstärkten Auseinandersetzung mit den körperlichen, sinnlichen Aspekten die
Möglichkeit gegeben ist, komplexere und differenziertere Einsichten für medien-
und kommunikationswissenschaftliche Fragen zu gewinnen (Hipfl 2014, S. 17).
Beide Autorinnen verweisen einerseits auf das Fernsehen als „affektive Heimarbeit
am Monitor“, andererseits auf die Teilnahme am Reality-Fernsehen als eine Form
immaterieller Arbeit und fragen, wie sich diese beiden Arbeitsformen zueinander
verhalten. Affekte erzeugen Gefühle des Behagens, der Spannung, der Befriedigung,
der Erregung, die bei den Rezipient_innen entstehen können, affektive Arbeit
wiederum produziert soziale Netzwerke und Formen der Gemeinschaft, wie sich
etwa anhand diverser Diskussionsforen zu den jeweiligen TV-Formaten ablesen lässt
(Seier 2014). Die Teilnahme an Reality-Sendungen, konkret das Verhältnis von
Drehzeiten, Honoraren und (nachhaltigem) Anerkennungsgewinn für die Teilneh-
mer_innen, stellt Voglmayr (2015b, S. 51) zur Diskussion. Sind doch Wissenserwerb
und Aneignungspraktiken im Zusammenhang mit dieser medialen „Pädagogik“
auch in Zweifel zu ziehen. Fernsehen als Diskursgenerator und Diskursgegenstand
wirft dann im Kontext der Prekarisierung Fragen auf, die einerseits auf die Heraus-
bildung neuer beruflicher Identitäten bzw. Berufsfelder zielen, andererseits auf den
ökonomischen Anteil an diesen Erfolgsproduktionen verweisen, werden doch durch
die Verführung zu Selbstenthüllungen auch Daten für die Werbeindustrie preisgege-
ben (Müller, zit. nach Hipfl 2014, S. 16).
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Alter(n) als soziale Konstruktion – Mediale
Bilder vom Alter(n) im Wandel
Irmtraud Voglmayr
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 808
2 Alter(n) und Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 809
3 Alter(n) im medialen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810
4 Darstellung alter Körper in der Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 814
5 Digitale Alter(n)s-Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815
6 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818
Zusammenfassung
In den letzten Jahrzehnten haben Medien und Werbung eine Hinwendung zu
älteren Protagonist_innen vollzogen, wenngleich alte Menschen, gemessen an
ihrem wachsenden Bevölkerungsanteil medial immer noch unterrepräsentiert
sind. Veränderungen beziehen sich zudem vor allem auf die „jungen fitten Alten“,
während Darstellungen von Hochaltrigen, insbesondere sehr alten Frauen, wei-
terhin Seltenheitswert besitzen, was sich auch in der kommunikationswissen-
schaftlichen Forschung widerspiegelt. Alter(n) als eine kulturelle und soziale
Konstruktion, die einen historisch veränderbaren Charakter aufweist, wird im
gegenwärtigen Altersdiskurs in ein drittes junges, gesundes Alter und ein viertes
Alter, das stark durch Krankheit, Abhängigkeit und Pflegebedürftigkeit geprägt
ist, eingeteilt. Kommunikations- und medienwissenschaftliche Herangehenswei-
sen setzen sich vor allem mit medialen Repräsentationen der Jungen Alten im
Spannungsfeld von Identifikation, Altersstereotype, Kritik und Ambivalenz aus-
einander. Forschungslücken bestehen hingegen hinsichtlich Rezeption und der
Vielschichtigkeit der Medienaneignungsprozesse durch ältere Menschen; ins-
besondere Fragen geschlechter- und altersgerechter Partizipation an der Netz-
kommunikation stellen weiterhin eine wissenschaftliche Herausforderung dar.
I. Voglmayr (*)
Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: irmtraud.voglmayr@univie.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 807
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_69
808 I. Voglmayr
Schlüsselwörter
Alter(n) · Repräsentationen · Alter(n)sdiskurse · Junge Alte · Hochaltrige
1 Einleitung
Alter(n) als lebenslanger Prozess ist ein umkämpftes Feld, in dem das Geschlecht
hoch wirksam ist. Ältere Menschen, insbesondere alte Frauen treten, gemessen an
ihrem wachsenden Anteil in der Bevölkerung, medial selten in Erscheinung. Zwar
zeigen Studien zu Geschlechterdarstellungen in audiovisuellen Medien, dass bei
Frauen in den Altersgruppen zwischen 50 und 59 Jahren ein Anstieg von 10 % in
aktuellen fiktionalen Produktionen des Jahres 2020 zu verzeichnen ist, aber ab dem
Alter von 60 Jahren setzt der bekannte Altersgap ein und auf die mediale Repräsen-
tation einer Frau kommen in den Darstellungen drei Männer (Prommer et al. 2021).
Diese Veränderungen in den Einstellungen zum Alter und in Altersbildern in den
Medien in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beziehen sich dem-
nach nur auf die „jungen, fitten Alten“, die im Fokus medialer Repräsentationen
stehen (Thiele und Atteneder 2019, S. 170). Bilder über Frauen im hohen Alter
hingegen, sofern es sich nicht um Pflegebedürftige handelt, besitzen immer noch
Seltenheitswert. Diese fehlende mediale Sichtbarkeit von hochaltrigen Menschen,
insbesondere Frauen, spiegelt sich auch im Forschungsstand wider und verweist auf
die anhaltende Stigmatisierung und Marginalisierung des hohen Alter(n)s (Thiele
und Atteneder 2019; Adlung und Backes 2021).
Alter bzw. Altern ist eine kulturelle und soziale Konstruktion, die einen historisch
veränderbaren Charakter aufweist. Alter(n) ist nicht primär von biologischen Pro-
zessen determiniert, sondern von dem Arsenal an sozio-kulturellen Bedeutungen,
mit denen die biologische Ordnung in eine kulturelle Ordnung übersetzt wird
(Kunow 2005, S. 23). Der Konstruktionsansatz gilt auch für Definitionen des
vermeintlich „natürlichen“ (und unausweichlichen) körperlichen Alterungsprozes-
ses, denn diese Definitionen werden ebenfalls im Kontext des demographischen
Wandels, der wiederum auf verbesserte Lebens- und Hygienebedingungen in unse-
ren westlichen Gesellschaften zurückzuführen ist, neu gefasst. Im gegenwärtigen
Altersdiskurs hat sich eine analytische Zweiteilung der Altersphase in ein drittes
junges, gesundes Alter und ein viertes Alter, das stark durch Krankheit, Abhängig-
keit und Pflegebedürftigkeit geprägt ist, durchgesetzt (Kunow 2005; Schroeter 2009;
van Dyk und Lessenich 2009; Mehlmann und Ruby 2010; Dederich 2010). Diese
diskursive Zweiteilung ist auf westliche Altersdenktraditionen zurückzuführen, in
denen sich kulturell verankerte Alterungsprozesse immer schon zwischen negativen
und positiven Alter(n)sdiskursen bewegt haben (Birkenstock 2000). Kulturelle Er-
zählungen über Altern werden überwiegend und nach wie vor als binäre Oppositio-
nen – als Verfalls- oder als Erfolgsgeschichte, als Defizit- oder Kompetenzzuschrei-
bung – einander gegenübergestellt. In dieser Tradition der binären Altersreflexionen
lassen sich auch die Arbeiten zweier Klassikerinnen der „Feminist Age Studies“
einordnen: Simone de Beauvoir, die einen negativistischen Ansatz vertritt, und Betty
Alter(n) als soziale Konstruktion – Mediale Bilder vom Alter(n) im Wandel 809
Welche medialen Bilder des Alter(n)s dominieren in der Öffentlichkeit, wie wird
mittels medialer Repräsentationen gesellschaftliches Wissen über Alter(n) und Ge-
schlecht hergestellt, und in welchem Machtkontext muss dieses Wissen angesiedelt
werden? (Thimm 1999; Hellmich 2007; Voglmayr 2008; Thiele et al. 2013). In einer
der ersten Untersuchungen zu Geschlechtsspezifische[n] Darstellungen von Alter
und Generationenbeziehungen in Medientexten stellte Thimm (1999) fest, dass der
dominierende Defizit-Ansatz – verbunden mit Zeichen des Alters wie graue Haare,
Falten im Gesicht und an den Händen, Gebrechlichkeit und Mobilitätseinschränkung
– zu wenig Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit führt und nach
und nach durch den Kompetenz-Ansatz, der mit dem Aufkommen der Neuen Alten
einhergeht, abgelöst wurde. Diese Unsichtbarkeit betrifft insbesondere die alte Frau,
in ihr spiegelt sich die verdichtete Marginalisierung von Alter(n) und Geschlecht.
Altersdarstellungen in Text und Bild im deutschsprachigen Raum analysiert
einige Jahre später die Soziologin Elisabeth Hellmich (2007) in ihrem Buch forever
young? Die Unsichtbarkeit alter Frauen in der Gegenwartsgesellschaft. Aus einer
differenzfeministischen Perspektive werden erstmals feministische Zeitschriften
und Bilder im Zeitraum 1991–2000 zum Thema Frau und Alter untersucht. Das
Alter(n)sthema war zu dieser Zeit in den feministischen Medien nur marginal
präsent, für die feministische Zeitschrift EMMA stellt sie eine betonte Jugendlich-
keit in Bezug auf ihre Leser_innen und damit auf ihre eigene Jugendlichkeit fest
(Hellmich 2007, S. 135–136). Darüber hinaus analysiert sie auch Karikaturen aus
unterschiedlichen Printmedien und sieht hier eine besondere Engführung von Alters-
bildern im Kontrast zur Vielfalt der realen Lebenswelten. Aus einer intersektionalen
Perspektive (ohne sie damals so zu bezeichnen) begründet Hellmich das Verschwin-
den der alten Frau aus der öffentlichen Wahrnehmung durch deren Position als
Andere basierend auf der Verwobenheit der Kategorien Frau und Alter. Diese
Position als Andere wird markiert durch ihre Geschlechtslosigkeit bedingt durch
812 I. Voglmayr
Derra (2012) der Frage nach der Erkennbarkeit von Ansätzen jenseits einer Ideali-
sierung jugendzentrierter Schönheitsmerkmale nach. Lässt sich eine Erweiterung
gesellschaftlicher Schönheitsvorstellungen in Werbesujets erkennen, und wird da-
durch dem körperlichen Altern mehr Aufmerksamkeit gegeben? Derra (2012) un-
tersucht den aktuellen Stellenwert des Älterwerdens verbunden mit dem alternden
Körper im gesellschaftlichen wie im medialen Umfeld. Auf der Basis ihrer groß
angelegten inhaltsanalytischen Studie von knapp 2000 Werbeanzeigen in aus-
gewählten deutschen Publikumszeitschriften und einer Online-Befragung kann sie
zeigen, wie die Vorstellung vom Altwerden mit körperlichen Alterserscheinungen
positiv bzw. negativ korreliert. In der Auseinandersetzung mit der neuen Inszenie-
rungsart des Alters, die auf eine Erhöhung der Akzeptanz älterer Menschen, ins-
besondere von Frauen, sowie auf eine Erweiterung von Alter und Schönheit abzielt,
entdecken Derra (2012, S. 199) und Başbuğ (2013) eine zögerliche und ambivalente
Hinwendung zu älteren Protagonist_innen in der Werbewelt, die auf eine stark
anwachsende kaufkräftige Zielgruppe zurückzuführen ist. Damit einher geht ein
zwangsläufiger Wandel vom Jugendlichkeitsideal zu einem Schönheitsideal, das
Älterwerden bzw. Ältersein als „den ästhetischen Langzeittrend“ etabliert (Başbuğ
2013, S. 110).
Gegen die in der Werbebranche fortwährende Jugendlichkeit des Körpers als
alleinige Akzeptanzebene kann die Campaign for real Beauty der Pflegeproduktlinie
Dove gelesen werden, die ältere Frauen auf bisher ungewohnte Weise zeigt. Im
Rahmen der Kampagne stellt Dove in einer seiner Plakataktionen mit dem Bild einer
96-jährigen Frau, die alle Zeichen des Alters trägt, die gängige Gleichsetzung von
Schönheit mit Jugend in Frage (Kühne 2005, S. 258). Kühne sieht darin einen
Paradigmenwechsel in den Alter(n)sdarstellungen aufgrund der Bemühungen um
bewusste „Präsenz und Authentizität“ (Kühne 2005, S. 263), verweist aber gleich-
zeitig auf eine Instrumentalisierung des (hohen) Alters mit der weniger das Produkt,
sondern die Philosophie des Unternehmens vermittelt werden soll. Gleichzeitig
finden sich traditionelle, vom Defizitmodell geprägte Altersbilder weiterhin in vielen
werblichen Inszenierungen. Für Thiele (2018, S. 59) bleibt daher die Untersuchung
von Produktion, Inhalten und Rezeption dieser ambivalenten Angebote eine Heraus-
forderung für die Kommunikationswissenschaft.
5 Digitale Alter(n)s-Welten
6 Ausblick
Die meisten Studien zu Medien, Werbung und Internet haben gezeigt, dass der
mediale Prozess der Selektion und Produktion nicht mit den demografischen Reali-
täten korrespondiert, sondern auf gesellschaftliche Vorstellungen ausgerichtet ist, die
von einem Jugendkult bestimmt sind (Kühne 2005, S. 259). Diese dichotome
Alterseinteilung in Junge Alte und Alte Alte, die jegliche Vielfalt im Alter ausblen-
det, wurde in Zeiten der Corona-Pandemie, nicht zuletzt durch die pandemischen
Verhaltensnormen, jedoch weitgehend außer Kraft gesetzt. In Medien und Politik
wurde fortan ein einseitiges Bild älterer Menschen als homogene Gruppe der
vulnerablen „Alten“, die als besonders schutzbedürftig gilt, fokussiert. Alte Men-
schen – unter ihnen sind Frauen überproportional vertreten – waren durch die
oftmals panisch kommunizierte Krise dem ambivalenten Verhältnis von Schutz
und Stigmatisierung/Ausgrenzung in besonderem Maße ausgesetzt. Empirische
Studien aus den ersten Monaten der Corona-Epidemie zur medialen Repräsentation
älterer Menschen deuten auf eine Wiederkehr und Konjunktur des Stereotyps des
verletzlichen, einsamen und abhängigen alten Menschen hin (Deutsche Gesellschaft
für Gerontologie und Geriatrie 2021). Diese Entwicklung sollte weiter beobachtet
werden.
818 I. Voglmayr
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Kritische Männlichkeitenforschung
und Medien
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 822
2 Entwicklungslinien und Forschungsstränge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 822
3 Forschungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 824
4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 830
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831
Zusammenfassung
Das Feld der kritischen Auseinandersetzung mit Männlichkeitskonstruktionen in
und durch Medien hat sich theoriegeschichtlich fortdauernd ausdifferenziert.
Daran anknüpfende Forschungsergebnisse zeigen die Relationen zwischen me-
dialen Darstellungen von Männlichkeiten und gesellschaftlichen Machtverhält-
nissen in ihrer Vielschichtigkeit auf: Während sich in medialen Männlichkeits-
konstruktionen oftmals herrschende Geschlechterverhältnisse artikulieren und
diese reproduzieren, stellen Medien auch Orte der Durchkreuzung und Unter-
wanderung herrschender Männlichkeitsbilder dar.
Schlüsselwörter
Männlichkeiten · Medienwissenschaft · Intersektionalität ·
Repräsentationskritik · Performativität · Diskursanalyse
P. Scheibelhofer (*)
Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich
E-Mail: paul.scheibelhofer@uibk.ac.at
S. Sulzenbacher
Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: stefan.sulzenbacher@univie.ac.at
J. Sengelin
Wien, Österreich
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 821
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_9
822 P. Scheibelhofer et al.
1 Einleitung
Zum Auftakt feministischer Filmtheorie hatte Laura Mulvey (1975) das patriarchale
Unbewusste als strukturierendes Element des Hollywood-Kinos herausgearbeitet.
Männlichkeit wurde dabei in Form des male gaze (des dreifach männlich-patriar-
chalen Blicks von Protagonist_Regisseur_Zuschauer) noch eher implizit und auch
hinsichtlich ihrer Funktion als unsichtbare (und mitunter gerade deshalb so wirk-
mächtige) Norm thematisiert. Seitdem hat sich ein heterogenes Feld kulturwissen-
schaftlicher Forschung herausgebildet, das sich ganz explizit mit mediatisierten
Männlichkeiten beschäftigt und dessen Anliegen unter anderem in der Sichtbarma-
chung sowohl der männlich-patriarchalen Norm als auch der Vielschichtigkeit und
Pluralität von Männlichkeiten besteht.
Gerade im Rahmen medienwissenschaftlicher Perspektivierungen wird dabei
evident, dass Männlichkeit keine Substanz spezifischer Körper ist, sondern im Sinne
einer konstruktivistischen Perspektive vielfältigen und historisch spezifischen Pro-
duktionsbedingungen unterworfen ist. Im Folgenden soll ein Überblick über jene
Studien gegeben werden, die auf unterschiedliche Weise an feministische Fragestel-
lungen anknüpfen. Der Fokus der Zusammenstellung liegt dabei auf (meist) im
angloamerikanischen Raum erstveröffentlichten Pionierarbeiten sowie auf zentralen
deutschsprachigen Forschungsbeiträgen.
nial und Queer Studies differenzierten sich die – mitunter dekonstruktivistisch und
performativitätstheoretisch orientierten – Ansätze weiter aus, sodass seit Mitte der
1990er-Jahre schwerlich von einem gemeinsamen theoretischen Bezugspunkt
gesprochen werden kann. Ein Konzept, das jedoch im Rahmen kritischer Forschun-
gen zu Männlichkeiten als paradigmatischer Ansatz gilt und auch in medienkultur-
wissenschaftlichen Studien (zumindest in Versatzstücken) häufig referenziert wird
(u. a. Heilmann et al. 2015), ist jenes hegemonialer Männlichkeit (Carrigan et al.
1985). Raewyn Connell hatte 1995 eine systematisierte Fassung des Konzepts
vorgelegt (Connell 1995) und darin eine doppelt vergeschlechtlichte Distinktions-
und Dominanzlogik von Männlichkeitskonstruktionen in heteronormativ-patriar-
chalen Gesellschaften beschrieben: einerseits ein asymmetrisches Geschlechterver-
hältnis, in dem Männlichkeiten zuallererst von Weiblichkeiten abgegrenzt und
privilegiert würden (etwa dadurch, dass sie anderen, zumeist prestige-trächtigeren
patriarchalen Zumutungen ausgesetzt seien), und andererseits hierarchische Relatio-
nen zwischen Männlichkeiten, die sich durch das Zusammenwirken weiterer Diffe-
renzkategorien ergäben. Wichtig sei dabei, dass hegemoniale Männlichkeit nicht als
transhistorisches Set bestimmter Eigenschaften verstanden wird, sondern als jene
Konfiguration geschlechtsbezogener Praktiken, die zum jeweiligen historischen
Zeitpunkt akzeptierte Antworten auf Legitimitätsprobleme patriarchaler Vorherr-
schaft verkörpert. Das jeweils herrschende Bild hegemonialer Männlichkeit werde
allerdings von kaum jemandem tatsächlich erreicht, es fungiere jedoch als normative
Orientierungsfolie dafür, was „richtige Männlichkeit“ ausmacht.
Medientheoretisch lassen sich für die kritische Beschäftigung mit Männlichkeiten
– ähnlich wie für eine geschlechterkritische Medienforschung allgemein (Peters und
Seier 2016) – grundsätzlich zwei über die Jahre (und theoriegeschichtliche turns)
hinweg durchgängig verfolgte Herangehensweisen unterscheiden: zum einen
Ansätze, die mediale Repräsentationen von Männlichkeiten in den Blick nehmen.
Dabei werden diese nicht nur hinsichtlich problematischer Stereotypisierungen
(u. a. hooks 2004), ermöglichendem Transgressionspotenzial (u. a. Poole 2012;
Treiblmayr 2015) und der Perpetuierung männlich-patriarchaler Hegemonie
(u. a. Kaltenecker 1996) diskutiert, sondern es werden zudem auch medienspezifi-
sche Verfahren der Konstruktion und Dekonstruktion von Männlichkeitsrepräsenta-
tionen herausgearbeitet, beispielsweise in der Fotografie (u. a. Vettel-Becker 2005;
Hoenes 2014), durch Genres (u. a. Mitchell 1996; Mädler 2008) oder narrative
Strategien von Fernsehserien (u. a. Lotz 2014; Albrecht 2015). Zum anderen lassen
sich Zugänge zusammenfassen, die mediale Konzepte und Gebrauchsweisen auf die
ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen von Männlichkeiten hin untersuchen. Im
Zentrum stehen hier neben Arbeiten zu männlich-vergeschlechtlichenden Subjekti-
vierungsprozessen (etwa psychoanalytisch im Kino: Mulvey 1975; Kaltenecker
1996) vor allem (Un-)Möglichkeiten der männlichen Vergeschlechtlichung von
Medienpraktiken einerseits (z. B. Eisler 1999 für das Photographieren; Williams
1995 für den Pornokonsum oder Sulzenbacher 2016 für die Praktik des Binge-
Watchings) sowie mediale Anordnungen und Dispositive andererseits (für das
HD-TV: Levine und Newman 2012; für die Playboy-Villa: Preciado 2012).
824 P. Scheibelhofer et al.
3 Forschungsergebnisse
1
„Weiß“ und „Schwarz“ werden groß geschrieben, um zu markieren, dass es sich nicht um
Hautfarben, sondern um sozial hergestellte Differenzkategorien handelt.
826 P. Scheibelhofer et al.
Bereits früh (z. B. Staples 1982) begann im anglo-amerikanischen Raum die kriti-
sche Auseinandersetzung mit Stereotypen und Rassismen in filmischen und media-
len Darstellungen von Männlichkeiten. Ein Fokus lag dabei auf Repräsentationen
Schwarzer Männer. Diese Studien zeigten dabei den intersektionalen Charakter
medialer Darstellungen auf, in denen sich vergeschlechtlichte Bilder von Differenz
über Zuschreibungen gefährlicher Sexualität, Gewalttätigkeit oder ökonomischer
Inkompetenz artikulieren. Diese Darstellungen seien darüber hinaus oftmals in
widersprüchlicher Weise von Abscheu sowie Begehren nach dem sexualisierten
Schwarzen Körper geprägt, wie Kobena Mercer (1994) in einer kritischen Analyse
von Fotografien Robert Mapplethorpes herausarbeitete. Stuart Hall (1997) und
andere (z. B. McClintock 1995) wiesen dabei in ihren Analysen der Repräsentation
Schwarzer Männlichkeiten auf historische Kontinuitäten mit Wissensarchiven und
Bildregimen aus Sklaverei- und Kolonialzeiten hin.
Studien wie jene von Marriott (2000) argumentierten, dass dominante Repräsen-
tationen Schwarzen Männern ein Erreichen normativer Männlichkeitsideale absprä-
chen und dementsprechend feminisierende Wirkung auf die so dargestellten Männer
hätten. Dies führe, so die Argumentation weiter, nicht nur zur Inkorporation nega-
tiver Selbstbilder unter Schwarzen Männern, sondern fördere auch problematische
Männlichkeitsideale. Schwarze Feministinnen wie bell hooks (2004) prangerten
zwar ebenfalls Rassismen in den Repräsentationen Schwarzer Männlichkeit an,
kritisierten jedoch die „Entmännlichungsthese“ dafür, dass sie nicht nur implizit
das Ideal Weißer normativer Männlichkeit affirmiere, sondern auch Sexismus
Schwarzer Männer legitimiere (siehe auch Wallace 1990). Etwas anders wurde der
Zusammenhang zwischen Repräsentation und sozialer Realität von Collins (2004)
gefasst, die mit Blick auf so unterschiedliche mediale Phänomene wie Sportbericht-
erstattung, Liebesfilme, Hip-Hop oder TV-Serien das Konzept der „controlling
images“ entwickelte. Sie argumentierte, dass sowohl die herrschenden Bilder ge-
fährlicher Schwarzer Arbeiterklassen- als auch „freundlicher“ Mittelschichtsmänn-
lichkeit der sozialen Kontrolle Schwarzer Männer dienen und ihre Marginalisierung
reproduzieren würde. So würden diese Bilder einerseits die Kriminalisierung von
verarmten Schwarzen legitimieren und andererseits Männlichkeitsideale propagie-
ren, die auf Anpassung und Unterwerfung unter eine Weiße – männliche – Ordnung
ausgerichtet seien.
Im deutschsprachigen Raum wandte Scheibelhofer (2018) diese Perspektive auf
die Analyse von politischen Migrationsdebatten an und zeigte hier die Rolle von
Konstruktionen fremder Männlichkeit für die Durchsetzung restriktiver Politiken
auf. Die Analyse zeigt, dass diese Fremdkonstruktionen genutzt würden, um eine
Sicherheits- und Gefahrenperspektive auf Migration zu etablieren und wiederholte
gesetzliche Verschärfungen als notwendige Abwehrmaßnahmen zu legitimieren.
Weitere Studien fokussierten insbesondere auf negative mediale Repräsentationen
vermeintlich archaischer türkisch-muslimischer Migranten und ihrer Söhne
(z. B. Ewing 2008) sowie zuletzt auf mediale Debatten rund um vermeintlich
Kritische Männlichkeitenforschung und Medien 827
sexuell gefährliche geflüchtete Männer, wie sie insbesondere nach der sogenannten
„Flüchtlingskrise 2015“ und in der Berichterstattung über die Übergriffe der
Kölner Silvesternacht große Verbreitung gefunden haben (Dietze 2016; Hark und
Villa 2017). Was George Mosse (1996) bereits für die Geschichte moderner Männ-
lichkeit zeigte, findet sich wieder: Die hier erzeugten Bilder fremder Männlichkeit
schaffen „Anti-Typen“, die nicht nur gesellschaftlichen Ausschluss der „Anderen“
legitimieren, sondern helfen, ein normatives männliches „Selbst“ zu definieren.
Repräsentationen fremder Männlichkeit bleiben jedoch nicht ungebrochen und
unwidersprochen. Das belegte etwa Donalson (2012) in einer Analyse komplexer
Konstruktionen Schwarzer Männlichkeiten bei Spike Lee oder John Singleton, die in
ihren Filmen nicht nur Gewalt- und Marginalisierungserfahrungen, sondern auch
unterschiedlichste Lebens- und Liebesentwürfe von Männern sichtbar gemacht
hätten. Oder Fatima El-Tayeb (2015), die in ihrer Studie zeigte, wie Hip-Hop eine
transnationale Sprache für junge urbane migrantische Männer darstellen könne, um
Rassismuserfahrungen zu artikulieren.
Tillner und Kaltenecker (1995) hielten vor dem Hintergrund eines poststrukturalis-
tisch orientierten performativitätstheoretischen Zugangs zu Geschlecht fest, dass die
unbestimmte repräsentative Kategorie „Männlichkeit“ eine patriarchale Fiktion sei,
die als Effekt sowie stets unabgeschlossener Darstellungsprozess begriffen werden
müsse. Der sprachliche Kollektiv-Singular „Männlichkeit“, der sowohl Alltag als
auch Forschung immer noch dominiere, sei der Sichtbarkeit von queeren Männlich-
keiten nicht zuträglich, da er verdeckte Partikularismen wie Heterosexualität, Weiß-
sein oder Cis-Geschlechtlichkeit universalisiere (Bauer et al. 2007). Sowohl das
Wissenschaftsfeld (vgl. Sengelin 2017) als auch populäre Kultur (re-)produzieren
diesen falschen Universalismus, was sich in der geringen Anzahl an deutschspra-
chigen Studien über queere Männlichkeiten ausdrückt sowie im weitgehenden
Fehlen entsprechender Repräsentationen in Mainstream-Medien.
Dem begegnete der Sammelband „privat/öffentlich“ (Regener und Köppert 2013),
indem der medienwissenschaftliche Zugang auf die Verschränkung des Konzepts
„Medienamateure“ mit dem des Selbstentwurfes marginalisierter Gruppen der
1970er-Jahre gelegt wurde. Die Vielfalt der Beiträge lässt kein gemeinsames Fazit
zu, außer dass sich die Breite der medialen Selbstinszenierungen und -erzählungen
nicht zu einer klaren Emanzipationserzählung verdichten lässt, in der öffentliche
Sichtbarkeit mit weniger gesellschaftlicher Diskriminierung automatisch einherginge.
Es dauerte noch bis in die 1990er, bis schwule Männlichkeiten im Mainstream-
Kino eine vermehrte Aufmerksamkeit bekamen. Die diesbezügliche Pionierstudie
2
„Queer“ wird hier als Umbrella-Term für schwule Männlichkeiten, Trans*Männlichkeiten und
weibliche Maskulinitäten eingesetzt.
828 P. Scheibelhofer et al.
4 Fazit
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Kritische Männlichkeitenforschung und Medien 833
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 836
2 Der Sport-Medien-Komplex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 836
3 Sportjournalismus: männlich, Weiß, heterosexuell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839
4 Sportberichterstattung: mehr Sichtbarkeit, Diskriminierung bleibt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 841
5 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 846
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 846
Zusammenfassung
In der feministischen Forschung war der Mediensport lange Zeit ein vernach-
lässigtes Thema. Erst spät wurden Geschlechteraspekte und jüngst auch weitere
Achsen der Differenz wie „Rasse“, sexuelle Orientierung, Trans- und Inter-
geschlechtlichkeit sowohl bezüglich der Sportberichterstattung als auch in An-
sätzen das Sportressort betreffend aufgegriffen. Wegweisende Studien kommen
aus dem anglo-amerikanischen Raum, die deutschsprachige Forschung hat hier
noch großen Nachholbedarf, beschränkt sie sich doch weitgehend auf die Ana-
lyse des Geschlechteraspekts im Mediensport. Das Sportressort gilt heute immer
noch als letzte Bastion hegemonialer Weißer Männlichkeit, und es erstaunt daher
nicht, dass männlich codierte Werte und Vorurteile die journalistische Arbeits-
weise bestimmen. Die Erkenntnisse der Medienforschung zur Sportberichterstat-
tung verweisen auf zahlreiche – wenn auch zunehmend diffiziler formulierte –
Diskriminierungsformen, denen Sportlerinnen, aber auch homosexuelle, Schwarze,
trans- und intergeschlechtliche Sportler:innen nach wie vor ausgesetzt sind.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 835
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_58
836 J. Dorer und M. Marschik
Schlüsselwörter
Sportjournalismus · Sportberichterstattung · Geschlecht · „Rasse“ ·
Homosexualität · Trans- und Intergeschlechtlichkeit · Intersektionalität
1 Einleitung
Von Beginn an war der moderne Sport, der sich durch Quantifizierung, Reglemen-
tierung, Spezialisierung, Rekordstreben und Bürokratisierung auszeichnet, zugleich
gekennzeichnet durch verschiedene Achsen der Differenz, wie Geschlecht, Klasse,
„Rasse“ und Nation. Ab den 1850er-Jahren in Großbritannien, ab etwa 1890 in
Kontinentaleuropa schuf sich eine Weiße männliche Oberschicht die bis heute
praktizierten Grundlagen des modernen, ab den 1920er-Jahren zunehmend profes-
sionalisierten Sports. (Guttmann 1979; Eisenberg 1997; Gruneau 2017; Marschik
2009) Um 1900 mutierte der Sport von einer primär klassen- zu einer geschlechter-
segregierten Praxis. Während die Arbeiterklasse zum Teil in den bürgerlichen Sport
integriert wurde, zum Teil ihre eigenen Sportorganisationen gründete, sollten (bür-
gerliche und aristokratische) Frauen sukzessive aus dem Wettkampfsport aus-
geschlossen und auf gymnastische Übungen ohne kompetitiven Charakter reduziert
werden. Legitimiert wurde der Ausschluss ethisch-moralisch sowie ästhetisch, spä-
ter medizinisch und geschlechterstereotyp, mit Gebärfähigkeit und Mütterlichkeit,
obgleich Frauen zuvor auch gefahrvolle Sportarten wie Fallschirm- oder Skispringen
betrieben hatten. (Pfister 1989, 1998, 2017; Messner 1990; Marschik 2003; Dorer
und Marschik 2016) Trotz dieses Zurückdrängens blieb das bürgerliche, oft andro-
gyn erscheinende „Sportgirl“ als Subtext in der medialen Repräsentation weiterhin
stets präsent. (Dorer und Marschik 2010, 2014a)
Bereits in den 1920er-Jahren entwickelten sich verschiedene Sparten des Sports
zu populären Massenkulturen, die die Normen und Werte des Sports sowie die dort
praktizierten Differenzen von Geschlecht, Klasse, „Rasse“, Herkunft, sexueller
Orientierung und insbesondere Nation tief in die Gesellschaft hineintrugen. Zentrale
Faktoren für die Wirksamkeit der populären Kultur des Sports waren – und sind bis
heute – Emotionalität (seitens der Sportler:innen, Zuschauer:innen, Fans und der
interessierten Öffentlichkeit), eine hohe Glaubwürdigkeit der Rückbindung ge-
schlechtsspezifischer Normen und Werte an Biologie und Körper sowie die Kon-
struktion strenger kompetitiver Regelsysteme, die im Gegensatz zu anderen sozialen
Systemen standen. (Jarvie 2006; Marschik 2007; Boyle und Haynes 2009)
2 Der Sport-Medien-Komplex
1
So etwa gibt es in der österreichischen „Heldengalerie“ unter 41 Sportstars nur 8 (19,5 %)
weibliche Idole. (Marschik und Spitaler 2006).
2
Dieser wird getrieben von politischen, vor allem aber ökonomischen Bedingungen, was zu einer
schier unbegrenzten Unterwerfung unter neoliberale Markt- und Medienlogiken führt (Regelände-
rungen zur Anpassung ganzer Sportsparten an die Rhythmen der Werbungsschaltungen, Schirennen
in schneelosen Gegenden aus wirtschaftlichem oder politischem Kalkül, gigantomanische Eröff-
nungszeremonien, Ski-Nachtrennen, um Einschaltzahlen zu erhöhen, extremes Merchandising
europäischer Topfußballvereine im asiatischen Raum, was dort zu einer größeren Fangemeinschaft
als im Heimatland führt, etc.).
Mediensport: Gender und Intersektionalität im Sportressort und in . . . 839
Der Journalismus ist mit einem Frauenanteil von höchstens 40 Prozent in den
meisten Ländern nach wie vor ein Männerberuf. (World of Journalism Study
2016) Der Anteil an Journalistinnen im Sportressort in Deutschland und Österreich
bewegt sich hingegen derzeit zwischen zehn und 13 Prozent, wobei Frauen in
Printredaktionen seltener als in TV-Redaktionen vertreten sind. (Dorer 2007, S. 28;
Steindl et al. 2017, S. 419 nach eigener Berechnung; Kaltenbrunner et al. 2020,
S. 240; Hassany und Diehr 2016). Auch in den USA beträgt der Frauenanteil aktuell
gerade einmal 13 Prozent (Lapchick 2021). Das Sportressort – ob in Zeitung, Radio,
TV oder Internet – sowie themenspezifische Sportmedien bilden also eine der letzten
gegen Veränderung resistenten journalistischen Männerbastionen.
Betrachtet man Sportnachrichten in Printmedien, so zeigt ein Vergleich von
80 Zeitungen in 20 Ländern, dass nur acht Prozent von Sportjournalistinnen ge-
schrieben wurden. (Horky und Nieland 2011) Bei UK-Printmedien sind es sogar nur
zwei Prozent, ein Anteil, der sich in zehn Jahren nicht geändert hat. (Franks und
O’Neill 2016) Auch die weltweite GMMP-Studie (2020, S. 52) kommt zu dem
Ergebnis, dass Sportnachrichten (in Print, AV und Internet) den geringsten Anteil an
von Frauen verfassten Artikeln aufweisen. Eine aktuelle Studie für Österreich (Per-
negger 2020, S. 114–116) erhob, dass lediglich drei Prozent der Sportberichte von
Journalistinnen stammen; ferner berichten nur 11 Prozent der Sportreporter, hin-
gegen aber 31 Prozent der Sportreporterinnen in Print- und AV-Medien über
Sportlerinnen. Damit deutet die Studie wie auch schon frühere Erhebungen darauf
hin, dass sich ein höherer Frauenanteil im Sportressort auch in einer besseren
Sichtbarkeit von Sportlerinnen in den Medien niederschlagen würde. (Kian und
Hardin 2009; Pernegger 2020)
Eine weitere Differenzierung des Datenmaterials zu Sportjournalistinnen nach
Herkunft, sexueller Orientierung und weiteren Differenzkriterien existiert im
deutschsprachigen Raum nicht. Bedenkt man, dass der Frauenanteil von Journalis-
tinnen mit Migrationshintergrund in Österreich und Deutschland bei fünf Prozent
liegt (Röben 2019), ist davon auszugehen, dass diese in Sportredaktionen so gut wie
nicht präsent sind. Anders sieht es bezüglich der Datenerhebung in den USA aus, wo
seit 1998 in einem „Racial Gender Report“ die Entwicklung des Frauenanteils von
Sportjournalistinnen nach „Rasse“ und Ethnizität regelmäßig dokumentiert wird.
Demnach gibt es aktuell im Sportressort 1,6 Prozent Schwarze Journalistinnen und
1,5 Prozent Journalistinnen mit asiatischer oder lateinamerikanischer Herkunft3.
(Lapchick 2021, S. 21). In den Sportressorts lokaler TV-Stationen haben sie dabei
größere Chancen als in landesweiten TV-Sendern. (Genovese 2015, S. 56)
Journalistinnen in Sportressorts sehen sich noch stärker sämtlichen Formen von
Diskriminierung ausgesetzt als in anderen Ressorts. Das sind etwa geschlechtsspezi-
fische Benachteiligung hinsichtlich der Besetzung von Führungspositionen sowie
3
Im Gegensatz dazu machen Schwarze Sportjournalisten 10,7 Prozent aus, jene mit asiatischer oder
lateinamerikanischer Herkunft 8,1 Prozent (Lapchick 2021).
840 J. Dorer und M. Marschik
wieder in Abrede. Mehr noch, sehen sie einen Vorteil darin, dass Schwarze Journa-
listen und Weiße Journalistinnen leichter Zugang zu Interviews mit Sportler:innen
hätten und so mangelnde Fachkompetenz ausgleichen könnten. Genovese (2015,
S. 69) resümiert, dass Sportjournalisten ihre Weiße Identität, ihre eigenen Vorurteile
und deren Einfluss auf die Vorstellungen von Professionalität endlich kritisch
reflektieren müssten.
Mit den Ambivalenzen bezüglich Homosexualität im Sportressort beschäftigen
sich erstmals Kian et al. (2015) mittels einer Befragung langjährig in Sportressorts
tätiger prominenter Journalist:innen. Die Interviewten bezeichnen sich selbst als
aufgeschlossen gegenüber homosexuellen Sportler:innen, schätzen deren Präsenz
im Spitzensport jedoch viel zu gering ein. Warum sie nicht über Homosexualität
berichten, argumentieren sie mit dem Respekt vor der Privatsphäre und den Erwar-
tungen des Publikums, das irritiert werden könnte. Kian et al. (2015, S. 907)
bezeichnen diese verdeckte Homophobie als „Dont’t ask, don’t tell“-Kultur und
resümieren, dass dadurch hegemoniale Männlichkeit im globalen Sport-Medien-
Komplex gegen Veränderungen immunisiert würde. Eine erste, von ihrer Aus-
sagekraft allerdings (aus methodischen Gründen) limitierte, Studie zu homosexuel-
len Sportjournalisten (Magrath 2020) sieht zwar die Sportressorts im Print- und
AV-Bereich nach wie vor als heterosexuelle Arbeitsbereiche, wo Homophobie,
Sexismus, Sexualisierung und Objektifizierung zur Jobroutine gehören, sich dies-
bezüglich aber langsam eine Veränderung abzeichnen würde. Dies scheint zumin-
dest für einige Sportressorts bzw. Sportmedien zu gelten, wo Journalisten mit jahre-
langer Erfahrung tätig sind. Zur Sensibilisierung von Journalist:innen für den
Umgang mit homosexuellen und transgeschlechtlichen Sportler:innen hat Staurow-
sky (2013) basierend auf Ethikcodizes journalistischer Praxis einen Maßnahmenka-
talog für faire Sportberichterstattung erstellt.
23 Prozent, bei Teamsportarten allerdings nur zwei Prozent, was mit der Dominanz
und Präferenz von männlich codierten Sportarten wie Fußball, Eishockey oder
Handball in den Medien zusammenhängt. (Pernegger 2020, S. 22)
Zu unterscheiden ist eine mediale Sichtbarkeit in der tagesaktuellen Sportbericht-
erstattung allerdings von jener bei sportlichen Großereignissen, wie bei Olympi-
schen Spielen, Europa- oder Weltmeisterschaften, wo der Frauenanteil in der Me-
dienberichterstattung allerdings in den letzten Jahren sukzessive angestiegen ist.
(Bachmann 1998; Pfister 2004; Hartmann-Tews und Rulofs 2010; Bruce et al.
2010) Eine Ausnahme bilden jedoch jene Großereignisse, an denen nur Frauen
teilnehmen (wie etwa die Frauenfußball-WM oder die Champions-League der
Frauen), die noch immer durch kürzere Vorberichterstattung, weniger technischen
Aufwand und schlechtere Sendezeiten charakterisiert sind. (Schaaf 2011b; Dorer
und Marschik 2011; Groll und Dier 2012; Degele 2013, S. 117–126) Diese Sport-
ereignisse werden als Mega-Events inszeniert, und der Verkauf der Fernsehrechte
sichert erst deren Finanzierbarkeit. Das erfordert ein Umdenken in der Zielgruppen-
planung, denn nun werden Frauen für hohe Einschaltquoten benötigt. Das führte
auch dazu, dass bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften immer mehr
Sportarten für Sportlerinnen geöffnet und von den einzelnen Nationen vermehrt
Sportlerinnen entsendet werden. Legitimiert wird die veränderte Sportpraxis mit
dem gesellschaftlichen Gleichheitsdiskurs, dem allerdings der Subtext Nation zu-
grunde liegt. Denn entscheidend sind schlussendlich nationale Siege, gleichgültig ob
Frauen oder Männer die Medaillen erringen. (Dorer 2007, S. 27) Mittlerweile ist es
bei Olympischen Spielen nach Cooky und Antunovic (2018) zu einem ausgegliche-
nen Geschlechterverhältnis in den Medien gekommen. Sie beobachten, dass sich das
liberal feministische Narrativ quantitativer Gleichheit bei olympischen Spielen zu
einem kritisch feministischen Narrativ, das Sexismus und Rassismus thematisiert,
verschoben hat. Dies trifft aber noch keineswegs auf die tagesaktuelle Sportbericht-
erstattung zu, wo altbekannte Muster der Sexualisierung und Trivialisierung von
Sportlerinnen und Schwarzen Sportler:innen neben einem liberal feministischen
Narrativ auftreten, oft auch gemeinsam in ein und demselben Medienartikel.
Neben der Unterrepräsentation in tagesaktuellen Sportberichten wurde bereits
früh die Art der Berichterstattung, wie die Verniedlichung, Trivialisierung, Infanti-
lisierung und Sexualisierung von Sportlerinnen, untersucht und kritisiert. Leistun-
gen von Frauen werden sowohl durch journalistische Sprache als auch durch visuelle
Darstellung konterkariert und abgewertet. Verniedlichungen und Infantilisierung wie
bspw. Bezeichnungen als „Mädls“, „Goldmädls“, „Rennmiezen“, „Turnküken“,
„Hopser“, „flotte Franziska“ etc. sind sprachliche Zuschreibungen für Spitzensport-
lerinnen, während Männer mit Namen genannt und ihre Stärke, Ausdauer und Kraft
betont werden. Während bei Sportlern der kräftige Körper in Siegespose die visuelle
Darstellung bestimmt, werden Sportlerinnen ästhetisch bewertet und auf ihr Aus-
sehen reduziert. Bereits früh wurde vor allem die sexualisierte Darstellung von
Sportlerinnen in der Berichterstattung kritisiert. (Klein und Pfister 1985; Bachmann
1998; Rulofs 2003; Pfister 2004; Billing und Eastman 2003; GMMP 2005, S. 37;
Schaaf und Nieland 2011; Trolan 2013; Sherry et al. 2016; Dorer und Marschik
2019; Bernstein 2020) Sexualisierung ist in der Sportberichterstattung und in
Mediensport: Gender und Intersektionalität im Sportressort und in . . . 843
Sportmedien nach wie vor präsent. Hier spielen allerdings auch die Kleidervor-
schriften der Sportverbände eine nicht unerhebliche Rolle, wie beispielsweise im
Beachvolleyball, wo besonders eng anliegende und knapp bemessene Sportoutfits zu
einer erhöhten Aufmerksamkeit sowie Sportberichterstattung führen sollen. (Dorer
2007, S. 27; Götz 2020, S. 100–103) Nach einer aktuellen Studie werden Sport-
lerinnen noch immer acht Mal häufiger sexualisiert und 13 Mal öfter mit trivialisie-
renden Bezeichnungen versehen wie ihre männlichen Sportkollegen. (Pernegger
2020, S. 23). Durch die weitere Verbreitung sozialer Medien haben es Sportler:
innen nun vermehrt selbst in der Hand, ihre Person den eigenen Vorstellungen
entsprechend zu vermarkten, wobei diese Möglichkeit weniger zum Empowerment
und zur Präsentation eines fortschrittlichen Frauenbilds als zur Reproduktion tradi-
tioneller Geschlechterstereotypen genutzt wird. (Schaaf 2011a, b; Trültzsch-Wijnen
und Weber 2019; Pauli 2009)
4
Im Folgenden werden einige Aspekte dieser Meta-Studie, für die 40 einschlägige Studien gesichtet
wurden, referiert. Siehe dazu die ausführliche Systematisierung und Analyse in: Dorer und
Marschik (2019).
844 J. Dorer und M. Marschik
(Cleland 2014; Hardin et al. 2009) Allerdings ist gerade der Fußballsport weiterhin
ein Ort der Hypermaskulinität, wo sich homophobe Einstellungen trotz betont
positiver Berichterstattung als extrem resistent erweisen, wie die Einzelfallstudie
zum Outing des Fußballprofis Thomas Hitzlsperger zeigt. (Schallhorn und Hempel
2017) Sportjournalisten rühmen sich dann in ihren Beiträgen der eigenen Offenheit
und Toleranz. (Billings et al. 2015) Insgesamt erweist sich die diesbezügliche Sport-
berichterstattung als ambivalent und wird in der Literatur als neo-homophober
Diskurs (Hardin et al. 2009) oder als ein kontradiktorischer, die Heteronormativität
aufrechterhaltender Diskurs (Hughson und Free 2011) interpretiert.
Davon hebt sich die Berichterstattung zur Metrosexualität von Sportlern ab. Die
Erfolge der Sportstars Roger Federer oder David Beckham trugen wesentlich dazu
bei, dass sie in den Medien zuerst als zu weiblich verspottet, später aber ob ihrer
Erfolge zu Vorbildern für eine „neue Männlichkeit“ stilisiert wurden.
Schwarze Sportler:innen werden in der Sportberichterstattung immer seltener
tabuisiert oder pathologisiert, sind aber durch subtilere Mechanismen weiterhin
rassistischer Diskriminierung ausgesetzt. Dazu gehört die Aufrechterhaltung des
Konzepts hegemonialer Weißer Männlichkeit, indem u. a. Sportarten, wo besonders
Schwarze Sportler:innen reüssieren, an medialer Bedeutung einbüßen (Oates 2017,
S. 84). Auch multi-ethnische (multiracial) Sportler:innen sind medial den gleichen
Rassismen ausgesetzt wie Schwarze. (Deeb und Love 2018) Aber auch dabei gibt es
mitunter Ausnahmen in der Berichterstattung. Als die Olympischen Sommerspiele
2000 in Sydney stattfanden, wurden die (wenigen) indigenen Sportler:innen in den
australischen Medien positiv hervorgehoben und als Symbolfiguren zugleich indi-
gener Identität und nationaler Gemeinsamkeit präsentiert (Gardiner 2003). In einer
kritischen Analyse von 13 Studien zur Sportberichterstattung, die sowohl „Rasse“
als auch Ethnizität ausdrücklich als zwei Kategorien thematisieren, kommen van
Sterkenburg et al. (2010) zu dem Ergebnis, dass durch die fixe Vorgabe der jewei-
ligen Kategorien eine quasi „natürliche“ Differenz perpetuiert wird. Außerdem
kommt es zur Diskriminierung anderer Minoritäten, da diese wahlweise einer der
beiden Kategorien zugeordnet wurden.
Am Exempel der Transgeschlechtlichkeit einer Leichtathletin arbeiteten Bertling
und Ihle (2011) heraus, wie schwer sich Sportjournalist:innen mit einer adäquaten
sprachlichen Formulierung tun. Sie betonen aber den positiven Aspekt der deutschen
Sportberichterstattung, die zumindest versucht, am Beispiel des Sports über gesell-
schaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen von Transgeschlechtlichkeit zu
schreiben.
Zur Intersektionalität von „Rasse“, Intergeschlechtlichkeit und Nation liegen
mehrere Einzelfallstudien vor, insbesondere zur Leichtathletin Caster Semenya,
deren Leistungen besonders nach dem WM-Sieg in Berlin 2009 in den Medien
ständig kritisch hinterfragt wurden. Ein Vergleich US-amerikanischer und südafri-
kanischer Printmedien zeigt, wie erstere Fragen nach dem „wahren Geschlecht“ der
Sportlerin und damit „rationale, westliche“ Normen in den Mittelpunkt rückten,
während zweitere auf Menschenrechte und Nationalismus fokussierten und damit
Rassismus und Kolonialismus anprangerten. (Cooky et al. 2013; Lummerding 2013)
Umfangreicher untersucht wurde auch die mediale Repräsentation der Schwarzen
Tennisspielerin Serena Williams. In Kontrast zu den Kontrahentinnen wurde sie
846 J. Dorer und M. Marschik
sexistisch und weit mehr noch rassistisch kommentiert. Auch auf sozialen Medien
wie Facebook oder Twitter wird ihre mediale Konstruktion in der Verschränkung
von Sexismus und Rassismus als Mehrfachdiskriminierung analysiert. (Schultz
2005; Litchfield et al. 2018)
Als postkolonialer Blick lässt sich schließlich die Sportberichterstattung des
globalen Nordens bezeichnen, wo Leistungen von Sportler:innen des globalen
Südens in einer kolonialen Rhetorik beschrieben werden. (Bale 2001; Lummerding
2013) Beispielhaft dafür zeigt der Afrikanist Nunen Mwaniki (2012), wie in euro-
päischen Sportberichten gesellschaftlich gängige Stereotypen auf den Ebenen „Ras-
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5 Resümee
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Mediensport: Gender und Intersektionalität im Sportressort und in . . . 851
Inhalt
1 Einleitung: Die Verwertbarkeit von Mehrsprachigkeit als „Ressource“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 854
2 Intersektionalität und voice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 855
3 Mehrsprachigkeit und Linguizismus in der medialen Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 858
4 Fazit: Monolingualismus und postfeministische Verschränkungen in Medien . . . . . . . . . . . . 860
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 862
Zusammenfassung
Fragestellungen rund um Mehrsprachigkeit werden aus sprachwissenschaftli-
chen, mediensoziologischen und soziolinguistischen Perspektiven bearbeitet.
Allerdings ist im Forschungsfeld von Sprache und Gender der monolinguale Bias
noch immer weit verbreitet. Insgesamt sind die Verschränkungen von Medien,
Mehrsprachigkeit und Gender in der feministischen Medienforschung nur am
Rande des wissenschaftlichen Diskurses angesiedelt. So sind Studien zu gegen-
derten und intersektionellen Sprachverhältnissen im Kontext von Medien und
Mehrsprachigkeit rar. Der folgende Beitrag beschreibt einen Ansatz zur Kon-
textualisierung und Theoretisierung dieses Forschungsfelds und diskutiert lin-
guistische Diversität mit Fokus auf Gender und Medien.
Schlüsselwörter
Mehrsprachigkeit · Linguizismus · Voice · Intersektionalität · Medien
A. Gouma (*)
Institut für Inklusive Pädagogik, Pädagogische Hochschule Oberösterreich, Linz, Österreich
E-Mail: gouma@uni-wuppertal.de
J. Purkarthofer
Germanistische Linguistik, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland
E-Mail: judith.purkarthofer@uni-due.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 853
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_78
854 A. Gouma und J. Purkarthofer
Mehrsprachigkeit ist ein breiter Begriff, der nicht nur anerkannte oder offizielle
Sprachen, sondern auch Varietäten, lokale Dialekte, Ethnolekte und unterschiedliche
Sprachregister miteinbezieht. Ergänzt wird das Verständnis von Mehrsprachigkeit
mit dem Begriff der „Heteroglossie“, der Vielstimmigkeit und Mehrdeutigkeit. Bei
Heteroglossie geht es nicht um die sprachliche Vielfalt, sondern darum, „dass wir
uns im Sprechen immer gegenüber bestimmten gesellschaftlichen Diskursen und
Sprechweisen positionieren, die ihrerseits auf unterschiedliche soziale Räume und
Zeitabschnitte verweisen“ (Busch 2013, S. 12). Die Auseinandersetzung mit den
gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen Mehrsprachigkeit stattfindet, ist daher
besonders wichtig. Denn die soziale Realität der Mehrsprachigkeit im Kontext der
neoliberalen Gouvernementalität der „leistungsfähigsten Nationen“ (Lemke et al.
2000) wird durch die Frage ihrer Verwertbarkeit stets herausgefordert: Was ist der
Wert der Mehrsprachigkeit? Legitimiert wird diese Fragestellung durch die utilita-
ristische Ethik in medialen, politischen und administrativen Diskursen.
Eine Antwort auf diese Frage hält das Diversitätskonzept bereit, das als hegemo-
niales Konzept zu sehen ist und das Narrativ der „Vielfalt“ forciert. Die Vielfalt der
Sprachen wird darin als „Ressource“ und als „Gewinn“ für die Gesellschaft gesehen.
Obwohl das Narrativ der Vielfalt überwiegend positiv kommentiert wird, stellt Beck
(2011, S. 53) fest, dass es sich noch um ein diffuses Konzept handelt: „We do not
even have the language through which contemporary superdiversity in the world can
be described, conceptualized, understood, explained, and researched.“ Schwarze
Feminist*innen wie etwa Sara Ahmed haben sich intensiv und kritisch mit dem
Diversity-Konzept auseinandergesetzt. Ahmed (2009) kritisiert, dass es zwar im
Mainstream zu einem Diskurs der Wertschätzung von Vielfalt gekommen ist, dieser
aber auf der einen Seite ökonomisch argumentiert (Wirschaftsunternehmen), oder
auf der anderen Seite auf moralische Werte rekuriert (soziale Gerechtigkeit). In der
Praxis wird das Konzept als Tool eingesetzt, um „weiße“ Strukturen etwas „bunter“
zu machen, tatsächlich handelt es sich aber um kontrollierte Ausschlussprozesse
(De Jong 2015), denn nicht jede „Diversität“ ist auch verwertbar und daher er-
wünscht. Aktuelle Debatten im Zuge der sogenannten „Flüchtlingskrise“ verdeutli-
chen, wie genau im Diversitätsmanagement zwischen „good and bad diversity“
(Lentin und Titley 2011) unterschieden wird. Mehrsprachigkeit wird daher nicht
pauschal als „Bereicherung“ verstanden, sondern auch als Störung, Problem oder
Integrationsprojekt marginalisiert. Das Narrativ der „Vielfalt“, „Ressource“ und der
„Bereicherung“ wird demnach nicht nur von neoliberalen Denkschemata, sondern
auch von nationalistischen und kulturalistischen Diskursen herausgefordert (Gouma
2020).
Migration ist aktuell die treibende Kraft für den Umgang mit Mehrsprachigkeit
und die Bestimmung von sprachbezogener „good and bad diversity“. Die sprach-
politische und gesellschaftliche Differenzierung zwischen anerkannten Varietäten,
lokalen Dialekten und migrantischer Mehrsprachigkeit ist strukturierend in der
Migrationsgesellschaft. Auch migrantische Mehrsprachigkeit wird differenziert
Mehrsprachigkeit, Gender und Medien im linguizistischen Kontext 855
1
Demnach ist auch der verbreitete Begriff „deutschsprachige Länder“ nicht zutreffend: Das Span-
nungsverhältnis zwischen amtlicher Einsprachigkeit im Deutschen und faktischer Mehrsprachigkeit
im Alltag ist wesentliches Merkmal der Migrationsgesellschaft. (Dirim 2015, S. 26).
Mehrsprachigkeit, Gender und Medien im linguizistischen Kontext 857
und sind u. a. das Ergebnis der Verdrängung z. B. von lokalen und regionalen
Sprachen. Sie bilden daher keine „natürliche“ Einheit mit den de facto mehrspra-
chigen Nationalstaaten mit ihren zunehmend mehrsprachigen Sprecher*innen. (Fra-
ser 2007, S. 11)
Daraus formuliert Fraser angesichts der deliberativen Metapher der „Diskus-
sionsrunde“ ihre Bedenken und fragt, inwieweit eine monolinguale Öffentlich-
keit eine kommunikativ inklusive Gesellschaft konstituieren kann: „Who are the
relevant members of a given public? In what language(s) and through what media
should they communicate? And via what communicative infrastructure?“ (Fraser
2007, S. 19) Im Gegensatz zu der weitgehenden Leerstelle der medialen Reprä-
sentation von Mehrsprachigkeit durch gegenderte Stimmen und ihre Verknüp-
fung mit (Sprach-)Ideologien liefert Fraser einen wichtigen Baustein zur Theo-
retisierung.
Mindestens eine Frage drängt sich hier auf: Bedeutet das mehrsprachige Spre-
chen in der medialen Öffentlichkeit auch, eine „Stimme“ zu haben, die gehört
wird? Die Bedingungen des „Zu-Wort-kommens“ sind für marginalisierte Spre-
cher*innen von Ungleichheiten und Strukturen des silencing geprägt. Die Über-
windung der strukturellen Hindernisse lässt sich aber nicht mit dem Anliegen,
gehört zu werden, gleichsetzen. Chandra Mohanty (1989) beschreibt ausgehend
von feministischen Begegnungen zwischen Frauen des globalen Nordens und des
globalen Südens die Forderung, eine „Stimme“ zu haben, als „complex historical
and political act that involves understanding the interrelationships of voices“
(Mohanty 1989, S. 182). Sie plädiert für die Autorisierung der Stimmen von
marginalisierten Gruppen, betont dabei aber, dass es nicht allein um deren indivi-
duelles Recht geht, sondern um die Kollektivierung solcher Prozesse und um das
Hörbarmachen von oppositionellen Stimmen. Es geht darum, kollektive Stimme
zu ermöglichen: „I think the important point is that it be an active, oppositional,
and collective voice“. (Mohanty 1989, S. 208) In Bezug auf Medien und Mehr-
sprachigkeit geht es demnach nicht nur um eine Addition von Sprachen oder
linguistische Vielfalt, sondern um eine Multiplizierung von Stimmen (voices),
im Sinne einer gemeinsamen oppositionellen Stimme, die kollektive Anliegen
vorantreiben.
Raum in der Medienöffentlichkeit für mehrsprachige Sprecher*innen ist ein
Schritt von vielen, der oft in Verbindung mit freien und Community-Medien an-
gestoßen wird (Purkarthofer 2018). Der Zweifel, ob eine Frau, die kein „fehlerloses“
Deutsch spricht, gehört wird bzw. ob sie als eine Person, die „etwas zu sagen hat“,
gilt, war im Rahmen des partizipativen lokalen Bildungs- und Medienprojekts
EPRIS zu Mehrsprachigkeit und Linguizismus (Gouma 2020) ein immer wieder-
kehrendes Thema der Befragten: Lohnt es sich, eine Stimme in der Öffentlichkeit zu
erkämpfen, wenn das, was du sagst, nicht ernst genommen wird? Die Aussprache,
der Akzent, der Dialekt wie auch die „falschen“ Fehler – im Gegensatz zu „richti-
gen“ Fehlern, wie dem generischen Maskulinum –, die auf eine migrantische
Herkunft verweisen, werden gehört. Dafür wird überhört, was gesagt wird. (Gouma
2020, S. 171–172)
858 A. Gouma und J. Purkarthofer
Obwohl es sich bei den meisten Medien um Unternehmen oder Vereine handelt, die
keinem staatlich verordneten einsprachigen Zwang unterliegen, „organisieren und
managen [sie] Mehrsprachigkeit“ (Kelly-Holmes und Milani 2013, S. 1), indem sie
überwiegend Position für die Imagination der Monolingualität beziehen. Brigitta
Busch (2004, S. 32) sieht darin die Funktion der „Sprachüberwachung“ in und durch
Medien. Ähnlich sehen es James and Lesley Milroy (1998) und verweisen auf die
„complaint tradition“ über Abweichungen von Standardsprachen in Leser*innen-
briefen, Kolumnen und Kommentaren in Medien. In Medien gibt es so gesehen
immer gesonderte Sprachregime: „Solche Regime sind ebenso durch spezifische
Machtkonstellationen und sprachliche Hierarchien gekennzeichnet wie durch gegen-
läufige Aneignungsprozesse oder Gegendiskurse, die geeignet sind, sprachliche
Praktiken und Sprachideologien zu transformieren.“ (Busch 2013, S. 126) Das
bedeutet, dass Sprachregime Räume darstellen, die durch „soziale, sprachliche und
diskursive Praktiken geschaffen [werden] und in ständigem Wandel begriffen“
(Busch 2013, S. 126) sind. In diesen Sprachregimen werden soziale (Sprach-)
Handlungen verdichtet (Busch 2013, S. 136).
Dabei stellen Medien ihre eigenen Sprachregime und ihre sprachlichen Erwar-
tungen auf (Purkarthofer 2013). Für Migrant*nnen, aber auch für Dialektspre-
cher*nnen, bedeutet dies oft, dass als habitualisierte Sprachpraktik eine bestimmte
Standardsprache bzw. bestimmte Sprachregister vorausgesetzt werden. Dies trifft
nicht nur für die Mainstream-Medien zu, sondern auch für jene der agonistischen
Öffentlichkeit wie z. B. nicht-kommerzielle Medien: In qualitativen Interviews zur
Mitwirkung in Freien Radios stellten sich sowohl Dialektsprecher*innen als auch
migrantische Sprecher*innen die Frage, ob sie aufgrund der Sprache überhaupt
berechtigt sind, im Radio zu sprechen. (Gouma 2020) Mediale Sprachregime pro-
duzieren demnach Ausschlüsse, die verschiedene Formen des Sprachgebrauchs
betreffen. „Die Grenzen zu der Frage, wann spricht jemand eigentlich ‚gut‘ Deutsch,
sind dabei fließend. Deutsch sprechen können heißt unter Umständen gleichzeitig
auch ‚zwischen den Zeilen‘ lesen können, den jeweiligen vor Ort geforderten
Dialekt sprechen oder verstehen zu können und zu wissen, welches Sprachregister
in welchem sozialen Kontext das Angemessene ist.“ (Heinemann 2015, S. 135–136)
Alisha Heinemann beschreibt neben der „Sprache“ auch die Kategorie des „Kör-
pers“ als einen Ort des Ausschlusses: „Der erste [Ausschlussort] ist der eigene
Körper, in dem sich das Erleben stets defizitär zu sein, nicht ‚gut‘ genug Deutsch
sprechen zu können, eingräbt [. . .].“ (Heinemann 2015, S. 135)
Die Mediensprachen, die in Medien zu hören und zu lesen sind, aber auch der
Umgang mit Normabweichungen spiegeln nicht nur Sprachideologien und Lingui-
zismus wider. So weisen etwa Forschungsergebnisse zu hate speech drauf hin, dass
neben Praktiken des othering und der Abwertung auch Genderaspekte durch die
Auseinandersetzung mit Sprachideologien in Mediendiskursen deutlich werden.
Über die Zuschreibung einer nicht verwertbaren Mehrsprachigkeit zu minorisierten
Gruppen werden mehrsprachige Angebote zum Gegenstand diskriminierender
Mehrsprachigkeit, Gender und Medien im linguizistischen Kontext 859
2
Dabei handelt es sich um eine bestimmte Gebrauchsweise des Deutschen, die vom Standard-
deutsch systematisch abweicht und auf den Einfluss des Türkischen zurückgeführt wird. (Dirim
2010, S. 98).
860 A. Gouma und J. Purkarthofer
3
In seinem Blog forderte ein rechtsradikaler Politiker 2012, dass die Polizei Menschen erschießen
solle, die rinkebysvenska sprechen (Kerswill 2014, S. 427).
4
Jafaican wird als Multiethnolekt bezeichnet – bestehend aus Standardenglisch, Englisch als
Zweitsprache, afrikanisches, karibisches und asiatisches Englisch, dem lokalen Dialekt Cockney,
Jamaican Creole und anderen Sprachen. (Kerswill 2014, S. 431–432). Allgemein bezeichnet
Multiethnolekt eine von Migrant*innensprachen beeinflusste, aber nicht nur von Migrant*innen
gesprochene Varietät der hegemonialen Sprache vor allem in urbanen Zentren (u. a. Freywald et al.
2011).
Mehrsprachigkeit, Gender und Medien im linguizistischen Kontext 861
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Teil IX
Medienkultur – Populärkultur
Visuelle Kommunikation und Gender-
Konstruktionen
Karin Liebhart
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 868
2 Visuelle Kommunikationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 868
3 Visuelle Gender-Konstruktionen in medialer politischer Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . 870
4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 876
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 877
Zusammenfassung
Nahezu alle Formen medialer Kommunikation, online und offline, sind mitt-
lerweile visuell geprägt. Die Vermittlung von Botschaften und die Erzeugung
von Bedeutung erfolgen in beträchtlichem Ausmaß über Bilder und Bewegt-
bilder. Dies hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf die Konstruktion
von Geschlecht und korrespondierende Ideen von Weiblichkeit und Männlich-
keit. Arbeiten der Gender Studies, die der visuellen Kommunikationsforschung
zugeordnet werden können, befassen sich mit der Konstruktion von Geschlech-
terbildern und damit verbundenen Zuschreibungen. Analysen politischer Kom-
munikation zeigen, dass stereotype, dichotom konstruierte Geschlechterbilder
zwar nach wie vor gängig sind, dass sich Repräsentationsformen aber auch im
Wandel befinden.
Schlüsselwörter
Visuelle Kommunikation · Visual Studies/Bildwissenschaften · Medien · Bilder/
Images/Pictures · Gender/Geschlecht
K. Liebhart (*)
Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien, Wien, Österreich
Department of Sociology, University of Trnava, Trnava, Slowakei
E-Mail: karin.liebhart@univie.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 867
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_73
868 K. Liebhart
1 Einleitung
Visuelle Kommunikation ist ein Schlüsselbegriff der Visual Studies und bezeichnet
sowohl ein interdisziplinäres Forschungsfeld als auch einen Modus der Vermittlung
von Bedeutung durch Bilder (Geise und Lobinger 2016, S. 50). In jüngerer Zeit hat
vor allem die Bildzentriertheit Sozialer Netzwerke und Plattformen wie Instagram,
TikTok, Snapchat, Flickr, Pinterest, Telegram, YouTube und WhatsApp zur stetig
steigenden Bedeutung des Visuellen in der Alltagskommunikation wie auch der
medialen und politischen Kommunikation beigetragen. Auch für Soziale Medien,
die nicht vorrangig für visuelle Botschaften konzipiert wurden, oder für Messenger-
Dienste spielen Bilder eine immer wichtigere Rolle (Brantner et al. 2020, S. 9).
Selbst der anfangs fast ausschließlich textzentrierte Mikroblogging-Dienst Twitter
stellte bereits 2014 fest, dass Fotos und Videos die Wahrscheinlichkeit eines Re-
tweets um 35 % bzw. um 28 % erhöhten (Schulze 2019). Soziale Medien sind vor
allem visuelle Medien (Brantner et al. 2020, S. 9, 21; Autenrieth 2019, S. 264).
Visueller Content wird nicht nur von Algorithmen favorisiert, auch für die „Share-
ability“ ist die Einbettung von Bildern ein wichtiger Faktor. Aber auch jenseits von
Sozialen Medien ist mittlerweile nahezu jede Form medial vermittelter Kommuni-
kation visuell geprägt. „Images surround everything we do. This omnipresence of
images is political and has changed fundamentally how we live and interact in
today’s world“ (Bleiker 2018, S. 1). Die besondere Bedeutung von Bildern für die
kommunikative Konstruktion sozialer Realität im „visual age“ (Lobinger 2015,
S. 91) hat soziales Handeln mit Bildern zu einem wichtigen Forschungsthema der
Sozial- und Kulturwissenschaften und auch der Gender Studies gemacht, insbeson-
dere in Hinblick auf die Konstruktion von Geschlechterbildern und entsprechende
Zuschreibungen.
2 Visuelle Kommunikationsforschung
schungsthemen jedoch lange Zeit nicht (Lobinger und Venema 2019, S. 4; Müller
2007).
Ihre Wurzeln hat die Visuelle Kommunikationsforschung im deutschsprachigen
Raum insbesondere in den Arbeiten Aby Warburgs, der zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts das Nachleben von bildhaften Ausdrucksformen der Antike in der abend-
ländischen Kultur, vor allem in der Renaissance, erforschte (Müller 2007, S. 15–16).1
Die angloamerikanische Tradition der Visual Studies bezog sich hingegen auf
Ansätze aus den Cultural Studies (Evans and Hall 1999) und auf das Werk Erwin
Panofskys (1982). Panofsky übernahm den von Warburg verwendeten Begriff der
Ikonologie und kombinierte dessen Ideen mit der Wissenssoziologie Karl Mann-
heims (Müller 2007, S. 16). Auf dieser Grundlage entwickelte er ein aus vorikono-
grafischer Beschreibung, ikonografischer Analyse und ikonologischer Interpretation
bestehendes dreistufiges Modell zur Ermittlung von Bildinhalten. Marion G. Müller
ergänzte Panofskys Methode, die bildimmanente Bedeutungen rekonstruiert (Müller
2011b, S. 29), um die Kontextdimensionen Form-, Produktions- und Rezeptions-
kontext (Müller und Geise 2015, S. 17, 183–196, 219–226; Warnke et al. 2011), um
sie für die Analyse massenmedial produzierter und kommunizierter Bilder anwend-
bar zu machen.2
Die Frage nach dem Gegenstand der visuellen Kommunikationsforschung beant-
wortet Müller (2007, S. 8–12) unter Bezugnahme auf Gottfried Boehm (1994) und
William T. J. Mitchell (1990) mit einer Diskussion der Begriffe Image, Picture, Bild
und Visuals. Während die deutschsprachige Tradition aufgrund fehlender Begriff-
lichkeiten die Bezeichnung Bild sowohl für materielle Bilder als auch für immate-
rielle, mentale Bilder verwendet, unterscheidet die englischsprachige Tradition
zwischen pictures und images. Materielle Bilder wie Fotos, Grafiken, Gemälde,
Filme, Kunstwerke oder Architektur rufen jeweils korrespondierende immaterielle
Denkbilder auf und aktivieren diese (Müller und Geise 2015, S. 21, 23–25). Müller
(2007, S. 13) verweist auf die Bedeutung von „memorized visual precursors“, die als
historische „Vor-Bilder“ aus einem kollektiven Bildgedächtnis abgerufen werden
1
Warburgs fragmentarisch gebliebener Bilderatlas Mnemosyne beinhaltet etwa 2000 Bilder aus
Kunst- und Kulturgeschichte auf etwa 60 Tafeln und wurde von Martin Warnke und Claudia Brink
(2000) in jener Form herausgegeben, in der Warburg ihn hinterlassen hat.
2
Der ikonografisch-ikonologische Ansatz bietet auch eine Grundlage für methodische Zugänge wie
die Quantitative Bildtypenanalyse (Grittmann 2007; Grittmann und Ammann 2011) oder die
Visuelle Kontextanalyse (Knieper und Müller 2019; Müller und Geise 2015; Müller 2011a, b),
die das Bild selbst ins Zentrum des Erkenntnisinteresses stellen (Knieper und Müller 2001; Liebhart
und Bernhardt 2021). Die Visuelle Kontextanalyse erforscht den Entstehungs- und den Rezeptions-
kontext einzelner Bilder. Die Quantitative Bildtypenanalyse ordnet Bilder mittels (teil)standardi-
sierter Inhaltsanalysen nach Typen und analysiert dann pro Bildtyp einige wenige Bilder genauer
ikonografisch-ikonologisch. Selbstverständlich sind diese beiden Methoden nur ein Teil des für
Bildanalysen zur Verfügung stehenden qualitativen und quantitativen Instrumentariums. Dazu
zählen etwa auch die Bildinhaltsanalyse (Müller und Geise 2015, S. 197–209), die Visuelle
Frameanalyse (Müller und Geise 2015, S. 263–274; Geise et al. 2013; Meier 2009); die Visuelle
Segmentanalyse (Breckner 2010, 2012) und die Bewegtbildanalyse (Bohnsack 2009; Schwender
2011). Weiterführend siehe auch Lobinger und Mengis 2019 sowie Rose 2016.
870 K. Liebhart
(Frank und Lange 2010, S. 58–61). Ebenso können sie aber aus alltagskulturellen
Bereichen wie der Popkultur, der Produktwerbung, dem Sport, der Musik oder der
Mode stammen. Diese Verbindung zwischen materiellen Abbildern und mentalen
Denkbildern folgt dem Prinzip der Assoziation und der Analogiebildung (Müller
und Geise 2015, S. 37), während Textkommunikation an einer linear-sequenziellen
und grammatikalisch strukturierten Logik orientiert ist. Bilder werden im Unter-
schied zu Texten holistisch wahrgenommen, als Ganzes erfasst, und sie beschreiben
nicht, sie veranschaulichen (Müller 2007, S. 13–14). Dieses spezifische Kommuni-
kationsprinzip stellt Bildanalysen und -interpretationen vor theoretische und metho-
dische Herausforderungen (Müller und Geise 2015, S. 37), da Sprache allein nicht
sämtliche Aspekte visueller Wahrnehmung erfassen kann (Grittmann 2007).
Medienkommunikation ist nahezu immer multimodal (Bucher 2019, S. 651).
Bilder stehen in Verbindung mit anderen kommunikativen Modi wie Text, Sprache
und Ton (Bernhardt und Liebhart 2020, S. 25), entsprechend der hybriden Medien-
logik (Chadwick 2013). Dies gilt nicht nur für Film und Video: „even in non-audio-
visual material like newspaper photography, the visual can hardly be studied without
taking its textual context (caption, headers, accompanying articles) (. . .) into ac-
count“ (Müller 2007, S. 13). Vertreter*innen der Kritischen Diskursanalyse (z. B.:
Friedrich und Jäger 2011; Meier 2009, 2011; Van Leeuwen 2015; Wodak und
Krzyzanowski 2008) und jener semiotischen Ansätze, die auf die Verschränkung
vielfältiger Formen der Bedeutungszuschreibung fokussieren (Kress und Van Leeu-
wen 2001, 2006) haben mittlerweile auch einen stärker interdisziplinären Zugang
entwickelt. Sabine Maasen, Torsten Mayerhauser und Cornelia Renggli (2006)
analysieren Bilder als Teil von Diskursen und beziehen nichtsprachliche Aspekte
diskursiver Praxis ein (vgl. auch Meier 2011; O’Halloran 2004). All diese Ansätze
tragen dem Umstand Rechnung, dass soziale Muster – wie etwa Geschlechterord-
nungen – nicht nur in rhetorischen Strategien sichtbar werden, sondern auch in
visuellen Repräsentationen (Fairclough 2010; Kress und Van Leeuwen 2001; Van
Dijk 2000; Van Leeuwen und Jewitt 2000). „Critical discourse analysis has also
moved beyond language, taking on board that discourses are often realized not only
through the verbal aspects of text and talk, but multimodally“ (Wodak und Meyer
2009, S. 272). Eine integrative Betrachtung verschiedener Kommunikationsmodi
wurde beispielsweise in Studien zur Konstruktion von heteronormativen Geschlech-
terbildern und biologistisch begründeten, traditionell-konservativen Weiblichkeits-
vorstellungen sowie entsprechenden Rollenzuschreibungen in politischen Gesell-
schaftsentwürfen der Neuen Rechten angewendet (Jäger et al. 2019; Liebhart 2021).
Was gezeigt wird und wie etwas gezeigt wird, welche strategischen Entscheidungen
dabei sichtbar und welche Deutungsangebote nahegelegt werden, sind wichtige
Fragen der Visuellen Kommunikationsforschung (Åhäll 2018, S. 156; Bernhardt
et al. 2019, S. 44). In der politischen Kommunikation haben Bilder die Funktion der
Visuelle Kommunikation und Gender-Konstruktionen 871
Sichtbarmachung eines Ereignisses, eines Themas oder einer Person (Mirzoeff und
Holert 2000) und der Aktivierung mentaler Vorstellungsbilder. Elke Grittmann
(2009, S. 34) stellt in diesem Zusammenhang die Frage, „warum welches politische
Angebot wie überhaupt öffentlich sichtbar wird“. Drechsel (2009, S. 159) bezeichnet
Sichtbarkeit als zentrale Ressource der Politik und den Wandel von Sichtbarkeits-
ordnungen als Indikator für Verschiebungen bzw. Veränderungen politischer Macht-
strukturen. Visuelle Repräsentationen spielen eine zentrale Rolle für die Herstellung
dieser Sichtbarkeit als Voraussetzung politischer Bedeutung (Bernhardt und Liebhart
2020, S. 14). Johanna Schaffer (2008, 2019) problematisiert aus einer feministischen
Perspektive allerdings die Vorstellung eines kausalen Zusammenhangs zwischen
Sichtbarkeit und politischer Macht: „Übersehen werden hier jedoch die komplexen
Prozesse auf dem Feld der Visualität, für die höchst relevant ist, wer zu sehen gibt, in
welchem Kontext – und vor allem: wie, d. h. in welcher Form und Struktur zu sehen
gegeben wird“ (Schaffer 2008, S. 12, Herv. i. O.). Schaffer richtet die Aufmerk-
samkeit daher auf die Frage, wie minorisierte Subjektpositionen visuell repräsentiert
werden können, „ohne in der Form ihrer Repräsentation Minorisierung zu wieder-
holen“, und fordert ‚anerkennende Sichtbarkeit‘ ein, als eine „Weise des Repräsen-
tierens“ mittels derer „eine Person, eine Sache, ein Kontext mit Wert belehnt wird“
(Schaffer 2008, S. 161–162). Dies soll der affirmativen Reproduktion von in ein
kollektives Bilderrepertoire eingeschriebenen Privilegien entgegenwirken (Schaffer
2008, S. 12).
Aus der Perspektive der Gender Studies ermöglicht ein „Nachdenken über
visuelle Formen der Bedeutungsproduktion“ (Schaffer 2008, S. 44) Rückschlüsse
auf gesellschaftliche Machtstrukturen, entsprechende symbolische Ordnungen und
deren Repräsentation, die Zweigeschlechtlichkeit als Norm setzen und stereotype,
dichotom konstruierte Geschlechterbilder fortschreiben (Pechriggl et al. 2013).
Die Relevanz der Analyse von Sichtbarkeitsverhältnissen für die Gender Media
Studies betonen auch Sigrid Schade und Silke Wenk (2011, S. 105) sowie Tanja
Maier und Martina Thiele (2019): Bilder erfüllen nicht nur eine wichtige Funktion
im Wettbewerb um mediale Aufmerksamkeit, sie spielen auch eine zentrale Rolle im
Prozess des „Doing Gender“. Dass stereotype visuelle Konstruktionen von Ge-
schlecht trotz gesellschaftlicher und medialer Veränderungsprozesse nach wie vor
gängig sind, zeigt Martina Thiele (2019) am Beispiel mehrerer Studien über die
Darstellung von Frauen in Werbespots und TV-Produktionen. Christina Holtz-Bacha
(2019) demonstriert ebenfalls, dass trotz einer Diversifizierung des Rollenrepertoires
stereotype Darstellungen nach wie vor die werbliche Repräsentation von Frauen
prägen (vgl. auch Weish 2019).
So fanden etwa Chen et al. (2020) in einer Analyse der visuellen Repräsentation
von professionellen Köch*innen in gastronomiespezifischen Online-Medien in Neu-
seeland bemerkenswerte Differenzen. Weibliche Protagonist*innen kamen nicht nur
weniger häufig ins Bild, sie wurden auch vorwiegend in eher häuslichen Settings
gezeigt und ihre weiblichen Aspekte wurden betont. Die Autor*innen kommen zu
dem Schluss, dass diese Form der (Re)Präsentation dazu führt, stereotype Wahr-
nehmungen von Geschlecht zu verfestigen und die Geschlechtersegregation in
diesem Berufsfeld aufrechtzuerhalten. Ähnliche Schlussfolgerungen zieht Grittmann
872 K. Liebhart
Abb. 1 „Die Muttisierung der mächtigsten Frau der Welt“. (Quelle: https://www.spiegel.de/kultur/
gesellschaft/sibylle-berg-ueber-angela-merkel-als-mutti-a-925827.html. (5. Oktober 2019) Zuge-
griffen: 16. Juli 2021)
(Grittmann 2012, S. 134, 144, 166; Grittmann et al. 2018). Insgesamt wird über das
Aussehen weiblicher Politiker*innen häufiger berichtet (Lünenborg et al. 2009,
S. 73; Norris 1997). Geschlechtsspezifische Attribuierungen in Bildbeschriftungen
tragen zusätzlich zur Vergeschlechtlichung von Personen und Handlungen bei, wie
dies beispielsweise in der Bezeichnung „Powerfrau“, „starke Frau“ oder aber auch in
Verniedlichungen über Spitznamen (wie etwa „Angie“ für Angela Merkel) zum
Ausdruck kommt (Grittmann 2012, S. 135, 151).
Entsprechend der von Ramona Weise (2018, S. 118) in Anlehnung an Elke
Grittmann entwickelten Typologie stereotyper medialer Einordnung von Politike-
rinnen in Deutschland3 in die Volksnahe, die Mütterliche, die Moderne, die Par-
3
Für die Anwendung dieses Schemas in einem österreichischen Zusammenhang vgl. Bernhardt und
Liebhart 2020, S. 52–54.
874 K. Liebhart
teifrau und die Starke, würde die politische Aktivistin Greta Thunberg dem Typ der
„Starken“ entsprechen, dem Führungskompetenz und Handlungsmacht zugeschrie-
ben wird (Weise 2018, S. 128). Ikonografisch wird für die Konstruktion dieses Typs
häufig auf die Tradition von Herrscherinnenporträts zurückgegriffen, und es werden
selbstbewusste Körperhaltungen und Machtposen forciert (Bernhardt und Liebhart
2020, S. 52; vgl. auch Liebhart 2013). Auf diese Weise werden Weiblichkeit und
Macht verschränkt (Weise 2018, S. 134).
Claudia Christiane Gatzka (2019) vertritt die These, dass aktuelle Bewegungen
wie Fridays for Future als „globale politische Bewegung des Neuen Jahrhunderts
(. . .) ein weibliches Gesicht (haben)“. Gatzka schreibt insbesondere den global
zirkulierenden Bildern von Greta Thunberg „ikonische Qualität“ zu, da diese den
bislang maskulin konnotierten Bildern politischen Protests, die vor allem mit Kampf,
Aggression und der „Performanz von Männlichkeit“ in Verbindung gebracht wur-
den, etwas Neues entgegensetzen. Als das junge, weibliche Gesicht des politischen
Protests gegen den Klimawandel und gegen damit in Zusammenhang stehende
politische und soziale Ungerechtigkeiten wird aber nicht nur Greta Thunberg wahr-
genommen. So präsentiert exemplarisch Emily Chan (2019) in der Vogue junge
Klima-Aktivistinnen aus verschiedenen Weltregionen als aktive, politisch handelnde
role models.
Ein Cover des Time Magazine vom 27. Mai 2022 präsentiert Greta Thunberg als
weibliche Führungsfigur4 (Abb. 2). Dies wird nicht nur durch die Komposition der
Aufnahme deutlich, sondern auch durch das Schriftelement „Next Generation Lea-
ders“, für die die abgebildete Klima-Aktivistin symbolisch steht. Mehrere Bildele-
mente (vor allem der monumentale Raum, die als „gravitätisch, gar majestätisch“
bezeichnete Pose der Porträtierten, das Kleid, die Kopfhaltung und der Blick)
erinnern an Darstellungen Queen Elizabeths II in jungen Jahren. Die Autorin sieht
diese und ähnliche Darstellung(en) Thunbergs auch als Bilder „politischer Weiblich-
keit“, ikonografische Hinweise darauf findet sie in Thunbergs fragil anmutender
Erscheinung und ihrem Markenzeichen, den geflochtenen langen Haaren. (Gatzka
2019) Die Fotografin des Bildes, Hellen von Meene, verweist zusätzlich auf die
beabsichtigte Zeitlosigkeit des Fotos, das an ein Gemälde erinnert (Haynes 2019).
Greta Thunberg postete das Foto am 16. Mai 2019 auf ihrem Twitter Account
@GreatThunberg und fügte der Feststellung „I’m on the cover of @TIME Magazi-
ne. #FridaysForFuture ’SchoolStrike4Climate #ClimateStrike“ den Satz hinzu:
„Now I Am Speaking to the Whole World“. Dies zeigt, dass die zu jenem Zeitpunkt
16-jährige Klima-Aktivistin crossmediale Synergieeffekte für ihre Selbstdarstellung
souverän nutzt und sich der zunehmenden Konvergenz von Offline- und Online-
Medien sowie der Bedeutung von Bildern für Selbstinszenierung und Image-
4
Porträts von Greta Thunberg erschienen u. a. auch am Cover der Zeitschrift GQ (August 2019), am
Cover des Rolling Stone Magazines’ Special Climate Crisis Issue (April 2020) und am Cover des
Magazins Weired (Juli–August 2019) und noch ein zweites Mal am Cover des Time Magazine
(Dezember 2019), anlässlich ihrer Würdigung als „Person of the Year“. All diese Fotos haben
unterschiedlichen Charakter und zeigen Greta Thunberg in verschiedenen Posen (von nachdenklich
bis fordernd und kämpferisch) und in verschiedenen Kontexten.
Visuelle Kommunikation und Gender-Konstruktionen 875
Abb. 2 Greta Thunberg. Cover des Time Magazine 27.05.2019. (Quelle: https://time.com/
magazine/us/5590214/may-27th-2019-vol-1-no-1-asia-europe-middle-east-and-africa-south-paci
fic-u-s/. Zugegriffen: 6. Februar 2021)
Management bewusst ist. Mittels gezielter Auswahl und Betextung von Bildmaterial
und dessen Verbreitung über Social-Media-Kanäle kuratieren nicht nur Politiker*in-
nen und ihre PR-Teams „eine öffentliche Persona im Sinne strategischer visueller
876 K. Liebhart
4 Fazit
Visualisierungen wie jene der Spitzenpolitikerin Angela Merkel oder der Klima-
Aktivistin Greta Thunberg „sind das Ergebnis kulturell geprägter Darstellungs- und
Rezeptionsweisen“, keinesfalls stehen sie „in einem schlichten Abbildungsverhält-
nis zur Wirklichkeit“ (Bernhardt et al. 2019, S. 46). Sie sind auch nicht als Illus-
trationen, die verbale Argumente veranschaulichen, zu verstehen. Als eigenständige
Kommunikationsmedien können sie „aufgrund ihrer assoziativen Logik Inhalte
vermitteln, die verbal nicht so gut kommunizierbar sind“ (Bernhardt und Liebhart
2020, S. 135). Eine besonders wichtige Funktion von politischen Bildern ist das
implizite Argument (Schill 2012, S. 122). Obwohl Bilder im Gegensatz zur Sprache
nicht über eine Syntax verfügen, können sie durch das Prinzip der Assoziation
kausale Zusammenhänge, Analogien oder Verallgemeinerungen nahelegen. Dabei
aktivieren sie kulturelles und historisches Wissen. Dies gilt selbstverständlich auch
für gesellschaftliches Wissen über Geschlechterordnungen. Johanna Schaffer hat die
Frage gestellt, welche Gesellschaften wie durch welche Prozesse der Bedeutungs-
gebung re/produziert werden, welche Relationen dabei zwischen sozialen Gruppen
konstruiert werden und wie sich diese Verhältnisse anders produzieren ließen. Diese
Frage lenkt die Aufmerksamkeit auf Möglichkeiten einer Erzeugung anderer Re-
präsentationen anderer Verhältnisse (Schaffer 2008, S. 17) und auf dafür nötige
Änderungen der Rahmenbedingungen.
Aus einer Gender-Studies-Perspektive ist von Interesse, wie strategisches Bild-
handeln tradierte Geschlechterordnungen und Rollenzuschreibungen deskonstruie-
ren und den gewohnten, dichotomen, stereotypisierten Bildern von Weiblichkeit und
Männlichkeit andere Bilder entgegensetzen kann, denn Argumente können Bilder
meist nicht entkräften (Müller 2003, S. 91; Bernhardt und Liebhart 2020, S. 25).
Merkels Auftritt in Oslo hat zwar Aufsehen erregt und Debatten über das Verhältnis
Visuelle Kommunikation und Gender-Konstruktionen 877
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Medienpädagogik und Gender,
Medien- und Genderkompetenz
Caroline Roth-Ebner
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 884
2 Medienpädagogik und Gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885
3 Medien- und Genderkompetenz als miteinander verwobene Schlüsselkompetenzen . . . . . 891
4 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 894
Zusammenfassung
In diesem Beitrag wird der Diskussionsstand von Arbeiten zum Zusammenhang
zwischen Medienpädagogik und Gender sowie zwischen Medien- und Gender-
kompetenz erörtert. Dabei wird einerseits auf Gender als inhaltlicher Fokus in
medienpädagogischer Praxis rekurriert und andererseits auf didaktische Über-
legungen, die Kategorie Gender in medienpädagogischer Arbeit zu berücksichti-
gen. Schließlich werden Medien- und Genderkompetenz als miteinander verwo-
bene Schlüsselkompetenzen diskutiert, die nicht nur für Jugendliche, sondern für
alle Mitglieder einer medial durchdrungenen Gesellschaft zentral sind.
Schlüsselwörter
Medienpädagogik · Medienkompetenz · Genderkompetenz ·
Geschlechtersensible Medienarbeit · Monoedukation
C. Roth-Ebner (*)
Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt,
Klagenfurt, Österreich
E-Mail: Caroline.Roth@aau.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 883
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_31
884 C. Roth-Ebner
1 Einleitung
Die wissenschaftliche Disziplin der Medienpädagogik stellt auf Fragen zum Ver-
hältnis einzelner oder von Gruppen zu Medien ab (Baacke 1997, S. 3). Nach Gerhard
Tulodziecki (1997, S. 45) bezeichnet der Begriff „Medienpädagogik“ die „Gesamt-
heit aller pädagogisch relevanten handlungsanleitenden Überlegungen mit Medien-
bezug einschließlich ihrer medientechnischen und medientheoretischen bzw. empi-
rischen und normativen Grundlagen“. Innerhalb der Medienpädagogik lassen sich
unterschiedliche Strömungen ausmachen, die bestimmte medienpädagogische
Grundhaltungen widerspiegeln: vom „Bewahren“ der Heranwachsenden vor „schäd-
lichen“ Medieneinflüssen (Bewahrpädagogik), der Bereitstellung von Verarbei-
tungshilfen (Reparierpädagogik) und der Aufklärung über die Funktionsweisen der
Medien (aufklärende Pädagogik) bis hin zur bewussten Alltagsgestaltung mit
Medien (alltagsorientierte/reflexive Zugänge) und der aktiven Beteiligung Heran-
wachsender an der Medienproduktion (handlungsorientierte/partizipatorische Zu-
gänge) (Süss et al. 2010, S. 82–104). Die Zielkategorie medienpädagogischen
Handelns stellt „Medienkompetenz“ dar – eine Kategorie, die sich auf konkretes
Medienhandeln bezieht und die Fähigkeit bezeichnet, mit Hilfe von Medien souve-
rän und aktiv an Informations- und Kommunikationsprozessen teilzunehmen (Baa-
cke 1997, S. 98). In der grundlegenden Konzeption von Dieter Baacke (1997,
S. 98–99) wird Medienkompetenz in die Teilbereiche Medienkritik, Medienkunde,
Mediennutzung und Mediengestaltung gegliedert. Der Begriff „Medienbildung“
geht darüber hinaus und betont die Bedeutung von Medien im Rahmen der allge-
meinen Persönlichkeitsbildung (Grell et al. 2011, S. 9; Moser 2006a, S. 314).
Die Zusammenhänge zwischen Medienpädagogik und Geschlecht werden in der
allgemeinen Fachdiskussion nur selten explizit thematisiert, zumindest wenn auf
Titel von Forschungsprojekten, Monografien und Sammelbänden abgestellt wird.1
Auch in dem im deutschsprachigen Raum zentralen medienpädagogischen Forde-
rungspapier, dem Medienpädagogischen Manifest (2009), ist der Thematik lediglich
ein Halbsatz gewidmet. Darin wird auf die Notwendigkeit pädagogischer Angebote
zur geschlechtersensiblen Arbeit verwiesen. „In der Medienpädagogik ist das Thema
Gender bisher noch nicht so recht durchgedrungen“, schrieb Klaus Schwarzer im
Jahr 2005 (S. 61). Renate Luca (2010, S. 357) sieht dies optimistischer; sie verortet
das Thema Gender in der medienpädagogischen Diskussion seit den 1980er-Jahren.2
Sie legt dabei jedoch ein breiteres Verständnis von Medienpädagogik zugrunde, das
auf mediensozialisatorische Aspekte abstellt, während sich Schwarzer auf die me-
dienpädagogische Praxis bezieht. Der feministische wissenschaftliche Diskurs zu
Medienpädagogik und Gender spiegelt sich in der Gründung der Fachgruppe
1
Für die Unterstützung bei der Recherche relevanter Literatur sei Eve Schiefer und Julia Steiner
Dank ausgesprochen.
2
Die unterschiedliche Einschätzung kann als Beispiel dafür gesehen werden, dass die genderbezogenen
Arbeiten in der allgemeinen medienpädagogischen Diskussion kaum wahrgenommen wurden.
Medienpädagogik und Gender, Medien- und Genderkompetenz 885
3
Seit 1999 firmiert die Fachgruppe unter dem Titel „Medien und Geschlechterverhältnisse“
(E-Mail-Auskunft GMK-Vorstand Sabine Eder vom 16.04.2018).
4
Die damit verknüpften breiteren Debatten zu geschlechtsspezifischer Mediennutzung sowie Medi-
ensozialisation und Geschlecht können aus Platzgründen nicht explizit berücksichtigt werden.
Hierzu sei insbesondere auf Luca (2003), Tillmann (2017) und Walkerdine (2007) verwiesen.
886 C. Roth-Ebner
gogik und Mädchenarbeit, indem beide auf Kritik und Emanzipation abzielen. Dass
der Autor an dieser Stelle exklusiv auf Mädchen rekurriert, resultiert aus dem
Umstand, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema Gender überwiegend als
Mädchenarbeit verstanden wird.
5
Dies bedeutet, dass „Geschlechterklischees und -hierarchien aufgebrochen werden und um neue
Perspektiven angereichert werden“ (Roth-Ebner 2011, S. 4). Es bezieht sich jedoch mit Judith
Butler (2004) auch auf die Durchbrechung und Überschreitung des zweigeschlechtlichen Systems
(Queer-Ansatz).
6
Nicht zuletzt deshalb wird mit dem Dieter Baacke Preis Handbuch 6 (Lauffer und Röllecke 2011a)
auch ein Schwerpunkt auf Jungenmedienarbeit gelegt.
888 C. Roth-Ebner
7
Eine Liste von Initiativen und Programmen findet sich online unter: https://www.technischebil
dung.at/paedagoginnen/maedchenfoerderung/ [23.10.2018].
Medienpädagogik und Gender, Medien- und Genderkompetenz 889
8
Hierzu sind unterschiedliche Begriffe in der Diskussion, die aber allesamt ähnlich zugeschnitten
sind. Im Sammelband von Annette Treibel et al. (2006) ist die Rede von „Gendersensibler
Medienbildung“ (Titel des Teils II) bzw. von „geschlechtergerechter Medienbildung“ (von Gehlen
und Tinsel 2006, S. 297), Klaus Schwarzer (2009) spricht von „Geschlechtssensibler“ und Karin
Eble (2006) von „Gendersensitiver Medienarbeit“.
890 C. Roth-Ebner
9
Gendersensitivität wird in den 2000er-Jahren auch in Bezug auf E-Learning thematisiert, worauf
jedoch in diesem Beitrag nicht näher eingegangen werden kann. Siehe hierzu etwa Schinzel (2004)
oder Zorn et al. (2004).
Medienpädagogik und Gender, Medien- und Genderkompetenz 891
10
Die Dimensionen sind: 1. Instrumentell-qualifikatorische Dimension (fachgerechter Umgang mit
der Technik), 2. Aneignungs- und Gestaltungsdimension (kompetente Nutzung der unterschiedli-
chen Anwendungen), 3. reflexiv-kritische Dimension (kritisches Nachdenken über Medien und
deren Inhalte, Erkennen von Gefahren), 4. medienkontrastierende Dimension (Integration des
Mediengebrauchs in den Alltag), 5. kommunikative, kooperative und transkulturale Kompetenz.
Medienpädagogik und Gender, Medien- und Genderkompetenz 893
Der Überblick über Arbeiten zu Medienpädagogik und Gender11 verweist darauf, dass
der Schwerpunkt der Auseinandersetzung auf konzeptionell angelegten Arbeiten oder
auf Arbeiten mit medienpraktischem Hintergrund liegt. Empirische Forschungsarbei-
ten sind demgegenüber deutlich unterrepräsentiert. Die wenigen Untersuchungen zu
medienpädagogischen Maßnahmen in Zusammenhang mit Genderfragen wären um
weitere Analysen zu ergänzen, welche insbesondere die Aneignung von Medien als
eigenständige Konstruktions- und Interpretationsleistung betonen (Friesem 2016) und
über Evaluationsstudien hinausgehen. Hierzu sind interdisziplinäre Zugänge erforder-
lich, welche medienwissenschaftliche und medienpädagogische Ansätze sowie Theo-
rien der Gender Studies mit ihren intersektionalen Perspektiven verbinden (Friesem
2016). Auf medienpraktischer Ebene wäre die Sammlung und systematische Analyse
vorhandener Unterrichtsmodelle und didaktischer Konzeptionen lohnenswert, welche
entgegen dem aktuellen Nebeneinander von Projekten für mehr Nachhaltigkeit in der
genderbezogenen medienpädagogischen Praxis sorgen könnten.
Weiter ist festzustellen, dass Medienpädagogik in Zusammenhang mit Ge-
schlechterfragen vorwiegend mit Bezug auf Jugendliche diskutiert und in Praxis-
projekten bearbeitet wird, es sich bei Medien- und Genderkompetenz aber um
Fähigkeiten handelt, die alle Mitglieder einer modernen, medial durchdrungenen
Gesellschaft betreffen. Daraus entsteht einerseits das Desiderat, Erwachsene stärker
als AdressatInnen einer genderbezogenen Medienpädagogik, sei es in medienpäda-
gogischer Praxis, Forschung oder Theorie, in den Blick zu nehmen. Insbesondere die
Gruppe der MediengestalterInnen stellt eine wichtige Zielgruppe dar (Götz 2003;
Melki und Farah 2004), denn sie tragen für die Medieninhalte Verantwortung.
Andererseits wäre es auch lohnend, Kinder als Zielgruppe von genderbezogener
11
Nicht berücksichtigt werden konnten in diesem Beitrag Medien als Tools für Gendertrainings
bzw. Genderarbeit. Hierzu sei exemplarisch auf Samantha Allens (2014) Projekt zu Computerspie-
len für die feministische Pädagogik verwiesen bzw. auf einen Überblick zum Einsatz von Medien-
technologien in feministischer Pädagogik im Sammelband von Sharon Collingwood et al. (2012).
Ebenso berührt die Thematik feministischer Medien und ihre Zusammenhänge mit Partizipation
und Vernetzung (etwa Zobl und Drüeke 2012) das Themenspektrum von Medienpädagogik und
Geschlecht.
894 C. Roth-Ebner
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Ich bedanke mich bei den Herausgeberinnen für die vielen wertvollen Kommentare, die zum
Entstehen dieses Artikels maßgeblich beigetragen haben.
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Psychologische Zugänge zu Medien und
Geschlecht: Medienpsychologie und
Sozialpsychologie
Nicola Döring
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 900
2 Psychologische Fragestellungen und Befunde zu Medien und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . 900
3 Psychologische Theorien zur Untersuchung von Medien und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . 907
4 Psychologische Methoden zur Untersuchung von Medien und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . 908
5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 909
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 910
Zusammenfassung
Die Psychologie als Wissenschaft vom Erleben und Verhalten von Individuen
befasst sich sowohl mit Medienfragen (Medienpsychologie) als auch mit Ge-
schlechterfragen (Sozialpsychologie). Die psychologische Forschung zu Me-
dien und Geschlecht zeigt, dass es bis heute zum Teil deutliche Geschlechterdif-
ferenzen bei der Mediennutzung und bei der Medienproduktion gibt, die unter
anderem auf psychologische Ursachen zurückgehen. Weiterhin ist gut belegt,
dass Geschlechterstereotype in den Medieninhalten und auch bei der Gestaltung
von Digitaltechnologien wie Software-Agenten oder Robotern weit verbreitet
sind. Es existieren aber auch Medienangebote, die emanzipatorisch und empo-
wernd wirken. In der Gesamtbilanz ist festzuhalten, dass sich Medien aus psy-
chologischer Sicht sowohl negativ als auch positiv auf Gleichberechtigung in den
Geschlechterverhältnissen auswirken können. Der Beitrag berichtet die wichtigs-
ten Befunde anhand von Studien und Praxisbeispielen und weist auf Limitationen
und Lücken der bisherigen psychologischen Forschung zu Medien und Ge-
schlecht hin.
N. Döring (*)
Institut für Medien und Kommunikationswissenschaft, Technische Universität Ilmenau, Ilmenau,
Deutschland
E-Mail: nicola.doering@tu-ilmenau.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 899
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_32
900 N. Döring
Schlüsselwörter
Geschlechterdifferenzen · Geschlechterstereotype · Sexuelle Objektifizierung ·
Feminismus · Mediennutzung · Medieninhalte · Medienwirkungen
1 Einleitung
Im Zusammenhang mit Geschlecht und Medien bezieht sich eine zentrale überge-
ordnete psychologische Forschungsfrage auf Geschlechterdifferenzen bei der Medi-
enauswahl, bei der Mediennutzung und – im Kontext Sozialer Medien – auch bei der
Medienproduktion. So zeigt sich beispielsweise, dass Mädchen und Frauen tradi-
tionell und bis heute eine größere Affinität zum Lesen von Büchern, Jungen und
Männer eine größere Affinität zu Computern und Digitalspielen haben (Döring
2016). Geschlechterdifferenzen zeigen sich unter anderem auch bei bevorzugten
Filmgenres (z. B. Liebesfilm versus Pornofilm oder Horrorfilm; Greenwood und
Lippman 2010).
Hinsichtlich Geschlechterdifferenzen bei der Internet-Nutzung hat sich der Fokus
verschoben: So wurden in den 1990er-Jahren noch Übersichtsartikel veröffentlicht,
die der Frage nachgingen, warum mehr Männer als Frauen das Internet nutzen
(Morahan-Martin 1998). Heute ist diese Frage obsolet, denn die Geschlechterkluft
(digital divide) beim Internet- bzw. Digitalmedien-Zugang ist weitgehend geschlos-
sen. Es existieren jedoch noch diverse digitale Ungleichheiten (digital inequalities),
d. h. Unterschiede in der Art der Internet- und Smartphone-Nutzung. So sind
Mädchen und Frauen als Content-Produzentinnen auf YouTube (Döring und Moh-
seni 2018; Döring 2019) und in der Wikipedia (Hill und Shaw 2013) deutlich
unterrepräsentiert, auf anderen Plattformen (z. B. Instagram, TikTok) dagegen über-
repräsentiert (mpfs 2018). Weiterhin zeigen sich oftmals Geschlechterunterschiede,
wenn man untersucht, ob und inwiefern sich Frauen und Männer in ihrer Online-
Selbstdarstellung auf Facebook (Tifferet und Vilnai-Yavetz 2014), in ihrem Online-
Dating-Verhalten (Aretz et al. 2017), in ihrem Umgang mit Privatsphäre im Netz
(Tifferet 2019) oder hinsichtlich ihrer Beteiligung an oder Betroffenheit von Cyber-
Mobbing (Sun und Fan 2018) unterscheiden.
Kenntnisse über Geschlechterdifferenzen im Medienumgang sind nützlich und
für die Anwendungspraxis relevant, etwa um zielgruppenspezifische Medienkom-
petenz- und Präventionsprogramme aufzusetzen (z. B. gegen geschlechtsspezifi-
sches Cybermobbing oder gegen geschlechtsspezifische Online-Hassrede; Döring
und Mohseni 2020) und um Medienprodukte (z. B. E-Learning-Programme, Dating-
Apps oder Games) zu schaffen, die Menschen aller Geschlechter gleichermaßen
ansprechen (Hartmann und Klimmt 2017).
Kritisch zu betrachten sind jedoch Studien, die Geschlechterdifferenzen unreflek-
tiert immer nur auf zwei Geschlechter beziehen und damit ein überholtes binäres
Geschlechterbild bekräftigen, anstatt die Vielfalt von Geschlechtern (z. B. Trans-
und Intergeschlechtlichkeit, genderqueere und agender Identitäten) einzubeziehen.
902 N. Döring
Problematisch sind auch Studien, die Unterschiede zwischen Frauen und Männern
empirisch aufzeigen und diese dann implizit oder explizit als biologisch determiniert
darstellen, anstatt (a) das zugrunde liegende Geschlechter-Konzept zu reflektie-
ren (wie wurde „Geschlecht“ gemessen und was genau wurde damit erfasst) und
(b) Gender-Effekte in einem breiten bio-psycho-sozialen Verständnis theoretisch
einzubetten (Hegarty und Pratto 2004; Hyde 1994). Für eine gendersensible medi-
enpsychologische Forschung zu Geschlechterdifferenzen im Medienumgang liefert
die Sozialpsychologie wichtige Theorien und Methoden.
So können für Geschlechterdifferenzen bei der Medienauswahl vielfältige psy-
chologische Erklärungsmodelle herangezogen werden, die es vergleichend empi-
risch zu prüfen gilt. Dass Mädchen und Frauen sich weniger intensiv am Gaming
beteiligen, mag beispielsweise daran liegen, dass die vorhandenen Spiele so selten
weibliche Charaktere als Identifikationsvorlagen bieten, dass sie ihnen oft zu ge-
walthaltig und zu konkurrenzorientiert sind, dass für sie in den Spielen sinnvolle
soziale Interaktion zu kurz kommt, dass ihre weiblichen Peers weniger spielen, dass
Gaming als männlich konnotiertes Hobby gilt und sie sich dabei weniger weiblich
fühlen oder dass sie in Gaming-Communitys als Mädchen und Frauen wenig
anerkannt sind und dafür öfter sexualisiert und beleidigt werden (Döring 2016;
Hartmann und Klimmt 2017).
Dort wo geschlechterdifferente Nutzungsmuster mit Ausgrenzung in Zusammen-
hang gebracht werden (z. B. Ausgrenzung von Frauen aus Gaming-Communitys:
Groen und Schröder 2015, aus der Wikipedia: Shane-Simpson und Gillespie-Lynch
2017, oder als Videoproduzentinnen auf YouTube: Döring 2015a, 2019), stehen
Mediennutzung und Medienproduktion dann im Zusammenhang mit fehlender Ge-
schlechtergleichberechtigung. Eine dezidiert psychologische Betrachtung kann hel-
fen, die psycho-sozialen Prozesse der Ausgrenzung besser zu verstehen und dann
auch wirkungsvolle Veränderungsmaßnahmen zu entwickeln.
sind (z. B. Android versus Gynoid; Malebot versus Fembot) und dabei tradierte
Geschlechterstereotype transportieren (Søraa 2017). So ist es vermutlich kein Zufall,
dass die bekanntesten digitalen Sprachassistenzsysteme, „Alexa“ von Amazon,
„Cortana“ von Microsoft und „Siri“ von Apple, mit femininen Namen, Stimmen
und Sprachmustern arbeiten; schließlich sind statusniedere Assistenzaufgaben tra-
ditionell weiblich konnotiert (Hannon 2016). Geschlechterstereotype werden bei der
Gestaltung von Robotern ganz bewusst eingesetzt, um die Erwartungen der Nutzen-
den an die Technik zu steuern. So wird ein durch Name, Stimme und körperliches
Erscheinungsbild (z. B. Haarlänge, Hip-Waist-Ratio) feminin gestalteter Roboter
geschlechtsrollenkonform als unbedrohlich, freundlich und hilfsbereit wahrgenom-
men (Eyssel und Hegel 2012; Trovato et al. 2018). Er ist aber auch sexueller
Belästigung ausgesetzt (Cercas und Rieser 2018). Eine bis ins Karikaturhafte über-
steigerte Stereotypisierung und Sexualisierung zeigen weibliche Sexroboter, also
Roboter, die für parasoziale sexuelle Interaktionen und parasoziale romantische
Bindungen einsetzbar sind (Döring 2017). Sie können bei Frauen Konkurrenzängste,
Selbstzweifel und Eifersucht auslösen (Szczuka und Krämer 2018).
Die psychologischen Negativfolgen von Geschlechterstereotypisierung und sexu-
eller Objektifizierung werden für Massenmedien, Soziale Medien und technische
Artefakte wie Roboter jeweils ganz ähnlich konzeptualisiert (Scharrer 2014). Zum
einen wird die Gefahr gesehen, dass klischeehafte, sexualisierte und objektifizieren-
de mediale und technische Frauenbilder Jungen und Männer darin bestärken, dann
auch reale Mädchen und Frauen als ihnen untergeordnete Sexualobjekte zu betrach-
ten und zu behandeln, bis hin zu sexueller Belästigung und Gewalt. Zum anderen
wird die Gefahr gesehen, dass klischeehafte mediale und technische Frauenbilder
Mädchen und Frauen vermitteln, dass sie Anerkennung nur über möglichst perfektes
Aussehen erreichen können, was sich negativ auf ihr Selbstwertgefühl und Körper-
bild auswirkt und mit Essstörungen und Depressionen in Zusammenhang gebracht
wird (APA 2007; Grabe et al. 2008).
Die psychologische Forschung in diesem Themenfeld ist wichtig, da sie den
Fortbestand ausgeprägter Geschlechterstereotypisierungen in Medieninhalten und
Medientechnologien belegt und damit auch Handlungsempfehlungen gibt: Im Sinne
einer Förderung von Medien- und Technikkompetenz müssen Medien- und Technik-
nutzende für die Verbreitung und die Gefahren medialer Geschlechterstereotypisie-
rungen sensibilisiert werden (Döveling und Fischer 2014; Döveling 2016). Im Sinne
der Medien- und Technikgestaltung ist gleichzeitig daran zu arbeiten, vielfältige,
egalitäre und auch stereotypkonträre Geschlechterrepräsentationen zu schaffen und
zu fördern.
Eine gendersensible Forschung auf diesem Feld sollte folgende Limitationen
vermeiden: (1) alleiniger Fokus auf Mädchen und Frauen, (2) einseitige Kritik und
Schuldzuweisung an Mädchen und Frauen sowie (3) essenzialistische Technikkritik:
Auch wenn Mädchen und Frauen von medialen Stereotypisierungen sowie sexueller
Objektifizierung und deren Negativfolgen besonders stark betroffen sind, sollten
Jungen und Männer sowie Menschen weiterer Geschlechter nicht ausgeblendet
werden, da auch für sie mediale Geschlechterstereotype ein Problem darstellen
können (Greenwood und Lippman 2010). So scheint z. B. der mediale Schönheits-
Psychologische Zugänge zu Medien und Geschlecht: Medienpsychologie und . . . 905
druck auf Jungen und Männer zu steigen, denen zunehmend eine übernatürliche
Muskularität abverlangt wird (Vandenbosch und Eggermont 2013). Forschungsde-
signs mit mehr geschlechtlicher Vielfalt und unter Berücksichtigung von Intersek-
tionalität wären wünschenswert (zur Quantifizierung von Intersektionalität siehe
Bowleg und Bauer 2016; Else-Quest und Hyde 2016). Aus theoretischer und
empirischer Perspektive interessant wäre etwa die Untersuchung von trans und
genderqueeren Personen, die Feminitäts-Codes (z. B. aufwändige Langhaarfrisur,
auffälliges Make-Up, körperbetonte Kleidung) verwenden, was dann aber üblicher-
weise als positiver Selbstausdruck gewürdigt und nicht als schädliche Selbst-
Sexualisierung verstanden wird.
In der rezenten öffentlichen und akademischen Debatte um gefährliche sexu-
elle Selbst-Objektifizierung von Mädchen und jungen Frauen in Sozialen Medien
(„Mädchen betreiben Striptease vor der Webcam und locken damit Pädophile an“,
„Mädchen treiben sich auf Instagram gegenseitig in die Magersucht“) sind aus
feministischer Sicht vier Probleme zu identifizieren (Döring 2015b; Egan und
Hawkes 2008; Lerum und Dworkin 2009; Page Jeffery 2017; Vanwesenbeeck
2009): 1. reduktionistische Erklärungsmodelle (Essstörungen haben vielfältige gesell-
schaftliche, familiäre, psychologische und genetische Ursachen und sind nicht auf
Medieneffekte zu reduzieren), 2. Victim-Blaming (Mädchen wird selbst die Schuld an
ihren Problemen – seien es sexuelle Viktimisierung oder Essstörungen – zugeschrie-
ben, denn sie erzeugen ihre Probleme angeblich mutwillig selbst durch ihre falsche
Mediennutzung; damit werden Scham- und Schuldgefühle gefördert und Unterstüt-
zung wird entzogen), 3. Bekräftigung von Geschlechterstereotypen (Mädchen werden
als notorisch naive, selbstverliebte und leichtsinnige Mediennutzerinnen vorgeführt;
ihre vorhandene Medienkompetenz wird negiert), 4. repressive und sexualfeindliche
Haltungen (jeglicher sexueller Selbstausdruck von Mädchen wird als schädliche
Selbst-Sexualisierung eingeordnet; es bleibt in solchen Forschungskontexten theore-
tisch und empirisch kein Raum für lustvolle und selbstbestimmte sexuelle Selbstex-
ploration in digitalen Kontexten).
In Teilen der psychologischen Fachliteratur findet sich eine essenzialistische
Technikkritik, die bestimmten Technologien – aktuell beispielsweise den Sexrobo-
tern – per se Frauenfeindlichkeit bescheinigt. Dabei wird vernachlässigt, dass Tech-
nik über öffentliche Technikdiskurse gestaltbar ist und somit Forschungsfragen
danach, welche Liebes- und Sexroboter mit welchen Funktionen und für welche
Einsatzszenarien sich denn Frauen, Queers oder Menschen mit Behinderungen
wünschen, hochrelevant sind, um den männerzentrierten Fokus bei der Technikent-
wicklung zu überwinden (Döring 2017; Döring und Poeschl 2019).
Bei allen Studien, die sich empirisch mit Geschlechterfragen befassen, ist die
Konzeptualisierung von Geschlecht entscheidend. Eine einfache binäre Einordnung
der Untersuchungsteilnehmenden als „weiblich“ oder „männlich“ greift zu kurz,
weil das Spektrum der Geschlechter größer ist (z. B. divers, trans , inter ) und weil
aus psychologischer Sicht die subjektive Geschlechtsidentität (d. h., in welchem
Maße definiert sich eine Person beispielsweise als weiblich, männlich, androgyn
oder agender; Bem 1974) aussagekräftiger ist. Geschlechterforschung sollte sich
über ihr Konzept von Geschlecht klar werden (Muehlenhard und Peterson 2011) und
dann auch passende Operationalisierungen wählen (Döring 2013). Das bis heute
populärste Instrument zur Messung der Geschlechtsidentität ist das Bem Sex Role
Inventory BSRI der Sozialpsychologin Sandra Bem (1974), das auch auf Deutsch
vorliegt (Troche und Rammsayer 2011). Es basiert auf einem eigenschaftsorientier-
ten Modell der Geschlechtsidentität, neben dem noch ein kategorienbasierter Ansatz
existiert (Wood und Eagly 2015).
908 N. Döring
5 Fazit
Die bisherige psychologische Forschung zu Medien und Geschlecht ist stark auf
Frauen und Männer beschränkt. Wichtig ist zukünftig die Berücksichtigung von
weiteren Geschlechtern (z. B. trans , inter, genderqueer, agender) sowie von Inter-
sektionalität im Sinne der Differenzierung innerhalb von Geschlechtergruppen
(z. B. nach sexueller Identität, Religion, Ethnizität, sozioökonomischem Status oder
Behinderung). Das Einlösen dieser theoretischen Ansprüche verlangt entsprechende
methodische und empirische Voraussetzungen, vor allem die Verfügbarkeit und
Nutzung differenzierter Messmethoden für Geschlechterkonzepte und entsprechend
große und heterogene Personen- und Medienstichproben.
Bislang ist die psychologische Forschung zu Medien und Geschlecht in erster
Linie auf Massenmedien konzentriert. In der letzten Dekade sind Soziale Medien
hinzugekommen. Wichtig wird es zukünftig sein, die jeweils innovativen Medien-
technologien (aktuell etwa soziale Roboter) frühzeitig und umfassend in die femi-
nistische Forschung einzubeziehen. Denn nur eine rechtzeitige Beteiligung ermög-
licht dann auch praktische Einflussnahme im Sinne geschlechtergleichberechtigter
Technikgenese.
Den medien- und sozialpsychologischen Perspektiven auf Medien und Ge-
schlecht ist gemeinsam, dass sie bis heute vor allem negative Medieneffekte betrach-
ten. Hier wäre eine stärkere Öffnung des Forschungsfeldes für positive Medien-
effekte sinnvoll. Eine einseitig negative Betrachtung läuft Gefahr, ihrerseits
Geschlechterstereotype (z. B. Mädchen als angeblich notorisch naive und inkompe-
tente Social-Media-Nutzerinnen) und repressive Normen (z. B. jeglicher sexuelle
Selbstausdruck von Mädchen in Sozialen Medien ist schädliche „Selbst-Sexualisie-
rung“) zu verbreiten. Für eine ausgewogenere Betrachtung wäre anzuknüpfen an die
humanistische Positive-Psychology-Bewegung (Seligman und Csikszentmihalyi
2014), die den traditionell einseitigen Fokus des Faches Psychologie auf Probleme
und Störungen erweitert um die Beschäftigung mit menschlichen Stärken und
Faktoren des Wohlbefindens. In dieser Tradition wird in der Sexualforschung ein
Positive-Sexuality-Ansatz vertreten, der dazu aufruft, Sexualität nicht nur mit Blick
auf Risiken und Gefahren zu behandeln, sondern Chancen und Ressourcen stärker
910 N. Döring
zu beachten (Williams et al. 2015). Dasselbe gilt für die Technikentwicklung, die
nicht einseitig mit einer Verdrängung des Menschlichen und Verschlechterung des
Zwischenmenschlichen gleichzusetzen ist, sondern – bei bewusster Technikgestal-
tung – zum „guten Leben“ beitragen kann, wie der Positive-Technology-Ansatz
ausführt (Riva et al. 2012). Ein besseres Verständnis für positive Medienwirkungen
auf die Geschlechterverhältnisse meint dabei natürlich nicht, anhaltende Probleme
mit Ausgrenzungen und Stereotypierungen in Medienwelten zu negieren.
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Frauenzeitschriften und
Männerzeitschriften
Inhalt
1 Definition und Typisierung von Frauen- und Männerzeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 916
2 Frauen- und Männerzeitschriften als Gegenstand der Genderforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 918
3 Fazit: Frauen- und Männerzeitschriften aus feministischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 923
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 924
Zusammenfassung
Kommerzielle Frauen- und Männerzeitschriften sind als geschlechterdifferenzieren-
de Medienangebote kritisch diskutierter Gegenstand feministischer Medien- und
Kommunikationsforschung. Ihre Inhalte spiegeln aktuelle, gesellschaftlich geteilte
Perspektiven auf Geschlecht, die jedoch stets dem Common Sense entsprechen und
überwiegend heteronormativ orientiert sind. Ihre Rezeption wird entsprechend als
Auseinandersetzung mit geschlechtsgebundenen Alltagserfahrungen verstanden,
innerhalb derer Geschlecht eher affirmiert als dekonstruiert wird.
Schlüsselwörter
Frauenzeitschrift · Männerzeitschrift · Genderkonstruktionen · Medienrezeption ·
Geschlechterrepräsentationen
K. F. Müller (*)
Institut für Kommunikationswissenschaft, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster,
Deutschland
E-Mail: kathrin.mueller@uni-muenster.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 915
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_56
916 K. F. Müller
1
Röser definiert eine überwiegend weibliche Leser_innenschaft als einen Anteil von 70 Prozent
weiblicher Leserinnen an der Gesamtleser_innenschaft (1992, S. 82). Diese Definition hat sich zur
Bestimmung eines überwiegend weiblichen Publikums langfristig als funktional erwiesen (Müller
2010a, S. 19–21).
Frauenzeitschriften und Männerzeitschriften 917
Zeitschriften, die sich über vergeschlechtlichte Themen wie Auto, Sport oder
Sexualität implizit an Männer als Zielgruppe gerichtet haben, gab es schon vor dem
Aufkommen eher Lifestyle-orientierter Männerzeitschriften (Röser 2005, S. 24).
Männerzeitschriften dieses neuen Typs, die sich dezidiert über das Geschlecht an
ihre Zielgruppe wenden, sind im Vergleich zu Frauenzeitschriften ein relativ junges
Genre, das erst seit den 1990er-Jahren auf dem Zeitschriftenmarkt präsent ist
(Meuser 2001, S. 219). Angelehnt an die oben genannte Definition von Frauenzeit-
schriften betont Bregenstroth (2003, S. 71), dass Männerzeitschriften einen ähn-
lichen Charakter aufweisen, sich also primär mit Themen des Privatlebens beschäf-
tigen und diese anschaulich präsentieren, eine positive Grundhaltung vermitteln,
Kontinuität bezüglich ihrer Inhalte aufweisen und die Differenz zwischen Männern
und Frauen betonen (Bregenstroth 2003, S. 70). Diese Definition trifft auf Zeitschrif-
ten wie Men’s Health oder GQ (Gentlemen’s Quarterly) zu, die vor allem die
Themen Fitness, Lifestyle, Mode und Partnerschaft aufgreifen. Mittlerweile richten
sich zunehmend auch Zeitschriften wie die Kochzeitschrift Beef oder die auf
Berufsfragen spezialisierte Business Punk gezielt an Männer. Wie Frauenzeitschriften
zeichnen sich Männerzeitschriften dadurch aus, dass sie spezifische (geschlechtsge-
bundene) Aspekte oder Erfahrungen aus dem Leben von Männern aufgreifen. Das ist
insofern bemerkenswert, als Männlichkeit in der Gesellschaft lange Zeit als Norm
galt und deshalb medial kaum verhandelt wurde (Meuser 2001, S. 221–222). Das
Aufkommen von explizit als solche bezeichneten Männerzeitschriften weist auf eine
Veränderung des gesellschaftlichen Verständnisses der männlichen Geschlechter-
rolle sowie der Körperlichkeit von Männern hin, die als Folge des gesellschaftlichen
Wandels, bedingt durch die Frauenbewegung und die Etablierung einer somatischen
Kultur (Meuser 2001, S. 224), aufgefordert sind, Männlichkeit bezüglich Identität
und Körper neu zu definieren.
2
Zu Strukturen und Entwicklungen feministischer Zeitschriften vgl. u. a. Krainer 1995; Geiger
2002; Geiger und Hauser 2008; Horak 2008; Notz 2008; Susemichel et al. 2008; zu an lesbisch
lebende Frauen gerichtete Formate vgl. Fieseler 2008.
918 K. F. Müller
1991; Röser 1992). Sie untersuchen den redaktionellen Teil der klassischen Frauen-
zeitschrift Brigitte und veranschaulichen, dass der Inhalt der Zeitschrift die Entwick-
lung des weiblichen Lebenszusammenhangs aufgreift. So veränderte sich das Frau-
enbild in Brigitte vom traditionellen Rollenbild der Hausfrau und Mutter hin zur
Thematisierung von Frauen als Mutter und Berufstätige – eine Entwicklung, die
auch das Frauenbild in der Gesellschaft nahm (Röser 1992, S. 303). Auch Horvath
(2000) kann auf Basis einer Bildanalyse nachweisen, dass das in Brigitte visuell
repräsentierte Frauenbild die gesellschaftliche Haltung zu Modernisierungsfragen
aufgreift. Inhaltsanalysen US-amerikanischer Frauenzeitschriften kommen bezüg-
lich der Übereinstimmung zwischen dem Frauenzeitschrifteninhalt und dem gesell-
schaftlichen Common Sense zu ähnlichen Ergebnissen (z. B. Macdonald 1995;
McCracken 1993). Diese Befunde bedeuten jedoch nicht, dass sich die Repräsenta-
tionen von Frauen in klassischen Frauenzeitschriften pluralisierten. Den Referenz-
punkt für die Thematisierung weiblicher Lebenszusammenhänge bildet stets die gut
gebildete, heterosexuelle, weiße Frau aus der Mittelschicht. Lesbisch lebende
Frauen, Migrantinnen oder Arbeiterinnen werden in Frauenzeitschriften weiterhin
kaum repräsentiert. Eine Ausnahme bilden Frauenzeitschriften wie Tina, die eine
Mischung aus Beratung und Unterhaltung für Arbeiterinnen als Zielgruppe anbieten.
Entsprechend thematisieren sie deren Lebenszusammenhang (Röser 1992, S. 289).
Ausgehend von der Frage, welches Vergnügen Leserinnen bei der Lektüre von
Frauenzeitschriften empfinden (McRobbie 1999, S. 49–50), wurde im anglo-
amerikanischen Kontext zunächst theoretisch diskutiert, wie das Rezeptionserleben
in die Forschung zu integrieren sei. Ab den 1990er-Jahren wurden erste Rezepti-
onsstudien durchgeführt, bei denen Leserinnen befragt wurden (z. B. Ballaster et al.
1993). In diesem Zusammenhang wurde erstmals debattiert, wie Medienvergnügen
bei der Lektüre geschlechterdifferenzierender Medieninhalte entsteht. Als Konse-
quenz dieser Debatte wurde das Verhältnis von Medieninhalt, Medienwirkung und
geschlechtsgebundenen Alltagserfahrungen differenzierter betrachtet als zuvor. Es
wurde gezeigt, dass sich der Einfluss der Inhalte von Frauenzeitschriften auf das
Frauenbild der Leserinnen nicht durch einen kausalen Wirkungszusammenhang
erklären lässt (z. B. Gauntlett 2004, S. 187). Die Lektüre von Frauenzeitschriften
erweist sich vielmehr als identitätsstiftend bezüglich des Selbstverständnisses als
Frau (Hermes 1995, S. 40). Ein weiteres zentrales Forschungsergebnis ist zudem,
dass das Frauenzeitschriftenlesen mit den Alltagsrhythmen der Leserinnen harmo-
niert (Hermes 1995, S. 20) und die Inhalte als alltagspraktisch empfunden werden.
Diese Zusammenhänge bestätigen sich in weiteren Forschungsarbeiten (Müller
2010a, S. 231–262; Ytre-Arne 2011a). Klassische Frauenzeitschriften werden rezi-
piert, weil mit der Lektüre Leserituale verbunden sind, die als angenehm empfunden
werden. Die Leserinnen schätzen es, schnell in die Lektüre ein- und wieder ausstei-
gen zu können, falls sie unterbrochen werden (Ytre-Arne 2011a, S. 219–220; dazu
auch Hermes 1995). Die Inhalte von klassischen Frauenzeitschriften werden vor
920 K. F. Müller
dem Hintergrund des Alltags der Leserinnen abgewogen und für relevant befunden
(Ytre-Arne 2011a, S. 220–221). Ferner werden Frauenzeitschriften im Kontext des
Medienrepertoires dafür geschätzt, dass sie geschlechtsgebundene Themen sichtbar
machen, die in anderen Medienangeboten nicht vorkommen (Ytre-Arne 2011a,
S. 222; Müller 2010a, S. 302–304). Darüber hinaus hat das alltags- und lebensnahe
Lektüreerlebnis eine zentrale Bedeutung. Deshalb kommen üblicherweise als öffent-
lichkeitsrelevant bewertete Themen – also solche mit Bezug zu institutioneller
Politik – in Frauenzeitschriften nur bedingt vor (Ytre-Arne 2011b; vgl. dazu auch
Kössler 2012) und werden vom Publikum auch nicht erwartet (Ytre-Arne 2011b,
S. 258). Unabhängig von der geringen Thematisierung politischer Fragen schreiben
die Leserinnen den Inhalten von Frauenzeitschriften eine hohe kulturelle Relevanz
zu. Ytre-Arne argumentiert deshalb mit Hermes (2005) sowie Dahlgren und Sparks
(1992), dass Frauenzeitschriften Ressourcen bereitstellen, die relevant für die Erfah-
rung kultureller Zugehörigkeit sind. Das Medium dient als Vermittler von Erfahrun-
gen und geteilter Symbole, die kollektive – etwa geschlechtliche – Identitäten prägen
(Ytre-Arne 2011b, S. 259) (zur Bedeutung von Frauenzeitschriften als Kompendien
weiblicher Alltagskultur siehe Müller 2010a, S. 279–314).
Im deutschsprachigen Raum erschienen erste Rezeptionsstudien um die Jahr-
tausendwende. Kathrin Steinbrenner (2002) untersucht den Einfluss von Gefühlen
auf die Wahl und die Rezeption von Frauenzeitschriften und kommt zu dem
Ergebnis, dass „das emotionale Zutrauen, das der Rezipient [sic!] zu dem Medium
hat“ (Steinbrenner 2002, S. 214), entscheidend für eine dauerhafte Bindung zu
einer Zeitschrift ist. Zwei weitere Studien (Wilhelm 2004; Meyen 2006) analysie-
ren individuelle Motive für die Rezeption von Frauenzeitschriften und konzentrie-
ren sich dabei auf die Aspekte Alltag, Emotion und Identitätsmanagement. Sie
zeigen, dass Frauenzeitschriften als Ideengeber und Identitätsstifter gelesen wer-
den und als Status- und Lebensstilsymbol gelten. Basierend auf der Theorie der
Cultural Media Studies und unter Einbeziehung dekonstruktivistischer Perspekti-
ven zeigt eine qualitative Studie (mittels Leitfadeninterviews), dass die klassische
Frauenzeitschrift Brigitte produktiv im Alltag angeeignet wird und dass bei der
Lektüre ein Prozess des Doing Gender stattfindet (Müller 2010a, 2012, 2013). Das
Lesen von Brigitte wird von Frauen unterschiedlich in den – auch vergeschlecht-
lichten – häuslichen Alltag eingebunden und dient beispielsweise als „symboli-
scher Feierabend“, wenn es zur Abgrenzung von Familienaufgaben benutzt wird
(Müller 2010a, S. 239, b). Erstmals werden zudem Gender-Artikulationen bei der
Lektüre nachgewiesen und gezeigt, dass Geschlecht sowohl über traditionelle
Rollenentwürfe als auch in Gender-Identifikationen jenseits heteronormativer
Konzepte sowie jenseits von Weiblichkeitsstereotypen konstituiert wird (Müller
2010a, S. 348–351, 353–354, 2013, S. 63–66). Bei der Lektüre von Frauenzeit-
schriften wird also Geschlecht hervorgebracht, jedoch nicht ausschließlich im
Sinne des Zeitschrifteninhalts, sondern produktiv und identitätsstiftend gemäß
dem Selbstverständnis der Leser_innen. Das Frauenzeitschriftenlesen ist demnach
ein ambivalentes Vergnügen, bei dem sich Leser_innen durchaus kritisch und
produktiv mit den Inhalten des Mediums auseinandersetzen (zu ähnlichen Befun-
den kommt Gauntlett 2004, S. 196–197) und sich bei der Bewertung der Reprä-
Frauenzeitschriften und Männerzeitschriften 921
Eine relativ junge Debatte stellt die Auseinandersetzung mit der Frage dar, inwiefern
Frauenzeitschriften postfeministische und neoliberale Diskurse unterstützen, indem
sie einen „Stil globalisierter Weiblichkeit“ (McRobbie 2010, S. 93) kommunizieren
und in Modefotografien instabile Weiblichkeit inszenieren (McRobbie 2010,
S. 143). Kauppinen (2013) untersucht davon ausgehend 20 Artikel der deutschspra-
chigen Cosmopolitan zu den Themen Sexualität und Arbeit, um die Vernetzung
zwischen Postfeminismus und Neoliberalismus im Kontext zeitgenössischer Medi-
enkultur herauszuarbeiten. Zentral ist dabei die Frage, wie der Diskurs vom post-
feministischen Selbstmanagement im Rahmen der Artikel der internationalen
Frauenzeitschrift Cosmopolitan funktioniert. Kauppinen macht deutlich, dass Cos-
mopolitan das Bild einer selbstständigen und selbstbewussten Frau entwirft, das aber
nur scheinbar dem feministischen Grundgedanken folgt. Es ist vielmehr Ausdruck
einer Anrufung des unternehmerischen Selbst, welches im Sinne neoliberaler Staat-
lichkeit zur Selbstregulierung auffordert, mit dem Ziel, maximale Leistungsbereitschaft
hervorzubringen (Kauppinen 2013, S. 96). Thomas und Kruse (2013) untersuchen die
Präsenz neoliberaler postfeministische Diskurse im Inhalt neuerer popfeministischer
Zeitschriften und fragen konkret, wie Missy Magazine und fiber die von McRobbie
definierten Aufmerksamkeitsräume des Mode- und Schönheitssystems, von Bildung
und Erwerbstätigkeit, Sexualität, Fertilität und Reproduktion sowie der Globalisierung
(McRobbie 2010, S. 93) ansprechen.3 Die Autorinnen kommen zu dem Ergebnis, dass
die Zeitschriften teilweise neoliberale Weiblichkeiten, insbesondere der selbstbewuss-
ten und erfolgreichen Frau, anrufen, „Kritik an bestehenden Herrschaftsverhältnissen
häufig mit Bezug auf Alltagsleben im Sinne von ‚Lifestyle-Politics‘“ thematisieren,
aber durchaus hegemoniale Konstruktionen durchkreuzen und alternative Aufmerk-
samkeitsräume eröffnen (Thomas und Kruse 2013, S. 186).
Die Frauenzeitschriftenforschung bleibt ein dynamisches Feld, in dem weiterhin
Wirkungs-, Repräsentations- und Entwicklungsfragen verfolgt werden. Beispiels-
weise wird der Einfluss von Geschlechterdarstellungen in Porträts in Frauenzeit-
schriften auf die Zukunftsvorstellungen junger Frauen (z. B. Knobloch-Westerwick
et al. 2014) oder die Repräsentation ethnischer Gruppen im Zeitschrifteninhalt
analysiert (z. B. Hill 2016). Einen weiteren Schwerpunkt bilden Studien zu Reprä-
sentation und Rezeption von Gesundheitsthemen (z. B. McIntosh 2014) und zum
Aufgreifen bestimmter lebensweltlicher Aspekte durch Frauenzeitschriften wie etwa
Erziehungsfragen (z. B. Prusank und Duran 2014) sowie zu nationalspezifischen
Entwicklungen des Genres (z. B. Irimescu 2015) oder spezifischen Themen in
3
Es bleibt offen, welchen Umfang das untersuchte Sample hat und wie die Inhaltsanalyse konkret
methodisch umgesetzt wurde.
922 K. F. Müller
dabei genauso wie das des ‚Kerls‘ als „discoursive fictions“ (Stevenson et al. 2003,
S. 129) zur Stabilisierung der Geschlechteridentität herangezogen (Bregenstroth
2003, S. 163). Männerzeitschriften bieten Lesern damit eine Legitimierung, weiter-
hin traditionelle Männerthemen im Einklang mit ihren eigenen Interessen zu rezi-
pieren (Stevenson et al. 2003, S. 123; Bregenstroth 2003, S. 164).
Neuere Forschungsarbeiten versuchen das Feld der Männerzeitschriften zu sys-
tematisieren und beziehen dabei auch Zeitschriften, die Männer implizit ansprechen
und deshalb vormals nicht als solche bezeichnet wurden (wie etwa Playboy u. a.), in
das Forschungsgebiet ein. Mooney (2014) identifiziert drei Generationen von Män-
nerzeitschriften mit Bezug zu sich wandelnden Männlichkeitskonzepten von tradi-
tioneller Männlichkeit zum „neuen Mann“ und zum „ganzen Kerl“. Diese unter-
schiedlichen medialen Repräsentationen reflektieren breitere gesellschaftliche
Diskurse wie die Männlichkeitskrise ebenso wie ökonomische Interessen der Medi-
enindustrie und Werbewirtschaft am Mann als Konsumenten.
Die Übersicht macht deutlich, dass Frauen- und Männerzeitschriften als Gegenstand
der kommunikationswissenschaftlichen Geschlechterforschung immer auch Bezug
auf die Entwicklung und den jeweiligen Status quo gesellschaftlich geteilter Ge-
schlechterrollenentwürfe sowie deren Wandel nehmen. Aneignungsstudien zeigen
entsprechend, wie Leserinnen und Leser diese Entwürfe dekodieren und auf jener
Basis eigene Vorstellungen von Geschlecht und geschlechtlicher Identität immer
wieder neu aushandeln. Kritisch anzumerken ist, dass Frauen- und Männerzeit-
schriften Zweigeschlechtlichkeit nicht hinterfragen, sondern im Gegenteil diese als
ein natürlich gegebenes Ordnungsprinzip voraussetzen. Durch die Ansprache der
Leser- und Leserinnenschaft über die Kategorie Geschlecht tragen sie, indem sie
Männlichkeit und Weiblichkeit kontrastieren, maßgeblich zur Affirmation einer
natürlich erscheinenden Geschlechterdifferenz bei (Müller 2010a, S. 398). Dies
impliziert nicht nur die Aufrechterhaltung vorherrschender Machtstrukturen, son-
dern lässt auch alle Menschen außen vor, deren Identität sich einer Einordnung in
diese duale Geschlechterkonzeption entzieht.
Weitere Anregungen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Botschaften
und der Rezeption von Frauen- und Männerzeitschriften lassen sich im Kontext
neoliberaler Diskurse ableiten. Forscher_innen sind demzufolge aufgefordert,
geschlechtsdifferenzierende Medien vor diesem Hintergrund einer kritischen Beob-
achtung zu unterziehen. Dabei sollten auch produktive Momente im Rezeptionspro-
zess, innerhalb derer die Leser_innen kreativ eigene Bedeutungen hervorbringen,
hinsichtlich ihrer Verstrickung in gesellschaftlich vorherrschende Diskurse und
bezüglich einer Anpassung an Prozesse der Selbstregulierung und Selbstoptimie-
rung hinterfragt werden.
924 K. F. Müller
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Geschlechterbilder im Kinderfernsehen
Maya Götz
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 930
2 Geschlechterverhältnisse im Kinderfernsehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 930
3 Wie kommt es zu diesen Konstruktionen im Kinderfernsehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 933
4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935
Zusammenfassung
Fernsehen ist nach wie vor das Leitmedium für Kinder und bietet mit seinen Ge-
schlechterrepräsentationen Vorbilder von gesellschaftlich akzeptierter und erstrebens-
werter Männlichkeit und Weiblichkeit. Gendersensibilisierte Medienforschung weist
nach, dass Mädchen und Frauen deutlich weniger im Kinderfernsehen vorkommen
und wenn, dann in tradierten Klischees oder als auf allen Gebieten perfekte und
leistungsfähige Frau. Insbesondere im Zeichentrickbereich werden Mädchen und
Frauen mit einem hypersexualisierten Körper präsentiert, der auf natürlichem Wege
nicht zu erreichen wäre, ein Phänomen, das bei den männlichen Figuren so gut wie
nie auftritt. Auch inhaltlich steht den Jungen ein breiteres Angebot zur Verfügung, das
sich allerdings polarisierend in die Superhelden auf der einen Seite und die lustigen
Loser, die alle Anforderung willentlich unterlaufen, auf der anderen Seite verfestigt
hat. Ein Hintergrund für dieses Ungleichgewicht in der Häufigkeit von Mädchen- und
Frauen- bzw. Jungen- und Männerfiguren sowie für deren stereotype Repräsentation
ist die Produktionsmacht, die vor allem in der Hand von Männern liegt.
Schlüsselwörter
Kinderfernsehen · Gender · Mädchenbild · Jungenbild · Produktion
M. Götz (*)
IZI, Bayerischer Rundfunk, München, Deutschland
E-Mail: maya.goetz@br.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 929
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_57
930 M. Götz
1 Einleitung
Kinder sehen 78 Minuten täglich fern (Media Perspektiven 2016), und nach wie vor
ist es das am meisten genutzte Medium (Medienpädagogischer Forschungsverbund
Südwest 2017). Fernsehen ist Geschichtenerzähler und Fenster in die Welt, das in
vielen Familien in den Alltag fest eingebunden ist und zu den täglichen Ritualen
gehört. Mit jeder Sendung werden dabei auch Bilder von Frauen und Männern, von
Jungen und Mädchen präsentiert. Diese zeigen Ideale und Zukunftsperspektiven auf
und eröffnen gedanklich Räume von „typisch weiblich“ und „typisch männlich“. Es
sind von Erwachsenen erdachte, inszenierte und geformte Geschichten und Berichte,
welche die Grundlagen für die Geschlechterbilder von Kindern verfestigen oder
auch neu erschaffen.
2 Geschlechterverhältnisse im Kinderfernsehen
Die Menschheit kommt vereinfachend gesprochen zu nahezu gleichen Teilen als Män-
ner und Frauen vor. Bei den Hauptfiguren im Kinderfernsehen ist dies nicht der Fall.
2017 lag dabei das Verhältnis von Jungen und Männern zu Mädchen und Frauen
als Hauptfiguren in fiktionalen Programmen bei 65 % zu 33 %.1 Damit ist Deutsch-
land nicht allein. Auch im internationalen Vergleich kommen auf eine Mädchen-
oder Frauenfigur zwei Männer- oder Jungenfiguren (Götz et al. 2018).
2016 analysierte das Team Prommer, Linke und Stüwe anhand von 2692 Einzel-
programmen das deutsche Kinderfernsehen. Hierbei zeigte sich: Die meisten Haupt-
figuren im Kinderfernsehen (97 %) sind eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen.
72 % davon waren Jungen- und Männerfiguren bzw. männliche Wesen, 28 % der
HauptakteurInnen waren Mädchen- und Frauenfiguren bzw. weibliche Wesen. Über
die Hälfte (53 %) aller von Prommer et al. (2017) untersuchten Sendungen kam
gänzlich ohne weibliche Protagonistin bzw. Hauptakteurin aus. Noch deutlicher wird
das Geschlechterungleichgewicht bei den Fantasiewesen. Sind die Hauptfiguren in
Kindersendungen zum Beispiel Tiere, Pflanzen oder Objekte, so haben mehr als acht
von zehn Figuren Namen von Jungen und werden grammatikalisch als „er“ angespro-
chen (Prommer et al. 2017). Das Geschlechterverhältnis im Kinderfernsehen hat sich
dabei in den letzten zehn Jahren quantitativ nur minimal verbessert (Götz et al. 2018).
Das ungleiche Geschlechterverhältnis zeigt sich dabei nicht nur im fiktionalen
Kinderfernsehen. Bei den Wissenssendungen sind es vor allem Männer wie Armin,
Christoph, Ralph oder Johannes (Sendung mit der Maus), Willi (Willi wills wissen),
Eric (Pur +), Fritz Fuchs (Löwenzahn) oder Tobi (Checker Tobi), die Kindern die
Welt erklären. Selten kommen Co-Moderatorinnen wie Shary zu Ralph (Wissen
macht Ah!), Malin (Sendung mit der Maus) oder Siham bei Neuneinhalb als Exper-
tinnen zu Wort. Von einer gleichberechtigten Repräsentation sind sie jedoch weit
entfernt (Prommer et al. 2017).
1
sowie 2 % nicht eindeutig zu identifizierende Wesen.
Geschlechterbilder im Kinderfernsehen 931
jedoch so gut wie nie, stattdessen konsumieren sie mehr und kaufen sechsmal mehr
Kleider ein als die männlichen Figuren (Chan 2012).
Es gibt aber auch Mädchen- und Frauenfiguren, die im Mittelpunkt stehen, kraftvoll
aktiv sind, eine Mission erfüllen, ihre Ziele mit Durchsetzungskraft verfolgen und hierfür
spezielle Kräfte haben. Dennoch zeigt die Analyse von 70 Zeichentrick-SuperheldInnen
auch, dass Mädchen- und Frauenfiguren in ihren Reaktionen deutlich öfter als extrem
emotional und besorgt über ihr Aussehen dargestellt werden. Sie stellen eher Fragen,
sprechen weniger Bedrohungen aus und arbeiten meist im Team zusammen (88 % aller
Superheldinnen). Zudem haben im Vergleich zu Superhelden doppelt so viele Super-
heldinnen einen Mentor, und dieser ist fast immer ein Mann (Baker und Raney 2007).
Eine Ausnahme stellen jene starken Mädchen dar, welche als Titelheldinnen dann
namensgebend für die Sendungen sind. Sie heißen Kim Possible, Bibi und Tina,
Barbie, Mia (and Me), Die Hexe Lillifee etc. Es sind Medienarrangements, die
gezielt für Mädchen hergestellt wurden und sich weltweit erfolgreich vermarkten.
Mit ihnen entsteht eine neue Tendenz, die Add-on-Figur. Bei ihr werden diverse
Eigenschaften, die als ideal für Mädchen und Frauen angesehen werden, addiert. Sie
sind stets gut gelaunt, freundlich, organisiert, kompetent, offen und engagieren sich
für die Bedürfnisse anderer. Dabei sind sie extrem sportlich und haben selbstver-
ständlich einen sehr schlanken Körper sowie volles, langes Haar. Es sind Ideal-
figuren, die wiederum neuen Druck auf Mädchen ausüben (Götz 2017).
Die Jungen- und Männerfiguren sind im Vergleich mit einer deutlich breiteren
Varianz angelegt. Es gibt zum einen die kompetenten Hauptfiguren und Superhel-
den, die im Unterschied zu den weiblichen Figuren besser mit ihren besonderen
Kräften umzugehen wissen, kritische Situationen gekonnt meistern und häufiger und
in größerem Stil die Welt retten (Baker und Raney 2007). Winter und Neubauer
haben dabei zwei grundsätzliche Typen herausgearbeitet: Der „Obendrüber-Held“
bietet wie Batman oder Superman allen Herausforderungen kompetent die Stirn und
besiegt am Ende das Böse, während der zweite Typ, der „Untendrunter-Held“, den
Anforderungen, die an ihn herangetragen werden, nicht genügt und unter den
Herausforderungen des Lebens sozusagen „untendurch schlüpft“, wie Bart und
Homer Simpson oder SpongeBob. Obwohl sie sich aber gewollt oder ungewollt
nicht so verhalten, wie es sozial angemessen ist, gehen sie am Ende als coole
Gewinner aus der Situation heraus (Winter und Neubauer 2013).
Insgesamt sind Jungenfiguren im Fernsehen aber nicht nur von den Charakterei-
genschaften, die ihnen zugeschrieben werden, aktiver, dominanter und fähiger. Sie
werden auch in ihrem sozialen Status sehr viel häufiger in verantwortungsvolleren
Positionen inszeniert. Beispielsweise sind 81 % aller AnführerInnen von Gruppen
im deutschen Kinderfernsehen männlich (Prommer et al. 2017).
men zeigt, dass extreme Dünnheit und erotisch aufreizende Kleidung bei den
weiblichen Filmfiguren fünfmal häufiger als bei männlichen Figuren vorkommt.
Im Zeichentrick liegt diese Zahl noch höher, insbesondere was die Hypersexualisie-
rung des Körpers und der Wespentaille angeht (Smith und Cook 2008).
Die Hypersexualisierung lässt sich durch einen in der Attraktivitätsforschung gut
eingeführten Wert messen, die sogenannte Waist-to-Hip-Ratio (WHR), die sich auf
das Verhältnis von Taille zu Hüfte bezieht. Der Idealwert liegt bei einer schlanken
Frau bei 0,8; bei ausgesprochen schlanken Models kann er den Wert 0,7 annehmen.
In einer Medienanalyse von 102 international vermarkteten Mädchen- und junge
Frauenfiguren im Zeichentrickprogramm zeigte sich: Zwei von drei Zeichentrick-
mädchen haben eine Wespentaille, die auf natürlichem Weg nicht zu erreichen ist.
Jedes zweite Zeichentrickmädchen unterschreitet sogar den Wert von Barbie (0,6),
ein Maß, welches sich nur durch operative Entfernung der unteren Rippe erreichen
ließe (Götz und Herche 2013). In einer repräsentativen Stichprobe für das Kinder-
fernsehen in Deutschland im Jahr 2016 bestätigten sich diese Ergebnisse. Eine
entsprechende Hypersexualisierung von Männerfiguren im Zeichentrick kommt
jedoch nur in Ausnahmefällen vor (Linke et al. 2017).
Fällen das Bild von Männern auf Mädchen und Frauen, wodurch Frauen „vorge-
führt“ werden. Dies hat inhaltliche Konsequenzen. Frauen werden im Sinne von
Simone de Beauvoir als „die anderen“ konstruiert. Sie sind die Abweichung von der
Norm, die selbstverständlich männlich ist. Damit kommen sie zum einen weniger
häufig vor und wenn, dann vor allem in Rollen, die nicht „männlich“ sind
(de Beauvoir 1968). Diese können durchaus wertschätzend und bewundernd
gemeint sein – im Sinne der Inszenierung eines weiblichen Ideals, das dann oftmals
hypersexualisiert ist. Laura Mulvey fasste dies in der Formulierung des dreifachen
„männlichen Blicks“ (1975) zusammen. Der meist männliche Regisseur inszeniert
die Figuren, der (männliche) Kameramann wählt Perspektive und Bildausschnitt und
der (meist männliche) Protagonist, der im Mittelpunkt der Handlung steht, blickt auf
die Frauenfiguren und macht sie so auf dreifache Weise zum Objekt seiner Begierde
(Mulvey 1975). Diese für den Hollywoodfilm der ersten Filmjahrzehnte formulierte
Feststellung gilt gewissermaßen auch für das heutige Kinderfernsehen. Es steht nicht
unbedingt eine abwertende Absicht hinter der Selbstverständlichkeit von Schönheit,
der Hypersexualisierung oder der Begrenzung der Figuren auf die Attraktivität, die
sie für das andere Geschlecht haben. Es sind kreative, zum Objekt gemachte
Fantasien (Objektivationen) einer durch Geschlechterhierarchie und -ungleichheit
gekennzeichneten Perspektive, die in von Männern dominierten Produktionskontex-
ten reproduziert wird.
Welche inhaltliche und kommerzielle Kraft Geschichten haben können, die von
Frauen geschrieben und umgesetzt werden, zeigt sich nicht zuletzt am Erfolg von
Disney’s Film Frozen, in dem Jennifer Lee die zentrale Rolle als Autorin und
Regisseurin übernahm. In dem Animationsfilm kommt es an einigen Stellen zum
Bruch mit dem bisherigen Disney-Wertekosmos. Ironisch wird mit klassischen
Erzählmustern wie Liebe auf den ersten Blick und Heirat gespielt und mit der
unhinterfragten Dominanz der heterosexuellen Liebe zugunsten der Schwesternliebe
gebrochen. Als erste Frauenfigur darf Elsa „good girl“ und „bad girl“ sein und als
machtvolle Frauenfigur durchgehend positiv besetzt bleiben. Anders als alle Prin-
zessinnen vor ihr muss sie am Ende nicht die heteronorme Partnerschaft als Lebens-
ziel anstreben und eröffnet damit auch Queer- und Diversity-Lesarten (Steinhoff
2017). Gleichzeitig verkörpert sie aber auch neoliberale und postfeministische Werte
von Individualismus und Selbstoptimierung bis hin zum „sexy Catwalk als Zeichen
für Freiheit“ als neue Ziele für Mädchen und Frauen und verbleibt damit nicht nur
äußerlich im Wertekanon von Disney.
Nicht zuletzt an kommerziellen Kreationen wie den „Disney Princesses“, bei
denen aus marktstrategischen Überlegungen heraus mehrere Filmfiguren der
Disney-Zeichentrickfilme zu einer Marke zusammengefasst wurden, zeigt sich die
Langlebigkeit von Geschlechterstereotypen. Nachdem 2000 die Figuren Cinderella,
Dornröschen, Arielle, Schneewittchen und Jasmine zu einer Marke geformt wurden,
konnte eine breite Kette von Lizenzprodukten auf den Markt gebracht werden
(Orenstein 2011). Während die Disney-Princess-Filme in der Vermarktung „nur“
2,5 Milliarden Dollar Gewinn machen, verdient der Konzern durch die Produktreihe
vier Milliarden Dollar weltweit jährlich (Barnes 2017). Bereits die Filme der Disney-
Klassiker stellen sich als ausgesprochen geschlechterstereotyp und wenig divers dar
Geschlechterbilder im Kinderfernsehen 935
4 Fazit
Literatur
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Wer schön sein will . . . Körpernormen und
Schöhnheitsdiskurse in den Medien
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 938
2 Attraktivität und Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 938
3 Mediale Diskurse: Schönheitsideale und Körperbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 941
4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 946
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 947
Zusammenfassung
Medien tragen mit ihren Bildern und Inszenierungen von Körpern entscheidend zur
Konstruktion und Verbreitung von Schönheitsidealen und Körpernormen bei – und
dienen damit auch RezipientInnen zur Orientierung, wenn sie ihre Körper formen
und optimieren. Attraktivität und Schönheit sind zeit- und kontextabhängig und
daher veränderbar. Schönheitsideale und „ideale“ und „schöne“ Körper in Werbung,
in sozialen Medien oder aber auch in Reality-Formaten im Fernsehen werden
diskursiv hergestellt. Doch auch medial verbreitete Abweichungen von Schönheits-
normen – wie etwa die Werbekampagne Dove oder neuere Staffeln von Germany’s
Next Topmodel verbleiben in einem neoliberalen, hegemonialen Gesellschaftsrah-
men. Die Rezeption medialer Schönheitsimperative ist dabei keineswegs einheitlich,
sondern lässt genügend Raum für kritische Distanz.
Schlüsselwörter
Körper · Schönheit · Diskurs · Medien · Weiblichkeit
J. E. Goldmann (*)
Universität Salzburg, Salzburg, Österreich
E-Mail: juliaelena.goldmann@sbg.ac.at
L. Herbst
Universität Salzburg, Salzburg, Österreich
E-Mail: liesa.herbst@sbg.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 937
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_72
938 J. E. Goldmann und L. Herbst
1 Einleitung
Medien bzw. bestimmte Medienangebote tragen mit ihren Bildern und Inszenierun-
gen von makellosen, perfekten „Körpern nach Maß“ (Bublitz 2012, S. 25) und der
Bewerbung von Kosmetikprodukten, Diäten, Fitnessangeboten und kosmetischen
Operationen entscheidend zur gesellschaftlichen Konstruktion des „Schönheitsmy-
thos“ (Wolf 1991) und „Körperkults“ (Gugutzer 2012) bei. Models in lasziven,
unbequem anmutenden Posen, mit perfekt proportionierten, digital nachbearbeiteten
Körpern begegnen uns tagtäglich auf Werbeplakaten, auf Titelseiten von Magazinen,
in der Fernsehwerbung. Neben spärlich bekleideten Teenie-Vorbildern mit Porno-
Chic, zu sehen auf Youtube, informieren Facebook oder Instagram regelmäßig über
die Diät- sowie Trainingserfolge, die in Form von Likes belohnt werden wollen.
Zwar wird der Körper seit jeher als Ausdrucks- und Positionierungsmittel eingesetzt
(Posch 2009, S. 11), durch Entwicklungen im Bereich invasiver Körpertechnologien
sowie die Zunahme medialer Inszenierungsmöglichkeiten erreicht Schönheitshan-
deln allerdings eine neue Dimension.
Neben der häufigen Thematisierung von schönheitschirurgischen Eingriffen
(Posch 2009, S. 9) avanciert der Körper zum zentralen Marker für Schönheit (Penz
2010, S. 35) und wird sehr kontrovers diskutiert. Einerseits wird der Körper als
gewinnbringendes Projekt (Gugutzer 2004, S. 40) angesehen, der als „modellierbare
Masse“ (Villa 2006, S. 16) individuell und flexibel gestaltet werden und somit als
persönliches Ausdrucksmittel und Kapital fungieren kann (Wacquant 1995; Gugut-
zer 2004). Andererseits führt die beschriebene Möglichkeit der Gestaltung oftmals
zu einem Zwang der Optimierung des Körpers (Posch 2009, S. 11), die sich abermals
an gesellschaftlichen, sozialen, häufig medial vermittelten Schönheitsidealen und
Körpernormen orientiert.
1
Für einen Überblick praxeologischer, intersektionaler Schönheitsforschung siehe: Klinger et al.
(2007) sowie Klinger und Knapp (2008).
2
Ein fülliger Leib galt lange Zeit, rund 400 Jahre, als erstrebenswert, bevor der schlanke Körper zur
Idealform wurde. In einigen arabischen und afrikanischen Gesellschaften gilt Dickleibigkeit auch
heute noch als das dominante Schönheitsideal (Setzwein 2004, S. 245).
3
Ein „natürlich“ geschminktes Gesicht sieht durchaus anders als ein tatsächlich ungeschminktes
aus. Natürlichkeit meint demnach nicht „Naturwüchsigkeit“ (Posch 2009, S. 131), sondern nicht
erkennbare Bearbeitung des Körpers.
940 J. E. Goldmann und L. Herbst
Im Laufe der Geschichte haben sich die Schönheitsideale nicht nur wesentlich
verändert (etwa von der blasshäutigen, fragilen Schönheit der bürgerlichen Gesellschaft
im 19. Jahrhundert zum sonnengebräunten, athletischen Ideal der Spätmoderne),
sondern auch die soziale Bedeutsamkeit von Schönheit per se hat grundsätzlich
zugenommen. Der „Siegeszug der Schönheit“ als sozial strukturierende Macht
beginnt im Verbürgerlichungsprozess des 19. Jahrhunderts und mit der Demokrati-
sierung westlicher Gesellschaften. Schönheit symbolisiert nicht länger aristokrati-
sche Herrschaft bzw. eine ständische Ordnung (Penz 2010, S. 13), sondern wird als
individueller Ausdruck, als Zeichen der Persönlichkeit wahrgenommen und in
weiterer Folge gezielt eingesetzt. Mittlerweile stellt Schönheit eine „Statuskatego-
rie“ dar (Degele 2004, S. 212).
Der symbolische Wert körperlicher Anziehungskraft verweist auf den Stellenwert
des Körpers als Kapital im Sinne Bourdieus (etwa 1983, 1985, 1987); ein Gedanke,
der von Robert Gugutzer (2004) aufgegriffen wurde: Er versteht unter körperlichem
Kapital (wie etwa Gesundheit, Aussehen, Fitness, Disziplin) „ein Instrumentarium,
das in gesellschaftlichen Handlungsbereichen eingesetzt werden kann, um soziale
Gewinne wie beispielsweise Anerkennung, Ansehen, materiellen oder immateriellen
Erfolg zu erzielen.“ (Gugutzer 2004, S. 67–68). Darum wird in den Körper – als eine
Art Projekt – Zeit und Geld investiert, um sein Potenzial zu maximieren, und so am
sozialen bzw. gesellschaftlich-normierten Selbst gearbeitet (Villa 2008a; Posch
2009, S. 130–131; Penny 2012).
Aus der Bedeutung des Erscheinungsbildes, der oftmals als spielerisch angese-
henen Arbeit am Körper, resultiert eine Art Gestaltungs- bzw. Optimierungszwang:
„Wer sich nicht optimiert, wer nicht dauernd an der Verbesserung seines Körpers und
damit seiner selbst arbeitet [. . .], verdient keine Anerkennung. Nur unternehmerisch
agierende Subjekte sind es noch wert, als Subjekte anerkannt zu werden“, schreibt
Paula-Irene Villa (2008a, S. 12) mit Bezug auf Ulrich Bröckling (2007). Damit wird
deutlich, dass Schönheit stets optimier- bzw. manipulierbar ist, aber auch, dass der
Körper in seinem natürlichen, d. h. unbearbeiteten Zustand nicht der gängigen
Schönheitsnorm entspricht. Dass insbesondere Frauen über ihre körperliche Schön-
heit definiert, teilweise darauf reduziert werden (Bublitz 2012, S. 21; Mühlen-Achs
2003, S. 75–77) und damit einem Schönheitsimperativ, unterstützt von einer mäch-
tigen Schlankheits- und Jugendlichkeitsindustrie, unterworfen sind, beschrieb
u. a. Naomi Wolf 1991 in Der Mythos Schönheit.
Wenngleich Männlichkeit4 ebenfalls zunehmend über den ästhetischen Körper
codiert wird (Bublitz 2012, S. 21), Männer als Klientel der Kosmetikindustrie
erkannt werden, mit idealisierten Körperdarstellungen konfrontiert sind (z. B. Ideal
eines trainierten Körpers), erscheinen die Standards für weibliche Schönheit stärker
4
Der Großteil der Untersuchungen bezieht sich ausschließlich auf Frauen. Allerdings wird der
männliche Körper seit den frühen 1980er-Jahren vermehrt beforscht (van Zoonen 1994, S. 87–89).
In Medienangeboten, so Rosalind Gill et al. (2005), werde der männliche Körper zunehmend so
inszeniert, dass er dazu einlade, begehrt und betrachtet zu werden. Der männliche Körper wird zum
Blickobjekt.
Wer schön sein will . . . Körpernormen und Schöhnheitsdiskurse in den Medien 941
kulturell5 normiert bzw. schwieriger zu erreichen als jene für männliche Schönheit
(Sieverding 1993, S. 248–249). Männern steht ein ausdifferenzierteres Spektrum an
Normen zur Verfügung als Frauen. So kann ein Mann seine Macht durchaus durch
Wohlstand, eine entsprechende berufliche Position oder dergleichen verkörpern,
während Frauen stärker auf Äußerlichkeiten reduziert werden (Mühlen Achs 2003,
S. 75–77).
3.1 Werbung
In der Werbung ist vor allem der „Hyperkörper“, der ideale, supernormale, d. h. ei-
gentlich positiv anormale Körper präsent (Link 2005, S. 58), weshalb Werbung
weniger Schein- als Hyperwelt ist (Willems 2005, S. 118). Werbung wirkt mit ihren
„imperativen Bildern“ (Schmidt 2000, S. 92) wesentlich an der Normbildung eines
überschlanken Körpers mit. Ausnahmen bilden Kampagnen wie die des Kosmetik-
konzerns Dove. Knop und Petsch (2010) beschreiben diese als innovative sowie
ambivalente Marketingstrategie. Das Innovationsmoment liege darin, dass Abwei-
chungen vom Ideal (hinsichtlich Alter, Körpermaße, keine Profi-Models) positiv
kontextualisiert bzw. entstigmatisiert werden. Die Ambivalenz besteht in dem Ver-
sprechen – an die spärlich bekleideten sowie „kindlich“ inszenierten Frauen –, durch
die Verwendung des beworbenen Produkts das Ideal straffer Haut zu erreichen
(Knop und Petsch 2010). Von Facebook-UserInnen wurde die Dove-Kampagne
5
Schönheitsideale sind abhängig von kulturellen Kontexten zu betrachten, wenngleich es Beispiele für
globale Schönheitsideale gibt. In westlichen Gesellschaften herrscht ein schlankes, jugendliches, ja
beinahe infantiles weibliches Körperbild vor. Gitta Mühlen Achs (Mühlen ACHS 2003, S. 75–76) hält
fest, dass das männliche Körperideal seit Jahrtausenden konstant bleibt: Ein Mann muss groß und
kräftig sein, ausgeprägte Muskeln besitzen und ganz allgemein Überlegenheit demonstrieren.
942 J. E. Goldmann und L. Herbst
„für wahre Schönheit“ als Reframing entlarvt: „(it) reframes – rather than challenges
– the dominant ideology of beauty“ (Murray 2014, S. 541). Die Kampagne ist Teil
des body-positivity-Gegentrends. In verschiedenen Medien werden mittels körper-
positiver Botschaften und zumeist einem feministischen Vokabular Frauen aufgeru-
fen, ihre Körper sowie ihre Kurven zu lieben. In diesem Zusammenhang nennt die
britische Soziologin Rosalind Gill (2016) ein Phänomen, das sie als „love your body
(but hate it too)“ fasst. Der Frauenkörper sei zum einen liebenswert und einzigartig,
zum anderen niemals schön genug, optimier- und austauschbar. Aus solchen Anru-
fungen entstehen potenziell Situationen der Unmöglichkeit für Frauen. Gill und
Orgad (2015, S. 335) beschreiben die derzeitige Widersprüchlichkeit und Komple-
xität in Diskursen über Schönheit und Körper – gekennzeichnet von einem neolibe-
ralen Postfeminismus. Angela McRobbie spricht von Postfeminismus als „Pseudo-
Feminismus“ (McRobbie 2010, S. 48), um eine Tendenz der ‚Abwicklung des
Feminismus‘ zu beschreiben, die in Zusammenhang mit neoliberaler Gouvernemen-
talität steht (Stehling 2015, S. 103). Der Imperativ beziehungsweise die emanzipa-
tive Vision der zweiten Frauenbewegung von Selbstermächtigung qua Körper kann
– gefördert durch ein medial vermitteltes neoliberales Frauen-Bild – zur angepassten
(Selbst-)Beherrschung des Körpers führen (McRobbie 2010). Treibende Kraft hier-
für ist der Gestaltungs- und Optimierungszwang, dem sich das neoliberale Indivi-
duum freiwillig unterwirft.
6
Mittels Schönheits-Apps lassen sich Bilder bearbeiten, filtern bzw. „optimieren“, die körperliche
Schönheit unter der Prämisse „how beautiful am I“ bewerten, die Haut auf Makel scannen oder
kosmetische Veränderungen hypothetisch testen.
Wer schön sein will . . . Körpernormen und Schöhnheitsdiskurse in den Medien 943
3.3 Reality-Fernsehen
Im Bereich des Reality-Fernsehens spielt der Körper als Austragungsort kultur- und
sozialpolitischer Resistenzen und Anforderungen eine entscheidende Rolle, wie
Andrea Seier am Beispiel des österreichischen Formats Saturday Night Fever zeigt
(Seier 2012, S. 133). Shows, in denen direkt am Körper bzw. seinen Fähigkeiten
gearbeitet wird, scheinen in der TV-Landschaft omnipräsent, sind somit „Teil einer
visuell unterfütterten Diskursivierung von Körpermanipulationen“ (Villa 2008b,
S. 260) sowie ideales Untersuchungsmaterial für Selbstvermarktung in Bezug auf
Leistungs- und Optimierungszwänge (Thomas 2008, S. 222–223). Besonders die
plastische Chirurgie ist seit vielen Jahren Gegenstand medialer Inszenierung. Das
Format I want a famous face stellt dabei ein besonders plakatives Beispiel dar, in
dem sich vor allem junge Erwachsene ästhetischer Chirurgie zuwenden, um sich
äußerlich möglichst stark an ihren Lieblingsstar anzunähern. Für Paula-Irene Villa
(2008b) liegt die Dramatik der Doku-Soap Spieglein, Spieglein (VOX) darin, dass
diese zur „Wellness-Dienstleistung“ an der Kundschaft mutiert und dabei zum Ziel
hat, „Wohlbefinden“ mit beruflichen Ambitionen und ökonomischen Motivationen,
insgesamt ein erfolgreiche(re)s Leben, sicherzustellen (Villa 2008b, S. 253). Neben
dem Lifestyle-TV-Format7 I want a famous face stellt das Makeover-Format The
Swan – Endlich schön (ProSieben) eine weitere, Schönheitsoperationen fokussie-
rende Castingshow dar. The Swan begleitet den Prozess eines vermeintlich defizitä-
ren Vorhers der Kandidatinnen zu einem optimierten Nachher. ExpertInnen aus den
Bereichen Chirurgie, Zahnmedizin, Fitness und mentalem Training unterstützen die
Frauen bei ihrer „Verwandlung“, bei der sie sich nicht im Spiegel betrachten dürfen.
Dies ist dem Finale der jeweiligen Episode vorbehalten, in dem sich die Kandida-
tinnen ihren neuen, „optimierten“ Körper durch Zeigen in Richtung des eigenen
Spiegelbildes beziehungsweise zeitgleiches Ertasten aneignen, das eigene Selbst erst
handhabbar machen müssen, um so an den chirurgisch überarbeiteten Körper an-
schließen zu können (Seier und Surma 2008). Thomas (2008, S. 229) verweist dabei
auf Parallelen mit Lacans Spiegelphase, wonach sich Individuen mit ihrem Spie-
gelbild identifizieren müssen, um sich dem (neuen) Ich gewahr zu werden. Neben
einem durchaus zu konstatierenden Machtzuwachs der jeweiligen Kandidatinnen
(Seier und Surma 2008, S. 194) darf der Konformitätsdruck, der sich an Schön-
heitsidealen orientiert, bei kritischer Analyse derartiger Formate nicht außer Acht
gelassen werden. Simon Strick (2008), der die Erzählbarkeit eines „kosmetischen
Selbst“ und dessen Ambivalenz innerhalb von The Swan analysierte und in einem
Spannungsverhältnis zwischen Normierung und Ermächtigung verortet, geht
davon aus, dass der Schematisierung des Körpers sowie bestimmten Formen der
Auslöschung (z. B. von individualisierenden Spuren wie Altersfältchen) innerhalb
7
Diese Formate zeichnen sich vor allem durch ihre „Ratgeber-Funktion“, ihre intensive, affektive
Aufladung, ihr „Mitmach-Angebot“ sowie Narrativisierung und Dramatisierung aus und bieten
Modelle der Lebensführung sowie Handlungsmuster an (Thomas 2008, S. 232; Seier und Surma
2008, S. 173–175).
944 J. E. Goldmann und L. Herbst
des Formats eine zentrale Rolle zukommt. Erst durch ihre Einbettung in gesell-
schaftliche Narrative und diskursive Programme wird eine Technologie zu einer
bedeutungstragenden, unterdrückenden oder emanzipativen Technik (Strick 2008,
S. 201). Schönheitschirurgische Eingriffe können daher als „Technologie des
Selbst“ verstanden werden. Das Fernsehen übernimmt hier die Funktion einer
„gouvernementalen Reg(ul)ierung, die Medientechnologien und Technologien
der Selbst- und Fremdführung miteinander verzahnt“ (Seier und Surma 2008,
S. 175).
Die Model-Casting-Show Germany’s Next Topmodel by Heidi Klum (GNTM) auf
dem Privatsender ProSieben wurde von verschiedenen AutorInnen hinsichtlich einer
Normierung von Körper und Schönheit (z. B. Scott 2010; Lippl und Wohler 2011),
einer Reproduktion des unternehmerischen Selbst (z. B. Thomas 2008; Stehling
2015) wie auch der Rezeption des Doing Gender (Luca 2010) in den Blick genom-
men. Deren Potenzial zur Abweichung von traditionellen Geschlechterordnungen
erwies sich jedoch als Absicherung der „Normalität“ (Luca 2010, S. 211); diese
stereotype Inszenierung von Geschlecht spiegelte sich auch in der Rezeption von
GNTM wieder. Katharina Knüttel (2011) analysierte intersektionale Verortungen der
Kandidatinnen der fünften Staffel und kam zu dem Schluss, dass Entscheidungs- und
Gestaltungsfreiheit hinsichtlich des Köpers innerhalb gewisser Grenzen (von west-
lichen Schönheitsidealen) gegeben sind, strukturelle Ungleichheiten zwischen den
Kandidatinnen selbst sowie der Teilnehmerinnen zur Jury einer emanzipatorischen
Praxis jedoch fundamental im Wege stünden.
In den Staffeln elf bis dreizehn wurden bei GNTM die Kandidatinnen in zwei
Teams aufgeteilt: in „Team Weiß“, das von Michael Michalsky gecoacht wird, und
„Team Schwarz“, in dem die Teilnehmerinnen von Thomas Hayo trainiert werden.
Team Weiß wurde in Staffel zwölf von Coach Michalsky wie auch Heidi Klum des
Öfteren als „Team Diversity“ bezeichnet (Rützel 2017). Dies resultiert laut Mich-
alsky daraus, dass die „Vielfältigkeit der Mädchen“ für ihn im Zentrum stünde.
Diese grundsätzlich begrüßenswerte Vielfältigkeit in „Team Weiß“ wird durch die
eher burschikose Skaterin Victoria, die zielorientierte und quirlige Anh mit asiati-
schen Wurzeln, die dunkelhäutige Leticia und, nicht zuletzt, dem Transgender-
Model Giuliana gestellt. Wird die „Vergangenheit“ Giulianas anfangs noch erfri-
schend unaufgeregt behandelt, ändert sich dies schlagartig, als das Model sich im
Bikini präsentieren soll. Michalsky betont, dass Giuliana mit ihrer Femininität „noch
nicht so ganz zurecht“ kommt; sogar vom Ausstieg ist die Rede. Ein Gespräch mit
dem Teamcoach macht Mut: Michalsky bezeichnet sie sogleich als „Gewinnerin der
Herzen“, versichert, dass ihre Situation „für Heidi absolut kein Thema“ sei, was dazu
führt, dass Giuliana sich letztendlich beim Shooting „voll stark“ fühlt. Es ist also
abermals eine, die gesellschaftlichen Normen vertretende, autoritäre Person, der
Team-Coach, der Giulianas Körperlichkeit bestärkt.
Diese Autorität spiegelt sich auch in der Optimierung des Aussehens, dem
„Umstyling“ wieder. Bezeichnend ist, dass die Teilnehmerinnen dabei keinerlei
Mitspracherecht haben. Obwohl die jungen Damen Woche für Woche hart an sich
selbst, ihrem Körper und dessen Fähigkeiten arbeiten, scheint insbesondere
Wer schön sein will . . . Körpernormen und Schöhnheitsdiskurse in den Medien 945
3.4 Rezeption
Die Rezeption von „idealen“ Körperbildern kann durch die Diskrepanz zwischen
Selbst- und medialem Idealbild zu Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper führen
(Pöhlmann und Joraschky 2008, S. 4). Einige Forschungsergebnisse deuten auf
einen Zusammenhang zwischen der wiederholten Rezeption idealisierter Körperdar-
stellungen und einem negativen Körperempfinden hin. Belegt wurde diese Kor-
relation für Zeitschriften, Fernsehsendungen und Musikfernsehen als auch Fernseh-
und Printwerbungen (Grabe et al. 2008; Hausenblas et al. 2013; Levine und Murnen
2009). Ebenfalls wirkt sich eine hohe Nutzung von Fitness- und Sportinhalten auf
Instagram negativ auf das Körperbild von Jugendlichen aus, wie Carolin Krämer
(2017) in ihrer Onlinebefragung feststellte: Je häufiger die App-Nutzung, desto
intensiver ist der wahrgenommene Druck, besser in Form zu sein, Körperfettanteil
zu reduzieren bzw. abzunehmen (Krämer und Döveling 2016). Im Weiteren ist eine
korrelative Evidenz zwischen der Befürwortung von ästhetischer Chirurgie und der
wiederholten, regelmäßigen Rezeption idealisierter Körperbilder, etwa in Beauty-
zeitschriften und diversen Fernsehsendungen feststellbar (Sharp et al. 2014). Ross-
mann und Brosius (2005) fragten in ihrer Studie nach der Wahrnehmung der
Darstellung von Schönheit in Medien und kamen zu dem Ergebnis, dass die Bereit-
schaft der RezipientInnen, sich selbst zu optimieren, steigt, wenn das Identifikati-
onspotenzial mit der medialen Darstellungsform eher hoch ist. Zu einem anderen
Ergebnis kamen Duits und van Zoonen (2013), die in einer Studie zur Rezeption von
Musikprogrammen zeigen, dass idealisierte wie sexualisierte Bilder ganz unter-
schiedlich auf junge Frauen wirken. Die Autorinnen heben dabei insbesondere den
unmittelbaren Zusammenhang mit der eigenen Biografie der jungen Frauen hervor.
Miriam Stehling (2015) ging der Frage nach, wie sich junge Zuschauerinnen in
verschiedenen kulturellen Kontexten das global gehandelte Fernsehformat Topmo-
del in der jeweiligen deutschen und US-amerikanischen Länderversion in Bezug auf
946 J. E. Goldmann und L. Herbst
4 Fazit
Schönheit kann als Symbolsystem der menschlichen Kultur verstanden werden, als
Mittel der Kommunikation, das historischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt und auf
komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge verweist (Penz 2010, S. 18). Körper
und Schönheit sind also weder Schicksal noch etwas Gegebenes, sondern werden
diskursiv hergestellt, ganz zentral (auch) durch Medien. Wie Paula-Irene Villa
beschreibt, herrscht aktuell zum einen ein „skulpturales Körperideal“ (Hausbichler
2017), zum anderen eine strikte, kontextspezifische Geschlechterdifferenzierung in
Sachen Schönheit (entgegen der Annahme eines vermehrten „Undoing gender“, der
expliziten Inszenierung von Ungeschlechtlichkeit) vor. Frauen-Körper werden nach
wie vor einer genauen Überprüfung unterzogen. Doch einige junge Frauen haben
keine Lust mehr, sich bestimmten Idealen zu unterwerfen oder „Heidis Girl“ zu
werden. Unter dem Hashtag #notheidisgirl protestierten im Oktober 2017 zahlreiche
Frauen gegen den Schlankheits- und Schönheitswahn von Castingshows.
Die Ideale, an denen sich dieses individuelle Körperhandeln misst, gehen häufig
auf medial verbreitete Bilder „perfekter“ Körper zurück, die schließlich im Alltag
reproduziert werden. Welche ‚abweichenden‘ Körper akzeptiert werden und damit
letztlich Teil der Medien- und Alltagskultur sind bzw. werden und welche eben
nicht, hängt von historischen und kulturellen Kontexten ab und ist Ergebnis diskur-
siver Aushandlungsprozesse. Ob es gelingt, neue Körper- und Frauenbilder inner-
halb der Medien- und damit auch der Alltagswelt zu etablieren und somit ein
gesellschaftliches Umdenken zu befördern, bleibt insbesondere für die Wissenschaf-
ten spannend zu beobachten. Daraus folgt, dass hinsichtlich Schönheitsnormen nicht
die eigentliche Erscheinung einer Person relevant ist, sondern wie das unmittelbare
Umfeld diese bewertet bzw. dessen Bruch sanktioniert (Posch 2009, S. 24–25).
Diese Bewertungen gemäß bestimmten Idealvorstellungen resultieren einerseits
aus der größeren Verfügbarkeit an Schönheitsvorbildern aufgrund der Globalisie-
rung und Digitalisierung, andererseits wäre es zu kurz gegriffen, das Streben nach
Schönheit allein auf mediale Einflüsse bzw. das „globalisierte Medienzeitalter“
(Posch 2009, S. 24) zurückzuführen.
Forschungsdesiderate sind Medieninhalts- sowie Rezeptionsanalysen zu
Körpern, die binäre Strukturen überwinden, Normen der zweigeschlechtlichen He-
teronormativität unterlaufen, wie trans- und intersexuelle Körper. Ebenfalls sollte
8
Das heißt ein neoliberales Frauen-Bild, nach dem eine Frau umso erfolgreicher ist, je mehr sie sich
diszipliniert und marktgerecht verhält (McRobbie 2010).
Wer schön sein will . . . Körpernormen und Schöhnheitsdiskurse in den Medien 947
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Hollywood-Stars und Social Media
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Martina Schuegraf
Inhalt
1 Einleitung: Die Anfänge der Star-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 952
2 Vergeschlechtlichte Star-Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 953
3 Transformationsprozesse: Von Stars zu Celebrities . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 956
4 Ausblick: Social Media Celebrities und Gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 958
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 960
Zusammenfassung
Prozesse der Celebritisierung verändern sich mit Entwicklungen der Medien und
im Besonderen durch das Social Web. In den Anfängen Hollywoods waren es
insbesondere weibliche Stars, welche die Studios hervorbrachten. Seit Ein-
führung des Fernsehens und mit dem New Hollywood verschob sich das Ge-
schlechterverhältnis zugunsten männlicher Stars. Denn Stars unterliegen gesell-
schaftlichen, ökonomischen und soziokulturellen Bedingungen und sind damit
stets Prozessen des Wandels unterworfen. Mit den Social Media und den daran
gekoppelten Möglichkeiten verwischen zudem die Grenzen zwischen (klassi-
schen) Stars und (teils selbst ernannten) Celebrities. Denn Celebrities werden
erst im Vollzug der Mediennutzung konstituiert. Dies führt zu Social Media
Celebrities, welche sich durch ihre (besondere) Präsentation von ihrer Commu-
nity abheben, dabei jedoch hegemoniale Geschlechterdiskurse fortschreiben.
Schlüsselwörter
Celebrity · Social Media · Social Media Celebrities · Filmstars · Hollywood
M. Schuegraf (*)
Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK), Bielefeld, Deutschland
E-Mail: schuegraf@web.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 951
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_54
952 M. Schuegraf
Betrachtet man die vorhandene Literatur zur Star-Forschung, wird deutlich, dass der
Beginn des Startums mit Hollywood verknüpft wird und damit im Filmgeschäft
verortet ist (u. a. DeCordova 2001; Lowry und Korte 2000; Faulstich und Korte
1997). Somit sind die ersten Stars eng an das Kino gebunden. In Hollywood
etablierte sich ein elaboriertes Starsystem, in dem die Schauspieler*innen von den
Studios und den Produzent*innen abhängig sind.
Erst viel später begann die wissenschaftliche Forschung, sich mit dem Phänomen
der Stars auseinanderzusetzen. Der Fokus dieser Studien lag in erster Linie auf
US-Filmstars und dem Hollywoodsystem. Ansätze, die Filmstars systematisch
untersuchten, entstanden in den 1960er- und 1970er-Jahren (u. a. Alberoni 2006
[1962]; Boorstin 1971), zunächst vor allem aus soziologischer oder psychologischer,
später auch historischer und kulturkritischer Perspektive (Faulstich und Strobel
1989, S. 7). Die Basis für eine erste Startheorie, die bis heute Bezugspunkt für alle
weiteren Entwicklungen ist, legte Richard Dyer (1979, 1986) vor. In „Heavenly
Bodies“ (1986) analysiert er weibliche und männliche Filmstars – im Fokus stehen
hier vor allem Marilyn Monroe, Paul Robeson sowie Judy Garland – und fragt nach
ihrer gesellschaftlichen Funktion. Dyer verfolgt hier einen soziokulturellen Ansatz
(Weingarten 2004, S. 23) und legt bei seinen Studien auch Diskurse um das Startum
zu Grunde. Es geht ihm also nicht nur um Repräsentationsanalysen einzelner Stars,
sondern ebenso um diskursanalytische Elemente, welche auf das gesellschaftliche
Verhaftet-Sein von Stars im Hinblick auf bestimmte Thematiken (Androgynität,
Ethnie, Sexualität) zielen. Dyers Werke werden als Grundlagenstudien für weitere
Staranalysen insbesondere in der Filmwissenschaft betrachtet (Gledhill 1991, S. xiv).
Auch im deutschsprachigen Raum wurde die Starforschung in erster Linie aus
einer filmwissenschaftlichen Perspektive vorangetrieben. Zum Beispiel analysieren
Stephen Lowry und Helmut Korte in ihrem Buch „Der Filmstar“ (2000) ältere und
auch neuere Starphänomene im Hinblick auf systembedingte Unterschiede zwischen
Hollywood und dem Filmland Deutschland, welche sich im Imageaufbau sowie in
der öffentlichen Präsenz manifestieren. Als einer der wenigen untersuchte Werner
Faulstich in den 1990er-Jahren neben Filmstars auch Fernseh- sowie Rock- und
Popstars aus einer medienwissenschaftlichen Perspektive (u. a. Faulstich 1997;
Faulstich und Korte 1997). In ihrem bibliografischen Überblick zum Starphänomen
weisen er und Ricarda Strobel darauf hin, dass der traditionelle Starbegriff mit Bezug
auf den Film und auf das Rockgenre schon angesichts des Fernsehens fragwürdig
wird, da sich mit neuen Medien und daran gekoppelten Präsentationsformen auch
Starphänomene diversifizieren. Sie fordern für zukünftige Studien einen breiteren
und interdisziplinären Zugriff auf Stars (Faulstich und Strobel 1989, S. 11).
Insgesamt lässt sich jedoch festhalten, dass in den Anfängen der Begriff „Star“
eine berühmte bzw. prominente Persönlichkeit bezeichnet, die aufgrund ihrer Pro-
fession als Filmschauspieler*in öffentlichkeitswirksam bekannt geworden ist. Erst
mit neueren Studien wird der Starbegriff auch auf andere gesellschaftliche Bereiche
und ihre Akteur*innen übertragen. Hier stehen in erster Linie Musiker*innen und
später Sportler*innen (u. a. Gaitanides 2001; Marschick und Spitaler 2006), aber
Hollywood-Stars und Social Media Celebrities 953
2 Vergeschlechtlichte Star-Produktion
1
Zu einzelnen Bereichen gibt es bereits vereinzelte frühere Untersuchungen, aber der Begriff „Star“
bzw. das „Starsystem“ wurde in erster Linie mit dem Film und dem Kino verbunden.
2
Siehe hierzu auch Andreas Reckwitz (2014, S. 254), der Florence Lawrence aus dem gleichen
Grund als die erste Filmpersönlichkeit bezeichnet.
954 M. Schuegraf
anderen Schauspielern. Der Star und seine Kollegen gehören derselben Gruppe
an. Er unterscheidet sich nur insofern von ihnen, dass er nach bestimmten Kriterien
wie Erfolg und Bekanntheitsgrad aus dieser Gruppe ausgewählt wurde und somit aus
dem Kreis seiner Kollegen hervortritt. Ein Star ist also bekannter und erfolgreicher
als andere Mitglieder seiner Berufssparte“ (Hörnlein 2003, S. 45). Auch Hörnlein
betont somit den Bezug zur Profession, auf der das Star-Sein gründet.
Die ersten Filmstars waren in den 1910er- und 1920er-Jahren überwiegend
weiblich. Sie bekamen die höheren Gagen und interessanteren Rollen und damit
besaßen sie im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen eine größere Macht. Als
Gründe führt Hörnlein die Offenheit der Filmindustrie3 – im Vergleich zu anderen
Branchen – gegenüber Frauen an, weil diese weibliche Darstellerinnen für die
Besetzung entsprechender Rollen brauchte. Gerade Frauen aus ärmlichen Verhält-
nissen verdienten mit dem Schauspielen ihren Lebensunterhalt, da Zugänge für
Beschäftigungen in anderen wirtschaftlichen Zweigen für sie erschwert waren. Dies
ging Hand in Hand damit, dass die Filmindustrie auf Frauen zugeschriebene Themen
entwickelte und entsprechende Startypen (Frauentypen) aufbaute (Hörnlein 2003,
S. 64). Hiermit einher ging eine Stereotypisierung der Stars, die laut Hörnlein bis in
die 1950er-Jahre hineinreichte. Schauspieler*innen wurden auf eine spezielle Rolle
hin gecastet und aufgebaut, was auch als Typecasting bezeichnet wird. Diesen
Rollentypus verkörperten sie in der Regel ihre gesamte Karriere hindurch, so wurde
auch der stete Wiedererkennungswert beim Publikum hergestellt. Doch beschränkte
sich die Star-Fabrikation nicht nur auf die Filmrollen, sondern die Studios nahmen
auch immensen Einfluss auf die Lebensgestaltung und die private Existenz der Stars,
um eine Übereinstimmung der Filmrollen bzw. -figuren mit der Privatperson zu
erzeugen (Hörnlein 2003, S. 70–71).4
Mit der Einführung des Fernsehens wandelte sich auch der Startyp in Hollywood.
Die Figuren und Handlungsrollen der Schauspieler*innen wurden differenzierter,
was zum einen an der Erwartungshaltung des Publikums lag und zum anderen an der
sich wandelnden und komplexer werdenden Gesellschaft (Hörnlein 2003, S. 119).
Es entwickelte sich das New Hollywood, welches die Filme der 1960er- und 1970er-
Jahre prägte.5 „Hatte im klassischen Studio-System eine hermetische, gleichsam
überzeitliche Inszenierung der Stars als ‚Leinwandgötter‘ [. . .] dafür gesorgt, dass
diese jenseits gesellschaftlicher Entwicklungen zu stehen schienen, so umfasste die
veränderte Definition der Stars im New Hollywood eben ihre Fähigkeit, diese
Entwicklungen zu repräsentieren: Sie mussten nun ‚zeitgemäß‘ sein.“ (Weingarten
2004, S. 15). Nach Weingarten reproduzierten Geschlechterrepräsentationen im Film
nun differenzierter und direkter gesellschaftliche Geschlechterkonstruktionen, wel-
3
In diesem Artikel liegt der Fokus auf der Star-Produktion, die sich überwiegend mit dem Bereich
der Schauspielerei beschäftigt. Die Bedeutung von Frauen in der Film-Produktion und anderen
Gewerken in den Anfängen der Filmindustrie jenseits der Schauspielerei ist bisher kaum systema-
tisch erforscht.
4
Siehe hierzu auch DeCordova 2001; Weingarten 2004.
5
Hierzu genauer u. a. Hörnlein 2003; Monaco 1980; Newman 1998.
Hollywood-Stars und Social Media Celebrities 955
che durch das Geburtenhoch der Nachkriegszeit und einen Wandel der amerikani-
schen Gesellschaft in Veränderung begriffen waren (Weingarten 2004, S. 16). Hier-
durch entwickelte sich ein breiteres Typenspektrum, welches durch gesellschaftliche
(Geschlechter-)Diskurse möglich wurde. Bezogen auf das Geschlechterverhältnis im
Film verkehrten sich in dieser Zeit der Anteil und die Präsenz von weiblichen Stars
im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen. Der Anteil an weiblichen Stars verrin-
gerte sich bis in die 1970er-Jahre hinein auf ein Fünftel, womit auch ihr Einfluss sank
(Hörnlein 2003, S. 124). Hörnlein führt das unter anderem auf den Zusammenbruch
des Studiosystems der klassischen Hollywood-Ära zurück. Darüber hinaus änderte
sich die Publikumsstruktur, welche andere und differenzierte Erwartungen an Film-
typen stellte. Die klassischen Melodramen wurden durch Actionfilme verdrängt, die
vermehrt durch ein männliches Publikum rezipiert wurden. Die Orientierung der
Filmemacher*innen richtete sich nun stärker an einem jungen, männlichen Publi-
kum aus (Hörnlein 2003, S. 125).
Die Bedeutung des Geschlechts als Untersuchungsgegenstand für die Analyse der
Star-Produktion arbeitet insbesondere Susanne Weingarten in ihrer Studie zu Ge-
schlechtsrepräsentationen von Hollywood-Stars heraus. Sie beschreibt das Ge-
schlechterverhältnis der Filmstars in Rekurs auf Stephen Lowry als Kristallisations-
punkte des Geschlechterdiskurses, wenn sie betont: „Auch Stars repräsentieren und
‚performen‘ Geschlecht, und mit ihren ‚heavenly bodies‘ besitzen sie eine erhebliche
Relevanz für die gesellschaftliche Perpetuierung und Gestaltung der Geschlechter-
ordnung [. . .] Um als relevant wahrgenommen werden zu können, müssen die von
Stars verkörperten Geschlechtskonzepte innerhalb der hegemonialen Parameter der
Geschlechterordnung angesiedelt sein“ (Weingarten 2004, S. 8). Mit Blick auf eine
theoretische Einordnung des Star-Phänomens spricht sie sich daher auch gegen eine
„statische Definition des Stars“ aus und plädiert nachdrücklich für kontextabhängige
Untersuchungen, da es sich beim Star um ein dynamisches Phänomen handelt
(Weingarten 2004, S. 26). In Rekurs auf Butlers Performativitätskonzept konstatiert
Weingarten, dass „[d]ie Produktion von Geschlecht [. . .] sich also beim Star defi-
nieren [lässt, M.S.] als jener Prozess, in dem sich im (diskursiv regulierten) Zusam-
menspiel von Zeichenagglomerat und Rezeption, das die ‚Akte der Geschlechts-
identität‘ des Star-Körpers mit Bedeutungen versieht, die Vorstellung eines
(geschlechtlichen) Subjekts materialisiert“ (Weingarten 2004, S. 44).
Damit wird Rezeption als ein weiterer wichtiger Einwirkmechanismus auf die
Star-Produktion angesprochen. Gesellschaftliche Wandlungsprozesse und sich damit
entwickelnde neue Technologien haben einen starken Einfluss auf die Filmindustrie
Hollywoods und damit auch auf die Produktion und Rezeption von Stars. Dies
drückt sich zudem in einem veränderten Star-Fan-Verhältnis aus. Der Bezug zwi-
schen Stars und Fans bekommt ein größeres Gewicht und damit einen immensen
Einfluss auf die Star-Produktion, was sich nach der Jahrtausendwende mit den neuen
Technologien und dem Social Web noch verstärkt.
Zusammenfassend lässt sich bilanzieren: Stars sind fluide Konstruktionen,
welche gesellschaftlichen, ökonomischen und soziokulturellen Bedingungen unter-
liegen und damit Prozessen des Wandels unterworfen sind. Die Erforschung des
Star-Phänomens hat recht spät ernst zu nehmende Studien hervorgebracht, welche
956 M. Schuegraf
wegweisende Grundlagen geliefert haben. Auffällig ist jedoch, dass sie sich größ-
tenteils den Repräsentationssystemen widmen und zumeist an Analysen einzelner
Stars und an Filmproduktionsanalysen gekoppelt sind. In ähnlicher Weise, moniert
Weingarten, wurden auch „Repräsentationen von Weiblichkeit anhand weiblicher
Hollywood-Stars“ (Weingarten 2004, S. 35) analysiert. Im Vordergrund stand dabei,
Gender-Stereotype aufzuzeigen, wobei davon ausgegangen wurde, dass diese ein-
fach und direkt auf Rezipierende einwirkten (Weingarten 2004, S. 35). Erst mit
Beginn der 1990er-Jahre begannen Studien über solch klassische Analysen von Stars
und Gender hinauszugehen und Stars stärker vor einem kulturellen und gesellschaft-
lichen Rahmen zu hinterfragen (z. B. Gledhill 1991). Hierdurch erhielten auch
queere Perspektiven Einzug in die Star- und Genderforschung. Unter diesem Aspekt
lässt sich erneut Richard Dyer anführen, der in seinem Werk „The Culture Of
Queers“ (2002) queeren Subtexten in der Populärkultur nachspürt. Ihm geht es nicht
in erster Linie darum, queere Figuren und/oder Stars zu beleuchten, sondern Re-
präsentationen queerer Kultur in den unterschiedlichsten filmischen und literari-
schen Werken sowie in Werken bestimmter Autor*innen und männlicher Darsteller
offenzulegen und damit eindeutig heteronormative Zuschreibungen zu dekonstruie-
ren. Mit diesem Queer Reading, welches bei ihm jedoch einen Fokus auf männliche
Homosexualität legt, stellt er queere Lesarten in der Populärkultur heraus und
konzeptioniert diese vor dem Hintergrund einer soziokulturellen Gesellschaftsper-
spektive.
In den letzten Jahren verwischen mit den technologischen und medialen Fortschrit-
ten und den daran gekoppelten Möglichkeiten des Produzierens, Distribuierens und
Präsentierens mittels digitaler Medien die Grenzen zwischen (klassischen) Stars und
anderen (teils selbst ernannten) Berühmtheiten immer mehr. Zudem erzeugen
Fernseh-Formate wie Reality-TV-Shows und die unterschiedlichsten Castingshows
von „Deutschland sucht den Superstar“ bis „Germany’s Next Topmodel“ mittels
ihrer Formatkonzepte aus einem Pool von Bewerber*innen eher synthetische Stars
(Lowry 2003, S. 444–445) im Kontrast zu Stars aufgrund ihrer Profession.
Zeichneten sich klassische amerikanische Filmstars in den Anfängen Hollywoods
durch ihre Unnahbarkeit und ätherische Distanz (Stichwort: Leinwandgött*innen)
aus, wird heutzutage immer stärker der Fokus auf das Private bzw. Intime und damit
auf Konstruktionen über die Starfigur hinaus gerichtet. Ältere Hollywood-Filmstars
lassen sich noch als Star-Phänomene begreifen, welche entrückt und glamourös von
einem industriell und wirtschaftlich agierenden System geschaffen und aufgebaut
worden sind. Etymologisch betrachtet, bedeutet Star aus dem Englischen kommend
auch Stern oder Gestirn. In diesem Bild verleiht der Stern Stars etwas Entrücktes,
Glänzendes, Überirdisches. Auf diese Weise lassen sich Stars in die Nähe von
Held*innen (Lowry 2003, S. 443) und Kultfiguren rücken, die zu Idolen und
Vorbildern avancieren können (Schuegraf 2013, 2014).
Hollywood-Stars und Social Media Celebrities 957
Celebrity kommt dagegen vom lateinischen celeber und bedeutet zahlreich, groß-
artig, im Sinne vieler Teilnehmenden zum Beispiel bei einem Event. Celebratur ist
demgemäß derjenige, der sich aus der Masse abhebt und von vielen anderen gefeiert
wird. Der*die Celebrity ist in diesem Sinne ein „Teil des Gewöhnlichen“ (also
„ordinary“) und somit eine Person, die von anderen „Gewöhnlichen“ zu dem
gemacht wird, was sie ist, nämlich „extraordinary“. Dieser Blick auf die begriffli-
chen Herleitungen verweist bereits auf die Veränderungen, welche auch für Stars
virulent geworden sind. Sie zeigen eine Verschiebung von entrückten, in erster Linie
an ein (Star-)System gekoppelten Stars zu gesellschaftlich und kulturell verhandel-
baren Celebrities, welche nicht mehr allein durch eine ökonomisch ausgerichtete
Marktmaschinerie geschaffen, sondern durch ein vielfältig auf sie einwirkendes
(Zeichen-)System von Kommentierungen, Präsentierungen und Inszenierungen mit-
tels unterschiedlicher medialer Möglichkeiten zur Disposition gestellt werden
(Schuegraf 2015).
Die deutschsprachige Starforschung lässt sich (zumindest in den Anfängen) in der
Filmwissenschaft verorten. Dies impliziert ein Forschungsvorgehen, welches sich
im Speziellen auf die Repräsentation von Starfiguren und die Analyse von Filmen
fokussiert. Kaum vorhanden sind Studien – insbesondere zur Produktion von Gender –,
welche einen breiteren, über die Filme hinaus gehenden Handlungskontext, in dem
Stars bzw. Celebrities agieren, und gesellschaftliche Diskurse, in denen sie sich
bewegen und wodurch ihnen Bedeutungen zugeschrieben wird, berücksichtigen.
Das Feld der vorwiegend angloamerikanischen Celebrityforschung scheint zum
einen interdisziplinärer aufgestellt zu sein und zum anderen im Hinblick auf mög-
liche Forschungsfoki einen breiteren und auch gesellschaftskritischeren Fokus zu
vertreten. Insofern können Celebrity Studies auch als Cultural Studies verstanden
werden, in denen es um Bedeutungsproduktionen geht, die erst im Handlungs-
vollzug und durch diskursive Praktiken wirksam werden. Mit Fiske lassen sich
Celebrities auch als populäre Texte lesen, was er u. a. am Beispiel von Madonna
verdeutlicht (Fiske 1987, S. 108–109). Celebrity-Texte sind demnach als Bedeu-
tungspotenzial bzw. -angebot zu verstehen, welches erst durch soziale Praktiken und
Formen der Nutzung an Bedeutung gewinnt. Eine solche Lesart lässt sich mit der
Position Weingartens in Verbindung bringen, wonach der Star-Körper erst aus einem
Zusammenspiel von Zeichenagglomerat und Rezeption erschaffen wird. Das heißt,
Celebrities existieren nur in einer Konvergenz aus Angebotspotenzialen und Nut-
zungspraktiken. Hinzu kommt, dass ihre (Re-)Produktion immer an gesellschaftliche
Diskurse und damit an hegemoniale Machtstrukturen gekoppelt ist.
Somit sind Celebrities keine Leinwandgött*innen (mehr), sondern sie konstitu-
ieren sich erst im Vollzug der Nutzung durch Fans, Publikum, Rezipierende etc.
Marwick und boyd (2011) sprechen hier auch von „celebrity practice“. Solche
Praktiken werden durch Social Media und die sich daraus entwickelnden Cele-
brityformen und Interaktionsmöglichkeiten noch forciert.6
6
Alice Marwick und dana boyd (2011) veranschaulichen „celebrity practice“ mit einer Studie zu
Celebrities auf Twitter.
958 M. Schuegraf
7
Zum Beispiel findet seit 2010 alle zwei Jahre eine internationale Konferenz zum Thema Celebrity
Studies statt, welche durch Routledge verbunden mit einem gleichnamigen Fachjournal ins Leben
gerufen wurde.
8
Dies sind, verkürzt gesprochen, herausragende Personen, die auf Instagram eine hohe Reichweite
erzielen, regelmäßig posten, für bestimmte Themen stehen und häufig für Produkte werben. Vor
allem die Reichweite und das Produktmarketing wird ihnen zumeist von außen zugeschrieben, das
Feld der Influencer*innen ist jedoch vielschichtiger und virulenter, was in diesem Zusammenhang
nicht weiter ausgeführt werden kann.
Hollywood-Stars und Social Media Celebrities 959
weiter vergrößert und damit auch die Bedeutung der Film- und Musikstars relati-
viert“ (Reckwitz 2014, S. 262, Hervorh. im Original). Reckwitz differenziert das
Starsystem vor allem im Hinblick auf Film- und Musikstars. Mit Social Media
Celebrities wird eine solche Entgrenzung jedoch weiter forciert.
Drei Aspekte spielen für die Celebritisierung auf Social-Media-Plattformen eine
herausragende Rolle: Um wahrgenommen zu werden, müssen Social Media Cele-
brities erstens sichtbar sein. Sie sind nicht mehr an klassische Starsysteme gekop-
pelt, sondern werden vor allem von ihrer Community (Fans und Follower*innen)
und in der Interaktion mit ihrer Community zu Celebrities gemacht, weil sie sich in
einer Weise präsentieren, die sie von anderen unterscheidet und abhebt. Dies muss
aber keineswegs an ein besonderes Können oder eine herausragende Leistung im
herkömmlichen Sinne (Schauspiel, Musik, Sport etc.) gekoppelt sein, sondern ihre
Fähigkeit kann auch „nur“ in einer besonderen Art liegen, Themen und Produkte im
weitesten Sinne zu präsentieren. Damit generieren berühmte und erfolgreiche Social
Media Celebrities wie die YouTuberin Bianca Heineke alias Bibis Beauty Palace
oder der Let’s Player9 Gronkh Millionen Abonnent*innen und ein Vielfaches an
Views.10 Der zweite wichtige Aspekt sind die Themen, die sie präsentieren. Mit
ihnen treffen sie den Nerv ihrer Community, die sich von dem Präsentierten ange-
sprochen und vor allem inspiriert fühlen (will). Damit bieten sie eine Identifikati-
onsplattform für ihre Gefolgschaft, welche als Angebot zur Empathie und Nachah-
mung aufgefasst werden kann. Dies funktioniert aber nur – und das ist der dritte
Aspekt –, wenn Social Media Celebrities authentisch sind. Authentizität wird durch
die Nähe zu ihrer Zielgruppe erzeugt, indem sie sich bspw. in ihren privaten Räumen
zeigen, ihre Follower*innen in Videos direkt ansprechen und ihre Zuschauenden
involvieren (z. B. zu Kommentaren, Bewertungen und zum Liken anregen) (Schue-
graf und Wegener 2017). Dies erzeugt eine Intimität zwischen Social Media Cele-
brity und Fan und damit ein „wir“ mit Fokus auf ein gemeinsames Interesse, ganz im
Gegensatz zu den klassischen Stars, welche weitgehend unnahbar und unerreichbar
erschienen.11
Social Media Celebrities können mit Reckwitz als „Performance Stars“ (Reck-
witz 2014, S. 240) gelesen werden. Allerdings performen sie nicht nur sich selbst
bzw. ein Werk (Film, Musik), sondern häufig wird durch zahlreiche Referenzen und
Verweisstrukturen eine thematische Anschlussfähigkeit hergestellt, welche sich
jedoch in einem bestimmten Referenzsystem bewegen muss, um für die Community
authentifizierbar zu sein. Erfolgreiche Social Media Celebrities unterwerfen sich
dabei einem heteronormativen Geschlechterrahmen, indem sie Themen aufgreifen,
die junge Frauen (Beauty, Kosmetik) oder junge Männer (Games, Comedy) adres-
sieren. Es gibt nur wenige erfolgreiche Ausnahmen wie Sami Slimani, der als
9
Let’s Player sind YouTuber (meist männlich), die Games präsentieren und beim Spielen kommen-
tieren. Zu Geschlechterunterschieden in YouTube-Videos siehe Döring (2019).
10
Dabei geht es auch um Formen der Aufmerksamkeitsökonomie, welche u. a. Georg Franck (1998)
differenziert.
11
Zur genaueren Vorgehensweise von YouTube-Analysen siehe Schuegraf und Janssen 2017.
960 M. Schuegraf
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Videoproduktion auf YouTube:
Die Bedeutung von Geschlechterbildern
Nicola Döring
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 964
2 Geschlechterunterschiede bei der Produktion von YouTube-Videos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 964
3 Geschlechterrollen in den Inhalten von YouTube-Videos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 966
4 Rezeption von Geschlechterbildern in YouTube-Videos und Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 968
5 Wirkungen von YouTube-Videos auf die Geschlechterverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 970
6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 971
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 971
Zusammenfassung
Wie ist die weltweit führende Social-Media-Video-Plattform YouTube im Hinblick
auf Geschlechtergleichberechtigung einzuschätzen? Die Analyse zeigt, dass die
Videoproduktion auf YouTube männlich dominiert ist und dass die Video-Inhalte
oft tradierte Geschlechterrollen vermitteln. Rezipierende greifen neben den
Mainstream-Inhalten jedoch auch auf Nischen-Inhalte zurück, die vielfältigere
Geschlechterbilder bieten als die herkömmlichen Massenmedien. Der Beitrag zeigt
Forschungslücken auf und endet mit praktischen Handlungsempfehlungen zur
Förderung von Geschlechtergleichberechtigung auf YouTube.
Schlüsselwörter
Online-Video · Webvideo · YouTube · Nutzer_innengenerierter Content · Social
Media
N. Döring (*)
Institut für Medien und Kommunikationswissenschaft, Technische Universität Ilmenau, Ilmenau,
Deutschland
E-Mail: nicola.doering@tu-ilmenau.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 963
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_53
964 N. Döring
1 Einleitung
Die Video-Plattform YouTube – gegründet 2005, aktuell im Besitz von Google LLC –
ist nach der Suchmaschine Google die meistbesuchte Adresse im Internet (Alexa 2018)
und gleichzeitig die weltweit populärste Social-Media-Plattform. Insbesondere bei
jungen Menschen ist YouTube als Unterhaltungs- und Informationsmedium äußerst
beliebt: Die große Mehrzahl der Jugendlichen nutzt YouTube täglich oder mehrmals
pro Woche (mpfs 2018). Über YouTube wird massenmedialer Content verbreitet (z. B.
TV-Sendungen, Kinofilme, Musikvideos, Werbung). Es existieren aber auch zahlreiche
nutzer_innengenerierte genuine YouTube-Produktionen. Die meistgesehenen Videos
auf YouTube stammen aus unterhaltungsbezogenen Genres wie „Music“, „Comedy“,
„Entertainment“, „Gaming“, „How to & Style“ sowie „People & Blogs“. Es existiert
aber auch informationsbezogener YouTube-Content, etwa in Genres wie „Education“,
„News & Politics“, „Science & Technology“, „Nonprofit & Activism“. Die genannten
Genregruppen sind von YouTube vorgegeben. Videoproduzierende ordnen sich ent-
sprechend zu. Die Popularität der Genres ist der Social-Media-Statistik-Plattform
SocialBlade zu entnehmen.
Personen, die über ihre selbstproduzierten YouTube-Videos bekannt geworden
sind, werden als YouTuber_innen bzw. YouTube-Stars bezeichnet. Einzelne
YouTube-Stars haben heute Millionen von Fans. Der bislang weltweit größte
YouTube-Star ist der 1989 geborene Schwede Felix Kjellberg, dessen Gaming-
und Entertainment-Kanal „PewDiePie“ mehr als 74 Millionen Abonnent_innen
verzeichnet (Stand: Dezember 2018) und der durch YouTube zum Multimillionär
wurde. Auch offline gewinnen YouTube-Stars an Bedeutung: Sie organisieren Fan-
treffen, treten in Radio- und Fernsehsendungen auf, über sie wird in Zeitungen und
Zeitschriften berichtet. Das Jugendmagazin „Bravo“ zeigt inzwischen regelmäßig
YouTube-Stars auf dem Cover. YouTuber_innen monetarisieren ihre Videos durch
zugeschaltete Werbung, kooperieren als Influencer_innen mit Unternehmen und
vermarkten eigene Produkte und Dienstleistungen wie Bücher, Fanartikel, Mode,
Kosmetik, Nahrungsergänzungsmittel, Online-Kurse oder Offline-Coachings. You-
Tube unterliegt dem Trend einer zunehmenden Professionalisierung und Kommer-
zialisierung (Döring 2014; Schwemmer und Ziewiecki 2018).
Parallel zum Boom der YouTube-Nutzung ist auch ein Boom der YouTube-Forschung
zu verzeichnen. Dabei sind die meisten Studien bislang der Medieninhaltsforschung
zuzuordnen. Die folgende Darstellung stützt sich auf genderbezogene YouTube-Studien
sowie auf einschlägige Beispiele aus der deutsch- und englischsprachigen YouTube-
Sphäre.
Betrachtet man die YouTube-Charts, also die Top 100 meistabonnierten YouTube-
Kanäle (SocialBlade 2018) so wird deutlich, dass das populäre YouTube-Angebot
weltweit überwiegend von männlichen YouTubern geprägt ist: Eine Inhaltsanalyse
Videoproduktion auf YouTube: Die Bedeutung von Geschlechterbildern 965
über neun Länder zeigte, dass Männer mit einem Anteil von 75 % drei Mal so häufig
zu den YouTube-Stars gehören wie Frauen (Döring und Mohseni 2018). Eine
deutliche Geschlechterkluft besteht nicht nur bei den YouTube-Stars, sondern offen-
bar bei der Online-Videoproduktion generell: Rund 4 % der Jugendlichen in
Deutschland veröffentlichen eigene YouTube-Videos, darunter rund viermal mehr
Jungen als Mädchen (mpfs 2013, S. 32, 35).
Diese Geschlechterkluft benachteiligt Mädchen und Frauen insofern, als sie nicht
gleichermaßen wie Jungen und Männer die YouTube-Kultur mitgestalten, sich
kreativ ausdrücken und von den beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten als You-
Tuber_innen und Influencer_innen profitieren. Unterschiedliche Erklärungsansätze
für die geringere Beteiligung von Mädchen und Frauen werden diskutiert und
bedürfen weiterer theoretischer Ausarbeitung und empirischer Prüfung:
Es ist festzuhalten, dass sowohl das Ausmaß als auch die Ursachen der
Geschlechterkluft bei der Videoproduktion auf YouTube noch nicht abschließend
wissenschaftlich geklärt sind und auch historisch und kulturell kontextualisiert
werden müssen. Einige Studien deuten darauf hin, dass Mädchen und Frauen sich
geschlechtsrollenkonform tendenziell stärker an Social-Media-Kommunikation in
geschlossenen Gruppen beteiligen, also eher privat als öffentlich kommunizieren
(mpfs 2018), andere Studien berichten plattformspezifische Geschlechterdominan-
zen (z. B. YouTube eher männerdominiert, TikTok und Instagram eher frauendomi-
niert), wieder andere Studien gehen davon aus, dass sich die Geschlechterkluft auf
YouTube in den USA möglicherweise schließt (Khan 2017).
Da YouTube zu großen Teilen massenmediale Inhalte verbreitet, finden sich die aus
der Forschung zu Massenmedien gut belegten Geschlechterstereotypisierungen
(Becker und Becker 1999; Mühlen-Achs 2003) auch auf YouTube wieder (z. B. deut-
lich stärkere sexuelle Objektifizierung von Frauen im Vergleich zu Männern in
Musikvideos auf YouTube: Aubrey und Frisby 2011). Wie ist jedoch die Situation
bei den nutzer_innengenerierten YouTube-Videos? Zeigen sich hier Abweichungen
von tradierten Geschlechterrollen?
Auf den ersten Blick ist das nicht der Fall: Sexuelle Objektifizierungen und
Stereotypisierungen sind in YouTube-Videos weit verbreitet: Comedy-Videos, die
zeigen, was „typisch Mädchen“ oder „typisch Junge“ ist, erfreuen sich großer
Beliebtheit und affirmieren dabei binäre Geschlechterbilder und problematische
Klischees (z. B. „MÄDCHEN normal VS wenn sie ihre TAGE HABEN“ mit mehr
als 10 Millionen Views; Döring 2015a). Männliche YouTuber kommentieren in
ihren Videos umfassend das Aussehen von YouTuberinnen und thematisieren, ob
man sie an ihren sekundären Geschlechtsmerkmalen erkennt (z. B. „YOUTUBER
BRÜSTE ERRATEN EXTREM“ mit knapp 1 Million Aufrufen). Manche You-
Tuberinnen praktizieren Selbstsexualisierung, etwa Katja Krasavice, die mit Videos
wie „SO BEFRI*DIGE ICH MICH“ mehr als 6 Millionen Klicks erzielt, wobei ganz
im Sinne sexueller Doppelmoral das anhaltend große voyeuristische Interesse des
Publikums an einem sexuell expliziten öffentlichen Auftreten von Frauen (messbar
an den hohen Klickzahlen) stets mit massiver Abwertung als „billig“, „peinlich“ und
„schlampig“ einhergeht (beobachtbar in den öffentlichen Videokommentaren und in
Reaktions-Videos zur betreffenden YouTuberin; Döring 2017).
Tradierte Geschlechterrollen zeigen sich auch im Hinblick auf stark geschlechter-
differente Themenbesetzungen: Feminin konnotierte Genres wie Schmink-, Styling-
und Mode-Videos werden vor allem von Mädchen und Frauen produziert und zeigen
dementsprechend vor allem Mädchen und Frauen vor der Kamera, während maskulin
konnotierte Genres wie Gaming-, Sport-, Nachrichten-, Politik- oder Wissenschafts-
Videos mehrheitlich Jungen und Männer repräsentieren (Amarasekara und Grant
2019; Budzinski und Gaenssle 2018; Döring 2015a; Welbourne und Grant 2016).
Comedy, Entertainment und Vlogging (= Videoblogging: Dokumentation des eigenen
Videoproduktion auf YouTube: Die Bedeutung von Geschlechterbildern 967
Im Unterschied zum Konsum massenmedialer Inhalte spielt bei der Nutzung von
YouTube-Videos die Social-Media-Komponente eine wichtige Rolle: Das Publikum
schaut sich die Videos nicht nur auf dem Smartphone oder Computer an, sondern
bewertet, kommentiert und teilt sie auch auf anderen Sozialen Medien. Damit gibt es
eine engere Rückkopplung zwischen Videoproduktion und Videorezeption (Burgess
und Green 2018). Videoproduzierende rufen ihr Publikum regelmäßig dazu auf,
Themenwünsche oder Fragen zu formulieren, auf die sie dann in ihren nachfolgen-
den Videos reagieren. Ebenso verfolgen die Videoproduzierenden detailliert, welche
Merkmale ihrer Videos (Inhalt, Titel, Vorschaubild) mehr oder weniger Klicks und
Resonanz erzeugen, und passen sich so dem Publikumsgeschmack an. Eine auf
Maximierung der Aufmerksamkeit ausgerichtete Produktions- und Publikationspra-
xis wird somit automatisch den Massengeschmack abbilden und auf aufmerksam-
keitsgenerierende Inhalte wie Skandale, Nacktheit oder Sex setzen. Genau diese
Entwicklung ist auf YouTube zu beobachten und betrifft unmittelbar den Umgang
mit Geschlechterbildern.
Die Top-YouTuberinnen, die – wie beschrieben – überwiegend feminin konnotierte
Themen (Schminken, Shoppen, Stylen etc.) vertreten und gängigen Schönheitsnormen
(jung, hübsch, schlank, blond, weiß usw.) entsprechen, haben vor allem junge weibliche
Fan-Gemeinden, die diesen YouTuberinnen nacheifern, weil sie „so wunderschön“ und
„selbstbewusst“ sind und ein beneidenswert luxuriöses Leben führen (Döring 2015a).
Die Welt der Beauty- und Lifestyle-Kanäle ist fröhlich und unbeschwert, konsumorien-
tiert und konventionell: Mit Freundinnen „Spaß haben“, aber auch für die Schule oder
Hochschule lernen, um „aus seinem Leben etwas zu machen“, lautet das Mantra. Die
YouTuberinnen wissen, wie stark sich pubertierende Mädchen an ihnen orientieren, und
sprechen oft von der großen Verantwortung, die sie als Vorbilder haben. Dementspre-
chend findet man in den Videos keinerlei Kraftausdrücke. Rauchen, Alkohol oder
sexuelle Eskapaden werden allenfalls als Stilmittel eingesetzt, um „Asis“ und „Schlam-
pen“ zu parodieren (z. B. in dem Video „10 ARTEN VON MÄDCHEN + Outtakes“ mit
über 9 Millionen Aufrufen). Die im gesellschaftlichen Mainstream verorteten Videoan-
gebote vermitteln ein tradiertes Bild des Mädchenseins. Die Rezipientinnen folgen den
Schmink-, Styling- und Kauftipps ihrer YouTube-Idole und träumen davon, selbst
Social-Media-Stars zu werden. Analog orientieren sich viele Rezipienten an den tra-
dierten Männlichkeitsbildern auf YouTube, die sich um Muskeln, Geld, Autos und
Erfolg bei Frauen drehen (Döring 2015a).
Die Rezeption von Frauen- und Männerbildern auf YouTube hat neben problemati-
schen Aspekten jedoch auch hilfreiche Dimensionen: Die Beauty-YouTuberinnen sind
für die Zuschauerinnen wie virtuelle große Schwestern, die in den Pubertätswirren
ermutigende Botschaften und Antworten bereithalten, wenn es um Stress mit den Eltern,
Pickel, Liebeskummer, Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten und Selbstunsicher-
heit geht. Während massenmediale Vorbilder wie Schauspielerinnen und Models im
sozialen Vergleich einschüchternd wirken, vermitteln Beauty-YouTuberinnen praktische
Hilfestellung und Zuversicht, zeigen sich auch einmal ungeschminkt und berichten
Videoproduktion auf YouTube: Die Bedeutung von Geschlechterbildern 969
darüber, wie sie selbst früher gemobbt wurden. Über das Thema Beauty als Aufhänger
schaffen sich Mädchen und junge Frauen auf YouTube geschlechterhomogene soziale
Kommunikationsräume, in denen sie teilweise sehr solidarisch agieren und sich in
diversen Alltagsbelangen unterstützen (Döring 2015a).
Ergänzend zu den Mainstream-Kanälen werden auf YouTube Nischen-Kanäle
angeboten und genutzt. So gibt es Beauty-YouTuberinnen aller Altersgruppen und
Körperformen, manche führen ihre Styles auf dem Krankenbett oder im Rollstuhl
vor (z. B. die YouTuberin Laura „isoke“), andere präsentieren sich mit Kopftuch
(z. B. die YouTuberin Isra „Orientblicke“) oder mit Gesichtstattoos (z. B. die You-
Tuberin „Julia March“).
Auch Rollenmodelle mit nicht-binären, androgynen, transgender und queeren Ge-
schlechteridentitäten sowie mit vielfältigen sexuellen Identitäten sind auf YouTube viel
präsenter als in den Massenmedien (Döring 2017). „TheNosyRosie“ beispielsweise ist
ein seit 2010 primär von und für lesbische Mädchen und Frauen betriebener deutsch-
sprachiger YouTube-Kanal, auf dem nicht-heterosexuelle Zuschauerinnen positive Rol-
lenmodelle und Identitätsvalidierung finden (Döring und Prinzellner 2016), etwa in
Videos wie „TNR || Bin ich lesbisch? – Inneres coming out“ (15.000 Views).
Das von einer Schülerin produzierte und bereits 2007 publizierte YouTube-Video
„A Girl Like Me“ thematisiert das Aufwachsen als Mädchen mit schwarzer Haut-
farbe in den USA und hat bislang über 700.000 Views und überwiegend positive
Bewertungen und Kommentare erhalten (Hoskins 2009).
Es finden sich auf YouTube Videos, in denen die professionellen Rollen der
Frauen im Vordergrund stehen, etwa wenn die Astronautin Karen Nyberg den Alltag
im All demonstriert (z. B. „Running in Space!“) oder die Psychotherapeutin Esther
Perel Untreue erklärt (z. B. „Rethinking infidelity . . . a talk for anyone who has ever
loved“). Die zugehörigen Videokommentare sind teils inhaltlich interessiert und
anerkennend („This woman is so intelligent, captivating, and powerful“), teils
wiederum objektifizierend („nice legs space lady“).
Entgegen dem Klischee einer eindimensional schönen, bunten Scheinwelt in
Sozialen Medien finden Mädchen und Frauen sowie Jungen und Männer auf You-
Tube auch zahlreiche Rollenmodelle, die den Umgang mit Krisen, Gewalterfahrun-
gen, Beziehungsproblemen, Krankheiten und Behinderungen vorleben und zum
Empowerment beitragen können (Döring 2016b). Bisherige Studien haben zudem
kontroverse Video-Themen wie selbstbestimmtes Gebären (Longhurst 2009), Ess-
störungen (Holmes 2016) oder weibliche Sexualität (Döring 2017) aufgegriffen
(Döring, 2016a). Auch findet auf YouTube eine umfassende Selbstreflexion über
Probleme rund um Social Media statt (z. B. werden Tricks aufgedeckt, mit denen
Scheineffekte wie besondere Schlankheit oder Muskularität im Video erzeugt wer-
den, es wird vor der Gefahr gewarnt, sich mit geschönten Repräsentationen von
Social-Media-Stars zu vergleichen und es werden eigene Erfahrungen als Social-
Media-Influencerin reflektiert, etwa in dem Video „Ich bin nicht so perfekt, wie ich
im Internet tue“). Derartige Videos können dem Publikum helfen, soziale Rollen,
Normen und Selbstdarstellungen zu hinterfragen.
Andererseits ist festzustellen, dass alternativer YouTube-Content bei Teilen des
Publikums auch äußerst kritische, aggressive bis offen hasserfüllte Reaktionen auslöst.
970 N. Döring
Die öffentlichen und fachlichen Debatten rund um die Wirkung von YouTube speziell
auf die Geschlechterverhältnisse sind polarisiert. Einerseits wird die Hoffnung artiku-
liert, dass YouTube als Social-Media-Plattform durch niedrigschwelligere Mitmach-
möglichkeiten zu mehr medialer Geschlechtergleichberechtigung und Empowerment
beiträgt. Andererseits wird kritisiert, dass sich Geschlechter-Asymmetrien und -Hie-
rarchien zuungunsten von Mädchen und Frauen, wie sie aus den alten Medien bekannt
sind, auch auf YouTube zeigen und teilweise sogar im Sinne von Disempowerment
verstärkt auftreten.
Für beide Tendenzen existieren – wie in den vorangegangenen Abschnitten auf-
geführt – entsprechende Beispiele und Studien. Allerdings wurden die konkreten
kurz- und mittelfristigen positiven und/oder negativen Auswirkungen der inhalts-
analytisch untersuchten Videos und Video-Kommentare bislang selten systematisch
erhoben oder gar experimentell geprüft. Eine der wenigen experimentellen Wir-
kungsstudien ergab beispielsweise, dass Beauty-YouTuberinnen mit ihren Erklä-
rungen zur Videoproduktion die Zuschauer_innen zum Videomachen motivieren
können, sofern sie als attraktiv wahrgenommen werden (Choi und Behm-Morawitz
2017). Das wäre dann als Empowerment-Effekt zu werten, weil Mädchen dazu
animiert werden, sich aktiv-produktiv an der männlich dominierten YouTube-Welt
zu beteiligen.
Was bislang fehlt ist zudem eine umfassende Gesamtschau der Befunde zu
YouTube-Effekten auf die Geschlechterverhältnisse, und zwar hinsichtlich Qualität
und Ausmaß der Effekte. Es ist anzunehmen, dass starken Positiv-Wirkungen (z. B.
YouTube-Videos helfen lesbischem Mädchen beim Coming-Out) und starken
Negativ-Wirkungen (z. B. YouTube-Videos verstärken körperbezogene Selbstunsi-
cherheit und begünstigen eine Essstörung), wie sie in bestimmten Kontexten auftreten
Videoproduktion auf YouTube: Die Bedeutung von Geschlechterbildern 971
können, bei vielen Nutzenden auch eher schwache und zudem ambivalente Wirkun-
gen gegenüberstehen. So mögen sich manche Mediennutzende über sexistische
YouTube-Inhalte in Top-Kanälen ärgern, gleichzeitig aber auch auf für sie hilfreiche,
unterhaltsame und emanzipatorische Nischen-Inhalte auf YouTube zurückgreifen.
Wie immer gilt, dass Vorhersagen über Medienwirkungen daran gebunden sind, die
Inhalte und Nutzungsweisen genau zu kennen und komplexe (statt unidirektionale)
Wirkmechanismen angemessen theoretisch zu konzeptualisieren. Hier ist noch viel
Forschungsarbeit zu leisten. Insbesondere müssen neben YouTube auch andere Video-
plattformen vergleichend unter Gender-Perspektiven untersucht werden (z. B. Live-
Streaming-Plattformen wie Twitch oder YouNow; Döring 2015b).
6 Fazit
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Digitale Spiele als Gegenstand
feministischer Game Studies
Astrid Ebner-Zarl
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 976
2 Frauen und Männer als SpielerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 977
3 Frauen und Männer in der Gamesbranche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 979
4 Darstellung von Frauen und Männern in Games . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 980
5 Interaktion in und um Games . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 981
6 Zusammenhänge zwischen den Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 982
7 Sozialisation durch Games . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 982
8 Fazit und offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 983
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 985
Zusammenfassung
Feministische Game Studies untersuchen die Geschlechterverhältnisse im
Zusammenhang mit digitalen Spielen. Dabei werden unterschiedlichste Aspekte
von Games einer kritischen Analyse entlang der Kategorie Geschlecht unterzo-
gen: Inhalt und Aufbau von Games sind ebenso Forschungsgegenstand wie
Nutzungsmuster, Strukturen der Gamesbranche und Interaktionen, die zwischen
Spielenden oder im Umfeld von Games stattfinden. Es zeigt sich eine ambivalente
Koexistenz von Fortschritten in punkto Geschlechtergerechtigkeit und persistie-
renden Mustern von Ungleichheit und Diskriminierung.
Schlüsselwörter
Feministische Game Studies · Geschlechterstereotype in Games · Nutzung von
Games · Gamesbranche · Gender und Games
A. Ebner-Zarl (*)
Fachhochschule St. Pölten, St. Pölten, Österreich
E-Mail: astrid.ebner-zarl@fhstp.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 975
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_55
976 A. Ebner-Zarl
1 Einleitung
Bei den Game Studies handelt es sich um ein junges Forschungsfeld,1 unter dessen
begrifflichem Dach sich zahlreiche Disziplinen aus ihrer jeweiligen Perspektive mit
digitalen Spielen befassen, so auch die feministische Forschung. Im deutschsprachi-
gen Raum haben die feministischen Game Studies ihre Spuren bislang eher in Form
verstreuter Ergebnisse hinterlassen. Zwar gibt es v. a. in den letzten Jahren eine
Reihe von Arbeiten zum Thema, explizite Forschungsstränge oder Hauptwerke sind
aber nicht auszumachen, teils stammen relevante Ergebnisse auch aus allgemeinen
Studien, in denen Geschlecht als eine Variable miterhoben wurde. Grundlegende, die
Disziplin konstituierende Werke finden sich eher im angloamerikanischen Raum, wo
mit den Sammelbänden From Barbie to Mortal Kombat (Cassell und Jenkins 1998a)
und Beyond Barbie and Mortal Kombat (Kafai et al. 2008a) eine international viel
zitierte feministische Bestandsaufnahme stattfand. In deutschsprachigen Arbeiten
wird zur Darstellung des Wissensstandes stark auf angloamerikanische Quellen
zurückgegriffen. Prinzipiell gibt es im angloamerikanischen Raum eine Vielfalt
älterer und neuerer Ergebnisse zu diversen Aspekten von Games, jedoch ebenfalls
ohne ausdifferenzierten Forschungssträngen zugeordnet werden zu können. Über die
genannten Sammelbände hinaus sind auch keine weiteren Hauptwerke erkennbar.
Insgesamt sind die feministischen Game Studies noch durch das Fehlen eines
theoretischen Überbaus gekennzeichnet. Grundlegende Theorien oder übergreifende
Aussagen werden auch in den beiden Hauptwerken nicht herausgearbeitet; vielmehr
reihen sie in einer Mischung aus Aufsätzen und Brancheninterviews ein breites
Spektrum von Einzelperspektiven aneinander. Deshalb können die beiden Bände
auch nicht in ihren Grundaussagen in den vorliegenden Artikel eingearbeitet werden.
Stattdessen fließen Erkenntnisse aus relevanten Aufsätzen der Bände direkt bei den
jeweiligen Themengebieten ein.
Der Begriff des Games umfasst eine Vielfalt digitaler Spiele. Es gibt nicht nur
unterschiedlichste Genres (z. B. Jump ‚n‘ Run, Simulation), sondern auch diverse
Plattformen, auf denen Games angeboten werden (PC2-, Konsolen-, Mobile-,
Online-Games). Games können auf den/die EinzelspielerIn ausgerichtet sein (sin-
gleplayer games) oder auf das Zusammenwirken mehrerer bis zahlreicher SpielerIn-
nen (multiplayer games), heute meist damit verbunden, dass über das Internet
1
Der Beginn der Game Studies wird teils mit Ende der 1990er-Jahre, teils mit Anfang der 2000er-
Jahre datiert (Beil 2013, S. 21; Wilhelm 2015a, S. 317).
2
PC steht hier für Personal Computer. Spätere Verwendungen des Kürzels PC im Text beziehen sich
auf den Begriff „Player Character“, es handelt sich dabei um eine gängige Abkürzung in der
Gamesbranche.
Digitale Spiele als Gegenstand feministischer Game Studies 977
gespielt und kooperiert wird. Hinzu kommen neue gamerelevante Technologien wie
Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) und Mixed Reality (MR).
3
Sie bezieht sich auf die Mediennutzung von 12- bis 19-Jährigen in Deutschland.
4
Drei Erhebungswellen von 2011–2013. Befragt wurden Personen ab 14 Jahren.
978 A. Ebner-Zarl
5
Den Eindruck von Widersprüchlichkeit teilt auch Wilhelm (2015b, S. 108) und verweist auf stark
unterschiedliche methodische Settings der zahlreichen Studien.
6
In Massively Multiplayer Online Games interagieren tausende bis hin zu mehreren Millionen
Spielende über das Internet gleichzeitig in derselben virtuellen Welt (Barnett und Coulson 2010,
S. 168).
7
Zu erwähnen ist, dass Innensicht der Community und Gesellschaftssicht voneinander abweichen.
Gesellschaftlich gilt exzessives Spielen als problematisch, in der Community ist es zentraler Teil der
Gameridentität und Kennzeichen von Kompetenz (Kubik 2012, S. 138).
Digitale Spiele als Gegenstand feministischer Game Studies 979
gruppen: „It isn’t the case that women play only for socializing or that men play only
to kill monsters.“ (Yee 2008, S. 90)
Trotz steigender Spielerinnenzahlen ist der Anteil von Frauen in der Gamesbranche
stabil niedrig, je nach Quelle und Land wird er mit etwa 10–12 % angegeben (Pugh
2014, S. 82; Fullerton et al. 2008, S. 164; Ganguin und Hoblitz 2014, S. 11;
Vanderhoef 2013). Charakteristisch ist, dass sich Frauen innerhalb der Branche
v. a. auf bestimmte Bereiche konzentrieren. Die höchsten Frauenanteile finden sich
in Bereichen wie Human Resources, Marketing und Produktion, in Kernfunktionen
wie Game Designer, Audio Producer oder als Führungskräfte ist ihr Anteil deutlich
geringer, am niedrigsten ist er unter den ProgrammiererInnen mit 4–5 % (Pugh 2014,
S. 84–85; Fullerton et al. 2008, S. 164).
Von den Gründen, die Frauen vor einer Berufstätigkeit in der Gamesbranche
zurückschrecken lassen, wird die branchentypische exzessive Überstundenkultur
besonders hervorgehoben. Arbeitszeiten von mindestens 60, vielfach 70–80, teils
bis zu 100 h pro Woche sind besonders in den häufig wiederkehrenden „crunch
times“ üblich, den äußerst arbeitsintensiven Phasen kurz vor Projektabschlüssen
oder anderen Deadlines. Zwar beschneiden diese Bedingungen das Privatleben
von männlichen wie weiblichen Beschäftigten, gleichzeitig aber lasten Kinderbe-
treuungspflichten nach wie vor stärker auf Frauen. Sowohl für Mütter als auch für
Frauen, in deren künftiger Lebensplanung Kinder vorgesehen sind, stellt die bran-
chentypische Notwendigkeit von Überstunden ein großes Vereinbarkeitsproblem
dar. Zudem wird die Gamesbranche ihrer mehrheitlichen personellen Besetzung
entsprechend nach wie vor als männliche Domäne wahrgenommen. Frauen begrei-
fen die Gamesbranche daher oft gar nicht als potenzielles Karrierefeld für sich, der
Einstieg in die Branche erfolgt bei vielen ungeplant (Consalvo 2008, S. 181–186;
Prescott und Bogg 2014, S. 96–105; Ganguin und Hoblitz 2014, S. 230–235, 281).
Als weiterer abschreckender Faktor gelten Diskriminierung und Sexismus innerhalb
der Gamesindustrie. Kafai et al. (2008b, S. XII–XIII) beschreiben die gängige
Praxis, bei Gamesmessen so genannte Booth Babes – spärlich bekleidete Frauen –
zur Bewerbung neuer Spiele einzusetzen. Laut Vanderhoef (2013) ist in der Branche
zur Einordnung von Spielen als Casual oder Hardcore der Mom Test üblich, nach
dem Motto: Wenn deine Mutter es mag bzw. spielen kann, ist es ein Casual (d. h. nach
Branchenlogik defizitäres) Game. Frauen in der Gamesbranche sind immer wieder
auch mit Vorurteilen hinsichtlich geringerem Technikinteresse und geringerer Spiel-
kompetenz konfrontiert (Ganguin und Hoblitz 2014, S. 281).
Was Frauen trotz schwieriger Bedingungen in der Gamesindustrie hält, ist Lei-
denschaft für die Sache. Kreative Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten, Selbstver-
wirklichung durch Umsetzung eigener Ideen und inhaltlich erfüllende Aufgaben
werden mit der Branche in Verbindung gebracht (Ganguin und Hoblitz 2014, S. 281;
Consalvo 2008, S. 185). „Passion“ ist laut Consalvo (2008, S. 185) generell ein
starker Teil der Branchenidentität und wird als Erfordernis in Stellenausschreibun-
980 A. Ebner-Zarl
gen formuliert – sie ist nötig, um sich den Härten der Branche langfristig unterwerfen
zu können, für Frauen noch stärker als für Männer.
8
Player Characters sind die spielbaren Figuren eines Games, im Gegensatz zu den Non Player
Characters (NPCs), die nicht von dem/der Spielenden gesteuert werden können.
Digitale Spiele als Gegenstand feministischer Game Studies 981
weibliche PCs zwar vorhanden sind, jedoch mit geringerer Relevanz für das Spiel als
ihre männlichen Pendants. Eine ähnliche Beobachtung machen Summers und Miller
(2014, S. 1037), die darauf hinweisen, dass weibliche Figuren in den letzten Jahren
seltener als Damsels in Distress und häufiger als starke PCs fungieren, dies aber oft
mit einer massiven Sexualisierung einhergeht.
Nach wie vor finden sich auch äußerst extreme Formen von Sexismus in Games.
Ein vielzitiertes Beispiel ist die verkaufsstarke Spielereihe Grand Theft Auto (GTA),
die in der JIM-Studie 2016 auf Platz 3 der Lieblingsspiele Jugendlicher rangiert
(MPFS 2016a, S. 45). Frauen sind in GTA im Wesentlichen sexuelle Objekte oder
klischeehafte Nebenfiguren mit flacher Charakterzeichnung, sie werden mit abwer-
tenden Ausdrücken (z. B. „bitch“) belegt und erfahren Gewalt von den ausnahmslos
männlichen PCs (Hoggins 2013; Jenson und de Castell 2014; Beck et al. 2012,
S. 3023). Es gibt auch Games, deren Spielziel darin besteht, als PC Frauenfiguren zu
vergewaltigen, z. B. in Rapelay, das zwar nach einer Weile verboten wurde, sich aber
illegal im Internet weiterverbreitet und großer Popularität erfreut (Beck et al. 2012,
S. 3018–3023).
MMOs ermöglichen es durch die freie Gestaltbarkeit der PCs, mit Geschlecht zu
experimentieren (Kafai et al 2008b, S. XVII). Manche SpielerInnen bewegen sich
bewusst mit einem PC im Spiel, dessen Geschlecht nicht ihrem eigenen Geschlecht
als Person entspricht. Huh und Williams (2010, S. 168) kommen für das MMO
EverQuest II zum Schluss, dass 16 % der SpielerInnen Gender Swapping betreiben;
meist handelt es sich um Männer mit einem weiblichen Avatar. Yee (1999–2004)
analysierte in einer Langzeitstudie Häufigkeit von und Motivationen für Gender
Swapping in unterschiedlichen MMOs. Ihm zufolge wird die Hälfte der weiblichen
PCs in MMOs von Männern gespielt. Als Gründe werden Vorteile und Hilfestellun-
gen genannt, die andere (männliche) Spieler ihren Mitspielerinnen zuteilwerden
lassen; im Falle einer Third-Person-Perspektive geht es mitunter auch darum, lieber
einen Frauen- als einen Männerkörper betrachten zu wollen. Umgekehrt wählen
manche Frauen männliche PCs, um Annäherungsversuchen männlicher Mitspieler
oder Vorurteilen über geringere Spielkompetenz zu entkommen (Yee 2008, S. 94).
Sensibilisierendes Potenzial von Gender Swapping liegt laut Yee (1999–2004) darin,
dass eigene Erfahrungen mit den Zwängen der jeweils anderen Geschlechterrolle
gemacht werden und so die gegenseitige Empathie erhöht werden kann.
Eine Facette von Interaktion in und um Games ist aber auch Sexismus. Frauen-
feindliche Kommentare, Beschimpfungen und sexuelle Belästigung in Games wer-
den sowohl in wissenschaftlichen Arbeiten als auch durch betroffene Spielerinnen
auf selbst errichteten Plattformen dokumentiert (Fox und Tang 2017, S. 124–136;
Kowert et al. 2017, S. 141–143). Im Zuge der GamerGate-Kontroverse erhielten
sowohl Gamesentwicklerinnen als auch die feministische Medienkritikerin Anita
Sarkeesian Hasspostings sowie Mord- und Vergewaltigungsdrohungen von anony-
men Spielefans (Chess und Shaw 2015, S. 210). Consalvo (2012) spricht von einer
982 A. Ebner-Zarl
„toxic gamer culture“ und hebt die Bedeutung feministischer Forschung hervor,
diese Vorfälle sichtbar zu machen und zu analysieren.
Die zuvor skizzierten Ebenen werden allgemein als miteinander verbunden begrif-
fen. Dass Männer die Spieleentwicklung dominieren, führe zu Games, die in Inhalt
und Aufmachung an den Präferenzen männlicher Spieler orientiert sind. Die daraus
resultierende stereotype Darstellung und Unterrepräsentation weiblicher Figuren
bewirke geringeres Interesse von Frauen an Games. Es wird argumentiert, dass
Frauen wie Männer Charaktere des eigenen Geschlechts favorisieren und dass
Frauen sich von Gewalt und übersexualisierten Darstellungen weiblicher Figuren
abgestoßen fühlen. Folglich werde Frauen und Mädchen ein optimales Spielerlebnis
vorenthalten (Hartmann und Klimmt 2006, S. 914–926; Trepte und Reinecke 2010,
S. 237–238; Schott und Horrell 2000, S. 45). Shaw (2013) legt in diesem Zusam-
menhang das bekannte Zitat von Simone de Beauvoir auf Gamesnutzung um: „[O]ne
is not born a gamer, one becomes one.“
Gleichzeitig wird eine Rückwirkung niedrigeren Nutzungsinteresses von Mäd-
chen und Frauen auf die Geschlechterverhältnisse in der Produktion vermutet.
Diesen sich selbst verstärkenden Kreislauf bezeichnen Fullerton et al. (2008, S. 173)
als „vicious cycle“ und stellen ihm den wünschenswerten „virtuous cycle“
gegenüber, in dem die verstärkte Einbindung von Frauen in die Entwicklung Games
hervorbringe, die Frauen gefallen, wodurch wiederum das Interesse von Frauen an
Berufen in der Gamesbranche angeregt werde. Mehr Diversität in Entwicklungs-
teams wird als Potenzial gesehen, die Bedürfnisse einer breiteren NutzerInnenschaft
zu berücksichtigen. Als Erfolgsbeispiel wird wiederholt die bei Frauen wie Männern
beliebte Lebenssimulation Die Sims angeführt, an deren Entwicklung zahlreiche
Frauen beteiligt waren (Consalvo 2008, S. 176; Fullerton et al. 2008, S. 165; Prescott
und Bogg 2014, S. 94).
Hinsichtlich Multiplayer Games werden Zusammenhänge zwischen sexistischen
Interaktionen und Nutzungsmotivation aufgezeigt (Yee 2008, S. 93–94; Fox und
Tang 2017, S. 318). Laut Yee (2008, S. 84) sind negative Erfahrungen mit der
Spielkultur für Frauen bei weitem abschreckender als Faktoren der Spielmechanik.
Games werden als Sozialisationsinstanz bezeichnet, als solche vermitteln sie Werte,
Normen, Selbst- und Weltbilder und beeinflussen die Persönlichkeitsentwicklung.
Medien im Allgemeinen haben diese Funktion, für Games wird sie als noch prä-
gender angenommen, da die Spielenden anders als z. B. beim Fernsehen durch
eigenes Handeln aktiv sind (Dietz 1998, S. 430–431). Walkerdine (2007, S. 12)
spricht diesbezüglich von „embodiment“, Spielen sieht sie als einen zutiefst körper-
lichen Prozess an (Walkerdine 2007, S. 12–14), was impliziert, dass sich die in
Digitale Spiele als Gegenstand feministischer Game Studies 983
9
Let’s Players zeichnen sich selbst beim Spielen auf und kommentieren dabei das Spielgeschehen
bzw. ihre Spielzüge. Die so entstandenen Videos (Let’s Plays) werden z. B. via YouTube öffentlich
geteilt.
Digitale Spiele als Gegenstand feministischer Game Studies 985
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10
Erste Forschungsaktivitäten zum letztgenannten Aspekt gibt es von WissenschafterInnen der Stan-
ford University und der Columbia University, allerdings nicht im Zusammenhang mit Games. Das
Forschungsteam rund um Jeremy Bailenson und Courtney Cogburn entwickelte ein VR-Erlebnis mit
dem Titel „1000 Cut Journey“, um Menschen hinsichtlich Alltagsrassismus zu sensibilisieren.
NutzerInnen des VR-Erlebnisses schlüpfen dabei virtuell in den Körper eines Mannes mit schwarzer
Hautfarbe und erleben aus Ich-Perspektive die Vielfalt an manifesten wie subtilen Diskriminierungen,
denen Menschen mit schwarzer Hautfarbe ausgesetzt sind. Das Forschungsteam misst VR aufgrund
dieser Möglichkeit der unmittelbaren Perspektivenübernahme großes Potential bei, Empathie für
diverse diskriminierte Gruppen (z. B. auch Frauen, ältere Menschen, Personen mit Behinderung) zu
fördern und zur Hinterfragung von Stereotypen anzuregen (zu den konzeptionellen Hintergründen
siehe Bailenson (2018) und für eine genaue Beschreibung des Projekts sowie einen Einblick in die
konkrete Umsetzung außerdem NBC News (2018)).
986 A. Ebner-Zarl
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Vom Pornografieverbot zu den Porn
Studies: Perspektiven auf Pornografie(n)
Angela Tillmann
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 990
2 Historische Anfänge der feministischen Debatte und die zunehmende
Ausdifferenzierung des Diskurses um Pornografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 990
3 Produktion und kommerzielle Vermarktung von Pornografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 992
4 Zentrale Entwicklungslinien und Forschungsstränge in der Pornografieforschung . . . . . . . 993
5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 998
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 999
Zusammenfassung
Ausgehend von einer Rückschau auf die sogenannten feministischen „Sex Wars“
in den 1970er-Jahren und anhand eines Streifzuges durch die Geschichte und den
Diskurs der queer-/feministischen Pornografieforschung zeichnet der Beitrag
nach, wie die engagiert geführten Debatten um Pornografie und die Produktion
alternativer Pornografien sowohl zur Etablierung der Porn Studies als auch zur
Entwicklung einer Post-Pornografie-Bewegung geführt haben. Skizziert wird
damit insgesamt ein Forschungsfeld, das sich in den letzten 40 Jahren thematisch,
theoretisch und methodisch stark ausdifferenziert hat.
Schlüsselwörter
Pornografie · Post-Pornografie · Porn Studies · Körper · Lust · Sexualität ·
Sexualisierung
A. Tillmann (*)
Institut für Medienforschung und Medienpädagogik, TH Köln, Köln, Deutschland
E-Mail: angela.tillmann@th-koeln.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 989
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_70
990 A. Tillmann
1 Einleitung
Der Begriff der Pornografie ist in den letzten vier Jahrzehnten in der feministischen
Kommunikations- und Medienwissenschaft, den „Porn Studies“ als auch in der Post-
Pornografie-Bewegung vielfältig ausdifferenziert worden. Im Mittelpunkt der For-
schung und auch politischen Praxis stehen dabei nicht mehr allein Medientexte mit
ausschließlich sexuell-explizitem oder erotischem Inhalt, sondern das Verständnis
und Verhältnis von Körpern, Sexualität und Identität in der Verschränkung auch mit
vormals nicht primär pornografischen Semantiken und Dingen. Die Rede ist daher
vom Pornografischen oder Pornografien im Plural.
Die Erweiterung des Bedeutungshofes des Begriffs und auch der Forschung über
Pornografie(n) lässt sich insbesondere zurückführen auf feministische Auseinander-
setzungen über Pornografie, die in den 1970er-Jahren in der amerikanischen und
kanadischen Öffentlichkeit als auch parallel dazu in Deutschland ihren Ausgangs-
punkt nahmen. Deutlich wurde dabei von Beginn an die enge Verschränkung von
kulturellen politischen Praktiken und sozialen Bewegungen mit gendertheoretischen
und auch rechtswissenschaftlichen und ethischen Positionen. Die engagiert geführ-
ten Debatten begründeten letztlich sowohl die Etablierung von Pornografie(n) als
Forschungsgegenstand als auch die Porn Studies. Der Feminismus bzw. das
„Ensemble an Debatten, kritischen Erkenntnissen, sozialen Kämpfen und emanzi-
patorischen Bewegungen“ (Hennessy 2003, S. 155) hat damit insgesamt zu einer
Erweiterung und Vervielfältigung des Redens, Schreibens und Forschens auch über
Pornografien beigetragen.
Die Vielfalt an theoretischen und methodischen Zugängen, die sich heute in der
Pornografieforschung findet, nahm ihren Ausgangspunkt in den 1970er-Jahren. Vor
allem in den USA, Kanada und im deutschsprachigen Raum wurde in feministischen
Kreisen kontrovers um die Legitimität, die Wirkung und die Produktionsverhältnisse
von Pornografie gestritten und dabei eine enge Verbindung zur Prostitution und
damit auch zwischen Sexualität und Gewalt hergestellt. Den Ausgangspunkt bildete
die Legalisierung von Pornografie 1969 in den USA und 1975 in Deutschland. Die
Legalisierung als auch zunehmende Verbreitung der Pornografie v. a. durch die
Einführung des Videorekorders polarisierte den feministischen Diskurs. Auswirkun-
gen davon sind bis heute spürbar. Neben einem pornografiekritischen, auf Zensur
oder Eindämmung abzielenden Standpunkt hat sich eine libertäre Position heraus-
gebildet, die auf die Gefahren der Zensur und die Engführung der Debatte sowie
Fortschreibung von Geschlechterstereotypen verweist.
Stellvertretend für die pornografiekritische Position in Deutschland ist die von
Alice Schwarzer und der Zeitschrift EMMA initiierte Kampagne „PorNO“
(Schwarzer 1988) zu nennen. Nach einem medienwirksamen Prozess gegen die
Vom Pornografieverbot zu den Porn Studies: Perspektiven auf Pornografie(n) 991
Synergie“ geschaffen, die den „feministischen Porno sowohl als Form der sexuellen
Unterhaltung wie auch der Kulturkritik geformt“ (Omella 2014, S. 217) und den
sex-positiven Feminismus und die „PorYes-Bewegung“ mit begründet hat (Willis
1983; Méritt 2012).
Die bisher skizzierten Entwicklungen haben sowohl zur Politisierung als auch zur
Akademisierung des Diskurses beigetragen. Neben die teils genannten Publikatio-
nen zur Reglementierung von Pornografie und zur Macht der Rechtsprechung sind
inzwischen historische Abhandlungen (Hunt 1994) und Diskurs- und Dispositiv-
analysen (Allhutter 2009; Müller 2010) getreten. Verstärkt wird auch die zuneh-
mende „Sexualisierung“ oder „Pornografisierung“ von Gesellschaft (McNair 2002;
Sørensen 2003; Attwood 2006, 2009; Schuegraf und Tillmann 2012) thematisiert
und kritisch und kontrovers über die wachsende Verbreitung z. B. pornografischer
Stilelemente („Porno-Chic“) in populären Medienpraktiken und, eng damit ver-
knüpft, das regulierende und/oder auch selbstermächtigende Potenzial der Praktiken
als auch Ambivalenzen des „Sexy-Sein“ für Frauen/Mädchen diskutiert (Duits und
Zoonen 2006; Villa 2012; Hipfl 2015). Parallel dazu wird aus einer stärker hetero-
und homonormativitätskritischen queer-/feministischen Perspektive das transgressi-
ve Potenzial von Pornografie in den Blick genommen (Stüttgen 2009; Preciado
2003; Schocher 2021). Vermehrt analysiert und diskutiert werden zudem Online-
Pornografie(n) (Jacobs 2007; Attwood 2010; Paasonen 2011). Weiterhin werden
Einblicke in Fetisch-Subkulturen eröffnet als auch über die Genderfrage hinaus-
gehende ethische Fragen z. B. im Kontext der „Kriegspornografie“ – dem Vergnügen
am Konsum realer Bilder von Folter, Kampf und Hinrichtung – verhandelt (Jacobs
et al. 2007). Diskutiert wird, ob „Sozial-Pornos“ oder „Lifestyle-Pornos“ wie z. B.
„Food-Pornos“ nicht ebenfalls pornografisch sind, und zwar dahingehend, dass sie
im umfassenden Sinne Erregungszustände wie Ekel, Freude, sehnsüchtiges Verlan-
gen, Neid etc. hervorrufen (Hester 2014; Schumacher 2016). Weiterhin wird die
spezifische Rolle afroamerikanischer Frauen in der Pornografie behandelt (Miller-
Young 2014; Nash 2014) als auch ein Blick auf rassistische (Cruz 2016; Smith und
Luykx 2017) und antimuslimisch rassistische Inhalte im „interracial porn“ gerichtet
(Kempen 2020).
Die queer-/feministische Pornografieforschung zeichnet sich heute insgesamt
durch eine vielschichtige Diskursentwicklung und Vielfalt an Zugängen und metho-
dischen Ansätzen aus. Allerdings gibt es bis heute wenige Studien zur Produktion
und kommerziellen Vermarktung der Pornografie (Döring 2009).
Pornografie stellt einen globalen Industriezweig dar, der eng verknüpft ist mit
technologischen Entwicklungen, die wesentlich zur Verbreitung und ubiquitären
Verfügbarkeit von Pornografie beigetragen haben. Insbesondere digitale Technolo-
gien unterstützen die weitgehend raum- und zeitunabhängige Recherche und Nut-
zung von Pornografie und eröffnen Erfahrungen auch in einem immersiven und
Vom Pornografieverbot zu den Porn Studies: Perspektiven auf Pornografie(n) 993
In der viel zitierten kulturhistorischen Arbeit über die „Erfindung der Pornografie“
rekonstruiert Lynn Hunt (1994), woher der Begriff der Pornografie stammt und wie
Pornografie als literarische Praxis im Rahmen der Demokratisierung der westlichen
Kultur entstanden ist. Die Pornografie bzw. der Roman besaß demnach als das Genre
der Pornografie-Kultur bis zum Ende des 18. Jahrhundert vorrangig politisch-
subversive Qualität. Im 16. und 17. Jahrhundert eröffnete er zuvorderst den männ-
lichen Oberschichten eine Möglichkeit der Revolte auch gegen die konventionelle
und religiöse Moral. In den pornografischen Romanen dominierte die weibliche
Erzählerin – in der Regel handelte es sich um eine „Hure“, die Zugang zu Salons und
den oberen Rängen der Kirche und Regierung hatte und damit die öffentliche Frau
par excellence darstellte (Hunt 1994, S. 35). Damit war die frühe Pornografie „nicht
bewusst avant la lettre feministisch“, und doch bewertete die Pornografie die Dar-
stellung ihrer Frauen und der weiblichen Sexualität, zumindest bis in die 1790er-
Jahre hinein, „höher als die geläufigen medizinischen Texte“ (Hunt 1994, S. 39).
Pornografie beschränkte sich in dieser Zeit v. a. auf die Beschreibung von Genitalien,
eine Aneinanderreihung von wiederholten Geschlechtsakten kam in geringem Um-
fang vor; hier setzte dann v. a. de Sades mit seinen Schriften in den 1790er-Jahren
neue Maßstäbe. Hunt beschreibt den Rezeptionskontext als vorwiegend männlich:
Es waren Männer, die für männliche Leser aus Sicht einer weiblichen Erzählerin
über Frauen schrieben, die Sex mit anderen Frauen oder mehreren Partner*innen
hatten (Hunt 1994, S. 40).
Bis heute beschäftigt die Pornografieforschung die Frage, welche Implikationen
damit einhergehen, dass Pornografie den Menschen und insbesondere Frauen in
Gesellschaften nicht überall zur Verfügung stand, sondern nur ausgewählten Grup-
pen bzw. einer damals vorherrschenden männlichen Elite und sich auf spezifische
Räume verteilt – Räume, die Walter Kendrick (1987) als „geheime Museen“ betitelt.
Paul Beatriz Preciado spricht sich im Zuge dessen dafür aus, auch die räumlichen
Gegebenheiten von Pornografie in den Blick zu nehmen. Pornografie stellt demnach
einen Akt des Framings dar, der die Grenzen nicht nur zwischen öffentlich und
privat, sondern auch zwischen Körpern, die visuelle Erfahrung genießen, und
Körpern, die nicht sexuell sein dürfen, bildet (Preciado 2009, S. 28). Daraus leitet
er eine Aufgabe von Post-Pornografie ab: Kritik zu formulieren, wie Lust auf Räume
verteilt und darüber zugleich beschränkt ist.
Erst jüngst wurde am Beispiel der Blogging-Plattform „Tumblr“ gezeigt, wel-
che Konsequenzen die Sperrung von Räumen im Internet hat. Vielfältige
LSBT*IQ-Inhalte mit auch pornografischen Bezügen wurden aus kommerziellen
Beweggründen gesperrt, wodurch für viele Nutzer*innen ein Archiv queerer
Kultur als auch ein Zufluchtsort und Ort der Vernetzung, Erprobung und Anerken-
nung verloren ging (Engelberg und Nedhaam 2019; Byron 2019). In neueren
Arbeiten, die sich unter dem Begriff „Porno-Tourismus“ sammeln, werden Orte
in den Blick genommen, an denen sich Pornokonsument*innen treffen und ver-
gemeinschaften, darunter auch alternative queer-/feministische Pornofestivals
(Morillas 2020).
Vom Pornografieverbot zu den Porn Studies: Perspektiven auf Pornografie(n) 995
und der „Prosument*in“ die Rede – von Personen, die im Internet gleichermaßen
konsumieren als auch produzieren (Toffler 1980; Ritzer und Jurgenson 2010).
Partizipiert, online verbreitet und geteilt werden nicht nur selbst produzierte Porno-
grafie, sondern aktuell auch Mikroporn bzw. Mikroformate wie Gifs und Memes
(Hester et al. 2015), Dick-Pics (Ringrose und Lawrence 2018; Paasonen et al. 2019)
oder Deepfake Pornos (Popova 2020; van der Nagel 2020). Die Bandbreite reicht
von neuen Ausdrucksformen des Begehrens, der Vergemeinschaftung und subver-
siven Bedeutungsverschiebungen bis hin zu sexueller Diskriminierung und Aus-
beutung.
5 Fazit
Der Streifzug durch die Geschichte und den Diskurs der queer-/feministischen
Pornografie zeigt ein Forschungsfeld, das sich thematisch, theoretisch, methodisch
und auch als Bewegung immer weiter ausdifferenziert hat. Aus einer sowohl inter-
als auch transdisziplinären Perspektive und unter Berücksichtigung gesellschaftli-
cher und ökonomischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse werden das Vergnügen
und die Lust an der Produktion, Rezeption und neuerdings auch Versendung und
Zirkulation von Pornografien diskutiert und dort stattfindende diskriminierende und
regulierende Praktiken als auch Möglichkeiten subversiver Bedeutungsverschiebun-
gen behandelt. Insbesondere Arbeiten, die sich im Kontext der Porn Studies und
Post-Pornografie verorten, sind an einer Neuverhandlung des Pornografischen und
der Sichtbarmachung alternativer Sexualpraktiken und Sexualitäten jenseits
des heterosexuellen Mainstreams interessiert. Neben der Untersuchung sexuell-
expliziter Darstellungen und damit verknüpfter sozio-kultureller Praktiken werden
dabei Bezüge auch zu nichtsexuellen Praktiken hergestellt.
Noch am Anfang steht die konsequente Erweiterung der bisher weitestgehend
anglo- und eurozentrischen Forschung über Pornografien auf andere kulturelle
Kontexte, Regionen und Kulturen. Erweiterte Perspektiven verspricht hier ein er-
gänzender Blick auf den kolonialen Einfluss und Umgang mit Pornografien (Mul-
holland 2016; Pradhan 2019). Offene Fragen zeigen sich auch bezogen auf die
Erweiterung des Wahrnehmungs- und Handlungsspektrums im Kontext digitaler
Technologien wie VR und/oder digitale Spiele (Allhutter 2009). Weitgehend unklar
ist zudem, wie sich die zunehmende digitale Datensammlung und Überwachung auf
den Umgang mit Körpern, Vergnügen und Lust auswirkt; hier gilt es sicherlich die
Monopolstellung insbesondere auch einzelner Anbieter zu berücksichtigen. Weitere
Herausforderungen auch auf methodischer Ebene zeigen sich bei Mikroporn, wo
kurze, nicht zwangsläufig sexuell-explizite Bilder aus pornografischen Kontexten
auf speziellen Websites oder von Fans kuratiert neu bzw. de-kontextualisiert werden
(Attwood et al. 2018).
Grundsätzlich gilt, und in der Pornografieforschung wohl weiterhin in besonde-
rem Maße, die eigene Position als Forscher*in und den eigenen Beitrag zur Erwei-
terung der Perspektiven und Handlungsbedingungen und -fähigkeiten der beteiligten
Akteur*innen zu reflektieren. Neben dem Hinweis auf normierende moralische
Vom Pornografieverbot zu den Porn Studies: Perspektiven auf Pornografie(n) 999
Vorstellungen und der Auslotung und Herstellung von Spielräumen und Möglich-
keiten abweichender Bedeutungsproduktionen ist der Fokus weiterhin auch auf die
komplexen Verflechtungen und herrschaftsbedingten Abhängigkeiten im pornogra-
fischen Gefüge sowie sexuelle Diskriminierung, Machtmissbrauch und wirtschaftli-
che Ausbeutungsstrukturen zu richten.
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Teil X
Zukunft der feministischen Medienforschung
Macht- und diskriminierungskritische
Professionalisierung von
Wissensproduktion
Susanne Lummerding
Inhalt
1 Wissenschaftsfreiheit* bedeutet, über Diskriminierung zu sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1008
2 Positionierte Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1009
3 Profession/Professionalisierung und Nicht-/Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1010
4 Lehr_Lern-Prozesse – Brave(r) Spaces . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1011
5 Beratung – Begleitung von Ver-un_gewisserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013
6 Professionalisierung (selbst-)kritischen In-Frage-Stellens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1014
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1015
Zusammenfassung
Zunehmend sind Angriffe seitens akademischer wie auch nicht-akademischer –
den Kampfbegriff der ‚Wissenschaftsfreiheit‘ bemühenden – Verteidiger*innen
eines hegemonialen Status Quo gegen vorgebliche ‚Cancel Culture‘ und ‚Identi-
tätspolitik‘ zu beobachten. Sie sind allerdings nur der augenfälligste Ausdruck
bewährter privilegierter Abwehrmechanismen gegen eine (selbst-)kritische Aus-
einandersetzung mit gesellschaftlichen Macht- und Diskriminierungsstrukturen
auch und vor allem in Feldern der Wissensproduktion. Was also mehr denn je
gefragt ist, sind Kritik und das In-Frage-Stellen bisheriger ‚Gewissheiten‘ als
zentraler Aspekt von Wissensproduktion/Wissenschaft, vor allem aber das
(selbst)kritische In-Frage-Stellen auch jener ‚Gewissheiten‘, die die Grundlage
für Dominanz- und Diskriminierungsverhältnisse und der eigenen Verstrickheit in
diese bilden. Dies als wesentlichen Teil der Professionalisierung hinsichtlich
eines entsprechenden Professionsverständnisses zu begreifen, bedeutet, aktiv
dafür einzutreten, dass Wissenschaft und deren Institutionen ein inklusiver Ort
S. Lummerding (*)
Universität Wien, Wien, Österreich
E-Mail: susanne.lummerding@univie.ac.at
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 1007
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_84
1008 S. Lummerding
Schlüsselwörter
Diskriminierungskritik · Wissenschaftsfreiheit* · Professionalisierung · (selbst-)
kritisches In-Frage-Stellen · Ver-un_gewisserung · Brave(r) Spaces
2 Positionierte Perspektiven
„Are we really to imagine that feminist theorists writing only about images of white women
[. . .] do not ‚see‘ the whiteness of the image?“ (bell hooks 1992, S. 117)
1
Siehe dazu z. B. Geena Davis Institute on Gender in Media 2015; oder die Videoserien von Anita
Sarkeesian seit 2012; oder Get the F*uck Out (2013) von Shannon Sun-Higginson.
1010 S. Lummerding
2
Vgl. dazu z. B. Maureen Maisha Eggers Kritik an der Errichtung von „Demarkationslinien“
zwischen machtkritischen Ansätzen wie z. B. queeren und rassismuskritischen/posttkolonialen
Ansätzen bzw. Transkultureller Pädagogik und dekonstruktiver Geschlechterforschung. (Eggers
2009)
Macht- und diskriminierungskritische Professionalisierung von . . . 1011
„The classroom remains the most radical space of possibility in the academy.“ (bell hooks
1994, S. 12)
3
bell hooks betont in ihrem in der Tradition der Critical Pedagogy formulierten Ansatz, dass
Solidarität sich nicht auf gemeinsame Erfahrungen gründen muss, sondern vielmehr die solidari-
sche Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven und Erfahrungen als den eigenen bedeutet – im
Sinn einer machtkritischen „Absage an Dominanz“. (hooks 1994, S. 23)
4
Arao und Clemens definieren Brave Spaces als Ergänzung zu der in erster Linie auf den geschütz-
ten Austausch geteilter Erfahrungen und Selbstermächtigung fokussierten Idee von Save Spaces als
Ermöglichen respekt- und verantwortungsvoller Auseinandersetzung und Kritik auf Basis der
Erkenntnis, dass absolute ‚Sicherheit‘ (bzw. ein ‚Außerhalb‘ von Machtverhältnissen) nicht mög-
lich ist. (Arao und Clemens 2013)
1014 S. Lummerding
„Ein diffuses Sprechen über mehr Vielfalt ist kein effektiver Weg, um Benachteiligungs-
barrieren zu bewegen.“ (Eggers 2016, S. 12)
über Diskriminierung zu sprechen. Es gilt also aktiv dafür einzutreten, dass Wissen-
schaft und deren Institutionen ein inklusiver Ort machtkritischen In-Frage-Stellens
und der solidarisch-kritischen Auseinandersetzung für alle sind.
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Feministische Kommunikations- und
Medienforschung: Rückblick – Ausblick
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1018
2 Forschungslücken und Herausforderungen in der feministischen Medienforschung . . . . . 1019
3 Methodendiskussion: Neue und alte Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1022
4 Universitäre Situation für feministische Medienforschung und feministische
Forscher:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1025
5 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1027
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1028
Zusammenfassung
Die feministische Kommunikations- und Medienforschung hat in den letzten
Jahrzehnten sowohl mit theoretischen und methodologischen Interventionen als
auch mit empirischen Studien beeindruckende Arbeit geleistet. Aufgrund gesell-
schaftlicher, ökonomischer und politischer Entwicklungen haben sich For-
schungsfragen und -zugänge laufend verschoben und zum Teil jeweils neue
Relevanz bekommen. Aktuelle wichtige Themenfelder und Herausforderungen
betreffen zum einen postfeministische Ambivalenzen und Entwicklungen im
feministischen Aktivismus, zum anderen den Kontext neuer Technologien, ins-
besondere algorithmische Verzerrungen und Diskriminierungen bei Big Data,
Künstlicher Intelligenz und Maschinen-Lernen. Dadurch bekommt auch die
Methodendiskussion, Fragen quantitativer wie qualitativer Forschungsmethoden
und intersektionaler Forschungsdesigns neue Bedeutung. Gegenwärtige neoliberale
Veränderungen, die an den Universitäten die Räume für kritische Wissenschaft und
Forscher:innen beschränken, betreffen zudem insbesondere (queer-)feministische
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 1017
J. Dorer et al. (Hrsg.), Handbuch Medien und Geschlecht,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20707-6_80
1018 J. Dorer et al.
Forscher:innen, als Gender Studies nach wie vor nur in Ansätzen institutionalisiert
sind und auch zunehmend antifeministischen Angriffen ausgesetzt sind.
Schlüsselwörter
(Qeer-)feministische Medienforschung · Forschungslücken · Feministische
Methodendiskussion · Feministische Forscher:innen · Universitäre
Gleichstellungspolitik · Neoliberale Universitätsausrichtung
1 Einleitung
Die Beiträge in diesem Handbuch und andere rezente Publikationen (z. B. Peters und
Seier 2016; Harvey 2020; Twentieth anniversary issue of Feminist Media Studies
2021) zeigen auf, dass die feministische Kommunikations- und Medienforschung in
den letzten Jahrzehnten sowohl mit theoretischen und methodologischen Interven-
tionen als auch mit empirischen Studien beeindruckende Arbeit geleistet hat. Gleich-
zeitig wird deutlich, wie sich Forschungsfragen und -zugänge mit den gesellschaft-
lichen, ökonomischen und politischen Entwicklungen zum Teil verschoben, zum
Teil neue Relevanz bekommen haben und an welchen Stellen verstärkte Anstren-
gungen nötig sind. Dies zeigt sich etwa anhand der Frage, ob von feministischer,
queer-feministischer und/oder intersektionaler Kommunikations- und Medienfor-
schung die Rede ist/sein sollte. Zentral ist dabei die Überlegung, welche Aspekte
jeweils im Fokus stehen bzw. was jeweils wie Berücksichtigung findet. Zum Teil
durchaus kontrovers diskutiert wird etwa, ob ‚queer‘ im Grunde (nur) für sexualitäts-
politische Aspekte steht und beispielsweise race und class eher nur ‚mit meint‘.
(Castro Varela und Gutiérrez Rodríguez 2000; Johnson und Henderson 2005; Lau-
fenberg 2019) Aber auch die Ansicht, dass ‚feministisch‘ per se mit einer intersek-
tionalen Perspektive gleichzusetzen sei, bedarf einer kritischen Auseinandersetzung
– wie gerade historische Auseinandersetzungen darüber, für wen oder was Femi-
nismus steht, zeigen (The Combahee River Collective 2014 [1977]). Dieses Hand-
buch erhebt nicht den Anspruch, diese Fragen endgültig zu klären, sondern will den
Debatten und Argumenten Raum geben und verwendet feministisch als inklusiven
Überbegriff.
Mit seinem spezifischen Fokus macht das Handbuch auch deutlich, dass die
feministische Medienforschung im deutschsprachigen Raum über ein eigenes Profil,
sowohl hinsichtlich der Theorie und Methodenentwicklung als auch hinsichtlich der
Themenschwerpunkte, verfügt. Zu nennen sind hier etwa innovative theoretische
Zugänge in der Film- und Kunstwissenschaft, gesellschaftstheoretische Zugänge, die
sich der kritischen Gesellschaftsanalyse verpflichtet fühlen, Weiterentwicklung der
Journalismus-Theorien, Medienaneignungskonzepte wie Domestizierung oder aber
das Hinterfragen von Basiskategorien der Kommunikationswissenschaft wie Öffent-
lichkeit oder Sichtbarkeit, Dualismen wie Unterhaltung und Information. Metho-
disch ist besonders die von Frigga Haug entwickelte Kollektive Erinnerungsarbeit
hervorzuheben, die in verschiedensten Forschungsarbeiten weiterentwickelt wurde.
Feministische Kommunikations- und Medienforschung: Rückblick – Ausblick 1019
Howes 2019; Sauer 2019; Geiger und Wolf 2023) Der Krieg in der Ukraine hat
zudem die drängende Aktualität und Notwendigkeit von vertieften feministischen
Perspektiven auf Krieg und Frieden im Kontext medialer und propagandistischer
Polarisierung eines Spannungsfelds neoimperialer Kolonisierung versus neoliberaler
Wirtschaftskolonisierung deutlich gemacht.
Dazu kommt das mit der Parole ,das Private ist politisch‘ auf den Punkt gebrachte
politische Verständnis individueller Erfahrungen und Gefühle. In der Zweiten Frau-
enbewegung waren dies insbesondere die Erfahrungen von Hausfrauen, deren Un-
glücklich-Sein Betty Friedan (1966) als Effekt patriarchaler Strukturen, die über die
medialen Bilder von der durch die traditionelle Arbeitsteilung gekennzeichneten
Kernfamilie vermittelt werden, entlarvt hat. Gegenwärtig vorherrschende Gefühls-
strukturen stellen eine Herausforderung für die Forschung dar, werden sie doch als
Effekte aktueller struktureller Ungleichheiten und Dominanzverhältnisse sowie
psychologischer und neoliberaler Rhetorik von Pathologisierung, individueller Res-
ponsibilisierung und Resilienz (McRobbie 2010, 2020; Gill 2007) bzw. als wider-
sprüchliche, miteinander verwobene Prozesse von ‚populärem Feminismus‘ und
Misogynie (Banet-Weiser 2018) verstanden. Angela McRobbie verweist in diesem
Zusammenhang auf die kulturelle Arbeit, die Medien und Populärkultur leisten, um
die von feministischen Bewegungen ausgehenden Forderungen nach gesellschaftli-
chen Veränderungen unter Kontrolle zu halten und normative Vorstellungen von
Weiblichkeit zu forcieren, die mit neoliberaler Logik, Konkurrenz, Konsumkultur
und Kapitalismus vereinbar sind. Die Zelebrierung erfolgreicher Frauen in Füh-
rungspositionen geht Hand in Hand mit einer Abwertung von Misserfolgen und der
Aufforderung, an den eigenen Inkompetenzen zu arbeiten und Resilienz zu ent-
wickeln. Im Unterschied zur postfeministischen Sensibilität um die Jahrtausend-
wende wird nun zwar explizit auf feministische Elemente (wie Ermächtigung und
Wahlfreiheit) Bezug genommen, aber auf individuelle Leistung und Fortkommen
statt auf staatliche Rahmenbedingungen und Chancengleichheit fokussiert und so
Solidarität unter Frauen über soziale Klassen hinweg behindert (McRobbie 2010,
2020; Rottenberg 2022). Allerdings hat die Corona-Pandemie auf dramatische Weise
unsere wechselseitigen Abhängigkeiten vorgeführt und damit auch das Feld für
feministische Interventionen, die unsere existentielle Abhängigkeit von anderen
betonen und für ein radikaleres Verständnis von Sorgearbeit plädieren, aufbereitet
(Butler 2005; The Care Collective 2020). In welcher Weise dies in den Medien
aufgegriffen wird, gilt es noch zu untersuchen.
Verstärkt gefragt sind auch theoretische Zugänge, die in der Lage sind, die
Ambivalenzen, die verschiedene Formen von feministischem Aktivismus – von
Celebrity-Feminismus und Popfeminismus bis Hashtag-Aktivismus – kennzeichnen,
zu fassen. Es bietet sich an, diese Aktivitäten als pharmakon zu verstehen, d. h. als
etwas, das sowohl Heilmittel als auch Gift, positiv und negativ, Möglichkeiten
eröffnend und einschränkend sein kann (Wiens und MacDonald 2021).
Wie feministische Forschung generell ist auch die feministische Medien- und
Kommunikationswissenschaft gefordert, sich nicht auf Erkämpftem und erarbeiteten
Einsichten auszuruhen, sondern ständig kritisch zu hinterfragen, was als richtig gilt
bzw. was bestehende Macht- und Ungleichheitsverhältnisse stützt (Purtschert 2021,
Feministische Kommunikations- und Medienforschung: Rückblick – Ausblick 1021
S. 137) Dazu gehört auch eine Sensibilisierung für zur Gewohnheit gewordene
Zitierpraktiken, die sich auf spezifische Autor:innen und Zugänge konzentrieren,
wodurch andere Arbeiten, Entwicklungen und potenziell produktive neue Verknüp-
fungen aus dem Blick geraten (Hemmings 2011).
Eine bedeutsame Lücke in der Erforschung feministischer Anliegen kann in der
bisher unzureichenden Beschäftigung mit den gesellschaftspolitischen Kontexten
neuer Technologien und Zukunftstechnologien gesehen werden. Es gibt noch zu
wenig detaillierte Erkenntnisse zu Sexismus, Rassismus und Klassismus in neuen
sozialen Medien, wenngleich mehrere Studien bereits die Schieflage nachweisen.
Aber vor allem fehlt es noch an Konzepten und Ideen für eine medienpolitische,
medienökonomische und medienrechtliche Veränderung der derzeitigen unbefriedi-
genden Situation bezüglich der weltweit agierenden Medienkonglomerate und ins-
besondere der Online-Konzerne Amazon, Apple, Alphabet (Google), Microsoft und
Meta (Facebook). Hier kann an feministische Erkenntnisse zu Medienpolitik und
globaler Governance angeknüpft werden (Kassa et al. 2019, 2021) Feministische
Theorieansätze und empirische Forschung zu Medienökonomie und Medienrecht
müssten unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Nachhaltigkeit aber noch kon-
sequenter angegangen werden – für demokratiepolitische und geschlechtergerechte
Regelungen der oben genannten „big five“. Es geht dabei nicht allein um Frauen-
und Männeranteile in Entscheidungspositionen, sondern vor allem darum, einen
feministischen Ansatz der politischen Ökonomie zu entwickeln, der geeignet ist,
sämtliche Kontexte in den Blick zu nehmen: Eigentums- und Produktionsverhält-
nisse, Vermarktung und Anwendung sowie die aus allen Aspekten folgenden Kon-
sequenzen für Demokratie, Menschenrechte, globale Hegemonieprozesse und
Klimaveränderung.
Ein Themenbereich, der ebenfalls in der feministischen Medienwissenschaft ins
Zentrum der Forschungsanstrengungen rücken müsste, sind Überlegungen zum
theoretischen und empirischen Zugang zu Big Data und Künstlicher Intelligenz.
Vier Charakteristika kennzeichnen dabei den Begriff Big Data: Volumen der Daten-
menge, Vielfalt (Text, Bild, Audio und Videofiles), Schnelligkeit und Datenqualität.
(Veglis und Maniou 2020). Künstliche Intelligenz (KI) bezieht sich im weitesten
Sinne auf Computersysteme, die menschliche Intelligenz nachahmen, wie logisches
Denken, Sprachverarbeitung, visuelle Interpretation etc. Ein Set aus Algorithmen
und Anweisungen für Problemlösungen bildet dabei die Basis für das Maschinen-
Lernen (ML), um anhand von mathematischen Modellen aus Stichproben und
„Trainingsdaten“ Vorhersagen und Entscheidungen zu treffen, wobei Feedback-
Schleifen zur Verbesserung und Genauigkeit der Vorhersage eingebaut werden.
(Uzun-Weidner 2020) Konkret ist die Erforschung der differenten bzw. diskriminie-
renden Auswirkungen von Künstlicher Intelligenz, algorithmisch gesteuerter Kom-
munikation, von unzureichendem Datenschutz und ungleichem Zugang zu Daten
notwendig. Denn mit zunehmender Erzeugung, Sammlung und Speicherung riesiger
Datenmengen sind Künstliche Intelligenz und Maschinen-Lernen zentrale Bestand-
teile von oft weitreichenden Entscheidungen, die sämtliche Lebensbereiche be-
treffen, wie Wissenschaft, Medien, Werbung, Unterhaltung, Gesundheitswesen
oder Verwaltung. Indem Entscheidungskompetenzen immer häufiger an diese
1022 J. Dorer et al.
Die Verwendung und Analyse von Big Data in der empirischen Forschung ist ein
weiterer Aspekt der Künstlichen Intelligenz, der deutlich mehr Beachtung finden
sollte. Gerade in der Mainstream-Forschung wird zunehmend Wissen aus großen
Datenmengen mittels Maschinen-Lernen und Data-Mining generiert, wobei Verzer-
rungen bezüglich Geschlecht und weiterer Differenzkriterien kaum Aufmerksamkeit
geschenkt wird. In der feministischen Medienforschung gibt es bezüglich der An-
wendung dieser Methoden eine kritische Distanz. Zwar muss hier eine methoden-
kritische Reflexion erfolgen, die die Limitationen von Data-Mining und Text-
Mining sowie die logarithmischen Verzerrungen bei Maschinen-Lernen transparent
und nachvollziehbar macht. Wichtig wäre es aber darüber hinaus, gemeinsam mit
feministischen Informatiker:innen die Möglichkeiten für neue Erkenntnisse bezüg-
lich medienwissenschaftlicher Fragestellungen auszuloten und einen neuen Umgang
mit Big Data im Sinne feministischer und antirassistischer Überlegungen zu ent-
wickeln, um hier den Anschluss an eine bedeutende Zukunftsentwicklung nicht zu
verpassen.
Eine Zusammenarbeit mit feministischen Informatiker:innen müsste es auch im
Rahmen von Entwicklungs- und Begleitforschung im Kontext jener feministischen
Praktiken geben, bei denen Aktivist:innen mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz
gegen Hass, Antifeminismus und Rassismus im Netz auftreten, indem sie etwa
mittels der Entwicklung von Programmdesigns effiziente Counter-Bots im Netz
setzen. (Alexandrowicz et al. 2020)
In diesem Kontext ist auch eine neue Diskussion anzustoßen, die sich mit der
Qualität von Daten im Forschungsprozess auseinandersetzt. Dabei geht es nicht nur
um Big Data, Plattform-Strukturen und user-generierte Daten, sondern generell um
die kritische Reflexion darüber, wie Daten erzeugt, erhoben, verarbeitet und wie sie
analysiert, interpretiert und visualisiert werden, immer vor dem Hintergrund, dass
Daten seit der elektronischen Revolution einen neuen gesellschaftspolitischen Stel-
lenwert erhalten haben. (Luka und Leurs 2020)
Ein weiterer Aspekt, der die Epistemologie und Methodenentwicklung in der
feministischen Forschung betrifft, ist die nach wie vor wichtige Debatte über die
Feministische Kommunikations- und Medienforschung: Rückblick – Ausblick 1023
1
Dazu gehört der Gender Gap Index des World Economic Forums, der die Gleichberechtigung in
einem Land nach mehreren Kriterien misst, der OECD-Index zum Frauenanteil in nationalen
Parlamenten, der Women’s and economics and social rights Index nach Cingranelli und Richards,
der Frauenrechte auf der gesetzlichen Ebene abbildet, und die Equality Scale nach Ingelhart und
Norris, die Einstellungen zu Geschlechterfragen misst.
1024 J. Dorer et al.
2
In Österreich gilt beispielsweise eine 6-jährige Tätigkeit als Postdoc oder eine 8-jährige Tätigkeit
als Lehrbeauftragte als maximale Arbeitsdauer an einer Universität. Danach ist Mobilität an eine
andere Universität erforderlich. Eine Entfristung von Stellen gibt es zwar rein rechtlich, in der
Praxis wird davon aber so gut wie kein Gebrauch gemacht. (Bundesministerium Bildung, Wissen-
schaft und Forschung 2021)
Feministische Kommunikations- und Medienforschung: Rückblick – Ausblick 1027
5 Ausblick
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