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Klaus-Dieter Altmeppen · Thomas Hanitzsch

Carsten Schlüter (Hrsg.)

Journalismustheorie: Next Generation


Klaus-Dieter Altmeppen
Thomas Hanitzsch
Carsten Schlüter (Hrsg.)

Journalismustheorie:
Next Generation
Soziologische Grundlegung
und theoretische Innovation
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Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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1. Auflage Mai 2007

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© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007
Lektorat: Barbara Emig-Roller

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg


Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the Netherlands

ISBN 978-3-531-14213-5
Inhalt

Thomas Hanitzsch, Klaus-Dieter Altmeppen & Carsten Schlüter


Zur Einführung:
Die Journalismustheorie und das Treffen der Generationen 7
HANDELN
Hartmut Esser
Der Handlungsbegriff in der modernen Soziologie 27
Carsten Reinemann
Subjektiv rationale Akteure: Das Potenzial handlungstheoretischer
Erklärungen für die Journalismusforschung 47

RATIONALITÄT
Michael Jäckel
„...dass man nichts zu wählen hat“:
Die Kontroverse um den Homo Oeconomicus 71
Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl
Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft 97

AKTEURKONSTELLATIONEN
Uwe Schimank
Handeln in Konstellationen: Die reflexive Konstitution von
handelndem Zusammenwirken und sozialen Strukturen 121
Christoph Neuberger
Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln via Öffentlichkeit:
Journalismus und gesellschaftliche Strukturdynamik 139

MILIEUS UND LEBENSSTILE


Stefan Hradil
Soziale Milieus und Lebensstile: Ein Angebot zur Erklärung
von Medienarbeit und Medienwirkung 165
Johannes Raabe
Journalismus als kulturelle Praxis: Zum Nutzen von
Milieu- und Lebensstilkonzepten in der Journalismusforschung 189
6 Inhalt

KAPITAL-FELD-HABITUS
Herbert Willems
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 215
Thomas Hanitzsch
Die Struktur des journalistischen Felds 239

ORGANISATION
Michael Bruch & Klaus Türk
Das Organisationsdispositiv moderner Gesellschaft 263
Klaus-Dieter Altmeppen
Das Organisationsdispositiv des Journalismus 281

INTERAKTION
Robert Hettlage
Alle Rahmen krachen in den Fugen: Erkenntnistheoretische
und soziologische Perspektiven bei Erving Goffman 305
Carsten Schlüter
Rollen und Rahmen der Interaktionsordnung:
Journalismus aus der Perspektive seiner Interaktionen 327

NETZWERKE
Arnold Windeler
Interorganisationale Netzwerke: Soziologische
Perspektiven und Theorieansätze 347
Thorsten Quandt
Netzwerkansätze: Potenziale für die Journalismusforschung 371

MACHT
Peter Imbusch
Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens 395
Klaus-Dieter Altmeppen
Journalismus und Macht: Ein Systematisierungs- und Analyseentwurf 421
Autorinnen und Autoren 449
Zur Einführung: Die Journalismustheorie
und das Treffen der Generationen

Thomas Hanitzsch, Klaus-Dieter Altmeppen & Carsten Schlüter

Zugegeben, der Titel dieses Bandes ist recht erklärungsbedürftig. Beginnen


könnte man vielleicht mit dem Hinweis auf die besondere Affinität vieler
Kommunikations- und Medienwissenschaftler zu dem Science-Fiction-Genre.
Eine Befragung dieser sehr spezifischen Bevölkerungsgruppe jedenfalls käme
vermutlich zu dem Ergebnis, dass sich ein durchaus beachtliches Fachwissen
versammelt hat über Jules Vernes physikalisch-unkorrekte, fantastische Aben-
teuer, Isaac Asimovs Roboter-Geschichten und das tumultige Zukunftsuniver-
sum von Star Wars. Insbesondere die Welt von Raumschiff Enterprise und Star
Trek hat seit Mitte der 1960er Jahre bereits ganze zwei Generationen von
Kommunikations- und Medienwissenschaftlern geprägt. Dabei hatte man beim
guten alten Raumschiff Enterprise noch den Eindruck, eine Handvoll bester
Kumpels – unter der Ägide des hemdsärmeligen Captains James Tiberius Kirk
– bei ihrer abenteuerlichen Entdeckungreise durch die „unendlichen Weiten“
des Weltalls zu beobachten. Mit der Nächsten Generation – und einem ziemlich
schütteren und weise dreinblickenden Captain Jean-Luc Picard, der im wirkli-
chen Leben übrigens Reporter werden wollte – hielten Ernsthaftigkeit und
Disziplin Einzug ins Star-Trek-Universum. Gleichzeitig wurde das Weltall
komplexer: Während sich Captain Kirk noch einen überschaubaren Kampf mit
den barbarischen Kriegern der Klingonen lieferte, ist die Nächste Generation mit
einer ungleich größeren Zahl von Akteuren konfrontiert.
Die „nächste Generation“ der Journalismusforscher steht, zumindest im
deutschsprachigen Raum, prinzipiell ähnlichen Problemen gegenüber. Die
Bandbreite der Theorieangebote ist kaum noch zu überschauen, die wichtigsten
unter ihnen sind in dem mittlerweile in der zweiten Ausgabe vorliegenden
Band „Theorien des Journalismus“ (vgl. Löffelholz 2004b) dokumentiert. Bis
in die 1980er Jahre hinein verliefen die Frontlinien der Journalismustheorie
zwischen einer „Begabungsideologie“ und dem Professionalisierungsansatz
sowie zwischen normativen und empirisch-analytischen Perspektiven. Die
8 Thomas Hanitzsch, Klaus-Dieter Altmeppen & Carsten Schlüter

Abkehr vom methodologischen Individualismus hin zu gesellschaftstheoreti-


schen Zugriffen erfolgte zu Beginn der 1990er Jahre (vgl. Merten, Schmidt und
Weischenberg 1994). Auch diese „neue“ Generation an Journalismustheorien
kam nicht aus den Tiefen des Weltalls, sondern entwickelte frühere Modelle
und Theorien weiter, indem sie die systemtheoretische Grundlegung von Rühl
(1979; 1980) mit der konstruktivistischen Erkenntnistheorie verband. Die zwei-
te Generation der systemtheoretischen Journalismusforschung artikulierte sich
gegen normative Zugriffe (vgl. Kohring 2004: 199), ihr folgten später die Cul-
tural Studies, die sich wiederum an der Systemtheorie abarbeiteten (vgl. Klaus
& Lünenborg 2000). Dazwischen positionieren sich seit einigen Jahren Arbei-
ten von Journalismusforschern, die – sozusagen im interstellaren Raum – nach
verbindenden Theorielinien suchen (vgl. u.a. Altmeppen 2006; Neuberger
2000; Quandt 2005; Raabe 2005), mit weiter reichenden Folgen: Die Abgren-
zungsbemühungen sind mittlerweile einem Theorieintegrationsbedürfnis gewi-
chen, das den Mainstream der Journalismusforschung hierzulande kennzeich-
net.
Damit ist das Ringen um die Deutungshoheit freilich nicht beendet, und es
sollte angesichts erforderlicher begrifflicher Schärfe in der Sache auch gar nicht
beendet werden. An diesem Punkt setzt dieser Band ein, und so wollen wir
auch den Titel verstanden wissen: Die nächste Generation hat keineswegs vor,
mit der „alten“ zu brechen – so wie es ohne Captain Kirk auch keine „Next
Generation“ gegeben hätte. Anstatt aber die offen liegenden Fäden eingefahre-
ner Theorien aufzunehmen, liegt das Neue dieses Bandes schlicht darin, sich
der Journalismusforschung über handverlesene Begriffe zu nähern. Dazu wur-
den Konzepte gewählt, die nicht oder noch nicht vollends in die Journalismus-
forschung Eingang gefunden haben (wie Feld, Habitus, Milieu), oder Begriffe,
die verschüttet waren (wie Macht, Organisation, Handeln). Die meisten Journa-
lismusforscher, die in diesem Band zu Wort kommen, knüpfen daher an beste-
hende Theoriefäden an und verweben sie mit neuem bzw. wiederentdecktem
Ideengut. So ist die „nächste“ Generation ein Stück weit auch die alte. Damit
handelt es sich bei den Beiträgen dieses Bandes vielmehr um ein „Treffen der
Generationen“ – um eine weitere Star-Trek-Metapher zu zitieren. Nicht zuletzt
ist der Titel dieses Bandes – „Journalismustheorie: Next Generation“ – auch
ein leuchtendes Beispiel dafür, was passiert, wenn man einen Arbeitstitel defi-
niert, den man schließlich nicht mehr los wird, trotz redlicher Bemühungen um
alternative, wissenschaftlich möglicherweise angemessenere Formulierungen.
Zur Einführung 9

1 Die Beiträge dieses Bandes im Spiegel zentraler


Theorieverständnisse in der Journalismusforschung
Was die Beiträge in diesem Band sicher nicht auszeichnet sind einheitliche
Theorieverständnisse. Das war mit dem gewählten Zugriff über Konzepte aber
auch gar nicht so beabsichtigt. Die neuen oder verstaubten sozialwissenschaft-
lichen Begriffe (oder Konzepte), die der Gliederung des Bandes zugrunde lie-
gen, stehen quer zu etablierten Ansätzen wie der Systemtheorie oder den Cul-
tural Studies, für die eine breite Literaturbasis zur Verfügung steht. Quer ste-
hen die Konzepte, weil sich nahezu alle Theorien mit diesen Denkfiguren mehr
oder weniger abmühen müssen. So sind Handeln, soziales Feld oder Macht
zentrale Kategorien jeder theoretischen Annäherung an Journalismus. Auf
diesem Wege haben die vorhandenen Theorien des Journalismus den vorlie-
genden Band maßgeblich beeinflusst. Insbesondere die „gefühlte Dominanz“
des systemtheoretischen Denkens ist in der deutschsprachigen Journalismus-
forschung sehr stark, deshalb kamen die Autoren in diesem Buch nicht umhin,
ihre Argumentationen durch systemtheoretische Anleihen zu stützen und zu
schärfen bzw. sich an ihnen abzuarbeiten und von ihnen abzugrenzen.
Ohne Zweifel hat sich das Denken in Systemen in unserem Fach seit den
1990er Jahren als ungemein fruchtbar erwiesen. Mit dem einheitlichen Begriffs-
inventar der Systemtheorie ist es gelungen, den Forschungsgegenstand Journa-
lismus schärfer zu definieren und seine Strukturen gedanklich zu sortieren (vgl.
Görke & Kohring 1996; Kohring 2004: 199). Dennoch ist die empirische Um-
setzung (siehe Scholl & Weischenberg 1998) nicht zufriedenstellend und vor
allem nicht ohne theoretische Brüche gelungen (vgl. Löffelholz 2004a: 52).
Vielleicht war das auch der Grund, weshalb Weischenberg, Malik und Scholl
(2006) bei der Darstellung der Befunde aus ihrer zweiten Münsteraner Journa-
listenbefragung auf eine Theorieklammer weitgehend verzichtet haben. Dar-
über hinaus ist sicherlich die systemtheoretische Binarisierung von forschungs-
leitenden Konzepten (z.B. autonom vs. nicht autonom, geschlossen vs. offen)
nicht unbedingt gerade hilfreich für die empirische Forschung. Darin liegt in
der Tat ein grundsätzliches Operationalisierungsproblem der Luhmannschen
Systemtheorie.
Häufig wirkt auch die Übersetzung traditioneller Konzepte der Journalis-
musforschung (z.B. berufliches Rollenverständnis, Berufszufriedenheit) in das
begriffliche Arsenal der Systemtheorie nicht gerade zwingend. Nicht immer
wird klar, welchen Mehrwert das Denken in Systemen für die empirische Ana-
lyse tatsächlich bietet. Insbesondere die international vergleichende Journalis-
10 Thomas Hanitzsch, Klaus-Dieter Altmeppen & Carsten Schlüter

musforschung kommt auch ohne Systemtheorie zu vergleichbaren empirischen


Ergebnissen (vgl. Lünenborg 2000: 405). Zudem geben einige der systemtheo-
retischen Postulate schlichtweg Anlass für Zweifel: So orientiert sich Journa-
lismus – bei allen beobachtbaren Konvergenzerscheinungen – noch immer
stark an territorialen Grenzen, d.h. nationalen und sprachlichen Räumen (vgl.
Esser 2004: 154; Scholl & Weischenberg 1998: 207). Der kontinentaleuropäi-
sche und angelsächsische Journalismus sind in vielerlei Hinsicht (z.B. mit Blick
auf redaktionelle Strukturen) noch immer zwei verschiedene „professionelle
Welten“ (Donsbach 1995: 25). Zudem orientiert sich die Unterscheidung zwi-
schen Selbst- und Fremdreferenz aus der Perspektive der Journalisten nicht an
den Sinngrenzen eines Journalismussystems, sondern vielmehr an redaktionel-
len Grenzen der organisationalen Mitgliedschaft (vgl. Hanitzsch 2004: 189;
Scholl & Weischenberg 1998 109ff.). Probleme hat die Systemtheorie darüber
hinaus mit Prozessen der Heteropoietisierung, Fremdsteuerung und Entdiffe-
renzierung im Journalismus (vgl. Weber 2000b: 9). Ziemliches Unbehagen hat
nicht zuletzt die systemtheoretische Ausblendung der handelnden Akteure als
„Rauschen“ (Scholl 2001: 389) provoziert.
Ungeachtet einiger Versuche (vgl. Görke & Scholl 2006; Luhmann 2000;
Scholl 1996), die Systemtheorie in der US-amerikanisch dominierten internati-
onalen Forschungsliteratur zu etablieren, ist der Ansatz außerhalb des deutsch-
und italienischsprachigen Raumes mehrheitlich auf ein kritisches Echo gesto-
ßen und hat oft genug spontane Ablehnung provoziert. Luhmann (1990a: 255)
selbst hat dies in deutlichen Worten beklagt: „Germans who accept systems
theory as their research program meet astonished looks if they dare to enter the
United States – as if they were not quite au courant with present sociology.“
Ein großer Teil dieses geradezu instinktiven Abwehrreflexes mag damit zu tun
haben, dass viele angelsächsische Wissenschaftler die Wende vom Struktur-
funktionalismus zum funktional-strukturellen Ansatz nicht mitvollzogen bzw.
nicht wahrgenommen haben. Funktionalistische Ansätze und das Denken in
Systemen werden dort noch immer hauptsächlich mit den Arbeiten Talcott
Parsons und Alfred Radcliffe-Browns assoziiert.
So wird eine multiperspektivische und theorieorientierte Debatte über die
Leistungen und Strukturen des Journalismus derzeit vor allem im deutschen
Sprachraum geführt (vgl. Löffelholz 2004a: 19). Die Suche nach einer Grande
Théorie des Journalismus scheint aber ohnehin eher typisch für den kontinental-
europäischen Raum zu sein, und hier insbesondere für Deutschland und
Frankreich. Im angelsächsischen Kontext arbeiten Forscher vorzugsweise mit
Zur Einführung 11

so genannten Theorien mittlerer Reichweise sowie der Grounded Theory, d.h.


einer auf Basis empirischer Arbeiten konstruierten Theorie.
Daher verwundert es nicht, dass Mehrebenenmodelle in der internationalen
Forschungsliteratur zurzeit Konjunktur haben. Als einflussreich hat sich dabei
insbesondere der Ansatz von Shoemaker und Reese (1996: 64; vgl. auch Reese
2001: 178ff.) erwiesen, der von einer „Hierarchie der Einflüsse“ ausgeht. Dem-
nach wird die journalistische Berichterstattung durch insgesamt fünf sphärisch
angeordnete Ebenen beeinflusst: die Individuen, Medienroutinen, Organisatio-
nen, außermediale Faktoren sowie die ideologische Ebene. Das 1991 in der
ersten Ausgabe erschienene Buch von Shoemaker und Reese wurde nur acht
Jahre später bereits als „Klassiker“ geadelt (vgl. Poindexter & Folkerts 1999:
629), und nach einer internationalen Kozitationsanalyse von Chang und Tai
(2005: 681) zählt es zu den acht meistzitierten Werken im Feld der Journalis-
musforschung.
Auch wenn Mehrebenenmodelle im engeren Sinne keine Theorien sind,
scheinen sie sich aufgrund ihrer ordnenden Funktion und ihres heuristischen
Potenzials zunehmender Beliebtheit zu erfreuen – vielleicht auch, weil sie auf
einem relativ niedrigen Komplexitätsniveau operieren. Auch im deutschspra-
chigen Diskurs sind sie durchaus an prominenter Stelle vertreten, etwa in
Donsbachs (2000: 80) Sphärenmodell, das in Subjektsphäre, Professions-
Sphäre (Berufsstand), Institutions-Sphäre (Medienorganisationen) und Gesell-
schafts-Sphäre unterscheidet. In ähnlicher Weise differenziert Weischenbergs
(1995: 69ff.) bekanntes „Zwiebelmodell“ in die Ebenen der Mediensysteme
(Normenkontext), Medieninstitutionen (Strukturkontext), Medienaussagen
(Funktionskontext) und Medienakteure (Rollenkontext).
Solange die allumfassende integrative Journalismustheorie noch nicht in
Sicht ist (und zudem zweifelhaft bleibt, dass eine solche Theorie möglich und
wünschenswert ist), empfehlen sich Mehrebenenmodelle als heuristische Denk-
figur zur Strukturierung der Analysedimensionen. Wird die Mehrebenenstruk-
tur der Analyseobjekte bzw. -subjekte empirisch konsequent zuende gedacht,
dann lässt sich auch in methodischer Hinsicht Kapital daraus schlagen. Dies
gilt insbesondere für die kulturvergleichende Journalismusforschung, die sich in
aller Regel mit Journalisten (Ebene der Individuen), redaktionellen Strukturen
(Ebene der Organisationen) und Nationen (Ebene der Systeme) beschäftigt.
Bleibt diese Mehrebenenstruktur („nested design“: Journalisten in Organisatio-
nen, Organisationen in Nationen) bei der Analyse unberücksichtigt, werden
nicht nur heuristische Potenziale verschenkt. Ein solches Vorgehen – realisiert
z.B. über Anwendungen der linearen oder logistischen Regression – kann sogar
12 Thomas Hanitzsch, Klaus-Dieter Altmeppen & Carsten Schlüter

zu gravierenden Schätzungsfehlern führen (vgl. Ditton 1998; Southwell 2005).


Die Mehrebenenanalyse („multilevel modeling“) könnte der Journalismusfor-
schung hier – ähnlich wie in anderen sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen
(vgl. Bryk & Raudenbush 1992; Kreft & Leeuw 1998; Langer 2004) – zu einem
Durchbruch verhelfen. Denn sie leistet nicht nur wertvolle Dienste bei der
Integration von Mikro-, Meso- und Makro-Ebene, sondern bildet vor allem
eine „quasi-natürliche“ Brücke zwischen Theorie und Empirie. In der Kom-
munikations- und Medienwissenschaft muss das Potenzial der Mehrebenenana-
lyse freilich erst noch ausgelotet werden. Erste Anstrengungen hierfür wurden
bereits unternommen (vgl. Pan & McLeod 1991 und ein Themenheft von
Human Communication Research 4/2006).
Im deutschsprachigen Raum haben sich die Theorieanstrengungen in den
vergangenen zehn Jahren auf die Suche nach dem „Mikro-Makro-Link“ kon-
zentriert. Dabei wurden verschiedene Wege beschritten:
ƒ Schimanks (1988) Idee, wonach gesellschaftliche Systeme den beteiligten
Akteuren als handlungsleitende Fiktion erscheinen, welche die zur Wahl
stehenden Handlungsmöglichkeiten vorkonditioniert, wurde bereits sehr
früh von Gerhards (1994: 81) aufgegriffen. Demnach wählen Akteure in-
nerhalb der durch Systeme aufgespannten „constraints“ diejenigen Hand-
lungen, die ihre Ziele mit dem geringsten Aufwand erreichbar machen. In
ihrer weiterentwickelten Form wurden Schimanks (2000) „Akteur-
Struktur-Dynamiken“ zur Grundlage eines Theorieentwurfs von Neuber-
ger (2000 und in diesem Band).
ƒ Giddens’ (1995: 34) Strukturationstheorie mit ihrem zentralen Element der
„Dualität von Struktur“, d.h. der rekursiven Hervorbringung von Handeln
und Strukturen, berührt den Kern der Mikro-Makro-Integration. Sie er-
freut sich auch in der Journalismusforschung steigender Beliebtheit, u.a. in
den Arbeiten von Altmeppen (2000, 2006 und in diesem Band), Quandt
(2000, 2002) und Wyss (2002, 2004).
ƒ Stärker am systemtheoretischen Denken entlang argumentiert Weber
(2000a, b), der sich einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn durch die Ergän-
zung einer non-dualistischen und distinktionstheoretischen Perspektive
verspricht. Damit sollen binäre Unterscheidungen der Systemtheorie durch
ihre Gradualisierung überwunden und eine Modellierung empirisch beob-
achtbarer Systemzustände ermöglicht werden.
ƒ Quandt (2005) hat auf der Basis eines netzwerktheoretischen Ansatzes
journalistisches Handeln in Online-Redaktionen beobachtet. Er konnte
Zur Einführung 13

dabei zeigen, wie bestimmte Kombinationen von Handlungselementen


bzw. Handlungsmuster zu Netzwerken tradiert werden.
ƒ Den Journalisten als „Homo oeconomicus“ haben auf Basis der Ökono-
mik bzw. der Rational-Choice-Theorie Fengler und Ruß-Mohl (2005) so-
wie Reinemann (2005) in den Blick genommen. Dabei wird deutlich, dass
Journalisten bei ihrer Tätigkeit auch und vor allem auf ihren Vorteil be-
dacht sind.
ƒ Die Arbeiten Bourdieus inspirieren auch im deutschsprachigen Raum
mittlerweile eine wachsende Zahl von Journalismusforschern. Insbesonde-
re die zentralen Begriffe „Feld“ und „Habitus“ sind breit rezipiert worden.
Niederschlag fanden sie u.a. in den Arbeiten von Hanitzsch (2004 und in
diesem Band), Raabe (2003, 2004, 2005) und Schäfer (2004).
Keiner der genannten Ansätze hat sich bislang auf breiter Front durchgesetzt.
Der „große Durchbruch“ ist der Journalismustheorie insgesamt nicht gelungen,
und der „cultural turn“ der Journalismusforschung vollzieht sich nur sehr
schleppend – vielleicht auch deshalb, weil die Cultural Studies nur wenig Inte-
resse für Prozesse der Inhaltsproduktion und non-fiktionale Medieninhalte
zeigen, wie Lünenborg (2005: 102) selbstkritisch bemerkt. Dennoch scheint
eine graduelle Aufwertung des Kulturbegriffs stattzufinden, wovon u.a. die
Beschäftigung mit journalistischen bzw. professionellen Kulturen profitiert
(vgl. Donsbach 1995; Donsbach & Patterson 2003; Esser 2004; Hanitzsch
2007; Kopper 2003; Machill 1997). Darüber hinaus erfordert der rasante Auf-
schwung der komparativen Journalismusforschung – quasi „naturgemäß“ –
eine Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff. Eine Untersuchung, die ge-
zielt in diese Lücke stößt, ist das multinationale „Worlds of Journalisms“-
Projekt.1

2 Die Grundideen dieses Bandes


Sowohl in inhaltlicher Hinsicht als auch im Hinblick auf sein Zustandekommen
ist der vorliegende Band zuallererst als Experiment zu verstehen. Seine Mission
besteht darin, bislang unzureichend berücksichtigte sozialwissenschaftliche
Begriffe und Konzepte in die aktuelle Diskussion (wieder) einzubringen und
deren Innovationspotenzial für die Journalismustheorie aufzuzeigen. Die Aus-
wahl der Beiträge folgte einem iterativen Verfahren, bei dem aus einer viel

1 Vgl. http://www.worldsofjournalisms.org.
14 Thomas Hanitzsch, Klaus-Dieter Altmeppen & Carsten Schlüter

größeren Zahl an möglichen Begriffen diejenigen gewählt wurden, die von


gleichzeitig zentraler Relevanz und unterdurchschnittlicher Repräsentanz in der
Journalismusforschung waren. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass wie bei
allen bewussten Auswahlverfahren auch bei diesem die Interessen der Heraus-
geber eine Rolle gespielt haben.
Dieses inhaltliche Experiment wurde zudem mit einem didaktischen Expe-
riment gekoppelt, denn: Die Annäherung an die ausgewählten Konzepte –
Handeln, Akteurkonstellationen, Rationalität, Milieus und Lebensstile, Kapital-
Feld-Habitus, Organisation, Interaktion, Netzwerke und Macht – findet auf der
Basis von jeweils zwei arbeitsteilig angelegten Beiträgen statt. Im ersten Schritt
führen herausragende Vertreter der Soziologie in die maßgeblichen theoreti-
schen Grundlagen der Begriffe ein. Im zweiten Schritt nehmen die Journalis-
musforscher diese Beiträge auf und beziehen sie auf den Gegenstand Journa-
lismus.
Die inhaltliche Verschränkung der jeweiligen Doppelkapitel ist dabei recht
unterschiedlich ausgefallen. Während manche Autoren der Grundlagenbeiträge
ihre Aufgabe ausschließlich in der Vermittlung von Basiswissen verstanden,
haben sich die Verfasser anderer Grundlagenaufsätze stärker auf den Journa-
lismus eingelassen. Und auch in die andere Richtung sind unterschiedlich starke
Wechselwirkungen zwischen soziologischen Grundlagen und dem journalis-
mustheoretischen Bezug erkennbar. Derartige Eigensinnlichkeiten sind die
Inspirationsquellen von Autoren, die wir dadurch zu mindern suchten, dass
jeder Soziologe vor der Beitragsproduktion einen Fragen- bzw. Thesenkatalog
von seinem Journalismus-Pendant erhielt.
Jeder der neun in diesem Buch behandelten Ansätze bildet einen eigenstän-
digen „wissenschaftlichen Theoriescheinwerfer“ ganz im Sinne von Karl Pop-
per. Gäbe es diesen Schweinwerfer nicht, so argumentiert Schimank (1995:
73f.), dann wäre alles gleichermaßen dunkel. Immerhin, ein geübter Beobachter
könnte seine Augen allmählich und ein wenig an das Dunkel gewöhnen und so
doch überall etwas erahnen, aber:
Der gleißende Scheinwerferkegel hingegen begrenzt den Blick rigoros. Was im
Licht liegt, ist um so deutlicher zu sehen, während das, was sich außerhalb be-
findet, dafür buchstäblich ausgeblendet wird. Auf wissenschaftliche Theorien
bezogen: Wer die Welt gemäß einer Theorie betrachtet, tauscht damit eine theo-
rielose Nacht, in der alle Katzen grau – aber eben nicht völlig unsichtbar – sind,
gegen einen Zustand ein, in dem viele Katzen gänzlich unsichtbar, einige dafür
aber sehr genau zu erkennen sind.

Mit anderen Worten: Je genauer eine Theorie auf einen bestimmten Aspekt
fokussiert, um so blinder ist sie für den „Rest“. Schimank fordert daher einen
Zur Einführung 15

„Theorie-Cocktail“, denn die Kombination von mehreren Theoriescheinwer-


fern könnte einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn versprechen.
Allerdings bleiben alle Theoriescheinwerfer dieses Bandes auf ein eher „tra-
ditionelles“ Verständnis von Journalismus begrenzt. Journalismus wird in die-
sem Band einerseits als gesellschaftliche Institution verstanden, die spezifische
Leistungen erbringt, die wiederum von der Gesellschaft eingefordert werden
(können). Andererseits wird Journalismus als Prozess gedacht, der sich in pro-
fessionellen und organisationalen Zusammenhängen vollzieht. Auch wenn
Journalismus ohne Zweifel „an den Rändern immer mehr ausfranst“ (Wei-
schenberg 1998: 11), so erscheint uns eine immer größere Inklusivität des
Journalismusbegriffs wenig zielführend. Weblogs (die gerne auch als „Fortset-
zung des Logbuchs auf der Raumschiff Enterprise mit netzspezifischen Mitteln“
beschrieben werden; Krempl 2004), „Bürgerjournalismus“ („citizen journa-
lism“) sowie Formen des „partizipativen Journalismus“ und Laienjournalismus
mögen durchaus in das Feld der öffentlichen Kommunikation fallen. Aber die
Theorie tut gut daran, Grenzen zwischen Journalismus und anderen kommuni-
kativen Betätigungsfeldern zu ziehen. Dies macht auch normativ und demokra-
tietheoretisch Sinn: Wenn „jeder ein Journalist“ und „Journalismus überall“ ist
(Hartley 2000: 45), dann ist es nicht legitim, an bestimmte Personen (Journalis-
ten) und bestimmte Institutionen (Journalismus) spezifische Leistungserwar-
tungen heranzutragen bzw. ein Ausbleiben dieser Leistungen zu kritisieren.
Journalistische Fehlleistungen wären dann eine Kollektivschuld. Allerdings sind
die ausgewählten Begriffe bzw. Konzepte auf einer abstrakten Ebene angesie-
delt, sodass prinzipiell auch ausdifferenzierte oder entgrenzte Formen des
Journalismus (z.B. Unterhaltungs- und Online-Journalismus) damit analysiert
werden können.

3 Die Beiträge dieses Bandes


Der vorliegende Band ist in insgesamt neun Abschnitte gegliedert, die jeweils
zwei aufeinander bezogene Beiträge enthalten. Im ersten Abschnitt „Handeln“
macht Hartmut Esser deutlich, dass die Erklärung gesellschaftlicher Vorgänge
immer drei Schritte erfordere: die Untersuchung der „Logik der Situation“, die
Erklärung des Handelns angesichts dieser Umstände über eine „Logik der
Selektion“ dieses Handelns, und die Ableitung der durch das Handeln erzeug-
ten gesellschaftlichen Folgen über eine „Logik der Aggregation“. Auf dieser
Basis entwickelt Carsten Reinemann ein strukturell-individualistisches Erklä-
rungsmodell, das sein heuristisches Potenzial auf drei aufeinander aufbauenden
16 Thomas Hanitzsch, Klaus-Dieter Altmeppen & Carsten Schlüter

Ebenen entfaltet: der Rekonstruktion subjektiver Situationsdefinitionen, der


Konstruktion der dazu notwendigen Brückenannahmen sowie der Bestimmung
von Aggregationsregeln und der damit verbundene Modellierung dynamischer
Prozesse. Reinemann veranschaulicht dies am Beispiel von Boulevardisie-
rungstendenzen in der Berichterstattung.
Das Konzept der „Rationalität“ steht im Blickpunkt des zweiten Ab-
schnitts. Michael Jäckel ist sich in seinem Grundlagenbeitrag mit Esser darüber
einig, dass die Logik der Situation auch im Hinblick auf den Homo Oeconomi-
cus mitgedacht werden muss. Ein situationsabhängiges Entscheidungsmodell
müsse die Definition und Wahrnehmung der Situation und die Beurteilung der
Folgekosten berücksichtigen. Vor allem aber gebe es keinen Grund, die öko-
nomische Erklärung auf den engen Bereich des Wirtschaftslebens zu beschrän-
ken. Hier setzen Susanne Fengler und Stephan Russ-Mohl an, die angesichts der
systemtheoretischen Dominanz der Journalismusforschung fordern: „Bringing
the journalists back in“. Da sich selbst in straff organisierten, „durchökonomi-
sierten“ Medienkonzernen für Journalisten immer wieder Freiheitsgrade für
professionelles Handeln ergeben, ist für sie die zentrale Frage, wie diese Spiel-
räume (aus)genutzt werden.
Im dritten Abschnitt, „Akteurkonstellationen“, erläutert Uwe Schimank seine
als „Akteur-Struktur-Dynamiken“ bekannt gewordene akteurtheoretisch fun-
dierte Theorieperspektive, die an differenzierungstheoretischen Arbeiten an-
schließt und auf diese Weise eine Brücke zur Luhmannschen Systemtheorie
baut. Die von Schimank dargestellten drei Typen von Akteurkonstellationen –
Beobachtungs-, Beeinflussungs- und Verhandlungskonstellationen – werden
von Christoph Neuberger aufgegriffen und in den Kontext von Journalismus
gestellt. Für Neuberger stehen Konstellationsstrukturen vor allem aufgrund
ihrer gesellschaftlichen Relevanz im Zentrum der Betrachtung, da durch das
Journalismus-vermittelte öffentliche Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln
gesellschaftliche Strukturdynamiken ausgelöst werden.
Um die „subjektive“ Seite der Gesellschaft geht es auch bei der Diskussion
der Konzepte „Milieu“ und „Lebensstil“, die im Zentrum des vierten Ab-
schnitts stehen. Für Stefan Hradil ist die Perspektive der Milieu- und Lebensstil-
forschung in einer pluralisierten und sich wandelnden Gesellschaft unerlässlich
geworden, da Selbstdefinitionen, Zurechnungen und Verhaltensweisen der
Menschen nicht mehr allein von verfügbaren Ressourcen, sondern auch von
deren Verwendungsweise geprägt sind. In diesen Kontext ist Johannes Raabes
Plädoyer für eine praxis- und kulturtheoretische Erweiterung der Journalismus-
forschung zu verorten. Nach Auffassung von Raabe bildet ein journalistisches
Zur Einführung 17

Milieu nicht nur das soziale Umfeld journalistischer Handlungs- und Kommu-
nikationspraxis, sondern auch das „Medium“, in dem sich diese Praxis ereignet
und ereignen kann, indem spezifische Sinnstrukturen im Denken, Wahrneh-
men, Deuten und Handeln der Akteure aktualisiert werden und dabei struktu-
rierend, sinnstiftend und so handlungsanleitend auf die Praxis zurückwirken.
Die Arbeiten Pierre Bourdieus sind dabei zentral für diesen wie auch den
fünften Abschnitt des vorliegenden Bandes, in dem sich zwei Autoren der
Begriffstriade von „Kapital“, „Feld“ und „Habitus“ widmen. Herbert Willems
beschreibt in seinem Grundlagenbeitrag eine ambivalente Kultur- und Wirk-
lichkeitsbedeutung journalistischer Medienerzeugnisse. Denn einerseits sind sie
vermittelte Reproduktionen von habituellen Sinnstrukturen des Publikums,
und andererseits stellen sie feldbestimmte Inszenierungen dar, die einen eige-
nen Sinn und eine eigene Wirklichkeit „haben“ und dadurch einen eigenen
Sinn und eine eigene Wirklichkeit hervorbringen. Für die empirische Analyse
von Journalismus gilt jedoch, so das Fazit von Thomas Hanitzsch, dass sich Fel-
der nicht unmittelbar beobachten lassen. Daher kommt die Beobachtung von
Journalismus an den objektiven Feldpositionen sowie den zwischen ihnen
herrschenden Relationen nicht vorbei. Damit fällt den journalistischen Akteu-
ren, die diese Feldpositionen besetzen, eine zentrale Rolle bei der Analyse zu.
Journalismus wird demnach quasi „durch die Augen der Akteure“ beobachtet.
Die Augen der Akteure sind allerdings „getrübt“ durch den organisationa-
len Blick. Organisation ist nach Michael Bruch und Klaus Türk eines der zentralen
Strukturprinzipien von Gesellschaft, da sie alle gesellschaftlichen Kooperati-
onsverhältnisse reguliert. Von Organisation als gesellschaftlichem Regulie-
rungsprinzip unterscheiden sie die Einzelorganisationen. Eine solche ist der
Journalismus, der, so Klaus-Dieter Altmeppen, von der Journalismusforschung in
der Regel auch als Einzelorganisation untersucht wird. Allerdings ist die Struk-
tur des Journalismus weder per se gegeben, noch wird sie schlicht angeordnet.
Sie entwickelt und verändert sich rekursiv durch die Dualität von Handeln und
Struktur, und zwar sowohl die Organisation selbst wie auch das Redaktions-
management. Die sozial konstituierten Ordnungsmuster des Journalismus sind
insoweit ein Spiegelbild der Gesellschaft, wie sie deren Struktur reproduzieren.
Sie sind dagegen nur soweit journalismustypisch, wie journalistische Organisa-
tionen zum Beispiel auch strukturell erkennen lassen, dass in besonderem Ma-
ße Wert gelegt wird auf publizistische Qualitätsansprüche.
Mit Robert Hettlages Erörterung des symbolischen Interaktionismus knüpft
der siebente Abschnitt zunächst an den individuellen Blick des Akteurs an.
Aber auch dieser Blick benötigt eine „gesellschaftliche Sehhilfe“, einen Rah-
18 Thomas Hanitzsch, Klaus-Dieter Altmeppen & Carsten Schlüter

men, der dafür sorgt, dass nicht jede Situation neu definiert werden muss. Wis-
sensvorrat und gemeinsame Deutungsmuster sorgen für eine soziale Ordnung,
in der viele Handlungen mechanisch ablaufen, also nicht hinterfragt werden
(müssen). Auf diese Rollen – als eines der hervorstechenden Organisations-
muster – rekurriert Carsten Schlüter in seinem Beitrag. Rollen, insbesondere ihr
Kern, diffundieren von der Organisation in die Interaktion und vice versa,
werden bei diesem interaktiven Vorgang aber verändert, weil sie an Rollener-
wartungen und situative Erfordernisse angepasst werden. Daher muss zwi-
schen typischen Rollen, den normativen Aspekten der Rolle und dem tatsächli-
chen Rollenverhalten unterschieden werden.
Eine besondere Form der Interaktion und des Handelns sind Netzwerke.
Arnold Windeler stellt zwei bedeutsame Netzwerkansätze vor: den Strukturan-
satz, der die Strukturen der Beziehungsgeflechte untersucht, und den Gover-
nance-Ansatz, der sich mit der Regelung von Koordinationen zwischen Netz-
werkteilnehmern befasst. Der Beitrag von Thorsten Quandt setzt an diesen
Grundlagen an und kommt zu einer Matrix mit verschiedenen Netzwerktypen
auf der Makro-, Meso-, Mikro- und der Nanoebene. Auf dieser Basis macht er
sich auf die Suche nach Netzwerkansätzen in der Journalismusforschung. Fün-
dig wird er bei den Unternehmensnetzwerken, die insbesondere in Form von
Verflechtungen den Journalismus beeinflussen. Darüber hinaus legen journa-
lismusbezogene Weblogs und Diskussionsforen eine Netzwerkanalyse nahe.
Aber auch unterhalb dieser Ebenen lassen sich Netzwerkansätze fruchtbar
nutzen, insbesondere bei der Analyse der Produktionsbedingungen des Journa-
lismus, bei denen Handlungsnetzwerke bestehen, die eine wesentliche Rolle bei
der Orientierung und Regulierung des journalistischen Handelns spielen.
In das journalistische Handeln ist immer auch Macht eingewebt. Macht ist
ein Phänomen mit vielfältigen Dimensionen und vieldeutigen Perspektiven, wie
Peter Imbusch zu Beginn des neunten Abschnitts deutlich macht. Aufbauend auf
Macht als Figuration, also einem komplexen Geflecht asymmetrischer und
wechselseitiger Beziehungen, breitet er die Dimensionen, Effekte und Ebenen
des Machtbegriffs aus. Seinen Ausblick auf Macht und Medien greift Klaus-
Dieter Altmeppen in seinem Beitrag auf und wendet ihn auf den Journalismus an.
Dabei analysiert er – anhand der Elemente des „power to“ und „power over“ –
Macht zunächst einmal danach, ob Journalisten, journalistische Organisationen
oder Medienorganisationen Machthaber sind und worüber sie Macht ausüben
können. In einem zweiten Schritt systematisiert er anhand dieser Unterteilung
die verschiedenen Machttechniken (Machtquellen, Machtmittel, Formen der
Zur Einführung 19

Machtausübung) sowie die Machtausdehnungen und zeigt auf diese Weise die
Vielfältigkeit von Macht im Journalismus auf.
Handeln und Struktur, Interaktion und Rahmen, Akteur und Konstellation,
Macht und Organisation: Alle Beiträge vereint die Suche nach der Nahtstelle
zwischen akteursorientierten Ansätzen und gesellschaftstheoretischen Perspek-
tiven. Folgende generelle Tendenzen sind in der Diskussion um theoretische
Entwürfe für die Journalismusforschung erkennbar: Einerseits ist eine (Wie-
der-)Belebung der Perspektive der handelnden Akteure festzustellen. Mittler-
weile gilt als weithin anerkannt, dass eine Journalismustheorie ohne die Journa-
listen nicht auskommt. Zweitens ist die Dualität von Struktur, d.h. die rekursive
Hervorbringung und Perpetuierung von Handeln und Strukturen, Bestandteil
vieler Ansätze, und dies gilt nicht nur für jene, die sich an Giddens’ Struktura-
tionstheorie orientieren. Drittens ist eine allmähliche Aufwertung des Kultur-
begriffs in der Journalismusforschung zu beobachten, nicht zuletzt auch des-
halb, weil die Kultursoziologie eine Vielzahl von Ansätzen bereithält, die Be-
ziehung von Individuum und Gesellschaft zu beschreiben (vgl. Reckwitz 2000).
Und schließlich ist festzustellen, dass immer mehr Autoren mit dem substan-
zialistischen Denken brechen und den Relationen zwischen den Subjekten bzw.
Objekten der Analyse mehr Beachtung schenken. Für die Journalismustheorie
gilt jedenfalls, so das optimistische Fazit der Herausgeber, dass die Potenziale
längst nicht erschöpfend ausgelotet sind. Zusätzliche Theoriescheinwerfer, so
ist zu hoffen, bringen dazu bislang unbekannte Facetten des Gegenstands
Journalismus in der Forschung zum Vorschein.

******

Das Gelingen ist bei einem sozialwissenschaftlichen Experiment (als das dieser
Band auch zu verstehen ist) immer ambivalent, denn nicht nur die soziale Pra-
xis ist komplex und kontingent, sondern auch ihre Bewertung durch die Beob-
achter. Gelungen ist aber auf jeden Fall das Erscheinen dieses Bandes. Dass
sich Soziologen und Journalismusforscher auf das Experiment eingelassen
haben, miteinander verknüpfte Beiträge zu schreiben, die Gedankengänge der
jeweils anderen Seite aufzunehmen und fortzuführen, dafür gebührt ihnen ein
ganz besonderer Dank der Herausgeber. Zu danken haben wir auch Barbara
Emig-Roller vom VS Verlag, die wie die Autoren das Experiment von Anfang
an engagiert unterstützt und die lange Produktionszeit klaglos ertragen hat.
20 Thomas Hanitzsch, Klaus-Dieter Altmeppen & Carsten Schlüter

Julia Hehrlein und Ingmar Steinicke haben sich durch lange Korrekturfahnen
gearbeitet und viele kleine Fehler behoben, deren Vorhandensein den Heraus-
gebern schon gar nicht mehr aufgefallen ist. Vielen Dank dafür.

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HANDELN
Der Handlungsbegriff in
der modernen Soziologie

Hartmut Esser

1 Die drei Schritte der Erklärung gesellschaftlicher Vorgänge


Alle gesellschaftlichen Prozesse drehen sich – letztlich – um die Reproduktion
befriedigender Zustände des alltäglichen Lebens. Die dafür wichtigsten Vor-
gänge sind die Produktion von Gütern und deren Verteilung über Transaktio-
nen. Bei allen Vorgängen der Produktion und der Transaktion ist das Handeln
der Menschen der zentrale Vorgang. Es bildet den dynamischen Kern aller
gesellschaftlichen Prozesse und Strukturen, auch wenn man das nicht auf den
ersten Blick sieht. Das Handeln ist dabei einerseits stets in eine bestimmte,
zuvor entstandene soziale Situation eingebettet, und es hat andererseits auch
immer gewisse, über das Handeln hinausgehende Folgen, welche die dann
entstehende neue Situation und das darauf folgende Handeln prägen. Die Er-
klärung gesellschaftlicher Vorgänge erfordert damit immer drei Schritte: die
Untersuchung der „Logik der Situation“, der sich die Menschen jeweils gegen-
über stehen, die Erklärung ihres Handelns angesichts dieser Umstände über
eine „Logik der Selektion“ dieses Handelns, und die Ableitung der durch das
Handeln der vielen Individuen erzeugten gesellschaftlichen Folgen über eine
„Logik der Aggregation“.
Die über das Handeln entstehenden Folgen sind meist (so) nicht beabsich-
tigt, und die Akteure können als Einzelne auch oft kaum etwas dagegen tun.
Sie ergeben sich, scheinbar paradoxerweise, oft gerade daraus, dass sich die
Menschen in ihrer jeweiligen Situation vollkommen verständlich und folgerich-
tig verhalten. Das wurde früher gerne als die „Dialektik“ der Gesellschaft be-
zeichnet. Die Aufgabe der (soziologischen bzw. sozialpsychologischen) Hand-
lungstheorie ist es nun, in diesem allgemeinen Zusammenhang der drei Schritte
einer soziologischen Erklärung anzugeben, nach welchen Regeln das Handeln
der Menschen unter den variierenden Bedingungen von Situationen verläuft,
28 Hartmut Esser

damit sowohl die Wirkung von Merkmalen sozialer Situationen erklärt werden
kann, wie also auch die Entstehung neuer Situationen. Die Bestimmung und
Nutzung einer geeigneten Handlungstheorie für die Logik der Selektion des
Handelns ist somit ein unverzichtbarer – wenngleich nicht allein ausreichender
– Teil der soziologischen Erklärung gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen.

2 Was ist Handeln?


Das Handeln ist ein spezieller Fall des Verhaltens (vgl. zu den folgenden Ein-
zelheiten der soziologischen Handlungstheorie Esser 1999). Unter Verhalten
werden allgemein alle Arten einer Stellungnahme lebender Organismen zu
ihren Umgebungen verstanden. Dazu zählen zunächst alle sichtbaren Reaktio-
nen, aber auch innere Vorgänge der Stellungnahme, wie die Übernahme einer
Information oder die Änderung einer Einstellung. Auch das Nicht-Handeln,
das Unterlassen und das Dulden ist eine solche Stellungnahme. Drei Bezüge
der Strukturierung des Verhaltens können unterschieden werden: genetische
Programme, Lernen und Intentionen.
Genetische Programme sind neuro-biologisch verankerte Reaktionen auf gewis-
se „signifikante“ Reize. Sie sind über lange Prozesse der biologischen Evoluti-
on entstanden, deshalb an die jeweilige Umgebung meist gut angepasst und
(auch deshalb) nur sehr langsam über die Evolution der Art insgesamt verän-
derbar. Ihre Eignung für die Reproduktion ist an die Stabilität der jeweiligen
Umgebung gebunden.
Lernen ist die Fähigkeit von individuellen Organismen, sich auf neue Umge-
bungen durch eigene Erfahrungen einzustellen. Es geschieht über „Verstär-
kungen“: die Erfahrung der zeitlichen Verbindung von angenehmen oder un-
angenehmen Ereignissen mit gewissen Objekten und eigenen Reaktionen. Das
Erlebnis der erfolgreichen Problemlösung ist dabei der wichtigste Mechanis-
mus. Es gibt aber, gerade bei „intelligenten“ Organismen, auch das Lernen
allein durch Beobachtung, durch beiläufig erworbenes Wissen und durch die
Imitation des Verhaltens erfolgreicher Modelle.
Intentionen schließlich sind Vorstellungen über zukünftige Zustände. Sie
werden durch die (mehr oder weniger) bewusste „Imagination“ zukünftiger
Zustände und die innere „Berechnung“ des Ertrages möglicher Folgen für ein
bestimmtes Verhalten gebildet. Intentionen sind der Kern des, wie das Max
Weber ausgedrückt hat, „subjektiven“ Sinns, den die Menschen ihrem Tun
verleihen.
Der Handlungsbegriff in der modernen Soziologie 29

Die drei Formen des Verhaltens unterscheiden sich systematisch nach dem
Grad ihrer Unabhängigkeit von den durch eine Vergangenheit gegebenen Um-
ständen, ihrem Bezug auf zukünftige Folgen, ihrer Flexibilität und dem Grad
der jeweils nötigen Reflexion. Genetische Programme bilden den einen Pol
einer vergangenheitsbezogenen, automatischen und relativ starren „Reaktion“,
Intentionen und subjektiver Sinn den anderen Pol einer zukunftsbezogenen,
verzögerten und für feinere Unterschiede auch flexiblen „Aktion“. Das Handeln
ist dann jene Form des Verhaltens, die mit der Bildung von Intentionen und
der Kalkulation zukünftiger Folgen verbunden ist. Menschliche Organismen
sind im Prinzip zu allen drei Formen des Verhaltens in der Lage, und das empi-
rische soziale Geschehen besteht immer aus einer Mischung aller drei Vorgän-
ge.
Die Erklärung des Verhaltens nach genetisch vererbten oder durch Lernen
erworbenen Programmen ist ähnlich: Bestimmte, als Hinweissignale fungieren-
de Objekte in einer Umgebung lösen die Reaktion mehr oder weniger spontan
aus, wobei in Notsituationen die rascher reagierenden und mit den biologi-
schen Funktionen enger verzahnten genetischen Programme die Führung
übernehmen, meist verbunden mit typischen Emotionen, wie beim Anblick
einer Schlange. Das Handeln nach Intentionen folgt einer anderen Logik. Es
entspricht einer – mehr oder weniger „bewussten“ – Entscheidung zwischen
verschiedenen Alternativen nach einer Phase der berechnenden Reflexion
möglicher Folgen und deren Bewertung. Die Akteure haben mit dieser Reflexi-
on bestimmte „gute Gründe“ für ihr Tun bedacht. Sie wissen, warum sie so
handeln, wie sie es tun, und sie könnten ihr Handeln danach unter Hinweis
darauf rechtfertigen.
Die guten Gründe bilden den Kern des subjektiven Sinns, den die Akteure
mit ihrem Handeln verbinden. Im Nachvollzug der guten Gründe durch ande-
re Akteure wird dann auch ein „Verstehen“ des (intentionalen) Handelns mög-
lich. Die Reaktionen auf der Grundlage genetischer oder gelernter Programme
folgen dagegen keinem derartig reflektierten „subjektiven Sinn“, wenngleich sie
damit im Einzelfall durchaus vereinbar sein können, sie meist mit möglichen
guten Gründen durchaus vereinbar wären und man sie daher nachträglich da-
mit in Verbindung bringen kann, etwa in Form von „Rationalisierungen“. Die
Bildung von Intentionen, die Herausarbeitung guter Gründe und der Bezug auf
einen subjektiven Sinn bezeichnen damit letztlich den gleichen Vorgang: Es
stehen verschiedene Alternativen als mögliche Stellungnahmen zur Verfügung,
und es wird jene schließlich ausgewählt, die den bewusst herausgearbeiteten
Intentionen eines Akteurs am ehesten entspricht.
30 Hartmut Esser

2.1 Gute Gründe und Verstehen


Die einfachste Form, die Selektion eines Handelns über die Bildung von Inten-
tionen bzw. über den Bezug auf gute Gründe zu erklären, ist der so genannte
praktische Syllogismus. Es ist eine spezielle Form des logischen Schemas einer
Erklärung. Das Explanandum sei ein bestimmtes Handeln einer Person i (A(i)).
Dieses Handeln wird, wie jedes andere Explanandum auch, über ein allgemei-
nes Gesetz und über die Angabe der zur Anwendung des Gesetzes nötigen
(Rand-)Bedingungen erklärt. Im praktischen Syllogismus lautet das Gesetz:
„Wenn ein Akteur das Ziel Z hat, und wenn er glaubt, dass zur Erreichung von
Z die Handlung A notwendig ist, dann handelt er nach A“. In der Prämisse des
Gesetzes werden zwei (Rand-)Bedingungen genannt: das Ziel Z und der Glau-
be (ZÆA). Das Gesetz kann dann so ausgedrückt werden: (Z und
(ZÆA))ÆA. Nun muss noch gezeigt werden, dass der Akteur i das Ziel Z und
den Glauben (ZÆA) wirklich hatte: Z(i) und (ZÆA)(i). Das komplette lo-
gische Schema einer Erklärung des mit subjektivem Sinn, guten Gründen bzw.
Intentionen versehenen Handelns sieht dann so aus:

Gesetz (Z und (Z Æ A)) Æ A


Randbedingung 1 Z(i)
Randbedingung 2 (Z Æ A)(i)
Explanandum A(i)

Der praktische Syllogismus rekonstruiert das intentionale Handeln als eine


spezielle Form der Rationalität bei der Selektion einer Alternative: Das Han-
deln folgt einerseits den Zielen, Wünschen oder Präferenzen des Akteurs, an-
dererseits aber auch seinen (subjektiven) Vorstellungen, Annahmen oder Er-
wartungen darüber, wie die Präferenzen angesichts der eingeschätzten Mög-
lichkeiten und alternativen Mittel am besten zu bedienen sind. Die Rekonstruk-
tion der (subjektiven) Ziele der Akteure und deren (subjektiven) Erwartungen
über die Eignung der alternativen Mittel zur Erreichung der Ziele und die An-
wendung des Handlungsgesetzes, wonach die Akteure jene Handlung wählen,
die den Bewertungen von Zielen und den Erwartungen über die Eignung von
Mitteln (am besten) entsprechen, kann man auch als „Verstehen“ bezeichnen.
Es zeigt sich in dieser Sicht, dass das Verstehen des Handelns und dessen Er-
klärung über den Bezug auf Ziele und Annahmen der Eignung von Mitteln
identisch sind: Verstehen ist die Erklärung eines Handelns unter der Annahme
der Rationalität der Akteure. Rationalität, Intentionalität, gute Gründe und
subjektiver Sinn bezeichnen demnach den gleichen Sachverhalt.
Der Handlungsbegriff in der modernen Soziologie 31

2.2 Doppelte Hermeneutik


Für die sozialwissenschaftliche Arbeit hat dieser Sachverhalt wichtige Folgen.
Der wohl bedeutsamste Aspekt ist, dass man zur Erklärung des Handelns der
Menschen und der daran anschließenden gesellschaftlichen Folgen immer den
Bezug auf die subjektiven Ziele und die subjektiven Erwartungen herstellen muss.
Das aber bedeutet zwingend, dass man zur Erklärung aller sozialen Prozesse
(auch) zu einem Verstehen der beteiligten Akteure derart kommen muss, dass
man ihre jeweilige Sicht der Dinge, den subjektiven Sinn ihres Tuns also, re-
konstruiert. Die subjektiven Vorstellungen (Bewertungen und Erwartungen)
der Akteure werden auch als Konstruktionen erster Ordnung bezeichnet. Sie sind
die zentralen handlungstheoretischen Bestandteile der Theorien und Modelle
der Sozialwissenschaftler, etwa für die Erklärung von sozialen Bewegungen
oder dafür, dass die Menschen in unsicheren Zeiten risikoavers werden.
Die sozialwissenschaftlichen Modelle und Theorien, die ja weit über das
Handeln der einzelnen Menschen hinausgreifen, werden demgegenüber als
Konstruktionen zweiter Ordnung bezeichnet. In diesen Konstruktionen zweiter
Ordnung, über die sich die (Sozial-)Wissenschaftler untereinander verständi-
gen, sind also die Konstruktionen erster Ordnung zwingend enthalten. Dieser
Sachverhalt wird auch als doppelte Hermeneutik bezeichnet. Er kennzeichnet den
wohl wichtigsten Unterschied der gesellschaftswissenschaftlichen Theorien von
den naturwissenschaftlichen: Naturwissenschaftler müssen über die „Subjekti-
vität“ ihrer Objekte (Intentionen, gute Gründe, subjektive Bewertungen und
Erwartungen) nichts wissen (oder allenfalls in rudimentärer Form beim Um-
gang mit „intelligenten“ nicht-menschlichen Organismen). Sozialwissenschaft-
ler sind auf eine valide und damit objektive Erfassung der Subjektivität der
Akteure angewiesen. Sie müssen ihre „Objekte“ verstehen, um ihr Tun erklären
zu können. Naturwissenschaftler müssen (und brauchen) das nicht.

2.3 Die Wert-Erwartungstheorie


Die wichtigste und nach formalen und inhaltlichen Gesichtspunkten geeignets-
te Art einer Handlungstheorie, die die genannten Gesichtspunkte der Subjekti-
vität des Handelns der Menschen berücksichtigt und gleichzeitig eine korrekte
Erklärung des Handelns zu liefern imstande ist, ist die so genannte Wert-
Erwartungstheorie. Sie besagt, dass Akteure genau jene Alternative wählen, bei
der das Produkt aus der Bewertung gewisser Konsequenzen ihres Tuns und der
Erwartung, dass die jeweilige Alternative zu den verschiedenen Konsequenzen
führt, im Vergleich zu allen Alternativen und allen Konsequenzen maximal ist.
32 Hartmut Esser

Jeder Alternative i wird dementsprechend ein Gewicht zugeordnet, die Wert-


Erwartung EU(i). Wenn U(j) die Bewertung einer Konsequenz j ist und p(ij)
die (als subjektive Wahrscheinlichkeit gegebene) Erwartung, dass eine Alterna-
tive i zur Verwirklichung der Konsequenz j führt, dann ergibt sich das Gewicht
EU(i) für jede Alternative i zu EU(A(i)=6p(ij)•U(j)). Der praktische Syllogis-
mus ist ein Spezialfall dieser Konzeption.
Die Formel der Wert-Erwartungstheorie sieht etwas kompliziert aus, ist es
aber nicht. Sie besagt, die Sache etwas vereinfachend: Eine Alternative i be-
kommt nur dann ein bestimmtes Gewicht, wenn der Akteur mit ihr eine Folge
j verbindet, die für ihn angenehm zu sein verspricht (U(j)), und wenn das Han-
deln nach i für das Eintreten der Folge j wirksam ist. Dahinter steckt eine tiefe
Weisheit der Evolution des Lebens: Wähle die Alternative, bei der Du etwas
für Dich möglichst Zuträgliches bekommst, die aber auch vergleichsweise
leicht und wahrscheinlich zum Ziel führt! Oder anders gesagt: Strebe keine
Dinge an, die Dir schaden, ebenso wie solche, die zwar interessant, aber uner-
reichbar sind! Es steckt das Gesetz der Knappheit darin, mit dem sich die Evo-
lution des Lebens in einer meist unfreundlichen Umgebung immer hat aus-
einandersetzen müssen, ebenso wie die nahe liegende Bedingung, dass die Or-
ganismen, die sich nicht um ihre höchst eigene Reproduktion gekümmert ha-
ben, in der Evolution des Lebens keine guten Chancen hatten. Das gilt für alle
Organismen, und der Mensch ist da keine Ausnahme.

2.4 (Zweck-)Rationalität
Die Wert-Erwartungstheorie bezieht sich auf eine besonders extreme Form der
Intentionalität des Verhaltens: Die Akteure kennen alle Alternativen, haben
eindeutig geordnete Präferenzen für die verschiedenen möglichen Konsequen-
zen, und sie sind über die Wirksamkeit der verschiedenen Alternativen (als
Mittel zur Erreichung der Ziele) perfekt informiert. Dahinter steht das Modell
des rational und nach dem Prinzip der Nutzenmaximierung funktionierenden
Homo Oeconomicus. Max Weber hat diesen Typ des Handelns als zweckratio-
nales Handeln bezeichnet. Weil dabei die Ziele und die Mittel explizit bedacht
und gegeneinander gedanklich abgewogen werden, weil dadurch ferner die
„guten Gründe“ für oder gegen eine Alternative besonders transparent heraus-
gearbeitet werden und somit auch der von den Handelnden mit ihrem Tun
verbundene subjektive Sinn besonders klar ist, sind der Homo Oeconomicus
und die Wert-Erwartungstheorie besonders deutliche Fälle der Intentionalität,
und jede Erklärung, die dem folgt, bedeutet entsprechend eine besonders aus-
geprägte Form des Verstehens der Akteure.
Der Handlungsbegriff in der modernen Soziologie 33

3 Typen des Handelns


Max Weber unterscheidet neben dem zweckrationalen Handeln allerdings drei
weitere „Typen“ des Handelns, die in charakteristischer Weise vom Modell des
zweckrationalen Handelns abweichen: das wertrationale, das affektuelle und
das traditionale Handeln. Beim wertrationalen Handeln folgt der Akteur einem
ihm unbedingt geltenden „Wert“, etwa der staatsbürgerlichen Pflicht des Wäh-
lens oder einer Bitte um Hilfe in der Not, auch dann, wenn die Kosten dafür
hoch und andere Alternativen verlockend sind. „Rational“ ist das wertrationale
Handeln jedoch weiterhin: Die Unbedingtheit des Wertes wird vom Akteur
„bewusst“ durchdacht und mit rationalen Argumenten begründet, und bei der
Wahl der Mittel geht es ohnehin wieder ganz und gar (zweck-)rational zu. Das
affektuelle Handeln ist eines, das der Auslösung eines, genetisch verankerten
oder gelernten, emotionalen Programms folgt, begleitet von entsprechenden
Gefühlen. Es ist weiterhin auf die (vitalen) Ziele des Akteurs bezogen, insbe-
sondere weil die emotionalen Programme ein zentraler Teil der neuro-
biologischen genetischen Programme sind, deren Hauptfunktion die rasche
Reaktion auf bedrohliche und/oder sonst wie vital wichtige Situationen ist. Das
traditionale Handeln ist ebenfalls eines, das gewissen Programmen folgt. Im
Unterschied zum affektuellen Handeln ist es jedoch (vollkommen) emotions-
frei. Es folgt über Habitualisierungen erworbenen Programmen der automati-
schen Abwicklung von „Skripten“. Auch diese Handlungsprogramme werden
durch Umgebungsreize ausgelöst. Meist sorgt jedoch schon die unbewusst
immer mitlaufende Vergewisserung der Normalität des Ablaufs für die rei-
bungs- und aufwandlose Abwicklung der damit verbundenen Routinen. Der
wichtigste Mechanismus dieser Vergewisserung ist die (alltägliche) sprachliche
Konversation. Sie bildet den latenten Rahmen der (unbewussten) Sicherheit,
dass alles „im grünen Bereich“ ist, und dass daher für besondere „Berechnun-
gen“ oder Emotionen kein Anlass besteht.
Im Anschluss an die Typologie von Max Weber gibt es eine Vielzahl ähnli-
cher Vorschläge für die Unterscheidung verschiedener Typen des Handelns.
Ihnen ist die Vorstellung gemeinsam, dass es sich um jeweils ganz verschiedene
„Logiken“ der Selektion von Stellungnahmen handele: die rationale Kalkulation
von in der Zukunft liegenden Konsequenzen unter perfekt informierter Beach-
tung möglichst aller denkbaren Alternativen und Ziele einerseits; und die auf
Hinweisreize ausgelöste automatische, spontane und von emotionalen Festle-
gungen begleitete Anwendung von (extrem) einfachen Programmen der Reak-
tion. Jon Elster (1989) etwa unterscheidet so das „rationale“ vom „normati-
ven“ Handeln: Das rationale Handeln ist an zukünftigen Konsequenzen orien-
34 Hartmut Esser

tiert und dadurch „bedingt“, das normative Handeln ist unabhängig von zu-
künftigen Konsequenzen und wird „unbedingt“ ausgeführt. Ähnlich unter-
scheiden James S. March und Johan Olsen (1989) die „logic of calculativeness“
von der „logic of appropriateness“: die Berechnung von Folgen einerseits und
die Beachtung von Regeln andererseits.

3.1 Begrenzte Rationalität


Der Hintergrund aller dieser Unterscheidungen ist ein bereits früh gegen die
ökonomische Theorie des rationalen Handelns vorgebrachter Einwand: die
(deutlich) begrenzte Rationalität der Menschen, die insbesondere in seiner
mangelnden Fähigkeit zur Informationsverarbeitung und den oft hohen Kos-
ten für die Beschaffung der eigentlich nötigen Informationen bestehe. Die
Grenzen der Rationalität zeigen sich an einer ganzen Reihe von „Anomalien“:
Menschen suchen keineswegs immer nach der „besten“ Alternative, sondern
orientieren sich z.B. an „Modellen“ in ihrer Umgebung, oder sie halten an
einfachen Mustern der Reaktion gerade dann fest, wenn die Möglichkeiten
zunehmen. Der Ökonom Herbert Simon (1993, 1955) hat vor diesem Hinter-
grund dem Konzept des „maximizing“ – des perfekt informierten Homo Oe-
conomicus – das bescheidenere und der Realität menschlicher Entscheider
besser entsprechende Konzept des „satisficing“ gegenüber gestellt: Menschen
suchen nicht nach der jeweils objektiv „besten“ Alternative, sondern beschei-
den sich mit Untergrenzen eines variablen Anspruchsniveaus.
Simon weicht mit dieser Berücksichtigung der Begrenzungen der menschli-
chen Vernunft jedoch eigentlich nicht von der Logik der rationalen Berech-
nung von zukünftigen Konsequenzen ab. Er berücksichtigt dabei nur, dass es
auch Kosten der Informationsbeschaffung und -verarbeitung gibt. In den di-
versen Typologien des Handelns ist aber meist gemeint, dass das nicht-
rationale Handeln auch einer ganz anderen „Logik“ folge als das rationale,
einschließlich des – immer noch „rationalen“ – satisficing. Es gehe beim
„normativen“ Handeln eben nicht um die Berücksichtigung von in der Zukunft
liegenden Konsequenzen, sondern um die Anwendung von in der Vergangenheit
erworbenen Regeln, bei denen alle Konsequenzen ausgeblendet sind. Simon
hat diese Position später selbst übernommen: „Wirkliche“ Entscheidungen
bestünden nicht aus irgendwelchen „Kalkulationen“, sondern folgten der –
über Symbole gesteuerten – Wiedererkennung von zuvor gelernten typischen
Mustern und der dadurch ausgelösten Aktivierung von Reaktionsprogrammen.
Es gibt sogar Stimmen, die sagen, dass das rationale Handeln eigentlich auch
Der Handlungsbegriff in der modernen Soziologie 35

nichts weiter sei als die Folge eines solchen „Programms“ (vgl. etwa Vanberg
2002).

3.2 Heuristiken
Die empirische Untersuchung des Verhaltens bzw. Handelns der Menschen hat
in der Tat ergeben, dass es zahllose Abweichungen vom Modell des rationalen
Handelns gibt, aber auch, dass Menschen unter bestimmten Umständen durch-
aus zu rationalen Berechnungen in der Lage sind – und das unter bestimmten
Umständen auch tun. Es gibt also offensichtlich (mindestens) zwei verschiede-
ne Arten der Selektion von Alternativen: eine, die stark der automatisch-
spontanen Auslösung biologisch ererbter und/oder sozial gelernter Programme
entspricht und über den Weg der Mustererkennung und Aktivierung eines
Programms verläuft; und eine, die auf der reflektierend-kalkulierenden Bildung
von Intentionen und des Vergleichs guter Gründe beruht, in ihrer deutlichsten
Form nach den Regeln der Wert-Erwartungstheorie.
Zwischen diesen beiden Extremformen gibt es eine Reihe von Zwischen-
stufen oder Heuristiken. Sie lassen sich auf zwei Dimensionen anordnen: der für
die Selektion einer Alternative nötige Aufwand und die „objektive“ Richtigkeit
der Reaktion in Bezug auf die Lösung des situational gegebenen Problems. Die
beiden Dimensionen variieren bei den verschiedenen Heuristiken gegenläufig:
Je „rationaler“ eine Heuristik ist, umso aufwändiger ist sie auch, sie liefert aber
gleichzeitig die genaueren und „objektiv“ besseren Entscheidungen – und
umgekehrt für die „automatischen“ Heuristiken. Leicht ist zu sehen, dass es
sich um eine Art von Optimierungsproblem für die Selektion der Heuristiken
handelt: Bei vielen Situationen lohnt sich eine rationale Durchdringung nicht,
weil der erforderliche Mehraufwand an Informationsbeschaffung und
-verarbeitung den zu erwartenden Mehrertrag an Verbesserung der Entschei-
dung nicht lohnt. Bei anderen aber schon.

3.3 Dual-Process-Theorie(n)
Vor diesem Hintergrund sind die so genannten dual-process-Theorien entstan-
den. Ihr Gegenstand ist die Erklärung der Selektion automatischer versus stär-
ker elaborierter Heuristiken. Der Ausgangspunkt war die Unterscheidung zwei-
er verschiedener Konzepte der so genannten Einstellungs- oder Attitüdentheo-
rie in der (Sozial-)Psychologie. Die klassische Einstellungstheorie nach Allport
(1985) hatte eine Einstellung als Einheit von Affekten, Kognitionen und Ver-
36 Hartmut Esser

halten aufgefasst und erklärte das Verhalten durch die (automatische) Auslö-
sung dieser Einheit über situative Reize.
Nachdem aber festgestellt worden war, dass die Verbindung zwischen Ein-
stellungen und Verhalten alles andere als unmittelbar war, kam es zur Entwick-
lung eines alternativen Modells, der Theorie des „geplanten“ bzw. des „über-
legten“ Handelns nach Ajzen und Fishbein (1980). Darin wird angenommen,
dass jedem Verhalten die Bildung von Intentionen vorausgeht, wobei dieser
Vorgang nichts anderes ist als die Bildung von EU-Gewichten nach den Vor-
gaben der Wert-Erwartungstheorie. Die klassische Einstellungstheorie ent-
spricht damit dem Modell des normativen Handelns, die Theorien des geplan-
ten bzw. des überlegten Handelns dem des rationalen Handelns. Zahllose em-
pirische Untersuchungen haben inzwischen gezeigt, dass beide „Logiken“ vor-
kommen und dass es Bedingungen gibt, unter denen die Akteure von der einen
auf die andere Logik wechseln. Das Ziel der dual-process-Theorien ist es, die
Bedingungen zu spezifizieren und empirisch zu untermauern, unter denen die
Akteure der einen oder der anderen Logik folgen: unmittelbare Auslösung
einer kognitiv-emotionalen Reaktion, etwa eines rassischen Stereotyps, oder
eine stärkere gedankliche Durchdringung und elaborierte Beurteilung der Situa-
tion und der jeweiligen Reaktion (vgl. dazu die Übersicht bei Chaiken und
Trope 1999).
In der am weitesten entwickelten Fassung der dual-process-Theorie(n) bei
Russell H. Fazio (1990) folgt die Aktivierung eines (stereotypen) mentalen
Modells dem Match zwischen typischen symbolischen Reizen in der Situation
und bestimmten, damit assoziierten gedanklichen Vorstellungen. Aber erst bei
einer unerwarteten Störung des Matchs besteht die Chance auf eine „rationale“
Beurteilung. Dazu kommt es aber erst unter drei weiteren Bedingungen: Es
muss hierfür eine hinreichend starke Motivation gegeben sein, es müssen die für
die entsprechenden Berechnungen nötigen Gelegenheiten vorhanden sein, speziell
die Zeit für die erforderliche Informationsverarbeitung, und der dafür nötige
Aufwand darf nicht zu hoch sein. Bindungen an gewisse gedanklich-emotionale
Muster sind nach diesen Ansätzen, ganz ähnlich wie bei Simon, die Folge ent-
weder eines (perfekten) Matchs zwischen einem „zugänglichen“ mentalen Mo-
dell (einer bestimmten stereotypisierten Einstellung) oder aber, wenn der
Match gestört ist, des Mangels an Motivation und/oder Gelegenheiten bzw. zu
hohem Aufwand für eine „rationale“ (und damit auf Situationsvariationen
reagierende) Analyse der genauen Umstände und der möglichen Erträge. In-
zwischen gibt es zahllose empirische Hinweise auf die Richtigkeit dieser An-
nahmen der dual-process-Theorie(n).
Der Handlungsbegriff in der modernen Soziologie 37

3.4 Das Modell der Frame-Selektion


Das Problem der sozialpsychologischen dual-process-Theorie(n) ist, dass sie,
anders als die Wert-Erwartungstheorie, nicht als explizit gemachte Kausaltheo-
rie formuliert ist, sondern aus verbalen und graphischen Zusammenfassungen
empirischer Beobachtungen besteht. Um ein Handeln aber logisch korrekt
erklären zu können, benötigt man eine als Gesetz formulierte Handlungstheo-
rie. Um zu der (einseitig „rationalen“) Wert-Erwartungstheorie in Konkurrenz
treten zu können, müsste sie daher, ganz analog, als eine formal spezifizierte
Funktion modelliert werden, wobei das Explanandum die (beiden) „Logiken“
des Handelns sind, und der Match (von Symbolen und mentalen Modellen), die
Motivation, die Gelegenheiten und der Aufwand in ihrer kombinierten Wir-
kung darauf in der Prämisse eines Gesetzes der Selektion der betreffenden
Heuristiken aufzuführen wären.
Das so genannte Modell der Frame-Selektion ist eine derartig explizit ge-
machte und formale Fassung der Ideen der dual-process-Theorien (vgl. zu den
formalen Einzelheiten Esser 2003, 2001). Es geht davon aus, dass vor jedem
konkreten Verhalten oder Handeln sowohl ein bestimmtes gedankliches Modell
der Orientierung aktiviert wird, wie auch der Modus der Selektion der Alternati-
ven, der jeweils angewandte Grad der Informationsverarbeitung, die jeweils
benutzte Heuristik also. Das gedankliche Modell der Orientierung wird als Frame
bezeichnet. Der Frame „definiert“ die Situation als inhaltlich festgelegtes Mus-
ter eines Typs sozialer Abläufe oder Strukturen, etwa eine Karnevalssitzung
gegenüber einer Fronleichnamsprozession. Das eigentliche Handeln folgt dann
einer weiteren Selektion: der eines Modells des Handelns. Diese Modelle des
Handelns werden auch als Skripte bezeichnet. Sie beziehen sich, wie die Fra-
mes, auf typische Muster von vorher erworbenen und habitualisierten (Routi-
ne-)Abläufen. Die Verzweigung in einen automatisch-spontanen Modus ge-
genüber einem reflektiert-kalkulierenden Modus erfolgt über den Match von
bestimmten Anzeichen und den im Gedächtnis gespeicherten mentalen Model-
len (der Frames und der Skripte). Bei einem perfekten Match kommt es zur
automatischen Auslösung eines „normativen“ Programms. Im einfachsten Fall
ist das die Auslösung eines bestimmten Frames mit einem wiederum bestimm-
ten Skript gleichzeitig. Das entspricht dem Typ des „normativen“ Handelns.
Die „rationale“ Heuristik wird aber nicht schon allein durch einen Mis-
Match angewandt. Es muss eine hinreichend hohe Motivation hinzukommen,
es müssen ausreichende Gelegenheiten zur (aufwändigen) Berechnung der
Folgen vorhanden sein und es dürfen die Kosten für die Beschaffung evtl.
benötigter Informationen nicht zu hoch sein. Sind diese drei Bedingungen
38 Hartmut Esser

gegeben, kommt es zum Typ des „rationalen“ Handelns, im Extremfall also zur
Entscheidung nach der Wert-Erwartungstheorie. Liegt nur eine der drei Bedin-
gungen nicht vor, wird eine andere Heuristik gewählt, etwa eine emotionalisier-
te Suche nach einer raschen Lösung, etwa bei Zeitdruck, die Orientierung an
vordergründigen Aspekten oder auch eine rein zufällige Reaktion. Man könnte
diese (Not-)Lösungen, die ein Akteur versucht, wenn zwar der Match gestört,
aber eine rationale Durchdringung nicht möglich ist oder nicht lohnend er-
scheint, zusammenfassend als „Interpretation“ bezeichnen.

3.5 Variable Rationalität


Die Besonderheit aller dieser Modelle ist, dass sie mit der besonderen Eigenart
des menschlichen Handelns Ernst machen: Es ähnelt manchmal durchaus den
instinktiven und offenbar unkontrollierten und emotionalen Reaktionen auch
der nicht-menschlichen Organismen, aber nicht nur gelegentlich wird auch –
mehr oder weniger intensiv – nachgedacht und verständig und auf Konsequen-
zen bezogen gehandelt. Und dazwischen gibt es zahllose Formen nicht sonder-
lich vernünftiger, gleichwohl aber von allerlei Unsicherheiten und Reflexionen
begleiteter Reaktionen zwischen automatischen Programmen und rationalen
Intentionen.
Dahinter steckt eine interessante und durchaus faszinierende Fähigkeit des
Menschen: die, so wollen wir sie nennen, Fähigkeit zur variablen Rationalität.
Damit ist gemeint, dass menschliche Akteure zwar ohne Zweifel engen Gren-
zen ihrer Fähigkeit zur Informationsverarbeitung ausgesetzt sind, dass sie aber
die ihnen zur Verfügung stehenden (begrenzten) Möglichkeiten dazu auf unbe-
kannte und gleichzeitig als wichtig erscheinende Angelegenheiten lenken. Wenn
man so will, ist es die Anwendung des Prinzips der Wert-Erwartungstheorie
auf die „Wahl“ der „Logik“ des Handelns: Wähle die „Logik“, bei der es um
einen nennenswerten Ertrag geht und die bei dem Problem behilflich zu sein
verspricht. Bei der Lenkung der begrenzten Mittel der Informationsverarbei-
tung auf diese spezielle Situation – Unbekanntheit und Wichtigkeit – helfen vor
allem die in jeder Situation vorhandenen symbolischen Hinweise und der Vor-
gang des (Mis-)Matchs. Bei einem perfekten Match ist signalisiert: Alles ist wie
immer, und die Routine kann abgerufen werden. Das ist der Normalfall des
Alltagshandelns, und die Folge ist offensichtlich: eine enorme Ersparnis an
Kosten der Entscheidungsfindung und eine hohe subjektive Sicherheit beim
Tun, die, weil sie alle erfasst, auch die vielen komplizierten Abstimmungen des
sozialen Handelns (siehe dazu noch unten) leicht und problemlos gestaltet.
Und weil so das Alltagshandeln einen stabilen Rahmen der Sicherheit be-
Der Handlungsbegriff in der modernen Soziologie 39

kommt, können innerhalb dieser Sicherheit die dann verfügbaren Möglichkei-


ten der menschlichen Intelligenz genutzt werden: für Kreativität und das spie-
lerische Ausprobieren neuer Möglichkeiten. Das ist beim angestrengt „rationa-
len“ Handeln, bei dem alle Energie auf die mühsame „Berechnung“ der Folgen
verwandt werden muss, kaum möglich.

4 Eine „General Theory of Action“?


Mit den sozialpsychologischen dual-process-Theorie(n) bzw. mit dem Modell
der Frame-Selektion löst sich, wie man sieht, die Kontroverse über die Frage
auf, ob es sich bei den verschiedenen Typen des Handelns tatsächlich um je-
weils unterschiedliche Logiken handelt oder nicht. Zwar gibt es mit den ver-
schiedenen Heuristiken auch unterschiedliche Logiken, aber es lässt sich mit
der übergreifenden Logik des Modells der Frame-Selektion erklären, wann
warum welche Logik zum Zuge kommt. Es ist ein Ansatz zur Überwindung
der Streitigkeit zwischen den verschiedenen sozialwissenschaftlichen Paradig-
men und Disziplinen über deren jeweilige handlungstheoretische Grundlagen.
Eine wichtige Implikation daraus ist, dass die eher soziologische Sicht des
normativen Handelns ebenso ein Spezialfall ist wie die eher ökonomische Sicht
des rationalen Handelns. Es ist eine „general theory of action“.

4.1 Wertrationalität
Ein spezielles Problem aus wenigstens einigen der Typologien des Handelns ist
damit jedoch noch nicht gelöst: die Einordnung der Wertrationalität als der
„bewusst“ vorgenommenen Festlegung auf einen bestimmten, nicht mehr in
Frage gestellten Bezugspunkt des Handelns. Diese Besonderheit einer sowohl
rational begründeten wie dann gleichzeitig aber auch unbedingten Festlegung
findet sich unter verschiedenen Bezeichnungen: March und Olsen (1989) ver-
weisen auf die Übereinstimmung eines „angemessenen“ Handelns (auch) mit
der „Identität“ des Akteurs; Boudon (1980) beschreibt die (scheinbar) nicht an
Konsequenzen orientierte „cognitive rationality“ einer Bindung an „good rea-
sons“; und Habermas (1981) schließlich macht die rational-argumentative Bin-
dung an gewisse moralische Prinzipien zur Grundlage seines speziellen Typs
des kommunikativen Handelns fest. Alle diese Festlegungen können im Rah-
men des Modells der Frame-Selektion als die Fixierung einer bestimmten „De-
finition“ der Situation rekonstruiert werden, gerade dann, wenn empirisch die
Zeichen dagegen sprechen und der Match zwischen dem erkennbaren „Modell
der Wirklichkeit“ und den Vorstellungen eines gewünschten „Modells für die
40 Hartmut Esser

Wirklichkeit“ nicht gegeben ist. Da es sich um eine rational zu begründende


Festlegung handelt, müssen zusätzlich zum Mis-Match die beobachtete Abwei-
chung von einer für angemessen gehaltenen und normativ bewerteten Vorstel-
lung, die Bedingungen der Anwendung der rationalen Heuristik, gegeben sein:
Motivation, Gelegenheiten, nicht zu hohe (Entscheidungs-)Kosten. Die Logik
der (rationalen) Begründung eines Wertes kann zunächst an die Logik des prak-
tischen Syllogismus anschließen: Wenn ein Wert als „notwendig“ für die Errei-
chung bestimmter Ziele angesehen wird, dann legt sich ein Akteur auf den
Wert dann fest, wenn er das betreffende Ziel hat und (sicher) glaubt, dass der
Wert notwendig ist. Alles hängt dann freilich an dem Glauben an die Notwen-
digkeit des Wertes. Ob jemand sich auf einen Wert (unbedingt) festlegt oder
nicht, ist demnach eine Frage, die mit den Regeln einer Theorie des Handelns
allein nicht zu beantworten ist. Es ist eine Frage nach der Erklärung der Ent-
stehung eines bestimmten Wissens: die Hypothese über die (vermutete) Not-
wendigkeit eines bestimmten Wertes zur Erreichung bestimmter Ziele. Diese
Frage aber kann eine Theorie des Handelns (allein) nicht beantworten (vgl.
dazu ausführlicher Esser 2003).

4.2 Soziale Situationen und soziales Handeln


Bis hierher haben wir das Handeln allein aus der Perspektive des einzelnen
Akteurs betrachtet. Es ging ausschließlich um so genannte parametrische Situa-
tionen, in denen allein entweder die latenten Dispositionen, Frames und Skrip-
te, oder die Ziele des Akteurs und seine Erwartungen über die Wirkung gewis-
ser Mittel wichtig waren. Das gesellschaftliche Geschehen findet aber so gut
wie ausschließlich in sozialen Situationen statt (vgl. zu den Einzelheiten des Kon-
zeptes des sozialen Handelns und der damit verbundenen sozialen Prozesse
Esser 2000). Das sind Situationen, in denen andere Akteure vorkommen, die
sich wechselseitig als handlungsfähige, entscheidende und daher im Prinzip
auch zu strategischen Überlegungen fähige und bereite „Subjekte“ wahrneh-
men. Hier hängt das Ergebnis des Handelns nicht, wie bisher, nur von den
Zielen und der Richtigkeit der Erwartungen über die Wirksamkeit der Mittel
ab, sondern zusätzlich von den Entscheidungen der anderen Akteure. Es ist
diese Besonderheit der doppelten Kontingenz, die das soziale Handeln von dem
Handeln in parametrischen Situationen unterscheidet.
Die grundlegenden Gesetze der Selektion von Verhalten oder Handeln
(Programmauslösung versus rationale Wahl) ändern sich dabei freilich nicht.
Aber zur Erklärung dessen, was die Akteure in den verschiedenen sozialen
Situationen tun, wird es – zusätzlich – notwendig, die wechselseitige Beachtung
Der Handlungsbegriff in der modernen Soziologie 41

des möglichen Handelns der jeweils anderen Akteure einzubeziehen. Nicht in


allen sozialen Situationen wird dieser Gesichtspunkt der doppelten Kontingenz
gleichermaßen bedeutsam. Drei Formen des sozialen Handelns können vor
diesem Hintergrund unterschieden werden: das strategische Handeln, die Inter-
aktion und soziale Beziehungen.

4.3 Strategisches Handeln, Interaktion und soziale Beziehung


Beim strategischen Handeln ist die doppelte Kontingenz am ausgeprägtesten. Die
Akteure sind nur an ihren Interessen orientiert und durch keinerlei kulturelle
Prägungen oder normative Vorgaben gebunden. Das wissen sie gegenseitig
voneinander und stellen es in der Wahl ihrer Strategie in Rechnung. Drei
grundlegende Typen von strategischen Situationen mit jeweils typischen Prob-
lemen des sozialen Handelns lassen sich unterscheiden: die Koordination, bei der
es darum geht, eine Abstimmung in einer nicht vorab definierten Situation zu
finden, wie bei fehlenden Verkehrsregeln; Dilemma-Situationen, bei denen die
Akteure zwar an einer Kooperation interessiert sind, aber befürchten müssen,
dass man ihre Gutmütigkeit ausbeutet, oder versucht sind, die Gutmütigkeit
des anderen auszunutzen, wie bei Vorleistungen für Hilfestellungen; und Kon-
flikte, bei denen die Interessen der Akteure diametral entgegengesetzt sind und
wo die einzige Strategie darin besteht, dem anderen jeweils zuvorzukommen,
wie bei der Besetzung von begehrten, aber knappen Positionen.
Aus den drei Typen sozialer Situationen folgen jeweils drei typische Formen
des sozialen Handelns: Koordinationsprobleme führen zu Versuchen der Ab-
stimmung des Handelns, etwa durch Symbole. Dilemma-Situationen haben die
Folge, dass an sich für alle nützliche Kooperationen unterbleiben (können),
und sie ziehen daher einen Bedarf nach (z.B. moralischen) Bindungen nach
sich, die die wechselseitigen Befürchtungen auf Ausbeutung ausschalten. Und
die Konflikte treiben die Akteure in eine gnadenlose Konkurrenz gegeneinan-
der und erzeugen, wenn die Konfliktkosten steigen, den Wunsch nach einer
Beendigung des Wettbewerbs durch die Etablierung einer Herrschaft, die si-
cherstellt, dass es eine Ordnung in der Regelung des Konfliktes gibt.
Die Interaktion ist ein soziales Handeln, das durch geteilte kulturelle Vorstel-
lungen und wechselseitig vermittelte symbolische Hinweise gesteuert ist. Wie-
der können drei Typen unterschieden werden: Ko-Orientierung, symbolische
Interaktion und Kommunikation. Ko-Orientierung ist die rein gedankliche Ver-
schränkung der Perspektiven von Akteuren in einer Situation der (fehlenden)
Koordination. Sie gelingt leicht über ein signifikantes Symbol, das als eindeuti-
ger gedanklicher Bezugspunkt der gedanklichen Verschränkung dient, etwa der
42 Hartmut Esser

Kölner Dom als Treffpunkt eines Paares, das sich aus den Augen verloren hat.
Symbolische Interaktion ist die wechselseitig sichtbare Abstimmung des Handelns
über Zeichen, speziell über Gesten, etwa beim Tanz oder bei einem Orchester
mit einem Dirigenten. Kommunikation schließlich ist eine symbolische Interakti-
on über Zeichen mit explizitem Inhalt, den so genannten Medien. Das wich-
tigste Medium der Kommunikation ist die Sprache. Jede Kommunikation ist
damit auch symbolische Interaktion, und jede symbolische Interaktion beruht
auch auf gedanklicher Ko-Orientierung, weil die verschiedenen Zeichen, wie
die Medien auch, niemals ganz in ihrer Bedeutung festgelegt sind und auf ei-
nem – mehr oder weniger breiten – Satz an geteiltem Hintergrundwissen beru-
hen.
Eine soziale Beziehung schließlich ist ein soziales Handeln, das ganz auf wech-
selseitig geteilten und als sicher unterstellten Orientierungen beruht, den „Fra-
mes“ etwa, die eine Situation fest „definieren“. Die sozialen Rollen, an gesell-
schaftlichen Positionen geknüpfte und sanktionierte Erwartungen an das Han-
deln der Akteure, die die Positionen besetzen, wären der wohl deutlichste Fall
einer solchen sozialen Beziehung.
Die drei Typen des sozialen Handelns – strategisches Handeln, Interaktion
und soziale Beziehung – lassen sich nach dem Grad der jeweils vorhandenen
doppelten Kontingenz ordnen. Er ist beim strategischen Handeln am größten
und bei der sozialen Beziehung am geringsten. Soziale Beziehungen sind im
Ergebnis den parametrischen Situationen nahezu gleich: Obwohl andere Ak-
teure in der Situation vorhanden sind und handeln, muss das nicht weiter be-
achtet werden, weil deren Tun so gut wie vollständig vorhersagbar ist und den
wechselseitig bekannten Regeln entspricht. Analog ist zu erwarten, dass das
„rationale“ Handeln der bei den strategischen Situationen vorherrschende Typ
des Handels ist, und das „normative“ der bei den sozialen Beziehungen. Das
alltägliche (soziale) Handeln ist immer eine Mischung aus allen diesen Formen:
Immer sind wohl strategische Elemente beteiligt, interaktive Vorgänge der
gedanklichen, symbolischen und kommunikativen Abstimmung und soziale
Beziehungen. Aber es ist auch davon auszugehen, dass es jeweils typische Ge-
wichtungen dieser Komponenten gibt, etwa bei geschäftlichen Verhandlungen,
beim Besuch einer Diskothek oder bei einem religiösen Ritus.

4.4 Kollektives Handeln


Gerade das soziale Handeln ist, wie jedes Handeln, letztlich um Vorgänge der
Reproduktion des Lebens herum organisiert. Die beiden wichtigsten Beiträge
zu dieser Reproduktion sind die Produktion von Gütern und Leistungen und
Der Handlungsbegriff in der modernen Soziologie 43

deren gegenseitiger Tausch, die Transaktionen. Die meisten Produktionen


finden über Formen des sozialen Handelns statt, als gesellschaftliche Produkti-
on: Zusammenlegung von Ressourcen, die arbeitsteilige Organisation von
Produktionen und die Abstimmung der Verteilung der Erträge aus der Produk-
tion.
Eine der wichtigsten Varianten des produktiven sozialen Handelns ist das
so genannte kollektive Handeln: Alle sind daran interessiert, ein gewisses „kollek-
tives“ Gut zu schaffen, wie die Sicherung einer intakten Umwelt oder eine
dringend benötigte Reform. Alle wissen auch, dass es nötig ist, dass sich mög-
lichst viele daran beteiligen. Aber es kommt nicht dazu: Niemand weiß, ob der
jeweils andere auch mitmacht; der eigene Beitrag wird als nur gering einge-
schätzt; und jeder weiß auch, dass er mit seiner Beteiligung mit Sicherheit be-
stimmte Kosten und Risiken trägt, die sich mitunter sogar auf das eigene Leben
beziehen, etwa wenn es um den Sturz einer Diktatur geht. Bei vielen Arten der
gesellschaftlichen Produktion und des kollektiven Handelns besteht dieses
Problem. Es ist ein Spezialfall der Dilemma-Situationen, bei denen die Gefahr
besteht, dass trotz aller Interessen an der gemeinsamen Produktion es nicht
dazu kommt. Moralische Bindungen, Institutionen und die Einrichtung einer
Herrschaftsstruktur sind die Lösungen des Problems. Nicht aus Zufall finden
die meisten gesellschaftlichen Produktionen in der Form von Organisationen
statt, die aus dem unsicheren strategischen und interaktiven Handeln der Ak-
teure eine verlässliche soziale Beziehung machen.

4.5 Transaktionen und Verhandlungen


Die Vorgänge des Tausches bzw. die Transaktionen, bei denen die Verteilung
der zuvor (kollektiv) produzierten Güter vollzogen wird, sind ohne Zweifel
auch Formen des sozialen Handelns. Sie sind als Handlungen, die einen Aus-
gleich von Angebot und Nachfrage von Gütern und Leistungen bewirken,
ebenfalls höchst produktiv, weil damit die arbeitsteilig hergestellten Güter und
Leistungen an jene Stellen verteilt werden, wo sie besonders begehrt werden.
Solche Transaktionen können bilateral und strategisch sein, wie beim ökonomi-
schen Tausch, speziell auf Märkten. Es gibt sie aber auch als generalisierten Tausch
über lange Zeiträume und Ketten von indirekten Beziehungen hinweg. Beim
generalisierten Tausch ist immer ein Rahmen erforderlich, der die damit stets
verbundenen Vorleistungen gegen einseitige Ausbeutung absichert. Die oben
beschriebenen Vorgänge des „Framings“ von Situationen – als besondere Ty-
pen sozialer Beziehungen, etwa als eine Freundschaft oder als Kollegialität –
bilden üblicherweise diesen Rahmen.
44 Hartmut Esser

Bei den Transaktionen mischen sich alle möglichen Aspekte des strategischen
Handelns, der Interaktion und der sozialen Beziehungen, einschließlich gewis-
ser Begleiterscheinungen wie Bluff, Schmeichelei und Austausch von Höflich-
keitsfloskeln. Ein Spezialfall davon sind die Verhandlungen. Hier geht es darum,
wer bei einem im Grunde für beide vorteilhaften Geschäft das bessere Ende
für sich hat. Die Untergrenze der Konzessionsbereitschaft der Akteure ist
dabei das, was sie hätten, wenn sie alleine wären. Das Grundproblem ist bei
allen Transaktionen aber ganz ähnlich zu dem des kollektiven Handelns: Jeder
möchte seinen Vorteil wahren, und nur, wenn es einen einigermaßen verlässli-
chen Rahmen gibt, der die strategischen Versuchungen und Befürchtungen
ausschalten kann, ist der produktive Wert gesichert.

4.6 Kollektive Folgen und soziologische Erklärungen


Die Erklärung der Prozesse und Strukturen des sozialen Handelns erfordert, wie
man leicht sehen kann, deutlich mehr als die Erklärung des Handelns einzelner
Akteure. Das liegt allein schon daran, dass das soziale Handeln immer schon
ein kollektives Phänomen ist, bei dem es notwendig ist, die Ergebnisse der indi-
viduellen Selektionen aufeinander zu beziehen. Das soziale Handeln ist, wenn
man das so sagen will, ein emergentes Phänomen, und zu seiner Erklärung
muss die Mikroebene des individuellen Handelns einzelner Akteure mit der Mak-
roebene des sozialen Handelns mehrerer Akteure verbunden werden. Dazu
aber braucht man in jedem Fall – auch, wenngleich nicht ausschließlich – die
Erklärung dessen, was die individuellen Akteure tun. Die oben beschriebenen
Theorien der Erklärung des Handelns bzw. der verschiedenen Typen des Han-
delns bilden die Grundlage auch für die Erklärung der Vorgänge bei den ver-
schiedenen Konstellationen des sozialen Handelns. Sie enthalten als die wohl
wichtigste allgemeine Botschaft: Das Handeln der Menschen ist Teil der immer
wieder neu zu bewältigenden Reproduktion ihres Lebens, und man kann die
gesellschaftlichen Vorgänge nur verstehen, wenn man sie auf diese Vorgänge
des (sozialen) Handelns bezieht.
Die Menschen verfügen, wie man gesehen hat, über sehr unterschiedliche
Möglichkeiten ihrer Stellungnahme zu den wiederkehrenden und den neuen
Problemen der Reproduktion, nicht zuletzt in der Hinsicht, dass sie als einzige
Gattung der lebenden Organismen über die Fähigkeit zu einer variablen Ratio-
nalität verfügen: Sie haben die „Wahl“, auch die jeweils günstigste „Logik“
ihres Handelns zu bestimmen: vergangenheitsbezogene, spontane Reaktion bei
Routineproblemen oder bei Notsituationen und Unsicherheiten, zukunftsori-
entierte und präzise Berechnung von Folgen bei neuen Problemen, bei denen
Der Handlungsbegriff in der modernen Soziologie 45

es sich lohnt und ein Nachdenken über die Folgen möglich und nicht zu teuer
ist. Diese Logiken sind jeweils auf ihre Weise optimal: Die rasche Reaktion auf
der Grundlage mentaler Modelle der Orientierung und des Handelns lässt die
in langen Erfahrungen gewonnenen Optimierungen für bekannte Situationen
extrem kostengünstig zum Zuge kommen; die aufwändige Berechnung von
Konsequenzen ist dagegen immer dann die optimale Lösung, wenn es keine
bewährten Standards gibt, wenn sich die Investition einer rationalen Durch-
dringung lohnt und wenn der Aufwand dafür nicht zu groß ist. Wie es aussieht,
folgt demnach selbst die Logik der Selektion dieser „Logiken“ der Logik der
Optimierung, und zwar auch dann, wenn man anzuerkennen hat, dass diese
übergreifende Logik nicht die einer rationalen Berechnung ist. Es ist eine be-
sonders raffinierte Art der Rationalität. Sie kombiniert die zu Regeln geronnene
Rationalität der Programme, mit denen speziell die nicht-menschlichen Orga-
nismen auf die Herausforderungen der Umgebung reagieren, mit der Rationali-
tät der bewussten Vernunft und der Wahl von Alternativen auf der Grundlage
guter Gründe und verstehbarem subjektivem Sinn, zu dem nur die Menschen
in der Lage sind.
Wenn es gleichwohl immer wieder zu suboptimalen oder gar desaströsen
gesellschaftlichen Prozessen kommt, dann liegt das nicht an jener, durchaus
wundersamen, Raffinesse der Gesetze, denen das Handeln der Menschen und
darüber hinaus sogar die Selektion der „Logik“ des Handelns – einfach-
automatisch versus reflektiert-elaboriert – folgt. Es liegt vielmehr daran, dass
das in einer Situation durchaus vernünftige und angemessene Handeln Konse-
quenzen haben kann, die niemand beabsichtigte oder kontrollieren konnte. Um
das erklären und verstehen zu können, braucht man mehr als eine Theorie des
Handelns. Man braucht das komplette Modell der soziologischen Erklärung
mit allen drei Schritten von Logik der Situation, Logik der Selektion und Logik
der Aggregation, manchmal in ganzen Ketten von Sequenzen bestimmter
Pfadabhängigkeiten verbunden. Hier nimmt die Theorie des Handelns einen
zentralen und unverzichtbaren Platz ein. Aber sie ist für das Verständnis der
oft ganz und gar unvernünftig und unbeeinflussbar erscheinenden gesellschaft-
lichen Prozesse eben auch nicht alles.
46 Hartmut Esser

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Subjektiv rationale Akteure: Das Potenzial
handlungstheoretischer Erklärungen
für die Journalismusforschung

Carsten Reinemann

1 Einleitung
Hartmut Esser fächert in seinem Beitrag für diesen Band sein Konzept von
„Handlung“ auf. Neben der von Esser skizzierten werden in den Sozialwissen-
schaften eine Reihe weiterer handlungstheoretischer Konzeptionen vertreten,
die sich in ihrem Allgemeinheitsgrad, dem zu erklärenden Handlungstyp und
ihren zentralen erklärenden Konstrukten deutlich unterscheiden (dazu z.B.
Gabriel 2004; Schmid 2004; Schimank 2000). Diese Fülle an Handlungsbegrif-
fen und -theorien auf ihre Eignung für die Journalismusforschung zu prüfen,
würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Den Ausgangspunkt dieses Bei-
trags bildet deshalb in erster Linie die Konzeption Essers sowie anderer ihm
nahe stehender Autoren. Sein Ziel ist es, die Eignung einer solchen handlungs-
theoretischen Konzeption für die Journalismusforschung zu diskutieren und
aufzuzeigen, welche Herausforderungen sich aus handlungstheoretischer Sicht
für die Journalismusforschung ergeben.
Das von Esser skizzierte Handlungskonzept ist Teil eines strukturell-
individualistischen Ansatzes (Opp 2004). In seinem handlungstheoretischen Kern
steht die Wert-Erwartungstheorie als Entscheidungsregel. Deshalb wird Essers
Konzept von vielen Beobachtern als moderne Variante einer Theorie rationa-
len Handelns (= Rational Choice- oder RC-Theorie) bezeichnet – auch wenn
Esser selbst dieser Einordnung kritisch gegenüber steht. Ausgangspunkt für die
Anwendung von Rational Choice ist die Idee einer theoriegeleiteten, empirisch
gehaltvollen, erklärenden Sozialwissenschaft (im Überblick Kunz 2004).
Grundprinzip ist die Annahme, dass Akteure in Entscheidungssituationen
versuchen, unter den jeweils gegebenen Restriktionen ihre Präferenzen (Ziele,
48 Carsten Reinemann

Motive, Wünsche) möglichst gut zu realisieren. Ziel ist die Erklärung kollekti-
ver Phänomene auf der Basis von Erklärungen individuellen Handelns, das in
einen sozialen Kontext eingebettet ist (methodologischer Individualismus). Es geht
also nicht allein um die Erklärung individuellen Handelns, sondern zumindest
bei soziologischen Anwendungen letztlich immer um die Erklärung von Mak-
rophänomenen. Dabei wird der Begriff der Rationalität heute oft in einem sehr
allgemeinen Sinn verwendet. Diekmann und Voss beispielsweise definieren
Rationalität als „Handeln in Übereinstimmung mit den Annahmen […] einer
Entscheidungstheorie“ (2004: 13). Diese Entscheidungstheorie kann, muss
aber nicht die Wert-Erwartungs- oder SEU-Theorie sein (ebd.: 16ff.).
In seinem Beitrag vertritt Esser wie andere handlungs- bzw. akteurstheore-
tisch orientierte Autoren die Auffassung, dass eine befriedigende Erklärung
menschlichen Handelns nur dann möglich ist, wenn man die subjektive Perspektive
der Akteure einnimmt: Wenn man ihre Wahrnehmung der Situation versteht, ihre
Präferenzen (Ziele, Wünsche, Motive), ihre Sicht möglicher Handlungsalternati-
ven und relevanter Restriktionen, ihre Bewertungen möglicher Handlungsfol-
gen. Weiterhin beschreibt Esser die Wert-Erwartungstheorie als einfachste und
zugleich umfassendste Möglichkeit zur Erklärung der Wahl zwischen verschie-
denen Handlungsalternativen. Selbst die klassischen Weber’schen Handlungs-
typen lassen sich seiner Ansicht nach mit Hilfe der Wert-Erwartungstheorie
rekonstruieren. Dabei stellen zweckrationales, wertrationales, affektuelles und
traditionales Handeln seiner Ansicht nach sowohl ein spezielles Modell des
Handelns als auch einen besonderen Modus der Informationsverarbeitung dar.
Die Auswahl eines Modells und eines Modus wiederum erfolgt nach den Re-
geln der Wert-Erwartungstheorie. Akteure entscheiden also nach Nutzenerwä-
gungen, welcher Typ des Handelns in einer bestimmten Situation angemessen
ist und wie viel kognitiven Aufwand sie für Entscheidungen aufbringen wollen
(dazu auch Esser 1999: 224ff.). Alltägliches soziales Handeln zeichnet sich
durch den steten Wechsel zwischen verschiedenen Handlungstypen aus: Wäh-
rend in einem Moment die zweck- oder wertrationale Abwägung von Hand-
lungsalternativen angemessen erscheinen mag, ist es im anderen das quasi-
automatische Abspulen tradierter Handlungsmuster. Hinter dieser Konzeption
steht das Menschenbild eines resourceful, restricted, expecting, evaluating, maximizing
man (RREEMM-Modell).
Von besonderer Bedeutung ist ein Hinweis, mit dem Esser seinen Beitrag
beginnt und enden lässt: Für sozialwissenschaftliche Analysen, die nicht allein
an der Erklärung individuellen Handelns interessiert sind, sondern zumindest
auch an Makrophänomenen und sozialen Prozessen, ist eine Handlungstheorie
Subjektiv rationale Akteure 49

allein nicht ausreichend. Denn menschliches Handeln ist in der Regel soziales
Handeln. Will man Strukturen, Makroeffekte und dynamische soziale Prozesse
erklären, dann braucht man für deren Erklärung zusätzlich zu einer Handlungs-
theorie Aggregationsregeln, welche die Effekte der Interaktionen von Akteuren
erklären. Dieser Hinweis macht deutlich, dass der oftmals gegenüber Hand-
lungstheorien geäußerte Vorwurf des Reduktionismus zumindest für modernde
Varianten von Theorien rationalen Handelns nicht zutrifft. Allerdings werden
Interaktionen und Aggregationen nicht im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen,
da sie nicht den Kern der Handlungstheorie betreffen und zudem den zur
Verfügung stehenden Rahmen sprengen würden.

2 Handlungstheorien in der Kommunikationswissenschaft


Akteurszentrierte Handlungstheorien im Allgemeinen und Theorien rationalen
Handelns im Besonderen haben in vielen Sozialwissenschaften und auf vielen
Feldern der Kommunikationswissenschaft längst ihren Platz gefunden. Dies
gilt für die Soziologie, für die Politikwissenschaft, die Psychologie und natürlich
die Wirtschaftswissenschaften (im Überblick Diekmann & Voss 2004; Kunz
2004). In der Kommunikationswissenschaft sind Handlungstheorien und Rati-
onal Choice vor allem in der Nutzungsforschung (z.B. Bilandzic 2004; Jäckel
2003; Scherer 1997), der Wirkungsforschung (z.B. Vlasic 2004; Brosius 1995),
der Medienökonomie (z.B. Siegert & Lobigs 2004; Heinrich 2002; Kiefer 2001)
und der politischen Kommunikationsforschung präsent (z.B. Eilders et al.
2004; Jarren & Donges 2002). Auch das Problem des Mikro-Makro-Links
bleibt nicht ausgespart und wird von manchen Autoren auf Basis der Konzep-
tion Essers behandelt (Vlasic 2004; Jäckel 2001). Dabei spielen in der hand-
lungstheoretisch ausgerichteten Medienökonomie und der politischen Kom-
munikationsforschung auch Journalisten und Medienorganisationen als han-
delnde Akteure eine zentrale Rolle.
In der Journalismusforschung wird das Konzept der Handlung dagegen erst
in letzter Zeit wieder häufiger in den Blick genommen (z.B. Raabe 2005; Rei-
nemann 2003; Altmeppen 2000; Bucher 2000; Neuberger 2000). Den bislang
umfassendsten Vorschlag für eine Integration von Ideen der Theorien rationa-
len Handelns in die Journalismusforschung haben im deutschsprachigen Raum
vor kurzem Fengler und Ruß-Mohl vorgelegt (2005; vgl. auch ihren Beitrag in
diesem Band). Sie rekurrieren vor allem auf wirtschaftswissenschaftlich gepräg-
te Literatur. Beiträge aus der Soziologie werden dagegen kaum verarbeitet,
psychologische und sozialpsychologische Konzepte sowie Fragen des Mikro-
50 Carsten Reinemann

Meso-Makro-Links spielen keine herausragende Rolle. Daneben finden sich in


letzter Zeit verstärkt Analysen journalismusbezogener Probleme, die auf der
Spieltheorie oder der neuen Institutionenökonomik beruhen (z.B. Märkt 2005;
Lobigs 2004).
Während also makrotheoretisch fundierte und akteurs- bzw. handlungsthe-
oretisch ausgerichtete Beiträge in der deutschen Journalismusforschung bislang
Mangelware sind, ist ein großer Teil der empirischen Journalismusforschung
zumindest implizit akteurstheoretisch ausgerichtet. Als Akteure werden hier
sowohl individuelle Journalisten als auch Medienorganisationen betrachtet (z.B.
Kepplinger 2000: 85). Dabei werden auch die Interaktionen journalistischer
Akteure und strukturelle Effekte berücksichtigt, etwa in Studien zur redaktio-
nellen Kontrolle und inneren Pressefreiheit (z.B. Donsbach 1995) sowie zu
journalistischer Koorientierung bzw. intermedialen Prozessen (z.B. Reinemann
2003; Scheufele 2003). Auch psychologische und sozialpsychologische Kon-
zepte spielen bereits in der Nachrichtenwert-Theorie eine Rolle (z.B. Schulz
1976) und werden heute im Rahmen des Framing-Konzepts genutzt (z.B.
Scheufele 2003). Woran es bislang allerdings fehlt, ist eine umfassende hand-
lungs- bzw. akteurstheoretische Fundierung der empirischen Journalismusfor-
schung.
Warum haben die Handlungstheorien allgemein und die strukturell-
individualistische Theorie rationalen Handelns in der Journalismusforschung
bislang so wenig Aufmerksamkeit gefunden? Es gibt dafür vermutlich eine
ganze Reihe von Gründen. Einen Grund sieht Altmeppen darin, dass der Mik-
ro-Makro-Link das „Analysedefizit“ der Handlungstheorien sei (Altmeppen
2000: 294). Auch andere Autoren teilen die Skepsis, dass handlungstheoretische
bzw. strukturell-individualistische Ansätze nicht in der Lage seien, Makrophä-
nomene zu erklären (z.B. Weßler 2002: 30ff.). Manche Autoren schlagen des-
halb vor, Mikrophänomene handlungstheoretisch und Makrophänomene sys-
temtheoretisch zu erklären (z.B. Esser & Weßler 1998: 211). Ob eine solche
Verknüpfung allerdings ohne theoretische Brüche möglich ist, wird von ande-
ren Autoren sehr skeptisch beurteilt (z.B. Schwinn 2004).
Die angedeutete Kritik ist für moderne akteursorientierte Konzeptionen in
mehrfacher Hinsicht unzutreffend. Erstens werden Makrophänomene durch
oftmals nicht-intendierte, aggregierte Folgen des Handelns von individuellen
Akteuren und die sich daraus ergebenden Interaktionen von Akteuren erklärt.
Die dazu notwendigen Aggregationsregeln gehören – wie bereits angesprochen
– zwar nicht mehr zum engeren Bereich der Handlungstheorie, sind aber inte-
graler Bestandteil des strukturell-individualistischen Ansatzes. Zweitens kann
Subjektiv rationale Akteure 51

man nicht nur einzelne Personen, sondern auch Organisationen als journalisti-
sche Akteure begreifen. Bei einer solchen Betrachtung wird die organisatori-
sche Einbindung einzelner Journalisten bereits berücksichtigt. Drittens gehen
Vertreter strukturell-individualistischer Ansätze auch ganz allgemein davon aus,
dass die für das Handeln entscheidenden subjektiven Situationsdefinitionen
nicht in einem „sozialen oder institutionellen Vakuum“ stattfinden, sondern
meist durch soziale und institutionelle Strukturen (Organisationen) geprägt
werden. Die individuellen Motive und Einstellungen der Journalisten allein –
da hat Altmeppen Recht – erklären Makrophänomene im Journalismus nicht.
Allerdings würde dies wohl kaum ein Vertreter einer modernen RC-Variante
behaupten (dazu z.B. Kunz 2004; Opp 2004).
Ein weiterer Grund für die Skepsis gegenüber Theorien rationalen Han-
delns im Speziellen dürfte darin liegen, dass mit ihnen noch immer die Ein-
schränkung auf ökonomische Präferenzen und Eigennutz im engeren Sinne
verbunden wird. Allerdings wird mittlerweile zwischen einer engen und einer
weiten Version von Rational Choice differenziert, die sich im Hinblick auf ihre
Zusatzannahmen deutlich unterscheiden (Opp 2004). Die Zusatzannahmen
bestimmen, welche Arten von Präferenzen und Restriktionen in Erklärungen
berücksichtigt werden. Die enge Version liegt vielen Anwendungen in den
Wirtschaftswissenschaften zugrunde, die weite Version ist beispielsweise Basis
sozialpsychologischer Analysen. Die weite Version stellt konsequent die „sub-
jektive Rationalität“ von Akteuren in den Mittelpunkt: Subjektiv wahrgenom-
mener Nutzen und subjektive Erwartungen treten an die Stelle „objektiv“ ge-
gebener Wahrscheinlichkeiten, Informationskosten und Heuristiken menschli-
cher Informationsverarbeitung sowie die soziale Einbettung individuellen
Handelns werden berücksichtigt (vgl. Tabelle 1). Dass die Anwendung einer
weiten Version von Rational Choice keineswegs „zirkulär, ad hoc oder tautolo-
gisch ist“, zeigt überzeugend Opp (2004). Dass sich mit ihr zudem viele ver-
meintliche „Anomalien“ von Rational Choice im Rahmen der Theorie erklären
lassen, belegt Esser (1999: 313ff.). Aufgrund ihrer Offenheit erscheint die weite
Version von Rational Choice ein besonders geeigneter Rahmen für die Journa-
lismusforschung zu sein.
Eine letzte Ursache für die Skepsis gegenüber handlungstheoretischen
Konzeptionen mag auch in unterschiedlichen Auffassungen darüber bestehen,
was die wichtigen Fragen der Journalismusforschung sind. Denn welche Fra-
gen man für wichtig hält, beeinflusst auch, welchen theoretischen Zugang man
für sinnvoll hält, und der jeweilige theoretische Zugang präformiert wiederum
die theoretische und empirische Analyse des Untersuchungsgegenstandes. Es
52 Carsten Reinemann

ist deshalb im Rahmen einer theoretischen Diskussion sinnvoll klar zu machen,


welche Fragen man für die wichtigen und interessanten hält. Meines Erachtens
sind all jene Fragestellungen von herausragender Bedeutung, die sich mit der
Erklärung der Entstehung von Medieninhalten sowie ihrer inhaltlichen Charak-
teristika beschäftigen. Denn die von Journalistinnen und Journalisten produ-
zierten Inhalte sind es, die die gesellschaftliche Relevanz des Journalismus
ausmachen, und der Einfluss journalistischer Akteure auf die Gestaltung von
Medieninhalten ist der wichtigste Grund für eine wissenschaftliche Auseinan-
dersetzung mit dem Journalismus (dazu auch Maurer & Reinemann 2006).

Tabelle 1: Zusatzannahmen der engen und der weiten


Version von Theorien rationalen Handelns
Enge Version Weite Version
Präferenzen Nur egoistische Alle Arten
(Ziele, Motive, Wünsche) Präferenzen von Präferenzen
(z.B. auch altruistische
Motive, Normen)
Restriktionen Nur materielle Alle Arten von Restriktio-
Restriktionen nen (z.B. auch soziale
(z.B. finanzielle, Strafen) Missbilligung)
Informationsniveau Vollständige Keine vollständige
Information Information
Relevanz subjektiv Nur objektive Objektive und subjektiv
wahrgenommener Restriktionen wahrgenommene
Restriktionen Restriktionen
Relevanz Nur Restriktionen erklären Restriktionen und Präfe-
von Präferenzen Handeln renzen erklären Handeln
Typisches z.B. Neoklassische z.B. Sozialpsychologie
Anwendungsfeld Ökonomie
Quelle: Eigene Darstellung nach Opp (2004: 46).

Interessante Fragen der Journalismusforschung können deshalb beispielsweise


lauten: Warum wählen Journalisten vor allem negative Nachrichten aus und
vernachlässigen positive? Warum orientieren sie sich in so starkem Maße an
anderen Medien? Warum wechselt die Bild-Zeitung innerhalb von acht Wochen
zweimal ihre Position zu Hartz IV? Warum ahmen die öffentlich-rechtlichen
Sender die erfolgreichen Formate der privaten Sendeanstalten nach? Warum
gibt es einen medien- und formatübergreifenden Trend zur Boulevardisierung?
Subjektiv rationale Akteure 53

Warum wechseln sich die Themen der Medienberichterstattung in immer


schnellerer Reihenfolge ab?
Hält man diese oder ähnliche Fragen für zentral, dann hängt die Eignung
einer Theorie für die Journalismusforschung entscheidend davon ab, ob diese
Fragen mit ihrer Hilfe überzeugend beantwortet werden können. Der struktu-
rell-individualistische Ansatz hat dieses Potential. Natürlich geht es in der Jour-
nalismusforschung nicht nur um Publikationsentscheidungen im engeren Sin-
ne. Doch auch jede andere Form des Handelns journalistischer Akteure sowie
die sich daraus ergebenden strukturelle Effekte lassen sich strukturell-
individualistisch und mit Hilfe einer Entscheidungstheorie rekonstruieren und
erklären: Dies gilt z.B. für die Berufswahl oder den Berufswechsel, die Ent-
scheidung über die Etablierung eines neuen Ressorts durch eine Chefredaktion,
die routinemäßige oder situative Auswahl bestimmter Quellen oder Recher-
chemethoden etc. Auch Makrophänomene wie die Ausbreitung, Ausdifferen-
zierung und stetige Veränderung der Strukturen des Journalismus bzw. des
Mediensystems können auf dieser theoretischen Basis erklärt werden.

3 Herausforderungen für eine handlungstheoretische


Journalismusforschung
Wendet man eine Handlungstheorie an, dann bilden Akteure die Basis aller
Betrachtungen und Erklärungen. Die zentralen Akteure der Journalismusfor-
schung sind einzelne Journalisten und Medienorganisationen. Beide sollen hier
allgemein als journalistische Akteure bezeichnet werden. Zwischen die Mikroebe-
ne der einzelnen Journalisten und die Makroebene von Strukturen und Phä-
nomenen im Journalismus bzw. den Medien allgemein tritt also in der Journa-
lismusforschung oftmals die Mesoebene der Medienorganisationen bzw. Re-
daktionen. Allgemein kann man Organisationen dann als Akteure betrachten,
wenn sie handlungsfähig sind. Diese Fähigkeit ist dann anzunehmen, wenn sie
Interessen haben und Ziele verfolgen, wenn sie allgemeine Handlungsorientie-
rungen haben (z.B. Werte), wenn sie über Ressourcen verfügen (z.B. Wissen,
Einfluss, Mitarbeiter), diese Ressourcen zur Erreichung ihrer Ziele einsetzen,
sich selbst als Akteur verstehen, und auch von anderen als solche betrachtet
werden (z.B. Jarren & Donges 2002; Schimank 2000).
All dies trifft in der Regel auch auf Medienorganisationen zu. Ihr Handeln
sowie die aggregierten Effekte ihrer Interaktionen können deshalb auf einer
handlungstheoretischen Basis erklärt werden. Man kann also je nach Erkennt-
nisinteresse entweder Heribert Prantl oder die Süddeutsche Zeitung oder beide als
54 Carsten Reinemann

journalistische Akteure untersuchen und in die Erklärung eines journalismus-


bezogenen Phänomens einbeziehen. Daneben dürften für die Erklärung jour-
nalistischen Handelns oftmals auch Akteure im Umfeld der Redaktionen wie
beispielsweise Verleger, Intendanten, Aufsichtsgremien, Quellen, PR-Akteure
oder auch andere Journalisten bzw. Medienorganisationen von Bedeutung sein.
Diese Akteure interagieren und kommunizieren mit journalistischen Akteuren,
teils bestehen Beziehungen gegenseitiger Abhängigkeit oder Konkurrenz, wes-
halb das tatsächliche oder antizipierte Handeln dieser Akteure Einfluss auf
journalistisches Handeln nimmt (Koorientierung).
Aus einer handlungstheoretischen Betrachtungsweise ergeben sich eine
ganze Reihe von Herausforderungen für die theoretische und empirische Ana-
lyse journalistischen Handelns bzw. der aus ihm resultierenden Makrophäno-
mene. Dazu zählen insbesondere (1) die Rekonstruktion subjektiver Situations-
definitionen, (2) die Konstruktion der dazu notwendigen Brückenannahmen
sowie (3) die Bestimmung von Aggregationsregeln und die damit verbundene
Modellierung dynamischer Prozesse. Die unter (3) genannten Aspekte fallen
jedoch nicht mehr in den engeren Bereich der Handlungstheorie, weshalb der
Fokus hier auf den ersten beiden Punkten liegen soll.

3.1 Die Rekonstruktion subjektiver Situationsdefinitionen


Der strukturell-individualistische Ansatz geht davon aus, dass Handeln durch
die subjektive Definition einer Handlungssituation bestimmt wird. Will man
das Handeln von Akteuren erklären, besteht der erste Schritt deshalb darin, die
aus Sicht der Akteure gegebene Situation zu rekonstruieren und zu modellie-
ren. Es geht darum, die Situation der Akteure zu verstehen (Esser 1999: 387ff.).
Dementsprechend ist es für eine handlungstheoretisch ausgerichtete Journalis-
musforschung von entscheidender Bedeutung, die subjektiven Situationsdefini-
tionen journalistischer Akteure zu rekonstruieren.
Die Definition einer Situation hängt einerseits von äußeren Bedingungen
der sozialen Situation, andererseits von den inneren Bedingungen der Akteure
ab. Die äußeren Bedingungen können in gesellschaftlichen oder institutionellen
Strukturen, in zeitlichen und materiellen Ressourcen, im Handeln anderer Ak-
teure sowie allgemein in allen Formen von akteurs-externen Ereignissen und
Informationen bestehen (z.B. die „Nachrichtenlage“). Innere Bedingungen können
auf der Mesoebene der Medienorganisationen z.B. verlegerische oder redaktio-
nelle Vorgaben, redaktionelle Traditionen oder auch die Wettbewerbssituation
sein. Auf der Mikroebene einzelner Journalisten können dies z.B. professionelle
oder politische Einstellungen, Wissen oder Erfahrungen sein. Deren Genese
Subjektiv rationale Akteure 55

kann man beispielsweise durch Lernprozesse in der allgemeinen und berufli-


chen Sozialisation erklären (dazu Esser 1999: 359ff.).
Die Mesoebene der Medienorganisation hat dabei einen doppelten Charak-
ter: Analysiert man das Handeln von Medienorganisationen, dann bilden allein
die organisations-externen Bedingungen die äußeren Bedingungen der Situati-
onsdefinition. Analysiert man auf der Mikro-Ebene das Handeln einzelner
Journalisten, dann stellt die Mesoebene ihrerseits eine zentrale äußere Hand-
lungsbedingung dar, die die Wahrnehmung und Interpretation der organisati-
ons-externen Bedingungen auf die einzelnen Journalisten prägt (vgl. Ab-
bildung 1).

Abbildung 1: Äußere und innere Bedingungen in strukturell-individualistischen


Erklärungen des Handelns journalistischer Akteure
G1 äußere Bedingungen
der sozialen Situation

B1
innere Bedingungen der
G2 Medienorganisation H1 Handeln von Medienor-
ņņņņņņņņņņņņņņ ganisationen
äußere Bedingungen für
einzelne Journalisten

B2
G3 innere Bedingungen H2 Handeln
einzelner Journalisten einzelner Journalisten

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kunz (2004: 205) und Esser (1999: 166).
Anmerkungen: G1, G2, G3: Genese der äußeren und inneren Bedingungen (Entstehungsgeschichte der
sozialen und organisatorischen Strukturen sowie der organisatorischen und individuellen Präferenzen);
B1, B2: Brückenannahmen, die die relevanten Aspekte der Situation sowie Bewertungen und Erwartun-
gen bestimmen; H1, H2: Anwendung der Wert-Erwartungstheorie zur Evaluation und Auswahl der
Handlungsalternativen.

Die äußeren Bedingungen einer Situation werden vor dem Hintergrund der
inneren Bedingungen wahrgenommen und interpretiert. Die äußeren Bedin-
gungen gehen deshalb als subjektiv wahrgenommene äußere Bedingungen in
die Definition der Situation ein: Die situational relevanten Ziele werden aktua-
lisiert, und es wird entschieden, welcher Handlungstyp am ehesten angemessen
56 Carsten Reinemann

ist, ob also z.B. ein routinisiertes Handlungsmuster abgespult werden kann


oder mehr kognitiver Aufwand betrieben werden muss. Aus der Definition der
Situation leiten Akteure im nächsten Schritt die relevanten Handlungsalternati-
ven, die möglichen Konsequenzen des Handelns, deren Bewertungen sowie die
Erwartungen über deren Eintreten ab. Die Evaluation der Alternativen, die
man mit der Wert-Erwartungstheorie modellieren kann, führt dann zur Aus-
wahl einer Handlungsalternative und zum eigentlichen sichtbaren Handeln (vgl.
Abbildung 2; Esser 1999: 161ff.).

Abbildung 2: Die Definition der Situation und die Auswahl von Handlungsalternativen

G1 äußere
Bedingungen

Wahrnehmung
Kognition/Heuristiken

Alternative A: Konsequenzen
Definition (Bewertungen/Erwartungen)
der Situation offenes
Aktualisierung rele- H Handeln
vanter Präferenzen/
Programme, etc. Alternative B: Konsequenzen
(Bewertungen/Erwartungen)

G2 innere Bedingungen
Präferenzen, etc.

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kunz (2004: 205) und Esser (1999: 166).

Anmerkungen: G1, G2: Genese der äußeren und inneren Bedingungen (Entstehungsgeschichte der sozialen
und organisatorischen Strukturen sowie der organisatorischen und individuellen Präferenzen);
H1: Anwendung der Wert-Erwartungstheorie zur Evaluation und Auswahl der Handlungsalternativen.

Für eine Rekonstruktion subjektiver Situationsdefinitionen spielen psychologi-


sche und sozialpsychologische Prozesse eine wichtige Rolle. Sie kommen so-
wohl bei der Wahrnehmung der äußeren Bedingungen einer Situation zum
Tragen als auch im Rahmen der kognitiven Prozesse, mit denen Präferenzen
und Situationswahrnehmungen in Beziehung gesetzt oder Handlungsalternati-
ven abgewogen werden. Dies wirft die grundsätzliche Frage auf, ob und in
welchem Maße psychologische und/oder sozialpsychologische Konzepte und
Subjektiv rationale Akteure 57

Erkenntnisse für die Journalismusforschung nutzbar gemacht werden sollten.


Traditionell stehen sich psychologische und soziologische Perspektiven bei
Handlungserklärungen eher kritisch gegenüber. Selbst in akteurstheoretischen
soziologischen Ansätzen spielen psychische und sozialpsychologische Prozesse
als Untersuchungsgegenstand kaum eine Rolle. Sie werden zwar eventuell für
die Handlungserklärung berücksichtigt, aber nur, wenn soziologische Erklärun-
gen nicht ausreichen (vgl. dazu Vorderer & Valsiner 2004). Da aber die Kom-
munikationswissenschaft ohnehin interdisziplinär ausgerichtet ist, sollte sich
auch die Journalismusforschung nicht scheuen, die Grenzen zwischen den
Disziplinen zu überschreiten und psychologische und sozialpsychologische
Konzepte zu nutzen – und zwar immer dann, wenn sie helfen, journalistisches
Handeln besser zu erklären.

3.2 Die Konstruktion von Brückenannahmen


Die im Rahmen von Rational Choice verwendeten Entscheidungstheorien sind
im Hinblick auf die Nutzenkomponente inhaltlich leer. Sie geben nur eine
abstrakte Entscheidungsregel, ein Entscheidungsprinzip vor: Es wird stets die
Handlungsalternative gewählt, von der sich ein Akteur subjektiv den größten
Nutzen verspricht. Sie sagt aber nichts darüber, welche konkreten Entschei-
dungskriterien Akteure in bestimmten Situationen tatsächlich zu Grunde legen:
Welche Präferenzen aktualisiert und welche Handlungsalternativen gesehen
werden, wie deren Konsequenzen bewertet und mit welcher Sicherheit ihr
Eintreten erwartet wird, bleibt völlig offen.
Es muss also für die jeweils interessierenden Akteure und das jeweils zu er-
klärende Handeln erst spezifiziert werden, „worin denn in einer bestimmten
gesellschaftlichen Situation Nutzen und Verluste eines Akteurs bestehen“
(Schimank 2000: 101). Erst diese konkrete Bestimmung relevanter Ziele, Hand-
lungsalternativen, wahrgenommener Konsequenzen, Bewertungen und Erwar-
tungen liefert die inhaltliche Substanz zu einer konkreten Handlungserklärung.
Diese Übersetzung typischer Situationen in die Randbedingungen einer Ent-
scheidungstheorie erfolgt mittels so genannter Brücken- oder Kontextannahmen.
Sie stellen die Logik der Situation aus Sicht der Akteure dar und schlagen damit
die Brücke zwischen Makro-, Meso- und Mikro-Ebene:
Brückenannahmen [beschreiben], welche Aspekte von den Akteuren in einer
Handlungssituation als relevant eingeschätzt werden, ob sie diese Aspekte posi-
tiv oder negativ bewerten und welche Erwartungen sie über ihr Auftreten haben.
(Kunz 2004: 104f.)
58 Carsten Reinemann

Die Herleitung solcher Brückenannahmen ist eine der zentralen Herausforde-


rungen für eine handlungstheoretisch orientierte Journalismusforschung. Für
die Herleitung von Brückenannahmen stehen verschiedene Verfahren zur Ver-
fügung. Dazu zählen u.a. die analytische Herleitung, das Konzept sozialer Pro-
duktionsfunktionen, die Orientierung an Common-Sense- bzw. Hintergrund-
wissen und die direkte empirische Konstruktion (vgl. Kunz 2004: 104ff.). Eine
Orientierung an Common-Sense- bzw. Hintergrundwissen ermöglichen bei-
spielsweise die zahlreich vorliegenden Erkenntnisse der Journalismusfor-
schung. Ebenso kann man aber auch durch die Analyse einschlägiger Doku-
mente oder durch Befragungen direkt empirisch ermitteln, welche Handlungs-
optionen journalistische Akteure in bestimmten Situationen sehen, welche
Konsequenzen sie mit diesen Optionen verbinden, wie sie diese Konsequenzen
bewerten und für wie wahrscheinlich sie deren Eintreten halten.
Obwohl es hier nicht um eine Analyse journalistischen Handelns selbst,
sondern um ihre theoretische Einordnung und Anleitung geht, soll an dieser
Stelle ein kurzer Blick auf einige Elemente möglicher Brückenannahmen ge-
worfen werden: Betrachten wir zunächst die Handlungsalternativen, die das Ex-
planandum von Erklärungen journalistischen Handelns bilden können: Die
wichtigsten Entscheidungen journalistischen Handelns fallen zwischen den
Handlungsalternativen „publizieren“ und „nicht publizieren“ (wobei man aus
dieser dichotomen auch eine Alternative mit mehreren Stufen machen kann).
Allerdings wird vor und nach der eigentlichen Publikationsentscheidung eine
Vielzahl weiterer Entscheidungen getroffen, die ebenfalls Gegenstand von
Erklärungen sein können. Dazu zählen beispielsweise Entscheidungen über die
Auswahl von Quellen, den Umfang und die Art einer Recherche, über Art und
Umfang der Präsentation eines Sachverhalts, die Auswahl bestimmter Aspekte
eines Geschehens oder Themas für die Publikation sowie die Bewertung eines
Sachverhalts. Daneben sind natürlich eine Vielzahl anderer Handlungen jour-
nalistischer Akteure denkbar, die einen lohnenden Erklärungsgegenstand der
Journalismusforschung darstellen können (siehe oben).
Auch das Spektrum der Handlungskonsequenzen, die Journalisten bei ihren
Entscheidungen ins Kalkül ziehen können, ist groß. Welche davon in welchem
Umfang in Betracht gezogen werden, hängt zunächst davon ab, um welche
Handlungsalternativen es geht. Im Fall einer Publikationsentscheidung könnten
die relevanten Handlungskonsequenzen sich beispielsweise auf die Person des
einzelnen Journalisten beziehen (z.B. seine Karriere), seine Redaktion bzw. sein
Medium (z.B. dessen Publikumserfolg), das gesamte Mediensystem (z.B. die
Subjektiv rationale Akteure 59

Entstehung einer Berichterstattungswelle) oder auch auf den Gegenstand der


Berichterstattung (z.B. den möglichen Rücktritt eines Politikers).
Die Bewertungen der jeweiligen Handlungskonsequenzen sind vor allem von
den Präferenzen der Akteure abhängig. Im Fall journalistischer Akteure sind
diese Präferenzen bisweilen sehr unterschiedlich ausgeprägt. So unterscheiden
sich die wirtschaftlichen und publizistischen Präferenzen (Ziele) der Bild-Zeitung
und Frankfurter Allgemeinen Zeitung deutlich, was zu unterschiedlichen journalis-
tischen Selektionsregeln und damit zu unterschiedlicher Berichterstattung führt
(Kepplinger 1998). Um die spezifische Präferenzstruktur journalistischer Ak-
teure zu beschreiben und zu erklären, kann man Modelle heranziehen, in denen
Einflussfaktoren auf journalistisches Handeln systematisiert werden (z.B.
Shoemaker & Reese 1991; Donsbach 1987).
Ausgehend von diesen Modellen kann man beispielsweise (1) zwischen den
persönlichen Präferenzen einzelner Journalisten und den organisatorischen Präferen-
zen einer Medienorganisation unterscheiden. Diese müssen keineswegs kon-
gruent sein, sondern können sich durchaus widersprechen. Daneben kann man
(2) allgemeine Präferenzen, die generalisierten Handlungsorientierungen und -be-
dingungen entsprechen, und situationsspezifische Präferenzen unterscheiden. Gene-
relle Handlungsorientierungen und -bedingungen spiegeln sich beispielsweise
in Berufsmotiven, im Rollenselbstverständnis, in journalistischen und wirt-
schaftlichen Leitlinien einer Redaktion oder ihren finanziellen und technischen
Ressourcen. Situationsspezifische Präferenzen sind dagegen an den jeweiligen
Berichterstattungsgegenstand oder die jeweils in einem Arbeitsprozess anste-
hende Tätigkeit gebunden. Unterscheidet man zwischen generellen und situati-
onsspezifischen Präferenzen, dann ist beispielsweise die Erklärung der Wider-
sprüche zwischen allgemeinen Bekenntnissen zu journalistischen Qualitätsmaß-
stäben und dem Handeln in konkreten Situationen kein Problem mehr.
Schließlich kann man in Bezug auf ihren Gegenstand (3) zwischen ökonomischen
(z.B. Gewinnmaximierung, Maximierung der Auflage/Reichweite, Erreichen
eines adäquaten Verhältnisses von Aufwand und Nutzen bei der Recherche),
publizistischen (z.B. Streben nach Qualität, Erreichung politischer Ziele) und
sozialen (z.B. Anerkennung, Prestige) Präferenzen journalistischer Akteure diffe-
renzieren.
Zwischen unterschiedlichen Zielen journalistischer Akteure bestehen oft-
mals – teils hierarchische – Beziehungen. So kann man beispielsweise anneh-
men, dass Journalisten durch die Wahl einer bestimmten Handlungsalternative
(z.B. die intensive Recherche zu einem Thema) kurzfristig nach Anerkennung
streben, sich aber langfristig einen beruflichen Aufstieg und damit letztlich
60 Carsten Reinemann

einen ökonomischen Nutzen erhoffen (Oberziel). Ebenso kann es sein, dass


die publizistischen Ziele eines Mediums letztlich der Erlangung ökonomischen
Gewinns dienen. So will manche Boulevardzeitung mit der Skandalisierung
politischer Akteure vielleicht auch eine Watchdog-Funktion erfüllen, hat aber
möglicherweise wirklich vor allem die Auflage im Blick.

3.3 Die Bestimmung von Aggregationsregeln


Bei der Analyse des Handelns journalistischer Akteure kann man kollektive
Effekte bzw. Phänomene sowohl auf der Makroebene des Mediensystems bzw.
des gesamten Journalismus, als auch auf der Mesoebene einzelner Medienorgani-
sationen bzw. Redaktionen untersuchen. Kollektive Effekte bzw. Phänomene
stellen sich dabei als aggregierte Merkmalverteilungen dar, die auf den beiden
Ebenen empirisch mit Befragungen oder Inhaltsanalysen gemessen werden
können. Wie diese aggregierten Merkmalverteilungen aus dem individuellen
Handeln einzelner Journalisten und Medienorganisationen entstehen, dies wird
mit Aggregationsregeln (auch Transformationsregeln genannt) beschrieben (dazu
z.B. Jäckel 2001).
Auf der Mesoebene kann man das Handeln einer Medienorganisation als
das aggregierte Ergebnis der Interaktionen aller beteiligten Mitarbeiter betrachten.
Aufgrund der während der Produktion ablaufenden Interaktions- und Kom-
munikationsprozesse und des unterschiedlichen Einflusses der einzelnen Mit-
arbeiter auf die redaktionellen Entscheidungen entspricht dieses Aggregat je-
doch nicht der bloßen Aufsummierung des individuellen Handelns der einzel-
nen Journalisten. Eine einfache Aggregationsregel scheidet also bei Medienre-
daktionen häufig aus. Viel eher werden komplexere Aggregationsregeln not-
wendig sein, die beispielsweise die Bedeutung der jeweiligen Publikationsent-
scheidung (z.B. Aufmacher vs. kein Aufmacher), Art und Umfang der redakti-
onellen Kontrolle, das Ausmaß an Hierarchisierung redaktioneller Entschei-
dungen und die Bedeutung redaktioneller Leitlinien in politischer oder anderer
Hinsicht in Betracht ziehen.
Die Journalismusforschung ist dabei in der komfortablen Lage, dass die
Endergebnisse des Handelns journalistischer Akteure in manifester Form vor-
liegen und der Analyse zugänglich sind: als Ausgabe einer Zeitung oder Zeit-
schrift, als Radio- oder TV-Sendung oder Online-Angebot. Wenn journalisti-
sches Handeln erklärt werden soll, dann sollten die Medieninhalte als das ag-
gregierte Ergebnis des Handelns von Journalisten nicht aus den Augen verlo-
ren werden. Rückschlüsse von Inhalten auf die Handlungsmotive oder Präfe-
renzen von Medienorganisation und einzelnen Journalisten sind dabei zuweilen
Subjektiv rationale Akteure 61

nicht unproblematisch und manchmal vielleicht gar nicht möglich. Allerdings


gilt dies sicher nicht immer. So wird beispielsweise oft von der Struktur der
vorkommenden Akteure, dem Themenhaushalt oder der Bewertung von Ak-
teuren und Sachverhalten auf die politische Linie eines Mediums geschlossen
(z.B. Eilders et al. 2004; zum diagnostischen Ansatz der Inhaltsanalyse allgemein
Maurer & Reinemann 2006). Diese politische Linie stellt handlungstheoretisch
betrachtet nichts anderes als die Präferenz für bestimmte politische Positionen
dar, die die Wahrnehmung von Ereignissen und Situationen sowie die daraus
resultierenden Publikationsentscheidungen prägt.
Auch auf der Makroebene wird man oftmals nicht mit einfachen Aggregati-
onsregeln auskommen. Dies gilt insbesondere für den Fall, dass man den Ver-
such unternimmt, dynamische Prozesse zu rekonstruieren. Ein kurzes Beispiel
soll dies verdeutlichen: Explanandum sei eine Boulevardisierung der Berichterstat-
tung, die auf Basis von Inhaltsanalysen für das gesamte Mediensystem, eine
bestimmte Mediengattung oder ein einzelnes Medium konstatiert wird. Sie
kann als das aggregierte Ergebnis einer systematischen Bevorzugung von sensa-
tionalistischen, emotionalisierten, personalisierten etc. Nachrichten in den
Publikationsentscheidungen journalistischer Akteure betrachtet werden. Will
man das Ausmaß der Boulevardisierung zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw.
deren Genese erklären, dann reicht es nicht, ein anderes Makrophänomen bzw.
die Veränderung einer externen Bedingung wie etwa die Dualisierung des
Rundfunks heranzuziehen. Eine echte, tiefe Erklärung des Zusammenhangs müss-
te vielmehr deutlich machen, wie sich die Dualisierung des Rundfunks konkret
auf die Handlungspräferenzen und/oder -restriktionen der betrachteten Me-
dienorganisationen (Mesoebene) bzw. einzelnen Journalisten (Mikroebene)
ausgewirkt hat. Denn nimmt man an, dass sich nicht die Ereignislage verändert
hat, dann können nur Veränderungen von Präferenzen und/oder Restriktionen
auf Seiten der Akteure zu einer systematischen Veränderung von Publikations-
entscheidungen geführt haben, die dann in ihrer Summe als Boulevardisierung
wahrgenommen werden.
Abbildung 3 macht schematisch deutlich, wie ein auf der Makroebene an-
genommener Zusammenhang zwischen der Dualisierung des Rundfunks und
der Boulevardisierung der Medienberichterstattung unter Zuhilfenahme von
Brückenannahmen, Handlungstheorie und Aggregationsregeln erklärt werden
würde. Dabei ist der Prozesscharakter, der Zeitverlauf also, noch nicht berück-
sichtigt. Dieser würde einer Verlängerung des Schaubilds mit den vorhandenen
Elementen entsprechen, d.h. Interaktionen und soziale Prozesse würden als
Handlungssequenzen mehrerer Akteure rekonstruiert, die jeweils eine äußere Be-
62 Carsten Reinemann

dingung des Handelns der anderen Akteure darstellen und aufeinander reagie-
ren. Die Handlungstheorie hat dabei ihren Platz jeweils dort, wo auf der Basis
der Wahrnehmung der Situation sowie der relevanten Präferenzen eine be-
stimmte Handlungsalternative gewählt wird, also etwa eine Entscheidung für
eine emotionale Meldung oder Darstellungsweise (die unteren beiden waage-
rechten Pfeile).

Abbildung 3: Brückenannahmen, Handlungstheorie und Aggregationsregeln in einem


strukturell-individualistischen Erklärungsmodell für die Boulevardisierung
der Berichterstattung

Dualisierung Ausmaß der


des Rundfunks Boulevardisierung

B1 A1

Situation der
H1 Handeln von
Medienunternehmen Medienunternehmen

B2 A2

Situation der H2 Handeln einzelner


Journalisten Journalisten

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kunz (2004: 205) und Esser (1999: 166).

Anmerkungen: B1, B2: Brückenannahmen, die die relevanten Aspekte der Situation sowie Bewertungen
und Erwartungen bestimmten; H1, H2: Anwendung der Wert-Erwartungstheorie zur Evaluation und
Auswahl der Handlungsalternativen. A1, A2: Aggregationsregeln zur Erklärung kollektiver Effekte bzw.
Phänomene.

4 Ausblick
Ziel dieses Beitrags war, die Bedeutung des Konzepts „Handlung“ für die
Journalismusforschung zu diskutieren. Ausgangspunkt waren die Ausführun-
gen Hartmut Essers (in diesem Band), die im Kontext des von ihm und ande-
ren Autoren vertretenen strukturell-individualistischen Ansatzes gesehen wer-
den müssen. In dessen Rahmen ist die Erklärung des Handelns von Akteuren
Subjektiv rationale Akteure 63

nur ein Schritt in einer mehrstufigen Erklärung sozialer Phänomene. Wenn in


der Folge von einer handlungstheoretischen Perspektive die Rede ist, dann sind
diese weiteren Schritte der Erklärung stets mitgedacht. Handlungstheoretischer
Kern von Essers Ansatz ist die Wert-Erwartungstheorie, weshalb man den
Ansatz auch als eine weiche Variante einer Theorie rationalen Handelns be-
zeichnen kann. Neben den Merkmalen der Präzision, Kausalität, Allgemeinheit,
Einfachheit, Modellierbarkeit und Bewährung, die der Wert-Erwartungstheorie
allgemein zugeschrieben werden (dazu z.B. Diekmann & Voss 2004; Opp
2004; Esser 1999: 241ff.), eignet sich eine strukturell-individualistische Perspek-
tive meiner Ansicht nach aus folgenden Gründen in besonderer Weise zur
Beschreibung, Erklärung und Prognose journalistischen Handelns sowie der
sich daraus ergebenden Makroeffekte:
1. Eine handlungstheoretische Perspektive stellt individuelle und korporative
journalistische Akteure ins Zentrum der Journalismusforschung und be-
greift Journalismus als ein System interagierender Akteure. Grundlage ist
die Überzeugung, dass letztlich nur Akteure handeln können und diese Ak-
teure auch angesichts von Rollen und Programmen noch immer Entschei-
dungen treffen müssen, um handeln zu können. Diese akteurszentrierte
Sichtweise entspricht nicht nur einem intuitiven Verständnis von Journa-
lismus, sondern auch der Sichtweise vieler empirischer Studien, die aller-
dings oftmals auf eine Anbindung an eine Handlungstheorie verzichten.
Erst eine solche Fokussierung auf die journalistischen Akteure macht die
Erklärung konkreten journalistischen Handelns sowie der Unterschiede im
Handeln verschiedener journalistischer Akteure möglich. Der Versuch,
konkretes journalistisches Handeln allein über Rollen, Programme und
Strukturen erklären zu wollen, ohne die spezifischen Präferenzen und Re-
striktionen verschiedener journalistischer Akteure ins Kalkül zu ziehen,
kann meines Erachtens nicht zu befriedigenden Ergebnissen führen.
2. Aus handlungstheoretischer Perspektive ist es von zentraler Bedeutung,
die subjektive Rationalität des Handelns journalistischer Akteure zu rekon-
struieren. Das bedeutet beispielsweise, dass ökonomische, publizistische
und soziale, individuelle und organisatorische sowie allgemeine und situa-
tionsspezifische Präferenzen und Restriktionen identifiziert und auf ihren
Einfluss auf konkretes journalistisches Handeln hin geprüft werden müs-
sen. Dabei sollte die Frage von Zielkonflikten und die Art, wie diese in
konkreten Entscheidungssituationen aufgelöst werden, eine zentrale Rolle
in empirischen Untersuchungen spielen. Nur wenn sie die Perspektive der
journalistischen Akteure ernst nimmt und die Präferenzen und Restriktio-
64 Carsten Reinemann

nen versteht, die für konkrete Entscheidungen relevant sind, kann die
Journalismusforschung einen praktischen Beitrag zur Verbesserung journa-
listischer Qualität und zur Korrektur von Fehlentwicklungen im Journa-
lismus leisten.
3. Eine handlungstheoretische Perspektive kann anders als andere theoreti-
sche Ansätze zur Erklärung aller Formen des Handelns journalistischer
Akteure nutzbar gemacht werden. Dazu zählen nicht nur die klassischen
Formen journalistischen Handelns wie das Treffen von Publikationsent-
scheidungen, die Auswahl von Informationsquellen oder journalistischen
Darstellungsformen, sondern ebenso die Berufswahl, der Berufswechsel
oder die Entscheidung für die Lektüre einer bestimmten Tageszeitung.
4. Angesichts der überaus realen Konsequenzen journalistischen Handelns,
muss sich eine für die Journalismusforschung geeignete Theorie an ihrer
Fähigkeit messen lassen, konkretes Handeln journalistischer Akteure sowie
die daraus entstehenden sozialen Prozesse befriedigend zu erklären. Sie
muss also über die Definition von Begriffen und die Beschreibung von
Strukturen und Einflussfaktoren hinausgehen, um zu erklären, wie sich
diese Faktoren unter welchen Bedingungen konkret auswirken. Außerdem
sollte ein geeigneter Ansatz auch in der Lage sein, dynamische Prozesse
und sozialen Wandel darzustellen und zu erklären. Die beschriebene hand-
lungstheoretische Perspektive ist dazu prinzipiell in der Lage. Allerdings
sind dazu komplexe Analysen der Interaktionen von Akteuren und der
Folgen dieser Interaktionen notwendig. Denn auch wenn die Wert-
Erwartungstheorie auf den ersten Blick nicht sonderlich komplex erschei-
nen mag: Sie ist eben nur ein Teil einer strukturell-individualistischen Er-
klärung, die mit dem Versuch, die Folgen der Interaktionen von Akteuren
zu rekonstruieren, die Komplexität sozialer Prozesse wirklich ernst nimmt.
5. Eine handlungstheoretische Perspektive macht die makrotheoretische
Diskussion in der Journalismusforschung wieder anschlussfähig an die in
der Journalismusforschung wichtigen theoretischen Ansätze mittlerer
Reichweite sowie an zentrale Forschungsfelder der empirischen Journalis-
musforschung. Dazu zählen beispielsweise die Nachrichtenwert-Theorie,
das Zwei-Komponenten-Modell der Nachrichtenauswahl, der Framing-
Ansatz, die Theorie der instrumentellen Aktualisierung und die gesamte
Medieninhaltsforschung, bei der es um die wichtigsten Ergebnisse journa-
listischen Handelns geht. Aber auch das Knüpfen von Verbindungen zu
anderen Feldern der Kommunikationswissenschaft, die sich ja teilweise
ebenfalls mit den Bedingungen und Ergebnissen journalistischen Handelns
Subjektiv rationale Akteure 65

beschäftigen, wird durch eine handlungstheoretische Perspektive erleich-


tert. Dies gilt beispielsweise für die Medienökonomie, aber auch für die
Mediennutzungs- und Medienwirkungsforschung. Dabei sollte sich die
Journalismusforschung bei ihren Erklärungen nicht auf eine soziologische,
eine psychologische oder eine ökonomische Perspektive beschränken. Sie
sollte sich vielmehr so weit öffnen, wie es für die Erklärung spezifischer
Phänomene im Journalismus notwendig ist. Nur so lassen sich bessere Er-
klärungen für konkretes journalistisches Handeln und dessen Veränderun-
gen finden, die wir tagtäglich erleben.

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RATIONALITÄT
„…dass man nichts zu wählen hat“:
Die Kontroverse um den Homo
Oeconomicus1

Michael Jäckel

1 Entscheidungen und Restriktionen


Kontrastierung ist ein wirksames Mittel der Darstellung von Differenzen. Die
heuristische Funktion einer solchen Vorgehensweise sollte dabei nicht in Ver-
gessenheit geraten. Dies gilt in besonderer Weise für die hier zu behandelnde
Thematik, die die Soziologie seit ihren Anfängen beschäftigt hat: das Verhältnis
von Individuum und Gesellschaft, das Verhältnis von Intentionalität und nor-
mativem Handeln, das Verhältnis von Zweck- und Wertrationalität. Utilitaristi-
sche Erklärungen, so lautet ein verbreiteter Vorwurf, seien auf einen individuel-
len Steuerungsmodus fixiert, der die Umweltfaktoren zu sehr vernachlässige. In
der aktuellen Individualisierungsdebatte kehrt diese Kontroverse wieder, wenn
die Folgen eines institutionalisierten Individualismus als Desintegrationsphä-
nomene diskutiert werden (vgl. Honneth 1994). Pointiert hat Schimank die
Problematik wie folgt formuliert: „Immer mehr Gesellschaftsmitglieder schla-
gen sich mit immer beschränkteren „Tunnelblicken“ durchs Leben; und wer
hat dann eigentlich noch den Überblick über die Ordnung des gesellschaftli-
chen Ganzen?“ (Schimank 2000: 11)
Im Folgenden stehen Entscheidungen im Vordergrund. Dies bedeutet: Es
geht um die Analyse von Zweck-Mittel-Relationen. Wenn von Mitteln und

1 Der vorliegende Beitrag ist in Teilen bereits in dem allgemeinen Teil meines Buches „Wahl-
freiheit in der Fernsehnutzung“ (1996) publiziert worden. Er wurde für den vorliegenden
Zweck überarbeitet und um neue Aspekte aus der Rational Choice-Debatte (vgl. zusam-
menfassend Diekmann & Voss 2004 und Hill 2002) erweitert. Ich danke Thomas Grund für
wertvolle Hinweise.
72 Michael Jäckel

Zwecken gesprochen wird, bezieht sich die Entscheidungstheorie auf den Ide-
altypus des „homo oeconomicus“. Dieser lässt sich mit Esser (1993: 236) wie
folgt definieren: „[..] daß er seinen individuellen Nutzen auf der Grundlage
vollkommener Information und stabiler und geordneter Präferenzen im Rah-
men gegebener Restriktionen maximier[t].“ Restriktionen können zeitlicher
(Zeitbudget), ökonomischer (Kaufkraft), sozialer (Orientierung an bzw. Be-
rücksichtigung der Interessen anderer) oder normativer Art (geltende Normen)
sein. Die Restriktionen fangen also vieles von dem auf, was der so genannten
Umwelt zugerechnet werden muss. Es ist daher auch zu diskutieren, was die
Formulierung „im Rahmen gegebener Restriktionen“ alles umfasst und was als
Kern der Erklärung bestehen bleibt. Zunächst wird das ökonomische Pro-
gramm in der Soziologie skizziert, sodann Erweiterungen des Modells behan-
delt und schließlich eine Systematisierung der Einwände vorgenommen.

2 Das ökonomische Programm in der Soziologie


Die Soziologie war bis in die jüngste Vergangenheit von einem Menschenbild
dominiert, das die Determiniertheit des Handelns durch soziale und damit
nicht-individuelle Faktoren betonte. Hierauf ist häufig hingewiesen worden,
und selten kam eine Infragestellung dieser Sichtweise ohne polemische Argu-
mentationen der beteiligten Parteien aus (vgl. hierzu beispielhaft Lindenberg
1985: 244ff. sowie Esser 1993: 231ff.). Es genügen einige Beispiele, um diese
Kontroverse zu illustrieren.
In seiner Ansprache als Präsident der American Sociological Association
hatte George Caspar Homans 1964 harsche Kritik am soziologischen Funktio-
nalismus geübt und seine Aufforderung an soziologische Erklärungen bereits
im Titel seines Vortrags deutlich werden lassen: „Bringing Men Back In.“ Da-
mit wandte er sich entschieden gegen die Auffassung, dass der Gegenstand der
Soziologie die „sozialen Tatsachen“ seien, die nach Durkheim das Handeln der
Menschen bestimmen. Durkheim hatte das Studium der sozialen Tatsachen
zum Gegenstand der Soziologie erklärt und damit gleichzeitig das Ziel verbun-
den, Soziologie nicht als die Analyse individueller Bewusstseinslagen zu verste-
hen. Die unkritische Reproduktion subjektiver Primärerfahrungen führe zu
einer „Spontansoziologie“, die wissenschaftlich unzureichend fundiert sei. Es
fehle dieser Perspektive der notwendige Bruch mit vorwissenschaftlichen Be-
griffen, um zu objektiver Erkenntnis zu gelangen. Das Handeln der Menschen
richte sich nicht nach individuellen Maßstäben, sondern sei orientiert an Re-
geln; diese Handlungsanweisungen haben nach Durkheim (1976: 114) die Fä-
„…dass man nichts zu wählen hat“ 73

higkeit, „auf den einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben“ oder seien Tatsa-
chen, die „ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben“
(Durkheim 1976: 114) besitzen. Bourdieu (1987: 127) hat die damit verbunde-
nen erkenntnistheoretischen Konsequenzen sehr anschaulich zusammenge-
fasst: „Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Han-
deln mehr Sinn, als sie selber wissen. “
Lindenberg (1985: 247) hat für diesen Erklärungstypus von Handlungen
das Akronym SRSM vorgeschlagen: „Socialized, Roleplaying, socially Sanctio-
ned Man“. Homans schloss seine Rede mit polemischen Anspielungen auf jene
soziologischen Theoretiker, die in Durkheim ihren Bezugs- und Ausgangs-
punkt sahen:
Wenn ein ernsthafter Versuch gemacht wird, Theorien aufzustellen, die – und
sei es nur im Ansatz – soziale Phänomene erklären, so stellt sich heraus, daß ihre
allgemeinen Hypothesen sich nicht auf das Gleichgewicht von Gesellschaften,
sondern auf das Verhalten von Menschen beziehen. Dies gilt sogar für einige gu-
te Funktionalisten, obwohl sie es nicht zugeben werden. Sie verstecken die psy-
chologischen Erklärungen unter dem Tisch und ziehen sie verstohlen wie eine
Flasche Whisky hervor, um sie zu benutzen, wenn sie Hilfe brauchen. Ich erhebe
die Forderung, daß wir das, was wir über Theorie sagen, in Übereinstimmung
bringen mit dem, was wir tatsächlich tun, und so unserer intellektuellen Heuche-
lei ein Ende machen. (Homans 1972b: 57)

Ein elementares Phänomen, das Homans in einer Vielzahl von Erklärungen


alltäglichen Verhaltens identifiziert, macht er zu einer wesentlichen Grundlage
seiner Erklärungen. In seinem Hauptwerk „Elementarformen sozialen Verhal-
tens“ fasst er diesen Teil seines Programms in dem Satz zusammen: „Immer
haben die Leute ihr Verhalten erklärt, indem sie darauf hinwiesen, was es ihnen
bringt oder was es sie kostet.“ (Homans 1972a: 11)
Obwohl Homans Ansatz wesentlich durch die Lerntheorie von Skinner be-
einflusst war, sah er in der Vernachlässigung ökonomischen Denkens innerhalb
soziologischer Theorien einen wesentlichen Mangel. Gleichwohl ist rationales
Handeln für Homans kein Axiom, das das menschliche Handeln bestimmt,
sondern vielmehr eine Folge psychologischer Handlungsstrategien.
Ebenfalls nicht frei von Polemik ist eine Situationsbeschreibung der Sozio-
logie, wie sie Lindenberg 1977 gab. Auch diese Darstellung wird dominiert von
dem Gegensatz individuell vs. sozial.
Wer versucht, „individuelle“ Regelmäßigkeiten bei der Erklärung sozialer Tatbe-
stände heranzuziehen, ist soziologisch naiv und muß entsprechend aufgeklärt
und bekämpft werden. Er ist naiv, weil „individuell“ genau das Gegenteil von
„sozial“ ist, und weil er deshalb die Ursachen von sozialen Regelmäßigkeiten in
74 Michael Jäckel
nicht-sozialen Regelmäßigkeiten sucht. Die einfachste Art, so einen Naivling zu
behandeln, ist, ihm deutlich zu machen, daß seine sog. individuellen Regelmä-
ßigkeiten gar nicht individuell sind, sondern selbst sozialen Ursprungs und somit
soziologisch erklärungsbedürftig. (Lindenberg 1977: 47)

Lindenberg setzt sich hier gegen den Vorwurf der Naivität zur Wehr. Eine vom
Individuum ausgehende soziologische Erklärung sei nicht reduktionistisch. Sie
behaupte nicht, dass kollektive Phänomene (z.B. Arbeitsteilung, Urbanisierung,
Stabilität) einem Individuum zugeschrieben werden können, „sondern besten-
falls einer Bedingungskonstellation individueller Effekte“ (ebd.: 57).2
Versucht man aus diesen ersten Hinweisen auf soziologische Theorien ein
Kernproblem herauszufiltern, so liegt es in einer Uneinigkeit über den oder die
Bestimmungsgründe von Handlungen: Hier wird die Bedeutung von Werten,
Normen und Rollen für das Handeln der Menschen in den Vordergrund ge-
stellt, dort eine individualistische Sozialwissenschaft (vgl. Opp 1979) gefordert,
die das individuelle Kalkül zur Ausgangsbasis auch soziologischer Erklärungen
machen soll. In Dichotomien finden diese „Frontstellungen“ dann ihren Nie-
derschlag: „Homo Oeconomicus und Homo Sociologicus. Die Schreckens-
männer der Sozialwissenschaften“ (Weise 1989); „Die zwei Soziologien. Indi-
vidualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie“ (Vanberg 1975) – die
Liste ähnlich lautender Titel ließe sich noch verlängern. Immer wieder ist es die
von Homans eingeklagte Fundierung individuellen Handelns (vornehmlich
realisiert durch ökonomisches Denken), die die Trennlinie zwischen einer „so-
zialen“ und einer „nicht-sozialen“ Erklärung markiert. Wiesenthal hat einmal
von einer platten Faustregel gesprochen, die wie folgt lautet: „In der Ökono-
mie lernt man, wie man wählen muß, und in der Soziologie, daß man gar nichts
zu wählen hat.“ (Wiesenthal 1987: 13, Hervorhebung im Original)
Um das handlungstheoretische Programm einer in ökonomischen Katego-
rien denkenden Soziologie angemessen beurteilen zu können, muss man sich
zunächst mit dem theoretischen Anspruch, sodann mit Modifikationen und
Erweiterungen dieser Theorie auseinandersetzen. Dies erfolgt nicht in der
Absicht, alle hierzu vorliegenden Arbeiten zu referieren, sondern die Kernge-
danken herauszuarbeiten.

2 Anders dagegen Kappelhoff (1992: 222), der – wiederum bezogen auf Homans – von einem
behavioristischen Reduktionismus spricht.
„…dass man nichts zu wählen hat“ 75

3 Das handlungstheoretische Programm:


Kernaussagen und Erweiterungen
Lange Zeit war es in den Sozialwissenschaften üblich, die Ökonomie als eine
bereichsgebundene Disziplin zu betrachten (vgl. Albert 1984: 5). Probleme der
Wirtschaft sollten der Forschungsgegenstand sein, nicht dagegen Fragen, die
das Familienleben oder die Freizeitgestaltung betreffen. Vereinzelte Versuche,
nicht-ökonomische Phänomene mit ökonomischen Kategorien zu analysieren,
hat es bereits gegeben, bevor sich die Furcht vor einem ökonomischen Imperi-
alismus (vgl. Engelhardt 1989) ausbreitete. Zu nennen ist hier beispielsweise
der Versuch von Anthony Downs (1968), das politische Verhalten von Partei-
en und Wählern ökonomisch zu erklären. Mit dem Erscheinen des Lehrbuchs
von McKenzie und Tullock (1984) sowie den Arbeiten von Gary S. Becker
(1976) wurde die thematische Vielfalt verdeutlicht, die unter Zuhilfenahme
ökonomischer Kategorien untersucht werden kann. Der Anspruch, der mit
diesen Analysen verbunden ist, verdient das Beiwort „imperialistisch“ nicht. Es
wird ein Modell präsentiert, das mit anderen Ansätzen konkurrieren will. In der
Darstellung ihrer Hauptannahmen heißt es bei McKenzie und Tullock: „Wir
sagen deshalb, daß, ehe wir überhaupt hoffen können, gesellschaftliche Phä-
nomene zu verstehen, wir zunächst verstehen müssen, warum sich Leute so
verhalten, wie sie es tatsächlich tun“ (McKenzie & Tullock 1984: 24). Dieser
Satz könnte auch in einem Lehrbuch zur verhaltenstheoretischen Soziologie
(Homans) stehen. Einige der Hauptannahmen bzw. Aussagen des Modells
sind:
ƒ Das Individuum ist Ausgangspunkt der ökonomischen Analyse.
ƒ Dem Handeln der Menschen liegt eine Absicht zugrunde.
ƒ Handlungen sind keine unbewussten Vorgänge, sondern dienen der Ver-
änderung eines gegebenen Zustands.
ƒ Restriktionen sind Randbedingungen für das Handeln der Menschen. Sie
determinieren nicht Handlungen, sondern geben Möglichkeiten vor.
ƒ Individuen haben Präferenzen und Bedürfnisse. Sie sind in der Lage, diese
in eine Werthierarchie zu bringen.
ƒ Gegenstand der Bewertung können materielle und immaterielle Dinge
sein. Man spricht von Gütern und meint damit alle Dinge, „die Leute posi-
tiv bewerten“ (McKenzie & Tullock 1984: 30).
ƒ Jede Entscheidung(sfindung) ist mit Kosten verbunden. Wenn ich mich
für A entscheide, verzichte ich gleichzeitig auf B, C oder D. Die Kosten
76 Michael Jäckel

einer Handlung sind „die Kosten der besten Alternative, auf die wir ver-
zichten mussten, wenn wir die Wahl hatten“ (ebd.: 31).
ƒ Wenn Individuen rational handeln, dann werden sie so lange ein bestimm-
tes Gut (im oben beschriebenen Sinne) konsumieren oder in einer be-
stimmten Art und Weise handeln, bis der Grenznutzen der zuletzt ausge-
führten Handlung unter die Grenzkosten sinkt. Grenzkosten ergeben sich
dabei immer aus dem Wert ausgeschlagener Optionen.
Diese Hauptannahmen des Modells von McKenzie und Tullock (1984: 32ff.)
betonen die Rationalität von Handlungen. Gleichwohl merken die Autoren an:
Niemand kann sich natürlich so präzise verhalten, wie wir es oben beschrieben
haben. Vielleicht kann er es nicht, und vielleicht lohnt sich eine derartige Genau-
igkeit auch gar nicht. [...] Es kommt uns eigentlich auch nur darauf an, daß ratio-
nale Individuen sich ungefähr so wie beschrieben verhalten werden (ebd.: 35).

Die Parallelen zu Homans’ Programm für die Soziologie lassen sich leicht auf-
zeigen (vgl. Homans 1972c: 59ff. und Opp 1972: 31ff.). Auch er betrachtet die
Handlungen der Menschen als eine Funktion ihres Ertrags. Dieser Ertrag er-
gibt sich aus der Differenz von Nutzen (= Belohnungen) und Kosten von
Wahlhandlungen, wobei sich die Kosten aus dem Wert der besten, nicht wahr-
genommenen Handlungsalternative ergeben. Wenngleich sich in Homans ver-
haltenstheoretischem Programm eine Vielzahl von Begriffen aus der Lerntheo-
rie wiederfinden (z.B. Deprivation, Reiz, Stimulus, Belohnung), baut seine
Argumentation sowohl auf dieser Tradition als auch auf der ökonomischen
Verhaltenstheorie auf, die früher als Wahlhandlungstheorie bezeichnet wurde
und heute mit dem Begriff „Rational Choice“ angesprochen wird.3 Seine Basis-
hypothesen, die hier im Einzelnen nicht erläutert werden sollen, integrieren
ökonomische und lerntheoretische Erklärungen und sind nach Homans in der
Lage, nicht nur, wie die Theorie des rationalen Handelns, Werte und Präferen-
zen als gegeben hinzunehmen, sondern ihre Entstehung und Veränderung zu
erklären (vgl. Homans 1972d: 116). Eine entscheidende heuristische Regel bzw.
Arbeitshypothese der Rational Choice-Theorie lautet nach Diekmann und Voss
wie folgt: „Verhaltensänderungen möglichst durch die Veränderung von Re-

3 Homans’ Theorie kann nicht als Lerntheorie im Sinne des Behaviorismus eingestuft wer-
den, sondern als eine auf den Erkenntnissen der Lerntheorie aufbauende Wahlhandlungs-
theorie, die die Reaktionen bzw. Folgen vorangegangener Verhaltensweisen in die zukünfti-
ge Handlungsplanung einfließen lässt. Vgl. zur Bedeutung Homans für die moderne Sozio-
logie auch Coleman und Lindenberg (1990).
„…dass man nichts zu wählen hat“ 77

striktionen und nicht durch die Veränderung von Präferenzen zu erklären“


(Diekmann & Voss 2004: 16).
In den dargestellten Ansätzen geht es nicht nur um eine Individualtheorie
zur Erklärung individuellen Verhaltens, sondern um eine Erklärung kollektiver
Phänomene auf der Basis einer Theorie, die den individuellen Akteur in das
Zentrum des Modells stellt. Auf die Leistungen, die dieser individuelle Akteur
erbringen muss, wenn er rational handeln möchte, hat sich die Kritik häufig
konzentriert. Dabei hatte bereits Gary S. Becker (1976: 6) deutlich darauf hin-
gewiesen, dass der ökonomische Ansatz nicht von der Annahme ausgeht, „that
all participants in any market necessarily have complete information or engage
in costless transactions. Incomplete information or costly transactions should
not, however, be confused with irrational or volatile behaviour.”
Auch Opp, der ein Hauptvertreter des ökonomischen Ansatzes in Deutsch-
land ist, hält die Behauptung, das Modell gehe von einem vollständig informier-
ten Akteur aus, für unsinnig und nicht einer weiteren Diskussion wert (vgl.
Opp 1989). Dennoch liegt in einer Präzisierung dessen, was eine Abweichung
von der vollständigen Informiertheit impliziert, ein Schlüssel zur Integration
scheinbar divergierender Auffassungen. Zunächst kann man das Kernmodell
des ökonomischen Ansatzes in der Soziologie mit Opp (1989: 105) in drei
Hypothesen zusammenfassen:
(1) Die Motivationshypothese: Die Präferenzen (d.h. Ziele, Wünsche oder Mo-
tive) von Individuen sind Bedingungen für soziales Handeln, das – aus der
Sicht der Individuen – zur Realisierung ihrer Ziele beiträgt. [...]
(2) Die Hypothese der Handlungsbeschränkungen: Handlungsbeschränkungen,
die Individuen auferlegt sind, sind Bedingungen für ihr Handeln. [...]
(3) Die Hypothese der Nutzenmaximierung: Individuen führen solche Hand-
lungen aus, die ihre Ziele in höchstem Maße realisieren – unter Berücksich-
tigung der Handlungsbeschränkungen, denen sie sich gegenübersehen.

In Ergänzung zu diesem Kernmodell, dessen Bestandteile auch bei McKenzie


und Tullock vorliegen, führt Opp weitere Spezifikationsmöglichkeiten an: So
erlaube eine Konkretisierung von Hypothese 2 die Veränderung des Hand-
lungsspielraums, ohne dass sich Präferenzen verändern müssen. Wichtig ist
aber vor allem die Erweiterung des Modells durch die Integration so genannter
„weicher“ Motive. Nach Opp fühlen sich Ökonomen „nur dann wohl, wenn
sich die Präferenzen der Akteure auf Sachverhalte beziehen, die man anfassen,
schmecken, riechen oder sehen kann“ (ebd.: 106).
Ökonomen bevorzugen eine „harte“ Spezifikation des Modells, insbeson-
dere, wenn es um die Spezifizierung der Nutzenfunktion geht. Dass Menschen
78 Michael Jäckel

beispielsweise aus reinem Pflichtgefühl an einer politischen Wahl teilnehmen


oder altruistische Motive handlungsleitend sein können, wird von vielen Öko-
nomen, so Opp, nicht als Spezifikation des Modells akzeptiert. Ebenso finden
auch Gewohnheiten und Routinen kaum Beachtung. Harte, materielle Anreize
werden als Motive bevorzugt. Die Hypothese von der Nutzenmaximierung
kann aber auf viele soziale Sachverhalte nur dann sinnvoll angewandt werden,
wenn man diese Einschränkung aufgibt.
Die Rationalität des Handelns im Rahmen von Wahlhandlungen und die
daran gekoppelte Nutzenorientierung (Hypothese 3) kann zudem Abweichun-
gen von diesem Kalkül nicht nur mit dem Hinweis auf die Berücksichtigung
von Handlungsbeschränkungen in das Modell integrieren. Es ist auch eine
Präzisierung des Rationalitätsbegriffs erforderlich. Für Boudon (1980: 18) steht
dabei außer Frage, „daß man zweifellos den Begriff der Rationalität nicht all-
gemein definieren kann, sondern lediglich innerhalb besonderer Handlungs-
(oder Interaktions-) Zusammenhänge.“
Auch Diekmann und Voss (2004: 13) schlagen vor, Rationalität weiter zu
fassen und als „Handeln in Übereinstimmung mit den Annahmen (Axiomen)
einer Entscheidungstheorie“ zu definieren. Aus der Tatsache, dass es mehrere
Entscheidungstheorien gibt, folgt dann, dass auch Rationalität unterschiedlich
bestimmt werden kann.
Bevor man diesen Einwand weiterverfolgt, ist der Idealtypus einer zweckra-
tionalen Handlung zu skizzieren (vgl. Simon 1993: 21f.):
ƒ Das Individuum muss über eine Möglichkeit verfügen, den Nettonutzen
aus verschiedenen Handlungsalternativen zu bestimmen. Es muss im ma-
thematischen Sinne über eine Nutzenfunktion verfügen.
ƒ Das Individuum muss in der Lage sein, die relevanten Alternativen von
den nicht relevanten Alternativen unterscheiden zu können.
ƒ Das Individuum muss Informationen darüber haben, wie hoch die Ein-
trittswahrscheinlichkeit der ins Kalkül gefassten Alternativen ist.
ƒ Das Individuum wird jene Handlung ausführen, die unter Zugrundelegung
der zuvor erforderlichen Entscheidungen den höchsten Nutzen verspricht.
Perfekte Information würde in diesem Zusammenhang bedeuten, dass man
über sichere Kenntnisse der Gegenwart und der Zukunft verfügt, man mit
anderen Worten von Erwartungssicherheit sprechen kann. Simon (1993: 22f.)
sieht darin eine große Theorie mit geringem Nutzen, da sie keine Anwendung
findet und finden wird. Dem „Göttlichkeitsmodell der Theorie des subjektiv
„…dass man nichts zu wählen hat“ 79

erwarteten Nutzens“ setzt er das Verhaltensmodell der begrenzten Rationalität


entgegen (vgl. ebd.: 29).
Die Grundzüge dieses Verhaltensmodells lassen sich wie folgt skizzieren
(vgl. ebd.: 27 sowie Hindess 1988: 69ff.):
ƒ Die Entscheidungen, die Individuen im Alltag zu treffen haben, sind in der
Regel keine weitreichenden, in die Zukunft gerichteten Entscheidungen.
ƒ Entscheidungen im Alltag basieren nicht auf detaillierten Kalkulationen
über die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens zukünftiger Ereignisse, son-
dern auf Vorstellungen davon, was man möchte und was man sich leisten
kann. Nicht alle Alternativen werden in Erwägung gezogen.
ƒ Es gibt nicht eine übergreifende Nutzenfunktion für alle Entscheidungen;
die Aufmerksamkeit, die man einem Problem widmet, variiert mit dem
Entscheidungsbereich.
ƒ Eine Erhöhung des Nutzens aus Entscheidungen liegt bereits dann vor,
wenn man aufgrund einer begrenzten Informationssammlung sich der ei-
genen Präferenzen hinsichtlich eines bestimmten Produkts bewusst wird.
An die Stelle eines „maximizing“ setzt Simon (1982: 332f.) ein „satisficing“.
Erwartungen richten sich an dem Erreichbaren aus, Entscheidungsprozesse
werden an bestimmten Stellen beendet, wenngleich es durchaus noch weitere
Alternativen gibt, von denen man weiß, die man aber nicht in Anspruch
nimmt. Collins (1993) hat für den hier beschriebenen Sachverhalt eine treffen-
de Formulierung gefunden: „The Rationality of Avoiding Choice.“
Eine wichtige Fähigkeit besteht gerade darin, die Aufmerksamkeit auf be-
stimmte Alternativen zu lenken. Häufig wird diese Fähigkeit bereits durch die
Reihenfolge der wahrgenommenen Alternativen aktiviert (vgl. Simon 1993: 33).
Die Art und Weise, wie Menschen Informationen verarbeiten, ist also für eine
Beurteilung des Modells eines Homo Oeconomicus nicht unwichtig. Im Fol-
genden soll daher den angedeuteten Einschränkungen detaillierter nachgegan-
gen werden. In Bezug auf die Entscheidungsfindung bedeutet dies: eine Ein-
bindung von Regelwerken, die den Status „satisficing“ erhalten.
Dazu ist aus soziologischer Sicht eine Betrachtung des Alltags hilfreich.
Dies führt zu den Arbeiten von Alfred Schütz. In dem Beitrag „Das Problem
der Rationalität in der sozialen Welt“ versucht Schütz (1972: 23) zu untersu-
chen, ob für das Alltagsleben der Menschen „die Kategorie der Rationalität [...]
überhaupt entscheidend ist oder nicht.“ Für Schütz beruht das Handeln der
Menschen nicht auf immer wiederkehrenden Reflexionen über Handlungsal-
ternativen, sondern auf „Entwürfen“, die als das Resultat und Substrat zurück-
80 Michael Jäckel

liegender Erfahrungen verstanden werden müssen. Einen solchen Erfahrungs-


zusammenhang bezeichnet er als Schema:
Ein Schema unserer Erfahrung, ein Sinnzusammenhang unserer erfahrenden Er-
lebnisse, welcher zwar die in den erfahrenden Erlebnissen fertig konstituierten
Erfahrungsgegenständlichkeiten erfaßt, nicht aber das Wie des Konstitutions-
vorgangs, in welchem sich die erfahrenden Erlebnisse zu Erfahrungsgegenständ-
lichkeiten konstituierten. Das Wie des Konstitutionsvorgangs und dieser selbst
bleibt vielmehr unbeachtet, das Konstituierte ist fraglos gegeben. (Schütz 1981:
109)

Dieses „fraglos Gegebene“ zeigt sich im Alltagshandeln der Menschen in spe-


zifischen Formen des Wissensvorrats: Rezepte, Routinen, Faustregeln, Prinzi-
pien oder Gewohnheiten, die handlungsleitend werden (vgl. Schütz 1972: 32f.).
Die Menschen verfügen über eine Art „Kochbuch-Wissen“ (ebd.: 33). Wenn
man versucht, hieraus Hinweise auf eine Rationalität im Sinne einer effizienten
Handlungsplanung abzuleiten, stößt man bei Schütz auf Widerspruch. Er
schreibt:
Zwar hat es den Anschein, daß es eine Art von Organisation durch Gewohnhei-
ten, Regeln und Prinzipien gibt, die wir regelmäßig und mit Erfolg anwenden,
aber der Ursprung unserer Gewohnheiten liegt fast außerhalb unserer Kontrolle,
und die Regeln, die wir anwenden, sind Faustregeln, und ihre Gültigkeit wurde
niemals verifiziert. (ebd.: 32)

Aber wenig später findet man eine Aussage, die zumindest einen Hinweis auf
die Verifikation durch Bewährung enthält. Denn dort heißt es:
Da wir normalerweise handeln müssen und nicht reflektieren können, um den
Forderungen des Augenblicks zu genügen, kümmern wir uns nicht um die „For-
derung nach Gewißheit“. Wir sind zufrieden, wenn wir eine faire Chance der
Realisierung unserer Absichten haben und diese Chance haben wir, so denken
wir jedenfalls, wenn wir den Mechanismus der Gewohnheiten, Regeln und Prin-
zipien in Bewegung setzen, der sich früher einmal bewährt hat und sich hoffent-
lich auch jetzt bewähren wird. (ebd.: 32)

Mit anderen Worten: Ein erfolgreiches Schema findet erneute Anwendung,


wenn es sich bewährt hat (Zweck-Mittel-Relation). Man könnte auch eine ver-
haltenstheoretische Hypothese von Homans (1972c: 62) anführen, die besagt:
„Je häufiger die Aktivität einer Person belohnt wird, mit um so größerer Wahr-
scheinlichkeit wird diese Person die Aktivität ausführen.“
Esser (1991a, b) hat den Versuch unternommen, auf Parallelen der Rational
Choice-Theorie und der Phänomenologischen Soziologie hinzuweisen. Er
verfolgt sowohl die Zielsetzung, die Handlungstheorie von Schütz mit Begrif-
fen der Rational Choice-Theorie zu rekonstruieren, als auch den in den Sozial-
„…dass man nichts zu wählen hat“ 81

wissenschaften nach wie vor bestehenden Methodendualismus zwischen einer


erklärenden und einer verstehenden Vorgehensweise zu überwinden. Wenn
Esser (1991b: 430) von Rational Choice-Theorien spricht, meint er nicht „das
enge Konzept des neoklassischen homo oeconomicus“, sondern davon ab-
grenzbare Varianten, die im Sinne des Verhaltensmodells von Simon nicht in
wahrscheinlichkeitstheoretisch bestimmte Nutzenfunktionen münden. Esser
(1993: 246) unterscheidet im Rahmen einer soziologischen Erklärung drei
Schritte:
ƒ Logik der Situation: Welche Handlungsbedingungen liegen vor, wie ist die
Situation strukturiert?
ƒ Logik der Selektion: Nach welchen Kriterien werden Handlungsalternati-
ven ausgewählt?
ƒ Logik der Aggregation: Welche kollektiven Phänomene resultieren aus der
Wahl von Handlungsalternativen?
Damit sind auch im Wesentlichen die Bestandteile der von Esser herangezoge-
nen Rational Choice-Theorie genannt. In Anlehnung an Riker und Ordeshook
sowie Lindenberg nennt er folgende Erklärungskomponenten: Situationsum-
stände, Handlungsbedingungen, Restriktionen, verfügbare und mögliche Hand-
lungsalternativen, subjektive Erwartungen über den Handlungserfolg, subjekti-
ve Bewertung des Handlungserfolgs.
Lindenberg (1985: 250ff.) hat für das Menschenbild, das dieser Theorie
zugrunde liegt, das Akronym RREEMM vorgeschlagen: Resourceful, Restric-
ted, Evaluating, Expecting, Maximizing Man. Die Maximierungsregel bedarf
der Spezifikation. Die Situationsdefinition muss mit dem Modell der rationalen
Wahl verknüpft werden. Da es nicht um individuelle Erklärungen für individu-
elles Handeln gehen soll, ist in dieser Theorie die Mikro-Makro-
Differenzierung mitgedacht. Daraus folgt (siehe hierzu insbesondere auch
Jäckel & Reinhardt 2001): Zuordnung von „resourceful“, „evaluating“ und
„maximizing“ zur Mikroebene, Zuordnung von „restricted“ und „expecting“
zur Makroebene. Restriktionen beschreiben die Randbedingungen, Erwartun-
gen den „Horizont möglicher Ereignisse [...], auf die hin maximierend ausge-
wählt wird.“ (Hennen & Rein 1994: 221). Individualität und Subjektivität be-
dürfen somit der Stützung durch Strukturen und der Verfestigung in überdau-
ernden Kulturmustern, und Strukturen oder Institutionen sind ohne Akteure
nicht vorstellbar, die diese reproduzieren oder verändern. Wenn sich diese
Maximierungsstrategien aber bereits an bestehenden Angeboten, Programmen
oder Kulturmustern orientieren, ist eine Ergänzung dieses Akronyms sinnvoll,
82 Michael Jäckel

das das beschriebene Interesse „mit sozial-kulturellen Regeln verbindet.”


(Hennen & Springer 1996: 35). Hierfür wird die Integration des Begriffs „e-
nabling“ vorgeschlagen (RREE[E]MM) (vgl. Hennen & Springer 1996: 35).
Diese Integration berührt zugleich erneut das Grundproblem der Unterschei-
dung individuell-sozial. Man kann im Zuge einer Wahlhandlung das handlungs-
leitende Programm nicht vergessen und infolgedessen auch nicht ausklammern.
Rechtfertigen lässt sich die Trennung aber durch den Hinweis auf bestehende
Lösungen für konkrete Entscheidungen. Gemeint sind Handlungsprogramme
oder Entscheidungsroutinen, die nicht im Zuge jeder bevorstehenden Wahl-
handlung neu geschaffen werden müssen (ebd.: 12ff.).
Der Prozess der Handlungswahl kann in drei Schritte zerlegt werden: 1.
Kognition der Situation, 2. Evaluation von Handlungsfolgen, 3. Selektion einer
Handlung (vgl. Esser 1991b: 432). Im Anschluss an diesen Kriterienkatalog
werden Parallelen zur Argumentation bei Schütz aufgezeigt. Nur wenige Hin-
weise sollen hier genügen (ebd.: 433f.):
ƒ Handeln beruht bei Schütz auf vorgefassten Entwürfen. Zwischen Ent-
würfen aber muss man wählen. Voraussetzung ist, dass sie in der Reich-
weite des Handelnden liegen.
ƒ Der Wissensvorrat des Handelnden dient dazu, vorliegende Situationen zu
bewerten, etwa darauf hin, ob sie früheren Situationen ähneln.
ƒ Handlungsalternativen durchlaufen das Bewusstsein, bis eine Entschei-
dung fällt.
ƒ Die Handelnden müssen im Idealfall in der Lage sein, wie ein Buchhalter
zu kalkulieren und zu bilanzieren.4
Für Schütz wird das Handeln nach bewährten Entwürfen dann zum Problem,
wenn die Bewährung ausbleibt bzw. die Situation Routinehandeln nicht zulässt.
Routinen reduzieren damit Kosten der Handlungsplanung (vgl. Esser 1991b:
437). Alltagshandeln bleibt bei Schütz ein Handeln nach Rezepten und Faust-
regeln, insbesondere dann, wenn man mit dem erforderlichen Wissen vertraut
ist und eine unmittelbare Relevanz („Welt aktueller Reichweite“) gegeben ist.
Nach Esser erfüllen die Routinen und Rezepte bei Schütz die Funktion von
Schemata und Skripten. Er schlägt vor, für diese Bündel von Handlungsse-
quenzen den Begriff „habits“ einzuführen. „Habits vereinfachen die Mittel-

4 Dieser Hinweis – diese Einschränkung ist notwendig – bezieht sich auf eine Darstellung
von Leibniz’ Theorie des Wollens und kann nicht ohne weiteres als eine Aussage, die
Schütz in seine Theorie integriert, interpretiert werden (vgl. Schütz 1971: 102ff.).
„…dass man nichts zu wählen hat“ 83

struktur des Handelns“ (ebd.: 440). Die Einordnung der Logik der Situation,
die bei Schütz an den Begriff der Relevanz gekoppelt wird, erfolgt, so Esser,
nach einem dominierenden Leitmotiv. Diesen Prozess der Situationsbestim-
mung bezeichnet er mit dem Begriff „frame“ (= Rahmen). „Frames vereinfa-
chen die Zielstruktur des Handelns“ (ebd.: 440). Damit ergibt sich für die ers-
ten beiden Analyseschritte das Bild laut Abbildung 1.

Abbildung 1: Logik der Situation und Logik der Selektion

Logik der Situation Logik der Selektion

Frame Habits

Schemata Skripts

Vereinfachung der Vereinfachung der


Zielstruktur Mittelstruktur

Quelle: Jäckel (1996: 77).

Vereinfachung der Zielstruktur heißt somit auch Reduktion von Komplexität,


Vereinfachung der Mittelstruktur heißt Inkaufnahme nicht-optimaler Entschei-
dungen (satisficing statt maximizing) durch Zugriff auf bewährte Routinen.
Diese Reduktion von Komplexität wird von Esser wiederum selbst durch das
Abwägen von Werten und Erwartungen erklärt. Die Frage lautet also: Lohnt
sich das Suchen nach weiteren Informationen und kann dadurch der Gesamt-
nutzen des Handelns gesteigert werden?
Essers Rekonstruktions- und Syntheseversuch ist nicht ohne Widerspruch
geblieben und hat eine theoretische Diskussion über die Rationalität des All-
tagshandelns ausgelöst (siehe hierzu Collins 1993; Srubar 1994; Wippler 1994).
Srubar bezweifelt, dass man bei Schütz eine „verschleierte […] Akzeptanz der
RC-Prinzipien [RC = rational choice, Anm. d. Verf.] als des konstitutiven Me-
chanismus alltäglichen Handelns“ aufzeigen kann. Schütz gehe es um den
„Nachweis der Typik als einer allgemeinen Struktur der alltäglichen Hand-
lungsorientierung“ (Srubar 1992: 160). Der Begriff Typik verweist in diesem
Zusammenhang auf den Prozess der Definition der Situation, den Schütz in
84 Michael Jäckel

Anlehnung an William Isaac Thomas verwandte (vgl. Preglau 1995: 73). Typi-
sierungen von Situationen beruhen danach auf dem vorhandenen Wissensvor-
rat. Alltagshandeln sei, so Srubar, gerade nicht durch Selektionslogik gekenn-
zeichnet. Schütz bestreite nicht „die Möglichkeit, ein Handlungsmodell, das auf
Nutzenmaximierung aufbaut, aufzustellen [...]“. Und weiter heißt es: „Was er
bestreitet, ist die universelle Geltung einer solchen Selektionslogik“ (Srubar
1992: 161).
Insbesondere zieht Srubar in Zweifel, dass man die „unreflektierte ‚Wahl’
von Habits und die spontane Orientierung an bestimmten Frames“ (Esser
1991b: 442) noch als einen Unterfall des rationalen Handelns einordnen kann.
Warum, so lautet sein Gegenvorschlag, kann man dann nicht von einem „Ide-
altypus des Routinehandelns“ ausgehen (Srubar 1992: 162)? Warum kann man
nicht Abweichungen vom Routinehandeln als Spezialfälle betrachten, die dann
einen rationalen Handlungstypus erfordern? Für ihn ist Routinehandeln kein
Spezialfall rationalen Handelns, für Esser gilt das Gegenteil. Nach Collins
(1993: 58) konstruiert Esser ein Modell „of a second order of rationality; more
accurately, a prior order of rational choice as to whether it is advantageous to
engage in calculations or to stick with an accepted routine.“
Srubar neigt dazu, das rationale Handeln auf den wirtschaftlichen Bereich
zu konzentrieren (vgl. hierzu auch Srubar 1993: 39). Die entscheidende Frage
aber ist, woher ein Akteur weiß, dass ihm Routinen in bestimmten Situationen
weiterhelfen. Er muss auf Erfahrungen oder Vorbilder zurückgreifen, um ihre
Angemessenheit beurteilen zu können. Die Adäquanz einer Typenbildung
beruht auf dem Kriterium Erfolg/Misserfolg, Gelingen/Misslingen. Auch eine
Theorie des Routinehandelns kommt ohne diese Kategorien nicht aus. Routi-
nehandeln muss nicht zum Gegenstand einer eigenen Theorie gemacht werden,
sondern kann als Spezialfall rationalen Handelns betrachtet werden. Selbst
Gewohnheitshandeln (unreflektierte Wahl) kann über die Handlungsfolgen
eine nachträgliche Bewertung erfahren. Einschränkend kann hinzugefügt wer-
den, dass die unreflektierte Wahl selbst schon wieder einen Grenzfall der
Handlungsplanung darstellt und einer starken Vereinfachung der Mittelstruktur
(vgl. Abbildung 1) gleichkommt.
Neben diesem Rekonstruktionsversuch einer Handlungstheorie, die das
Kernstück des so genannten interpretativen Paradigmas ausmacht, ist auf einen
weiteren theoretischen Vermittlungsversuch hinzuweisen. Gemeint ist der
Versuch einer Synthese zwischen Homo Oeconomicus und Homo Sociologi-
cus.
„…dass man nichts zu wählen hat“ 85

4 Das Modell des Homo (Socio-)Oeconomicus


Es geht dabei nicht um die Frage, ob man das Modell des Homo Sociologicus
(normative Regulierung sozialen Verhaltens) in ökonomische Kategorien über-
führen kann (vgl. hierzu Opp 1986). Sanktionen lassen sich als Kosten einer
Handlung definieren, internalisierte Normen als Präferenzen für bestimmte
Verhaltensweisen (vgl. Opp 1989: 119). Es geht hierbei vielmehr um eine kon-
sequentere Einlösung der Forderung Boudons, die Situations- und Handlungs-
bedingungen bei der Erklärung des Auftretens bestimmter Verhaltensweisen zu
berücksichtigen. In diese Richtung zielt auch die Unterscheidung von Hennen
und Rein (1994: 215ff.), die für eine konsequentere analytische Trennung der
Wahlkomponente und der Situationskomponente plädieren.
Boudons Forderung lautet, dass der Rationalitätsbegriff nicht universell
verwandt werden darf, sondern in Abhängigkeit von der Situation (vgl. Boudon
& Bourricaud 1992: 415). Die Annahme einer situationsübergreifenden Hand-
lungs- und Entscheidungslogik ignoriert die Variation des Entscheidungsauf-
wands in verschiedenen Situationen. Die Entscheidungen, die wir treffen (müs-
sen), sind von unterschiedlicher Bedeutung und Tragweite. Sie unterscheiden
sich in ihrer Komplexität und ihrer Relevanz für die Zukunft. Die Einrichtung
eines Hauses benötigt mehr Zeit und bindet mehr Ressourcen als die Ent-
scheidung, ob man schwimmen geht oder eine Theatervorführung besucht.
Coleman erläutert diesen Aspekt an Entscheidungsfindungen, die sich in einem
begrenzten Zeitraum abspielen und sich auf gleiche Alternativen beziehen (vgl.
Coleman 1991: 307). Mit gleichen Alternativen meint er dabei Angebote, die
der gleichen Produktgruppe oder dem gleichen Sortiment zugerechnet werden
können. Wenn man sich in einem solchen System der Entscheidungsfindung
bewegt, sind verschiedene Strategien denkbar. Eine Person
kann sich auf eine umfassende Suche nach Informationen begeben, insbesonde-
re, wenn die Entscheidung bedeutsame Folgen für die Person haben wird, weil
es sich zum Beispiel um den Kauf eines langfristigen Konsumguts – beispiels-
weise eines Autos – handelt. Wenn die Entscheidung keine bedeutsamen Folgen
nach sich zieht und es zum Beispiel darum geht, ob man einen Joghurt für 79
Pfennig oder 89 Pfennig kaufen soll, bzw. wenn es allgemeiner gesagt um den
Kauf eines kurzfristigen Konsumgutes geht, bei dem man sich beim nächsten
Mal für die andere Marke entscheiden kann, dann sollte man nicht erst lange In-
formationen einholen, weil dies Kosten macht und die kostenwirksamste Me-
thode, sich zu informieren, darin besteht, den Artikel zu kaufen (oder vielleicht
sogar beide) und aus der eigenen Erfahrung zu lernen. (ebd.: 308)
86 Michael Jäckel

Rationalität wird hier als eine Funktion der Situationsbestimmung betrachtet.


Man kann diesen Vorgang auch mit dem Begriff „Framing“ kennzeichnen (vgl.
Esser 2004), da damit die Klassifikation bzw. Festlegung des jeweiligen Hand-
lungsrahmens gemeint ist. Was Coleman an einem praktischen Beispiel illus-
triert, entspricht dem, was Zintl (1989: 60f.) als das Menschenbild, das dem
Homo Oeconomicus zugrunde liegt, auffasst:
Die Figur des homo oeconomicus sollte nicht als Behauptung über die Eigen-
schaften von Menschen im allgemeinen wahrgenommen werden, sondern als
Behauptung über ihre Handlungsweisen in bestimmten Situationen. Die Frage
ist dann nicht, ob der Mensch so ist, sondern vielmehr, in welchen Situationen er
sich verhält, als sei er so.

Der Konjunktiv am Ende des Zitats verdeutlicht zugleich, dass es den „perfek-
ten Kalkulierer“ nicht geben kann. Man kann auch dann von Rationalität spre-
chen, wenn man nicht vollkommen informiert ist, sondern lediglich versucht,
optimal informiert zu sein (ebd.: 53). Die Entscheidung wiederum, ob man
auch eine nicht-optimale Entscheidungsfindung akzeptiert, hängt von der
Wahrnehmung der Situation und der Antizipation der Folgekosten aus nicht-
optimalen Entscheidungen ab. Die Reihenfolge lautet: vollkommen informiert,
optimal informiert, nicht-optimal informiert. Wenn die Kosten aus einer fal-
schen Entscheidung hoch veranschlagt werden, muss man versuchen, eine
optimale Strategie zu finden. Erscheint die Situation weniger folgenreich, ist
eine nicht-optimale Entscheidungsfindung eher tragbar (vgl. Jäckel 1992:
254f.). Nicht-optimal kann im Extremfall bedeuten, dass man weitgehend auf
Vorab-Informationen verzichtet und damit nicht mehr von einer Handlungs-
planung gesprochen werden kann.
Der Entscheidungsablauf ist mehrstufig angelegt. In Anlehnung an die Be-
stimmung der Situationsbeschaffenheit unterscheidet Zintl dabei Niedrig- und
Hochkostensituationen. In Hochkostensituationen können nicht-optimale
Entscheidungen folgenreich sein, in Niedrigkostensituationen lassen sich die
Folgen verschmerzen (vgl. Zintl 1989: 254). Kliemt (1987: 59), auf den sich
Zintl hierbei beruft, hat die Unterscheidung zwischen „low“ und „high cost“-
Situationen diskutiert, um ein kombiniertes Verhaltensmodell vorzuschlagen.
Solange mit bestimmten Handlungen nur geringe Kosten verbunden sind, sei
es gerade nicht rational, sich „in every instance of choice“ als ein „rational
decision maker“ zu verhalten. In diesem Zusammenhang taucht ein Begriff auf,
auf den auch Esser in seinem Rekonstruktionsversuch der Theorie von Schütz
Bezug genommen hat: Daumenregeln („rules of thumb“, Kliemt 1987: 60).
Kliemts Vorschlag zielt auf eine Aufhebung der Dichotomie von „social“ und
„…dass man nichts zu wählen hat“ 87

„economic man“ durch die Beachtung der Situation und der daran orientierten
Einschätzung der Folgekosten. Sein Fazit lautet: „Obviously we should try to
combine in one behavioral model two human faculties simultaneously: that of
acting according to some rules and that of choosing according to the exigencies
of the moment.“ (ebd.: 62). Nicht die Dichotomie, nicht der Gegensatz helfe
theoretisch weiter, sondern: „Both men are combined in one person.“ (ebd.:
63), wie Abbildung 2 visualisiert.

Abbildung 2: Homo Socio-Oeconomicus

Social man Economic man


Homo Sociologicus Homo Oeconomicus

allgemeines, situations- allgemeines, situations-


übergreifendes Hand- übergreifendes Hand-
lungsmodell lungsmodell

Socio-economic man
Homo Socio-oeconomicus

Situationsabhängiges
Handlungsmodell

Quelle: Jäckel (1996: 81).

Die rollentheoretische Verankerung des Homo Sociologicus repräsentiert in


diesem Modell Prozesse sozialer Steuerung, die aber ohne zweiseitige Ausge-
staltung (Ego-Alter) kaum vorstellbar sind. Anderenfalls wäre beispielsweise
Sozialisation ein einseitiger Vorgang ohne Reflexion und Reziprozität. Daher
liegt mit dem Modell des Homo Socio-Oeconomicus ein Vorschlag zur Ver-
schränkung handlungs- und strukturtheoretischer Konzepte vor: Steuerungs-
und Motivationsprozesse überlagern sich, wie Abbildung 3 veranschaulicht.
Programmorientierung meint hier: Der Rückgriff auf Verhaltensmuster, die
ihre eigene Geschichte haben (soziale Evolution), gewährleistet deren Fortbe-
stand und ermöglicht zugleich Variation. Ohne die Bereitschaft des Einlassens
auf solche „Lösungswege“ werden Automatismen unterstellt, die Soziologie
gleichsam auf eine Benennung von Determinanten reduziert. Programme wer-
den aber individuell eingesetzt.
88 Michael Jäckel

Abbildung 3: Die Programmorientierung von motivierten Handlungen


Handeln
=
motiviertes
Verhalten
vorsozial sozial

Motive Konkretisierung
= auf sozial aner-
fundamentale suchen kannten Wegen,
Bedürfnisse, Anschluss an Orientierung an
anthropologische Kulturformen
Universalien

Motivation
=
Verschmelzung von
Motiv und Programm

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Hennen und Springer (1996: 14).

Mit dem Versuch, verschiedene Formen nicht-optimaler Rationalität in eine


soziologische Handlungstheorie zu integrieren, verbindet sich der Anspruch,
idealistische und damit auch unrealistische Annahmen in angemessene Modell-
vorstellungen zu überführen. Zusammenfassend sind daher folgende Aspekte
noch einmal hervorzuheben:
ƒ Eine ökonomische Erklärung menschlichen Verhaltens muss sich nicht auf
den engen Bereich des Wirtschaftslebens beschränken.
ƒ Die dem Modell des Homo Oeconomicus zugrunde liegenden idealtypi-
schen Annahmen (siehe die Theorie des subjektiv erwarteten Nutzens in
der Darstellung von Simon) sind realitätsfern, da sie eine universelle Gel-
tung beanspruchen.
ƒ Die das Alltagshandeln dominierenden Formen rationalen Verhaltens
müssen in eine handlungstheoretische Erklärung integriert werden. Routi-
„…dass man nichts zu wählen hat“ 89

nen, Rezepte und Gewohnheiten reduzieren Informationskosten. Schema-


ta der Erfahrung strukturieren Situationen. Häufig findet eine Vereinfa-
chung der Mittelstruktur und der Zielstruktur statt. Dennoch liegt intenti-
onales Handeln vor.
ƒ An die Stelle einer universellen Rationalitätstheorie muss eine Theorie
treten, die die Logik der Situation als wichtige Randbedingung berücksich-
tigt. Ein situationsabhängiges Entscheidungsmodell muss die Definition
und Wahrnehmung der Situation, die Beurteilung der Folgekosten (Nied-
rig- versus Hochkostensituation) berücksichtigen.
ƒ Die Logik der Situation ist in diesem methodologisch-individualistischen
Konzept wesentliche Entscheidungsgrundlage für konkretes Handeln bzw.
Nicht-Handeln: die Logik der Selektion.

5 Einwände gegen das Erklärungskonzept


Es wurde einleitend bereits darauf hingewiesen, dass Restriktionen Teil der
Kalkulationen des Homo Oeconomicus sind. Die Konzentration auf Entschei-
dungsfindung (Logik der Selektion) könnte somit als Verengung des Erklä-
rungsspektrums erscheinen. Entsprechend argumentiert beispielsweise Schülein
(1994: 13):
Generell wird die weitgehende Konzentration auf individuelles Handeln bzw. Entschei-
den als weitgehendes Ausblenden der (Eigenständigkeit der) Sozialstruktur von Gesell-
schaften, als mangelnde Berücksichtigung der Bedingtheit und Abhängigkeit indi-
viduellen Handelns von sozialen Verhältnissen interpretiert. Die kategoriale Fas-
sung als Randbedingungen verkennt deren strukturelle Bedeutung und unterstellt
ein weder empirisch noch logisch angemessenes Niveau an Unabhängigkeit
(Schülein 1994: 13, Hervorhebungen im Original)

Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass der Idealtypus der Zweckrationalität,


der im Falle des Homo Oeconomicus Pate steht, nur einer von mehreren Be-
stimmungsgründen sozialen Handelns gewesen ist, die Max Weber in seiner
Handlungslehre genannt hat. Neben das zweckrationale Handeln treten dort
das wertrationale Handeln (z.B. Orientierung an moralischen Wertmaßstäben,
die es unbedingt einzuhalten gilt), traditionales Handeln (Bezugnahme auf seit
langem gültige Handlungsprogramme) und affektuelles Handeln, also die emo-
tionale, häufig auch spontan erfolgende Reaktion. Das tatsächliche Handeln ist
daher im Sinne eines Mischungsverhältnisses dieser vier Idealtypen zu verste-
hen. Mit der Betonung des subjektiv gemeinten Sinns (Max Weber) ist die
90 Michael Jäckel

Brücke zum methodologischen Individualismus geschlagen: die Einbeziehung


der Mikroebene zur Erklärung von Makrophänomenen (vgl. Coleman 1991).
Eine erneute Auseinandersetzung mit dem Begriff „Wertrationalität“ führt
Esser zu dem Ergebnis, dass gerade die Betonung einer kontrafaktischen Ein-
stellung, die Betonung des Wunsches, dass die Dinge anders sein sollen, als sie
sind, die „Wert“-Komponente dieses Rationalitätstypus ausmacht. Das wertra-
tionale Handeln sei eben nicht, wie auch Weber betont, unreflektiert und
„dumpf“, sondern eine systematische, bewusste Stellungnahme (vgl. Esser
2004: 103). Die Besonderheit dieses Bestimmungsgrunds von Handlungen
rührt in erster Linie daher, dass an übergeordnete, nicht-individuelle Ziele ge-
dacht wird: Man sieht die soziale Ordnung bedroht, man denkt an gesamtge-
sellschaftliche Konsequenzen. In Anlehnung an Boudon spricht Esser auch
von den „guten Gründen“ (reasons). Seine Schlussfolgerung lautet:
So gesehen schrumpft der Unterschied des zweckrationalen zum wertrationalen
Handeln also darauf, dass es jetzt um „gesellschaftliche“ Konsequenzen geht
und dass der betreffende Wert als eine nicht substituierbare „notwendige“ Be-
dingung dafür angesehen wird, an der alles Weitere hängt, und dass daher das
betreffende Tun „unbedingt“ erfolgen muss. (Esser 2004: 106, Hervorhebung im
Original)

Eine daraus abgeleitete Forderung ist für eine Handlungslehre bedeutsam: „Die
‚Logik der Selektion’ muss um den Vorgang der Selektion von Typen des Han-
delns, und das heißt: von besonderen Orientierungen und/oder von Graden
der Informationsverarbeitung, erweitert werden.“ (Esser 2004: 97) Auf diese
Erweiterung hat Esser bereits 1990 hingewiesen: „[…] dass die – unbezweifel-
bare Existenz – verschiedener Typen des Handelns – z.B. zweckrational, wert-
rational, traditionell, affektuell – keineswegs heißt, dass man Handeln und sozi-
ale Prozesse nicht aus einer einheitlichen Handlungstheorie heraus erklären
könnte.“ (ebd.: 244) Abbildung 4 fasst diese Überlegungen zusammen.
Auch Talcott Parsons lehnt eine rein utilitaristische Erklärung von Hand-
lungen ab. Nach seiner Auffassung müssen Menschen erst zur Erkenntnis der
sozialen Realität kommen, um ihre (langfristigen) Interessen umsetzen zu kön-
nen. Daher sind Bezugspunkte erforderlich, die sich beispielsweise in Normen
und Werten bereits konkretisiert haben. Auf diese Art und Weise wird eine
normative Einbindung individueller Handlungen angestrebt. Parsons unter-
scheidet dabei vier strukturelle Komponenten: die subjektiven Ziele (ends), die
Mittel des Handelns als eine Komponente der Situation eines Akteurs (means),
die Bedingungen der jeweiligen Situation (conditions) und die Normen (norms)
als regulierender Faktor (vgl. Parsons 1967).
„…dass man nichts zu wählen hat“ 91

Abbildung 4: Die drei Logiken von Esser und Typen des Handelns

Soziale Situation Kollektive Folgen

Logik der Logik der


Situation Aggregation

Typen des Handelns


Logik der
zweckrational Selektion
Individuelle Individuelles
Situation wertrational Handeln
traditional
affektuell

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Esser (1999) und Esser (2004).

Sowohl Weber als auch Parsons betonen also ein Mischungsverhältnis ver-
schiedener Komponenten. Das wird auch im Homo Oeconomicus-Modell
mitgedacht, dort aber – zumindest von Seiten der Kritiker – als zu pauschale
Randerscheinung thematisiert. Das Mischungsverhältnis kann aber auch noch
auf eine andere Art und Weise thematisiert werden, nämlich über die Berück-
sichtigung der Einbindung in konkrete Interaktionen.
Die Relativierung rein utilitaristischer Konzepte findet man in der Soziolo-
gie vielfach beschrieben, insbesondere in den Theorien von Bourdieu und
Giddens. Giddens betont in seiner Theorie der Strukturierung, dass Menschen
sich in ihrem praktischen Handeln auf vorgelagerte Strukturen beziehen, wobei
sie mit diesem Handeln wiederum Strukturen schaffen. Diese Formel der Dua-
lität von Struktur impliziert, dass die jeweiligen Strukturen sowohl Vorausset-
zung als auch Produkt von Handeln sind, und diese wiederum nicht als Zwang
wahrgenommen werden, sondern als Voraussetzung zur Ermöglichung be-
stimmter Handlungen (vgl. Giddens 1988).
Ebenso kündigt Bourdieu (1994) konsequent den Gegensatz von Indivi-
duum und Gesellschaft auf, in dem er für ein Denken in Relationen plädiert
(vgl. die Beiträge von Willems und Hanitzsch in diesem Band). Die soziale
Praxis lässt sich nach seiner Auffassung nicht auf eine Widerspiegelung von
Kulturmustern und Regeln reduzieren. Es handelt sich hierbei nicht um Tatsa-
92 Michael Jäckel

chen. Alle Regeln enthalten ein Moment von Unbestimmtheit, und gerade an
dieser Stelle setzt die Logik der Praxis an. Dort kommen die Strategien der
Akteure ins Spiel, die versuchen, diese Unbestimmtheit der Praxis auszunutzen.
Die Partitur ist zwar vorgegeben, aber es gibt Unterschiede in der Art und
Weise, wie sie gespielt wird. Diese Art und Weise des Spielens wiederum kann
nicht dem voluntaristischen Belieben der Akteure überlassen werden, sondern
ist wiederum Resultat eines über Sozialisation erworbenen Lehrplans. Hierfür
steht bei Bourdieu der Habitus-Begriff. Dieser Begriff steht für sedimentierte
Erfahrungen, für eine Art zweite Natur des Individuums, die dennoch nicht
gleichzusetzen ist mit einer vorgeschriebenen Rolle. Der Habitus ist „als nicht
gewähltes Prinzip aller Wahlen“ (Bohn & Hahn 2000: 258) der Rahmen der
Möglichkeiten. Damit wird hier eine Erklärung für das gegeben, was im Rah-
men der einleitend gegebenen Definition des Homo Oeconomicus unter die
Kategorie „Restriktionen“ gefallen ist.
Wer über den Homo Oeconomicus spricht, muss also die jeweilige Logik
der Situation mitdenken und in Erklärungsmodellen berücksichtigen. Von
zentraler Bedeutung ist daher das Arbeiten mit Brückenannahmen oder
-hypothesen, die Strukturvariablen mit den Variablen der Individualtheorie
(beispielsweise wahrgenommene Nutzungsalternativen, Interessen und Ziele
der Akteure) verbinden müssen. Brückenhypothesen sind gewissermaßen der
Input für eine verhältnismäßig „inhaltsleere“ Handlungstheorie von großer
Allgemeinheit.

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Ökonomik als neue Perspektive für
die Kommunikationswissenschaft

Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl

1 Einleitung
Michael Jäckel hat sich in seinem Beitrag umfassend mit dem Modell des ratio-
nalen Akteurs1 aus der Perspektive des Soziologen auseinandergesetzt und die
Meilensteine einer ökonomischen Perspektive in der Soziologie umrissen. Seine
„Zeitreise“ durch die Geschichte ökonomisch inspirierten Denkens in der
Soziologie beginnt er mit George C. Homans, der Mitte der 60er Jahre des 20.
Jahrhunderts – gegen den damaligen Mainstream in den Gesellschaftswissen-
schaften – für eine stärkere Berücksichtigung des Individuums plädierte: Nicht
allein die Strukturen, sondern auch die Individuen sollten das Interesse der
Soziologen wecken – denn das Handeln der Menschen wird nicht nur durch
gesellschaftliche Normen und Regeln bestimmt, sondern auch durch die urei-
genen und durchaus eigennützigen Ziele der Akteure.
Jäckel schreibt die Renaissance individualistischen bzw. ökonomischen
Denkens in der Soziologie fort, wenn er auf die wichtigen Impulse hinweist,
die, wiederum Homans zufolge, von Anthony Downs, Gary S. Becker, Richard
B. McKenzie und Gordon Tullock sowie von Herbert A. Simon ausgingen:
Diesen Autoren sei es zu verdanken, dass die ökonomische Perspektive in den
Sozialwissenschaften zugleich Erweiterungen als auch Einschränkungen erfah-
ren habe. Insbesondere Downs und Becker haben der Ökonomik neue An-

1 Als ausführliche Darstellung der akteurstheoretischen Grundlagen vgl. Schimank (2000).


Interessierte Leser seien für eine vertiefte Lektüre zur Ökonomik ferner auf die gelungenen
und sehr ansprechend geschriebenen Darstellungen von Homann und Suchanek (2000),
Braun (1999) und Kirchgässner (1991) sowie auf die medienökonomischen Arbeiten von
Heinrich (2001) und Kiefer (2001) verwiesen. Der vorliegende Beitrag basiert auf Auszügen
aus unserem Buch „Der Journalist als Homo oeconomicus“ (Konstanz: UVK 2005).
98 Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl

wendungsbereiche erschlossen, indem sie nachweisen konnten, dass nicht nur


Kaufleute – oder eben, wie Jäckel Esser (1991) zitiert, „Buchhalter“ – bemüht
sind, Gewinne und Verluste einer Handlung möglichst schon im Vorhinein
abzuschätzen, sondern auch Politiker und Wähler, Angehörige einer Familie,
Literaten und Kriminelle: Wobei eben nicht nur „materielle“ Dinge wie Geld,
Dienstleistungen, Immobilien und andere Ressourcen der „Stoff“ sind, mit
dem rationale Akteure Handel treiben, sondern sich auch „Immaterielles“ wie
z.B. Information gegen Aufmerksamkeit tauschen lässt.
Heute wird der ökonomische Ansatz deshalb längst nicht mehr nur in der
Wirtschaftswissenschaft sowie von Soziologen und Politologen diskutiert.
Vielmehr arbeiten inzwischen Forscher in so unterschiedlichen wissenschaftli-
chen Bereichen wie der Religion, der Kunst oder dem Gesundheitswesen mit
der Theorie rationalen Handelns – und gewinnen auf diese Weise aufschluss-
reiche Perspektiven auf ihr Forschungsfeld.2
Zugleich ist, wie Jäckel herausstreicht, Herbert A. Simon eine zentrale Ein-
schränkung für die Weiterentwicklung der ökonomischen Perspektive in den
Sozialwissenschaften zu verdanken – nicht zuletzt auch mit Blick auf die „In-
formations-“ oder „Mediengesellschaft“, mit der sich auch Soziologen zu be-
fassen haben: Simon stellte in seiner wegweisenden Arbeit klar, dass der ratio-
nale Akteur eben nicht der vollständig informierte „Olympier“ ist, der als
Zerrbild von anderen Denkschulen lange und zu Recht verspottet wurde. Der
„Homo oeconomicus“ kann laut Simon niemals vollständig, sondern allenfalls
hinreichend informiert sein, bevor er handelt oder entscheidet.
Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, an dieser Stelle weiter
auf die von Jäckel diskutierten SRSM- bzw. RREEMM-Modelle des rationalen
Akteurs in der Soziologie, auf die Frage nach der Rationalität von Routine- und
Alltagshandeln sowie der Kompatibilität des Rational-Choice-Modells mit
anderen Modellen und Theorien der Soziologie einzugehen. Wichtiger er-
scheint uns Jäckels Resümee, dass sich das ökonomische Modell individuellen
Handelns eben nicht nur zur Erklärung wirtschaftlicher Zusammenhänge eignet,

2 Die Analysen von Ökonomikern beschäftigen sich mit so unterschiedlichen Gebieten wie
der Politik (z.B. Arrow 1951; Buchanan 1962, 1987, 1988; Downs 1957/1968; als aktueller
Überblick: Braun 1999), dem Recht (z.B. Posner 1993; Schäfer-Ott 1986), der Bürokratie
(z.B. Niskanen 1974; Downs 1967), der Kunst (z.B. Frey & Pommerehne 1989), der Litera-
tur (z.B. English 2005), dem Hochschulsektor (z.B. Helmstädter 2004; Albert 2004) dem
Gesundheitswesen (z.B. Herder-Dorneich 1980), Kriminalität und Drogenkonsum (z.B. Be-
cker & Becker 1998; Becker 1982), Umweltschutz (z.B. Bonus 1984), Familien- und Ge-
schlechterbeziehungen (z.B. Becker 1982; Boulding 1973) und religiösen Bindungen (z.B.
Graf 2004; Moore 1994).
Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft 99

sondern auch zu fruchtbaren Antworten auf sozialwissenschaftliche Fragestellun-


gen führt. Dies gilt insbesondere auch, wie wir im Folgenden argumentieren
werden, für die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Es nimmt
Wunder, dass ausgerechnet diese verhältnismäßig „junge“ Disziplin sich lange
Zeit gegen die ökonomische Methode geradezu immunisiert zu haben schien,
deren Renaissance in der Soziologie Jäckel so plausibel beschreibt. „Bringing
the journalists back in“ – so möchte man Homans Diktum abwandeln ange-
sichts einer langen Phase der Dominanz systemtheoretischer Konzepte in der
Journalismusforschung, in der Journalisten, zugespitzt formuliert, zu Rollenträ-
gern degradiert wurden, die den Zwängen des Mediensystems unterworfen
sind, ohne dieses aktiv mitzugestalten. Im Folgenden möchten wir aufzeigen,
wie fruchtbar es auch für Kommunikationswissenschaftler sein kann, mit Jäckel
auf dem Pfad ökonomischen Denkens zu wandeln.

2 „Imperialismus der Ökonomik“?


Mythen und Missverständnisse
Ein Grund für die skeptische Haltung mögen auch in unserem Fach Missver-
ständnisse über das Erkenntnisinteresse der Ökonomik gewesen sein – ist doch
die Rede vom „Imperialismus der Ökonomie“ in Teilen der Sozialwissenschaft
längst zum geflügelten Wort geworden. Nicht selten wird auch der umgangs-
sprachliche Begriff des „Egoisten“ unbedacht mit dem ökonomischen Modell
des „eigennutzmaximierenden“ Akteurs gleichgesetzt. Ein Egoist wirkt in der
Tat unsympathisch, schreibt der Zürcher Ökonom Bruno S. Frey (1990: 6f.) –
und stellt klar:
Diese Bewertung ist jedoch nicht richtig. Eigennütziges Handeln bedeutet [in
der Ökonomik, Anm. d. Verf.], dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass
jeder Mensch dauernd Gutes für seine Mitmenschen tut – das wäre sicher unrea-
listisch – es bedeutet aber auch nicht, dass jeder Mensch nur danach trachtet,
den anderen Böses zuzufügen. [...] Eigennütziges Verhalten zu unterstellen ist
verlässlich; dass die Menschen ihren eigenen Vorteil wahrnehmen, ist in aller Re-
gel zu erwarten. Eigennutz kann unter wechselnden Umweltbedingungen eine
unterschiedliche Form annehmen. Im Kreise der Familie oder von Freunden et-
wa bedeutet Eigennutz auch, dass man sich – aus eigenem Vorteil – um das
Wohlergehen der anderen Mitglieder kümmert. Auf den Nutzen anderer Men-
schen achtet man auch bei regelmäßig wiederkehrenden Beziehungen, etwa zwi-
schen Stammkunden und Verkäufern.

Und so ist es womöglich kein Zufall, dass just in einer Zeit, in der das Erklä-
rungspotenzial der das Fach bislang dominierenden Systemtheorie zunehmend
100 Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl

kritisch hinterfragt wird (vgl. z.B. Löffelholz 2004), ein neues Interesse an der
Theorie rationalen Handelns aufkeimt (vgl. Hamilton 2004; Hosp 2005; Rei-
nemann 2005; Vowe & Wolling 2000). Noch allerdings beklagt Marie-Luise
Kiefer (2001: 193) zu Recht, dass das „Konzept des Akteurs als zielorientierte
Handlungseinheit, als Mikro- und Makroprozesse intendiert oder unintendiert
steuerndes Individuum, [...] so gut wie keine systematische Rolle” in der Publi-
zistik- und Kommunikationswissenschaft spiele, vereinzelte Ansätze in der
politischen Kommunikation einmal ausgenommen.3 Allerdings gilt auch für die
Publizistik- und Kommunikationswissenschaft Dietmar Brauns (1999: 180) auf
die Politikwissenschaft gemünztes Diktum: Dass nämlich
implizit oder explizit immer schon auf Annahmen über das Akteurshandeln zu-
rückgegriffen wird, die dann aber selten klar offen gelegt werden. Häufig erweist
sich dabei, dass man von ganz ähnlichen Annahmen über die Intentionen der
Akteure ausgeht wie die Rational Choice Theorie (nämlich z.B. Maximierung
von Macht), ohne dies aber konsequent weiterzuverfolgen.

Beispiele für die implizite Annahme rationalen Handelns finden sich an ganz
unterschiedlichen Stellen unseres Fachs:
ƒ Der Uses-and-Gratifications-Ansatz basiert auf der Annahme rationaler, nut-
zenmaximierender Rezipienten. „Interessen, Motive und Präferenzen des
Publikums (werden) zum Ausgangspunkt der Erklärung medienbezogenen
Handelns”, fasst Jäckel (2002: 80) zusammen.4
ƒ Die Theorie der Nachrichtenfaktoren (Schulz 1976) enthält ebenfalls starke
ökonomische Bezüge – allein schon dadurch, dass sie Nachrichten, wie
Gütern, einen „Wert” zuspricht. Dieser Wert wiederum bezieht sich eng
auf das vermutete Publikumsinteresse und den unterstellten Publikums-
nutzen; er dient also der Aufmerksamkeits-Maximierung und damit letzt-
lich der Steigerung der Verkaufsauflagen bzw. Einschaltquoten.
ƒ Auch viel diskutierte Medienwirkungen wie Agenda-Setting, Priming und
Framing lassen sich ökonomisch erklären, wenn man mit Römmele (2002:

3 In der sind es bislang insbesondere Forscher im Bereich der politischen Kommunikation,


die Aufmerksamkeit als „Handelsgut” von Journalisten, Politikern und deren PR-Leuten be-
schreiben (vgl. z.B. Jarren & Donges 2002: 153ff.; Pfetsch & Wehmeier 2002: 39; Tenscher
2002: 121, 139; vgl. zum Stichwort „Aufmerksamkeit“ auch Theis-Berglmair 2000).
4 Jäckel (1996: 63ff.) hat zudem die aus der Ökonomik bekannte Annahme des beschränkt
rationalen Verhaltens handelnder Individuen auf die Fernsehnutzung angewandt und Hin-
weise für eingeschränkt rationales Nutzungsverhalten gefunden. Auch Ohr und Schrott
(2001) stützen sich auf die Ökonomik, um Mediennutzungsentscheidungen zu erklären.
Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft 101

20, 32) deren Beitrag zur Senkung der individuellen Informationskosten ra-
tionaler Mediennutzer anspricht: „Die theoretisch unendliche Menge an
Informationen wird von den Medien auf eine aktuelle Agenda reduziert;
komplizierte Sachverhalte werden oftmals vereinfacht dargestellt. [...] Fer-
ner handelt es sich um strukturierte Information, in der eine bevorzugte
Interpretation der Realität angeboten wird.“
ƒ In der PR-Forschung werden laufend neue Methoden entwickelt, um
Kommunikationsleistungen angemessen zu bewerten und so das Wert-
schöpfungs-Potenzial insbesondere von Corporate Communication besser zu
erfassen (vgl. Pfannenberg & Zerfass 2005). Ökonomisch betrachtet, geht
es hier um die Frage nach Kosten und Nutzen des „Rent-Seeking“, des
Strebens nach einer Aufmerksamkeitsrente für die PR-treibenden Organi-
sationen und Individuen (vgl. Hosp 2005).
ƒ Die Theorie der Schweigespirale (Noelle-Neumann 1982; van Aaken 1992:
79ff.) basiert ebenfalls auf Annahmen der Ökonomik: Menschen suchen
nicht nur auf rationale Weise Information, sondern verwerten diese auch
rational im Blick auf ihre Umwelt weiter: Wer mit seinen Ansichten auf
positive Verstärkung (= Belohnung) im Umfeld hoffen darf, geht aus der
Deckung. Wer dagegen mit Druck und Ablehnung (= Sanktionen) im Be-
kannten- und Freundeskreis rechnen muss, behält seine Meinung für sich
und schweigt in der Öffentlichkeit. So verstärken die Medien einerseits
Stimmungen in der Bevölkerung, andererseits bleiben womöglich „schwei-
gende Mehrheiten” unter der Wahrnehmungsschwelle in der Öffentlich-
keit.
Gerade in der Journalismusforschung sind lange Zeit anstelle von Interessen
(-konstellationen) die Rollen thematisiert worden, die Journalisten insbesondere
in demokratischen Gesellschaften übernehmen wollen – und übernehmen
sollen. „Neutraler Informationsvermittler“, „Analytiker komplexer Sachverhal-
te“ oder „Anwalt der Schwachen“ lauten die auch in der internationalen Jour-
nalismusforschung oft genannten Rollenselbstbilder (vgl. Weaver et al. 2006;
Marr et al. 2001; Weischenberg, Scholl & Malik 2006).
Andererseits wird gerade in unserem Fach seit einigen Jahren immer öfter
die „Ökonomisierung“ des Journalismus in seinen (negativen) Auswirkungen
auf die Qualität der massenmedial vermittelten Informationen beschrieben.
Höchste Zeit also für eine ökonomische Analyse nicht nur der Medienunter-
nehmen, sondern auch der Medienmacher! Denn für diese ergeben sich selbst
in straff organisierten, „durchökonomisierten“ Medienkonzernen immer wie-
der Handlungsspielräume (vgl. Hamilton 2004: 25), und diese sind in der redak-
102 Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl

tionellen Praxis – allen Routinen und „Systemzwängen“ zum Trotz – beträcht-


lich:
Die Auswahl, Auswertung, Verarbeitung und Weitergabe von Informationen er-
öffnet Journalisten die Möglichkeit, Einfluss auf den Inhalt ihrer Berichterstat-
tung zu nehmen. Bei der Erstellung von Berichten können Fakten – bewusst
oder unbewusst – entstellt wiedergegeben werden, unberücksichtigt bleiben oder
erfunden werden. (von Rosen & Gerke 2001: 62)

Wie aber nutzen Journalisten ihre Entscheidungsfreiheit? Die Ökonomik geht


davon aus, dass rationale Akteure Handlungsspielräume auf der Basis individu-
eller Vorteils-/Nachteils-Kalkulationen ausfüllen (vgl. Homann & Suchanek
2000: 439). Inwiefern haben folglich auch die Journalisten ihren Anteil am
Prozess der Ökonomisierung – weil sie als rationale Akteure und damit eben-
falls ökonomisch handeln? Zu selten wurde diese Frage bislang gestellt, zu oft
der Beruf des Journalismus von Mythen umgeben, und die Publizistik- und
Kommunikationswissenschaft wirkte mitunter tatkräftig an der Idealisierung
eines Berufsstands mit, obwohl es doch ihre Aufgabe wäre – frei nach Max
Weber – durch nüchterne Analyse den Gegenstand ihrer Beobachtung zu ent-
zaubern.
Mythen und Missverständnisse können also erklären helfen, warum das Pa-
radigma des rationalen Akteurs erst jetzt Einzug in das Fach hält. Ein weiterer
wichtiger Aspekt ist jedoch, dass es in der Tat einen „missing link“ zwischen
Ökonomik und Kommunikationswissenschaft gab – denn wie sollte man Jour-
nalisten in getreuer Auslegung der Ökonomik als „profitmaximierende“ Akteu-
re beschreiben, wenn doch die Mehrzahl der Journalisten im Vergleich zu aka-
demischen Berufen nachweislich schlecht bezahlt wird? Hier hat Georg Franck
eine entscheidende Debatte erneut angestoßen: Er hat in seiner „Ökonomie
der Aufmerksamkeit“ dargelegt, dass in der Informationsgesellschaft Aufmerk-
samkeit – neben Zeit und Geld – zur knappen Ressource geworden ist (Franck
1998: 50).5 Gehandelt werden in der „Mediengesellschaft” also nicht nur Wa-
ren oder Dienstleistungen gegen Geld, sondern auch – beispielsweise bei der
Interaktion von Journalist und Quelle – Informationen gegen Aufmerksam-

5 In den USA diskutieren Ökonomiker schon seit einiger Zeit über Aufmerksamkeit als
knappe Ressource (vgl. Simon 1983; Olson 1982, 1985; Downs 1957, 1968). Auch in der
Politikwissenschaft ist der Tauschcharakter von Aufmerksamkeit thematisiert worden.
Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft 103

keit6. Und so lässt sich der Journalist in der Tat als „Homo oeconomicus“
beschreiben: Wenn wir ihm unterstellen, dass er nicht an erster Stelle nach
höherem Einkommen strebt. Viel wichtigere Anreize als Geld sind für Journa-
listen offenbar öffentliche Aufmerksamkeit – und damit einhergehend Selbst-
verwirklichung, Prestigegewinn, soziales Ansehen, leichterer Zugang zu exklu-
siven Quellen und auch Macht. Erst mittelbar kann ein hohes Aufmerksam-
keitseinkommen möglicherweise auch zur Einkommenssteigerung führen.7
Ein Gehaltsbestandteil bei Journalisten ist schließlich die „Aufmerksam-
keitsdividende”: Der privilegierte Zugang zu Eliten, zu gesellschaftlichen Er-
eignissen von Rang und zur Öffentlichkeit, die Chance, sich gedruckt zu sehen,
und die damit einhergehende Selbstverwirklichung werden von den Verlegern
als „geldwerte” Vorteile eingestuft. Journalisten müssen sie meist mit Gehalts-
verzicht „erkaufen”. Da Journalisten beim Berufseinstieg in der Regel bereits
wissen, dass mit einer akademischen Ausbildung anderswo höhere Einkommen
zu erzielen sind, dürften materielle Interessen in ihrem Kalkül also keine her-
ausragende Rolle spielen. Der Beruf wird – zumindest anfangs – oft als Beru-
fung gesehen. Erst im Verlauf eines journalistischen Berufslebens verschieben
sich die Präferenzen: Das Einkommen wird wichtiger – sei es wegen familiärer
Verpflichtungen und gestiegener Ansprüche, sei es, weil der Beruf weniger
idealistisch und damit nicht mehr als „Berufung” eingeschätzt wird; viele Jour-
nalisten wechseln in die Öffentlichkeitsarbeit über (vgl. z.B. Marr et al. 2001:
97).

6 Selbstverständlich ist Günther Bentele Recht zu geben, wenn dieser moniert, Kommunika-
tionsprozesse würden verkürzt dargestellt, reduzierte man sie auf „Tauschakte” (vgl. Dis-
kussion im Rahmen eines Vortrags bei der DGPuK-Jahrestagung 2004 in Erfurt). Gleich-
wohl halten wir diese bewusste Reduktion für eine ökonomische Analyse journalistischer
Interaktionen für sinnvoll.
7 Warum Journalisten sich mit vergleichsweise niedrigen Einkommen zufrieden geben müs-
sen, haben Becker et al. (1996) – implizit erkennbar ökonomisch – mit dem Überangebot an
Arbeitskräften erklärt: Die jährliche Zahl der Absolventen kommunikationswissenschaftli-
cher Studiengänge bzw. Journalism Schools übersteigt in Amerika bei weitem die Ein-
stiegsmöglichkeiten in den Beruf. Besonders viele Nachwuchs-Journalisten drängten dort
zudem in den Fernsehbereich, wo infolgedessen – auch im Vergleich zu den Zeitungen –
noch niedrigere Gehälter gezahlt würden. Eine ähnliche Situation ergibt sich für den euro-
päischen Raum, wo das Überangebot an journalistischen Arbeitskräften seit der Medienkri-
se 2001/2002 noch zugenommen hat und die Preise weiter drückt. Umgekehrt konnte man
andererseits beobachten, wie die Gehälter für Wirtschaftsjournalisten im Gefolge des Bör-
senbooms zeitweilig explodierten, da die vielen neu gegründeten Wirtschaftstitel kaum qua-
lifizierte Finanzjournalisten finden konnten (vgl. Klusmann 2002).
104 Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl

Abbildung 1: Homo Oeconomicus und Rahmenbedingungen

Knappe Ressourcen
(Zeit, Geld, Information, …)

Ziel:
Homo
Präferenzen Eigennutz-
oeconomicus
Maximierung
(materiell/immateriell)

Restriktionen
(Normen, Regeln, …)

Unter der Maßgabe, dass Journalisten primär an der Maximierung von Auf-
merksamkeit interessiert sind, können wir nun auch auf den Journalismus das
Forschungsprogramm der Ökonomik anwenden, welches Braun (1999: 39f.)
wie folgt beschreibt: „Jeder Mensch, egal in welchem Bereich er handelt, wird
in Analogie zum Wirtschaftssubjekt konstruiert. Bei jedem (materiellen oder
immateriellen) Gut, was man also anstrebt, wird die Kalkulation wie eine Preis-
berechnung behandelt, die der Akteur in seinem Inneren vornimmt.“

3 Mikroebene: Der Journalist als „Homo oeconomicus“


im Laborversuch
Lassen wir nun den Worten Taten folgen – und die heuristische Kraft der
Ökonomik für die Journalismusforschung auf der Mikroebene erproben. Mi-
chael Jäckel hat die Kernaussagen des handlungstheoretischen Paradigmas
bereits dargelegt.8 Daran anknüpfend, spielen wir im Folgenden beispielhaft

8 In aller Kürze seien sie noch einmal zusammengefasst: Der rationale Akteur („Homo oeco-
nomicus“) sucht in Interaktionen seinen eigenen Vorteil zu maximieren. Dabei handelt er
unter Bedingungen der Ressourcenknappheit. Er wird von Präferenzen geleitet, wenn er ei-
ne Entscheidung trifft. Zugleich begrenzen Restriktionen die Handlungsmöglichkeiten des
Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft 105

einige alltägliche Situationen durch, in die Journalisten bei ihrer Arbeit geraten
könnten – und verweisen dabei auf die Eckpfeiler des ökonomischen Analyse-
ansatzes.

Abbildung 2: Homo oeconomicus und Anreize

Materielle Anreize Soziale Anreize

Homo
oeconomicus

Sonstige
zweckbestimmte Anreize

Der „eigennützige” Akteur, von dem die Ökonomik ausgeht, befindet sich
stets „in einer Situation der Knappheit, so dass er nicht alle Bedürfnisse (gleich-
zeitig) befriedigen kann, sondern sich jeweils zwischen mehreren Möglichkeiten
entscheiden muss.” (Kirchgässner 1991: 12f.) Stellen wir uns also vor, dass ein
Journalist für eine Tageszeitung eine aufwendige Reportage über Korruption in
Deutschland recherchieren möchte. Gleichzeitig ist er jedoch in das Tagesge-
schäft seines Blatts eingebunden, bei dem er als Redakteur die Innenpolitik-
Seiten betreut: Er muss an Redaktionskonferenzen zur Planung der Seiten
teilnehmen, Agenturmaterial sichten, Kollegen auf Termine schicken und Ma-
nuskripte bearbeiten. Der Journalist befindet sich damit in einer Situation der
Knappheit, was seine Zeit und Arbeitskraft angeht. Er muss sich also gut über-
legen, wie er seine Ressourcen am besten zu seinem Vorteil – und zum Nutzen
der Redaktion – einsetzen kann. Zwei Handlungsalternativen muss der rationale
Journalist folglich gegeneinander abwägen:

Akteurs. Aufgrund beschränkter Fähigkeiten zur Aufnahme und Verarbeitung von Informa-
tionen kann der rationale Akteur jedoch stets allenfalls hinreichend informiert sind („boun-
ded rationality“) und in seinen Interaktionen zudem allenfalls befriedigende, jedoch keine
optimalen Verhandlungsergebnisse erzielen („satisficing“ statt „optimizing“).
106 Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl

ƒ Option A: Er verzichtet auf die Recherche und erfüllt seine Pflichtaufga-


ben gut.
ƒ Option B: Er wagt sich als Kür an die Reportage und vernachlässigt seine
Hauptaufgaben.
Angesichts seiner begrenzten Ressourcen macht sich der Journalist bewusst: Es
wäre ein Kraftakt, neben der täglichen Redaktionsarbeit eine große Recherche
über Korruption zu beginnen. Dennoch entscheidet er sich, die aufwendige
Reportage in Angriff zu nehmen – und notfalls in nächster Zeit etwas weniger
Sorgfalt auf die redaktionelle Gestaltung „seiner” Seiten zu verwenden. Wa-
rum? Ein Blick auf die Rahmenbedingungen in der Redaktion klärt diese Frage: An
der Spitze der Zeitung hat gerade ein Wechsel stattgefunden, und der Journalist
möchte sich gern beim neuen Chefredakteur einen Namen machen – zumal
dieser angeblich schon bald den lange vakanten Posten des Chefreporters neu
besetzen will. Der Journalist hat sich also bei der Auswahl zwischen den beiden
Alternativen für die Option entschieden, „die seinen Präferenzen am ehesten
entspricht” und „von der er sich den höchsten ‚Netto-Nutzen’” erhofft
(Kirchgässner 1991: 14).
Menschliches Verhalten wird somit in diesem Modell als rationale Auswahl aus
den dem Individuum zur Verfügung stehenden Alternativen oder auch, um in
der Sprache der Ökonomie zu reden, als „Nutzenmaximierung unter Nebenbe-
dingungen der Unsicherheit“ interpretiert. (ebd.)

Doch hat der Journalist überhaupt eine Chance auf diesen begehrten Posten?
Soll die Stelle des Chefreporters noch in diesem oder erst im nächsten Jahr
besetzt werden? Ist an der Korruptionsgeschichte wirklich so viel „dran”, dass
der Aufwand lohnt? Und schätzt der neue Chefredakteur es am Ende über-
haupt, wenn Routineaufgaben vernachlässigt werden, um prestigeträchtige
Einzelprojekte zu verwirklichen? All diese Fragen stellt sich der Journalist –
und muss sich daher vor dem Schleier der Ungewissheit entscheiden, ohne die
Antworten zu kennen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird der Journalist bei
seiner Abwägung von Handlungsalternativen nur eingeschränkt rational vorgehen
können: Wie bereits erwähnt, nehmen Ökonomiker an, dass Akteure sich bei
meist unvollständiger Information nur begrenzt rational verhalten können (vgl.
Simon 1983; Downs 1968: 202). Für alle rationalen Akteure besteht in Ent-
scheidungssituationen nämlich insofern ein „Informationsproblem”, als die
Beschaffung und Verarbeitung vollständiger Information zu einer Entschei-
dungssituation in der Regel mit unverhältnismäßig hohen „Kosten” verbunden
ist. Statt nach der optimalen Tauschmöglichkeit weiterzusuchen, wird der ein-
Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft 107

geschränkt rationale Akteur also die Suche abbrechen, sobald ein Tausch ein
zufriedenstellendes Ergebnis verheißt.
Rationales Handeln wird aus ökonomischer Sicht weiterhin durch die Präfe-
renzen der Akteure gesteuert. Damit gemeint sind die Interessen, Motive und
Ziele der Akteure, die ihr Verhalten bestimmen. Der Journalist in unserem
Beispiel hat gleich mehrere Beweggründe, die Reportage über Korruption zu
beginnen: Er wird von sozialen Anreizen geleitet – denn er möchte sich mit
seinem Beitrag in der eigenen Redaktion als hartnäckiger Rechercheur profilie-
ren, der für die demnächst freiwerdende Stelle des Chefreporters der richtige
Mann ist. Er wird von materiellen Motiven getrieben – denn der begehrenswer-
te Job wäre mit einem Gehaltszuwachs verbunden. Und er wird von „zweckbe-
stimmten”, also sich aus den Zielen der Organisation ergebenden Anreizen
geleitet – weil er zum Renommee der Zeitung beitragen und sich zugleich im
Kampf gegen Korruption engagieren möchte: Je nach Wertorientierung kön-
nen es also sehr komplexe Zielsysteme sein, an denen der einzelne sein Han-
deln ausrichtet. „Die Nutzenfunktion des [modernen] Homo oeconomicus [ist]
prinzipiell offen”, so Kirchgässner (1997: 24). Rationales Handeln zielt auf
Effektivität und Effizienz des Mitteleinsatzes, jedoch nicht zwingend auf enge
Zielvorgaben wie den größtmöglichen Gewinn oder den persönlichen finan-
ziellen Vorteil. In der ökonomischen Analyse wird der Begriff rational niemals
auf die Ziele, sondern stets nur auf die Mittel eines Handlungsträgers angewen-
det (Downs 1968: 5).
Der geringstmögliche Aufwand, den der Journalist in diesem Beispiel
betreiben muss, um auf der Karriereleiter ein Stück voranzukommen, wäre eine
große Korruptionsreportage bei gleichzeitiger Vernachlässigung seiner Routi-
neaufgaben. Das hat er gleich erkannt, als er den Jahresbericht des Netzwerks
gegen Korruption „Transparency International” in die Hände bekam. Ergo hat
er den ebenfalls auf seinem Schreibtisch liegenden Tätigkeitsbericht des Minis-
teriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit beiseite gelegt, denn ein Beitrag
über die deutsche Entwicklungshilfe im Ausland verspräche vergleichsweise
wenig Aussicht auf Aufmerksamkeit. Der Journalist handelt also bei der Sich-
tung des eingehenden Materials „nicht zufällig”, sondern er reagiert „in syste-
matischer und damit vorhersehbarer Weise” (Frey 1990: 4). Er verhält sich
rational, indem er das Thema Korruption aufnimmt und das Thema Entwick-
lungshilfe liegen lässt, weil ihm die eine Handlungsmöglichkeit „vorteilhafter”
und die andere „ungünstiger” erscheint.
Der Journalist geht also mit der Absicht in die nächste Redaktionskonfe-
renz, die Reportage über Korruption in Deutschland vorzuschlagen. Doch dort
108 Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl

stellt sich heraus: Er ist nicht der Einzige, der der neuen Führung auffallen
möchte. Unerwartet schlägt seine Kollegin im Politikressort in der Redaktions-
konferenz eine große Geschichte über Misswirtschaft im Verteidigungsministe-
rium vor. Offenbar befindet sich der Journalist bereits in einem Wettbewerb um
die Gunst des Chefredakteurs und die Stelle des Chefreporters. In der
Ökonomik wird Wettbewerb als Konstellation mit mindestens drei Akteuren
bezeichnet (vgl. Homann & Suchanek 2000: 168, 249). Im hier behandelten
Fall wären das der Chefredakteur, der demnächst die Stelle des Chefreporters
besetzt, sowie der Journalist und seine Kollegin, die um die Stelle konkurrieren.
Doch nicht genug, dass bereits eine Konkurrenz um die Aufmerksamkeit
des neuen Chefs entbrannt ist: Kaum, dass der Journalist für sein Thema Kor-
ruption geworben hat, macht der Sportchef das Platzproblem geltend: Dem-
nächst beginnen die Olympischen Spiele, für die längst tägliche Extra-Seiten
eingeplant sind. Der Chef vom Dienst spricht die Kostenfrage an, denn das
Redaktionsbudget ist für dieses Quartal so gut wie ausgeschöpft, und es gibt
kaum noch Mittel für Reisekosten und Vertretungslösungen. Der Journalist
kann also keine Vertretung beantragen und auch nicht sicher mit redaktio-
nellem Platz für seine Reportage rechnen. Ein Ökonomiker würde konstatie-
ren: Die Möglichkeiten des Journalisten, seine Recherche zu realisieren, sind
durch eine Reihe von Restriktionen eingeschränkt, welche die Entscheidungs-
Optionen des Individuums begrenzen. „[I]nnerhalb dieses Handlungsspiel-
raums liegen die einzelnen Handlungsmöglichkeiten, die ihm zur Verfügung
stehen und aus denen es auswählen muss.” (Kirchgässner 1991: 13)
Während der Journalist nach der unerfreulichen Redaktionskonferenz noch
über weitere Handlungsoptionen nachdenkt, tritt seine Kollegin an den
Schreibtisch und bietet ihm einen „Deal” an: Wenn er sie nächste Woche beim
„Seitenbauen” vertritt, so dass sie in Ruhe ihre Ministeriums-Geschichte re-
cherchieren kann, wird sie übernächste Woche für ihn einspringen, damit er
Zeit für seine Korruptions-Reportage hat. Eine gute Idee, denkt der Journalist
– und hält dann doch inne: Was, wenn die Kollegin eine Woche eher mit ihrer
Geschichte herauskommt und damit schon eine „Duftmarke” bei der neuen
Chefredaktion setzt, während er noch an seiner Reportage arbeitet? Und was,
wenn sie ihm zwar dieses Angebot macht, ihre Zusage auf Vertretung aber
zurückzieht, sobald ihr eigenes Stück geschrieben ist?
Unser Redakteur befindet sich angesichts des Kooperations-Angebots in
einer verzwickten Situation, die Ökonomiker als Dilemma beschreiben würden.
Dilemmata sind dadurch gekennzeichnet, dass sowohl gemeinsame als auch
konfligierende Interessen von mindestens zwei Akteuren im Spiel sind und das
Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft 109

Resultat der Interaktion davon abhängt, wie die Beteiligten zusammenwirken


(Interdependenz). Soziale Interaktionen werden in der Ökonomik als Tauschhan-
del zwischen zwei oder mehr Akteuren interpretiert (vgl. Kirchgässner 1991: 8):
Tausch ermöglicht eine Ausweitung von Handlungsmöglichkeiten. Ressourcen,
über die ein anderer verfügt, können von einem selbst genutzt werden unter der
Bedingung, dass man den anderen – durch einen Tausch – dafür kompensiert.
[...] Der Tausch setzt keine gemeinsamen Ziele der Tauschpartner voraus. Ge-
meinsam ist nur das Interesse, das Tauschgeschäft zustande kommen zu lassen
[...]. (Homann & Suchanek 2000: 145, 150)

Bei jedem Tausch, also bei jeder Interaktion, liegen zugleich gemeinsame und
konfligierende Interessen vor, führen Homann & Suchanek (2000: 8) weiter
aus. Die gemeinsamen Interessen bestehen demnach in den Vorteilen, die jeder
der am Tauschhandel beteiligten Akteure aus der Interaktion zieht – Ökono-
miker bezeichnen diese als „Kooperations-“ oder „Tauschgewinne“ („gains from
trade“). „Die konfligierenden Interessen betreffen die Aufteilung der Koopera-
tionsgewinne.” (ebd.) Gebräuchlichstes Tauschmittel ist Geld, doch gerade im
Fall des Journalismus werden häufig immaterielle Güter wie „Informationen”
gegen „Aufmerksamkeit” getauscht.
Sowohl der Journalist als auch seine Kollegin haben ein Interesse an gegen-
seitiger Entlastung von Routineaufgaben. Ihre Interessen konfligieren aber
insoweit, als beide um den Posten des Chefreporters konkurrieren. Zudem
kennt der Journalist die Kollegin nicht gut genug, um halbwegs verlässliche
Annahmen über ihr zu erwartendes Verhalten bilden zu können. Ökonomiker
warnen: Interaktionen können aufgrund von Anreiz- oder Informationsproblemen
scheitern (vgl. Homann & Suchanek 2000: 8). Der Journalist sucht daher Rat
und bespricht sich beim Mittagessen mit einem älteren Redakteur, der schon
mehrfach mit der betreffenden Kollegin zusammengearbeitet hat. Dieser ist der
Ansicht, sie sei nicht sehr verlässlich. Beispielsweise habe sie letztes Jahr zuge-
sagt, ihm am Wahltag für seine Reportage O-Töne aus den Parteizentralen zu
besorgen. Dann aber habe sie aus den Zitaten, die sie gesammelt hatte, kurzer-
hand selbst eine witzige Glosse gemacht und dem Chefredakteur angeboten –
der gleich zugegriffen habe, während er selbst nun mit einem nur halbfertigen
Beitrag dastand. Offenbar war es der Kollegin also wichtiger, bei der Redakti-
onsleitung zu glänzen, als die Abmachung einzuhalten: Ihr Interesse, auf sich
aufmerksam zu machen, war größer als der Wunsch, sich die Kooperationsbe-
reitschaft des Kollegen zu erhalten und gemeinsam eine gelungene Reportage
über den Wahltag zu erstellen.
110 Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl

Die Zweifel des Journalisten sind durch das Gespräch mit dem älteren Kol-
legen gewachsen: Was geschieht, wenn er seinen Teil der Abmachung erfüllt
und die Kollegin entlastet – sie aber in der Folgewoche „unvorhersehbare neue
Termine” vorschützt und ihn auf seinen redaktionellen Pflichten sitzen lässt,
statt ihn, wie vereinbart, für seine Korruptions-Reportage zu entlasten? Öko-
nomiker würden sagen, dass in der hier gegebenen Situation die Gefahr des
Defektierens besteht, d.h. der Interaktionspartner bricht eine Verabredung, um
seinen eigenen Vorteil zu realisieren.9 Denn zum einen kann der einzelne Ak-
teur die Befürchtung haben, dass er übervorteilt wird; zum anderen kann es –
spiegelbildlich dazu – sein, dass er selbst einen Anreiz hat, einen oder mehrere
Interaktionspartner „auszubeuten.” Zu beachten ist hier insbesondere der für
Interaktionssituationen charakteristische Umstand, dass das erwartete Verhal-
ten des anderen für das eigene Verhalten eine zentrale Rolle spielt: Bereits die
Vermutung, man könnte vom anderen übervorteilt werden, wenn man sich
kooperativ verhält, kann dazu führen, dass der eigene Beitrag zur Realisierung
des gemeinsamen Projekts nicht geleistet wird; ein solches Verhalten wird auch
als „präventive Gegenausbeutung” bezeichnet (vgl. Homann & Suchanek 2000:
35f.).
Tatsächlich scheint dem Journalisten diese Gefahr nach dem Gespräch mit
dem Redakteur in der Mittagspause noch größer. Nach einigem Überlegen
schlägt er das Angebot seiner Kollegin aus. „Von der lasse ich mich doch nicht
über den Tisch ziehen”, denkt er, als er sich auf den Weg zu ihr macht, um den
„Deal” abzusagen. In die Sprache der Ökonomik übersetzt würde man seine
Sorge so formulieren: „Wer im Sinne des gemeinsamen Interesses vorleistet,
setzt sich der Ausbeutung aus.” Doch die Folge ist: Nun haben weder er noch
seine Kollegin genug Zeit, ihre Reportagen zu machen – keiner der beiden
realisiert mögliche „Kooperationsgewinne”.
Aufgrund der unterschiedlichen Anreiz- und Informationslage, und da der Ak-
teur sich niemals vollständig sicher sein kann, wie sein Interaktionspartner han-
deln wird, hat dies zur Folge, das mögliche Kooperationsgewinne nicht erzielt wer-
den – weil Akteure präventiv defektieren, um sich vor Ausbeutung zu schützen.
(Homann & Suchanek 2000: 39f., Hervorhebung im Original)

Wir haben diese Überlegungen an anderer Stelle (Fengler & Ruß-Mohl 2005)
weiter ausgeführt. Bereits jetzt sollte jedoch modellhaft deutlich geworden sein:

9 Wobei der „Vertragsbruch” für den Akteur mit hohen „psychischen Kosten” der kogniti-
ven Dissonanzen verbunden ist, „die entstehen, wenn der Spieler einem freundlich-
intendierten Akt unfreundlich entgegnet.” (Ockenfels 1999: 21)
Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft 111

Das ökonomische Forschungsprogramm „funktioniert“ auch dann, wenn man


es auf journalistische Fragestellungen bzw. redaktionelle Entscheidungsprozes-
se anwendet.

4 Makroebene: „Rudeljournalismus“ als Beispiel für negative


externe Effekte
„Im Zentrum steht der Mensch”, beschreibt Frey (1990: 2) programmatisch
das Gedankengebäude der Ökonomik, das wir nun am Beispiel eines Politikre-
dakteurs in wichtigen Grundzügen durchgespielt haben.10 „Sein Handeln wird
durch seine Wünsche und die ihm gesetzten Einschränkungen bestimmt.“
Doch die Ökonomik will mehr als nur individuelles Verhalten erklären.
„Das auf der Ebene der Gesellschaft beobachtbare Geschehen wird auf das
Handeln von Personen zurückgeführt (methodologischer Individualismus),“
führt Frey weiter aus (ebd.: 4). Zu Recht hat Michael Jäckel in seinem Beitrag
darauf aufmerksam gemacht, dass das Erkenntnisinteresse des methodologi-
schen Individualismus letztlich auf der Makro-Ebene liegt. Und so muss auch
die zentrale Frage einer Ökonomik des Journalismus lauten: Wie wirkt sich
nutzenmaximierendes Verhalten vieler einzelner Journalisten in seiner Aggregati-
on auf der Makroebene auf den Journalismus aus? Denn erst aus vielen eigenin-
teressiert-intentionalen Entscheidungen einzelner Akteure ergeben sich auf
Ebene der Gesellschaft eben jene oftmals nicht-intendierten Resultate (so ge-
nannte „externe Effekte“), die für (Kommunikations-)Wissenschaftler von
Interesse sind. Genau damit, also mit den aggregierten Folgen individuellen
Handelns auf der Makro-Ebene, befasst sich die Ökonomik (vgl. Becker 1993:
403).
Wenn der methodologische Individualismus auch in der Journalismusfor-
schung den einzelnen Akteur als Entscheidungsträger in den Mittelpunkt rückt,
darf dies jedoch nicht mit normativen Ansätzen wie beispielsweise dem Emil
Dovifats zur „Publizistischen Persönlichkeit” oder Herrmann Boventers zur
„Individualethik” verwechselt werden: Die Ökonomik interessiert sich letztlich

10 Homann & Suchanek (2000: 22) ergänzen: „Dabei werden unter ‚Akteuren’ [...] letztlich
immer natürliche Personen verstanden. Im übertragenen Sinn kann man für ganz bestimm-
te Fragestellungen unter ‚Akteuren’ aber auch kollektive Akteure wie Haushalte, Unterneh-
men und sogar Staaten verstehen. Die Theorie fokussiert hier immer wieder auf einen ‚Ak-
teur’, der seine Interessen verfolgt, und sein Verhalten wird analog dem Verhalten einer na-
türlichen Person modelliert.”
112 Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl

nicht für das Handeln einzelner Journalisten, sondern für das aggregierte Ergeb-
nis des Verhaltens vieler, die zu ihrem eigenen Vorteil rational handeln. Ein
gutes Beispiel ist der von Beobachtern zunehmend kritisierte „Rudeljournalis-
mus” (Theo Sommer, Die Zeit) oder „Herdentrieb” (Hartmann von der Tann,
ARD). Rudelverhalten im Journalismus lässt sich ökonomisch erklären und ist
ein weiterer Beleg für das rationale Kalkül, das sich hinter vielen redaktionellen
Entscheidungen verbirgt.
Nehmen wir den vielfach diskutierten CDU-Spendenskandal 1999/2000 als
Beispiel. Auf die Medienagenda gebracht wurde das Thema insbesondere von
Hans Leyendecker von der Süddeutschen Zeitung: Er recherchierte investigativ –
mit einem hohen Einsatz an Ressourcen wie Zeit und Arbeitskraft und mit
Hilfe seines Netzwerks gut informierter Quellen (vgl. Ludwig 2002: 144). Für
seine Redaktion war der Einsatz risikobehaftet – denn eine gründliche und
ergebnisoffene Recherche hätte ja auch zu dem Schluss kommen können, dass
Leyendecker auf der falschen Fährte war und dem ehemaligen Bundeskanzler
Helmut Kohl und den CDU-Funktionären kein Fehlverhalten nachzuweisen
sein würde.
Als Leyendecker dann schließlich seine Rechercheergebnisse publizierte,
profitierten umgehend auch andere Journalisten und Medien „kostenlos” von
Leyendeckers Vorleistung – indem sie die Recherche-Ergebnisse des „Frontrun-
ners” zitierten. Ihre Eigenleistung bestand allenfalls darin, die Geschichte weiter
zu drehen. Leyendeckers Exklusiv-Nachricht wurde zum öffentlichen Gut:
Offensichtlich hat der CDU-Spendenskandal unzähligen Berufskollegen die
Möglichkeit geboten, sich als „free-rider” zu verhalten und von den Vorleistun-
gen des SZ-Kollegen zu profitieren.
Ob der Journalist als „Homo oeconomicus” eher seine eigenen individuel-
len Interessen, die Interessen der Redaktion oder sogar seines Berufsstands
insgesamt vertritt, hängt nach Mancur Olsons „Theorie des kollektiven Han-
delns” (1968) entscheidend von der jeweiligen Gruppengröße in der konkreten
Handlungssituation ab. Zum „Trittbrettfahrer”, der von den Vorleistungen
anderer profitiert, werden auch Journalisten mit zunehmender Wahrscheinlich-
keit, je größer die Gruppe ist, der sie angehören und je weniger der eigene
Beitrag zum Wohl der Gruppe – oder aber die eigene Bereicherung auf Kosten
der Gruppe – den anderen Gruppenmitgliedern auffallen dürfte (vgl. auch
Braun 1999: 51). In Kleingruppen werden sich auch Journalisten eher für das
Gruppeninteresse einsetzen, weil dort ihr Handeln für das Erreichen des
Gruppeninteresses wahrnehmbar und wichtig ist.
Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft 113

Hans Mathias Kepplinger (2001: 47) hat übrigens empirisch nachweisen


können, dass sich die eigentlichen journalistischen Rechercheleistungen bei der
Aufdeckung von Skandalen regelmäßig auf eine kleine Gruppe von Journalis-
ten beschränken, die meist für Elite-Medien, also national verbreitete Printme-
dien oder die politischen Fernsehmagazine insbesondere der öffentlich-
rechtlichen Anstalten arbeiten. Die Mehrheit der Journalisten hingegen verhält
sich „ressourcensparend” – aus Eigennutz und/oder aus Mangel an Zeit, Ar-
beitskraft und Informanten. Sie überlassen den Leitmedien investigative Re-
cherchen und damit auch die Aufdeckung von Skandalen. Anschließend profi-
tieren sie jedoch von deren Arbeit und publizieren groß aufgemacht die frem-
den Rechercheergebnisse. Die negative Folge dieses Kalküls, also die bereits
angesprochenen „externen Effekte“, beschreibt Hamilton (2004: 27, 23):
The fixed cost of learning also tips the balance in story selection toward continu-
ing coverage of a given event rather than undertaking new investigations. This
prolongs the life of stories, since journalists may find it cheaper to write a ›reac-
tion‹ story that follows up on a topic they understand from prior reporting. [...]
In addition, journalists may face greater penalties within their news organizations
for going against a perceived wisdom in coverage the greater the consensus is
among journalists covering a story. [...] Herding can also lead to errors of fact
and interpretation, however. If the early reporters investigating a story get it
wrong, herding by later reporters can magnify the problem.

Aus diesem „free-riding” resultieren auch die bekannten Exzesse der Medienbe-
richterstattung, wie etwa in der Clinton-Lewinsky-Affäre, aber auch bei der
Berichterstattung über Themen wie BSE, Anthrax und SARS: Weil bestimmte
Informationen zu öffentlichen Gütern geworden sind und damit nichts oder –
infolge von Zusatzrecherchen – nur wenig „kosten”, stürzen sich alle Medien
auf dasselbe Thema und „lutschen es aus”. Es kommt zur Übernutzung – ein
Phänomen, das Ökonomiker wiederum seit langem als „die Tragik der Allmen-
de” kennen (Matzner 1982; Sutter 2001).11

11 Unter der „Tragik der Allmende” versteht man in der Volkswirtschaftslehre die Beobach-
tung, dass Menschen weniger leisten, wenn sie kollektiv tätig sind, der individuelle Ertrag
jedoch nicht kontrolliert wird. Dieses Problem tritt in Allmenden auf. Die Allmende (auch:
Allmande, wahrscheinlich von mittelhochdeutsch „was allen gemein ist”) ist ein im Besitz
einer Dorfgemeinschaft befindliches Grundeigentum. Weil es allen Bauern zur Verfügung
steht, besteht die Gefahr, dass auch alle ihr Vieh dorthin treiben und so die Fläche über-
nutzt wird – mit dem Endergebnis, dass dort kein Futter mehr wächst und somit die All-
mende niemandem mehr nützt. Die Allmende ist jener Teil des Gemeindevermögens, der
nicht unmittelbar im Interesse der ganzen Gemeinde zur Bestreitung von Ausgaben ver-
wandt wird, sondern an dem alle Gemeindemitglieder das Recht zur Nutzung haben. In
114 Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl

Für den Journalismus prognostiziert Hamilton als Konsequenz des


„Trittbrettfahrertums” eine weitere Abnahme des investigativen Journalismus:
Competitors’ ability to confirm and appropriate a story once an idea is circulated
reduces the incentives for journalists to spend large amounts of time on original,
investigative reporting. [...] The difficulties of translating the public benefits from
excellent news coverage into private incentives for owners or reporters can leave
stories about government undone. (Hamilton 2004: 2)

Als „Homo oeconomicus” umgeht der rationale Journalist durch „Rudelverhal-


ten” das Risiko, das „falsche” Thema zu recherchieren, das am Ende wenig
Aufmerksamkeit einbringt – oder zu dem kein Gesprächspartner öffentlich
Stellung beziehen will.12
Was wir als „Rudeljournalismus“ beklagen, ist also letztlich ein „externer
Effekt“ der Entscheidungen vieler einzelner Journalisten, die innerhalb der
ihnen gegebenen Rahmenbedingungen und Restriktionen rational handeln. Das
Ergebnis und damit die gesellschaftliche Folgewirkung solchen Rudelverhaltens
kann jedoch in hohem Masse unerwünscht sein, zumal bestimmte Akteure –
wie Politiker, aber beispielsweise auch Terroristen – mit genau diesem Verhal-
ten kalkulieren: Ganze Gesellschaften werden mitunter in kollektive Angstzu-
stände (z.B. vor BSE, Vogelgrippe oder neuen Terroranschlägen) versetzt, und
so werden letztlich auch massiv Ressourcen von einem Bereich in einen ande-
ren verschoben (Ruß-Mohl 1980). Ein einziges Thema (z.B. der Clinton-
Lewinsky-Skandal, der Parteispenden-Skandal der CDU oder das Elbe-
Hochwasser vor der Bundestagswahl 2002) verdrängt wochen- oder monate-
lang alle anderen Themen aus der öffentlichen Wahrnehmung und damit auch
von der politischen Agenda.

5 Fazit
Aus unserer Sicht besitzt die Ökonomik als Theorieentwurf auch im Bereich
der Kommunikationswissenschaft die folgenden fünf Vorzüge:

Allmenden werden also Ressourcen stärker ausgebeutet, als dies ökonomisch sinnvoll ist.
Gegenmaßnahmen sind Kontrolle oder Besitz.
12 Seine Machtstellung gewinnt der Spiegel umgekehrt nicht allein aus seiner Millionenauflage,
sondern auch aus den Multiplikatoreffekten, die er daraus erzielt, dass andere Medien seine
Themen aufgreifen – rund 180.000 Mal im Jahr, wie ein früherer Leiter der Abteilung In-
formation beim Hamburger Nachrichtenmagazin bereits vor ein paar Jahren verkündete
(Lohfeldt 2000).
Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft 115

ƒ Sie rechnet realistischerweise mit dem Eigennutz als Triebkraft menschli-


chen Handelns – allerdings ohne Aussagen über die jeweils konkreten
Handlungs-Motive der Akteure zu machen.
ƒ Die Ökonomik basiert auf einfachen und verständlichen Annahmen.
ƒ Ein Anschluss an andere, für die Kommunikationswissenschaft relevante
theoretische Bezugsrahmen, wie eben die Systemtheorie, ist möglich. Inso-
fern mag es durchaus sein, dass wir in einem fortgeschrittenen Stadium der
Theorieentwicklung, wie von Jäckel vorgeschlagen, beim „Homo Socio-
Oeconomicus“ landen. Derzeit gibt es in der Kommunikationswissen-
schaft – im Vergleich zu anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen –
nach jahrzehntelanger Dominanz des systemtheoretischen Paradigmas je-
doch erst einmal Nachholbedarf in puncto Ökonomik: Viele Aspekte der
Medienentwicklung und des Journalismus werden verständlicher und
nachvollziehbarer, wenn wir sie mit Hilfe der Ökonomik analysieren (zur
Vertiefung: Fengler & Ruß-Mohl 2005).
ƒ Die Ökonomik ist vielseitig, denn ihre Anwendbarkeit beschränkt sich kei-
nesfalls nur auf Tauschakte, bei denen Geld im Spiel ist.
ƒ Die Ökonomik eröffnet als Theorieansatz interdisziplinär, also in ganz un-
terschiedlichen Disziplinen und Wissensbereichen, Chancen des Erkennt-
nisgewinns.
ƒ Die Ökonomik ist eine positive Wissenschaft, die – ohne moralische Wer-
tung – erklärt, was unter bestimmten Bedingungen geschieht – und nicht,
was geschehen soll. Policy-Entwürfe, die auf diesem Ansatz basieren und
damit rechnen, dass Menschen Regulierungen, die ihren Eigennutz beein-
trächtigen, auf kreative Weise zu umgehen suchen, statt sie einfach zu ak-
zeptieren und „gehorsam“ zu implementieren, wirken nachhaltiger als blo-
ße Appelle – beispielsweise an den Goodwill der Journalisten, wie sie Me-
dienkritiker und Politiker gerne äußern, so etwa Johannes Rau in seiner
Abschiedsrede als Bundespräsident. Ökonomiker wie Bruno S. Frey (1990:
38) sind fraglos nüchterner als ehemalige Pastoren: Fordert man Menschen
auf, sich „moralisch” zu verhalten, erwartet man von ihnen, dass sie auf
persönliche Vorteile verzichten. Dies ist jedoch illusionär. Der Realität der
Medien – vom Rudeljournalismus politischer Affären seit Watergate bis
hin zu den jüngsten Skandalen in verschiedenen Sportredaktionen der
ARD – beweist in den unterschiedlichsten Ausprägungen: Auch der Jour-
nalist handelt als „Homo oeconomicus“.
116 Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl

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AKTEURKONSTELLATIONEN
Handeln in Konstellationen:
Die reflexive Konstitution von
handelndem Zusammenwirken
und sozialen Strukturen

Uwe Schimank

1 Einleitung
Ich stelle im vorliegenden Beitrag eine soziologische Theorieperspektive vor,
die akteurtheoretisch fundiert ist und gesellschaftliche Phänomene wie etwa
den hier interessierenden Journalismus differenzierungstheoretisch erfasst.
Diese Perspektive unterscheidet sich von einer durch Talcott Parsons und
Niklas Luhmann geprägten systemtheoretischen Herangehensweise an gesell-
schaftliche Differenzierung, auch wenn wichtige Einsichten dieser Herange-
hensweise aufgegriffen und akteurtheoretisch reformuliert werden.
Ohne hier ins Detail gehen zu können, präsentiere ich meine Perspektive in
einer Serie von Leitsätzen, die vor allem deutlich machen sollen, worin die
Fragerichtung dieser Art von Soziologie besteht und wie der Bezugsrahmen
aussieht, in dem sich die theoretischen Werkzeuge zur Beantwortung der ge-
stellten Fragen befinden.1

2 Handelndes Zusammenwirken und soziale Strukturen


Am Anfang der Darlegung einer Theorieperspektive sollte man benennen,
welche Art von Fragen man mit ihr in den Blick bekommt: Analysegegenstand

1 Für eine ausführliche Darstellung der akteurtheoretischen Grundlagen vgl. Schimank


(2000). Die soziologischen Differenzierungstheorien sind in Schimank (1996) aufgearbeitet;
vgl. ferner Schimank und Volkmann (1999).
122 Uwe Schimank

ist die wechselseitige Konstitution von handelndem Zusammenwirken und


sozialen Strukturen.
Eine akteur- oder handlungstheoretische Perspektive wird oft so missver-
standen, als ginge es im Kern um die Erklärung von Handeln. Doch das ein-
zelne Handeln ist in dieser Perspektive nur insoweit von Interesse, wie es in
handelndes Zusammenwirken eingeht. Die Frage, warum ein bestimmter Ak-
teur in einer bestimmten Situation so und nicht anders gehandelt hat, ist kei-
neswegs der zentrale Bezugspunkt der Analyse, sondern lediglich eine Vorfra-
ge. Für sich genommen interessiert also beispielsweise nicht, warum ein Sport-
journalist einen Dopingfall aufgreift und auf bestimmte Weise in einem Zei-
tungsartikel darstellt – oder warum er es unterlässt. Interessant ist vielmehr, wie
dieser Artikel im Spektrum anderer die öffentliche Meinung mitprägt und dar-
aus vielleicht über etliche Zwischenschritte bestimmte Entscheidungen der
Sportverbände hervorgehen – oder warum das nicht passiert. Auch das Aus-
bleiben eines handelnden Zusammenwirkens, das man hätte erwarten können,
kann interessant im Sinne von erklärungsbedürftig sein: Warum können Sport-
verbände Dopingvorwürfe der Journalisten oftmals ignorieren?
Dass die Erklärung des einzelnen Handelns nicht das eigentliche Interesse
darstellt, hat eine wichtige methodologische Konsequenz. Die stets knappe
Aufmerksamkeit, die man einem Erklärungsgegenstand zu widmen vermag,
sollte so wenig wie möglich vom Einzelhandeln beansprucht werden, damit
umso mehr Aufmerksamkeit für das handelnde Zusammenwirken und die
Dynamiken sozialer Strukturen bleibt. Auch wenn man als methodologischer
Individualist davon ausgeht, dass einzelne Handlungen individueller Akteure
die Grundelemente jeglichen sozialen Geschehens darstellen, gewinnen diese
doch ihren sozialen Stellenwert und damit auch ihre Erklärungskraft in der
Relationierung mit anderen Elementen dieser Art. Diese Relationen des handeln-
den Zusammenwirkens haben daher im Zentrum der Aufmerksamkeit zu ste-
hen, nicht die einzelnen Elemente. Wo immer man die Erklärung der einzelnen
Handlungen also abkürzen oder sogar ganz weglassen und sich mit einer blo-
ßen Beschreibung der faktisch stattfindenden Handlungen begnügen kann,
sollte man das tun. Wenn etwa empirisch evident ist, dass bestimmte Ereignisse
wie z.B. Fußballländerspiele eine Menge Sportjournalisten auf engstem Raum
zusammenbringen, verspricht die Erklärung dieser offenkundigen Tatsache
wenig soziologisch Neues; aber was an wechselseitiger Überbietung oder An-
gleichung der Berichterstattung aus dieser temporären hohen sozialen Dichte
hervorgeht, verdient eine genauere Betrachtung und größere Erklärungsan-
strengungen.
Handeln in Konstellationen 123

Akteurtheorie ist also eine „relational sociology“ (Emirbayer 1997). Aller-


dings geschieht das handelnde Zusammenwirken nicht im luftleeren Raum,
sondern ist eingebettet in soziale Strukturen, von denen es – über das einzelne
Handeln vermittelt – geprägt wird und die es umgekehrt prägt. Selbst ein Han-
deln, das bestimmte Strukturen gezielt missachtet, ist durch diese geprägt.
Wenn ein Journalist etwa Äußerungen eines Gesprächspartners unter Nennung
von dessen Namen veröffentlicht, obwohl zuvor Vertraulichkeit vereinbart
worden war, verletzt er eine Norm; und weil ihm dies bewusst ist, wird er be-
stimmte Vorsorgen treffen und auf bestimmte Reaktionen gefasst sein.
Soziale Strukturen schränken oftmals Handlungsmöglichkeiten und den
Möglichkeitsraum der Effekte handelnden Zusammenwirkens ein; in anderen
Fällen eröffnen Strukturen aber auch sonst nicht gegebene Möglichkeiten.
Beispielsweise ermöglicht erst ein Gesetz, das bestimmte Arten des Doping
unter Strafe stellt, dessen Strafverfolgung durch Polizei und Gerichte; und in
dem Maße, in dem dies wirksam Doping verhinderte, brauchen Athleten nicht
mehr zu überlegen, ob sie, wenn sie erfolgreich sein wollen, überhaupt die
Handlungsoption haben, sich nicht zu dopen.
Dieses Beispiel illustriert auch die beiden grundsätzlichen Arten, wie umge-
kehrt handelndes Zusammenwirken soziale Strukturen prägt. Wenn das Parla-
ment ein Gesetz verabschiedet, gestaltet das handelnde Zusammenwirken der
Abgeordneten eine normative Regel, die dann wiederum anderes Handeln
prägt. Damit liegt die intentionale Prägung einer sozialen Struktur vor. Weitaus
häufiger sind aber transintentionale Struktureffekte des handelnden Zusam-
menwirkens: Intentionales Handeln geht, früher oder später, in transintentiona-
les handelndes Zusammenwirken und in entsprechende Dynamiken des Auf-
baus, der Erhaltung oder der Veränderung sozialer Strukturen über.
Jedes Handeln ist intentional in dem Sinne, dass der betreffende Akteur
damit einen „subjektiven Sinn“ (Weber 1972 [1922]: 2) verbindet. Fehlte dieser,
läge nur Verhalten vor. Intentionalität bedeutet allerdings nur in den seltensten
Fällen, dass ein Akteur ein genaues Ziel vor Augen hat und anspruchsvolle
Abwägungen anstellt, um sich dann nach einer differenzierten Bilanz für eine
bestimmte Alternative der Zielverfolgung zu entscheiden. Auch wer einer ein-
geübten Routine folgt, geht davon aus, dass etwas Bestimmtes dabei heraus-
kommt. Wie üblich schlage ich z.B. morgens einen bestimmten Weg ein, um
zur Bushaltestelle zu gelangen, und rechne damit, dass dies wie jeden Morgen
zum Erfolg führt – bis dann eines Morgens eine Baustelle ein Hindernis dar-
stellt, das mich zu Überlegungen und einem längeren Umweg nötigt. In ande-
ren Fällen beschränkt sich Intentionalität fast ganz auf ein eigenes inneres Be-
124 Uwe Schimank

finden – wenn sich jemand nicht etwa deshalb an eine Norm hält, weil er sich
die negativen Effekte allseitiger Normverletzungen vor Augen führt oder das
Risiko, erwischt und bestraft zu werden, kalkuliert, sondern nur, weil er erfah-
rungsgemäß Gewissensbisse bekäme.
Wer eine Handlung in die Welt setzt und mit ihr eine bestimmte Intention
verfolgt, darf sich nicht darüber wundern, wenn am Ende etwas ganz anderes
daraus resultiert. Erstaunlich ist vielmehr erfolgreiche und auch noch neben-
wirkungsfreie Intentionalität. Der Regelfall ist Transintentionalität. Dies kann
schon beim monologischen, nicht-sozialen Handeln passieren: Ich betätige eine
bestimmte Tastenkombination an meinem PC, und es geschieht etwas ganz
anderes als erwartet. Erst recht und eigentlich soziologisch interessant tritt
Transintentionalität im handelnden Zusammenwirken ein. Das Handeln ande-
rer kommt meinem auf die eine oder andere Weise in die Quere – und meines
ihrem.
Die eine grundlegende Art von Transintentionalität ist gescheiterte Intenti-
onalität. Ein Akteur bezweckt etwas Bestimmtes und muss dann feststellen,
dass er dies aufgrund von Interferenzen mit dem Handeln anderer nicht er-
reicht oder nur unter gravierenden, seine Zielverfolgung überschattenden nega-
tiven Nebenwirkungen, und auf jeden Fall nur für eine begrenzte Zeit. Jeder
Kompromiss, den man in irgendeiner Situation macht, ist bereits ein Fall ge-
scheiterter Intentionalität, auch wenn der Akteur im Nachhinein noch ganz
zufrieden ist oder sogar von vornherein realistisch damit gerechnet hat. Doch
eigentlich wollte er etwas anderes.
Die zweite grundlegende Art von Transintentionalität besteht in von den
betreffenden Akteuren dauerhaft unbeachteten oder zunächst unbeachteten
und sich dann aber ihrer Aufmerksamkeit aufdrängenden Wirkungen. Die
Akteure realisieren ihre Intentionen oder scheitern damit; doch nebenher resul-
tiert aus ihrem handelnden Zusammenwirken noch etwas, was sie entweder
überhaupt nicht registrieren oder zwar beiläufig bemerken, aber nicht weiter
wichtig nehmen. Solche Nebenwirkungen sind oft unerwünscht, fallen dann
sicher auch eher auf, können aber auch positiver Art sein – wenn etwa die
Anwesenheit vieler Journalisten bei einer Demonstration dafür sorgt, dass die
Polizei weniger brutal vorgeht, weil sie die schlechte Presse fürchtet. Die Jour-
nalisten wollen nicht als Beschützer der Demonstranten auftreten, sondern
sind auf der Jagd nach einer guten Story. Die zweifellos titelseitenträchtige
Schlagzeile vom Tod friedlicher Demonstranten durch polizeilichen Schuss-
waffengebrauch wird so vielleicht gar zur sich selbst widerlegenden Prophezei-
ung, womit auch wieder gescheiterte Intentionalität im Spiel wäre.
Handeln in Konstellationen 125

Dass handelndes Zusammenwirken überwiegend transintentionale Effekte


zeitigt, gilt nicht nur hinsichtlich der Ergebnisse für einzelne Akteure, sondern
auch für die Effekte auf soziale Strukturen. Bemühungen einer gezielten Ges-
taltung sozialer Strukturen durch Handeln kommen durchaus vor – etwa als
politische Entscheidungen oder im Management von Organisationen. Auch
handelndes Zusammenwirken wird immer wieder auf eine gemeinsame Gestal-
tungsintention hin koordiniert. Doch zumeist treten ausschließlich, überwie-
gend oder zumindest in nennenswertem Maße auch beide Arten transintentio-
naler Effekte ein – längerfristig ist dies immer der Fall.
Warum nimmt ein soziologischer Beobachter angesichts dessen die Intenti-
onen des Handelns überhaupt noch zur Kenntnis? Dass man zwar, wie oben
angesprochen, nicht immer wissen muss, warum jemand so handelt, wie er
handelt, aber sehr wohl Letzteres, begründet sich daraus, dass die Intention
einen Handlungsimpuls markiert, der sich dann mit den Impulsen der anderen
involvierten Akteure gleichsam wie bei der Vektoraddition verbindet. Selbst
wenn der Summenvektor, also das Ergebnis des handelnden Zusammenwir-
kens, weit von jedem in ihn eingehenden Einzelvektor abweicht, ergibt er sich
doch in seiner Richtung und Stärke nur aus ihnen.
Soziale Strukturdynamiken werden also stets intentional vorangetrieben,
entgleiten aber den Akteuren früher oder später unweigerlich mal weniger, mal
mehr ins Transintentionale. Unabhängig von Intentionalität und Transintentio-
nalität gilt: Soziale Strukturen werden durch handelndes Zusammenwirken
erschaffen, erhalten und um- oder abgebaut. Soziale Strukturen sind ja keine
Entitäten wie Steine oder Gießkannen, die als physikalische Strukturen eine
vom Handeln unabhängige Existenz besitzen. Eine Gießkanne steht herum,
auch wenn wir sie gerade nicht benutzen oder nicht einmal bemerken. Eine
Norm beispielsweise materialisiert sich hingegen immer erst und immer nur
dann, wenn sie Handeln prägt. Prägendes und Geprägtes sind genau besehen
eines: „structure exists [...] only in its instantiations in such practices“ (Giddens
1984: 17).
Ein genauerer Blick zeigt: Drei Arten sozialer Strukturen sind zu unter-
scheiden: Erwartungs-, Deutungs- und Konstellationsstrukturen.
Es gibt erstens die schon mehrfach angesprochenen institutionalisierten
normativen Erwartungen. Solche Erwartungsstrukturen können sowohl formeller
als auch informeller Natur sein. Ersteres gilt für alle rechtlichen Regelungen
sowie für die formalen Verhaltenserwartungen in Organisationen, z.B. Zeitun-
gen oder Rundfunkanstalten. Informelle normative Erwartungen sind u.a. die
in einem Land geltenden Sitten und Umgangsformen, der Moralkodex eines
126 Uwe Schimank

bestimmten sozialen Milieus oder einer Berufsgruppe wie der Journalisten2


oder auch die manchmal sehr idiosynkratischen wechselseitigen Verpflichtun-
gen zwischen Ehepartnern. Rollen und Skripte stellen generalisierte Bündelun-
gen einer Mehrzahl aufeinander bezogener normativer Erwartungen dar. Dabei
gelten Rollen für bestimmte Positionen in einer Akteurkonstellation – z.B. der
Journalist in der Konstellation mit Verleger, Chefredakteur, Kollegen, Politi-
kern und Zeitungslesern – und Skripte für bestimmte soziale Prozessabläufe
wie etwa eine Redaktionssitzung oder ein Politikerinterview (Esser 2000: 141-
236).
Neben normativen Erwartungsstrukturen existieren zweitens solche sozia-
len Strukturen, die evaluative und diesen zugeordnete kognitive Orientierungen
fixieren. Diese Deutungsstrukturen sind um kulturelle Leitideen gruppiert. Eva-
luative Orientierungen bestehen aus allen Arten von Werten, die teils sehr
allgemeiner Art sind, etwa die Selbstverwirklichung der Persönlichkeit propa-
gieren oder Naturzerstörung verdammen, teils aber auch viel spezifischere und
weniger langlebige Sachverhalte betreffen, z.B. Vorlieben oder Abneigungen
bestimmter „Szenen“. Mit diesen Bewertungsstrukturen verknüpfen sich kog-
nitive Wissensstrukturen, in denen sich etablierte Sichtweisen dessen, was der
Fall ist, niederschlagen. Alle Arten von wissenschaftlichen Theorien zählen
dazu; zu den kognitiven Deutungsstrukturen gehört aber auch das berufsspezi-
fische oder alltägliche Rezeptwissen darüber, wie bestimmte Dinge beschaffen
sind und miteinander zusammenhängen und wie bestimmte Effekte erzielt
werden können – z.B. ein Wissen darüber, wie man einen guten Leitartikel
schreibt, oder das Wissen darüber, in welchen Kneipen in der Innenstadt auch
nach Mitternacht noch was los ist.
Die in der modernen Gesellschaft wichtigsten Deutungsstrukturen sind die
Orientierungshorizonte, die durch die binären Codes der verschiedenen gesell-
schaftlichen Teilsysteme abgesteckt werden. Hierauf werde ich weiter unten
noch gesondert zu sprechen kommen.
Schließlich gibt es noch eine dritte Art von sozialen Strukturen: eingespielte
Gleichgewichte von Akteurkonstellationen. Solche Konstellationsstrukturen liegen
immer dann vor, wenn sich ein bestimmtes Muster handelnden Zusammenwir-
kens in dem Sinne verfestigt, dass keiner der Beteiligten allein von sich aus so

2 Der Pressekodex des Deutschen Presserats beispielsweise ist verschriftlicht, aber gleichwohl
nicht formalisiert, weil er lediglich Apellcharakter hat. Formalisierung bedeutet, dass eine
normative Erwartung mit Hilfe von Sanktionen – die mehr sind als Rügen – durchgesetzt
werden kann.
Handeln in Konstellationen 127

einfach seine Handlungsweise ändern kann, ohne sich gravierende Nachteile


der einen oder anderen Art einzuhandeln. Konstellationsstrukturen können
positiv bewertete Gleichgewichte in dem Sinne sein, dass sie den beteiligten
Akteuren erlauben, ihre Intentionen zu realisieren. Freundschaften oder funk-
tionierende Arbeitsbeziehungen wären Beispiele dafür. Es kann sich aber auch
um negativ bewertete Gleichgewichte handeln, etwa eingefahrene Konkurrenz-
oder Feindschaftsverhältnisse. Eine sich über Generationen hinziehende Blut-
rache zwischen zwei Familien illustriert Letzteres. Man könnte meinen, dass
den Akteuren in so einem Fall nichts näher läge, als dieses Gleichgewicht zu
verlassen. Aber bekanntlich ist kaum etwas schwieriger, als aus einer solchen
Konstellation auszubrechen. Man redet nicht miteinander, traut einander nicht
über den Weg und kann so keine beiderseitige Beendigung der Fehde verabre-
den; und eine einseitige Beendigung bedeutet einen so gravierenden Ehrverlust,
wie man ihn kaum auf sich nehmen will.
Die drei Strukturarten tragen Unterschiedliches zur Prägung des Handelns
bei: Deutungsstrukturen prägen das Wollen, Erwartungsstrukturen das Sollen
und Konstellationsstrukturen das Können der Akteure. Handlungen konstitu-
ieren sich im Zusammenspiel von Wollen, Sollen und Können.

3 Akteure in Konstellationen
Der bisher skizzierte Bezugsrahmen geht auf das Verhältnis von handelndem
Zusammenwirken und sozialen Strukturen ein und konzentriert sich dabei auf
Letztere in ihrer Handlungsprägung und Geprägtheit durch handelndes Zu-
sammenwirken. Nun soll der Blick geschwenkt werden und das handelnde
Zusammenwirken fokussieren: Handelndes Zusammenwirken ergibt sich aus
dem Aufeinandertreffen von Akteuren in Konstellationen.
Sobald es Interferenzen zwischen den Intentionen von mindestens zwei
Akteuren gibt, besteht eine Akteurkonstellation. Jemand handelt und bemerkt
früher oder später, schon bei der Planung seines Tuns oder erst im Vollzug,
dass er zur Erreichung seiner Absichten die Unterstützung anderer benötigt;
und diese Unterstützung kann auch ausbleiben, weil ein entsprechendes Han-
deln nicht ohne Weiteres in den Intentionen der betreffenden anderen liegt.
Oder ein Akteur wird gewahr, dass es bei der Realisierung seiner Intentionen
davon abhängt, dass andere ihn nicht stören; und auch das ist nicht selbstver-
ständlich, weil sich solche Störungen daraus ergeben können, was die anderen
mit ihrem jeweiligen Handeln intendieren. Ein Handelnder kann derartige
Intentionsinterferenzen, wie sie sich aus dem Aktiv- oder dem Unterlassungs-
128 Uwe Schimank

handeln anderer ergeben können, natürlich fatalistisch hinnehmen. Damit dürf-


te er sich aber wohl nur dann zufrieden geben, wenn ihm entweder seine eige-
ne Intention nicht besonders wichtig ist oder wenn er die Situation so ein-
schätzt, dass der Widerstand, den das Handeln der anderen seiner Intention
entgegensetzt, für ihn unüberwindlich ist und er zugleich auch nicht sieht, wie
er diesen Widerstand durch eine Änderung seines Handelns umgehen könnte.
Oftmals können Akteure hingegen mehr erreichen. Dann sind Intentionsin-
terferenzen nichts Definitives, sondern Ausgangspunkt von Anstrengungen,
den Widerstand der jeweiligen anderen zu umgehen oder zu überwinden.
Konstellationen handelnden Zusammenwirkens bestehen somit aus dem Ge-
wahrwerden und Abarbeiten tatsächlicher oder vorweggenommener Intenti-
onsinterferenzen. Das kann darin enden, dass die Konstellation sich auflöst, die
Akteure einander fortan aus dem Wege gehen. Bleibt die Konstellation beste-
hen, kann es zwischen den Akteuren auf Dauer hin und her gehen, ohne dass
sich stabile Muster des Umgangs mit den Intentionsinterferenzen einspielen. In
vielen Fällen bringen aber die Bemühungen der Akteure, ihre Intentionsinterfe-
renzen zu bewältigen, soziale Strukturen als relativ dauerhafte Ordnungsmuster
hervor.
Als Akteure sind bisher nur Individuen angesprochen worden. Daneben
gibt es aber auch kollektive und korporative Akteure. Zwar können letztlich
nur Individuen Handlungen ausführen, aber wenn diese Individuen im Namen
einer größeren sozialen Einheit handeln, z.B. als Vorsitzender eines Vereins
oder Aktivist der Friedensbewegung, handelt durch sie eben dieser Kollektivak-
teur. Entscheidend ist, dass Handlungen ihm – und nicht bloß den ihm zuge-
hörigen Individuen – zugerechnet werden. Dies ist insbesondere dann offen-
kundig, wenn eine Organisation ihr Handeln nicht ändert, obwohl ihr Personal
ausgetauscht wird. So bleibt z.B. Der Spiegel als Zeitschrift derselbe, auch wenn
keiner der ursprünglichen Redakteure mehr schreibt. Vor allem die „corporate
identity“ und die intern hierarchisierten Entscheidungsbefugnisse einer Organi-
sation verbürgen den Status als überindividueller Akteur.
Gerade weil das einzelne Handeln, wie dargestellt, für sich genommen so-
ziologisch wenig erheblich ist, braucht man erklärungsökonomische theoreti-
sche Werkzeuge, die bei diesem Erklärungsschritt möglichst kurzen Prozess
machen. Die dargestellte Theorieperspektive konstatiert: Akteure unterliegen je
unterschiedlichen Mischungsverhältnissen von vier grundlegenden Handlungs-
antrieben: Normbefolgung, Nutzenverfolgung, emotionales Sich-Ausleben und
Identitätsbehauptung. Diese vier Akteurmodelle bündeln analytisch jeweils
bestimmte Strukturprägungen des Handelns.
Handeln in Konstellationen 129

Ein erstes Modell, das bis heute den soziologischen Mainstream repräsen-
tiert, ist der Homo Sociologicus. Dies ist ein Akteur, der sein Handeln primär an
institutionalisierten Normen ausrichtet. Erwartungsstrukturen sagen ihm, wor-
um es ihm in einer bestimmten Situation zu gehen und wie er entsprechend zu
handeln hat. So muss sich z.B. ein Redakteur an der politischen Linie seiner
Zeitung orientieren, ob diese nun formell als Redaktionsstatut oder informell
durch kollegialen Austausch vermittelt wird.
Dem Homo Sociologicus steht als zweites Akteurmodell der Homo Oecono-
micus gegenüber. Er handelt so, dass er seinen eigenen erwarteten Nutzen unter
geringstmöglichem Aufwand maximiert. Damit wird der Homo Oeconomicus
primär durch solche sozialen Strukturen geprägt, die den Nutzen und die Auf-
wändigkeit bestimmter Handlungen bestimmen. Der Medienrezipient, der als
Konsument auszuwählen hat, ob er sich das Abonnement einer Tageszeitung
oder einen Pay-TV-Anschluss leistet, wäre ein Beispiel – das im Übrigen auch
gleich verdeutlicht, wie wenig rational solche Nutzenerwägungen zumeist ange-
stellt werden.
Immer wieder handeln Akteure auch aufgrund von Emotionen wie Neid,
Wut, Liebe oder Freude. Ein drittes Akteurmodell ist daher der „emotional man“
(Flam 1990). Emotionale Handlungsantriebe werden durch andere sozialstruk-
turelle Determinanten ausgelöst als norm- oder nutzenorientiertes Handeln. So
erwächst z.B. Neid aus sozialen Verteilungsstrukturen, die von dem Betreffen-
den als ungerechtfertigt erlebt werden: Warum verdienen die Chefs so viel
Geld, und ich muss mich für einen Hungerlohn krummlegen?
Ein viertes Akteurmodell ist schließlich der Identitätsbehaupter. Die Identität
einer Person ist ihr Selbstbild; und es gibt Handlungen, die wir nur oder haupt-
sächlich deshalb ausführen, weil wir nach außen und uns selbst dokumentieren
wollen, wie wir uns selbst sehen und gesehen werden wollen. Das gilt z.B. für
alle Arten von Gesinnungstätern, die sogar gegen Normen verstoßen und teil-
weise hohe persönliche Kosten auf sich nehmen. Dieses Akteurmodell hebt
zum einen solche sozialen Strukturen hervor, die – vor allem durch Sozialisati-
on vermittelt – den Charakter eines Akteurs formen; zum anderen geht es um
soziale Strukturen, die in ihrer Diskrepanz zum Selbstbild identitätsbedrohend
wirken.
Man gelangt somit zu einem Nebeneinander von vier analytischen Akteur-
modellen, mittels derer sich Handlungswahlen auf je andere sozialstrukturelle
Handlungsbedingungen zurückführen lassen. Für die Analyse realer Akteure
kann man immer wieder auch Kombinationen von zwei oder mehr Akteurmo-
dellen heranziehen – sollte aber stets bedenken, dass dieser analytische Auf-
130 Uwe Schimank

wand angesichts dessen, dass hier nur eine Vorfrage behandelt wird, vertretbar
bleibt.
Ins Zentrum dessen, womit sich Soziologen entsprechend der hier vorge-
schlagenen Theorieperspektive zu beschäftigen haben, stößt man vor, wenn
man sich den Akteurkonstellationen zuwendet. Drei Arten von Akteurkonstel-
lationen lassen sich unterscheiden: Beobachtungs-, Beeinflussungs- und Ver-
handlungskonstellationen.
Beobachtungskonstellationen sind der elementarste Typ. Sie entstehen, sobald
mindestens zwei Akteure einander wahrnehmen und ihr Handeln durch die
Wahrnehmung des jeweils anderen mitbestimmen lassen. Jeder beobachtet, was
die Gegenüber tun, und passt sich dadurch der Konstellation an. Eine ganz
einfache alltägliche Situation, in der dies geschieht, ist z.B. das gegenseitige
einander Ausweichen von Passanten auf einem engen Bürgersteig. Aber auch
die massenhafte Ausbreitung von Moden beispielsweise erfolgt über wechsel-
seitige Beobachtung. Beobachtungskonstellationen schließen den Austausch
von Zeichen ein; denn die Beteiligten wissen oft, dass sie beobachtet werden,
und können dies nutzen. Diese gegenseitigen Signale können nichtsprachlich,
aber auch sprachlich erfolgen. Das wechselseitig beobachtete Tun der Akteure
kann also durchaus auch im Reden oder Schreiben bestehen. So nehmen etwa
Journalisten aufmerksam zur Kenntnis, was ihre Kollegen zu einem bestimm-
ten Thema publizieren, und richten ihre je eigenen Artikel oder Kommentare
daran aus – sei es, dass sie sich dem gängigen Meinungsspektrum einfügen, sei
es, dass sie sich ganz bewusst dagegen profilieren.
Ein Journalist, der weiß, dass seine Artikel von vielen Kollegen gelesen
werden, die etwas darauf geben, was er schreibt, kann diesen Tatbestand zur
Kenntnis nehmen, sich über die Beachtung durch die Kollegen freuen – und es
dabei belassen. Er kann aber auch versuchen, auf der Basis dieser Wertschät-
zung seiner Arbeit gezielte Meinungsbildung bei den Kollegen zu betreiben –
und darüber bei der Leserschaft. Sobald so etwas auftritt, handelt es sich schon
um keine Beobachtungskonstellation mehr, sondern bereits um eine Beeinflus-
sungskonstellation. Diese beruht auf wechselseitiger Beobachtung, geht aber dar-
über hinaus. Wechselseitige Beeinflussung kann auf vielerlei Weisen geschehen:
durch Androhung von Prügel, durch moralische Appelle, durch wissenschaftli-
che Wahrheiten, am besten aus Expertenmund, durch Loben oder Schmeiche-
leien oder durch persönliches Charisma. Diesen und weiteren Einflussarten
gemeinsam ist die intentionale aktive Einschränkung der Handlungsmöglich-
keiten des Gegenübers. Auf der einen Seite kann dies mittels angedrohter nega-
tiver Konsequenzen, auf der anderen Seite durch in Aussicht gestellte positive
Handeln in Konstellationen 131

Konsequenzen geschehen. Auch Letztere verengen das Spektrum dessen, was


der andere tun wird, indem bestimmte Handlungen besonders prämiert wer-
den. Journalisten z.B. beeinflussen ihre Rezipienten zum einen u.a. teils durch
explizite Warnungen, teils durch die implizite „Moral“ einer bestimmten Story;
zum anderen versprechen Journalisten wiederum sowohl explizit als auch im-
plizit, dass es allen besser gehen wird, wenn beispielsweise eine bestimmte
Regierung endlich vom Wähler in die Wüste geschickt wird.
Weder in Beobachtungs- noch in Beeinflussungskonstellationen sind bin-
dende Vereinbarungen ein Mechanismus der Handlungsabstimmung. Sie fin-
den sich vielmehr erst in Verhandlungskonstellationen. So beobachten beispiels-
weise Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände einander bei Arbeitskämpfen
sehr genau – im Hinblick darauf, einander durch Streiks und Aussperrungen
gegenseitig zu beeinflussen. Doch genau besehen handelt es sich hier schon um
Verhandlungskonstellationen. Denn am Ende eines Arbeitskampfes steht eine
bindende Vereinbarung darüber, dass die Arbeitgeber bestimmte Lohnerhö-
hungen zahlen und die Gewerkschaften im Gegenzug für einen bestimmten
Zeitraum auf weitere Lohnerhöhungen verzichten. Verhandlungskonstellatio-
nen sind demnach immer auch Beobachtungs- und Beeinflussungskonstellatio-
nen; aber die Akteure haben zusätzlich die Möglichkeit, bindende Vereinba-
rungen miteinander zu schließen. Jeder Arbeitsvertrag – z.B. eines Journalisten
mit einer Zeitung oder Rundfunkanstalt – ist Ergebnis einer Verhandlungs-
konstellation. Verhandlung heißt nicht, dass beide Seiten gleich stark sind,
einander also in Bezug auf Einflusspotentiale Pari bieten können. Es gibt auch
sehr asymmetrische Verhandlungskonstellationen – etwa zwischen einem mili-
tärisch überlegenen und einem unterlegenen Staat oder zwischen einem Zei-
tungsverlag und einem Redakteur, der schnell durch viele andere ersetzbar
wäre.
Ist das handelnde Zusammenwirken nur auf der Basis von Beobachtung
möglich, oder von Beobachtung und Beeinflussung, oder von Beobachtung
und Beeinflussung und Verhandlung? Entsprechend diesen unterschiedlichen
Gegebenheiten finden in den drei Konstellationstypen unterschiedliche Arten
von handelndem Zusammenwirken mit entsprechend unterschiedlichen Struk-
turdynamiken statt.

4 Funktionale Differenzierung
Damit sind die basalen Komponenten des analytischen Bezugsrahmens erläu-
tert (vgl. Abbildung 1). Dass jede von ihnen sehr viel mehr vertieft werden
132 Uwe Schimank

könnte und müsste, versteht sich von selbst. Ich will aber hier nur eine Kom-
ponente herausgreifen, die von besonderer Bedeutung ist, wenn man als An-
wendungsbereich des Bezugsrahmens die Gesellschaftsebene – genauer: die
moderne Gesellschaft – wählt.3

Abbildung: Akteur-Struktur-Dynamiken

Akteure Konstellationen
x homo sociologicus x Beobachtung
x homo oeconomicus x Beeinflussung
x „emotional man“ x Verhandlung
x Identitätsbehaupter

Handeln handelndes Zusam- Soziale Strukturen


menwirken x Deutungsstrukturen
x Erwartungsstrukturen
x Konstellationsstrukturen

Intentionalität Transintentionalität
Strukturdynamiken
x Aufbau
x Erhaltung
x Veränderung

Die moderne Gesellschaft ist funktional differenziert, gliedert sich also in ein
Nebeneinander von Teilsystemen, die alle je besondere „Wertsphären“ (Weber
1967 [1919]) darstellen: Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Kunst, Sport und
auch die Massenmedien sind einige davon. In der hier gewählten, an Weber
und Luhmann anknüpfenden differenzierungstheoretischen Perspektive konsti-
tuieren sich gesellschaftliche Teilsysteme also auf der Ebene kultureller Deu-
tungsstrukturen durch je spezifische, alles teilsystemische Geschehen anleiten-
de evaluative Orientierungen: Gesellschaftliche Teilsysteme wie die Massenme-
dien differenzieren sich auf einen als binären Code konstruierten Leitwert hin

3 Akteure in Konstellationen und die wechselseitige Konstitution von handelndem Zusam-


menwirken und sozialen Strukturen lassen sich ja auch auf der Interaktions- und der Orga-
nisationsebene ausmachen – etwa als Themenstrukturen von Partykonversationen oder als
Kleinkriege zwischen Organisationsabteilungen.
Handeln in Konstellationen 133

aus. Bei den Massenmedien ist dies der Code „informativ/nicht informativ“
(Blöbaum 1994: 272ff.).4
Die Teilsysteme sind also die obersten „Weichensteller“ (Weber 1978
[1920]: 252) der modernen Gesellschaft, präformieren über Ideen die grundle-
genden Richtungen, in die Akteurinteressen und auch normative Erwartungen
angelegt werden. Die je teilsystemspezifischen Leistungsrollen wie die Rolle des
Journalisten in den Massenmedien und die teilsystemspezifischen Organisatio-
nen – Zeitungen und Fernsehsender – sind in all ihrem Tun und Lassen letzt-
lich darauf fixiert, Informatives zu entdecken und zu verbreiten. Dieser Code
„informativ/nicht informativ“ wird durch entsprechende Programme, die teils
kognitiver, teils normativer und teils evaluativer Art sind, operationalisiert, etwa
die Nachrichtenfaktoren oder das professionelle Ethos des Journalismus.
Als selbstreferentieller, sich aus nichts anderem begründender Leitwert
steht der des Informativen neben altehrwürdigeren wie dem Schönen, dem
Wahren oder dem Rechtmäßigen. Jeder dieser Werte konstituiert die Autono-
mie des betreffenden Teilsystems in dem Sinne, dass er intern über alles geht –
und extern nichts gilt, weil dort anderes über alles geht. Dass Journalisten auf
nichts so sehr schielen wie darauf, was andere Journalisten tun, und letztlich
daraus ableiten, was sie selbst tun, stellt nicht etwa eine professionelle Patholo-
gie dieses Berufsstands dar, sondern ist bei den zentralen Leistungsrollen ande-
rer Teilsysteme – ob Ärzte oder Lehrer, Politiker oder Manager, Priester oder
Künstler – nicht anders.
Diese Autonomie auf der Ebene des Leitwerts heißt nicht, dass ein Teilsys-
tem wie die Massenmedien autark wäre. Ganz im Gegenteil: Gerade die hoch-
gradige funktionale Spezialisierung auf den Leitwert bringt eine ebenso hoch-
gradige Abhängigkeit von vielerlei Leistungen anderer Teilsysteme mit sich.
Keine funktionierenden Massenmedien ohne Rechtssicherheit, eine gebildete
Bevölkerung, an Kunst und Sport Interessierte, wirtschaftliche Gewinne, politi-
sche Förderung sowie militärisch gewährleistete Sicherheit! Diese Abhängigkei-
ten mögen sehr groß sein: Sie werden unter Autonomiegesichtspunkten erst
dann problematisch, wenn sie strategisch genutzt werden, also etwa Großun-
ternehmen Werbeanzeigen daran binden, dass bestimmte politische Kommen-
tare nicht veröffentlicht werden, und dieses Ansinnen auch erfolgreich ist.
Schon Ersteres dürfte nicht allzu häufig passieren – Letzteres noch weniger.

4 Man spricht auch von „aktuell/nicht aktuell“ (Scholl & Weischenberg 1998: 63ff.), womit
dasselbe gemeint ist: ein sachlicher Informationsgehalt, der zeitlich gegenwartsnah und so-
zial für die jeweilige Rezipientenschaft relevant ist.
134 Uwe Schimank

Dieses Beispiel zeigt, auch wenn es so drastisch selten vorkommt, was


Luhmann übergeht: Ein gesellschaftliches Teilsystem ist keine freischwebende
Deutungsstruktur; es besteht nicht nur aus dem Code und selbst generierten
Programmen. Dazu gehören vielmehr auch die fremdreferentiellen Programm-
strukturen, die teilsystemspezifischen Akteure – Rollen und Organisationen –
sowie die Konstellationsstrukturen dieser Akteure untereinander und mit ex-
ternen Akteuren. Nicht nur die Analyse von Autonomiegefährdungen, auch
eine Erklärung anderer Differenzierungsdynamiken – vor allem: der Ausdiffe-
renzierung bestimmter Teilsysteme – muss Akteurkonstellationen insbesondere
bezüglich Interessenlagen sowie wechselseitiger Beobachtung und Beeinflus-
sung in den Blick nehmen (Schimank 1985).
Die Ausdifferenzierung der Massenmedien erfolgte zwar interessengeleitet,
aber hochgradig transintentional. Das System der Massenmedien differenzierte
sich in einer bereits im 17. Jahrhundert ansetzenden Strukturdynamik im 19.
Jahrhundert als Zeitungswesen aus. Dem lag anfangs eine Akteurkonstellation
zugrunde, die sich als Kombination aus neuen technischen Gelegenheitsstruk-
turen, die einen „supply push“ nahe legten, und neuen Wissensbedürfnissen,
die sich als „demand pull“ artikulierten, darstellte (Blöbaum 1994: 93ff.). Sehr
grob vereinfacht, nur zur Demonstration der akteurtheoretischen Analyseper-
spektive, lässt sich die Strukturdynamik so skizzieren, dass sich mit der Erfin-
dung des Drucks mit beweglichen Lettern und der weiteren Entwicklung der
Druckmaschinen Druckereien und Buchverlage als Wirtschaftsunternehmen
verbreiteten, die nach weiterer Expansion strebten und ihre Maschinen auslas-
ten wollten. Flugschriften und Anzeigen boten sich als Zusatzgeschäft an. Die
Inhalte wurden zunächst von Akteuren dreier gesellschaftlicher Teilsysteme
beigesteuert: Aus der Politik kamen staatliche Verlautbarungen und Artikulati-
onen verschiedenster Interessengruppen; aus der Wirtschaft kamen Reklame-
anzeigen von Geschäftsleuten; und aus den Intimbeziehungen kamen Famili-
enanzeigen. Eine Redaktion der Beiträge fand nicht statt. Die Voraussetzungen
dafür, dass solche Presseerzeugnisse ein Publikum fanden, bestanden zum
einen in einer zunehmenden Alphabetisierung, zum anderen in einem wach-
senden Bedürfnis vieler, Wissen über überlokale Geschehnisse, die im Zuge der
„Ausweitung der Interdependenzketten“ (Elias 1976 [1939]: 317) nicht nur
durch den Fernhandel immer mehr Bedeutsamkeit gewannen und entspre-
chende Aufmerksamkeit auf sich zogen, sowie dann auch über die unüber-
schaubarer werdenden lokalen Bezüge zu erhalten. Das Wissensbedürfnis ran-
gierte von Klatsch und Sensationsgier auf der einen bis zu geschäftlichem In-
formationsbedarf auf der anderen Seite. Da die so gespeiste Nachfrage schnell
Handeln in Konstellationen 135

anwuchs und vor allem auf regelmäßige Befriedigung Wert legte, entwuchsen
die Zeitungen rasch dem ursprünglichen Status der produktionstechnischen
Lückenbüßer. Eine eigendynamische Eskalation setzte ein: Weil die den Zei-
tungen bereitgestellten Informationen nicht mehr ausreichten, um den Wis-
sensdurst des Publikums zu bedienen, bildete sich allmählich die Rolle des
Journalisten heraus, der selbst Informationen recherchiert und aufbereitet; und
wie für jeden anderen Beruf auch kristallisierten sich Standards, die in Pro-
grammen und vor allem im binären Code „informativ/nicht informativ“ ihren
Ausdruck fanden. Die weitere Binnendifferenzierung der Massenmedien in
Radio, Fernsehen und mittlerweile Internet ist dann vor allem technikinduziert
gewesen – auf der Basis eines mit dem Zeitungswesen gefestigten Codes und
der ihn umgebenden Programme. Ebenso kam es zu einer sachlichen Differen-
zierung in Sparten und Ressorts, in der sich die teilsystemische Differenzierung
der Gesellschaft teilweise widerspiegelt.
Schon dieses holzschnittartige Bild lässt erkennen, dass die Strukturdyna-
mik hochgradig transintentional verlief. Keiner der im 17. Jahrhundert initiativ
werdenden Drucker hatte das vorausgesehen, geschweige denn beabsichtigt,
was dann 150 Jahre später als Fernwirkung dessen, was er mit angestoßen hat-
te, eingetreten war; keiner ahnte den binären Code voraus. Dass mit Blick auf
die Politik etwas Drittes neben staatlichen Verlautbarungen und den Mei-
nungsäußerungen von Interessengruppen entstand, nämlich ein zum einen auf
sachliche Berichterstattung über Ereignisse und die dazugehörige Meinungs-
vielfalt, zum anderen auf eigenständige Kommentierung setzender Journalis-
mus, war ebenso wenig das Resultat eines erfolgreichen strategischen Master-
plans der Professionalisierung, den irgendjemand implementiert hätte. Doch
man muss und sollte deswegen nicht einfach – wie Luhmann es tut – zur Ver-
legenheitsformel „Evolution“ greifen, in der letztlich zufällige, also auch nicht
erklärungskräftige Variationen den Ton angeben. Man kann vielmehr, wie an-
gedeutet, die typischen Interessenlagen der involvierten Akteure herausarbei-
ten, woraus sich die Intentionen ihres jeweiligen Handelns ergeben; und das
Ineinandergreifen dieser Intentionen, gepaart mit wechselseitiger Beobachtung
und gegebenenfalls auch Beeinflussung, im handelnden Zusammenwirken lässt
sich als klares Muster rekonstruieren.5
Es ist sicherlich vereinfacht, die Ausdifferenzierung der Massenmedien ana-
lytisch so zu fassen, dass keiner der involvierten Akteure – auch in der Spät-

5 Auch darin muss natürlich Raum für diverse „Cournot-Effekte“ (Boudon 1984: 173ff.), also
koinzidentielle Einwirkungen auf die jeweilige Strukturdynamik, vorgesehen werden.
136 Uwe Schimank

phase dieses Vorgangs – beabsichtigte, ein eigenes Teilsystem zu etablieren,


sondern jeder nur im Horizont des je eigenen Aktionsraums dachte. Die Ver-
einfachung ist aber dadurch gerechtfertigt, dass diese Strukturdynamik ohne
einen Akteur, der sie als Ganze steuernd in den Griff nehmen wollte, nicht
wesentlich anders verlaufen wäre. Dies gilt für viele spätere Strukturdynamiken
der dann ausdifferenzierten Massenmedien nicht mehr. Vielmehr ist dieses
Teilsystem zu einem der Hauptaktionsfelder politischer Gesellschaftssteuerung
geworden; und diese Steuerungsaktivitäten haben immer wieder auch aus „Dif-
ferenzierungspolitiken“ in dem Sinne bestanden, dass staatliche Akteure das
Teilsystem als Ganzes oder seine durch weitere eigene Binnendifferenzierung
entstandenen Teilsysteme zweiter Ordnung – Zeitungen, Rundfunk, Internet –
umgestaltet haben. Manchmal spielten zwar auch Partikularinteressen einzelner
politischer Parteien oder der Parteien insgesamt hinein; doch die Intentionalität
der staatlichen Akteure zielte primär auf teilsystemische Belange oder auf Ab-
stimmungserfordernisse zwischen den Massenmedien und anderen Teilsyste-
men. Patrick Donges (2002) Untersuchung der Rundfunkpolitiken verschiede-
ner Länder ist eine Studie, die solche Vorgänge mit dem hier explizierten Be-
zugsrahmen analysiert und dabei das Wechselspiel zwischen medienpolitischen
Akteuren und Medienakteuren ins Zentrum der Analyse rückt.
Politische Gesellschaftssteuerung ist sicherlich die ambitionierteste Intenti-
onalität, die gesellschaftlich vorkommt, und unterliegt deshalb am stärksten der
„Logik des Misslingens“ (Dörner 1989), also dem Eintreten unerwünschter
Nebeneffekte und dem Nichterreichen der angestrebten Ziele. Diese Transin-
tentionalitäten sind aufgrund der immensen Komplexität einer funktional diffe-
renzierten Gesellschaft und jedes ihrer Teilsysteme gleichsam vorprogram-
miert. Eine akteurtheoretische Betrachtung von „Differenzierungspolitiken“
kann jedoch auch davor bewahren, einem völligen Steuerungsdefätismus zu
verfallen. Sie deckt auf, wo genau und warum das handelnde Zusammenwirken
dem einzelnen Akteur und dann auch der Konstellation als Ganzes entgleitet;
sie ermöglicht so eine differenzierte Einschätzung, welche Gestaltungsspiel-
räume die Akteure haben; und sie kann dementsprechend je nach Situation –
seien es bescheidenere, seien es anspruchsvollere – Steuerungsziele und -stra-
tegien nahe legen. Denn so wichtig es einerseits ist, dass sich eine akteurtheore-
tisch fundierte Soziologie über die unaufhebbare Transintentionalität alles
handelnden Zusammenwirkens im Klaren ist: Weil die Menschen – und dies
erst recht in der Moderne! – gar nicht anders können, als immer wieder zu
versuchen, die Verhältnisse, unter denen sie leben, mit zu gestalten, ist anderer-
Handeln in Konstellationen 137

seits eine „soziologische Aufklärung“ gefragt, die zumindest eine „Intentionali-


tät in Grenzen“ unterstützt.

Literatur
Blöbaum, Bernd (1994): Journalismus als soziales System. Geschichte, Ausdifferenzierung und Verselb-
ständigung. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Boudon, Raymond (1984): Theories of Social Change: a critical appraisal. Cambridge: Polity Press.
Dörner, Dietrich (1989): Die Logik des Mißlingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
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komparative Analyse der politischen Steuerung des Rundfunks. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Elias, Norbert (1976 [1939]): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische
Untersuchungen. Band 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Zivilisation.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Emirbayer, Mustafa (1997): Manifesto for a Relational Sociology. In: American Journal of Sociology
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Campus.
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Giddens, Anthony (1984): The Constitution of Society. Cambridge: Polity Press.
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München: Juventa.
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Scholl, Armin & Siegfried Weischenberg (1998): Journalismus in der Gesellschaft. Wiesbaden: West-
deutscher Verlag.
Weber, Max (1967 [1919]): Wissenschaft als Beruf. Berlin: Duncker & Humblot.
Weber, Max (1978 [1920]): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen: Mohr.
Weber, Max (1972 [1922]): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübin-
gen: Mohr.
Beobachten, Beeinflussen und
Verhandeln via Öffentlichkeit:
Journalismus und gesellschaftliche
Strukturdynamik

Christoph Neuberger

1 Einführung
Nachdem lange Zeit die Systemtheorie die Journalismusforschung dominiert
hat, werden zunehmend andere soziologische Theorien entdeckt. Dazu zählen
Giddens Strukturationstheorie, Akteurtheorien, der „Cultural studies“-Ansatz
und das Bourdieu’sche Konzept des sozialen Feldes (vgl. den Theorieüberblick
in Löffelholz 2004). So belebend die Pluralisierung ist: Zu dieser Aufholbewe-
gung gehört es auch, dass Grundsatzdebatten noch einmal geführt und Front-
stellungen wiederholt werden, die in der Soziologie mittlerweile als überwun-
den oder zumindest entschärft gelten (Mikro- und Makroanalyse, Erklären und
Verstehen, System und Akteur, „homo oeconomicus“ und andere Akteurmo-
delle).
Diese Umwege erspart ein integrativer Ansatz, wie ihn Uwe Schimank aus-
gearbeitet hat. Schimank stellt in seinem Beitrag in diesem Band die basalen
Komponenten seines Bezugsrahmens vor, die er vor allem in seinem Buch
„Handeln und Strukturen“ (vgl. Schimank 2000) vertieft1:
ƒ Eine Akteurkonstellation entsteht, sobald „die Intentionen von mindestens
zwei Akteuren interferieren“ (ebd.: 173) und sie durch handelndes Zu-
sammenwirken versuchen, ihre Intentionen zu realisieren.

1 Vgl. zur Diskussion integrativer Ansätze in der Soziologie: Greshoff & Schimank (2006).
140 Christoph Neuberger

ƒ Strukturen sind relativ dauerhafte Bewältigungsmuster für solche Intenti-


onsinterferenzen (vgl. ebd.: 176). Handeln und Strukturen sind rekursiv
verbunden: Strukturen werden durch das Handeln von Akteuren – gewollt
oder ungewollt, in vorgesehener oder unvorhergesehener Weise – aufge-
baut, verändert oder erhalten. Handeln (re-)produziert also Strukturen, die
ihrerseits künftiges Handeln prägen, ohne es zu determinieren.
ƒ Je inkompatibler die Intentionen der beteiligten Akteure, je geringer die
Einflussdifferenzen, desto weniger vorhersehbar sind die transintentionalen
Struktureffekte ihres Handelns (vgl. ebd.: 187).
ƒ Schimank unterscheidet Strukturdynamiken nach den Typen handelnden
Zusammenwirkens, durch die sie in Gang gesetzt werden: durch Beobach-
ten, Beeinflussen und Verhandeln (vgl. ebd.: 207ff.).
Das rekursive Verhältnis zwischen Handeln und Strukturen kann in zwei Rich-
tungen beobachtet werden – je nachdem, welche Seite man als unabhängige
oder abhängige Variable fixiert. Im Fall der Strukturdynamiken, die hier im
Mittelpunkt stehen, lautet die Frage: Wie bestimmt das Handeln (als unabhän-
gige Variable) Strukturen (als abhängige Variable)?
Schimank kritisiert, dass sich die allgemeine soziologische Theorie um
Strukturdynamiken „von den Klassikern bis heute niemals systematisch [...]
gekümmert“ (ebd.: 190) hat. Auch der Wandel im Journalismus und die Bedeu-
tung des Journalismus für den gesellschaftlichen Wandel haben erst in jüngster
Zeit größere Aufmerksamkeit erhalten (vgl. Behmer et al. 2005). In diesem
Beitrag wird angenommen, dass der Journalismus wesentlich zur gesellschaftli-
chen Dynamik beiträgt, indem er öffentlich ablaufende Prozesse des Beobach-
tens, Beeinflussens und Verhandelns vermittelt (vgl. Abschnitt 7). Zunächst
aber werden die wesentlichen Strukturen des Journalismus (vgl. Abschnitte 2-5)
und die Handlungsantriebe der Akteure (vgl. Abschnitt 6) beschrieben. Dabei
soll gezeigt werden, wie unterschiedliche Ansätze der Kommunikationswissen-
schaft in Schimanks Bezugsrahmen eingeordnet werden können, in dem er drei
Strukturbereiche unterscheidet.
Schimank (in diesem Band) betont, dass – im Unterschied zur Auffassung
Luhmanns – ein gesellschaftliches Teilsystem nicht nur durch eine Deutungs-
struktur, also eine Funktion und einen binären Code, gekennzeichnet ist, son-
Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln via Öffentlichkeit 141

dern darüber hinaus durch eine spezifische Erwartungs- und Konstellations-


struktur (vgl. Schimank 2000: 176ff.)2:
ƒ Die Deutungsstrukturen („Wollen“) eines gesellschaftlichen Teilsystems sind
evaluativ (kulturelle Werte, teilsystemische Codes) und kognitiv (Rezept-
wissen, wissenschaftliche Theorien) ausgerichtet.
ƒ Die Erwartungsstrukturen („Sollen“) umfassen institutionalisierte, normative
Erwartungen, die als (in-)formelle Regeln durch Sanktionen durchgesetzt
werden (Recht, Organisationen, Programme, Rollen etc.).
ƒ Die Konstellationsstrukturen („Können“) sind stabile Akteurkonstellationen,
die oft auf einer bestimmten Verteilung von Einflusspotenzialen beruhen.

2 Deutungsstrukturen im Journalismus
2.1 Evaluative Deutungsstrukturen
Der Journalismus ist ein Leistungssystem innerhalb des funktional ausdifferen-
zierten gesellschaftlichen Teilsystems Öffentlichkeit, dessen Sinngrenzen durch
eine Funktion und einen binären Code markiert sind. Als Funktion des Journa-
lismus gilt die gesellschaftliche Selbstbeobachtung, als binärer Code „aktuell“ –
„nicht-aktuell“ (vgl. Neuberger 2004: 298f.; Scholl & Weischenberg 1998:
63ff.).
Der Leitwert „Aktualität“ definiert sozial und zeitlich, was journalistisch re-
levant ist: Die Zeitung setze ihre Leser über alles in Kenntnis, so Groth (1960:
189), „was deren Lebensinteressen in der Gegenwart berührt.“ Sachlich bleibt
das Themenspektrum offen: Themen können aus allen gesellschaftlichen Teil-
systemen aufgegriffen werden, sofern sie gegenwärtig (= zeitlich) weitgehend
einheitlich (= sozial) relevant sind. Nachrichtenfaktoren (wie Negativismus,
Eliteperson und Nähe) als Selektionskriterien sind kognitiv-berufliche Deu-
tungsstrukturen, die Aktualität operationalisieren.
Der Journalismus stellt innerhalb anderer Teilsysteme Öffentlichkeit her
und vermittelt zwischen Leistungserbringern und -empfängern, etwa zwischen
Staat, Parteien und Bürgern, zwischen Produzenten und Konsumenten. Darin
besteht seine Vermittlungsleistung für andere gesellschaftliche Teilsysteme (vgl.

2 In früheren Darstellungen bezeichnete Schimank (1996: 243-248; vgl. Schimank 1992: 166-
173) diese Strukturbereiche als „teilsystemischer Orientierungshorizont“, „institutionelle
Ordnung“ und „Akteurkonstellation“.
142 Christoph Neuberger

Neuberger 2004: 299ff.). Allerdings unterwirft er sich dabei nicht gänzlich der
jeweiligen teilsystemischen Rationalität, sondern behauptet sich als eigenständi-
ges System (vgl. Abschnitt 4).
Der auf die öffentliche Verbreitung allgemein relevanter Neuigkeiten spezi-
alisierte Journalismus ist ein Unruheherd der Gesellschaft, der oft Ausgangs-
punkt von Strukturdynamiken ist. Er dient der
Erzeugung und Verarbeitung von Irritation. [...] Massenmedien halten, könnte
man deshalb auch sagen, die Gesellschaft wach. Sie erzeugen eine ständig erneu-
erte Bereitschaft, mit Überraschungen, ja mit Störungen zu rechnen. (Luhmann
1996: 46-48)

2.2 Kognitive Deutungsstrukturen


Im Öffentlichkeitssystem herrschen „schlechte Sichtverhältnisse“. Das Publi-
kum kann zwar die publizierten Mitteilungen beobachten, weiß aber wenig
über deren Urheber. Massenkommunikation verläuft nicht nur indirekt (raum-
zeitliche Distanz), sondern in der Regel auch einseitig von der Redaktion zum
Publikum. Das Verhältnis zwischen den Leistungserbringern und -empfängern
ist distanziert und anonym, die Beobachtungsmöglichkeiten sind beschränkt:
Das Journalistenbild des Publikums ist ebenso vage wie das Publikumsbild der
Journalisten. Auch untereinander können sich die Glieder des „dispersen“
(= zerstreuten) Publikums nur in einem engen Radius wahrnehmen. Zudem ist
die dargestellte Realität der Überprüfung durch eigene Beobachtungen weitge-
hend entzogen.
Schlüsse, die Rezipienten auf andere Rezipienten (vgl. Hartmann & Dohle
2005), die Realität oder die Journalisten ziehen, sind irrtumsanfällig (vgl. Schi-
mank 2000: 228f.). In mehreren Wirkungsansätzen wird der Frage nachgegan-
gen, inwiefern Rezipienten mediale Darstellungen als Beobachtungsdaten ver-
wenden, um auf die Realität zu schließen, z.B. auf die Häufigkeit und die Ei-
genschaften bestimmter Ereignistypen (vgl. Daschmann 2001), Gewaltrisiken
(„Kultivierungsanalyse“) und die Meinungsverteilung („Theorie der Schweige-
spirale“). Merten (1978: 578; Hervorhebung im Original) bezeichnet Massen-
kommunikation deshalb als „virtuelles Sozialsystem“, in dem nicht geprüfte,
sondern unterstellte Annahmen wirksam sind.
Im Verhältnis zwischen Journalismus und Publikum sind ein hohes Maß an
Vertrauen (vgl. Kohring 2004) und vorhergehender Abstimmung notwendig,
weil diese nicht – wie in der Kommunikation unter Anwesenden und/oder bei
wenigen Beteiligten – ad hoc über Rückkanäle stattfinden kann. Kognitive
Deutungsstrukturen, die dieses leisten, sind „Medienhandlungsschemata“
Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln via Öffentlichkeit 143

(vgl. Schmidt 1994: 164ff.). Im Journalismus lassen sich Deutungsschemata auf


mehreren Ebenen unterscheiden (Berichterstattungsmuster, Sparten, Darstel-
lungsformen, Marken) (vgl. Neuberger 2005: 73ff.). Sie besitzen eine kognitive
und eine kommunikative Seite: Akteure verfügen über Schemawissen, das sie
im Laufe der Sozialisation erwerben; in der Kommunikation werden Schema-
bezeichnungen verwendet (wie „Nachricht“, „Talkshow“ oder „Spielfilm“). Sie
signalisieren den Rezipienten metakommunikativ, welches Schemawissen er
aktivieren muss, um ein Medienangebot „richtig“, d.h. im Sinne des Kommu-
nikators zu interpretieren. Schematisierung erleichtert die Koorientierung zwi-
schen Journalismus und Publikum. Journalisten können ihre Arbeit routinisie-
ren und ihren Erfolg besser kalkulieren.

3 Erwartungsstrukturen im Journalismus
Erwartungsstrukturen setzen die teilsystemische Handlungslogik in konkrete
Anweisungen um und machen sie durchsetzungsfähig. Die Erwartungsstruktu-
ren im Journalismus kann man in einen Arbeits- und einen Berufskontext un-
terteilen (vgl. Rühl 1989: 254f.):
ƒ Arbeit: Arbeitsorganisationen (Redaktionen), Arbeitsrollen (Redakteur,
Reporter etc.) und redaktionelle Entscheidungsprogramme für das Darstel-
len, Ordnen, Selektieren, Sammeln und Prüfen von Informationen (vgl.
Altmeppen 2004: 425ff.; Blöbaum 1994: 220ff.) sind unmittelbar leistungs-
erbringend. Sie dienen als Vorgaben für die Produktion bestimmter Me-
dienangebote.
ƒ Beruf: Berufsorganisationen (Journalistenverbände), Berufsrollen („neutra-
ler Berichterstatter‘, „Kritiker an Missständen“, „Anwalt der Benachteilig-
ten“ etc.) (vgl. Scholl & Weischenberg 1998: 157ff.) und Berufsnormen als
allgemeine journalistische Standards (Vielfalt, Trennung von Nachricht
und Meinung etc.) regulieren und orientieren. Sie operationalisieren den
binären Code des Systems Journalismus. Berufliche Erwartungsstrukturen
sind in Berufskodizes und Gesetzen formalisiert.3
Die beruflichen Strukturen werden nicht unverändert in die redaktionellen
Strukturen übernommen. Organisationen können den Handlungslogiken meh-

3 Die konkrete Abgrenzung zwischen Deutungs- und Erwartungsstrukturen fällt nicht immer
leicht, da auch Regeln, die mit Sanktionen bewehrt sind, kognitive und evaluative Deutun-
gen enthalten.
144 Christoph Neuberger

rerer Teilsysteme folgen (vgl. Schimank 1996: 250f.). Für Medienunternehmen


ist eine Orientierung an journalistischen und ökonomischen Zwecken typisch,
was häufig zu Spannungen führt (vgl. Abschnitte 5 und 6).
Den Journalisten als Leistungserbringern im Öffentlichkeitssystem stehen
Leistungsempfänger gegenüber, die über Publikumsrollen am System beteiligt
sind (vgl. Stichweh 1988: 262). Im Journalismus lassen sich drei Typen von
Leistungsempfängern unterscheiden:
ƒ Rezipienten fragen bestimmte Gratifikationen nach. Ihre Erwartungen sind
auch durch die Rollen geprägt, die sie in anderen gesellschaftlichen Teilsys-
temen übernehmen. An diesen sind sie zumeist ebenfalls als Leistungs-
empfänger beteiligt (Verbraucher, Bürger, Sportfan etc.). Nach der Auf-
merksamkeit, die Rezipienten journalistischen Angeboten schenken, stre-
ben Öffentlichkeitsarbeit und Werbung.
ƒ Akteure, die Öffentlichkeitsarbeit („Public Relations“) betreiben, haben eine
bestimmte Wirkungsintention: Im Unterschied zur journalistischen
Fremddarstellung der gesellschaftlichen Umwelt betreiben sie Selbstdar-
stellung und bemühen sich langfristig um Bekanntheit und ein positives
Image ihrer Organisation.
ƒ Die Werbung will einen kurzfristigen Kaufimpuls auslösen. Ihre Produkt-
botschaften sollen separat vom redaktionellen Teil präsentiert werden.
Über die Quersubventionierung des Journalismus durch Werbeerlöse kön-
nen jedoch Werbetreibende Einfluss auf seine Entscheidungen nehmen.
In den beruflichen Erwartungsstrukturen des Journalismus gibt es eine klare
Hierarchie: Die Publikumsbedürfnisse haben Vorrang vor den Wirkungsinten-
tionen von Öffentlichkeitsarbeit und Werbung. Durch die Trennungsnorm und
andere Normen soll vor allem ausgeschlossen werden, dass Interessen der
Werbetreibenden Eingang in den Journalismus finden (vgl. Baerns 2004). Bar-
rieren gibt es auch gegen einen zu starken und einseitigen Einfluss von „Public
Relations“ (PR).
Doch auch der Publikumsorientierung sind im Journalismus Grenzen ge-
setzt: Journalistische Angebote sind „meritorische Güter“, für die keine ausrei-
chend große Publikumsnachfrage herrscht. Um die für das Gemeinwohl, die
Erfüllung der „öffentlichen Aufgabe“ erforderliche Qualität und Menge zu
produzieren, gelten Eingriffe in die Konsumentensouveränität als gerechtfertigt
(etwa durch das Erheben von Gebühren, mit denen alle Besitzer von Emp-
fangsgeräten den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gemeinsam finanzieren müs-
sen) (vgl. Neuberger 1997a: 172).
Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln via Öffentlichkeit 145

Fragt man Journalisten nach ihrem Berufsverständnis, dann dominieren die


Publikums- und die Gemeinwohlorientierung (vgl. Schneider, Schönbach &
Stürzebecher 1993: 23f.; Weischenberg, Malik & Scholl 2006: 356). Die Durch-
setzungskraft beruflicher Erwartungsstrukturen im Journalismus ist allerdings
relativ schwach. Die Grundrechtsnorm der Medienfreiheit setzt sowohl der
Selbst- als auch der rechtlichen Fremdregulierung Schranken.

4 Konstellationsstrukturen im Journalismus
Akteure besitzen drei basale Merkmale: Sie verfolgen bestimmte Interessen,
verfügen über Einflusspotenziale, um ihre Interessen in Akteurkonstellationen
durchzusetzen, und haben dafür eine Handlungsstrategie. Konstellationsstruk-
turen sind stabile Akteurkonstellationen, die oft auf der (gleichen oder unglei-
chen, positiv oder negativ bewerteten) Verteilung von Einflusspotenzialen
beruhen. Journalisten sind „Vermittlungsakteure“ (Schimank 2000: 271) inner-
halb einer längeren Einflusskette: Auf der Inputseite geht es um die Beziehung
zwischen dem Journalismus zu seinen Quellen, zur Öffentlichkeitsarbeit und
zur Werbung, auf der Outputseite um die Beziehung zu seinem Publikum. Die
weiteren Ausführungen konzentrieren sich auf das Verhältnis zwischen Öffent-
lichkeitsarbeit, Journalismus und Publikum.
Über das Öffentlichkeitssystem werden Einflussbeziehungen für alle Teil-
systeme der Gesellschaft vermittelt. Das öffentliche Beobachten, Beeinflussen
und Verhandeln bestimmt in wachsendem Maße die Gesellschaft (These der
„Medialisierung“; Imhof 2006). Der Journalismus, der die Einflüsse als Subjekt
kanalisiert, ist (gerade deshalb) selbst Objekt vielfältiger Einflussversuche aus
seiner Umwelt. Sozialer Einfluss besteht darin, die Handlungsalternativen des
Gegenübers einzuschränken. Die Möglichkeiten dafür sind vielfältig (vgl.
Schimank 2000: 249ff.); Luhmann beschreibt z.B. Einflusspotenziale als sym-
bolisch generalisierte Kommunikationsmedien (Geld, Macht, Wahrheit, Moral
etc.).
Im Öffentlichkeitssystem lassen sich spezifische Einflusspotenziale des
Journalismus für Publikum und Öffentlichkeitsarbeit unterscheiden. Im Ver-
hältnis zu den Rezipienten ist in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften
das Überzeugen der zentrale, aber nicht der einzige Mechanismus, um zur
Annahme von Kommunikationsofferten zu bewegen (vgl. Abschnitt 7). Akteu-
re, die Öffentlichkeitsarbeit betreiben, streben nach Aufmerksamkeit (= Quan-
tität) und Zustimmung (= Qualität). Massenmedien, die diese verleihen, kön-
nen Anpassungsbereitschaft einfordern: Die Öffentlichkeitsarbeit, die versucht,
146 Christoph Neuberger

eigene Akteure, Themen und Meinungen in den Medien zu platzieren, will


erreichen, dass als neutrale Beobachtung (Fremddarstellung) erscheint, was als
Beeinflussung (Selbstdarstellung) intendiert ist, um so die Chance auf Auf-
merksamkeit und Zustimmung zu erhöhen. Dafür muss sie sich den „Spielre-
geln“ des Journalismus anpassen und vermeiden, dass ein erkennbar großer
Einfluss die Glaubwürdigkeit des Journalismus untergräbt. Die Werbung hin-
gegen spielt normalerweise mit „offenen Karten“ und gibt ihre persuasive Ab-
sicht bekannt. Verdeckte Werbung im redaktionellen Teil eines Medienange-
bots täuscht darüber, indem sie falsche metakommunikative Hinweise gibt, die
sie als „Journalismus“ etikettieren (vgl. ebd.: 230; Baerns 2004).
Öffentlich gewonnene Aufmerksamkeit und Zustimmung sind akkumulier-
bar: Die Prominenz eines Akteurs resultiert aus einem hohen Maß an Auf-
merksamkeit, seine Reputation aus einer hohen Wertschätzung (vgl. Neidhardt
1994: 322ff.). Franck (1998) hat die Parallelen zwischen Geld- und Aufmerk-
samkeitsökonomie herausgearbeitet (vgl. auch Neuberger 2001: 218ff.): Wer
einen hohen Bekanntheitsgrad besitzt, findet schon alleine deshalb Beachtung.
Prominenz wird zum Kapital, das Zinsen trägt. Ein Massenmedium ist, so
definiert Franck (1998: 150), sowohl die „Großbank, die die Millionenkredite
an Beachtlichkeit vergibt“, als auch die Börse, da die mediale Präsenz einer
Person auch Ausdruck ist für ihren „Erwartungswert“ bei der Aufmerksam-
keitsgewinnung. Das heißt: Ein Fernsehauftritt ist sowohl Investition (= Her-
stellung von Prominenz) als auch Gradmesser (= Einstufung des Bekannt-
heitsgrads). Diese Selbstverstärkung ist auch im Fall der Reputation zu beob-
achten, wo der – aus der Wissenschaft bekannte – „Matthäus-Effekt“ dazu
führt, dass jene, die bereits große Zustimmung genießen, in überproportional
hohem Maße weitere Zustimmung erhalten (vgl. Merton 1973: 446).
Dieser Mechanismus der Selbstverstärkung zeigt sich nicht nur bei Akteu-
ren.4 Der „Agenda setting“-Ansatz und die „Theorie der Schweigespirale“
legen nahe, dass die in den Medien hervorgehobenen Themen und Meinungen
dem Publikum als Indikator für die Relevanz von Themen und für die Mehr-
heitsmeinung dienen. Das Publikum reagiert mit der Übernahme der Agenda
und – aus Isolationsfurcht – mit der Anpassung an die veröffentlichte Mei-
nung. Die journalistische Selektion löst sich von ihrer ursprünglichen Begrün-
dung ab: Prominente werden aufgrund ihres Prominentseins (und nicht ihrer

4 Nach Luhmann (1996: 43) informieren Massenmedien nicht nur, sondern teilen zugleich
mit, worüber andere informiert sind und man deshalb selbst informiert sein muss, will man
keinen Ansehensverlust erleiden.
Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln via Öffentlichkeit 147

Leistungen) (vgl. Franck 1998: 131; vgl. auch Peters 1996), Themen aufgrund
ihrer Thematisierung (und nicht ihrer Relevanz) und Meinungen aufgrund ihrer
Artikulation (und nicht aus Überzeugung) akzeptiert.
Die Relevanzzuschreibung anderer Funktionssysteme wird also durch eine
eigenständige Einschätzung im Öffentlichkeitssystem abgelöst, an die Stelle
von Fremd- tritt Selbstreferenz. So treten nicht jene Wissenschaftler in Talk-
shows auf, die wissenschaftsintern über hohe Reputation verfügen, sondern
jene, die prominent sind und sich medienkonform präsentieren (vgl. Weingart
2001: 262ff.). Imhof (2006: 199ff.) sieht darin Hinweise auf eine „Medialisie-
rung“ der Gesellschaft und die Ausdifferenzierung eines Funktionssystems der
Medien.5 Die auf Neuigkeit und Aufmerksamkeitsgewinnung in einem breiten
Publikum ausgerichtete Eigenlogik des Journalismus wird aus der Perspektive
anderer Funktionssysteme oft als negative Externalität wahrgenommen. Um-
weltstörungen (ein Skandal beschädigt die Reputation eines Politikers etc.) und
der systeminterne Neuigkeitsdrang (der durch „frische“ Themen, die alte ver-
drängen, oder durch die Umbewertung von „positiv“ nach „negativ“ gestillt
wird) stoppen diesen Prozess der Selbstverstärkung.
Prominente erwerben durch ihre Bekanntheit auch die Fähigkeit, Unbe-
kannte(s) im Öffentlichkeitssystem ins Rampenlicht zu rücken (vgl. Franck
1998: 127). Solche „Abstrahlungseffekte“ lassen sich bei Auftritten von Promi-
nenten in der Werbung oder in Fernsehshows beobachten. Prominenz und
Reputation können in Einflusspotenziale anderer Teilsysteme konvertiert wer-
den: Politiker können die im Wahlkampf erworbene Bekanntheit und Beliebt-
heit am Wahltag in politische Macht umwandeln, Unternehmen die Zuwen-
dung und Zustimmung für sich und ihre Produkte in Geldeinnahmen ummün-
zen.

5 Struktureller Widerspruch im Journalismus


Die Hierarchie der beruflichen Erwartungsstrukturen (Gesellschaft – Publikum
– Öffentlichkeitsarbeit – Werbung) ist tendenziell umgekehrt zur Verteilung
der ökonomischen Einflusspotenziale: Massenmedien finanzieren sich in beträchtli-

5 Ähnliche „Abkopplungsphänomene“ (Schmidt & Spieß 1996: 25) werden in der Werbung
registriert, die zunehmend vom Produkt- auf den Kommunikationswettbewerb umstellt und
so ihren ursprünglichen Zweck aus den Augen verliert. Daneben gibt es Funktionssysteme
(wie Sport und Kunst), welche die Reputationszuschreibung weitgehend an das Öffentlich-
keitssystem abgetreten haben.
148 Christoph Neuberger

chem Maße durch Werbeerlöse. Die Öffentlichkeitsarbeit trägt dazu bei, dass
in Redaktionen die Kosten reduziert werden können. Sie beeinflusst durch
(nicht-)monetäre Zuwendungen an Journalisten. Vergleichsweise gering sind
dagegen die Zahlungsfähigkeit und -bereitschaft des Publikums.
Der Medienökonom Heinrich (1996: 166) kommt zum Ergebnis, dass auf
dem Publikumsmarkt „der Qualitätswettbewerb eher schlecht funktioniert und
dass vor allem ein Kostenwettbewerb mit negativen Auswirkungen auf die
publizistische Qualität zu beobachten ist“. Dies liegt zum einen an der geringen
Qualitätstransparenz („Erfahrungs-“ und „Vertrauensgüter“, die Rezipienten
ex ante oder selbst a posteriori nicht beurteilen können, sowie hohe Kosten für
die Informationsgewinnung bei relativ geringem Nutzen). Zum anderen lassen
sich journalistische Angebote als „öffentliches Gut“ schlecht vermarkten
(Nicht-Ausschließbarkeit von Nichtzahlern und Nicht-Rivalität im Konsum).
Aus diesen Gründen herrscht unter den Rezipienten eine Art „rationale Igno-
ranz“: Sie sind nicht bereit, ein Qualitätsangebot durch die Bezahlung eines
hohen Preises zu honorieren. So besteht für die Produzenten kaum ein Anreiz,
bessere Qualität zu liefern. Deshalb herrscht auf journalistischen Märkten eher
ein Kosten- als ein Qualitätswettbewerb (vgl. ebd.: 167ff.). Diese Vermark-
tungsprobleme besitzt die Werbung nicht, weshalb Medienunternehmen dazu
neigen, sich stärker an den Interessen der Werbetreibenden zu orientieren.
Zwischen den beruflichen Deutungs- und Erwartungsstrukturen einerseits
und den Konstellationsstrukturen andererseits herrscht im Journalismus also
ein Spannungsverhältnis, das durch die Ökonomisierung zunimmt (vgl. Hein-
rich 2001). Zwar sollen Berufsnormen den Einfluss der Öffentlichkeitsarbeit
und der Werbung auf den redaktionellen Teil der Massenmedien eindämmen,
doch dass sie akzeptiert und eingehalten werden, ist zweifelhaft.

6 Handlungsantriebe im Journalismus
Wie verhalten sich Journalisten im Spannungsverhältnis zwischen beruflichen
Erwartungen und ökonomischen Einflüssen? Was motiviert Journalisten? Dar-
über geben die Ergebnisse einer repräsentativen Journalistenbefragung Auf-
schluss, die Schneider, Schönbach & Stürzebecher (1993: 20) im Jahr 1992 in
den alten Bundesländern durchgeführt haben (N=983). Dabei sollten Journalis-
ten angeben, welche Punkte sie „persönlich heute an Ihrem Beruf besonders
anziehend finden“. Extrinsische Motive, bei denen der Beruf als Mittel zum
Zweck betrachtet wird, wurden eher selten genannt. Dies galt sowohl für das
ökonomische Einkommen („gute Verdienstmöglichkeiten“: 43%, „gute Zu-
Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln via Öffentlichkeit 149

kunftschancen“: 24%) als auch für das „Einkommen“ an Aufmerksamkeit


(„weil es irgendwie Spaß macht, seinen Namen und seine Arbeit gedruckt zu
sehen“: 39%), das Ansehen („Ansehen der Journalisten“: 10%) und die Macht,
die der Beruf verschafft („Möglichkeit, meine Überzeugungen vielen anderen
mitzuteilen“: 34%, „Möglichkeit, politische Entscheidungen zu beeinflussen“:
30%).
Wichtiger waren die intrinsischen Motive, die auf den Beruf als Selbstzweck
gerichtet sind. Dabei geht es zum einen um die optimale Erfüllung der gesell-
schaftlichen Aufgaben („Möglichkeit, Mißstände aufzudecken und zu kritisie-
ren“: 67%, „Möglichkeit, sich für Werte und Ideale einzusetzen“: 49%). Zum
anderen wurden die spezifischen Bedingungen journalistischer Arbeit ge-
schätzt, z.B., dass der Journalistenberuf abwechslungsreich und spannend ist
(82%) und dass er viele Freiheiten bietet (68%). Diese Ergebnisse bestätigen
die verbreitete Annahme, dass mit der Wahl des Journalistenberufs ein hohes
Maß an Idealismus verbunden ist. Dies schwächt seine Position auf dem Ar-
beitsmarkt.
Dass Journalisten nicht alleine auf den eigenen Vorteil bedacht sind, son-
dern ihr berufliches Selbstbild verwirklichen wollen, entspricht dem Akteur-
modell des „Identitätsbehaupters“. Schimank (2000: 37ff.) unterscheidet vier
Akteurmodelle: den rational kalkulierenden, egoistischen Nutzenmaximierer
(„homo oeconomicus“), den normgeleiteten „homo sociologicus“, den durch
Gefühle gelenkten „emotional man“ und den „Identitätsbehaupter“. Zwischen
einzelnen Handlungsantrieben und Strukturbereichen besteht eine Affinität:
„Identitätsbehaupter“ orientieren sich primär an evaluativen Deutungsstruktu-
ren. Der „homo sociologicus“ passt sich normativen Erwartungen an. In der
systemtheoretisch orientierten Redaktionsforschung wird der Redakteur als
„homo sociologicus“ aufgefasst, der sich nahtlos in redaktionelle Strukturen
einfügt: „Redaktionelle Arbeit ist heutzutage entpersönlicht in dem Sinne, daß
sie nicht von ganz bestimmten Personen geleistet wird, sondern durch journa-
listische Rollen.“ (Rühl 1979: 14) Diese Sichtweise stößt schon deshalb an
Grenzen, weil journalistisches Handeln, das flexibel auf Überraschungen rea-
gieren muss, nicht durch Entscheidungsprogramme vollständig festgelegt sein
kann.
Als „homo oeconomicus“, der vor allem Konstellationsstrukturen im Blick
hat, ist der Journalist erst neuerdings wahrgenommen worden (vgl. Fengler &
Ruß-Mohl 2005; Reinemann, in diesem Band). In einer Studie über den Me-
dienjournalismus kam Fengler (2002: 300) zum Ergebnis, dass Journalisten
rational handeln, wenn sie sich nicht am Publikum orientieren:
150 Christoph Neuberger
Die Gruppen mit dem größten Droh- und Sanktionspotenzial, die ihnen
zugleich die größten extrinsischen Anreize bieten, also die Journalisten sowie die
Medienunternehmer und -manager, werden von den Medienjournalisten bei ih-
ren journalistischen Handlungsentscheidungen bevorzugt behandelt.

Für die starke Orientierung der Journalisten an Vorgesetzten und Berufskolle-


gen gibt es zahlreiche Belege (vgl. Reinemann 2003: 33ff.; Weischenberg, Malik
& Scholl 2006: 358). Ein Grund dafür ist, dass die Konsequenzen journalisti-
schen Handelns auf der Publikumsseite, die über die Messung von Reichweiten
hinausgehen, nur schwer beobachtbar und antizipierbar sind (vgl. Kepplinger
& Vohl 1976: 334ff.). Darüber hinaus vermitteln vorgesetzte Umwelteinflüsse,
z.B. dann, wenn sich Politiker beim Verleger oder Chefredakteur über deren
Mitarbeiter beschweren.
Die Rezeptionsforschung basiert in weiten Teilen auf dem Modell des „homo
oeconomicus“ (vgl. Jäckel 1996: 63ff.). So folgt der Rezipient nach dem „Ex-
pectancy-Value Approach“ dem Prinzip der kalkulierenden Nutzenmaximie-
rung (vgl. Palmgreen & Rayburn 1985): Er selektiert jenes Medienangebot, für
welches das Produkt aus Erwartungssicherheit (als Wahrscheinlichkeitsschät-
zung über die Handlungsfolgen) und Bewertung (der Folgen in Nutzen- bzw.
Kosteneinheiten) am höchsten ist. Allerdings ist die Rezeption von Massenme-
dien meistens eine „Niedrigkosten-Situation“ (vgl. Jäckel 1992). Ein Beispiel ist
die Kanalwahl im Fernsehen, bei der eine „falsche“ Wahl nur zu einem gerin-
gen Schaden führt, weshalb Zuschauer oft durch die Programme „zappen“,
anstatt vorher eine Programmzeitschrift zur Hand zu nehmen. Nicht nur die
Selektion des Medienangebots, sondern auch die Informationsverarbeitung
geschieht überwiegend routinehaft und unvollständig. Sie folgt einem Modell
der „Alltagsrationalität“, wie Brosius (1997) empirisch belegt hat.
Das Spektrum der Gratifikationen, nach denen Rezipienten streben kön-
nen, ist weit. Grob kann man zwischen sofortiger und verzögerter Bedürfnis-
befriedigung unterscheiden (vgl. Schramm 1949: 260f.): Unterhaltung löst un-
mittelbar Emotionen aus, Information wird bereitgestellt, um im Bedarfsfall
Probleme bearbeiten zu können. Der Rezipient kann nicht nur als „homo oe-
conomicus“ oder „emotional man“ betrachtet werden, sein Handeln kann auch
dem Modell des „Identitätsbehaupters“ folgen, etwa dann, wenn er dem
Selbstbild des „gut informierten Bürgers“ (vgl. Schütz 1972) gerecht werden
will, indem er eine Qualitätszeitung liest (oder diese zumindest abonniert hat)
und aus moralischen Gründen auf die Nutzung bestimmter Angebote verzich-
tet (wie Gewaltdarstellungen und Pornografie), obwohl er – weil dies heimlich
möglich wäre – nicht mit Sanktionen rechnen muss.
Abbildung 1: Journalistische Vermittlungsstrukturen der Akteurkonstellation Öffentlichkeitsarbeit – Journalismus – Publikum
Strukturtyp Beobachtung Beeinflussung Verhandlung
Deutungs- evaluativ Öffentlichkeit als „Spiegel“ Öffentlichkeit als Instrument: Öffentlichkeit als Diskurs (Deli-
strukturen (Liberalismus) / Selbst- (1) journalistisches Eigeninteresse; beration)
beobachtung der Gesellschaft (2) Fremdinteresse: Öffentlichkeitarbeit,
(Systemtheorie) Werbung, Propaganda
kognitiv-beruflich Nachrichtenjournalismus persuasive Mittel: implizite Wertungen „diskursiver Journalismus“
(„objective reporting“): Nach- („instrumentelle Aktualisierung“; Kepplinger), (Burkart)
richtenschema / -faktoren explizite Wertungen (Kommentierung) etc.
kognitiv- Theorien kognitiver Wirkungen / Theorien persuasiver Wirkungen / „starke“ Theorie der Verständigung
wissenschaftich „schwache“ Wirkungen Wirkungen (Habermas)
Erwartungs- Berufsrolle „neutraler Beobachter“ Eigeninteresse Fremdinteresse Moderator / „Anwalt“
strukturen „publizistische Persön- Werbe-, PR-Rollen,
lichkeit“, „Missionar“ „Propagandist“
Berufsnormen Objektivität (Neutralität, eigene Position sich für die „richtige“ Diskursregeln (Bezugnahme,
Trennung von Nachricht beziehen Position einsetzen Begründung, Komplexität),
und Meinung etc.) Offenheit für Akteure und
Themen
Konstellations- Einfluss der Öffent- stark schwach stark schwach: „herrschaftsfreier
strukturen lichkeitsarbeit auf Diskurs“
den Journalismus
Einfluss des schwach stark stark bei der Organisation des
Journalismus auf Diskurses / schwach, da keine
das Publikum Interessenvertretung
Intentionalität intentionslos intentional transintentional
(Ausgleich der Interessen)
152 Christoph Neuberger

7 Strukturdynamik durch den Journalismus


Gesellschaftliche Strukturdynamiken werden durch das öffentliche Beobach-
ten, Beeinflussen und Verhandeln ausgelöst, die der Journalismus vermittelt. In
den beruflichen Strukturen des Journalismus lassen sich alle drei Auslöser für
Strukturdynamiken nachweisen (vgl. Abbildung 1).

7.1 Beobachtung
Kann der Journalismus als „Spiegel“ der Umwelt fungieren, kann er ein unver-
zerrtes „Abbild“ liefern? Unter Journalisten ist dies eine verbreitete Vor-
stellung: Eine repräsentative Befragung ergab im Jahr 2006, dass rund drei
Viertel der Journalisten (74%) der Aufgabe zustimmten, Journalisten sollten
„die Realität genauso abbilden, wie sie ist“ (vgl. Weischenberg, Malik & Scholl
2006: 356).
Erkenntnistheoretisch muss eine solche Aufgabe als unerfüllbar gelten, be-
sonders aus der Sicht des „Radikalen Konstruktivismus“, der auch in der Jour-
nalismusforschung Anhänger gefunden hat. Auch dann, wenn man eine kri-
tisch-rationale Position einnimmt, muss man von diesem Anspruch erhebliche
Abstriche machen. Neben der prinzipiellen Fehlbarkeit von Erkenntnis ist bei
der Abbildfunktion weiter zu berücksichtigen, dass jede Selektion mit einer
subjektiv-wertenden Entscheidung verbunden ist, es also keine „objektiven“
Kriterien der Nachrichtenauswahl gibt, sondern höchstens Konventionen dar-
über existieren können (vgl. Neuberger 1997b; Seel 2002).
Dass Journalisten bloße Beobachter gesellschaftlicher Vorgänge sein sollen,
ist dennoch Teil der beruflichen Erwartungsstruktur. Für den heute dominan-
ten Nachrichtenjournalismus ist Objektivität die Zentralnorm (vgl. Weischen-
berg 1983; Neuberger 1997b). Damit verbunden sind auch Erwartungen wie
Unparteilichkeit, die standardisierte Nachrichtenform („W-Fragen“, Aufbau
nach dem Prinzip der „umgekehrten Pyramide“), die Nennung von Quellen
sowie die Trennung von Nachricht und Meinung, die über die Erkenntnisfrage
hinausreichen.
Die Norm der Trennung von Nachricht und Meinung soll eine für den Re-
zipienten erkennbare Grenze zwischen neutraler Beobachtung und intendierter
Beeinflussung im Journalismus ziehen. Allerdings können metakommunikative
Rahmenhinweise auch zur Täuschung der Rezipienten eingesetzt werden. Dies
ist etwa dann der Fall, wenn in Nachrichten implizit bewertet wird, etwa durch
die Synchronisation der Kommentarlinie mit der Nachrichtenauswahl (vgl.
Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln via Öffentlichkeit 153

Schönbach 1977) oder durch die „instrumentelle Aktualisierung“ von Fakten,


die eine Wertungstendenz besitzen (vgl. Kepplinger 1989).
Seit den sechziger Jahren wird der Nachrichtenjournalismus in den USA als
dysfunktional kritisiert (vgl. Schudson 1978). Durch das Streben nach reiner
Beobachtung werde er zum Spielball der gesellschaftlichen Kräfte. Dieser
„Verlautbarungsjournalismus“ bevorzuge offizielle Standpunkte und Ereignis-
se, die von einflussreichen Institutionen kontrolliert und inszeniert werden. Mit
dieser Kritik gehen Forderungen nach weiterreichenden Eingriffen des Journa-
lismus in den Vermittlungsprozess einher. Normative Öffentlichkeitsmodelle
stellen unterschiedlich hohe Anforderungen (vgl. Weßler 1999: 29ff.): Das
liberale Modell begnügt sich mit einer angemessenen Repräsentanz auf der
Inputseite, die (wie im öffentlich-rechtlichen Rundfunk) über die Normen
„Vielfalt“ und „Ausgewogenheit“ hergestellt werden soll. Nach dem deliberati-
ven Modell sollen Öffentlichkeitsstrukturen darüber hinaus eine diskursive
Bearbeitung des Input (Throughput) und eine überzeugende öffentliche Mei-
nung als Output sicherstellen. Auch der Input soll reguliert werden, indem
Journalisten als „Anwälte“ gesellschaftlicher Randgruppen auftreten, die artiku-
lationsschwach sind.
Medien, die dem Publikum als Beobachtungsinstrumente dienen, haben
vielfältige Effekte. Sie verändern durch die Aufmerksamkeit, die sie Akteuren
schenken, oder durch die Wiedergabe von Meinungen, die in der Gesellschaft
kursieren, Konstellationsstrukturen. Sie können zur Abweichungsdämpfung
oder -verstärkung von Erwartungsstrukturen beitragen: Einerseits kann der
Journalismus Normen bekräftigen; so können Berichte über Bestrafungen eine
Präventivwirkung haben. Andererseits können aber auch Nachahmungstaten
angeregt werden, etwa durch Berichte über gewalttätige Demonstrationen oder
Selbstmorde („Werther-Effekt“).

7.2 Beeinflussung
Ein wesentlicher Teil der Journalismusforschung ist Fragen der Beeinflussung
gewidmet: Wollen Journalisten Einfluss nehmen? Welche Eigeninteressen
verfolgen sie, welche Fremdinteressen wirken auf sie ein? Mit welchen Mitteln
versuchen sie, diese durchzusetzen? Wie erfolgreich können sie ihre Intentio-
nen realisieren?
Lange Zeit wurden deutsche Journalisten für ihr angeblich „missionarisches
Bewusstsein“ kritisiert. Ihnen wurde unterstellt, dass sie eigenständige politi-
sche Interessen verfolgen und über eine große, nicht demokratisch legitimierte
Macht verfügen, um Wähler zu beeinflussen. Empirische Befunde haben diese
154 Christoph Neuberger

Vorstellung weitgehend widerlegt: Weder ließ sich eine solche Intention nach-
weisen (vgl. Schönbach, Stürzebecher & Schneider 1994), noch erscheint es
plausibel, dass sie eine solche Absicht umstandslos realisieren könnten (vgl.
Weischenberg, von Bassewitz & Scholl 1989). Die früher verbreitete Vorstel-
lung eines monokausalen und intentional steuerbaren Wirkungsverlaufs ist
differenzierteren Modellen gewichen. Deshalb ist überwiegend mit transinten-
tionalen Effekten zu rechnen.6
Öffentlichkeitsarbeit versucht, über eine Einflusskette (vgl. Schimank 2000:
271), in der Journalismus das Zwischenglied bildet, das Publikum zu erreichen.
Auch die Beziehung zwischen Öffentlichkeitsarbeit und Journalismus wurde –
wie jene zwischen Journalismus und Publikum – zunächst als einseitig domi-
nierte Beeinflussungskonstellation interpretiert. Dieser Steuerungsoptimismus
ist gleichfalls gewichen: Anstatt von einer „Determination“ des Journalismus
durch PR auszugehen, werden mit Hilfe des „Intereffikationsmodells“ unter-
schiedliche Einflusskonstellationen empirisch analysiert (vgl. zuletzt Altmep-
pen, Röttger & Bentele 2004).
Veränderungen der medialen Randbedingungen können die Einflusskons-
tellationen verschieben. Im Internet kommt es teilweise zu einer „Disinterme-
diation“ (Shapiro 1999), d.h. der Journalismus kann als Zwischenglied der Ein-
flusskette entfallen. Einerseits kann dadurch die Öffentlichkeitsarbeit in einen
direkten Kontakt mit ihren Bezugsgruppen treten und muss nicht mehr den
Umweg über die Redaktionen gehen. Andererseits können die Nutzer mit
geringem Aufwand von der Rezipienten- in die Kommunikatorrolle wechseln
(vgl. Neuberger 2006): Neben der „exit“-Option (= Abwanderung) verfügen
sie so in höherem Maße auch über die „voice“-Option (= Widerspruch) als
Sanktionsmittel (vgl. Hirschman 1974).
Die Wirksamkeit von Beeinflussungsmitteln hängt vom Handlungsantrieb
der Akteure ab. Dafür hat Schimank (2000: 250ff.) eine Systematik (vgl. Abbil-
dung 2) entwickelt, die für die Medienwirkungsforschung und die Argumenta-
tionstheorie eine Reihe von Anschlussmöglichkeiten bietet. Der Einsatz von
Einflusspotenzialen anderer Funktionssysteme (Macht, Geld etc.) kann als
Versprechen oder Drohung angekündigt werden, um Rezipienten von ihrem
eigenen Vor- oder Nachteil zu überzeugen (z.B. eine Steuersenkung als Wahl-

6 Mit dem Internet verliert der Journalismus das Monopol, als „Gatekeeper“ den Zugang zur
aktuellen Öffentlichkeit zu kontrollieren. Da er in der Netzkommunikation nicht als domi-
nanter Akteur auftreten kann, ist Transintentionalität noch wahrscheinlicher (vgl. Schimank
2000: 277).
Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln via Öffentlichkeit 155

versprechen). Die trockene „Überzeugungsarbeit“ kann durch Unterhaltungs-


elemente angereichert werden, die eine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung
verschaffen. Auch der Appell an den eigenen (z.B. moralischen) Anspruch, die
Missbilligung von Normverstößen und das Auslösen von Emotionen können
wirksame Mittel sein (vgl. Weßler 1999: 34ff.; Gerhards 1993: 30ff.).

Abbildung 2: Zusammenhang zwischen Handlungsantrieben und Einflusspotenzialen


(vgl. Schimank 2000)
Handlungsantrieb Einflusspotenziale
Nutzenverfolgung Anreiz: Belohnung / Bestrafung:
(„homo oeconomicus“) x unmittelbare Bedürfnisbefriedigung
x verzögerte Bedürfnisbefriedigung (Geld, Reputation,
Zusage künftiger Unterstützung etc.)
Überzeugung, dass Handeln im eigenen (noch unerkannten,
z.B. langfristigen) Interesse liegt = Verheißung
(Selbstbelohnung) / Warnung (Selbstbestrafung)
Identitätsbehauptung an evaluativen oder normativen Selbstanspruch erinnern
Normkonformität Achtung vor Konformität oder Androhen von Achtungsentzug
(„homo sociologicus“) bei Abweichung
Ausleben von Emotionen treffsicheres Auslösen von Emotionen (Angst, Neid, Mitleid
(„emotional man“) etc.)

7.3 Verhandlung
Die anspruchsvollste Variante, um Strukturen zu ändern, ist das Verhandeln.
Das Verhandlungsziel, nämlich eine bindende Vereinbarung, mit der Erwar-
tungssicherheit geschaffen wird, kann nicht in der Öffentlichkeit selbst erreicht
werden, sondern nur außerhalb, z.B. in einem Parlament (vgl. Gerhards &
Neidhardt 1993: 81). Bei den im Vorfeld geführten Verhandlungen legen die in
einer Konstellation involvierten Akteure einander Vorschläge vor, die im idea-
len Fall schrittweise angenähert werden, bis Einigkeit erzielt ist. Dies setzt
voraus, dass jeder Teilnehmer mit jedem anderen Teilnehmer kommunizieren
kann. Wechselseitige Kommunikation ist aber nur unter wenigen Teilnehmern
möglich. In der Massenkommunikation verhandeln deshalb zumeist nur die
Sprecher großer Interessengruppen miteinander (vgl. Schimank 2000: 288f.).
Diese Einschränkung der Partizipation ist aber nur ein Hindernis für Verhand-
lungen in einer massenmedial hergestellten Öffentlichkeit.
156 Christoph Neuberger

Verständigungsorientierte Verhandlungen (als besonderer Typ von Ver-


handlungen) sollen zu einer „die Konsensbasis vergrößernden allseitigen Neu-
bestimmung von Intentionen und Situationsdeutungen“ (ebd.: 295) führen,
also nicht nur zu einem Kompromiss zwischen unveränderten Intentionen, bei
dem beide Seiten lediglich Zugeständnisse machen. Das deliberative Öffent-
lichkeitsmodell formuliert die Anforderungen für Verständigung in der Öffent-
lichkeit: Es fordert Offenheit für Akteure und Themen sowie einen diskursiven
Verlauf der Kommunikation (Bezugnahme, Begründung, Komplexität), an der
die Teilnehmer gleichberechtigt mitwirken können (vgl. Weßler 1999: 31ff.;
Gerhards 1997: 3ff., 12; Peters 1994: 46f.; Habermas 1990: 97f.). Ein delibera-
tiver Journalismus soll die Erfüllung dieser Bedingungen sicherstellen (vgl.
Burkart 1998).
Peters (1994) hat die Beschränkungen der massenmedialen Öffentlichkeit
für Verständigung systematisch dargestellt. Dazu gehören ungleiche Beteili-
gungschancen, Kapazitätsgrenzen, die zur Konzentration auf wenige Themen
zwingen, die Diskontinuität der Berichterstattung und nichtdiskursive Kom-
munikationsstrategien. Die Akteurkonstellation in der Öffentlichkeit entspricht
einer publikumsbezogenen Triade (vgl. Schimank 2000: 271), in der Sprecher
um die Gunst des Publikums konkurrieren. Sie müssen ihre Mitteilungen mehr-
fach adressieren: nicht nur an andere Sprecher, mit denen sie verhandeln, son-
dern auch an das Publikum. Deshalb neigen sie dazu, „‚zum Fenster hinauszu-
reden’ und nicht miteinander zu kommunizieren; [...] sie werden eher versu-
chen, für ihr Anliegen Mehrheiten beim Publikum zu gewinnen, als sich auf
komplizierte Argumente des Gegners einzulassen [...]“ (Gerhards, Neidhardt &
Rucht 1998: 45). Massenmedien sind, das bestätigen auch empirische Studien,
„keine Diskursagenturen“ (Weßler 1999: 234; vgl. Gerhards 1997).

8 Schluss
In diesem Beitrag wurde ausgeführt, wie der Journalismus durch Beobachten,
Beeinflussen und Verhandeln seine gesellschaftliche Umwelt verändert. Der
Journalismus wurde als Faktor betrachtet, der Wandel vorantreibt. Der Struk-
turwandel in Journalismus und Öffentlichkeit selbst wurde dabei ausgeklam-
mert. Aber auch dieser Wandel lässt sich mit Hilfe des Bezugsrahmens von
Schimank analysieren. Dazu gehören Fragen nach dem rekursiven Verhältnis
zwischen Handeln und Strukturen in Redaktionen (vgl. Quandt 2005; Altmep-
pen 2004), nach dem Entstehen von Deutungsschemata im Kontext neuer
Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln via Öffentlichkeit 157

Medien (vgl. Neuberger 2005), der Ökonomisierung (vgl. Heinrich 2001) und
der „Entgrenzung“ des Journalismus (vgl. Loosen 2005).
Ebenfalls noch nicht vertieft werden konnte die Frage nach den Erklä-
rungsmöglichkeiten. Schimank (in diesem Band: 135) will – anders als Luh-
mann – nicht „zur Verlegenheitsformel ‚Evolution’ greifen, in der letztlich
zufällige, also auch nicht erklärungskräftige Variationen den Ton angeben“. Er
konzediert aber, dass Strukturdynamiken nur begrenzt theoretisierbar sind,
nämlich nur, soweit sie geschlossen sind und sich nicht zufällig ereignen (vgl.
Schimank 2000: 196-205). Den Versuchen, das Rezipientenhandeln zu erklä-
ren7, stehen noch kaum entsprechende Bemühungen für journalistisches Han-
deln gegenüber (vgl. die Beiträge von Esser und Reinemann in diesem Band).

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MILIEUS UND LEBENSSTILE
Soziale Milieus und Lebensstile:
Ein Angebot zur Erklärung von
Medienarbeit und Medienwirkung

Stefan Hradil

1 Entstehungskontext der Perspektive


Noch in den 1960er und 1970er Jahren gingen Sozialwissenschaftler üblicher-
weise davon aus, dass das Denken und Verhalten der Menschen von ihrer
Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit geprägt ist. Zusammenhänge dieser Art
wurden damals immer wieder untersucht. Alternativen ging man selten nach. In
der Soziologie, Politikwissenschaft, Publizistik etc. war dies die Zeit der
„schichtspezifischen“ Sozialisation, Sprache usw.
Im Laufe der 1980er Jahre kamen dann, angestoßen von Praktikern aus
Schule, Marketing und Politik, immer mehr Zweifel an dieser Vorstellung auf.
Das Denken und Verhalten der Menschen schien nicht (mehr) so weitgehend
vom jeweiligen Beruf, Einkommen und von der Qualifikation abhängig zu sein,
wie das bislang unterstellt wurde. Damit schienen auch die gesellschaftlichen
Unterschiede im Denken und Verhalten nicht (mehr) so vorrangig vertikal
gegliedert zu sein, wie bisher angenommen. Zusammen mit der Zunahme von
Wohlstand, Bildung und sozialer Sicherheit schienen die Freiheiten und die
Unterschiede der Lebensgestaltung gewachsen zu sein. Vor dem Hintergrund
dieser Eindrücke entwickelte sich ein Boom von Milieu- und Lebensstilstudien.
Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich hierbei auf Freizeit und Konsum, d.h.
auf die alltäglichen, der Erwerbsarbeit eher fern stehenden Alltagsmuster des
Denkens und Verhaltens. „Entkoppelungsthesen“ (von Arbeit, Schicht und
Klasse) wurden zum Teil so weit getrieben, dass Bildung, Beruf und Einkom-
men überhaupt keinen Einfluss auf Mentalität und Lebensführung der Einzel-
nen mehr zugesprochen wurde. Die sozialen Milieus und Lebensstilgruppie-
rungen, denen die Menschen angehörten, wurden ihrerseits als erklärende Vari-
166 Stefan Hradil

ablen für Konsum, Wahlentscheidungen, Jugendproteste, Sozialisation von


Kindern, Mediennutzung etc. angesehen. Damit geriet in den 1980er Jahren
eine Perspektive wieder in den Vordergrund der Aufmerksamkeit, die schon
lange zuvor in Begriffe und Programme gefasst worden war.
Das Milieukonzept hat eine Tradition, die bis weit vor die Etablierung der
Soziologie als eigenständige Disziplin zurückreicht. Schon in der französischen
Aufklärung, als man sich nach dem Vorbild der Naturwissenschaften bemühte,
die wesentlichen Einwirkungskräfte auf die menschliche Existenz rational zu
erfassen, gingen Überlegungen davon aus, dass nicht in ererbten Anlagen, son-
dern in äußeren Einflüssen die wesentlichen Prägekräfte des menschlichen
Daseins zu suchen sind. Besonders häufig (so u.a. von Montesquieu) wurde in
diesem Zusammenhang auf das Klima hingewiesen.
Als eigentlicher Begründer des sozialwissenschaftlichen Milieubegriffs gilt
Hippolyte Taine (1823-1893). Bei ihm findet sich zuerst die für den Milieube-
griff bis heute charakteristische kontextuelle Verschmelzung zahlreicher hete-
rogener, objektiver und subjektiver Umweltkomponenten, die als ursächlich für
die alltäglichen Muster der Lebensweise angesehen werden.
Die schon bei Taine und dann später bei Émile Durkheim (1858-1917) er-
kennbare Tendenz, unter den in „Milieus“ angesprochenen Umweltkomponen-
ten auch die menschliche Subjektivität zu berücksichtigen, führte Max Scheler
(1874-1928) in der Zwischenkriegszeit weiter. „Milieu“ stellt für ihn „das Ins-
gesamt dessen dar, was vom Einzelwesen als auf es wirksam erlebt wird“ (Hitz-
ler & Honer 1984: 61).
Man wird nicht fehlgehen in der Vermutung, dass der reale Hintergrund
dieser Soziologisierung und Subjektivierung des Milieukonzepts im Nebenein-
ander von sich entwickelnden industriegesellschaftlichen Strukturen einerseits
und mehr oder minder traditionalen Kulturbeständen und Sinnstrukturen an-
dererseits zu suchen ist, die das Erleben und das Umgehen mit der neuen In-
dustriewelt auf durchaus unterschiedliche Weise prägten.
Typisch hierfür ist der berühmte Aufsatz von M. Rainer Lepsius (1966). Er
weist darauf hin, dass die Parteiorganisation und die parteipolitischen Konflikte
in Deutschland noch bis in die 1920er Jahre hinein von vier „sozialmoralischen
Milieus“ geprägt waren: Vom katholischen Milieu (Zentrum), vom protestan-
tisch-liberalen Milieu, vom protestantisch-konservativen Milieu sowie vom
Arbeitermilieu (Sozialdemokratie).
Es war sicher kein Zufall, dass nach dem Zweiten Weltkrieg mit der vollen
Durchsetzung der Industriegesellschaft der Milieubegriff in den Hintergrund
geriet. Immer mehr unterstellte man, wie eingangs erwähnt, eine weitreichende
Soziale Milieus und Lebensstile 167

Prägekraft von Klassen und Schichten und damit der Erwerbssphäre und der
Arbeitswelt. Milieubegriffe „passten“ in die Realität und mehr noch in die Vor-
stellungen nicht allzu gut, die in den 1960er und 1970er Jahren eine ökonomi-
sierte, standardisierte, materiell determinierte Industriegesellschaft zu erkennen
glaubt. Denn das Milieukonzept lässt die Konstitution von Lebenswelten be-
wusst offen. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf die verschiedensten Entste-
hungshintergründe von Umwelten (auf berufliche, religiöse, regionale, lebens-
weisebedingte, politische, moralische etc.). So wurde der Milieubegriff von der
Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre hinein wenig benutzt.
Seit den 1980er Jahren spielt die Milieuperspektive in der sozialwissen-
schaftlichen Literatur wieder eine sehr viel bedeutendere Rolle. Sowohl als
beiläufig verwendeter Hinweis auf diverse soziale Umwelten und Prägekräfte
(vom Drogen- bis zum Bänkermilieu) als auch als sorgsam definierter, opera-
tionalisierter Zentralbegriff soziologischer Studien hat der Milieubegriff seither
Konjunktur.
Das Lebensstilkonzept boomt ebenfalls seit den 1980er Jahren. Auch damit
geriet eine Sichtweise wieder in den Vordergrund der Aufmerksamkeit, die
lange zuvor, schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ausgearbeitet worden war.
Georg Simmel (1858-1918) erkannte, dass die Modernisierung dazu führt,
dass die Einzelnen in immer mehr und immer unterschiedlicheren „sozialen
Kreisen“ leben (1989 [1900], bes. Kap. 6). Ihnen gehören die Menschen, an-
ders als in vormodernen Gesellschaften, jeweils nur in Teilen ihrer Persönlich-
keit an. Mit der Loslösung aus angestammten sozialen Einbettungen wird es
für die Menschen aber schwieriger, stabile Identitäten auszubilden. Individuelle
Gestaltungen des Lebens werden möglich und nötig. Dabei drohen sich die
heterogenen Außenwelten von der eigenen Lebensweise und Wahrnehmung zu
entfremden. Mittels Stilbildung wird versucht, Brücken zu schlagen und ande-
ren den eigenen Lebensstil zu vermitteln (vgl. Konietzka 1995: 19).
Max Weber (1864-1920) führte den Begriff der „Lebensführung“ in die So-
ziologie ein. Vor allem die Konfessions- und Standeszugehörigkeit werden
durch eine typische Art der Lebensführung symbolisiert (1976 [1921]: 534ff.).
Allerdings hatten die genannten Klassiker der Lebensstilanalyse nur wenige
direkte Auswirkungen auf die zeitgenössische Lebensstilforschung. Der Boom
sozialwissenschaftlicher Milieu- und Lebensstilstudien seit den 1980er Jahren
wurde eher durch praktische Erfordernisse und entsprechende Marketing- und
Wahlkampfstudien angestoßen.
Im Zuge dieses Aufschwungs der Lebensstilforschung wurde in den 1980er
Jahren immer stärker die Selbstreflexivität, die aktive Gestaltung, die eigenstän-
168 Stefan Hradil

dige Stilisierung und die expressive Symbolisierung der individuellen Lebens-


weise betont. Gelegentlich (u.a. bei Hörning & Michailow 1988) hatte es den
Anschein, dass Lebensstile nurmehr durch das Wollen der Einzelnen zustande
kommen, und Lebensbedingungen, verfügbare Ressourcen, Reaktionen von
Mitmenschen etc. unbedeutend seien.
Mittlerweile ist man klüger. Ausgiebige empirische Untersuchungen (u.a.
Georg 1998; Spellerberg 1996) deckten auf, dass Milieuzugehörigkeiten und
Lebensstile der Menschen zwar keineswegs völlig von äußeren Bestimmungs-
gründen (wie z.B. von der Schichtzugehörigkeit) geprägt, aber auch keinesfalls
davon unabhängig sind. Es wurde ermittelt, dass die jeweiligen Lebensstile in
erster Linie von Alter, Bildung, Geschlecht und Lebensphase beeinflusst wer-
den. Beruflicher Status, Schichtselbsteinstufung und Einkommen rangieren als
Prägefaktoren dahinter, sind aber keinesfalls unwichtig. Die Einzelnen können
also ihre Lebensstile nicht völlig frei wählen.
Der Gedanke liegt nahe, dass der Aufschwung (und der Überschwang) der
Milieu- und Lebensstilperspektive in den 1980er Jahren etwas mit der lange
anhaltenden Wohlstandsmehrung in Deutschland und der weit verbreiteten
Illusion „immerwährender Prosperität“ (Lutz 1989) zu tun hat. Die realistische-
re Einschätzung seit den 1990er Jahren ist wohl vor dem Hintergrund der öko-
nomischen Stagnation und der damit einhergehenden „Modernisierungspause“
(Hradil 1992b) zu sehen.

2 Grundzüge
Der Milieu- und der Lebensstilbegriff weisen Gemeinsamkeiten auf. Deswegen
werden sie (auch in diesem Beitrag) nicht selten gemeinsam dargestellt. Beide
betonen die „subjektive“ Seite der Gesellschaft, d.h. soziale Strukturierungen
und Gruppierungen, für die das Denken und Verhalten der Menschen konsti-
tutiv sind. Weiterhin ist beiden Begriffen gemeinsam, dass sie das Denken und
Verhalten der Menschen als teilweise unabhängig von äußeren Lebensbe-
dingungen sehen.
Schließlich sind beide Konzepte synthetisch angelegt. Milieu- und Lebens-
stilbegriffe bündeln jeweils zahlreiche Dimensionen und Aspekte. Dies führt in
der empirischen Forschungspraxis zu erheblichem Aufwand.
Sucht man in der Literatur nach den Unterschieden zwischen dem Milieu-
und dem Lebensstilbegriff, so wird man feststellen, dass die einschlägigen De-
finitionen sich nicht selten überschneiden und manchmal sogar fast deckungs-
gleich sind. Dennoch weist der Milieubegriff andere Schwerpunkte als der
Soziale Milieus und Lebensstile 169

Lebensstilbegriff auf. Diese Kernbereiche dienen im Folgenden als Ausgangs-


punkte der Begriffsbestimmung.
Unter einem „sozialen Milieu“ wird üblicherweise das typische (materielle,
kulturelle, soziale) Umfeld einer sozialen Gruppierung sowie dessen typische
Wahrnehmung, Interpretation und Gestaltung durch die Zugehörigen verstan-
den. Soziale Milieus stellen so Gruppen Gleichgesinnter dar, die jeweils ähnli-
che Werthaltungen, Prinzipien der Lebensgestaltung, Beziehungen zu Mitmen-
schen und Mentalitäten aufweisen (vgl. Hradil 2001a: 425; Schulze 1992: 746).
Kleinere Milieus, z.B. Organisations-, Stadtviertel- oder Berufsmilieus (wie
das Journalistenmilieu) weisen darüber hinaus häufig einen inneren Zusam-
menhang auf, der sich in einem gewissen Wir-Gefühl und in verstärkten Bin-
nenkontakten äußert.
Während der Milieubegriff hauptsächlich auf die relativ „tief“ verankerten
und vergleichsweise beständigen Werthaltungen und Grundeinstellungen von
Menschen abhebt, bezieht sich der Lebensstilbegriff vor allem auf die äußerlich
beobachtbaren Verhaltensroutinen der Menschen.
Unter „Lebensstil“ versteht man eine bestimmte Organisationsstruktur des
individuellen Alltagslebens (Hradil 2003a; vgl. Lüdtke 1989: 40; Zapf et al.
1987: 14). Ein Lebensstil ist demnach ein regelmäßig wiederkehrender Ge-
samtzusammenhang von Verhaltensweisen, Interaktionen, Meinungen, Wis-
sensbeständen und bewertenden Einstellungen eines Menschen. Nicht jeder
Mensch hat einen anderen Lebensstil. Ähnlichkeiten ergeben sich u.a. deshalb,
weil sich Menschen bei der Gestaltung ihres Lebens an Muster, Vorbilder und
Mitmenschen anlehnen.
Die oben angegebenen Definitionen implizieren, dass soziale Milieus struk-
turell stabiler sind und von den Einzelnen weniger leicht gewechselt werden
können als Lebensstile. Verhaltensroutinen (z.B. der Mediennutzung, der Frei-
zeitbetätigung, der Kleidung) und entsprechende Lebensstile können sich
schon ändern, wenn neue Kontakte geknüpft werden, wenn eine Familie ge-
gründet wird, wenn Menschen älter werden. Dagegen werden sich Grundwerte,
Grundeinstellungen und diesbezügliche Milieueinbindungen nur im Falle mas-
siver Lebenskrisen und völlig neuer Einflüsse wandeln.
Der Begriff des Lebensstils unterstellt ein bestimmtes Maß an individueller
Wahl- und Gestaltungsfreiheit der Lebensführung. Hingegen hebt der Milieu-
begriff zwar auch auf die Denk- und Verhaltensweisen der Milieuzugehörigen
ab und impliziert, dass sich Milieucharakteristika in relativer Unabhängigkeit
von äußeren Lebensbedingungen entwickeln können. Wie groß aber die per-
170 Stefan Hradil

sönlichen Freiheitsgrade der Lebensgestaltung im Rahmen eines Milieus sind,


steht dahin.
Wie schon aus ihrer Entstehungsgeschichte deutlich wurde, setzen die Be-
griffe des sozialen Milieus und des Lebensstils voraus, dass diese Phänomene
nicht bloße Wirkungen (abhängige Variablen) darstellen, sondern auch Ursa-
chen (unabhängige oder wenigstens intervenierende Variablen) sein können.
Wie viel und was im Verhalten der Einzelnen durch ihre Milieu- und Le-
bensstilzugehörigkeit zu erklären ist, hängt u.a. auch davon ab, ob Makro-,
Meso- oder Mikro-Milieus bzw. -Lebensstile gemeint sind. Milieu- und Lebens-
stilkonzepte können sich auf gesamtgesellschaftlich verbreitete Makro-
Gruppierungen beziehen (z.B. auf das Konservative Milieu), auf institutionelle
bzw. organisatorische (Meso-)Teilbereiche der Gesellschaft beschränken (z.B.
auf das Gewerkschaftsmilieu oder auf politische Lebensstile) oder auf Mikro-
Szenen, Cliquen etc. konzentrieren.
Die vorliegenden Befunde zeigen, dass soziale Milieus und Lebensstile nicht
einfach existieren, sondern so vieldimensionale und ineinander übergehende
Phänomene darstellen, dass sie im Forschungsprozess auf sehr unterschiedliche
Weise abgrenzbar sind. Soziale Milieus und Lebensstile stellen daher theoreti-
sche, begriffliche oder wenigstens methodische Konstrukte dar. Sie sind nur
auf deren Grundlage erkenn- und unterscheidbar.
Wieso entstehen und bestehen soziale Milieus und Lebensstile? Diese Frage
lässt sich nur mit Hilfe geeigneter Theorien beantworten. Ganz grob lässt sich
zwischen deterministischen, interaktiven und voluntaristischen Theorien unter-
scheiden. Deterministische Theorien sehen soziale Milieus und Lebensstile als
reine Folgeerscheinung objektiver sozialstruktureller Bedingungen (Beruf, Ein-
kommen etc.). Interaktive Theorien unterstellen Wechselwirkungen zwischen
strukturellen Einflüssen und Handlungen. Voluntaristische Theorien konzipie-
ren soziale Milieus und Lebensstile als Folgen zielgerichteten menschlichen
Tuns. Aus der oben angegebenen Skizze der Geschichte der Milieu- und Le-
bensstilforschung geht hervor, dass rein deterministische und voluntaristische
Theorien zwar in der Vergangenheit gelegentlich formuliert wurden, aber dem
heutigen Forschungsstand nicht mehr entsprechen. Aber auch die interaktiven
Theorien, die im Folgenden skizziert werden, decken ein weites Spektrum
zwischen der Betonung der materiellen und kulturellen Bedingungen einerseits
und der Hervorhebung des aktiven Handelns andererseits ab.
Die Habitustheorie Pierre Bourdieus (1982) besagt im Kern, dass soziale Mi-
lieus und Lebensstile durch Anpassungsprozesse an die Lebensbedingungen
sozialer Klassen zustande kommen. Die hieraus resultierenden Habitusformen
Soziale Milieus und Lebensstile 171

bewirken, dass sich die Struktur sozialer Ungleichheit immer wieder neu her-
stellt.
Bourdieu geht von der ungleichen Verteilung dreier Ressourcenarten aus:
dem ökonomischen Kapital, dem Bildungskapital und dem „sozialen Kapital“
(soziale Beziehungen). Je nach Ausmaß ihres Kapitalbesitzes insgesamt gehören
die Menschen der Arbeiterklasse, dem Kleinbürgertum oder der Bourgeoisie an
(vertikaler Aspekt). Und je nach Zusammensetzung bzw. Zukunftsaussichten ihres
Kapitalbesitzes werden sie den Klassenfraktionen des Besitzbürgertums, des
Bildungsbürgertums sowie dem alten, dem neuen oder dem „exekutiven“
Kleinbürgertum zugerechnet (horizontaler Aspekt).
Wenn Menschen innerhalb der jeweiligen Lebensbedingungen ihrer sozia-
len Klasse aufwachsen, entstehen nach Bourdieu weitgehend unbewusst klas-
senspezifische Habitusformen. Dies sind latente Denk-, Wahrnehmungs- und
Bewertungsmuster, die einerseits Möglichkeiten alltäglichen Handelns begren-
zen, andererseits Handlungen hervorbringen. So entsteht nach Bourdieu der
Habitus der Arbeiterklasse in einer Lage harter Notwendigkeiten. Er zieht weit-
gehend Nützlichkeitsdenken und eine „Kultur des Mangels“ nach sich. So
werden z.B. Käufe nach Preis, Haltbarkeit und nicht nach ästhetischen Ge-
sichtspunkten vorgenommen. Während also der Habitus der Arbeiterklasse ein
„Sich-Einrichten“ in gegebenen Verhältnissen nahe lege, sei der Habitus des
Kleinbürgertums, seiner Mittellage entsprechend, auf sozialen Aufstieg, auf die
ehrgeizige, teils ängstliche, teils plakative Erfüllung vorgegebener kultureller
Normen ausgerichtet, auch in Fragen der Bildung und des Geschmacks. Der
Habitus des Kleinbürgertums bedeute angestrengtes Bemühen, das „Richtige“
zu tun. Der Habitus der Bourgeoisie hingegen ermögliche es, sich in Kenntnis der
„richtigen“ Standards über diese zu erheben, einen eigenen Stil zu entwickeln,
diesen u.U. als gesellschaftliche Norm zu propagieren und durchzusetzen. Das
Kleinbürgertum sei wiederum darauf angewiesen, dieser neuen „Orthodoxie“
gerecht zu werden. Die Arbeiterklasse verharre in ihrer Kultur des Mangels.
Somit reproduziere sich die Herrschaft der Bourgeoisie auf kulturelle Weise.
Die Konsequenzen dieser Habitusformen zeigen sich nach Bourdieu in un-
terschiedlichen alltäglichen Lebensstilen der Menschen. Zu diesen gehören die
jeweils bevorzugten Wohnungseinrichtungen und Speisen, Sänger und Musik-
werke, Maler, Museen und Komponisten. Hierbei stellt Bourdieu eine hohe
Übereinstimmung von Klassen(fraktions)zugehörigkeit, Habitusform und prak-
tischen Verhaltensweisen fest.
Die Theorie der rationalen Wahl bezieht sich, anders als die Habitus-Theorie,
auf das Handeln von Individuen und geht modellhaft davon aus, dass die Ein-
172 Stefan Hradil

zelnen danach streben, ihren Nutzen zu maximieren. Sie werden daher jene
Wahl aus den zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen treffen, die die
eigenen Zielvorstellungen weitmöglichst bzw. mit geringstem Aufwand er-
reicht.
Aufbauend auf diesem Theoriemuster behauptet Hartmut Lüdtke (1989),
dass Lebensstile deswegen zustande kommen, weil sie sich aus der Sicht der
Individuen in Probierprozessen als die jeweils zweckmäßigste Organisations-
form ihres Alltagslebens herausgestellt haben. Je nach dem Ausmaß vorhande-
ner ökonomischer, kultureller und sozialer Ressourcen ist hierbei der Suchbe-
reich von vornherein mehr oder minder eingeschränkt. Dabei werden Lebens-
stil-elemente, die sich zur Erreichung individueller Präferenzen bewährt haben,
wiederholt und „automatisiert“. Im Laufe der Zeit ergibt sich so eine Selektion
und „Verdichtung“ von Handlungsweisen und -ketten. Nach Alternativen wird
immer weniger gesucht. So entstandene individuelle Lebensstile werden zu
gemeinsamen Mustern gesellschaftlicher Lebensstilgruppierungen, indem wie-
derum aus Nützlichkeitsgründen, u.a. wegen Kommunikationserleichterung,
Unterschiede zu relativ ähnlichen Lebensstilen minimiert und zu unähnlichen
maximiert werden.
Die Identitätstheorie betont, dass soziale Milieus und Lebensstile durch das
Bemühen zustande kommen, die eigene soziale Identität zu entwickeln und zu
dokumentieren. Mittels Stilisierung der eigenen Lebensweise werden einerseits
Selbstzuordnung und Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppierungen möglich
gemacht und andererseits Absetzung und Distanz zu anderen Gruppierungen
sichergestellt (Hörning & Michailow 1990: 502).
Identitätstheorien finden sich in unterschiedlichen Varianten. Von be-
stimmten Autoren (z.B. Hörning & Michailow 1990) wird die Entstehung von
sozialen Milieus und Lebensstilgruppierungen primär aus Integrationsbemü-
hungen von Menschen erklärt. Andere Varianten (z.B. Berking & Neckel 1990)
sind eher auf Konflikte, die Herstellung von Differenzen und die Abgren-
zungsprozesse von sozialen „Territorien“ ausgerichtet.
Die Individualisierungstheorie geht davon aus, dass Modernisierung mit der Zu-
nahme persönlicher Ressourcen, Freiheiten und Sicherheiten einhergeht. Damit
verbunden ist eine Herauslösung der Einzelnen aus vielfältigen kulturellen,
sozialen und wirtschaftlichen Bindungen. Dies bedeutet für die Menschen
Verluste von Vertrautheit und Sicherheit in Gemeinschaften einerseits, Gewin-
ne an individueller Handlungsfähigkeit und Entfaltungsmöglichkeit anderer-
seits.
Soziale Milieus und Lebensstile 173

Allerdings hatte sich, Ulrich Beck (1986) zufolge, bis zum Beginn der
1960er Jahre in Deutschland die Modernisierung und Individualisierung erst
unvollkommen durchgesetzt. Zwar waren traditionale Bindungen, z.B. der
Dorfgemeinschaft und Religion, schwächer geworden, aber in der emotionali-
sierten Kleinfamilie verstärkten sich gemeinschaftliche Bindungen noch, vor
allem für Frauen. Und in die industriegesellschaftlichen Schichten waren Män-
ner unvermindert eingebunden.
Spätestens seit Beginn der 1960er Jahre vollzieht sich nach Ansicht Becks
eine zweite Stufe gesellschaftlicher Modernisierung und Individualisierung. Sie
steht vor allem im Zusammenhang mit verschärfter Arbeitsmarktkonkurrenz
und Mobilität, aber auch mit gesteigertem Wohlstand, höherem Bildungsniveau
auch für Frauen, besserer sozialer Absicherung, Ausweitung der Freizeit etc.
Im Rahmen dieses erneuten Individualisierungsschubs lösen sich die Individu-
en aus ihrer Einbindung in Klassen und Schichten und aus „Familienbanden“.
Dies gilt auch und gerade für Frauen. Die Menschen sind nun in der Lage, aber
auch darauf angewiesen, Zuschnitt und Verlauf ihres Lebens selbst zu entwi-
ckeln. Allgemeingültige Vorbilder hierfür gibt es immer weniger. Die Vielfalt
der gefundenen Lösungen wächst, auch im Hinblick auf Lebensstile.

3 Wichtige Ergebnisse
Besonders bekannt geworden sind jene Befunde, die die gesamtgesellschaftliche
Struktur sozialer Milieus und Lebensstile in Deutschland wiedergeben. Das
Gefüge sozialer Milieus in Deutschland ist bis zu einem gewissen Grade von der
Schichtstruktur abhängig (siehe Abbildung 1). Es gibt typische Unterschicht-,
Mittelschicht- und Oberschicht-Milieus. Welche Werthaltungen und Mentalitä-
ten ein Mensch aufweist, ist also auch eine Frage seiner Einkommenshöhe,
seines Bildungsgrades und seiner beruflichen Stellung. Milieuzugehörigkeiten
können Trennlinien zwischen sozialen Schichten schaffen. „Die Grenze der
Distinktion trennt die oberen von den mittleren Milieus. Die Grenze der Res-
pektabilität trennt die mittleren von den unteren.“ (Vester et al. 2001: 26) Aber
die Schichtzugehörigkeit gibt keineswegs zureichend über die Milieuzugehörig-
keit Auskunft. In der Regel finden sich innerhalb der einzelnen Schichten meh-
rere Milieus „nebeneinander“. Bestimmte soziale Milieus erstrecken sich auch
„senkrecht“ über Schichtgrenzen hinweg (siehe Abbildung 1).
174 Stefan Hradil

Abbildung 1: Soziale Milieus in Deutschland 2004

Quelle: Sinus Sociovision (2004).

Neben der Schichtzugehörigkeit lenkt auch die Kohortenzugehörigkeit die


Menschen in bestimmte Milieus:1 Ältere Menschen, die in Zeiten des materiel-
len Mangels und autoritärer Ordnung aufgewachsen sind, haben sich meist
andere Mentalitäten bewahrt als Menschen im mittleren Alter, die im
Wohlstand und in der 1968er-Zeit ihre wichtigsten Prägungen erfahren haben
(Schulze 1992).
„Horizontal“ unterscheiden sich soziale Milieus vor allem nach dem Grade
ihrer Traditionsverhaftung bzw. ihrer Modernität. Denn die einzelnen Milieus

1 Unter einer Kohorte werden die Menschen verstanden, die im selben Zeitraum zur Welt
kamen.
Soziale Milieus und Lebensstile 175

sind in unterschiedlichem Maß vom Wertewandel (weg von „alten“ Pflicht-,


hin zu „neuen“ Selbstentfaltungswerten) sowie von der Individualisierung
erfasst. So weisen die Angehörigen des „Traditionsverwurzelten“, des „DDR-
Nostalgischen“ und des „Konservativen“ Milieus Mentalitäten auf, die dem
Bewahren, den Pflichten der Menschen und ihrer Eingebundenheit in Regeln
großes Gewicht geben. Auf der anderen Seite stehen die „modernen“ Milieus
der „Hedonisten“, der „Experimentalisten“ und der „modernen Performer“, in
denen die Menschen dem jeweils Neuen nachstreben und sich als Einzelne
relativ losgelöst von Bindungen und Zugehörigkeiten empfinden. In diesen
Milieus finden sich zwar Gemeinsamkeiten des individuellen Bewusstseins und
Verhaltens, aber kaum das Bewusstsein der Gemeinsamkeit mit anderen Mi-
lieuzugehörigen und schon gar nicht Gefühle des Zusammengehörens.
In der Wirklichkeit sind die Grenzen zwischen den dargestellten Milieus
fließend. Viele Menschen stehen am Rand eines Milieus, zwischen Milieus bzw.
sind zwei oder mehr Milieus zugleich zuzuordnen. Denn soziale Milieus stellen
keine „natürlichen“ gesellschaftlichen Gruppen mit allgemein bekannten Na-
men und symbolisch verdeutlichten Grenzen dar. Es sind vielmehr von So-
zialwissenschaftlern „künstlich“ geordnete Gruppierungen aufgrund ähnlicher
Mentalität.
Soziale Milieus verändern sich im Laufe der Zeit. Sie werden unter Um-
ständen größer oder kleiner. Neue Milieus bilden sich heraus, alte verschwin-
den oder teilen sich. Ganz deutlich wurde das seit den 1980er Jahren. So hat
sich der Bevölkerungsanteil traditioneller Milieus fast halbiert (Hradil 2001a:
434; Vester et al. 2001: 48f.). Dies geschah wohl seltener, weil Menschen ihre
Milieuzugehörigkeit wechselten. Vielmehr sind die Menschen in den genannten
Milieus häufig schon alt. Diese Milieus sterben langsam aus.
Die Menschen, die einem bestimmten sozialen Milieu angehören, verhalten
sich in der Praxis ähnlich, und zwar in recht unterschiedlichen Bereichen: Sie
kaufen ähnliche Konsumgüter, wählen ähnliche Parteien, erziehen ihre Kinder
in ähnlicher Weise etc. Milieugliederungen sind daher wichtige Hilfsmittel für
Marketinganalysten, Wahlkampfstrategen, Sozialisationsforscher etc.
176 Stefan Hradil

Abbildung 2: Die historische Entwicklung sozialer Milieus in Deutschland 1900 bis 2000
Positiv privilegierte Schichten
Adel, Bürokratie Gehobenes Bürgertum Konservativ-
moderne kapitalistische konservativ, preußisch geprägt, Technokratisches Milieu
Bourgeoisie, vornehme und karitatives Verantwortungs- exklusiver Lebensstil, machtbe-
exklusive Lebensführung, status- bewusstsein, patriarchalisch, wusst, Distinktion, Interesse an
bewusst, Interesse an Legitimation traditionelle Orientierung, Wertevermittlung, z.T. karitatives
der privilegierten Lage „Dienen“, Diakonie Engagement, Humanität „von
oben“ (Typus: partiell Humanisten)

Intellektuelle („versorgte Der (vereinsamte) Liberal-Intellektuelles Milieu


Bürgerschichten“) Intellektuelle kulturelle und politische Führer-
individuelle Sinnsuche („der Welt Neigung zu pessimistischen schaft, idealistisch-postmaterielle
entrückt“), Erlösung von innerer Diagnosen, Kontaktschwäche, Wertorientierung, Selbstverwirk-
Not, metaphysische Orientierung, liberale Vorstellung der Aufklärung, lichung, Toleranz, Sinnfrage,
Distanz zu „Materialismus“ Sehnsucht nach Bruderschaft, Fragen der Ethik, Humanismus
Erlösung aus der individualistisch (Typus: Humanisten, Idealisten)
gehetzten Existenz

Kleinbürgerliches und
Kleinbürgertum, Handwerker
aufstrebende Gruppen, Neigung zu Kleinbürgertum modern bürgerliches Milieu
ethisch-rationaler Lebensführung, konservativ, Streben nach mate- traditionelle moralische Werte,
gemeinschaftsorientiert, Lebens- rieller Sicherheit, traditionell, (Pflicht, Dienst, Disziplin, Sicher-
führung kann Religiosität begrün- vornehmlich moralisch (Gesetz vor heit, Fleiß…), Status- und hierar-
den, aber auch „ideelle Surrogate“, Evangelium) chieorientiert, extrinsisch motiviert,
Laienintellektualismus (plebejisch/ Alltagsorientierung und -stabilisie-
kleinbürgerlich), praktische Reli- rung durch die Kirche (Typus: Tra-
giosität (der „fassbare Heiland“) ditionelle/Moderne Kirchenchristen)
Der selbstbewusste Arbeiter
Gruppenbewusst, Streben nach
materieller Sicherheit,, Sehnsucht Traditionelles Arbeitermilieu,
nach menschlicher Wärme, Leistungsorientiertes und
Abstiegsbedrohtes Brüderlichkeit, Gerechtigkeit, modernes Arbeitermilieu
Frage nach dem Wesen des
Kleinbürgertum Nationales Leistungsethos, Balan-
Evangeliums, Interesse an der ce Realismus-Hedonismus-Ge-
unterste Schicht des modernen
religiösen Erziehung der Kinder meinschaft, moderner Laienintel-
Proletariats, Tagelöhner, Sklaven,
deklassiert, kaum Aussicht auf lektualismus, intrinsisch motiviert,
Verbesserung der Lage durch verinnerlichte (protestantische)
ethisch-rationale Lebensführung, Ethik, selbstbestimmt autoritätskri-
Desintegrierte
häufig unstete Lebensweise, z.T. tisch (Typus: Alltagschristen, Nüch-
Interesse an Erlangung von Selbst-
radikales Erlösungsbedürfnis terne Pragmatiker, Anspruchsvolle)
geltung, zwischen „Ohne-mich“
und Hang zur Radikalität, Interesse
an kirchlicher Gemeinschaft, Sehn- Traditionsloses Arbeitermilieu
sucht nach „ehrlicher“ Aussage weniger innengeleitete Selbstdis-
und Echtheit der Träger kirchlicher ziplin, gelegenheitsorientiert, Sorge
Botschaft um gesellschaftliche Anerkennung,
„underdog“-Bewusstsein, z.T.
prekäre Verhältnisse

Negativ privilegierte Schichten


Quellen: Vester et al. (2001); v. Bismarck (1957); Weber (1976); Zusammenstellung: Vögele et al. (2002:
130).
Soziale Milieus und Lebensstile 177

Vieles spricht dafür, dass sich die Mitglieder moderner Dienstleistungsgesell-


schaften nicht mehr so vorrangig wie die Menschen in typischen Industriege-
sellschaften nach ihrer Berufs- und Schichtzugehörigkeit definieren, sondern
ihre gesellschaftliche Ortsbestimmung auch im Hinblick auf ihre Milieuzugehö-
rigkeit und ihren Lebensstil ausbilden. Oft symbolisieren sie diese Identität in
Kleidung, Musikgeschmack etc. und tragen so ihre Zugehörigkeit nach außen.

Abbildung 3: Lebensstile in Westdeutschland 1996

Kulturelle Vorlieben

Etablierte Kultur Hochkulturell


Interessierte,
sozial Engagierte
(11%)

Sachlich-
pragmatische
Moderne Kultur Arbeits- und
Qualitätsbewusste Erlebnisorientierte,
Einfach
(12%) vielseitig Aktive
Lebende,
arbeitsorientierte (9%)
Häusliche Häusliche
(13%) mit Interesse an
leichter Unterhal- Expressiv
tung und Mode Vielseitige
(10%) (12%) Hedonisti-
Populär, sche Freizeit-
Sicherheits- orientierte
volks-
orientierte, sozial (6%)
tümlich Traditionelle, Eingebundene mit
zurückgezogen Vorlieben für volks-
Lebende tümliche Kultur und
(16%) Mode
(11%)

Aktionsradius

häuslich außerhäuslich

Quelle: Schneider und Spellerberg (1999: 10).

Beschreibt man die Lebensstile der Menschen aufgrund des jeweiligen Freizeit-
verhaltens und Musikgeschmacks, der Lektüregewohnheiten, Fernsehinteres-
sen, des Kleidungsstils, der Lebensziele und der Wahrnehmung des persönli-
chen Alltags (Schneider & Spellerberg 1999: 101) und ordnet die Personen je
178 Stefan Hradil

nach ihrer Ausprägung der genannten Merkmale in einander ähnliche Gruppie-


rungen, so ließen sich 1996 in Westdeutschland neun Lebensstile erkennen
(vgl. Abbildung 3).
Sie lassen sich zum einen „horizontal“ nach ihrem Aktionsradius von häus-
lichen bis hin zu weniger häuslichen Lebensstilen ordnen. Zum andern kann
man sie nach ihrem „kulturellen Status“ „vertikal“ gliedern: „Oben“ stehen
jene mit Vorlieben für etablierte Hochkultur, „in der Mitte“ rangieren Lebens-
stile, die moderne Unterhaltung bevorzugen, und „unten“ sind die Lebensstile
mit Präferenzen für volkstümliche Kulturformen angeordnet. Wie soziale Mi-
lieus so gibt es auch Lebensstile, die typisch für die Ober-, für die Mittel- oder
für die Unterschicht sind. Freilich finden sich innerhalb jeder Schicht mehrere
unterschiedliche Lebensstile.
Wie für soziale Milieus so gilt auch für Lebensstile, dass den Menschen in
der Regel weder die dargestellten Gruppierungen noch deren Namen noch eine
evtl. Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppierungen bekannt bzw. bewusst sind.
Denn es handelt sich um rein statistisch ermittelte Gruppierungen von Men-
schen mit relativ ähnlichen Merkmalskombinationen des Denkens und Verhal-
tens mit fließenden Übergängen und Überlappungen.
Ähnlich wie Milieuklassifikationen dienen auch Lebensstiltypologien nicht
nur der Beschreibung und Verortung homogener Gruppierungen. Da Men-
schen gleichen Lebensstils ähnliche Dinge kaufen, ähnliche Parteien wählen
und ähnliche Medien nutzen, werden Lebensstiltypologien von der Marketing-
forschung, von Wahlforschern etc. auch zur Erklärung von Verhaltensweisen
eingesetzt. Die beiden dargestellten Typologien stellen nur Beispiele aus einer
Fülle von Milieu- und Lebensstil-Befunden dar.
Anke Wahl stellte in ihrer Synopse vier von ihnen einander gegenüber (vgl.
Abbildung 4). Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Ergebnisse in Zahl
und Art so sehr, dass man den Eindruck gewinnen kann, sie seien nach Belie-
ben zustande gekommen. Bei näherem Hinsehen wird aber sichtbar, dass sich
am oberen Ende der Typologien mindestens ein Milieu bzw. eine Lebensstil-
gruppierung mit gehobener Lebensführung herauskristallisiert. Am unteren
Ende der Hierarchie finden sich in allen vier Studien Gruppierungen, die auf
zurückhaltend-traditionelle Weise leben. Auch im mittleren Bereich finden sich
manche Ähnlichkeiten.
Identische Befunde kann es schon deshalb nicht geben, weil exakt abge-
grenzte Gruppen in modernen Gesellschaften kaum mehr existieren. Daher
werden in Milieu- und Lebensstiluntersuchungen Menschen mit „ähnlichen“
Merkmalskombinationen ermittelt und „künstlich“ gegeneinander abgegrenzt.
Soziale Milieus und Lebensstile 179

Je nachdem, welche Merkmale hierbei zu Grunde gelegt werden, kommen


jeweils andere Lebensstile zum Vorschein, oder, je nachdem, wie hoch der
Differenzierungsgrad der Abgrenzungen ist, entstehen mehr oder weniger
Lebensstile.

Abbildung 4: Lebensstil- bzw. Milieutypologien in Westdeutschland


Schulze 1992 Spellerberg 1996 Georg 1998 Wahl 2003

Niveaumilieu Etablierte Selbstdarstellung, Anspruchs-


beruflich Genuss und Avant- orientierte
Engagierte gardismus

Ganzheitlich
kulturell
Interessierte

Selbst-
verwirklichungs- Kulturbezogen- Selbst-
milieu Postmaterielle, asketischer verwirklichungs-
aktive Vielseitige Lebensstil orientierte
Unterhaltungsmilieu Freizeitorientierte Hedonistisch Unterhaltungs-
Gesellige expressiver orientierte
Expressive Lebensstil (z.T.)
Vielseitige
Prestigebezogene
Selbstdarstellung
Pragmatisch
Berufs-orientierte
Hedonistisch
expressiver
Häusliche Lebensstil (z.T.)
Unterhaltungs-
Integrationsmilieu suchende Familien-zentrierter Integrations-
Lebensstil orientierte
Traditionelle,
freizeitaktive
Ortsgebundene

Harmoniemilieu Zurückhaltend- Versorgungs-


Traditionelle, konventioneller orientierte
zurückgezogen Lebensstil
Lebende Zurückhaltend- Zurückgezogene
passiver
Lebensstil
Quelle: Wahl (2004: 7).
180 Stefan Hradil

4 Die Diskussion um die Milieu- und Lebensstilforschung


Schon bald nachdem die Milieu- und Lebensstilforschung in den 1980er Jahren
ihren Aufschwung erlebte, wurde Kritik laut und rief Gegenkritik hervor. Seit-
her riss die Diskussion um die Milieu- und Lebensstilforschung nicht ab. Auf
viele Kritikpunkte hat die Forschung im Laufe der 1980er und 1990er Jahre
reagiert. Insgesamt hat die Diskussion so zweifellos zur Weiterentwicklung der
Milieu- und Lebensstilforschung beigetragen.2
Theorielosigkeit, Begriffslosigkeit, Empirismus, Deskriptivismus lauteten schon bald
die Vorwürfe, nachdem die ersten Milieu- und Lebensstilstudien in den 1980er
Jahren vorlagen. Es wurde moniert, dass im Zuge dieser Forschungen auf eine
weitgehend beliebige, begriffslose und theoretisch orientierungslose Weise
Phänomene des Denkens und Verhaltens mit Hilfe unterschiedlicher empiri-
scher Verfahren lediglich sortiert werden. Entsprechend beliebig und wider-
sprüchlich, da abhängig von den jeweils gewählten Variablen, Erhebungs- und
Auswertungsverfahren, seien denn auch die Ergebnisse.
Damit im Zusammenhang wurde der Realitätsgehalt der Ergebnisse von Mi-
lieu- und Lebensstilstudien immer wieder in Frage gestellt. Die Befunde stellten
offenkundig sehr unterschiedlich geratene Kompromisse zwischen differen-
zierten Darstellungen pluraler Strukturen einerseits und dem Bemühen um
Übersicht und Einfachheit andererseits dar. Das weckte Zweifel, inwieweit es
sich überhaupt um die Wiedergabe realer Gegebenheiten handelt. Die vorge-
legten Resultate schienen vielen Kritikern abhängig von den jeweils gewählten
Forschungsverfahren und damit methodische Artefakte zu sein. Daneben sorg-
te auch die Namensgebung immer wieder für Bedenken bezüglich des Reali-
tätsgehalts der ermittelten sozialen Milieus bzw. Lebensstilgruppierungen. Ih-
nen werden in der Regel Namen gegeben, die meist zentrale Merkmale hervor-
heben. Dies führt immer wieder zu Enttäuschungen, weil der Inhalt der ermit-
telten typischen Lebensstile mit ihren Namen nicht deckungsgleich ist.
Die Milieu- und Lebensstilforschung hat auf diese Einwände auf zweierlei
Weise reagiert. Zum einen wurden in der beschreibenden Forschung mit Hilfe
bewusst unterschiedlicher Definitionen und empirischer Verfahren diverse
Typologien von sozialen Milieus und Lebensstilen ermittelt. Sie fielen erwar-
tungsgemäß unterschiedlich aus, und die einzelnen Milieus bzw. Lebensstile
wurden denn auch mit unterschiedlichen Namen belegt. Bei näherem Hinsehen

2 Eine Kontroverse zwischen Thomas Meyer, Gerhard Schulze und Stefan Hradil, die den
Stand der Kritik und Gegenkritik zusammenfasst, findet sich in Hradil (2001b).
Soziale Milieus und Lebensstile 181

zeigten sich aber gleichwohl Übereinstimmungen, die auf reale und vergleichs-
weise beständige Strukturen schließen lassen. Daher kann gerade die Vielfalt
der Herangehensweisen, mit deren Hilfe man immer wieder auf im Kern ähnli-
che Strukturen gestoßen ist, als Hinweis auf den Realitätsgehalt der For-
schungsergebnisse gelten. Zum anderen wurde die anfänglich vielleicht zwangs-
läufige und sogar hilfreiche Theorielosigkeit der Milieu- und Lebensstilfor-
schung im Laufe der Zeit immer mehr durch theoriegeleitete Forschungen
ersetzt. Für die neueren Beiträge kann der Vorwurf der Theorielosigkeit kaum
mehr gelten. Insbesondere ist der neueren Forschung daran gelegen, theoreti-
sche Brücken zwischen den „objektiven“ Lebensbedingungen und den „sub-
jektiven“ Lebensweisen der Menschen zu schlagen (vgl. z.B. Wieland 2004).
Nicht selten wurde die Milieu- und Lebensstilforschung – vor allem in der
Anfangszeit ihrer Renaissance in den 1980er Jahren – als alleinige Nachfolgerin
der Klassen- und Schichtungsforschung angesehen. Zahlreiche Forscher mo-
nierten, dass eine so interpretierte Milieu- und Lebensstilforschung ideologische
Funktionen ausübe. An die Stelle von Ungleichheitsforschung und Erforschung
materieller Lebensbedingungen sei soziokulturelle Vielfaltsforschung (Geißler
1996) getreten. Es werde der Eindruck erzeugt, Bildungs-, Einkommens- und
Vermögensungleichheiten seien unwichtig, die Lebensgestaltung sei ein buntes
Reich individueller Freiheiten geworden.
Diese Gefahren haben vor allem im Überschwang der Renaissance der Mi-
lieu- und Lebensstilforschungen der 1980er Jahre durchaus bestanden. Aber
seither hat die empirische Forschung ermittelt, dass neben Alter, Lebensform
und Geschlecht auch die Schichtzugehörigkeit die Freiheit der Lebensgestal-
tung einschränkt. Auf der anderen Seite hat sich die Klassen- und Schichtungs-
forschung von der Unterstellung verabschieden müssen, nach denen die äußere
Lebenslage zwangsläufig bestimmte Lebensweisen nach sich zieht. Mittlerweile
existiert, bei anhaltender Diskussion, eine fruchtbare Koexistenz zwischen der
Ungleichheits- und der Milieu- bzw. Lebensstilforschung.
Schließlich sollen noch drei Einwände genannt werden, die sich weniger ge-
gen die Milieu- und Lebensstilforschung schlechthin als gegen den derzeitigen
Forschungsstand bzw. gegen häufig geübte Vorgehensweisen richten:
1. Lebensstile werden vorwiegend, soziale Milieus teilweise mit Hilfe von
Verhaltensindikatoren erfasst. Mit Hilfe der so ermittelten Lebensstile und
sozialen Milieus werden wiederum Verhaltensweisen (Konsum, politische
Wahlen, Gesundheitsverhalten etc.) erklärt. Dies weckte den Verdacht der
Tautologie. Es wurde kritisiert, dass Verhalten mit Verhalten begründet
werde, was dergleichen „Erklärungen“ logisch wertlos mache.
182 Stefan Hradil

Gegen diesen Vorwurf wurde argumentiert, dass soziale Milieus und Le-
bensstile (strukturell und individuell) relativ geschlossene und stabile Mus-
ter der Lebensweise darstellen. Sie sind auf anderer logischer Ebene als die
einzelnen Verhaltensakte einzuordnen und können so durchaus als Erklä-
rung für Konsumverhalten, Medienverhalten etc. dienen.
2. Um soziale Milieus oder Lebensstile zu erforschen, wird jeweils eine Fülle
von Indikatoren bzw. Variablen verwendet. Teilweise werden mehr als 50
Fragen eingesetzt. Dies ist sehr zeitaufwändig und teuer. Kritiker wandten
ein, dass dieser Aufwand oft in keinem Verhältnis zum Erkenntnisgewinn
gegenüber „sparsameren“ Konzepten, z.B. der Berufs- oder Schichtstruk-
tur, stehe. Tatsächlich stellt der hohe Aufwand bis heute ein Hemmnis für
die weitere Verbreitung der Milieu- und Lebensstilforschung dar. An zahl-
reichen Stellen wird deshalb an einfacheren Operationalisierungen gearbei-
tet.
3. Schließlich wurde kritisiert, dass die Forschung blind sei für Veränderungen
von sozialen Milieus und Lebensstilen sowie für den persönlichen Wechsel
von Milieu- bzw. Lebensstilzugehörigkeiten.
In der Tat erbringen fast alle vorliegenden Milieu- und Lebensstilstudien bloße
Momentaufnahmen. Sie beschreiben die derzeitige Mentalität bzw. Lebensge-
staltung von Menschen und versuchen, hieraus Erklärungen abzuleiten. Es
wird hieraus weder deutlich, wie lange soziale Milieus und Lebensstile beste-
hen, noch, wie lange die Einzelnen einem bestimmten sozialen Milieu bzw.
Lebensstil angehören und welche „Milieu- bzw. Lebensstilbiographie“ sie
durchlaufen. Dies zu wissen, wäre u.a. wichtig, um Erklärungen historischer
Prozesse und individuellen Verhaltens fundierter vornehmen zu können. Wer
z.B. aus dem konservativen Milieu ins liberale geraten ist, wird sich anders
verhalten als diejenigen, die aus dem „68er-Milieu“ dorthin kamen.
Auch hier gilt, dass der Vorwurf heute weniger trifft als gestern. Insbeson-
dere über den Wandel der oben beschriebenen „Sinus-Milieus“ wissen wir seit
Mitte der 1980er Jahre durch Zeitreihendaten relativ gut Bescheid. Auch Stu-
dien zur Mobilität über Milieu- und Lebensstilgrenzen hinweg liegen seit eini-
gen Jahren vor (Vester et al. 2001; Wahl 2004, 2003, 1997).

5 Der Gewinn der Perspektive für die Journalismusforschung


Die Beschreibungs- und Erklärungsleistungen der Milieu- und Lebensstilfor-
schung werden mittlerweile in zahlreichen Praxisfeldern eingesetzt. Im Bereich
Soziale Milieus und Lebensstile 183

der Journalismusforschung lassen sich zwei Forschungsrichtungen unterschei-


den: (a) Der Milieu- und Lebensstilzugehörigkeit von Journalisten wurde nachge-
gangen, um Aufschlüsse im Hinblick auf ihre Sozialisation, Werthaltungen und
soziale Verortung zu gewinnen. (b) In zahlreichen Erhebungen wurde die Mi-
lieu- und Lebensstilzugehörigkeit von Mediennutzern erforscht, um Kenntnisse
über die Präferenzen, Motive und Interessen von Lesern, Fernsehzuschauern,
Hörfunkhörern etc. zu erlangen.
(a) Aufgrund einer bayerischen Repräsentativbefragung aus dem Jahr 1999
(Raabe 2000, vgl. Abbildung 5) wissen wir, welchen sozialen Milieus Journa-
listen angehören: Sie konzentrieren sich in drei der insgesamt zehn sozialen
Milieus, auf die sich zu dieser Zeit die gesamte Bevölkerung verteilte:
Beträgt der Bevölkerungsanteil am Modernen Arbeitnehmermilieu, dem Liberal-
intellektuellen und dem Postmodernen Milieu gerade mal etwas mehr als ein
Fünftel der Gesamtbevölkerung, während sich rund 78 Prozent auf die übrigen
Milieus verteilen, so ist es bei den Journalisten genau umgekehrt: Knapp 79 Pro-
zent der Journalisten lassen sich diesen drei Milieus […] zuordnen. (Raabe 2000:
234)

Journalisten aus dem Modernen Arbeitnehmermilieu sind nicht ganz so


jung und im Durchschnitt etwas höher gebildet als jene aus dem Auf-
stiegsorientierten Milieu. Entsprechend verdienen sie oft gut bis sehr gut.
Die vielen Journalisten, die dem Liberal-intellektuellen Milieu zuzurechnen
sind, sind etwas älter als der Durchschnitt ihrer Kollegen und sind in allen
Einkommens- und Herkunftsstufen vertreten. Dagegen sind Journalisten
aus dem Postmodernen Milieu im Allgemeinen jünger. Ihrer geringen Be-
rufspraxis entsprechend verdienen sie oft eher wenig bis mittelmäßig viel
(ebd.: 236). Diese Milieuverteilung ist bei Print- und Rundfunkjournalisten
ähnlich, nur Journalisten im Privatfunkbereich sind oft jünger und gehören
besonders häufig dem Postmodernen Milieu an. Dass die Zugehörigkeit zu
diesen Milieus Auswirkungen auf die Tätigkeit hat, geht schon daraus her-
vor, dass zwei Drittel aller Journalisten aus dem Ressort Kultur/Gesell-
schaft dem Liberal-intellektuellen Milieu angehören (ebd.: 239).
(b) Befunde der Lebensstilsoziologie werden vor allem von Marketingexperten
immer wieder herangezogen, um die Nutzung von Medien zu klären, um
Zielgruppenanalysen zu erstellen usw. Unter anderem wurden in der Me-
dienforschung eingesetzt: die Lifestyle-Typologie von Michael Conrad und
Leo Burnett, die Euro-Socio-Styles der Gesellschaft für Konsumforschung
(GfK) Nürnberg, die Eurotrends des International Research Institute on
184 Stefan Hradil

Social Change (RISC), die MedienNutzerTypologie von ZDF und ARD


(Hartmann & Neuwöhner 1999: 531ff.; Jakob 1998: 72ff.; Hradil 1992a:
35f.).
Lebensstilstudien „erklären“ das Lesen bestimmter Zeitschriften, das Sehen
bestimmter Fernsehsendungen etc. als Verhaltensweisen, die zum jeweiligen
Lebensstil einer Person insgesamt „passen“. Bei Kenntnis des Lebensstils einer
Person lässt sich so voraussagen, wer was lesen, sehen oder hören wird. Umge-
kehrt lässt sich dann auch sagen, wie Zeitschriften oder Sendungen gestaltet
werden müssen, um in die Lebensgestaltung bestimmter Lebensstilgruppierun-
gen zu „passen“.
Milieustudien erklären die Mediennutzung grundsätzlicher. Denn die Mi-
lieuzugehörigkeit von Menschen bestimmt sich nach deren Bedürfnissen,
Werthaltungen, Lebenszielen und -prinzipien. Ist die Milieuzugehörigkeit eines
Menschen bekannt, so weiß man viel darüber, welche Sehnsüchte, welche ge-
sellschaftlichen und politischen Grundeinstellungen, welche Interpretationen,
Motive und Nutzenerwartungen er aufweisen wird. So lässt sich gut voraussa-
gen, warum wer was lesen, sehen oder hören wird. Und umgekehrt lässt sich
kausal erkennen, warum Zeitschriftenartikel und Rundfunksendungen diese
Prinzipien und jene Inhalte aufweisen müssen, um den Motiven und Interessen
bestimmter Menschen zu entsprechen.
Besonders häufig werden die o.a. „Sinus-Milieus“ zur Erklärung der Me-
diennutzung herangezogen (z.B. Burda Advertising Center 2003). In einer
Analyse der Zeitschriften „SuperIllu“, „Stern“, „Playboy“ und „Bunte“ wurde
z.B. nachgewiesen, dass die Menschen je nach ihrer Milieuzugehörigkeit deut-
lich unterschiedliche Präferenzen im Hinblick auf diese Zeitschriften und ihre
Themen haben (Klein 2004). Sie entscheiden sich hierbei für jene Zeitschriften,
mit denen sie am besten ihre milieuspezifischen Bedürfnisse stillen können und
die möglichst ihren milieuspezifischen Werten entsprechen. Mediennutzer
streben insoweit nach Gratifikation, Konsistenz und Nutzenmaximierung (vgl.
Renckstorf 1989). So finden sich die Stammleser des „Playboy“ vor allem in
den Milieus der Konsum-Materialisten, der Experimentalisten, der Hedonisten
und der Modernen Performer (Sinus-Milieus 2002). Der „Playboy“ wird der
Unternehmungslust und dem Distinktionsbedürfnis der Experimentalisten
ebenso gerecht wie der Neugier der Hedonisten. Er befriedigt die Genussfä-
higkeit der Modernen Performer und er entspricht den Werten des äußerlich
Sichtbaren der Konsum-Materialisten, die auf den Schein im Zweifelsfalle mehr
als auf das Sein geben (Klein 2004).
Soziale Milieus und Lebensstile 185

Abbildung 5: Milieuverteilung von Bevölkerung und Journalisten, Bayern 1999, in Prozent

Quelle: Raabe (2000: 234), leicht geändert durch den Verfasser

6 Fazit
Die Erforschung von Milieus und Lebensstilen ist aus dem Bereich der ge-
werblichen Marketing- und Wahlforschung herausgetreten und von einer
Modeerscheinung zu einem etablierten Bestandteil der sozialwissenschaftlichen
Forschung geworden. Manche Übertreibungen aus der Anfangszeit der akade-
mischen Renaissance der 1980er Jahre sind überwunden. In einer wohlhaben-
den, pluralisierten und sich wandelnden Gesellschaft, in der Selbstdefinitionen,
Zurechnungen und Verhaltensweisen der Menschen nicht mehr allein von
verfügbaren Ressourcen, sondern auch von deren Verwendungsweise geprägt
sind, ist die Perspektive der Milieu- und Lebensstilforschung unerlässlich ge-
worden. Sie ersetzt herkömmliche Sozialstrukturanalysen nicht, sondern er-
gänzt sie.
Nicht zuletzt zeigt sich der Gewinn dieser Forschungsrichtung in der Jour-
nalismusforschung. Sie hilft, den sozialen Standort, die Einstellungen und die
Motive von Journalisten zu verstehen. Milieu- und Lebensstilstudien geben vor
186 Stefan Hradil

allem aber Aufschluss über Nutzungsstrukturen, Präferenzen und die Gründe


der Bevorzugung bestimmter journalistischer Produkte. Milieu- und Lebensstil-
studien tragen daher dazu bei, dass journalistische Produkte im Hinblick auf
ihre Wirkungen ausgerichtet werden können.

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KAPITAL – FELD – HABITUS
Elemente einer Journalismustheorie
nach Bourdieu

Herbert Willems

1 Einführung
Der vorliegende Aufsatz verfolgt das Ziel, bestimmte Schlüsselelemente der
soziologischen Theorie als Ansätze der Untersuchung journalistischer Praxis
vorzuführen. Im Vordergrund stehen die zentralen Konzepte Pierre Bourdieus,
dessen Werk in diesem Zusammenhang als besonders vielversprechend er-
scheint. Meine diesbezüglichen Überlegungen gehen davon aus, dass die theo-
retische Bedeutung Bourdieus weniger in einem eigenständigen „Theoriesys-
tem“ als in der Arbeit an Konzepten besteht, die in der Soziologie bereits vor
Bourdieu Tradition hatten. Gleichzeitig (und deswegen) gehe ich davon aus,
dass diese Konzepte zu den relevantesten Ansätzen einer integrativen sozial-
wissenschaftlichen bzw. soziologischen Theoriebildung zu zählen sind, die ein
aktuelles Optimum an deskriptiver und analytischer Aussagekraft versprechen.
An drei Begriffe Bourdieus ist hier vor allem zu denken: Feld, Habitus und
Kapital. Ihr Status im Bourdieu’schen Werk ist mittlerweile vielfach reflektiert
worden, ohne zu übersehen, dass Bourdieu damit auf den Schultern von Riesen
wie Marx, Durkheim oder Weber steht. Allein dies ist jedoch viel weniger be-
deutsam als die besondere perspektivische und theoretische Parallelität und
Anschlussfähigkeit zwischen den Arbeiten von Bourdieu und Norbert Elias.
Dies gilt gerade im Hinblick auf die genannte Begrifflichkeit. Die Gedanken-
und Denkfigur, für die sie steht, ist schon bei und für Elias grundlegend und
werkzentral. In dem vorliegenden Aufsatz werde ich daher des Öfteren auf die
Verwandtschaft und auch Komplementarität zwischen Elias und Bourdieu zu
216 Herbert Willems

sprechen kommen.1 Auch andere Vergleiche und Anschlüsse sind nützlich,


aber vergleichsweise nachrangig.
Die Aufgabe, die diesem Aufsatz gestellt ist, liegt jedoch nicht primär auf
einer theoretisch-systematischen Ebene. Vielmehr soll es hauptsächlich darauf
ankommen, die genannten Begriffsmittel im Hinblick auf den spezifisch inte-
ressierenden Gegenstandsbereich des Journalismus bzw. der Journalisten zu
entfalten und zu transferieren. Mit diesem Bereich müssen auch allgemeiner die
Massenmedien und ihre Publika in den Blick kommen. Ich werde daher zu-
nächst versuchen, einen einführenden Überblick über die besagte Begriffstriade
zu geben, um dann auf Medienrealitäten bzw. den Journalismus und die Jour-
nalisten zu sprechen zu kommen. Aus noch zu entfaltenden theoretischen und
argumentationslogischen Gründen beginne ich mit dem Begriff des Feldes und
ende mit dem des Kapitals. Ein besonderer Akzent liegt aus Relevanzgründen
auf dem Begriff des Habitus.

2 Die Konfiguration der Konzepte:


Feld/Figuration, Habitus und Kapital
2.1 Feld
Mit dem Konzept des Feldes befindet sich Bourdieu in einer sehr weit gehen-
den perspektivischen Nähe zu Elias’ Soziologie der „Figurationen”.2 Mit Bezug
auf Elias’ berühmte Studie über die „höfische Gesellschaft”, die Elias als Figu-
ration fasst und analysiert, gibt Bourdieu selbst den deutlichsten Hinweis auf
die enge Verwandtschaft von Feld- und Figurationskonzept:
Der Fürstenhof, so wie ihn Elias beschreibt, stellt ein eindrucksvolles Beispiel
für das dar, was ich Feld nenne, innerhalb dessen die Akteure – wie in einem
Gravitationsfeld – durch unüberwindliche Kräfte in eine fortwährende, notwen-

1 Eine Komplementärbeziehung zwischen Elias’ und Bourdieus Ansätzen besteht vor allem
insofern, als Elias (im Gegensatz zu Bourdieu) seinem Ansatz einen entschieden histori-
schen und differenzierungstheoretischen Rahmen gegeben hat. Darüber hinaus ist Elias Be-
grifflichkeit offener und daher umfassender. Dies gilt insbesondere für den Begriff der „Fi-
guration“, der die verschiedensten sozialen Beziehungsgebilde umfasst – auch Konstellatio-
nen innerhalb von Feldern.
2 Gewisse Parallelen drängen sich von hier aus auch zu anderen Konzepten und Theorien
auf. Zu nennen wäre insbesondere die Luhmann’sche Systemtheorie mit ihrem Konzept des
(funktionalen) „Subsystems“ und die Foucault’sche Diskurstheorie mit ihren Konzepten
„Dispositiv“ und „Spezialdiskurs“. Hier ist allerdings nicht der Ort, diese Parallelen genauer
zu bestimmen.
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 217
dige Bewegung gezogen werden, um den Rang, den Abstand, die Kluft gegen-
über den anderen aufrechtzuhalten (Bourdieu 1989: 35, Hervorhebung im Ori-
ginal).

Die Begriffe Feld und Figuration meinen, anders und genauer gesagt, span-
nungsvolle und dynamische Beziehungsordnungen von Akteuren, die als sozia-
le Subjekte und Objekte in immer auch symbolischen Ungleichheits-, Macht- und
Konkurrenzverhältnissen stehen und entsprechende Kämpfe um Überlegen-
heit – und d.h. Distinktion – führen. Menschen und Menschengruppen erschei-
nen im Elias’schen wie im Bourdieu’schen Modellrahmen also einerseits nie
isoliert, sondern immer nur in sozialen Relationen, die sie ebenso „bilden“ wie
sie von ihnen „gebildet“ werden. Ganz wie Elias, nur ohne dessen historische
Ausrichtung, betont Bourdieu (1989: 71), „dass die Wirklichkeit relational ist”.
Vor diesem Hintergrund fokussieren Elias wie Bourdieu die psychischen und
körperlichen Seiten der menschlichen Wirklichkeit als Momente, Effekte und
Voraussetzungen jener sozialen „Zusammenhänge“, für die die Begriffe Figura-
tion und Feld stehen.3 Sie bezeichnen eine soziale Realität, die dem Handeln
und dem Handelnden objektive Grenzen setzt und zugleich mit diesen und
durch diese Grenzen bestimmte Spielräume eröffnet. Elias und Bourdieu brin-
gen diese Bivalenz des Sozialen in Relationen zwischen Objektivität und Sub-
jektivität, Zwang und Freiheit auf den metaphorischen Begriff des Spiels, den
beide gleichermaßen weitreichend, ja radikal ausbuchstabieren (vgl. Bourdieu:
1998; 1989; Elias 1981: 75ff.). Für Elias wie für Bourdieu erschließt sich die
Realität der Felder/Figurationen gleichsam als eine Realität von feldspezifi-
schen Spielen mit Spielregeln, Spielern, Einsätzen, Trümpfen, Gewinnen und
Verlusten, Spielzügen, Endergebnissen. Das „Ich” (Elias) muss entsprechend
als eine Tatsache „im Spiel“ betrachtet werden – in einem Spiel, in dem sich
Spieler aufgrund unterschiedlicher Positionen im (Spiel-)Feld in einem dynami-
schen „Spannungsgefüge” (Elias) und einer mehr oder weniger labilen Macht-

3 Indem Bourdieu und Elias die theoretische und analytische Aufmerksamkeit auf allen
Ebenen primär auf die „Interdependenzen der Menschen“ (Elias 1981: 144) lenken, wenden
sie sich gegen herkömmliche disziplinär und „philosophisch“ ausgemachte Trennungen.
Vor allem soll, wie Elias formuliert, der „Zwang gelockert werden, so zu sprechen, als ob
‚Individuum’ und ‚Gesellschaft’ zwei verschiedene und überdies auch noch antagonistische
Figuren seien [...]“ (ebd.: 140). Elias wendet sich besonders entschieden dagegen, das von
ihm als historisches Resultat erklärte „Selbstbild vom ‚Ich im verschlossenen Gehäuse’, das
Bild vom Menschen als ‚homo clausus’“ (ebd.: 141), soziologisch zu verdoppeln. Im Blick
hat er dabei vor allem die Systemtheorie Parsons’scher Prägung.
218 Herbert Willems

balance befinden.4 „Im Zentrum der wechselnden Figurationen” steht für Elias
(1981: 142f.) „das Hin und Her einer Machtbalance, die sich bald mehr der
einen und bald mehr der anderen Seite zuneigt“. Genau in diesem Sinne ent-
wirft Bourdieu die Ordnung der Felder:
„Ein Feld ist ein strukturierter gesellschaftlicher Raum, ein Kräftefeld – es
gibt Herrscher und Beherrschte, es gibt konstante, ständige Ungleichheitsbe-
ziehungen in diesem Raum, und es ist auch eine Arena, in der um Veränderung
oder Erhaltung dieses Kräftefeldes gekämpft wird. In diesem Universum bringt
jeder die (relative) Kraft, über die er verfügt und die seine Position im Feld und
folglich seine Strategien bestimmt, in die Konkurrenz mit den anderen ein“
(Bourdieu 1998: 57).
Dass Felder/Figurationen gleichsam Arenen sind, in denen mit „passen-
den“ (Kapital-)Mitteln strategisch gekämpft wird, bedeutet aber weder für
Bourdieu noch für Elias, Akteure primär als bewusst kalkulierende und rational
wählende Individuen zu verstehen. Im Gegenteil: Strategien erscheinen zu-
nächst und hauptsächlich als etwas Produziertes und „Gerahmtes“: durch Ha-
bitus.

2.2 Habitus
Der Feldbegriff, der ja auf Räume zielt, „in denen objektive Beziehungen herr-
schen und die ihre je eigene Logik und Notwendigkeit aufweisen” (Bourdieu
1989: 72), ist durch den Habitusbegriff komplementiert, der die entsprechen-
den personalen und kollektiven Verhaltensdispositionen entwirft. Der Begriff
des Habitus ist nun nicht nur bei und für Bourdieu zentral, sondern überhaupt
ein – vor Bourdieu allerdings vielfach verkanntes Kernelement der soziologi-
schen Begriffsgeschichte, dessen Flexibilität und Entwicklungsfähigkeit gerade
aus seiner Tradition ersichtlich wird.
Einen dem Bourdieu’schen Konzept im kompetenztheoretischen Grundan-
satz (jenseits von Gesellschafts- und Klassentheorie) verwandten Habitusbeg-
riff haben (vor Bourdieu) Gehlen und – im Anschluss an ihn – Berger und
Luckmann (1969) entwickelt. Nach Gehlen (1986: 19), der von „Systemen
stereotypisierter und stabilisierter Gewohnheiten” spricht, handeln wir sehr oft
„in habituell gewordenen, eingeschliffenen Verhaltensfiguren, die ‚von selbst’
ablaufen. Dies aber versteht sich nicht nur von dem im engeren Sinne prakti-

4 Die Labilität der Machtbalance konstituiert erst das Spiel als offenes Spiel, d.h. den Spiel-
raum des Spielers und der „Partei“, für die er spielt.
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 219

schen, äußeren Handeln, sondern vor allem auch von dessen inneren Bestands-
stücken: Gedanken- und Urteilsgängen, Wertgefühlen und Entscheidungsak-
ten; auch sie sind meist weitgehend automatisiert” (Gehlen 1957: 104). Berger
und Luckmann sprechen in diesem Zusammenhang von einem „alles mensch-
liche Tun” umfassenden „Gesetz der Gewöhnung [...]. Jede Handlung, die man
häufig wiederholt, verfestigt sich zu einem Modell, welches [...] reproduziert
werden kann und dabei vom Handelnden als Modell aufgefaßt wird” (1969:
56).
Habitualisierung in diesem Sinne bedeutet für Gehlen sowie Berger und
Luckmann wie auch für Bourdieu zunächst einen Gewinn an Handlungsfähig-
keit und (weil) eine „Einsparung von Kraft” (Berger & Luckmann 1969: 56).
Gehlen betont die mit Potenzialsteigerungen – etwa im beruflichen Handeln –
verbundene
ungemeine Entlastungsleistung eines solchen sozial orientierten Automatismus
[...]. Es sind nämlich auch die zur Arbeit notwendigen Bewusstseinsfunktionen
habitualisiert, einschließlich der Aufmerksamkeit, die unter diesen Bedingungen
selbst habituell wird und ihre Eigenschaft, rasch zu ermüden, in hohem Grade
verliert (Gehlen 1957: 104f.; Berger & Luckmann 1969: 26f., 43f.).

Habitualisierung bringt darüber hinaus, so Berger und Luckmann (1969: 57)


wie Gehlen (vgl. 1974), „den psychologischen Gewinn” der relativen „Weltge-
schlossenheit” und „Entschiedenheit”. Außerdem setzt sie „Energien für ge-
wisse Gelegenheiten frei, bei denen Entscheidungen nun einmal unumgänglich
sind. Mit anderen Worten: Vor dem Hintergrund habitualisierten Handelns
öffnet sich ein Vordergrund für Einfall und Innovation” (Berger & Luckmann
1969: 57).
Durchaus im Sinne des Gehlenschen „Entlastungsgesetzes” (1974), dessen
„anthropologische Voraussetzung der ungerichtete Instinktapparat des Men-
schen ist” (Berger & Luckmann 1969: 57), geht auch Bourdieu vom Habitus als
sozialem „Instinkt“ aus, der die natürliche Instinktarmut des Menschen kom-
pensiert und gewissermaßen überkompensiert. Nah an den Vorstellungen Geh-
lens und Berger & Luckmanns (und sogar in weitgehender Übereinstimmung
mit deren Formulierungen) zielt auch Bourdieu, sich auf die Leibnitz’sche Au-
tomaten-Metapher berufend, zunächst auf die Analyse jener Automatismen, die
sich von selbst vollziehen. Es geht ihm primär um spontane und vorreflexive
Reaktionen und Orientierungen, die sich allenfalls ex post in rationale Begrün-
dungen übersetzen lassen. Genau auf dieser Ebene ist bei Elias, wie auch bei
Michel Foucault (1977b), von Gewohnheiten bzw. einer „Automatik der Ge-
wohnheiten” (Foucault 1977b: 173) die Rede. Elias’ Zivilisationstheorie und
220 Herbert Willems

Foucaults Analysen der „Bio-Macht” (1977a), der Verankerung anonymer


Sozialkontrollen in den menschlichen Körpern, implizieren eine Theorie der
Funktion und der Genese von Habitus. Elias spricht in seinem (bereits in den
dreißiger Jahren verfassten) Hauptwerk „Über den Prozess der Zivilisation”
(1980, 2 Bde.) ausdrücklich von Habitus sowie – mehr oder weniger bedeu-
tungsgleich – von „Automatismen” des Verhaltens, „automatisch arbeitenden
Selbstkontrollapparaturen” und „Gewohnheitsapparaturen” (Elias 1980, Bd. 2:
320ff.) als Resultate des „individuellen Zivilisationsprozesses”.
Die Habitus, die Elias meint und nennt (vgl. z.B. ebd.: 333, 336), äußern
sich zum einen in spontanen, gewissermaßen symptomatischen Reaktionen
und Selbstkontrollen bzw. Emotionen, in Moral- und Geschmacksempfindun-
gen, in Scham, Peinlichkeit, Stolz, Abscheu, Ekel usw. (vgl. ebd.: 397ff.). Zum
anderen beschreibt er Spielräume verarbeitende (bewältigende, nutzende) stra-
tegisch-kalkulatorische Akteure, deren Praxis vielfältig leistungsfähige Habitus
„verlangt und züchtet” (ebd.: 370). Die Habitus des Höflings z.B. erzeugen
nicht nur spontane, subjektiv unverfügbare und determinierende Ängste, Ver-
achtungs- und Geschmackseffekte usw., sondern auch generelle Kompetenzen
im Denken und Handeln. „Überlegung, Berechnung auf längere Sicht [...]
Kenntnis der Menschen und des gesamten Terrains” (ebd.: 370), eine „Delika-
tesse” des Sprechens (ebd.: 410), eine „Kunst der Menschenbeobachtung”
(ebd.: 375) und andere, ähnliche „Künste“ sind soziale (Mindest-)Erfolgs-
bedingungen und (damit) Habitusfaktoren des Höflings. Für Elias verkörpert
dieser exemplarisch eine habituelle „Art des ‚Verstandes’“ oder des „Denkens“
(ebd.: 380), die insofern „vernünftig” ist, als sie der Logik einer Figuration,
positionsspezifischen Handlungsbedingungen (z.B. Interessen) und situations-
spezifischen Passungs- und Anpassungserfordernissen entspricht. Ganz analog
ist die praktische Rationalität und Mentalität, der Stil des Verhaltens, Denkens,
Fühlens von heutigen Akteurstypen wie z.B. Politikern, Klerikern oder Journa-
listen zu verstehen und zu rekonstruieren.
Bourdieus Rede von Habitus ist also dem Begriff wie wesentlichen Sinn-
gehalten nach alles andere als neu. Neu ist vor allem die besondere und zentrale
Position, die Bourdieu dem Habituskonzept im Rahmen seiner Theorie zu-
weist, sowie die entsprechend komplexe definitorische Ausformulierung dieses
Konzepts. In einer Anmerkung seines „Entwurfs einer Theorie der Praxis”
liefert Bourdieu die vielleicht prägnanteste definitorische Bestimmung des
Habitus. Die Bezeichnung „Disposition” erklärt er für „in besonderem Maß
geeignet, das auszudrücken, was der (als System von Dispositionen definierte)
Begriff des Habitus umfasst: Sie bringt zunächst das Resultat einer organisie-
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 221

renden Aktion zum Ausdruck und führt damit einen solchen Worten wie
„Struktur“ verwandten Sinn ein; sie benennt im Weiteren eine Seinsweise,
einen habituellen Zustand (besonders des Körpers) und vor allem eine Prä-
disposition, eine Tendenz, einen Hang oder eine „Neigung” (Bourdieu 1976:
446). Habitus sind demnach keine Determinanten von Verhaltensweisen, son-
dern sozusagen generative Rahmen und damit Identitäten von Verhaltenswahr-
scheinlichkeiten, Kontingenzspielräumen und (An-)Passungsverhältnissen. Es
geht nicht etwa um im Handeln kopierte „Drehbücher“ (wie die so genannten
Skripttheorien unterstellen), sondern um „eine allgemeine Grundhaltung, eine
Disposition gegenüber der Welt, die zu systematischen Stellungnahmen führt
[…] wie einer spricht, tanzt, lacht, liest, was er liest, was er mag, welche Be-
kannte und Freunde er hat usw. All das ist eng miteinander verknüpft” (Bour-
dieu 1989: 25).
Bourdieu unterstreicht und spezifiziert dieses Verständnis (knapp zehn Jah-
re nach dem „Entwurf”), indem er den Habitus als Verhaltensgenerator mit
nicht nur systematischem Charakter sondern auch gleichsam eingebauter Fein-
abstimmung vorführt: „Habitusformen” erscheinen
als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Struk-
turen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h.
als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die
objektiv an ihr Ziel angepaßt sein können, ohne jedoch bewußtes Anstreben von
Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderli-
chen Operationen vorauszusetzen (Bourdieu 1987: 98f.).

In einem prinzipiellen kompetenz- und handlungstheoretischen Sinne, der


gerade auch die im Folgenden zu thematisierende Berufspraxis betrifft, ist in
diesem Zusammenhang der Gedanke Bourdieus zentral, dass der Habitus nicht
nur ein Schema zur Erzeugung immer neuer Handlungen ist, sondern auch
einen Sinn für „feine Unterschiede“5 und eine „Urteilskraft im Handeln“ (vgl.
Hahn 1986: 609) hervorbringt. Bourdieu spricht von einem „praktischen Sinn“:
Genau mit diesem praktischen Sinn, der sich weder mit Regeln noch mit
Grundsätzen belastet […], kann der Sinn der Situation auf der Stelle, mit einem
Blick und in der Hitze des Gefechts, eingeschätzt und sogleich die passende

5 Von feinen Unterschieden spricht nicht nur Bourdieu in seinem (in der deutschen Überset-
zung) gleichnamigen Buch, sondern auch schon Gehlen (1957: 105). Ihm zufolge entwickelt
sich „auf dieser Basis spezialisierter Gewohnheiten gesetzmäßig eine immer höhere Reiz-
schwelle, ein sich verfeinernder optischer und taktiler Sinn für Qualitätsunterschiede, ein
Plus an motorischen Feinreaktionen und eine differenzierte Skala verfügbarer Denkschema-
ta; kurz, ein hohes gezüchtetes Können“ (Gehlen 1957: 105; vgl. auch 1986: 29f.).
222 Herbert Willems
Antwort gefunden werden. Nur diese Art erworbener Meisterschaft, die mit der
automatischen Sicherheit eines Instinkts funktioniert, gestattet es, augenblicklich
auf alle möglichen ungewissen Situationen und Mehrdeutigkeiten der Praxis zu
reagieren (Bourdieu 1987: 190f.).

Die vielfältigen Varianten des praktischen Sinns und jene reflexartigen Reakti-
onsweisen, die wie die Schamangst einen Zwang und unter Umständen einen
„unpraktischen Sinn“ bedeuten, führt Bourdieu auf bestimmte Klassen sozialer
Existenzbedingungen zurück, die den jeweiligen Habitus gleichsam – einer
Grammatik analog – programmieren.
Da er ein erworbenes System von Erzeugungsschemata ist, können mit dem
Habitus alle Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen, und nur diese, frei
hervorgebracht werden, die innerhalb der Grenzen der besonderen Bedingungen
seiner eigenen Hervorbringung liegen. Über den Habitus regiert die Struktur, die
ihn erzeugt hat, die Praxis, und zwar nicht in den Gleisen eines mechanischen
Determinismus, sondern über die Einschränkungen und Grenzen, die seinen Er-
findungen von vornherein gesetzt sind (Bourdieu 1987: 102).

Die hier gemeinten Daseinsbedingungen, die die habituellen Dispositionen


erzeugen, schließen durch das, was sie als Möglichkeiten und Unmöglichkeiten,
Freiheiten und Notwendigkeiten definieren, durch Erleichterungen und Verbo-
te etc. bestimmte Vorstellungen und Praktiken von vornherein aus und legen
andere nahe (vgl. Bourdieu 1987: 100ff.). Der Habitus „versucht“ entspre-
chend, die „‚vernünftigen’ Verhaltensweisen” zu erzeugen, die alle Aussicht auf
Belohnung haben, weil sie den objektiven Daseinsbedingungen angepasst sind.
„Zugleich trachtet” er, „alle Verhaltensweisen auszuschließen, die gemaßregelt
werden müssen, weil sie mit den objektiven Bedingungen unvereinbar sind”
(Bourdieu 1987: 104). In diesem Sinne können z.B. berufsspezifische Habitus
(von Politikern, Journalisten usw.) als praktisch generierte Generatoren eines
besonderen „Gespürs“, einer „Diplomatie“, einer „Geschicklichkeit“, einer
„Intuition“ usw. verstanden werden.

2.3 Kapital und Kapitaltypen


Wie die Begriffe Feld und Habitus ist der Begriff des Kapitals von Bourdieu
nicht erfunden sondern lediglich „moduliert“ worden. Und auch die Art, wie
Bourdieu diesen Begriff inhaltlich fasst bzw. erweitert, ist nicht wirklich origi-
nell, sondern im Wesentlichen schon bei Elias vorgezeichnet. Bourdieus prin-
zipielles Kapitalverständnis und selbst seine Unterscheidung von Kapitaltypen
hat Elias, wenn auch mit anderen Worten, vor allem in seiner Untersuchung
der „höfischen Gesellschaft” (Elias 1983) vorweggenommen.
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 223

Bourdieu greift den wirtschaftstheoretischen Kapitalbegriff auf und entwi-


ckelt ihn als ein Konzept, das auf alle gesellschaftlichen Felder übertragbar sein
soll (vgl. Bourdieu 1983: 184f.). Dieses Konzept, das die Konzepte Feld und
Habitus voraussetzt und sich teilweise mit ihnen überschneidet, übergreift sehr
unterschiedliche sozial-positional, instrumentell und strategisch relevante Tat-
sachen bzw. Ressourcen wie z.B. Geld, Sprache, Körper, Titel und „Beziehun-
gen“. Dabei geht Bourdieu von systematisch und hartnäckig ungleichen Vertei-
lungsstrukturen aus (ebd.: 183). Die jeweilige historische Verteilungsstruktur
der diversen Kapitalformen entspricht der „immanenten Struktur der gesell-
schaftlichen Welt, d.h. der Gesamtheit der ihr innewohnenden Zwänge, durch
die das dauerhafte Funktionieren der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmt
und über die Erfolgschancen der Praxis entschieden wird” (ebd.: 183).
Bourdieu differenziert drei basale Kapitalsorten: das „kulturelle” (a), das
„soziale” (b) und das „ökonomische” (c) Kapital.
(a) Drei Varianten kulturellen Kapitals werden von Bourdieu unterschieden,
nämlich „inkorporiertes”, „objektiviertes” und „institutionalisiertes”. Im
Verständnis des Erstgenannten besteht dabei der eigentliche „Clou“ der
einschlägigen Bourdieu’schen Überlegungen. Unter inkorporiertem Kul-
turkapital versteht Bourdieu – ganz in Übereinstimmung mit Elias – verin-
nerlichte und damit dauerhafte Dispositionen, die in mehr oder weniger
langfristigen, d.h. zeitintensiven, Sozialisationsprozessen entstanden sind.
Es geht also um ein Kapital in der Form (und mit den Implikationen) von
Habitus. Dieses ist auch – so Bourdieu wie Elias – im Kontext objektivier-
ten Kulturkapitals, wie z.B. Kunstwerken, Instrumenten, Büchern, Ein-
richtungsgegenständen usw., zentral – insofern nämlich, als die Aneignung
dieser Objekte die Verfügung über kulturelle Kompetenzen, insbesondere
Urteilsfähigkeiten, erfordert. Demgegenüber ist das institutionalisierte Kul-
turkapital, vor allem in der Form von Bildungstiteln, relativ unabhängig
von dem kulturellen Kapital, das die Person seines Trägers „tatsächlich zu
einem gegebenen Zeitpunkt besitzt” (1983: 190). Titel fungieren sozusagen
als autarke Statussymbole, die „offiziell“ ausweisen. Sie sind zudem ebenso
wie alle anderen kulturellen Kapitalvarianten von mehr oder weniger gro-
ßer Bedeutung für den Handlungs- und Karriereerfolg auf den verschiede-
nen Feldern.
(b) Soziales Kapital definiert Bourdieu als die „Gesamtheit der aktuellen und
potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von
mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens
oder Anerkennens verbunden sind” (1983: 190f.). Dieser „Besitz“ ist für
224 Herbert Willems

Bourdieu das Produkt von Investitionsstrategien und einer „unaufhörli-


chen Beziehungsarbeit in Form von ständigen Austauschakten […], durch die
sich die gegenseitige Anerkennung immer wieder neu bestätigt” (Bourdieu
1983: 193).6 Bei Elias wird die hier gemeinte Form von Arbeit und „Be-
sitz“ zentral und ganz im Sinne von Bourdieus Sozialphilosophie themati-
siert und analytisch gefasst. Das schließt die Aspekte der Wechselseitigkeit
und Interdependenz mit ein: Ein Akteur (z.B. ein Journalist) kann dem-
nach soziales Kapital (z.B. „brauchbare“ Beziehungen zu „führenden“ Po-
litikern) haben und (z.B. für „führende“ Politiker) sein.
(c) Ökonomisches Kapital, wie Bourdieu es definiert, ist, das überrascht we-
nig, „unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar und eignet sich beson-
ders zur Institutionalisierung in der Form des Eigentumsrechts” (1983:
185). In der Tradition von Marx hält Bourdieu diesen Kapitaltyp und das
ökonomische Feld überhaupt für gesellschaftlich primär und dominant.
Dies gilt auch z.B. für seine Einschätzung der Ereignisse und Entwicklun-
gen des journalistischen Feldes, das er letztlich von ökonomischen Ge-
setzmäßigkeiten, Zwängen und „Kräften“ bestimmt sieht.
Die „wahrgenommene und als legitim anerkannte Form” des ökonomischen,
kulturellen und sozialen Kapitals bezeichnet Bourdieu (1985: 11) als symboli-
sches Kapital.7 Gemeint sind „Definitionen“ der Anerkennung, Geltung und
Achtung, die mit Begriffen wie Statussymbol, Ruf, Prestige, Reputation oder
Image gefasst werden können. Dieses Kapital spielt offensichtlich in den ver-
schiedensten Feldern eine – allerdings je besondere – Schlüsselrolle als etwas,
das von den Akteuren angestrebt wird und mit dem und für das sie handeln.

6 Natürlich versteht man nicht zuletzt im Feld der Wissenschaft sofort, was hier gemeint ist.
Allerdings tritt auch sofort die Wesensdifferenz der Kapitaltypen zu Tage. Beziehungskapi-
tal ist eine recht diffuse, instabile und unzuverlässige Angelegenheit.
7 Der Begriff des symbolischen Kapitals wird von Bourdieu mit und ohne Rückbezug auf die
genannten Kapitaltypen nicht völlig klar und einheitlich verwendet. Es ist auch fraglich, ob
nicht noch andere als die von Bourdieu fokussierten Grundlagen symbolischen Kapitals
von größerer Bedeutung sind. Zu denken wäre etwa an „korporales Kapital“, von dem
Bourdieu verschiedentlich spricht. Auch mit dem Körper können sich ja wie mit Beziehun-
gen (und in Beziehungen) diverse Ressourcen verbinden.
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 225

3 Journalismus, Journalisten und andere Medienrealitäten


3.1 Das journalistische Feld und seine „Polung“
Journalisten sind, wenn man sie mit den beschriebenen Deutungsmitteln be-
trachtet, eine Klasse von professionellen Medienakteuren, die auf einem be-
sonderen (Medien-)Feld bzw. Feldsegment operieren, auf dem sie im Rahmen
bestimmter Kapitalbedingungen und einer spezifischen „Polung“ mit anderen
Akteuren bzw. Akteursklassen8 innerhalb und außerhalb ihres Feldes in Ab-
hängigkeits-, Macht-, Kooperations- und Konkurrenzbeziehungen verflochten
sind. Bourdieu definiert den von ihm eingeführten Begriff des journalistischen
Feldes zunächst als eine besondere Sinn- und Sozialwelt:
Die Welt des Journalismus ist ein Mikrokosmos mit eigenen Gesetzen. Dieser
Mikrokosmos ist definiert durch seine Stellung in einem umfassenden Ganzen
und durch die Anziehung und Abstoßung, die andere Mikrokosmen auf ihn aus-
üben. Er ist autonom, folgt seinem eigenen Gesetz, das heißt: Was in ihm vor
sich geht, kann nicht direkt von äußeren Faktoren erschlossen werden (Bourdieu
1998: 55).9

Feld oder Feldsegment (im Falle des Journalismus z.B. Boulevardjournalismus)


heißt auch, dass (unter bestimmten Bedingungen) ein bestimmtes „Spiel“ (mit
bestimmten „Spielregeln“, „Einsätzen“, „Gewinnen“ und „Verlusten“ usw.)
gespielt wird.10 Das „Spiel“ der Journalisten ist ein unter spezifischen Produk-
tions- und Marktbedingungen stattfindendes und zunehmend Marktzwängen
unterworfenes Informations- und damit Deutungsspiel um die Aufmerksam-
keit, das Interesse, die Anerkennung und das (z.B. Kauf-)Handeln bestimmter
Publika. Die Zuschauer, Zuhörer, Leser (Zahler, Käufer), aber auch die Fach-
kollegen, Vorgesetzten, (z.B. preisverleihenden) Kritiker usw. sind mehr oder
weniger relevante Publika der Journalisten, deren Erfolge und Misserfolge sich
letztlich in Karrieren und d.h. in den besagten Kapitalformen niederschlagen.
Journalisten können also als „Spieler“ betrachtet werden, für die etwas auf dem
Spiel steht und die um etwas spielen – als Spieler, die sich bei mehr oder weni-
ger vorteilhafter Kapitalausstattung in Konkurrenzkämpfen befinden, z.B. um
die (besonders „publikumswirksame“) Exklusivmeldung (vgl. Bourdieu 1998:
57f.).

8 Kollegen, Vorgesetzten, Objekten der Berichterstattung usw.


9 Im Rahmen der Luhmann’schen Systemtheorie würde man dies wohl mit Begriffen wie
Selbstreferenz, Geschlossenheit, System/Umwelt-Beziehung usw. formulieren.
10 Bourdieu spricht gelegentlich auch von „Unterfeldern“.
226 Herbert Willems

Bei aller prinzipiellen Gemeinsamkeit der journalistischen Praxen sind die


„Lagen“ der einzelnen Journalisten sehr unterschiedlich, und zwar systematisch
unterschiedlich, je nach dem Ort in der „Landschaft“ des Feldes. Was und wie
im journalistischen Spiel im Einzelnen gespielt wird, hängt hauptsächlich von
einer doppelten Positionierung ab, nämlich davon, in welchem und für welches
„Feldsystem“ (z.B. Sender) der Journalist operiert und wie er in diesem im Feld
spezifisch positionierten System selbst positioniert ist. Das heißt, Journalisten
handeln als Elemente von oder im Auftrag von Organisationen bzw. Unter-
nehmen oder Abteilungen, die ebenso wie ihre Medienerzeugnisse (Medien-
formate) eine bestimmte (Image-)Identität und (damit) Marktposition haben,
die für die journalistischen Akteure kaum hintergehbar ist (vgl. Bourdieu 1998:
7, 69). Die Vorgaben für den einzelnen Journalisten werden zudem von dem
aktuellen figurativen Platz bestimmt, den er in dem hierarchisierten und funkti-
onal spezialisierten Positionsgefüge des jeweiligen Systems einnimmt.
Von diesen Bedingungen hängt zugleich eine weitere Vorgabe des Journa-
listen ab, nämlich die Gesamtheit der potentiellen und tatsächlichen „Abneh-
mer“, und d.h. das wichtigste Publikum seiner journalistischen (Text-)Erzeug-
nisse: die Zuschauer, Zuhörer, Leser. Als eine Entität „mit Stil“ bzw. Lebensstil
ergibt sich und differenziert sich das journalistische Produkt-Publikum tenden-
ziell durch den Stil des Medienformats, als dessen „Funktionär“ der Journalist
tätig ist. Dessen Handeln muss sich also immer auch und wesentlich an stilisti-
schen Dispositionen des Publikums orientieren. Ihm begegnet der Journalist
wie andere Medienakteure primär im Medium seines feldspezifischen prakti-
schen Sinns,11 der sich unter den Bedingungen von Knappheit (z.B. knapper
Publikumsaufmerksamkeit) und Konkurrenz (auf allen Ebenen) zu entfalten
hat.

3.2 Der Journalist als Akteur im Spannungsgefüge zwischen seinem Medienfeld und
der Kultur seines Publikums
Journalisten sind – bei allem, was sie sonst noch sind – hauptsächlich Genera-
toren von bestimmten Informationstypen und Informationsinszenierungen.
Die Aktion und Praxis des Journalisten besteht in spezifisch interessierten,
nämlich sich an antizipierten Publikumsverständnissen und Publikumsinteres-
sen ausrichtenden Beobachtungen, die in (sprachlichen) Beschreibungen und
(bildlichen) Darstellungen dramaturgisch aufbereitet und interpretiert werden.

11 Oder, wie Bourdieu gelegentlich formuliert, „Spiel-Sinns“.


Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 227

In jedem journalistischen Erzeugnis stecken mit anderen Worten


(feld-)generelle und spezielle Sinn- bzw. Relevanzstrukturen und (damit) expli-
zite und implizite Interpretationen – (habituelle) Weltbilder und Ideologien
eingeschlossen.
Die systematische „Publikumsfixierung“ der journalistischen Produktion ist
das zwangsläufige Resultat der Logik des journalistischen Feldes. Die Produkte
des Journalisten sind also zwar immer die konkreten Leistungen einer Person
und nie völlig von deren Besonderheiten (Individualität) zu trennen,12 sie sind
aber auch nie nur das Werk eines (persönlichen) „Autors“ und durch diesen
bedingt, sondern zuallererst dem Gesetz und Zwang des Feldes unterworfen,
ein Publikum zu erreichen, ein Publikum zu interessieren und einem Publikum
zu gefallen. Diesem Apriori wird im Rahmen bestimmter Produktionsbedin-
gungen entsprochen, deren Strukturiertheit ebenso wie die der Publikumskultur
zu Klassen von relativ homogenen journalistischen Erzeugnissen führt. Mit
Gehlen mag man an dieser Stelle – ganz im Sinne von Bourdieu – von einer
„Informationsindustrie” sprechen. Sie ist heute eine vielseitig expandierte und
höchst komplexe Konfiguration von Institutionen, Organisationen und Struk-
turen, die der individuellen journalistischen Produktion und damit schließlich
auch der aktuellen Wirklichkeitskonstruktion jedermanns sozusagen als Rah-
men vorausgeht – darin sind sich so unterschiedlich ausgerichtete Beobachter
wie Bourdieu, Luhmann und Gehlen einig.
Die kulturelle „Realität der Massenmedien“ ist grundsätzlich sowohl von
der „Erfahrung aus erster Hand“ als auch von der Realität, auf die sie sich
bezieht oder zu beziehen vorgibt, zu unterscheiden. Die „informationsindus-
triellen“ Produkte sind, selbst wenn sie reale Ereignisse thematisieren, alles
andere als Spiegelungen der (Ereignis-)Welt oder auch nur „Fenster“ zu dieser.
Vielmehr (de-)konstruieren sie die unübersehbar komplexe Realität, auf die sie
sich beziehen, höchstgradig selektiv, und zwar in besonderer Weise aufgrund
von feldspezifischen Bedingungen wie „Betriebszwängen“, kommunikativen
Gattungsgesetzen oder Einfluss nehmenden Akteuren (vgl. Gehlen 1957: 49).
Journalisten sind dabei immer gebundene, angeforderte und interessierte Ver-
mittler, Manager und Strategen, die sich primär an der Logik und Situation
ihres Feldes zu orientieren haben, z.B. an der entsprechende Produkte nahele-
genden Konkurrenz um Marktanteile (vgl. Bourdieu 1998: 78). Im Wesen der
journalistischen Produktion liegt damit eine gewisse Theatralik, insbesondere
eine Tendenz zur Dramatisierung. Journalisten müssen heute mehr denn je

12 Zum Beispiel ihrem individuellen Stil, der allerdings als Habituseffekt zu erklären ist.
228 Herbert Willems

multimediale „Performancekünstler“ sein, um Aufmerksamkeits-, Relevanz-


und – vor allem – Unterhaltungswerte zu erzeugen bzw. zu steigern und im
Konkurrenzkampf zu überbieten.
Bourdieu sieht darüber hinaus eine systematische Bezogenheit der journalis-
tischen „Wirklichkeitskonstrukteure“ und „Wirklichkeitskonstruktionen“ auf
die Logiken und Situationen anderer, und zwar prinzipiell aller anderen Felder.
Die journalistische Praxis ist, genauer gesagt, sowohl von anderen Feldern und
entsprechenden Akteuren abhängig als auch eine diese Felder beeinflussende
Größe.13 Am offensichtlichsten ist dies vielleicht im Kontext der Politik, deren
Gegebenheiten und Ereignisse die Journalisten im Prinzip ebenso brauchen
wie die Politiker die journalistische Nachricht und Berichterstattung. Allerdings
zeigt sich, wie Bourdieu betont, dass die Eigenlogik und die Entwicklung des
journalistischen Feldes von größerer Bedeutung für das politische Feld sind als
umgekehrt. Medienvermittelte und mediengenerierte Images und Meinungen
stellen heute mit das wichtigste (symbolische) Kapital oder aber eine Art Hypo-
thek der politischen Subjekte dar. Als öffentliche Angelegenheit ist Politik
mittlerweile wesentlich eine im „Medium“ des Journalismus ablaufende Image-
und Werbeveranstaltung, die die Medien zu Bühnen und Arenen machen. Die
inszenatorische Funktionalität bzw. Funktionalisierbarkeit der Medien, die den
Journalismus direkt oder indirekt einschließt, bestimmt offenbar immer mehr,
was auf den verschiedenen sozialen Feldern (der Politik, der Religion, der Wirt-
schaft, der Kunst usw.) „gespielt“ wird.
Die bisherigen Überlegungen betonen die Kultur bzw. die informationelle
Aktualität des Mediums und die Wirklichkeit des Publikums als Funktionen der
medialen „Informationsindustrie“, die mitsamt ihrem Personal als ein relativ
eigenständiges Gebilde erscheint. Für Bourdieu ist in diesem Zusammenhang
das Feld und die Interdependenz der Felder auch insofern das Primäre, als es
um Sozialisationseffekte geht. Vor allem im Fernsehen sieht Bourdieu eine
„Bildungsinstanz“ ersten Ranges – für die „Massen“: „Das Fernsehen hat eine
Art faktisches Monopol bei der Bildung der Hirne eines Großteils der Men-
schen” (Bourdieu 1998: 23). Es fungiert mit anderen Worten als eine Art Habi-
tusgenerator.
Dies ist aber – auch für Bourdieu – nur die eine Seite der Medaille. Die an-
dere Seite ist das immer schon „gebildete“ Publikum, insbesondere dessen

13 Historisch ist Letzteres zunehmend der Fall. Heute sind alle „Feldspieler“ – vom Kleriker
bis zum Künstler – mehr oder weniger von Meinungen und Images abhängig, die Journalis-
ten professionell gestalten und sozusagen verwalten.
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 229

Ensemble von Habitus. Sie sind eine omnipräsente und permanent fungierende
„Tiefenrealität“, die dem jeweils aktuellen informationellen „Realitätsverlust“
und „Realitätsloch“ des Publikums als eine für die medialen „Wirklichkeitskon-
strukteure“ maßgebende und entscheidende Kraft gegenübersteht. Anders
formuliert: So sehr die Medien, und damit der Journalismus, die aktuelle In-
formationswirklichkeit des Publikums bestimmen, so sehr bestimmt die Habi-
tusausstattung des Publikums, seine innere „Realitätsgrammatik“, was und wie
mit welchen Effekten und Erfolgsaussichten medial kommuniziert werden
kann.
Bourdieus Argumentation – gerade auch sein Kapitalbegriff – berührt und
überschneidet sich in diesem Zusammenhang mit medienwissenschaftlichen
Überlegungen, die unter dem Titel „kulturelles Forum“ laufen. Gemeint ist
damit zunächst, dass die Massenmedien – mit dem Fernsehen als der alles
überragenden Variante14 – Raum-, Zeit- und Sozialgrenzen übergreifende Fo-
ren im Sinne von Plattformen, Schau- und Marktplätzen von Kultur bilden, auf
denen und hinter denen professionelle Akteure wie die Journalisten als Ver-
mittler von Information und Sinn operieren. Marshall Sahlins (vgl. 1976: 217)
und im Anschluss an ihn Newcomb und Hirsch (1986) sprechen von „Sym-
bolverkäufern”, die (wie alle Verkäufer dieser Welt) in einem marktstrategi-
schen Sinne publikumsorientiert sind. Damit rücken nicht die „systeminter-
nen“, generativen und kreativen Dimensionen von – u.a. journalistischen –
Medienerzeugnissen in den Vordergrund, sondern vielmehr wird ihre kulturell-
reflexive, sozusagen indikatorische Seite reflektiert. Sie ergibt sich aus der Be-
obachtungsrichtung und Beobachtungsleistung der medialen „Symbolverkäu-
fer“. Das heißt: Vor dem Hintergrund ihrer Handlungsziele reagieren Medien-
akteure wie die Journalisten mit hoher Sensibilität z.B. auf „konkrete Ereignis-
se, auf den Wandel gesellschaftlicher Strukturen bzw. Organisationsformen
oder auf Veränderungen in Einstellungen und Wertvorstellungen. Auch tech-
nologische Innovationen [...] sind für sie wichtige Anstöße” (Newcomb &
Hirsch 1986: 180). Ob es hauptsächlich darum geht, berichtend oder „nach-
richtend“ zu informieren oder aber zu werben oder „bloß“ zu unterhalten – die
adressierten Publika und alles, was sie an Wissen und Sinn mitbringen, sind –
so die Argumentation im Rahmen des kulturellen Forumskonzepts – die ei-
gentliche „Autorität“ der „Symbolverkäufer“ (vgl. Fiske & Hartley 1978: 86).
Diese müssen demnach buchstäblich und gleichsam die (Habitus-)Sprache des

14 Für viele Beobachter, wie auch für Bourdieu, ist das Fernsehen das „Leitmedium“ und der
Fernsehjournalismus sozusagen der Leitjournalismus.
230 Herbert Willems

jeweiligen Publikums sprechen und sie zur (Er-)Findungs- und Formulierungs-


grundlage ihrer Sinnangebote machen.
Bourdieu zufolge hat sich dieses Prinzip zu einer generalisierten Diktatur
des Gefallens und der Gefälligkeit gesteigert (vgl. 1998: 22), die alle am jeweili-
gen „Spiel“ beteiligten – durch Anziehung oder/und Druck – mehr oder weni-
ger unterwirft. Bourdieu spricht von der „‚Einschaltquotenmentalität’. Überall
ist der Maßstab der Verkaufserfolg” (Bourdieu 1998: 36). Für „pragmatische“
Textproduzenten wie die Journalisten (im Unterschied zu Produzenten gewis-
ser Fiktionen) besteht damit sozusagen eine Kosmologiebindung, ein Zwang
und Hang, den mehr oder weniger selbstverständlichen „Weltanschauungen“
des Publikums zu folgen und sich an ihnen zu orientieren. Journalistisch in-
formierende Texte, „meinungsbildende“ Texte, also Tendenzliteratur jeder Art,
aber auch Texte, die werben, belehren oder beraten wollen, können also zwar
erhebliche Spielräume der Ideenproduktion und Gestaltung nutzen, sind aber
ihrem Wesen nach alles andere als ein symbolisches „Niemandsland“ oder
„Freiraum“, in dem mit Wirklichkeiten mehr oder weniger beliebig gespielt
werden könnte. Sie tendieren vielmehr notwendigerweise zur Bestätigung, ja
zur Zelebrierung der symbolischen (Grund-)Ordnungen des Publikums, die die
Annahme-Voraussetzung dieser Texte sind, die Grundlage ihres „Ankom-
mens“, Überzeugens und Beeindruckens. Bourdieu betont dies vor allem im
Hinblick auf das Fernsehen, in dem er das kosmologische Kopier- und Stabili-
siermedium sieht: „Es ist den mentalen Strukturen des Publikums vollendet
angepasst”. (Bourdieu 1998: 64)
Der Blick und die Anstrengung der Journalisten (und anderer Medienpro-
duzenten) richten sich aber nicht nur direkt auf ihre „abnehmenden“ Publika
am Markt der Medienerzeugnisse. Privilegierter Gegenstand der strategischen
Beobachtung sind vielmehr auch die produktiven Marktkonkurrenten, die
Bourdieu ähnlich vorstellt wie Elias die von ihm fokussierten höfischen Strate-
gen. So verbrächten Journalisten in ihren Redaktionskonferenzen „beträchtlich
viel Zeit damit, von anderen Zeitungen zu sprechen, besonders von dem, ‚was
sie gemacht haben und wir nicht’ (‚das haben wir verschlafen’) und was man –
selbstverständlich – hätte machen müssen, da die anderen es gemacht haben“
(Bourdieu 1998: 32). Die Konkurrenz verleite
dazu, die Tätigkeit der Konkurrenten permanent zu überwachen (was bis zu ge-
genseitigem Ausspionieren gehen kann), um ihr Scheitern zu nutzen, ihre Fehler
zu vermeiden, ihre Erfolge zu konterkarieren, wobei versucht wird, die Instru-
mente zu entlehnen, von denen angenommen wird, dass sie zum Erfolg führten
(Bourdieu 1998: 111, Hervorhebung im Original).
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 231

Die heutigen Journalisten erscheinen hier also ganz ähnlich wie bei Elias die
Höflinge: als nutzen- und d.h. kapitalorientierte Beobachtungs- und Inszenie-
rungsvirtuosen, die sich in einer systematisch reflexiven Distanz zu den Tätig-
keiten und Erzeugnissen ihres Feldes befinden.

3.3 Habitus der Journalisten und ihrer Publika


Man kann mit Bourdieu und anderen Habitustheoretikern davon ausgehen,
dass Journalisten als „normale“ Gesellschaftsmitglieder (als „jedermänner“ und
„-frauen“) mit ihrem Publikum einen elementaren kosmologischen Habitus
teilen, auf dessen Grundlage „passende“ journalistische Textproduktionen
möglich sind. Die hier gemeinte habituelle Gemeinsamkeit ist von primärer
und größter Bedeutung für jede journalistische Praxis; sie reicht als Sinngrund-
lage zwischen Produzenten und Rezipienten für die „einfachsten“ Journalis-
musvarianten aus. Andere journalistische Erzeugnisse sind auf produktiver und
rezeptiver Ebene voraussetzungsvoller, nämlich an – insbesondere inkorporier-
tes – kulturelles Kapital gebunden.
Die entsprechende journalistische Produktion spielt insofern ähnlich wie
die literarisch-künstlerische Produktion eine gewisse Sonderrolle, die auf einen
inneren Zusammenhang von Produktion und Rezeption verweist. Das heißt:
Die Dispositionen, die die Wahrnehmung und Bewertung von als „qualitativ“
hoch stehend geltenden journalistischen Medienerzeugnissen anleiten, werden
in hohem Maße durch das Bildungssystem vermittelt. Dagegen ist die Rezepti-
on vieler anderer medialer Texte, z.B. des Boulevardjournalismus, des Unter-
haltungsbereichs oder der Werbung, vom Bildungsstand der Rezipienten nahe-
zu unabhängig (vgl. Bourdieu 2001: 237). Für die Produzenten von „Qualitäts-
journalismus“ (wie auch z.B. von „hoher“ Literatur) gilt entsprechend, dass sie
stark vom Bildungssystem abhängen. Ihm verdanken sie nicht nur ihre Rezi-
pienten, sondern auch zum großen Teil die eigenen habituellen Dispositionen,
die sie zu einem Erfolg versprechenden Produktivsein befähigen. Und eben
diese habituellen Dispositionen sind es auch, die nach Bourdieu dazu führen,
dass sich Medienerzeugnisse und Medienrezeptionen mit sozialen Distinktions-
implikationen in einen Lebensstil einfügen.15

15 So kann die Lektüre eines Boulevardblatts für einen „gebildeten“ und als „gebildet“ auftre-
tenden Leser geradezu als Stigma erscheinen. Umgekehrt sind bestimmte Presseerzeugnisse
fast Statussymbole und indikatorische Elemente eines Lebensstils, in dem auch die Behaup-
tung einer Lebensanschauung und einer Identität steckt.
232 Herbert Willems

Der journalistische Akteur (als Idealtyp) kann in seinem „Kultursein“ und


„Kulturschaffen“ also einerseits jenseits der speziellen Eigenlogik seines Feldes
auf die Habitusformen der Gesellschaftskultur (Jedermanns Kultur) und des
Bildungssystems zurückgeführt werden. Andererseits zeichnet sich der Journa-
list als gewordener und werdender „Spieler“ auf seinem (Spiel-)Feld, das ja ein
strukturiertes Ensemble objektiver Existenz- und Erfolgsbedingungen darstellt,
durch feldspezifische Genesen und Überformungen von Habitus aus. In die-
sem Zusammenhang spielen mehr oder weniger formalisierte „Ausbildungen“
ebenso eine Rolle wie die eher impliziten Lernprozesse der beruflichen Praxis
und Karriere. Journalisten sind in dieser Hinsicht mit allen anderen feldspezifi-
schen Akteuren zu vergleichen, die sich (als Idealtypen) soziologisch konstruie-
ren lassen: Politiker, Therapeuten, Moderatoren, Auktionatoren, Professoren
usw.
Bourdieu konstatiert in diesem Sinne einen journalistischen Blick; er attes-
tiert den Journalisten eine spezielle (habituelle) „Brille“, „mit der sie bestimmte
Dinge sehen, andere nicht, und mit der sie die Dinge, die sie sehen, auf be-
stimmte Weise sehen. Sie treffen eine Auswahl, und aus dem, was sie ausge-
wählt haben, errichten sie ein Konstrukt” (Bourdieu 1998: 25). Gleichsinnig
kann man auch von einer Mentalität, einem kognitiven Stil oder von habituel-
len Relevanzstrukturen der Journalisten sprechen, die sich aus der „Polung“
ihres Feldes ergeben. Journalisten sind, genauer gesagt, weltbezogene Beobach-
ter und Beschreiber, in deren Arbeit insbesondere der Blick auf den Blick des
zentralen Publikums immer schon eingebaut ist. Sie blicken auf die Welt durch
den Blick dieses Publikums. Dieser „Perspektivenwechsel“ erfolgt auch in dem
relativ rationalisierten und organisierten Feld des Journalismus in hohem Maße
nicht nur spekulativ, sondern auch intuitiv, d.h. auf der Basis fungierender Habi-
tus.16 Auf dieser Basis können und müssen sich Journalisten letztlich von den
habituellen Dispositionen ihrer Publika leiten und bestimmen lassen. Denn
(auch) die Rezeption des journalistischen Medienpublikums hängt primär von
dessen habituellen
Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien [...] ab, so dass in einer
hochdifferenzierten Gesellschaft eine enge Beziehung zwischen der Natur und

16 Medienproduzenten aller Art aktivieren natürlich zudem und auf dieser Basis ein professio-
nell-technisches „Lehrbuchwissen“, zum Beispiel über Formen der Textgestaltung (vgl. Ra-
ger, Hartwich-Reick & Pfeiffer 1998). Darüber hinaus kann man davon ausgehen, dass die
verschiedensten Medienproduzenten – gerade auch Journalisten – sowohl in ihrer Ausbil-
dung als auch in ihrer beruflichen Praxis permanent zu spezifisch kompetenzbildenden
Selbstreflexionen und Selbstevaluationen veranlasst werden.
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 233
Qualität der ausgesandten Information und der Struktur des Publikums besteht.
Ihre Lesbarkeit und Durchschlagskraft sind umso größer, je direkter sie auf im-
plizite oder explizite Erwartungen antworten, die die Rezipienten prinzipiell ihrer
Erziehung durch das Elternhaus und ihren sozialen Bindungen [...] verdanken
(Bourdieu 1991: 169).

Journalisten müssen also, in und mit welchem Medium auch immer sie operie-
ren, vor allem zwei habitusverdankte und habitusformierte „Künste“ beherr-
schen und verbinden: eine Kunst der Beobachtung und des Verstehens einer-
seits und eine – entsprechende – mindestens textuelle Inszenierungskunst an-
dererseits. Der Journalist ist mit anderen Worten immer auch ein Stratege, ein
„Empathievirtuose“ und ein dramaturgischer Gestaltungskünstler mit ausge-
prägtem Bewusstsein für die (strategische) Erfolgsrelevanz der Form. Die ent-
sprechenden Habitus bilden sich dabei wesentlich am Typ des Mediums, des-
sen Unterschiedlichkeit eine ist, die auch Unterschiede der Habitusanforderung
macht. Anders als die Printmedien eröffnet das Fernsehen z.B. die habituell
voraussetzungsvolle Dimension der korporalen „Performance“ des Journalisten.
Und diese Dimension spielt offenbar in verschiedenen Rollen (als Moderator,
Berichterstatter, Kommentator) eine immer größere Rolle. Vor allem Fernseh-
journalisten sind heute im Rahmen entsprechender Formate (Interviews, Talk-
Runden usw.) mehr denn je „Performancekünstler“, deren erfolgsbestimmende
Kunst habitusbestimmt ist.

3.4 Die Diktatur des Marktes


Journalisten bedienen und bewirken eine eigene Sphäre des medialen Pro-
grammangebots: den Bereich Nachrichten/Berichte/„Sachkommentare“ bzw.
„Sachdiskussionen“, von dem die Sphären Unterhaltung und Werbung zu
unterscheiden sind (vgl. Luhmann 1996: 51f.). Der Programmbereich Nach-
richten/Berichte/„Sachkommentare“ hat eine relativ bestimmte Sinn- und
Wirklichkeitsidentität; er ist, um mit Goffman (1977) zu sprechen, ein En-
semble von verwandten „Rahmen”,17 die für die journalistischen Akteure wie
für ihre Beobachter bzw. Publika Definitionen dessen liefern, was „eigentlich
vorgeht“ und vorgehen sollte. Das heißt vor allem:

17 Unter Rahmen versteht Goffman (1977) verstehenanweisende Sinnkontexte. Als solche


können zum Beispiel Nachrichtensendungen oder Werbespots angesehen werden. Rahmen
haben sozusagen eine klar distinguierte und markierte Sinn-Identität und fungieren als prak-
tische Sammelbegriffe. Zur genaueren Explikation des Rahmenbegriffs vgl. Willems (1997).
234 Herbert Willems
Bei Informationen, die im Modus der Nachrichten und Berichterstattung ange-
boten werden, wird vorausgesetzt und geglaubt, daß sie zutreffen, daß sie wahr
sind. [...] anderenfalls würde die Besonderheit dieses Programmbereichs Nach-
richten und Berichte zusammenbrechen (Luhmann 1996: 56).

Es geht hier also um einen identifizierenden Ankerpunkt der Medienwirklich-


keit, der auch eine Variationsgrenze für die Art von Kommunikation bedeutet,
die unter dem Titel Journalismus laufen kann. Er ist und bleibt – bei allem
Wandel und aller Wandelbarkeit – an Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsansprü-
che und damit an Glaubwürdigkeits- und Seriositätseindrücke gebunden. Sie
müssen seit jeher immer wieder neu produziert und reproduziert werden, was
durch ein spezifisches Arsenal dramaturgischer Mittel, Zeichen und Praktiken
geschieht.18 Sie reichen vom äußeren (z.B. Kleidungs-)Habitus des (Fernseh-)
Journalisten bis hin zur Authentifikation des Textes durch Quellen.
So offensichtlich notwendig es ist, dass die Bereiche der journalistischen
Kommunikation eine Identität besitzen und behaupten, so unübersehbar sind
Wandlungen des journalistischen Produktuniversums, hinter denen Wandlun-
gen der journalistischen Produktionsbedingungen zu vermuten sind. Generell
zu beobachten ist eine der Publikumserreichung, Publikumsgratifikation und
Publikumsbindung dienende Theatralisierungstendenz, insbesondere eine Ten-
denz zur effektvollen „Aufmachung“ und zur – im „Medium“ von Inszenie-
rungen versuchten – Unterhaltung, die alle journalistischen Bereiche von der
allgemeinen Nachrichtensendung über die Sportberichterstattung19 bis zur
Wetterberichterstattung umfasst. Bourdieu sieht speziell eine sich verallgemei-
nernde und verschärfende „Jagd nach dem Sensationellen, dem Spektakulären,
dem Ungewöhnlichen“ (1998: 72). Als Generator solcher Entwicklungen iden-
tifiziert Bourdieu die Gesetzmäßigkeiten des Marktes, der Vermarktlichung und
(damit) der Konkurrenz. Sie implizierten eine kategorische Orientierung der
journalistischen Produktion am Ziel der Maximierung der Publikumsquantität,
und d.h. in letzter Konsequenz: die Unterordnung unter den Geschmack und

18 Journalisten stehen damit in einer Reihe mit anderen Berufen, die ihre besondere sachliche
und moralische Geltung und Würde mit einem eigenen dramaturgischen Instrumentarium
herstellen. Richter, Priester und Therapeuten gehören dazu.
19 Luhmann, der die Programmangebote in dem besagten Sinne klassifiziert hat, weiß nicht
recht, ob er sie eher zur Unterhaltung oder eher zu den Nachrichten und Berichten zählen
soll (vgl. 1996: 96ff.).
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 235

die „Erwartungen des anspruchslosesten Publikums“ (ebd.: 72).20 Bourdieu


bringt diese Ausrichtung auf die Begriffe des „Marketings“ (ebd.: 113) und der
„Einschaltquotenmentalität“ (ebd.: 74). Er behauptet damit eine geradezu habi-
tuelle Neigung von Journalisten, „das ‚Kriterium Einschaltquote’ in ihrer Pro-
duktion (‚einfach darstellen’, ‚sich kurz fassen’ usw.) oder in der Bewertung von
Produkten und sogar Produzenten (‚kommt gut an’, ‚verkauft sich gut’ usw.)“
(ebd.: 109) zum wesentlichen oder ausschließlichen Maßstab zu machen. Für
Bourdieu entsprechen die Journalisten damit nur der Logik bzw. Entwicklungs-
logik ihres Feldes, das wie kein anderes „Feld der Kulturproduktion […] der
Sanktion durch den Markt, durch das Plebiszit“ unterliege (ebd.: 75). Dessen
zentrale kulturelle Konsequenz sei eine Homogenisierung des journalistischen
Produktuniversums. So habe „sich tendenziell ein bestimmtes Konzept von
Nachricht, wie es bislang der dem Sport und Vermischten gewidmeten soge-
nannten Sensationspresse vorbehalten war, des gesamten journalistischen Fel-
des bemächtigt” (Bourdieu 1998: 72).21
Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich die Feststellung einer ambiva-
lenten Kultur- und Wirklichkeitsbedeutung der journalistischen Medienerzeug-
nisse. Einerseits sind diese vermittelte Reproduktionen von insbesondere habi-
tuellen Sinnstrukturen des Publikums: von Kategorien, Klassifikationssyste-
men, Relevanzstrukturen, Normalitätsbegriffen, Ideal- und Wunschvorstellun-
gen usw. Andererseits stellen die journalistischen Medienerzeugnisse feldbe-
stimmte Inszenierungen dar, die einen eigenen Sinn und eine eigene Wirklich-
keit „haben“ und dadurch sowie im „Medium“ des Sinns und der Wirklichkeit
des Publikums einen eigenen Sinn und eine eigene Wirklichkeit hervorbringen,
nämlich bestimmte Versionen von der „Welt“. Journalisten sind also eine be-
sondere Klasse von Inszenierungssubjekten, die mit ihren auf besonderen
Bühnen (für Publika) vorgestellten Bildern von der Welt „Weltbilder“ verbrei-
ten. Die journalistische Fokussierung auf ungewöhnliche und abweichende
Ereignisse z.B. indiziert Normalitätsverständnisse des Publikums und präsen-

20 Johannes Weiß meint Ähnliches, wenn er von „Vergewöhnlichung“ spricht. Auch ihm geht
es nur vordergründig um „Kulturkritik“. Der entscheidende analytische Fokus richtet sich
vielmehr bei Weiß wie bei Bourdieu auf die generativen Mechanismen (und damit auf eine
gewisse Zwangsläufigkeit) einer kulturellen Entwicklungstendenz.
21 Nachrichten sind demnach in gewisser Weise zu einem Spezialfall von Unterhaltung gewor-
den. Dessen Besonderheit (die Besonderheit der Nachrichtenunterhaltung) liegt zum einen
in der Wahrheit der mitgeteilten Informationen und zum anderen in der Art dieser Informa-
tionen. In der generellen Erfolgslogik des „Infotainments“ sind potentiell (publikums-)
unterhaltsame Informationen diejenigen, die einen „sachlich“ dramatischen Inhalt haben,
d.h. im allgemeinsten Sinne mit Abweichungen von Normalität zu tun haben.
236 Herbert Willems

tiert zugleich ein Bild von der Welt, das geglaubt werden kann. Mit Bourdieu
formuliert: (Welt-)Geschichte als „eine Abfolge scheinbar absurder Geschich-
ten, die sich schließlich alle ähneln […]” (1998: 138). Ebenso wie durch die
Selektion und dramaturgische Aufbereitung von „news“ fungiert die journalis-
tische Kommunikation durch die narrative, d.h. Kontexte herstellende, Enthül-
lung bzw. Entlarvung von „Hintergründen“ als Bildner von „Weltbildern“, die
sich sozusagen an dem mentalen Apparat des Publikums festmachen, ihn aber
auch überlagern, überformen und durchdringen. Als ein Beispiel für die hier
gemeinte Sinn- und Wirklichkeitskonstruktion kann ein Auszug aus einem
(typischen) Bericht des Spiegel dienen, der die ehemaligen Kanzlerkandidaten
der SPD, Lafontaine und Schröder, auf ihrem Parteitag 1997 schildert:
Die beiden präsentierten in Hannover grelle Bilder ihrer politischen Männer-
freundschaft anstelle klarer Antworten. Und je länger und aufdringlicher sie ihre
Eintracht in die Kameras und in die Mikrophone witzelten, desto deutlicher
wurde aus ihrem Krampflächeln purer Hohn – nicht nur ihre Kandidaten-Show
erschien absurd, sondern nicht minder die Erwartung, die Herren würden ihr
„wahres Gesicht“ zeigen. Daß Politiker nicht nur zur Täuschung, sondern auch
zum Schutz Rollen spielen, daß sie Masken und Kostüme benutzen, ist auch eine
Wahrheit. [...] Immer schon hatte auf Parteitagen die Erwartung von Mitgliedern,
Presse und Publikum den Reden der Hauptmatadore gegolten. Die Macht des
Fernsehens erhebt diese Auftritte endgültig in den Rang von Herrschaftsritualen.
[...] Die beiden wußten, daß ihre Auftritte Profilierungschance und Falle zugleich
waren. [...] Zwar beklatschten seine Gefolgsleute noch tapfer die ersten Sätze,
aber mit zunehmender Dauer wuchs die Distanz zwischen Redner und Audito-
rium. Schröder las ab. Brav trug er einen gewitzten und dramaturgisch ordentlich
aufgebauten Text vor, dessen Gewicht ihn zu ermüden schien. Pflichtapplaus.
[...] Und doch ist der Preis beträchtlich, den Lafontaine für seine Konzentration
auf die Pflege der Parteiseele zahlt. Er verkürzt sein Image um eine Dimension
von Intellektualität und Reflexion, über die er verfügt. [...] In Hannover hat La-
fontaine sich präsentiert, aber nicht gezeigt. Wie Schröder hält er bewußt Teile
seines Denkens und seines Wesens versteckt. [...] Undeutlichkeit statt Pro-
gramm? Oder gar als Programm? Darin steckt auch Kalkül, um niemanden zu
verschrecken (Leinemann 1997: 22ff.).

Das Bild von der Welt, das hier inszeniert wird, ist, wie schon die „dramatolo-
gische“ Metaphorik22 zeigt, ein ganz und gar und ganz besonders theatralisches.
Es ist ein gemachter Blick auf eine Theater-Welt, ein „Blick auf eine Arena, in
der Ehrgeizlinge ohne jede Überzeugung Manöver durchführen, bei denen sie
sich von konkurrenzbedingten Interessen leiten lassen” (Bourdieu 1998: 134).

22 Show, Täuschung, Rolle, Maske, Kostüm, Auftritt, Ritual, Publikum, Dramaturgie, Image
usw.
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 237

Indem journalistische Diskurse – und d.h. aus der hier vertretenen Perspek-
tive auch: Journalisten – derartige Sinnstrukturen, die offenbar auf fruchtbaren
Boden fallen, in endlosen Variationen kontinuierlich reproduzieren, sind sie in
besonderer Weise und systematisch kulturell positioniert, bedingt und wirksam.
Sie stehen damit neben anderen medialen Diskursen, die, wie z.B. die Wer-
bung, unter entsprechenden Voraussetzungen ihrerseits charakteristische
„Weltbilder“ mit vergleichbarem Inhalt hervorbringen (vgl. Willems & Kautt
2003). Eine Analyse, die die Logik bzw. Entwicklungslogik solcher Medienkul-
tur(en) verstehen und auf ihre Erzeugungsmechanismen zurückführen will,
kann auf die dargelegten Konzepte nicht verzichten.

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238 Herbert Willems
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Die Struktur des journalistischen Felds

Thomas Hanitzsch

1 Pierre Bourdieu und die Journalismustheorie


Nachdem systemtheoretische Beschreibungs- und Erklärungsversuche von
Journalismus in der deutschen Theoriedebatte seit Mitte der 1990er Jahre zur
Reife gelangt waren, schienen sich zwei soziologische Basisparadigmen zu-
nächst unversöhnlich gegenüberzustehen. Der systemtheoretische Ansatz blendet
die „Mikrostrukturen der individuellen Persönlichkeit als Rauschen“ aus, da
diese (a) eher zufällig statt systematisch und (b) eher punktuell statt generell mit
den Makrostrukturen von Journalismus interferieren (Scholl 2001: 389). Das
Hauptproblem besteht demnach nicht in der Identifikation aller möglichen
Einflüsse im Journalismus, sondern in der Auswahl der relevanten Variablen:
Wie weit reichen das Geschlecht, die politische Einstellung usw. systematisch,
d.h. überzufällig, in systemische Abläufe hinein? Auch wenn ein solcher theore-
tisch begründeter Reduktionismus grundlegende Strukturen des Journalismus
ohne Zweifel hinreichend erhellen mag: Die Theorie stößt schnell an ihre
Grenzen, wenn es um Fragen der Heteronomie (im Kontrast zu Autonomie)
und Genese im Journalismus geht. Die systemtheoretische Journalismusfor-
schung reduziert Akteure zu Merkmalsträgern und konkretes journalistisches
Handeln zu strukturdeterminierten Wahrscheinlichkeiten.
Demgegenüber stehen akteurs- und handlungstheoretische Versuche, die Genese
sozialer Strukturen aus den Motivlagen der Akteure und/oder einer Folge von
Einzelhandlungen heraus zu erklären. Die handlungstheoretische Perspektive
ist zwar im Feld der Mediennutzungs- und Rezeptionsforschung weit verbrei-
tet, in der Journalismusforschung konnte sie sich jedoch bislang kaum durch-
setzen. Dies lässt sich möglicherweise damit erklären, dass der Schritt von der
Beobachtung von Einzelhandlungen, der Verkettung zu Abläufen bis hin zur
Erklärung sozialer Makrostrukturen letztlich nur über Brückenannahmen mög-
240 Thomas Hanitzsch

lich ist, die für sich genommen nicht unproblematisch sind (vgl. Reinemann, in
diesem Band).
Aus diesen Gründen hat sich die Journalismustheorie im deutschsprachigen
Raum in letzter Zeit stärker auf die integrativen Ansätze zubewegt, die mittlerwei-
le in zunehmender Taktzahl vorgelegt werden (vgl. u.a. Quandt 2002; Neuber-
ger 2000; Altmeppen 1999; Weischenberg 1998). Kultursoziologische Ansätze
hingegen haben es weiterhin schwer, obwohl gerade hier ein beträchtliches
Potenzial für die integrative Theoriekonstruktion brach liegt. Ein Grund hier-
für mag die weitgehende Abstinenz der Cultural Studies gegenüber der Analyse
von Prozessen der Produktion von Informationsangeboten sein. Journalismus-
forschung wird hier oft exklusiv im Gewand von Rezeptions- und Aneignungs-
forschung betrieben, und zuweilen verliert sie sich in schöngeistiger Polemik à
la John Hartleys (2000: 45) „Everyone is a journalist, and journalism is every-
where.“
In diese Indifferenz der kultursoziologischen Theoriebildung stoßen nun
Ansätze hinein, die auf den theoretischen Arbeiten des im Jahre 2002 verstor-
benen französischen Soziologen Pierre Bourdieu aufbauen. Auch wenn Bour-
dieu selbst kaum dezidierte Journalismusforschung betrieben hat (vgl. Raabe
2003: 471), so hat der (französische) Journalismus bereits in Bourdieus frühen
kultursoziologischen Analysen stets einen wichtigen Platz eingenommen (vgl.
Bastin 2003: 263). Mit dem Einzug des Privatfernsehens in Frankreich zu Be-
ginn der 1990er Jahre und der damit verbundenen gesellschaftlichen Transfor-
mation nimmt Bourdieus Auseinandersetzung mit Journalismus schließlich
weiter an Intensität zu (vgl. Benson & Neveu 2005b: 1).
Mit Spannung wurde daher Bourdieus Buch „Über das Fernsehen“ (1998c,
Sur la télévision, ersch. 1996) aufgenommen. Doch die Enttäuschung unter vielen
Forscherkollegen war groß: Die nicht einmal 140 Seiten umfassende Abhand-
lung war eine weitgehend polemische Abrechnung mit dem Journalismus und
dem Mediensystem im Frankreich der 1990er Jahre. Anders als die wissen-
schaftliche Bewertung des Bandes muss eine historische Würdigung dieser
Arbeit jedoch in Rechnung stellen, dass sich Pierre Bourdieu über seine for-
scherischen Aktivitäten hinaus mit zunehmendem Lebensalter immer stärker
auch als politischer Intellektueller engagierte. Der schmale Band „Über das
Fernsehen“ war vermutlich weniger als profunde wissenschaftliche Analyse
gedacht, sondern vielmehr als Ausdruck von Bourdieus Positionierung im
politischen Feld. Die Auseinandersetzung mit dem 1992 erstmals auf Franzö-
sisch erschienenen Band „Die Regeln der Kunst“ (1999, Les règles de l’art), der in
vielfacher Hinsicht eine Konsolidierung von Bourdieus früheren Arbeiten
Die Struktur des journalistischen Felds 241

darstellt, wird Bourdieus wissenschaftlichem Beitrag zur Journalismustheorie


(sowie der Kulturproduktion insgesamt) daher am ehesten gerecht (vgl. Hes-
mondhalgh 2006: 211). Die Fruchtbarkeit von Bourdieus relationaler Analyse
für die empirische Journalismusforschung ist mittlerweile zahlreich dokumen-
tiert worden, u.a. in den Arbeiten von Duval (2005) zum Wirtschaftsjournalis-
mus sowie von Champagne und Marchetti (2005) zur Gesundheitskommunika-
tion.
Spätestens seit dem Ende der 1990er Jahre lassen sich auch Forscher au-
ßerhalb Frankreichs von Bourdieus Ideen inspirieren. So vermuten Schoenbach
et al. (1999) aufbauend auf Bourdieus Klassentheorie, dass die Zeitungsnut-
zung in den USA u.a. dazu dient, die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen
Gruppen und Klassen zu signalisieren.1 Ein transatlantischer Ideenaustausch
zwischen französischen und US-amerikanischen Forschern kulminierte schließ-
lich in dem von Rodney Benson und Erik Neveu (2005a) herausgegebenen
Sammelband „Bourdieu and the Journalistic Field“. Auf mehreren Jahrestagun-
gen der International Communication Association haben sich Kommunikati-
onswissenschaftler zudem in eigens dafür geschaffenen Panels dezidiert mit
Bourdieu beschäftigt. Im Jahr 2004 mit Bourdieus kommunikations-
theoretischem Potenzial („Communicating with Pierre Bourdieu: Discovering
New Applications for Old Theories“), und zwei Jahre später mit der Applikati-
on einer Bourdieu-inspirierten Journalismustheorie („Journalism Studies and
the Sociology of Pierre Bourdieu: Case Studies from France, Norway and
Denmark“).
Auch für Deutschland kann Averbecks (2003: 253) Diagnose, wonach
Bourdieu in der medien- und journalismusrelevanten Theoriebildung bislang
kaum rezipiert wurde, als nicht mehr zutreffend gelten. Mittlerweile liegen
zahlreiche Arbeiten vor, die aus dem theoretischen Arsenal Bourdieus ge-
schöpft haben. Schäfer (2004) hat einen ersten Versuch vorgelegt, Journalismus
als soziales Feld zu beschreiben, während Hanitzsch (2004: 64ff.) die Präsenz
der Lebenswelt im journalistischen Alltag über Bourdieus Habituskonzept zu
fassen sucht. Raabe (2000, 2003, 2004, 2005a, 2005b) hat in einer ganzen Reihe
von Arbeiten das heuristische Potenzial von Bourdieus theoretischem Rüstzeug
im Hinblick auf die Verortung journalistischer Akteure im sozialen Raum (Mi-
lieuanalyse), die Etablierung einer „empirisch-kritischen Journalismusfor-

1 In ähnlicher Weise vermutet Willems (in diesem Band), dass „bestimmte Presseerzeugnisse
fast Statussymbole und indikatorische Elemente eines Lebensstils“ sind.
242 Thomas Hanitzsch

schung“ sowie die Begründung einer kultursoziologischen Handlungserklärung


eindrucksvoll vorgeführt.
Der vorliegende Beitrag will diese Arbeiten sowie das Einführungskapitel
von Willems (in diesem Band) vertiefen und ergänzen. Die Begrifflichkeit
Bourdieus soll in etablierte Konzepte der Journalismusforschung übersetzt
werden, um die Fruchtbarkeit des Ansatzes zu demonstrieren. Insbesondere
wird es dabei um drei fundamentale Theoriebausteine von Bourdieus Soziolo-
gie gehen: Kapital, Feld und Habitus.

2 Journalismus und Kapital


Bourdieu (1983: 183ff.) unterscheidet drei Formen von Kapital (vgl. Willems,
in diesem Band): Zum ökonomischen Kapital werden alle Ressourcen gezählt, die
unter marktwirtschaftlichen Bedingungen mehr oder weniger „unmittelbar und
direkt in Geld konvertierbar“ sind und „sich besonders zur Institutionalisie-
rung in Form des Eigentumsrechts“ eignen. Das soziale Kapital bezeichnet die-
jenigen Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu anderen Personen beruhen
und „mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institu-
tionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbun-
den sind“. Das kulturelle Kapital hingegen liegt in drei Formen vor, nämlich (a)
als inkorporiertes Kulturkapital (Bildung im weiteren Sinne), (b) als objektivier-
tes Kulturkapital (Bücher, Kunst, Tonträger, u.a.) sowie (c) als institutionalisier-
tes Kulturkapital (z.B. staatlich anerkannte Abschlüsse und Titel). Transzen-
diert werden diese drei Kapitalformen durch eine weitere Form: Das symbolische
Kapital ist die „wahrgenommene und als legitim anerkannte Form“ der drei
vorgenannten Kapitalsorten („Prestige“, „Renommee“, usw.) und bestimmt
innerhalb einer Gruppe darüber, was das jeweils akkumulierte Kapital im Ein-
zelnen „wert“ ist (Bourdieu 1985: 11, 1993: 218).
Als journalistische Akteure können sowohl Individuen und Gruppen von
Personen als auch Organisationen gelten, d.h. im Rahmen der vorliegenden
Analyse insbesondere Journalisten, Redaktionen und Medienbetriebe. Journalis-
ten benötigen als „Eintrittskarte“ in das journalistische Feld zunächst inkorpo-
riertes Kulturkapital in Form von einer professionellen Ausbildung (die jedoch
nicht notwendigerweise journalismusspezifisch sein muss) sowie einer gewissen
intellektuellen Kapazität, um den beruflichen Anforderungen gerecht zu wer-
den. Darüber hinaus ist – auch wenn der Berufszugang im Journalismus nicht
formalisiert ist – angesichts des Bedeutungszuwachses der hochschulgebunde-
nen Journalistenausbildung anzunehmen, dass ein entsprechendes Abschluss-
Die Struktur des journalistischen Felds 243

zeugnis (institutionalisiertes Kulturkapital) einer Aufnahme in das journalisti-


sche Feld durchaus zuträglich ist.
Im Verlaufe einer erfolgreichen Karriere kann der Umfang des kulturellen
Kapitals nun weiter vergrößert werden, etwa durch das kontinuierliche An-
wachsen von Berufserfahrung sowie durch Preisverleihungen und Auszeich-
nungen (z.B. Deutscher Fernsehpreis, Egon-Erwin-Kisch-Preis, Grimme-Preis,
Kölner Medienpreis, Theodor-Wolff-Preis). Im journalistischen Feld können
die Akteure das auf diese Weise akkumulierte kulturelle Kapital in ökonomi-
sches Kapital (Gehalt, Honorar) umwandeln. Die Anhäufung von kulturellem
Kapital macht sich dabei in der Tendenz bezahlt: auf der Karriereleiter vom
Volontär bzw. freien Journalisten über den angestellten Redakteur bis hin zum
leitenden Redakteur steigt das Einkommen zum Teil beträchtlich.
Der Zusammenhang zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital ist
allerdings keineswegs immer linear. Die spezifische symbolische Komponente
des kulturellen Kapitals durchbricht in vielen Fällen eine einfache Transforma-
tionsregel, denn die ökonomische Motivation ist gerade in kreativen Berufen
nicht das einzige – und oft nicht einmal das wichtigste – Kriterium bei der
Wahl des Arbeitgebers. So vermag eine Tätigkeit für die tageszeitung oder den
Freitag durchaus prestigeträchtig sein, aber in finanzieller Hinsicht lohnt sich
dies kaum. Andererseits kann etwa Bild zwar höhere Gehälter bieten (insbe-
sondere für leitende Redakteure), im Hinblick auf ihr gesellschaftliches Re-
nommee müssen die Akteure jedoch Kompromisse schließen.
Schäfer (2004: 324) weist zutreffend darauf hin, dass auch soziales Kapital
(das Zurückgreifen auf nützliche „Beziehungen“ bei der Bewerbung auf eine
Stelle) den Zugang zum journalistischen Feld erleichtern und in manchen Fäl-
len gar eröffnen kann. Soziales Kapital können Journalisten freilich auch aus
der Vernetzung mit Kollegen (z.B. in Journalistenverbänden) und einflussrei-
chen Persönlichkeiten in Politik, Wirtschaft usw. schlagen. Allgemein ist sozia-
les Kapital für Journalisten jedoch vor allem im Hinblick auf die Recherche
von essenzieller Bedeutung. An exklusive Informationen gelangen erfahrene
Reporter oft nur über den mühsamen Aufbau eines möglichst engmaschigen
Netzes an Informanten. Der investigative Journalist und Pulitzer-Preisträger
Seymour Hersh hätte ohne seine Kontakte zu Insidern im Pentagon das My-
Lai-Massaker (1969) und den Abu-Guraib-Folterskandal im Irak (2004) wahr-
scheinlich niemals aufdecken können. Zudem besteht häufig eine direkte Ver-
bindung zwischen der symbolischen Komponente des kulturellen Kapitals und
dem sozialen Kapital, da Informanten sich bevorzugt an solche Journalisten
244 Thomas Hanitzsch

wenden, die sich zuvor durch ihr Renommee und ihre Vertrauenswürdigkeit
ausgezeichnet haben.
Journalistische Organisationen, also Redaktionen und Medienbetriebe, können
wiederum das Renommee solch herausragender Journalisten dazu benutzen,
das eigene Ansehen aufzupolieren. Allerdings ist dieses Phänomen in den USA
stärker verbreitet, während es sich in Deutschland weitgehend auf exponierte
Moderatoren (z.B. Sandra Maischberger, Ulrich Wickert) und Ikonen der Aus-
landsberichterstattung (z.B. Peter Scholl-Latour) beschränkt. Das objektivierte
Kulturkapital im journalistischen Feld ist sehr spezifisch und kann zur Charak-
terisierung sowohl von Journalisten (anhand ihrer Praktiken) als auch von Re-
daktionen bzw. Medienangeboten (anhand der Inhalte) herangezogen werden.
Idealtypisch lässt sich hier ein Kontinuum ausmachen, dass sich zwischen zwei
Polen aufspannt. Auf der einen Seite steht ein reichweitenorientierter Journa-
lismus, der über eine intensive Marktbeobachtung (Auflage, Quote, Zielgruppe,
etc.) an die Notwendigkeiten und Spielregeln des ökonomischen Feldes ange-
passt ist. Am deutlichsten ist diese Form des objektivierten Kulturkapitals u.a.
im Boulevardjournalismus, in der Prominenten-Berichterstattung und im
Sportjournalismus. Demgegenüber steht ein angebotsorientierter „anspruchs-
voller“ Journalismus, der sich stärker an der Eigenlogik des kulturellen Feldes
orientiert und sich im spezifischen symbolischen Kapital des praktizierten
Journalismus niederschlägt. Im Zentrum steht hierbei vor allem die publizisti-
sche Qualität von Journalismus, verkörpert u.a. in Genres wie dem Feuilleton
und Praktiken wie dem investigativen Journalismus. Da sich in modernen Me-
dienunternehmen die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass mit einem „Avantgar-
de-Journalismus“ dieser Couleur kaum Geld zu verdienen ist, lässt die weitere
Kommerzialisierung von öffentlicher Kommunikation befürchten, dass sich
ein solcher Journalismus weiter in die kulturellen Nischen eines intellektuellen
Elite-Publikums zurückziehen wird.
Mit einer „anspruchsvollen“ Berichterstattung lässt sich also vor allem im
kulturellen Feld punkten, in dem das spezifische symbolische Kapital des Jour-
nalismus mehr „wert“ ist als im ökonomischen Feld. Hier regiert die „anti-
‚ökonomische’ Ökonomie der reinen Kunst“, die auf der „Verleugnung der
‚Ökonomie’ (des ‚Kommerziellen’) und des (kurzfristigen) ‚ökonomischen’
Profits“ basiert (Bourdieu 1999: 228). Einigen Medienbetrieben gelingt es den-
noch, die Balance zwischen einem reichweitenorientierten und anspruchsvollen
Journalismus zu halten, da sich kulturelles Prestige-Kapital durchaus in öko-
nomisches Kapital umwandeln lässt: So mögen Konsumenten bereit sein, für
ein Premium-Produkt einen höheren Preis zu zahlen, und Anzeigenkunden
Die Struktur des journalistischen Felds 245

werden ihre Werbung gerne in einem attraktiven Umfeld mit einem ebenso
(ökonomisch) attraktiven Publikum der höheren Einkommensklassen platzie-
ren (vgl. Schäfer 2004).
Die Bedeutung des ökonomischen Kapitals für Redaktionen und Medien-
betriebe lässt sich anhand einer neueren Publikation von Bourdieu (1998a:
174f.) differenzierter darstellen. Das finanzielle Kapital, verstanden als der direkte
oder indirekte Zugriff auf monetäre Ressourcen, repräsentiert im Journalismus
die Einnahmenseite in Form von Verkaufserlös, Werbeeinnahmen und Gebüh-
ren. Ein wichtiger Indikator für die symbolische Komponente des finanziellen
Kapitals ist Profitabilität, während eine unmittelbare Konsequenz der zuneh-
menden Bedeutung dieser Kapitalie eine steigende Medienkonzentration ist (als
concentration of ownership). Direkt damit im Zusammenhang – nämlich gekoppelt
über den ökonomischen Wettbewerb – steht das kommerzielle Kapital (Verkaufs-
kraft), das vor allem von Marketing und Vertrieb abhängig ist. Gemessen wird
der Umfang des kommerziellen Kapitals in Form von Auflagen, Zuschauer-
bzw. Nutzerquoten und Marktanteilen. Diese Kapitalsorte ist für das in priva-
ten und zunehmend auch öffentlich-rechtlichen Medienangeboten zu beobach-
tende „Mainstreaming“ der Inhalte verantwortlich, da Medienorganisationen
ihren Erfolg über das Erreichen von möglichst hohen Marktanteilen definieren.
Hierfür ist allerdings eine konsequente und permanente Wettbewerber- und
Marktbeobachtung notwendig, die gesteuert wird von der Verfügbarkeit an
technologischem Kapital, definiert als Bestand an wissenschaftlichen und/oder
technischen Ressourcen für die Produktion von Gütern. Die wissenschaftli-
chen Ressourcen stehen in Form von Publikumsforschung zur Verfügung,
wobei Medienunternehmen hierbei überwiegend auf externe Dienste zurück-
greifen (Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Wer-
beträgern, Gesellschaft für Konsumforschung, AC Nielsen, etc.).

3 Das journalistische Feld


Bourdieu (1987: 195f.) dekonstruiert seine Vorstellung vom sozialen Raum in
drei Grunddimensionen. Es handelt sich dabei (a) um das Gesamtvolumen
allen akkumulierten Kapitals, (b) die Struktur des Kapitals in Form der relati-
ven Gewichtung von kulturellem und ökonomischem Kapital sowie (c) die
zeitliche Entwicklung dieser beiden Größen (d.h. die jeweilige soziale Lauf-
bahn). Diese drei Parameter bestimmen nun die objektive Lage der Akteure im
sozialen Raum. Gleichzeitig aber entsteht dieser soziale Raum erst, da sich die
verschiedenen sozialen Positionen in Relation zueinander befinden. Zur Veran-
246 Thomas Hanitzsch

schaulichung dieser Idee hat Bourdieu immer wieder gern zweidimensionale


Koordinatensysteme verwendet, wobei die y-Achse das Kapitalvolumen und
die x-Achse die Kapitalstruktur darstellt. Auf die Abbildung der zeitlichen
Entwicklung des Kapitalbesitzes hat Bourdieu verzichtet, vermutlich weil die
grafische Darstellung dann zu komplex geworden wäre. Den einzelnen sozialen
Akteuren – ob Individuen, Gruppen oder Organisationen – können nun empi-
rische Parameterwerte zugewiesen werden, die als Koordinaten fungieren.
Damit spannt sich ein Raum der Relationen auf, wobei sich die Position eines
Akteurs im sozialen Raum erst aus der Nähe bzw. Distanz zu anderen Positio-
nen ergibt. Damit bricht Bourdieu („Die Wirklichkeit ist relational“, in Bour-
dieu & Wacquant 1996: 126f.) bewusst mit der substanzialistischen Tradition
der Soziologie:
Was in der sozialen Welt existiert sind Relationen – nicht Interaktionen oder in-
tersubjektive Beziehungen zwischen Akteuren, sondern objektive Relationen, die
„unabhängig vom Bewußtsein und Willen der Individuen“ bestehen, wie Marx
gesagt hat. (ebd.: 127)

Felder sind gleichzeitig aber auch ein Resultat fortschreitender gesellschaftli-


cher Differenzierung. Insofern sind Bourdieus feldtheoretische Überlegungen
als eine besondere Spielart der Differenzierungstheorie zu sehen. Anders als
Luhmann verzichtet Bourdieu jedoch auf geschlossene Konzepte wie „Auto-
poiesis“ und „Primärfunktion“ sowie die zweiwertige Logik von binären Co-
dierungen. Bourdieu (1998b: 148ff.) stellt zwar in Rechnung, dass Gesellschaf-
ten im Laufe ihrer Entwicklung „soziale Universen“ (Felder) ausbilden, die
eigene Gesetze haben und autonom sind. Allerdings fasst er Autonomie im
Unterschied zu systemtheoretischen Modellierungen hier in relative Begriffe.
Ähnlich der Luhmann’schen Vorstellung von selbstreferenziellen sozialen
Systemen, die mit binären Codes und Programmen operieren, sorgt der spezifi-
sche nomos – das „Grundgesetz“, das jedes Feld von anderen unterscheidet –
dafür, dass Felder das, was sich in ihnen abspielt, nach eigenen Prinzipien und
Kriterien bewerten. Umwelteinflüsse wirken sich dabei nur über die spezifi-
schen Kräfte und Strukturen des Feldes aus, wobei sie zunächst in einer Weise
umstrukturiert wurden, die um so tiefer greift, je autonomer das Feld ist, d.h. je
fähiger es ist, seine spezifische Logik zur Geltung zu bringen (vgl. Bourdieu
1999: 367). Der Umfang an Autonomie, über die ein Feld verfügt, ist also am
„Übersetzungs- oder Brechungseffekt“ zu messen, den seine spezifische Logik
externen Einflüssen oder Anforderungen zufügt (ebd.: 349).
Die Struktur des journalistischen Felds 247

Abbildung 1: Das Feld der kulturellen Produktion


+ Kapitalvolumen

Feld der kulturellen Macht-Feld


Produktion

+ ökonomisches Kapital / – kulturelles Kapital


– ökonomisches Kapital / + kulturelles Kapital

Feld der Feld der nichtprofessionelle


eingeschränkten Massenproduktion Kulturproduzenten
Produktion

+ Autonomie – Autonomie
– ökonomisches + ökonomisches
Kapital Kapital
+ spezifisches – spezifisches
symbolisches symbolisches
Kapital Kapital

JOURNALISMUS

(nationaler) sozialer Raum

– Kapitalvolumen

Quelle: Bourdieu (1999: 203), leicht geänderte und vereinfachte Darstellung.


248 Thomas Hanitzsch

Journalismus verortet Bourdieu (1999: 187ff.) im Feld der kulturellen Produk-


tion2, welches sich wiederum innerhalb der Grenzen des Feldes der Macht
befindet (vgl. Abbildung 1). Ein wesentliches Merkmal dieses Feldes ist sein
verhältnismäßig geringes Ausmaß an Kodifizierung sowie die hohe Durchläs-
sigkeit der Feldgrenzen. Das Feld der kulturellen Produktion ist mithin ein
„unsicherer Ort“ im sozialen Raum, da „es nur vage Positionen bietet, die eher
zu ge-stalten als schon fertig ausgestaltet sind“ (Bourdieu 1999: 358). In den
achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts vereinigte das Feld der kulturellen Pro-
duktion zwei Subfelder: Auf der einen Seite steht das Feld der eingeschränkten
Produktion mit relativ hoher Autonomie (von der Logik des Marktes), einem
geringen Umfang an ökonomischem Kapital (geringer Preis des Konsumpti-
onsaktes, geringe Anzahl und Qualität der Konsumenten, langer Produktions-
zyklus) und einem vergleichsweise hohen Umfang an spezifischem symboli-
schem Kapital (Prestige des Produkts und der Produzenten). Dem stellt Bour-
dieu das Feld der Massenproduktion gegenüber, das sich durch eine niedrige Auto-
nomie, einen hohen Umfang an ökonomischem Kapital und geringen Umfang
an spezifischem symbolischem Kapital auszeichnet. Den Journalismus verortet
Bourdieu als Genre im Feld der Massenproduktion, das Feld der eingeschränk-
ten Produktion umfasst u.a. Positionen der Avantgarde-Kunst. Darüber hinaus
schließt das Feld der kulturellen Produktion auch Formen der „nicht-
professionellen Kulturproduktion“ ein.
Eine wichtige theoretische Konsequenz von Bourdieus Einordnung ist so-
mit die Eingrenzung von Journalismus auf professionelle Kulturproduktion. Da-
mit stellt sich Bourdieu gegen die von einigen, vorwiegend kulturkritischen
Wissenschaftlern propagierte Ausweitung des Journalismusbegriffs auf Formen
der Informationsvermittlung durch Laien, wie sie durch die Auflösung der
klassischen Demarkationslinie zwischen Produzenten (Kommunikatoren) und
Konsumenten (Rezipienten) vor allem im Internet stattfindet (die „Redaktions-
gesellschaft“, vgl. Hartley 2000). An der Beschaffenheit des Feldes der kulturel-
len Produktion hat sich seither nicht viel Grundlegendes geändert, auch wenn
sich mit Unterhaltung ein zusätzliches Genre im Feld der Massenproduktion
herausgebildet hat. Darüber hinaus deutet einiges darauf hin, dass das Feld der
Massenproduktion als Folge der zunehmenden Ökonomisierung langsam im-
mer weiter zum kommerziellen Pol driftet (in Abbildung 1 nach rechts). In den

2 Bourdieu verwendet diese Begriffe nicht immer konsistent, zuweilen spricht er vom „litera-
rischen (und künstlerischen) Feld“ oder „intellektuellen Feld“, wenn er sich auf das Feld der
kulturellen Produktion bezieht.
Die Struktur des journalistischen Felds 249

frei werdenden Raum zwischen den Feldern der eingeschränkten Produktion


und Massenproduktion könnte ein neues Subfeld treten, das sich zurzeit mithil-
fe der partizipativen Kommunikationsstrukturen im Internet (Weblogs, Dis-
kussionsforen etc.) formiert.
Die Verortung von Journalismus im Feld der kulturellen Produktion scheint
insofern plausibel, als sie der historischen Entwicklung von Journalismus ge-
recht wird. So hat sich der moderne professionelle Journalismus aus der Litera-
tur heraus entwickelt, über die Zwischenstufe eines „schriftstellernden Journa-
lismus“, dessen vielleicht bekanntester Vertreter Theodor Fontane war. Bour-
dieu (1999: 232) hat Journalisten aufgrund ihrer Fokussierung auf aktuelle
Themen auch schon mal als „Kurzzeit-Schriftsteller“ bezeichnet. Eine Beson-
derheit von Journalismus – oder vielmehr des journalistischen Feldes, von dem
wir im Folgenden sprechen wollen – ist, dass es sich vermittelt über Publi-
kumsforschung sowie Auflagen, Einschaltquoten und Nutzerzahlen zuneh-
mend der Logik des ökonomischen Felds ausliefert.
Dabei erzeugt der Wettbewerb durch die permanente Beobachtung der
Konkurrenten Uniformität, statt automatisch Originalität und Vielfalt zu gene-
rieren. Aus diesem Grund, so Bourdieu (1998c: 111f.), ist die journalistische
Kulturproduktion auf die Bewahrung von bestehenden Werten gerichtet. Das
journalistische Feld verliert mehr und mehr an Autonomie, indem es sich von
den heteronomen Kräften der Kommerzialisierung unter Druck setzen und
von einer „Einschaltquotenmentalität“ regieren lässt (Bourdieu 1998c: 74, vgl.
Willems, in diesem Band). Um der zeitlichen Dynamik und der internen Hete-
rogenität des journalistischen Feldes hinreichend Rechnung zu tragen, er-
scheint es, Raabe (2005a: 197) zustimmend, deshalb konsequenter, die Auto-
nomie im Journalismus in relative Kategorien zu fassen.
Der nomos des journalistischen Feldes findet sich dabei in den traditionellen
Werten des Journalismus, die tief in der professionellen Kultur verankert sind
und die Kovach und Rosenstiel (2001) auch als „Elemente des Journalismus“
bezeichnet haben. Dazu zählen insbesondere Objektivität und Distanz (in der
Berichterstattung), Unabhängigkeit (von Partikularinteressen), Aktualität (der
berichteten Themen) sowie das Handeln im öffentlichen Interesse (vgl. u.a.
Deuze 2005: 447). Dabei ist die Durchsetzungskraft des nomos in den verschie-
denen Positionen innerhalb des journalistischen Feldes unterschiedlich ausge-
prägt, was zum Aufweichen der Grenzen zu benachbarten Feldern beiträgt. So
siedeln u.a. der neue/literarische Journalismus, das Feuilleton, die Glosse (z.B.
das „Streiflicht“ in der Süddeutschen Zeitung) sowie viele Kulturzeitschriften in
der Überlappungszone von Journalismus und dem Feld der eingeschränkten
250 Thomas Hanitzsch

Produktion. Auf der anderen Seite positionieren sich z.B. der populäre Journa-
lismus, die Prominenten-Berichterstattung, der Sportjournalismus sowie Ju-
gend- und Musikzeitschriften im Grenzland zwischen Unterhaltung und dem
journalistischen Feld. Zudem ist der Übergang von Journalismus zu nicht-
professioneller Kulturproduktion an den Rändern des journalistischen Feldes
oft fließend.
Die unterschiedlichen Positionen innerhalb des journalistischen Feldes las-
sen sich nun mittels eines zweidimensionalen Koordinatensystems beschreiben,
wie es von Bourdieu vielfach verwendet wurde (vgl. Abbildung 2). Auch hier
beschreibt die vertikale Achse das Kapitalvolumen und die horizontale Achse
die Kapitalstruktur. Der linke Rand des Feldes repräsentiert den „intellektuel-
len Pol“ (Marchetti 2005: 71) mit hoher Autonomie, großem Umfang an spezi-
fischem symbolischen (kulturellen) Kapital, aber geringem Ausmaß an ökono-
mischem Kapital. Der rechte Rand des Feldes bildet den „kommerziellen Pol“
mit geringer Autonomie, geringem spezifischen symbolischen (kulturellen)
Kapital, aber hohem Umfang an ökonomischem Kapital. Die Grenzen des
Feldes werden dabei von den jeweils am weitesten auseinander liegenden Posi-
tionen bestimmt, wobei einzelne Feldpositionen ihre Identität oft in Abgren-
zung – oder gar Opposition – zu anderen Positionen artikulieren. So ist der an
den trivialen Bedürfnissen der Konsumenten orientierte Service- und Ratgeber-
Journalismus, der seinem Publikum konkrete Hilfestellungen im täglichen Le-
ben geben will, u.a. auch als Reaktion auf die Vernachlässigung des Alltags
durch den lange Zeit vor allem die Printmedien dominierenden elitären Politik-
journalismus zu verstehen.
Je näher Feldpositionen dem kommerziellen Pol stehen, umso mehr regiert
die ökonomische Logik der Massenproduktion, die auf das Erreichen eines
möglichst großen Publikums bzw. möglichst großer Marktanteile abzielt. Die
journalistische Autonomie, d.h. die Durchsetzungskraft der spezifischen Logik
(nomos) des journalistischen Feldes, wird den heteronomen Kräften von Aufla-
gen, Quoten und Nutzerzahlen geopfert. Nicht zuletzt deshalb findet die
Tabloidisierung der Medienlandschaft am kommerziellen Pol statt: Mit 3,6
Millionen verkauften Exemplaren ist mit Bild die auflagenstärkste Tageszeitung
in der Bundesrepublik eine Boulevardzeitung (IVW, I/2006). Darüber hinaus
ist auf dieser Seite des Feldes die Abhängigkeit von Werbeeinnahmen beson-
ders stark ausgeprägt, wodurch die Fremdsteuerung durch das ökonomische
Feld zusätzlich begünstigt wird.
Abbildung 2: Das deutsche Mediensystem und das journalistische Feld.
+ Kapitalvolumen

KULTUR- UND KUNST-


ZEITSCHRIFTEN DER Spektrum der
Wissenschaft BrandEins
ARRIVIERTEN AVANT-
GARDE WISSENSCHAFTS- WIRTSCHAFTS-
art JOURNALISMUS MAGAZINE
GEO Capital Playboy
HOCHGLANZ-
MÄNNERMAGAZINE
Spiegel
INVESTIGATIVER
Die Zeit JOURNALISMUS
Auto Bild
FEUILLETON/ LI-
TERARISCHER AUTOMOBIL- JUGEND-/MUSIK-
Süddeutsche
JOURNALISMUS Zeitung ZEITSCHRIFTEN ZEITSCHRIFTEN
aspekte Bravo
ÜBERREGIONALE
(ZDF)
TAGESZEITUNGEN
tageszeitung Glamour InStyle
Neues SERVICE-
Dresdner Deutschland JOURNALISMUS BOULEVARD-
Kulturmagazin JOURNALISMUS
Schwäbisches Tagblatt TV Spielfilm
Bild
LOKALE/REGIONALE
+ ökonomisches Kapital / – kulturelles Kapital

– ökonomisches Kapital / + kulturelles Kapital


TAGESZEITUNGEN
KULTUR- UND KUNST- Freies Wort
ZEITSCHRIFTEN DER
BOHÈME
ANZEIGENBLÄTTER

– Kapitalvolumen
252 Thomas Hanitzsch

Ebenfalls am kommerziellen Pol des Feldes siedeln Premium-Produkte wie


Hochglanz-Männermagazine (z.B. Playboy), die sich u.a. durch einen hohen
Preis des Konsumtionsaktes (Kaufpreis) sowie ein vergleichsweise einkom-
mensstarkes Publikum auszeichnen. Auch die Eigentümerstruktur spielt im
Hinblick auf die ökonomische Unabhängigkeit eine wesentliche Rolle: Medien,
die zu einer Unternehmensgruppe gehören, bekommen die heteronomen Kräf-
te des ökonomischen Feldes stärker zu spüren als öffentlich-rechtliche Medien-
anstalten und Medienorganisationen mit einer kooperativen Eigentümerstruk-
tur, wo sich das Management häufig (noch) in den Händen von ausgebildeten
Journalisten befindet (vgl. Duval 2005: 140).
Am intellektuellen Pol des journalistischen Feldes befinden sich journalisti-
sche Praktiken und Medien, die sich durch einen hohen Grad an Autonomie
auszeichnen. Bourdieu (2005: 42) selbst ist der Meinung, dass kulturelles Kapi-
tal vor allem auf der Seite der Printmedien zu finden sei, da diese am ehesten
gesellschaftskritische Debatten anstoßen, die später vom Fernsehen aufgegrif-
fen werden. Dies scheint allerdings nur auf einen relativ kleinen Teil der Presse
zuzutreffen, dazu zählen zweifellos Nachrichtenmagazine wie der Spiegel, die
sich noch am ehesten der Philosophie eines investigativen und kritischen Jour-
nalismus verpflichtet fühlen, sowie viele überregionale Tageszeitungen – hier
insbesondere die linksgerichtete tageszeitung mit ihrer kooperativen Eigentümer-
struktur. Ebenfalls am intellektuellen Pol des journalistischen Feldes siedelt das
Feuilleton und der literarische Journalismus, exemplifiziert durch prestigeträch-
tige Formate wie Die Zeit und aspekte (im ZDF).
Hier, am intellektuellen Pol des Feldes, zählt insbesondere das spezifische
symbolische Kapital des Journalismus, das seinen Niederschlag in der Aner-
kennung der journalistischen Leistung durch Kollegen findet. Journalistenprei-
se wie der Grimme-Preis (Kategorie Dokumentarfilm/TV-Journalismus/Fea-
ture/Essay) und der Theodor-Wolff-Preis fallen überdurchschnittlich oft an
Akteure, die auf der linken Hälfte des journalistischen Feldes siedeln, d.h. an
öffentlich-rechtliche Fernsehanstalten, Nachrichtenmagazine sowie überregio-
nale Tages- und Wochenzeitungen. Die kommerzielle Logik der Marktanteile
steht hier nicht so sehr im Vordergrund, auch wenn sich ein anspruchsvoller
Journalismus durchaus in Auflage umwandeln lässt, wie das Beispiel der Zeit
(verkaufte Auflage 483.000, IVW, I/2006) beweist. Medienorganisationen, die
zu einer Unternehmensgruppe gehören, finden sich auf dieser Seite des Feldes
seltener. Darüber hinaus ist die Abhängigkeit von Werbeeinnahmen (im Ver-
hältnis zu den Einnahmen durch Verkauf bzw. Gebühren) deutlich geringer.
Die Struktur des journalistischen Felds 253

Die hier vorgenommene Einordnung von Medien, Mediensegmenten und


journalistischen Praktiken ist freilich nur eine exemplarische und auf Vermu-
tungen basierende Annäherung. Um das journalistische Feld in seinem existie-
renden Spektrum exakt „kartographieren“ zu können, müssten die Annahmen
durch ein empirisches Datenfundament gestützt werden. Dies könnte, wie
Bourdieu (1987) in „Die feinen Unterschiede“ und Duval (2005) am Beispiel
des journalistischen Feldes eindrucksvoll vorgeführt haben, über eine Korres-
pondenzanalyse geschehen, da dieses Verfahren im Hinblick auf das Skalenni-
veau der Daten relativ anspruchslos ist. Als Kriterien zur Bestimmung der
einzelnen Positionen im journalistischen Feld können dabei verschiedene Pa-
rameter herangezogen werden: Neben Zahlen zu Auflagen, Quoten, Nutzer-
zahlen bzw. Marktanteilen sollte die Abhängigkeit von Werbung (der Anteil
von Werbeeinnahmen am Gesamtumsatz) ermittelt werden. Darüber hinaus
spielen sicherlich auch der Preis des Konsumtionsaktes (z.B. Kaufpreis) sowie
die Qualität des Publikums (z.B. Kaufkraft, Milieuzugehörigkeit) eine wichtige
Rolle. Duval (2005: 151) hat zudem vorgeschlagen, die Eigentümerstruktur in
die Betrachtung mit einzubeziehen, insbesondere die Zugehörigkeit zu einer
Unternehmensgruppe.

4 Journalismus, Journalisten und Habitus


Um der scheinbaren Starrheit seiner Kapital- und Feldtheorie zu entkommen,
führt Bourdieu mit dem Habitus ein weiteres wichtiges Konzept in die Theorie
ein. Der Habitus ist das entscheidende Bindeglied zwischen Praxis und Struk-
tur, Kapitalbesitz und Lebensstil sowie zwischen Vergangenheit, Gegenwart
und (vorweggenommener) Zukunft. Als dynamisches Element gewährleistet er
„die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in
Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen“
(Bourdieu 1993: 101). Die spezifischen Existenzbedingungen der sozialen Ak-
teure und die damit verbundene Verfügungsgewalt über ökonomisches, sozia-
les, kulturelles (und symbolisches) Kapital prägen den Habitus, verstanden als
„System individueller Dispositionen“ (Bourdieu 1987: 278, 1993: 113, vgl.
Willems, in diesem Band). Als Produkt von „Einprägungs- und Aneignungsar-
beit“ sorgt der Habitus damit für die stilistische Einheitlichkeit der Lebensfüh-
rung (Lebensstil), die Praktiken eines einzelnen Akteurs oder einer Klasse von
Akteuren miteinander verbindet (Bourdieu 1976: 186, 1998b: 21). Die im Habi-
tus vereinten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata dienen der
„Generierung von unterschiedlichen und der Unterscheidung dienenden Prak-
254 Thomas Hanitzsch

tiken“ (wie etwa Konsum- oder Verhaltensgewohnheiten) und integriert unter-


schiedliche Klassifikationsschemata, Klassifizierungsprinzipien, Wahrneh-
mungs- und Gliederungsprinzipien sowie Geschmacksrichtungen.
Der Habitus bewirkt, dass die Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs (oder
einer Gruppe von aus ähnlichen Soziallagen hervorgegangenen Akteuren) als
Produkt der Anwendung identischer (oder wechselseitig austauschbarer) Sche-
mata zugleich systematischen Charakter tragen und systematisch unterschieden
sind von den konstitutiven Praxisformen eines anderen Lebensstils (Bourdieu
1987: 278).

Dabei postuliert Bourdieu keineswegs einen mechanischen Determinismus:


Der Habitus bestimmt nicht die Praktiken selbst, sondern steckt die Ein-
schränkungen und Grenzen ab, innerhalb dessen sich eine angemessene Praxis
realisieren lässt (vgl. Willems, in diesem Band). Der Habitus bestimmt also den
Spielraum dessen, was an Praxis möglich – und unmöglich – ist (Schwingel
2003: 71). Die Strukturierung von Handlung läuft dabei von den Akteuren
unbemerkt ab, was Bourdieu so trefflich als „praktischen Sinn“ bezeichnet:
Der Habitus generiert die „vernünftigen“ Verhaltensweisen des „Alltagsver-
stands“, die der Logik des jeweiligen sozialen Feldes angepasst sind und dessen
objektive Zukunft sie vorwegnehmen (Bourdieu 1993: 104). Die im Laufe von
Sozialisationsprozessen ausgebildeten Verhaltensdispositionen bleiben den
Akteuren als „zweite Natur“ weitgehend unbewusst, was sie zu einem „sponta-
nen, intuitiven, selbstverständlichen Handeln“ befähigt (Raabe 2005a: 180).
Der Habitus erzeugt demnach Praktiken und Vorstellungen, die objektiv „ge-
regelt“ und „regelmäßig“ sein können, ohne dass sie das Ergebnis der Einhal-
tung von Regeln sind oder das „ordnende Handeln eines Dirigenten“ voraus-
setzen (Bourdieu 1993: 99f.).
Bourdieus Habitus-Konzept ist daher bestens gerüstet, die Strukturen des
journalistischen Feldes zu verstehen, wie sie von Journalisten im Verlauf ihrer
beruflichen Sozialisation inkorporiert und als Selbstverständlichkeiten wahrge-
nommen werden. Ausdruck findet dieses „Bauchgefühl“ nicht zuletzt auch im
Journalistenjargon, der erfahrenen Reportern auch gerne mal „eine gute Nase
für Nachrichten“ attestiert. Hier verstecken sich die als Nachrichtenfaktoren
bekannten journalistischen Selektionsstrukturen gewissermaßen „hinter dem
Rücken“ der beteiligten Akteure und erscheinen ihnen im Praxisvollzug als
intuitives Element der Handlung. Die meisten Journalisten sind sich dabei der
Bedeutung von Nachrichtenfaktoren nicht einmal bewusst, weshalb Hall (1973:
181) diese auch als unsichtbare „Tiefenstrukturen“ bezeichnet hat, die den
professionellen Akteuren im redaktionellen Alltag verborgen bleiben. Auch
Die Struktur des journalistischen Felds 255

Raabe (2005a: 199) hat auf die Bedeutung des Habitus für die Stabilisierung des
journalistischen Feldes hingewiesen.
Weil die Akteure jedoch in diese feldspezifischen Praktiken eingelebt sind und
sie ihnen selbstverständlich erscheinen, verkennen sie die Ergebnisse ihres Han-
delns als individuelle Hervorbringungen, die sie sich persönlich zurechnen, wäh-
rend sie doch zugleich Produkte der Prinzipien und Hervorbringungsweisen ei-
nes feldspezifischen Habitus sind.

Andererseits ist der Habitus der Akteure nicht allein durch berufliche Sozialisa-
tion geprägt. In Luhmanns (1987: 430) Verständnis signalisieren Rollen abs-
trakte Handlungserwartungen, die nur einen Ausschnitt aus dem Verhalten eines
Menschen bilden. Journalisten können also demnach beim Verlassen des Sys-
tems Journalismus – z.B. nach einem langen Bürotag – ihre jeweilige system-
spezifische Rolle buchstäblich beim Pförtner abgeben, um dann in eine andere
Rolle zu schlüpfen (z.B. als Familienvater). Im personengebundenen Habitus jedoch
fließen Erfahrungen zusammen, die Akteure in verschiedenen Feldern gesam-
melt haben. Nicht zuletzt deshalb bildet der Habitus ein Einfallstor für hetero-
nome Kräfte. Es ist genau diese Schnittstelle von journalistischer Berufswelt
und Lebenswelt, die dafür sorgt, dass sich z.B. die politischen Präferenzen von
Journalisten und Medienbetrieben in der Berichterstattung niederschlagen
können.
Da Akteure permanent in verschiedenen Feldern agieren, entwickeln sie
zwar einen praktischen Sinn für erfolgreiches Handeln in bestimmten Feldzu-
sammenhängen. Aber Journalisten können schlecht vermeiden, dass außerbe-
ruflich erworbene Habitusprägungen in Form von journalismusfremden Wahr-
nehmungs-, Denk- und Handlungsweisen ihr berufliches Agieren mitgestalten.
Insbesondere kulturelle Einflüsse spielen hierbei eine bedeutsame Rolle, wie
zahlreiche internationale Studien (vgl. u.a. Weaver 1998) oder die Diskussion
um „asiatische Werte“ im Journalismus zeigen (vgl. Xiaoge 2005). Auch die
Befunde aus zwei repräsentativen Journalistenbefragungen konnten zu Beginn
der 1990er Jahre ein unterschiedliches Rollenselbstverständnis von west- und
ostdeutschen Journalisten nachweisen (vgl. Scholl & Weischenberg 1998: 238f.;
Schönbach, Stürzebecher & Schneider 1994: 145ff.). Außerdem hat eine Jour-
nalistenbefragung in Indonesien zahlreiche Indizien dafür geliefert, dass Fakto-
ren wie Bildungsgrad, ethnische Zugehörigkeit und Territorialität durchaus
einen, wenn auch nur geringen Einfluss auf das Rollenverständnis haben kön-
nen (vgl. Hanitzsch 2004: 205ff., 2006).
Die Kräfte einer lebenslangen Habitusprägung können auch ein wichtiger
Motor für Dynamik im journalistischen Feld sein. Bourdieu (1999: 357) selbst
256 Thomas Hanitzsch

hat in seiner Analyse des Feldes der kulturellen Produktion darauf hingewiesen,
dass sich große Umwälzungen oft aus dem Eindringen von Neulingen in das
Feld ergeben. Diese könnten schon aufgrund ihrer Anzahl und sozialen Zu-
sammensetzung bestehende Feldstrukturen umgestalten und sogar ganze Fel-
der einer Neubewertung unterziehen. Gerade Journalismus wird als kommuni-
kationssensibles Feld die kulturellen Umwälzungen moderner Gesellschaften
auch in Zukunft zu spüren bekommen. Die heutige junge Konsumentengene-
ration stellt andere Ansprüche an Journalismus als dies noch vor 40 Jahren der
Fall war. Wenn diese Akteure das journalistische Feld betreten, werden sie
diese Erwartungen „mitnehmen“ und in die bestehenden Feldstrukturen ein-
bringen. Insofern sind Entertainisierungs-Tendenzen im Journalismus nicht
allein als ökonomisch induziert zu verstehen. Sie wurden vielmehr vom popu-
lärkulturell geprägten Habitus der nachwachsenden Journalistengeneration in
das Feld hineingetragen.
Andererseits ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass neue Journalistengenera-
tionen grundlegende Gesetze des Feldes – den nomos – antasten werden.
Denn immerhin stammen Journalisten, da sie wie viele Intellektuelle und Aka-
demiker etwa gleichstark mit ökonomischem und kulturellem Kapital ausges-
tattet sind, aus zentralen und privilegierten Positionen im Macht-Feld. Daher
sind sie dazu prädisponiert, in ihrem Feld eher eine homologe Position einzu-
nehmen (vgl. Bourdieu 1999: 141), von der aus sie kein großes Interesse an
einer prinzipiellen Änderung der „Spielregeln“ verspüren.

5 Schlussbetrachtung
Aus der vorangegangenen Darstellung ergeben sich zwei grundlegende Konse-
quenzen für die empirische Journalismusforschung: Erstens spielen sich die
beruflichen Handlungen von Journalisten im redaktionellen Alltag nicht nur
innerhalb professioneller Strukturen sondern auch innerhalb der individuell
spezifischen Lebenswelt ab. Es kann daher mit einiger Plausibilität davon aus-
gegangen werden, dass das professionelle Handeln und Erleben von Journalis-
ten auch durch Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Verhaltensdispositionen
mitgeprägt wird, die außerhalb der beruflichen Realität erworben werden.
Zweitens lassen sich Felder nicht unmittelbar beobachten. Daher kommt eine
Dekonstruktion des journalistischen Feldes an einer Analyse der objektiven
Feldpositionen sowie den zwischen ihnen herrschenden Relationen nicht vor-
bei. Die einzelnen Positionen, zwischen denen sich das journalistische Feld
aufspannt, werden durch Akteure – d.h. Journalisten – besetzt. Es ist deshalb
Die Struktur des journalistischen Felds 257

naheliegend, die Akteure von der Analyse journalistischer Medieninhaltspro-


duktion nicht auszuschließen. Im Gegenteil, die journalistischen Akteure sind
für die Beobachtung journalistischer Feldstrukturen sowie der ihnen innewoh-
nenden Dynamik unverzichtbar.
In der Tradition soziologischer Differenzierungstheorien stehend, bietet
Bourdieus Feldtheorie einige Berührungspunkte zu systemtheoretischen Vor-
stellungen und ist sicherlich nicht zuletzt deshalb auch anschlussfähig an die
von Luhmann stark beeinflusste deutsch(sprachig)e Journalismusforschung.
Anders als in der Luhmannschen Systemtheorie, wo die sozialen Akteure kon-
sequent in der Systemumwelt verortet werden, sind die Akteure in Bourdieus
Vorstellung jedoch konstitutiv für das Feld und können daher nicht getrennt
von diesem gedacht werden (vgl. Schäfer 2004: 323f.). Bedeutsam ist sicherlich
auch der Umstand, dass Bourdieu (in Bourdieu & Wacquant 1996: 135) keiner-
lei funktionale Hierarchien unter den Feldern vorzieht. Jedes Unterfeld verfügt
über seine eigene Logik, d.h. jede weitere Untergliederung eines Feldes bedeu-
tet einen qualitativen Sprung. Darüber hinaus verzichtet Bourdieu auf binäre
Konstrukte (System/Umwelt, Systemcode, etc.) und exklusive Funktionszu-
schreibungen. Dadurch gelingt es Bourdieu, Konzepte wie „Autonomie“ in
relative und graduelle Kategorien zu fassen, womit auch Phänomene der
Fremdsteuerung (Heteronomie), Entdifferenzierung und Entgrenzung (u.a. zu
Unterhaltung und Öffentlichkeitsarbeit) in den Blick gleiten.
Aus der Kultursoziologie stammt Bourdieus Einsicht, dass Verhalten und
das subjektiv-situative Sinnverstehen (der „praktische Sinn“) untrennbar sind
(vgl. Reckwitz 2000: 566). Deshalb ist das Werk von Bourdieu gerade für die
Analyse kreativer Tätigkeitsfelder wichtig, die mit Quasi-Qualifikationen wie
„Begabung“ und „Talent“ operieren. Im Journalismus drückt sich „Begabung“
demnach in feldkonformem Handeln aus und schlägt sich in homologen Posi-
tionen nieder. Das Denken in Relationen setzt jedoch einen radikalen Bruch
mit der Alltagsvorstellung von der sozialen Welt voraus. Denn zentral sind für
Bourdieu weniger die sozialen Wirklichkeiten „an und für sich“, sondern es
sind vielmehr die – oft unsichtbaren – objektiven Beziehungen, die sie mitein-
ander verbinden, und die Art und Weise, wie die sozialen Akteure diese Realitä-
ten sinnhaft geltend machen. Damit wird der Weg frei für eine Beobachtung
von Journalismus buchstäblich „durch die Augen“ der beteiligten Akteure.
Solch eine kultursoziologische Analyse lenkt den Blick auf die Prozesse der
Genese von „praktischem Sinn“, d.h. auf die kulturellen kognitiven und evalua-
tiven Schemata, mittels derer Journalisten ihre Wirklichkeit als bedeutungsvoll
erschaffen.
258 Thomas Hanitzsch

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ORGANISATION
Das Organisationsdispositiv
moderner Gesellschaft

Michael Bruch & Klaus Türk

1 Problemstellung
Den unterschiedlichen Thematisierungen von Organisation innerhalb der Sozi-
alwissenschaften ist gemeinsam, dass sie weder die Voraussetzungen der Gene-
se, der Existenz und der Reproduktion von Organisation selbst untersuchen,
noch sich um eine inhaltliche Bestimmung des allgemeinen Konzepts „Organi-
sation“ etwa im Unterschied zu anderen Formen der Regulation menschlicher
Kooperation bemühen. Organisation wird durchweg (mit gewissen Ausnahmen
etwa in der Systemtheorie) als gesellschaftliche Selbstverständlichkeit in diesen
wissenschaftlichen Disziplinen ebenso schlicht vorausgesetzt wie in der gesell-
schaftlichen Alltagspraxis.
Im Vergleich dazu nähern wir uns dem Organisationsphänomen aus einer
Perspektive, die auf die Frage nach den für die modernen Gesellschaften zent-
ralen Formen und Prinzipien der Regulation der gesellschaftlichen Kooperati-
onsverhältnisse gerichtet ist (Bruch 1999; Türk 1999, 1995). Um die Eigenart
der organisationalen Regulation begrifflich zu erfassen, greifen wir auf Überle-
gungen Michel Foucaults zum Verhältnis von Wissen und Macht zurück, die er
auf den Begriff der Gouvernementalität bringt, in dem Regieren und Denkwei-
se systematisch miteinander verbunden werden (Foucault 2000; Lemke 1997).
Dieser Zugang basiert auf der These, dass Organisation ein historisch spezifi-
sches Machtverhältnis konstituiert, das sich durch eine Machtausübung aus-
zeichnet, die quer zur staatlich-juridischen und ökonomischen Machtausübung
liegt. Auf der Basis dieser Überlegungen rekonstruieren wir Organisation als
ein historisches Regierungsdispositiv. Der Begriff des Regierungsdispositivs
bezeichnet eine Konfiguration von Wissens- und Handlungspraxen, die sich
historisch zu einer Einheit der Regulation gesellschaftlicher Kooperations- und
Selbstverhältnisse verbinden. Die Bezeichnung dieser Einheit als Dispositiv soll
264 Michael Bruch & Klaus Türk

ihre Eigenheit und Wirkungsweise beschreiben. Ein Dispositiv ist dreidimensi-


onal verfasst: Erstens bezeichnet es in extensionaler Hinsicht einen Wissens-
und Handlungsraum, der sich in Diskursen, sachlichen Einrichtungen, Verhal-
tensweisen und -anforderungen manifestiert. Zweitens bezeichnet es in intenti-
onaler Hinsicht die historisch eigene Art und Weise der Verbindung zwischen
den bezeichneten Elementen und drittens bezeichnet es die Strategien, die mit
dieser Verbindung einhergehen.
Die Analyse von Organisation als ein historisches Regierungsdispositiv er-
fordert methodisch eine doppelte Perspektive, die es ermöglicht, Organisation
als eine geschichtliche Formation sowohl diskursiver als auch nicht-diskursiver
Regierungspraktiken zu beschreiben. Organisation wird dabei in zweifacher
Weise zur übrigen Gesellschaft ins Verhältnis gesetzt: Zum einen geht es um
die gesellschaftlichen Bedingungen, die der Ausbildung von Organisation als
Regierungsdenken und -wissen zugrunde liegen, zum anderen um Bedingun-
gen, welche die Praktizierbarkeit von Organisation als Regierungstechnik er-
möglichen. Um diese Differenz zwischen einem Wissens- und einem
Machtraum zu markieren, unterscheiden wir zwischen Organisation und (Ein-
zel-)Organisationen.

2 Organisation und Organisationen


Sind Organisationen allgegenwärtig und wird über viele von ihnen (z.B. Unter-
nehmungen, Parteien, Verbände, Vereine, Versicherungen) sowohl im Alltag
als auch in den Sozialwissenschaften gesprochen und diskutiert, so bildet „Or-
ganisation“ gleichsam einen „blinden Fleck“ der modernen Gesellschaft. Es
handelt sich um das zentrale Konzept, mit dem Kooperation reguliert wird, das
aber selbst so gut wie gar nicht reflektiert wird – dies übrigens interessanterwei-
se ganz im Unterschied zu Markt und Staat, denen nicht nur in den Sozialwis-
senschaften, sondern auch in den politischen Debatten ein zentraler Stellenwert
hinsichtlich der (welt-)gesellschaftlichen Strukturierung und Regulation zuge-
schrieben wird (vgl. dazu die neueren Debatten zur Globalisierung, Nicht-
Regierungsorganisationen, Neoliberalismus, Global Governance). Wenn Orga-
nisation überhaupt thematisiert wird, geht es um „Verbesserungen“ von Orga-
nisationen (etwa durch neue Managementkonzepte oder auch „Humanisierun-
gen“), nie aber wird Organisation selbst kritisch erörtert. Organisation gehört
offenbar zum selbstverständlichen Inventar von Sozialtechnologien.
Um diese Selbstverständlichkeit von Organisation einer kritischen De-
konstruktion zu unterziehen, ist es notwendig, eine begriffliche Unterscheidung
Das Organisationsdispositiv moderner Gesellschaft 265

zwischen Organisation und Organisationen vorzunehmen. Diese ist nicht theo-


retisch zu generieren, sondern im Gegenteil: Die durch die Gesellschaft selbst
vorgenommene Unterscheidungspraxis ist aufzunehmen und analytisch zu
wenden, indem zum einen nach der historischen Genese dieser Differenzie-
rungspraxis gefragt wird und zum anderen gezeigt wird, dass es sich bei Orga-
nisation im Singular nicht nur um das Allgemeine des Besonderen von Einzel-
organisationen (also nicht nur um einen Begriff), sondern um ein historisches
Regierungsdispositiv handelt. Wir verweisen damit darauf, dass sich mit der
modernen Gesellschaft Organisation neben und zusammen mit Staat und
Markt (inklusive der kapitalistischen Verwertungspraktiken und Akkumulati-
onsdynamik) als eine Regierungspraxis entwickelt hat, die sich durch eine eige-
ne Modalität der Ordnung und Machtausübung auszeichnet. Dabei durchzieht
Organisation nicht nur Staat und Markt, sondern als Regierungsdispositiv greift
sie auf Formen der Machtausübung zurück, die, wie etwa die juridische Form,
zentral für die staatliche Machtausübung sind (klassisch: „Bürokratie“).
Diese Überschneidungen mögen zwar dem Anspruch einer Begriffsbe-
stimmung entgegenstehen, der an der Definition klarer Grenzen orientiert ist.
Der damit verbundene Wunsch nach der Herstellung begrifflicher Eindeutig-
keit stößt allerdings nicht nur an die Grenze empirischer Komplexität, sondern
birgt zudem die Gefahr, dem Gegenstand gleichsam definitorisch eine Ord-
nung aufzuzwingen, die nur vermeintlich Klarheit schafft, da sie gerade den
Blick auf den eigentlichen Erkenntnisgegenstand verstellt, nämlich die durch
die Gesellschaft selbst vorgenommene sprachliche und nicht-sprachliche Ord-
nung. Mit dem Konzept des Dispositivs wählen wir deshalb einen analytischen
Zugang, der seinen Ausgangspunkt in Organisation als einer historischen Real-
kategorie hat (vgl. dazu ausführlich Türk, Lemke & Bruch 2002).
Dies bedeutet danach zu fragen, welche Vorstellung und welches Wissen
von Ordnung Organisation impliziert und welche Machteffekte die Anwen-
dung dieser Ordnung produziert. Wissen1 und Macht sind dabei nicht als zwei
unterschiedliche oder gar hierarchische Ebenen zu begreifen, sondern als zwei
unterschiedliche Formen von Praktiken, die auf ihre je eigene Art und Weise
die gesellschaftlichen Verhältnisse prägen. In diesem Sinne ist die Rekonstruk-
tion von Organisation als eine historisch eigene Ordnung gleichbedeutend mit

1 Wir verwenden den Wissensbegriff im Sinne Foucaults in Abgrenzung zum Begriff der
Erkenntnis als „einen Prozeß, der das Subjekt einer Veränderung unterwirft, gerade indem
es erkennt [...]. Es ist dieser Prozeß, der gestattet, das Subjekt zu verändern und gleichzeitig
das Objekt zu konstruieren“ (Foucault 1997: 52).
266 Michael Bruch & Klaus Türk

der Rekonstruktion der durch diese Ordnung hergestellten Verhältnisse (vgl.


Bruch 2000). Das Organisationsdispositiv spannt einen Wissens- und Hand-
lungsraum auf (extensionale Dimension), der aus Diskursen, Institutionen,
architektonischen Einrichtungen, Verhaltensweisen und -anforderungen be-
steht. Die Besonderheit dieses Raums entsteht durch die spezifische Verknüp-
fung der genannten Elemente (intentionale Dimension), die ihrerseits histo-
risch mit einer bestimmten Funktion oder Strategie verbunden sind (strategi-
sche Dimension). Die Macht- bzw. Strukturierungseffekte dieses Dispositivs
erschließen sich dabei nicht nur über die Bestimmung der genannten Dimensi-
onen, sondern gleichermaßen über das, was durch diese Bestimmungen ausge-
schlossen wird (etwa nicht-organisationsförmige Kooperationsweisen). Mit
diesem theoretischen Zugang verschieben wir das Erkenntnisinteresse auf die
historische Genese und Geltung eines gesellschaftlichen Ordnungsmusters, das
nicht nur den einzelorganisationalen Praktiken als Möglichkeitsbedingung und
Programm zugrunde liegt, sondern darüber hinaus den gesellschaftlichen Mög-
lichkeitsraum unserer Denk- und Handlungspraktiken so präformiert, dass die
Wahrscheinlichkeit der gesellschaftlichen Geltung verschiedener Kooperati-
onspraktiken ungleich verteilt wird. In Bezug auf die Luhmann’sche Unter-
scheidung von Medium und Form könnte man auch sagen, dass Organisation
als Form die Medien bindet, das Bewusstsein ordnet, die Motive spezifiziert
und das Mögliche auf das Machbare beschränkt (Luhmann 1987: 203). Dies
schließt die These ein, dass die Strukturationseffekte von Organisationen nicht
beliebig oder gar offen sind, sondern dass Organisation als ein begrenztes
Möglichkeitsfeld von Praktiken die Möglichkeitsfelder anderer gesellschaftli-
cher Praktiken systematisch öffnet bzw. schließt und damit die Entwicklung
bestimmter gesellschaftlicher Praktiken ermöglicht bzw. behindert.
Der Begriff „Regierung“ bezeichnet nicht Regierungsstrukturen, -prinzipien
und -institutionen, wie sie etwa in Staatsverfassungen niedergelegt sind, obwohl
auch solche explizit formale Verfassungen durchaus Aufschlüsse für unsere
Fragestellungen geben könnten. Der Begriff der Regierung bezeichnet vielmehr
eine spezifische Art der Konfiguration und Systematisierung von Machtver-
hältnissen (hier: Organisationsförmigkeit), sodass diese eine Verfestigung bis
hin zu Herrschaftszuständen erfahren können.2 Machtverhältnisse sind Teil der
Praktiken der Machtausübung, zu denen die Verfügung über allokative, autori-
tative und symbolische Ressourcen gehört. Dies bedeutet – wie Foucault for-
muliert – nicht,

2 Unter Herrschaft verstehen wir geronnene, auf Dauer gestellte Machtverhältnisse.


Das Organisationsdispositiv moderner Gesellschaft 267
daß es sich um drei getrennte Bereiche handelt und daß es einerseits den Bereich
der Dinge, der zielgerichteten Technik, der Arbeit und der Transformation des
Realen gäbe, andererseits den der Zeichen, der Kommunikation, der Reziprozität
und der Fabrikation des Sinns, und schließlich den der Herrschaft, der Zwangs-
mittel, der Ungleichheit und des Einwirkens von Menschen auf Menschen. Es
geht um drei Typen von Verhältnissen, die allerdings immer ineinander ver-
schachtelt sind, sich gegenseitig stützen und als Werkzeuge benutzen (Foucault
1987: 252).

Machtverhältnisse kommen letztlich zwar nicht ohne Gewalt und auch nicht
ohne Konsens aus, diese bilden aber nicht die Grundlage von Machtverhältnis-
sen, sondern sind Teil ihres Instrumentariums. Das Charakteristische eines
Machtverhältnisses besteht in der Formierung eines Raums von Möglichkeiten,
den Möglichkeitsraum („Spielraum“) anderer zu formieren. So ist Organisation
der legalistisch legitimierte Raum von Möglichkeiten par excellence, die Hand-
lungsräume der ihr Subsumierten zu definieren. Dabei werden die Subjekte, auf
die Macht ausgeübt wird, durchaus als Subjekte des Handelns anerkannt –
heute sogar vehement als „Subjekte“ gefordert –, sodass sich „vor dem Macht-
verhältnis ein ganzes Feld von möglichen Antworten, Reaktionen, Wirkungen,
Erfindungen eröffnet“ (Foucault 1987: 254). Machtausübung operiert auf dem
„Möglichkeitsfeld, in das sich das Verhalten der Subjekte eingeschrieben hat
[...]“ (ebd.: 255). Es geht um die Strukturierung und damit um die Reduktion
von Kontingenz. Diese Strukturierung des Feldes möglicher Handlungen durch
Handlungen versucht Foucault mittels des Begriffs der „Führung“ zu erfassen.
Führung ist zugleich die Tätigkeit des „Anführens“ anderer und die Weise der
Selbstorientierung des Verhaltens in einem Feld von Möglichkeiten. Machtver-
hältnisse sind Verhältnisse der „Meta-Führung“, des „Führens der Führungen“.
Dafür setzt Foucault den Begriff „Gouvernement“ bzw. Regierung ein als
jeweils historisch spezifisches Set („Dispositiv“) von Wissen und Praktiken der
Selbst- und Fremdorientierung.
Die der Macht eigene Verhältnisweise wäre somit weder auf Seiten der Gewalt
und des Kampfes noch auf Seiten des Vertrages und der Willensbande (die allen-
falls ihre Instrumente sein können) zu suchen, vielmehr auf Seiten dieser einzig-
artigen, weder kriegerischen noch juridischen Weise des Handelns: des Gouver-
nement (Foucault 1987: 255).

Dieses regierungsanalytische Konzept ermöglicht einen Zugang zum Erkennt-


nisgegenstand Organisation, der sich nicht primär auf die Analyse von Einzel-
organisationen richtet, sondern allgemeiner Organisation als „Gouvernement“,
d.h. als Set von Regierungspraxen, ins Blickfeld nimmt. Diese Forschungsaus-
richtung ist der Intention nach mit den Überlegungen der Neoinstitutionalisten
268 Michael Bruch & Klaus Türk

vergleichbar. Allerdings sind neoinstitutionalistische Konzepte gegenüber dem


hier verfolgten Ansatz in den meisten Fällen noch zu sehr durch kontingenz-
theoretisches Gedankengut geprägt (vgl. auch die Darstellung und Auseinan-
dersetzung bei Türk 2000). Sie arbeiten mit der Differenz von Organisation
und institutioneller Umwelt und fragen dann nach den Prozessen der Herstel-
lung von Entsprechungsverhältnissen. Organisationen existieren und haben
sich gleichsam ex post ihren institutionellen Umwelten einzupassen. Das „Re-
gierungswissen“ ist außerhalb der Organisationen und wird dann mehr oder
weniger importiert. Dagegen fassen wir Einzelorganisationen als Verkörperun-
gen des „Gouvernements Organisation“ auf; sie sind immer schon „institutio-
nelle Applikationen“. Eine Formulierung wie „Organisationen müssen sich
dem gesellschaftlichen Prinzip formal-instrumenteller Rationalität fügen oder
stellen“ würden wir nicht unterstützen, weil sie davon ausgeht, dass Organisa-
tionen zunächst einmal existieren und sich dann erst an diesem Prinzip orien-
tieren müssen. Demgegenüber würden wir formulieren, dass formale Rationali-
tät, z.B. als Bestandteil organisationalen Regierungswissens, immanentes und
notwendiges Konstitutionsprinzip von Organisationen überhaupt ist, in wel-
cher konkreten Form dies auch immer empirisch manifest werden mag – ohne
die Evolution abendländischer Rationalität keine Organisation. Organisation
wird von uns somit als ein Modus der Regierung von Gesellschaft innerhalb
der Gesellschaft aufgefasst. Gesellschaft erscheint nicht als institutionelle Um-
welt schon vorgesellschaftlich existierender Organisationen. So ist sowohl die
historische Genese als auch die gesellschaftliche Geltung und Modifikation von
Organisation aus unserer Perspektive nicht hinreichend zu verstehen, ohne die
Fragen geklärt zu haben, was jeweils historisch unter Regierung verstanden
wird, wer regieren kann, wer oder was regiert wird und welches die Bedingun-
gen der Ermöglichung von Formen des Regierens sind, die historisch sowohl
für die Regierenden als auch die Regierten denkbar und praktizierbar erschei-
nen (vgl. Gordon 1991: 3).
Die Thematisierung von Organisation als Regierung bzw. als das Führen
von Führung bewegt sich deshalb auch nicht auf derselben Ebene wie die De-
batten über Management (wie etwa bei Boltanski & Chiapello 2003), sondern
auf einer vorgelagerten. Es geht nämlich um die Frage, wie über Organisation
als Regierungsdispositiv historisch ein Möglichkeitsraum geschaffen wird, der
u.a. Management als gesellschaftlich praktizierbaren Modus der Führung und
als eigenständige, gesellschaftlich gültige Wissensform überhaupt erst ermög-
licht. Die Analyse, dies sei hier nochmals hervorgehoben, zielt auf die Struktu-
rationsprozesse des Ensembles diskursiver und nicht-diskursiver Ordnungsbil-
Das Organisationsdispositiv moderner Gesellschaft 269

dung gesellschaftlicher Kooperation. Organisation als Regierungsdispositiv


bestimmt die Inhalte und die Grenzen dieses Ordnungsensembles, sie begrenzt
damit die Ausbildung von Kontingenz und sie schafft differenzierte Wahr-
scheinlichkeiten hinsichtlich alternativer Praktiken gesellschaftlicher Koopera-
tion, z.B. vermittels der Unterstellung minderer Effizienz. Die Wissensordnung
von Regierung umfasst nicht nur die Art und Weise der Ausübung von Regie-
rung, sondern bestimmt auch, was überhaupt als Regierung begriffen wird und
was nicht.
Wie man an den Debatten im 19. Jahrhundert sehen kann, wurde hier Or-
ganisation als Regierungsform explizit problematisiert und ausgiebig kontrovers
diskutiert. Der zur damaligen Zeit noch nicht abgeschlossene Konstituierungs-
prozess des Organisationsdispositivs erlaubte es, Organisation in einer Form zu
reflektieren, in der noch deutlich zu Tage trat, dass es hierbei um die empi-
risch-faktischen Leitprinzipien, Ideen, Legitimationsweisen, Praktiken und
Institutionen gesellschaftlicher Regulationen und um die damit verbundenen
Vorstellungen effizienter und produktiver Formen gesellschaftlicher Koopera-
tion ging.
Wir haben es im 19. Jahrhundert mit der historischen Eröffnung eines dis-
kursiven Möglichkeitsraums zu tun, in dem das Denk- und Sagbare über Regie-
rung neu geordnet wird. Es bildet sich eine neue Grammatik und Semantik von
Regierung, die nicht nur die bisherigen Vorstellungen vom „politischen Kör-
per“ und dessen Regierung, sondern darüber hinaus die Vorstellungen sozialer
Ordnung überhaupt und deren Bildungsprozess neu definiert und eng an den
Begriff der Organisation bindet. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
lässt sich ein Schließungsprozess dieses diskursiven Möglichkeitsraums beo-
bachten. Dieser zeigt sich nicht nur in der diskursiven Verschmelzung von
Organisation und Ordnungsbildung, wobei der politische Charakter von Orga-
nisation zunehmend in der Hintergrund tritt, sondern zugleich in einem Pro-
zess der „Ver-Selbstverständlichung“ bzw. Institutionalisierung, der zur De-
symbolisierung des historisch kontingenten Charakters von Organisation bei-
trug. Das Ergebnis dieses Schließungsprozesses besteht in der Schaffung eines
Wahrheitsraums, in dem über ein Reglement diskursiver Präskription ein ge-
sellschaftlich gültiges Wissen über Organisation und Regierung bereitgestellt
wird. Dieses Denk- und Aussagesystem beschränkt sich nicht auf die Bestim-
mung des Denk- und Sagbaren, sondern produziert zugleich Effekte bezüglich
des Machbaren, wobei dieser Zusammenhang nicht als ein einseitiges Determi-
nationsverhältnis zu denken ist. Die organisationalen Regierungspraktiken
können nicht schlicht aus den diskursiven Praktiken abgeleitet werden. Viel-
270 Michael Bruch & Klaus Türk

mehr verbinden sich in dem organisationalen Regierungsdispositiv diskursive


und nicht-diskursive Praktiken zu einer Einheit, ohne dass die jeweiligen Prak-
tiken aufeinander zurückgeführt werden können. Die über das organisationale
Regierungsdispositiv ausgeübte Macht besteht in der Schaffung und Konfigura-
tion von Möglichkeitsräumen, wobei wir historisch und analytisch zwischen
jenen Räumen, die als Einzelorganisation bezeichnet werden und jenen gesell-
schaftlichen Räumen, die durch Organisation überhaupt konfiguriert werden,
unterscheiden müssen.

3 Organisation und moderne Gesellschaft3


3.1 Historische Entwicklungszusammenhänge
Mit Organisation entsteht nicht nur eine historisch neuartige Form von Regie-
rung, sondern zugleich werden die Objekte von Regierung neu definiert.4 Beide
Seiten können dabei nicht als voneinander getrennt gedacht werden, vielmehr
setzten sie sich gegenseitig voraus. Organisation bildet sich im Kontext des
Erstarkens des Bürgertums und der durch die bürgerliche Revolution hervor-
gebrachten Regierungskrise, die ihrerseits auf der Durchsetzung einer neuarti-
gen Form gesellschaftlicher Differenzierung beruht, welche die bisher gültigen
Formen gesellschaftlicher Regulation und Akkumulation sowohl hinsichtlich
ihrer Praktizierbarkeit als auch ihrer Legitimation in Frage stellten. Organisati-
on greift diese neuen Differenzierungsformen auf und konfiguriert sie zu einer
der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft adäquaten Form der Machtaus-
übung.
Grundlegend für die moderne Gouvernementalität sind zwei miteinander
verwobene Entwicklungen: zum einen der Konstruktionsprozess der Unter-
scheidung zwischen einem öffentlich-institutionellen und einem „privaten“
Raum, zum anderen die Entwicklung einer Regierungsperspektive und -praxis,
die sich durch die Verbindung einer auf den „Gesellschaftskörper“ insgesamt
gerichteten mit einer individualisierenden Machtausübung auszeichnet. Beide

3 Wir gehen in diesem Abschnitt sehr selektiv nur auf einige wenige Aspekte ein. Für die
inhaltliche Beschreibung von Organisation als Dispositiv verweisen wir auf die Darstellun-
gen in Türk, Lemke und Bruch (2002), insbesondere auf die dortigen Ausführungen zu den
drei Organisationsdimensionen der Ordnung, des Gebildes und der Vergemeinschaftung.
4 Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Prozesse der Ausdehnung des Feldes von Regie-
rung sowie der Redefinition von Objekten und Auftrennung von Zusammenhängen, sodass
sie organisierbar werden. Dies geht notwendigerweise einher mit neuen Formen von ar-
beitsteiliger und funktionaler Differenzierung der Gesellschaft.
Das Organisationsdispositiv moderner Gesellschaft 271

Linien treten besonders seit dem Merkantilismus in Erscheinung, der im Zuge


der Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Ökonomie der Regierung
einen veränderten Inhalt und eine veränderte Form verleiht.
Wir können also in diesem Zeitraum das Aufkommen von Wissensformen
verfolgen, die – und dies verweist nochmals auf die Überschneidung staatlicher
und organisationaler Regierung – als zentrale Bestandteile in das Wissensarse-
nal des Organisationsdispositivs eingehen. Bedeutsam ist dabei, dass die Wis-
senspraktiken rationaler Ordnungsbildung einerseits und Konzepte von Pro-
duktivität und Effektivität andererseits systematisch aufeinander bezogen und
zu einem historisch neuen Kanon von Regierungswissen verbunden werden.
Die Umsetzung dieser Vorstellungen war nicht nur an die Entwicklung neuar-
tiger staatlicher Regierungstechniken (wie etwa der Ausbildung eines Verwal-
tungsstabs, vgl. Oestreich 1969), sondern gleichermaßen an die Schaffung kon-
zentrativer Orte und Räume gebunden5, die – etwa entgegen zünftiger Verfas-
sungen – die Praktizierbarkeit veränderter Formen der Regulation der Koope-
rationsverhältnisse (etwa gemäß den Anforderungen kapitalistischer Produkti-
onsweise) und damit den Prozess „innerer Landnahme“ ermöglichte. Die In-
novation organisationaler Regierung besteht in der Entwicklung einer dynami-
schen Machtausübung. Organisation steht für eine Zugriffsweise, die sich nicht
auf die Abschöpfung von Erträgen beschränkt, sondern darüber hinaus we-
sentlich auf die produktive Regulation der Individuen in Form der Strukturierung
von Zeit und Raum besteht. Es geht um eine Machtausübung, die als kontrol-
lierende und zielgerichtete auf die Entfaltung von Kräften mittels besonderer
Allokationspraktiken gerichtet ist; es handelt sich damit um die Genese eines
spezifischen Paradigmas der Effizienz, das „Produktivität“ an die Stelle von
Raub und bloßer Ausbeutung setzt und somit auch in immanenter Verbindung
zum legitimatorischen Dispositiv der „Wohlfahrt“ steht – und dies etwa seit
dem 18. Jahrhundert.
Der unter Bedingungen absolutistischer Herrschaft beobachtbare Prozess
der individualisierenden und zugleich zusammenfassenden Machtausübung
setzt sich mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft fort und verbindet
sich mit neuen Mustern gesellschaftlicher Differenzierung und Synthesis. Die
bürgerlichen Gesellschaften setzen im Fortgang ihrer Entwicklung im 19. und
20. Jahrhundert unter dem Einfluss liberalistischen Gedankengutes auf Distan-

5 Dabei ist sowohl an soziale Orte wie etwa die „Firma“ zu denken, als auch an geografisch
definierte Räume, die durch Gebäude und Mauern abgegrenzt werden wie Gefängnisse oder
Manufakturen.
272 Michael Bruch & Klaus Türk

zierung und Partialinklusion, reservieren in ihrer Selbstbeschreibung einen


geschützten Raum des privaten Lebens. Faktisch aber produziert diese Tren-
nung gerade den Regierungsgegenstand von Organisationen, indem ein Außen
geschaffen wird, auf das sie zugreifen: Arbeits- und Bildungssubjekte wie auch
-objekte, Körper und Kooperationen, Bedürfnisse und soziale Beziehungen,
Rechtstatbestände, Definitionen so genannter „Sozialer Probleme“ (allgemein
„Problematisierungen“ im Sinne Foucaults) und dergleichen mehr.
Die modernen Gesellschaften reduzieren mit dieser Differenzierungsform
keineswegs den Umfang der Regulation individueller Belange. Im Gegenteil
vervielfacht und vervielfältigt die individualisierende, auf die „Lebendigkeit“
der Menschen gerichtete Machtausübung die Gegenstände von Regierung (vgl.
Bruch 2003). Diese In- und Extensivierung der Machtausübung, die in der
Literatur zumeist anhand der historischen Ausdehnung der Staatstätigkeit do-
kumentiert wird, geht allerdings gerade nicht in der staatlich-juridischen Macht-
ausübung auf. Die Fokussierung einer Macht- und Herrschaftskritik auf den
Staat vor allem in Verbindung mit dem positiven Bezug auf die Stärkung der
Zivilgesellschaft (wie etwa im Kommunitarismus) greift zu kurz, da sie gerade
die Spezifika moderner Macht- und Herrschaftsausübung nicht hinreichend
erfasst (gleiches gilt für die ökonomistischen Varianten der Herrschaftskritik).
Vielmehr wird die für die Moderne typische, gerade nicht auf einen Zentral-
punkt hin ausgerichtete Machtausübung durch eine veränderte, auf dem Orga-
nisationsdispositiv basierende Ökonomie der Herrschaft ermöglicht. Deren
Merkmal besteht in der spezifischen Verteilung und Ausübung von Macht, die
sich in nahezu allen wesentlichen Teilen der Gesellschaft manifestiert; vor
allem in deren so genannten „funktionalen Teilsystemen“. Im Vergleich zu
historischen Formen, die mit der Sichtbarkeit der Macht operieren, die Macht
mit Namen und Orten versehen und in denen sich die Machtausübung auf
Personen und ihre Körper bezieht, operiert das moderne organisationale Regie-
rungsdispositiv mit der Entpersönlichung von Regierungssubjekt und -objekt
sowie mit einer Dezentralisierung der Macht in Form der Vervielfältigung und
Vernetzung ihrer Räume. Die Analyse muss dabei zwischen zwei Richtungen
der Regierung unterscheiden, die je unterschiedliche Machteffekte produzieren.
Nämlich zum einen die introvers und zum anderen die extrovers ausgerichtete
Regierung.
In introverser Hinsicht ermöglicht das Organisationsdispositiv über die Bil-
dung von Einzelorganisationen die Schaffung sozialer Räume, die den selekti-
ven Zugriff auf die als verwertungs- und regulationsrelevant definierten Anteile
der menschlichen Subjektivität erlauben. Im Vergleich zu Formen der Totalin-
Das Organisationsdispositiv moderner Gesellschaft 273

klusion, die dem Modell eines Gewaltverhältnisses folgen, etabliert Organisati-


on ein Machtverhältnis, in dem die Subjekte als eigenständig Handelnde kon-
struiert werden. Dies schließt zwar die vollkommene Berechenbarkeit und
Fügsamkeit der Subjekte aus und bildet somit die Grundlage für das moderne
Transformationsproblem, zugleich aber ermöglicht es den Organisationen,
bestimmte Kosten und Zuschreibungen zu externalisieren, die dann wiederum,
wie etwa im modernen Wohlfahrtsstaat, anderen Organisationen zur Bearbei-
tung übertragen werden.

3.2 Agentschaft
Überdies ermöglicht das Organisationsdispositiv eine Regierungs- bzw. Macht-
ausübung, die weder auf ökonomischem Eigentum noch auf dem Prinzip for-
maldemokratischer Repräsentation beruht. Zentral dafür ist das Konzept der
Agentschaft. Hierbei handelt es sich um eine Akteurskonstruktion, die sich
deutlich von den Vorstellungen des Liberalismus unterscheidet, aber auch in
Differenz steht zu Vorstellungen, wie wir sie in weiten Teilen der Sozialwissen-
schaften finden (vgl. Meyer & Jepperson 2000). Diese Konstruktion ist insbe-
sondere für das Organisationsphänomen von herausragender Relevanz, dem ja
über die Bedeutungskonstellation des Gebildes ein Subjekt- bzw. Akteursstatus
zugeschrieben wird. Nun ist es aber klar und auch juristisch durchaus komplex
geregelt, dass jede Organisation eines sie vertretenen Organs bedarf, wenn etwa
Verträge abgeschlossen oder Rechenschaftsberichte abgefasst werden sollen.
Die natürliche Person des Vertreters handelt dann „im Auftrage“, an Stelle der
Organisation selbst, sie ist „Agent“ für den „Prinzipal“ Organisation. Aber
auch die Organisation selbst tritt durchweg – besonders deutlich bei Verbän-
den – wiederum nur als „Agentin“ ihrer Mitglieder bzw. eines als allgemein
definierten Interesses auf. Ebenso lässt sich individuelles Handeln in organisa-
tionalen Arbeitsrollen als ein Handeln für ein anderes – die Unternehmung, die
Partei, den Staat, die Wissenschaft, die Universität, den Fachbereich, die Bil-
dung, die Nation, die Familie, die Freiheit, die Religion und so fort – begrün-
den, legitimieren und motivieren. In scharfem Kontrast zur sonst üblichen
Bestimmung des Akteurs als gleichsam naturgegebenes Letztelement jeglicher
Gesellschaft, das seine Spezifizität in der rationalen Verfolgung eigener Nut-
zenmaximierung findet, zeichnet sich diese Konstruktion im Wesentlichen
durch ihre Agentschaftsqualität aus.
Gemäß dem üblichen Konzept des Akteurs würde es kaum Schwierigkeiten
bereiten, auch Tieren Akteursqualität im Sinne von Intentionalität und Nut-
zenmaximierung zuzuschreiben; die Exploration des Akteursbegriffs in der
274 Michael Bruch & Klaus Türk

abendländischen Moderne verweist dagegen darauf, dass es das Agieren für


etwas anderes ist, was den menschlichen Akteursstatus ausmacht, also die
Agentschaft. Der Prinzipal kann dabei eine Schicht des Subjektes selbst, ein
anderer Mensch oder ein Kollektiv sein, ein Ziel oder eine Idee, für die man
eintritt, andere, nicht menschliche Lebewesen, allgemeine Prinzipien, Recht,
Gerechtigkeit, Werte, Normen etc. Die Agentschaftsqualität gilt für die Legiti-
mation des modernen Staates und aller parastaatlichen Einrichtungen genauso
wie für alle Organisationen (man sehe sich nur einmal die in den Satzungen
bzw. Gesetzen formulierten Zweckbestimmungen an) sowie zumindest für alle
Handlungen, die im Kontext von Funktionssystemen der Gesellschaft stattfin-
den: Kein Politiker, kein Lehrer, kein Wissenschaftler, kein Anwalt und kein
Richter würde seine Praktiken mit dem liberalistisch-individualistischen Prinzip
des Eigennutzes begründen, sondern alle würden sich darauf berufen, dass sie
für etwas anderes handeln. Ein Verhalten gemäß den Prinzipien des „methodo-
logischen Individualismus“ gilt geradezu als unschicklich, anstößig. Auch für
alle anderen im System der Erwerbstätigkeit Arbeitenden geht es stets um Ar-
beit in fremdem Auftrag und sogar der „kapitalistischste“ Unternehmer wird
sich darauf berufen, dass er im Namen des Wohlstandes der Nation agiere.
Aber auch sonst wird derjenige hoch geschätzt, bei dem eine möglichst große
Distanz zwischen Eigennutz und dem Prinzip der agentschaftlichen Hand-
lungsbegründung besteht (für Meyer und Jepperson bestimmt sich sogar die
Stratifikation des Sozialprestiges nach dem Ausmaß dieser Distanz). Meyer und
Jepperson (2000) entwickeln damit gleichsam beiläufig eine Erweiterung der
Weberschen Typologie legitimer Herrschaft, hier nun verstehbar als „Herr-
schaft kraft agency“.
Agency entfaltet eine doppelte Wirkung: Zum einen dient sie Organisatio-
nen als eine Legitimation, die gerade nicht den formal-legalen demokratischen
Prinzipien folgt, sondern in der Darlegung besteht, dass sie allgemeine Interes-
sen oder Interessen derjenigen vertreten, die nicht für sich selbst sprechen
können (Wale, ethnische Minderheiten). Neuere Regierungskonzepte, die wie
etwa Global Governance der so genannten Zivilgesellschaft und mit ihr den
NGOs eine zentrale Rolle hinsichtlich globaler Steuerungsprozesse zuschrei-
ben, basieren wesentlich auf diesem Konzept. „Es kommt also zu der bekann-
ten Repräsentationsparadoxie, dass diejenigen, die repräsentieren, die Reprä-
sentierten erst erzeugen“. (Demirovic 2001: 144) Zum anderen trägt dieses
Konzept zu einer Ausdehnung organisationaler Regierung in Form der Verviel-
fältigung von Regierungsobjekten bei.
Das Organisationsdispositiv moderner Gesellschaft 275

Keinesfalls allerdings ist „agency“ als bloße Scheinlegitimation zu begreifen,


sondern ganz im Gegenteil: Dieses Prinzip ist kulturell tief verankert und kon-
stitutiv für die Definition eines Akteurs (Individuum, Staat, Organisation) in
der Moderne. Es ist selbst eine Institution und erzeugt einen inzwischen riesi-
gen institutionellen „Überbau“ von Agenten, innerhalb dessen etwa die Inte-
ressenorganisationen einen bedeutenden Platz einnehmen. Wie man leicht
sehen kann, ist das Konzept der Agentschaft für die dualisierende Differenzie-
rung in „öffentlich-institutionell“ und „privat“ konstitutiv und damit auch für
die weiteren Differenzierungsprozesse innerhalb des organisational-institutio-
nellen Bereichs.
Der institutionelle, organisationsgetragene Bereich der Gesellschaft – insbe-
sondere der Komplex funktionaler Teilsysteme – ist um akkumulierbare Güter
herum gebildet, und zwar um Güter, die in der Lage sind, als Ressourcen für
eine systematische Erzeugung sozialer Ungleichheit zu dienen, also, wie Bour-
dieu (1998) es ausdrückt, Kapitalfunktion besitzen. Zentral sind dabei seit dem
19. Jahrhundert einerseits die Monopolisierung der Verfügung über Produkti-
onsmittel als ökonomisches Kapital und andererseits die Monopolisierung von
Gewalt in Form des staatlichen konstitutionell-rechtsförmigen Erzwingungs-
kapitals, für welches ebenfalls gilt, dass es sich im Verlaufe der Geschichte der
letzten 200 Jahre drastisch ausgedehnt hat. Aber auch Wissenschaft, Bildung,
Technologie und soziales Beziehungskapital (Klüngel, Seilschaften und Mafio-
sitäten) fügen sich diesem Muster. Sämtlich sind sie organisationsgebunden.
Bei der dualisierenden Differenzierung handelt es sich im Unterschied zur
vormodernen Gesellschaft nicht primär um eine personale Differenzierung,
welche die Arbeit im institutionellen Herrschaftssystem einer bestimmten Klas-
se oder einem Stand überlässt, vielmehr ist es gerade kennzeichnend für die
Moderne, dass die allermeisten Menschen in beide Welten involviert sind,
wenn auch nicht mit gleichen Kompetenzen ausgestattet. Die Unterscheidung
zwischen einem öffentlich-institutionellen und einem privaten Raum geht
durch fast alle beteiligten Personen hindurch, wird von fast allen vollzogen.
Das „fragmentierte Subjekt“ (vgl. Hall 1999), das je nach Kontext andere Rol-
len zu spielen in der Lage ist und über eine hinreichende Fähigkeit zur Rollen-
distanz verfügt, ist für diese Differenzierung eine notwendige Voraussetzung.
Je mehr die Subjekte zu dieser Rollentrennung befähigt sind, je weniger sie vor
allem über ihre Rolle im institutionellen System ihre Selbstdefinition, ihre Iden-
tifikation, beziehen (man denke an das Verblassen von Berufsidentitäten), des-
to mehr kann eine Entkopplung zwischen den beiden Welten stattfinden und
desto mehr kann sich das institutionelle System ausdehnen, verselbstständigen
276 Michael Bruch & Klaus Türk

und eigenen abstrakteren Logiken folgen, weil es weniger an individuelle Mo-


tivlagen gebunden ist.

4 Ressourcenbündelung und soziale Ungleichheit


Organisation ist ein Regierungsdispositiv, das allokative und autoritative Res-
sourcen (Giddens 1988) bündelt und miteinander verknüpft. Es werden somit
nicht nur Orte der Ordnung und des kontrollierten legitimen Zugriffs auf Ar-
beit hervorgebracht, sondern auch Zentren der Ansammlung von Produk-
tionsmitteln (materieller wie immaterieller Art) und disparitärer Verfügungs-
rechte über diese. Im System funktionaler Differenzierung dient Organisation
der Akkumulation von „Medienkapital“, im System der disparitären Differen-
zierung produziert Organisation eine duale Struktur sozialer Ungleichheit.
In historischer Perspektive lässt sich zeigen, dass die Ausdifferenzierung
funktionaler Teilsysteme von entstehenden Funktionseliten betrieben wird, die
sich jeweils soweit wie möglich von Eingriffen der anderen emanzipieren woll-
ten: Kaufleute und Industrielle befreien sich vor allem von Religion und
Staat/Politik, die staatlichen Herrscher von der organisierten Kirche, die Wis-
senschaft von Religion und staatlicher Regulation, die staatliche Rechtspre-
chung soll von ökonomischen Dispositiven unabhängig sein, um nur an einige
Prozesse zu erinnern. Es entwickeln sich in allen diesen Sphären professionelle
Virtuosen und spezielle Besitzklassen, die ihre jeweilige „Kapitalsorte“ zu hü-
ten und zu mehren trachten. Das Rechtsinstitut des modernen Privateigentums
ist in diesem Zusammenhang ebenso ein Mechanismus der „sozialen Schlie-
ßung“ wie organisationsvermittelte Regeln der Mitgliedschaft, die sich z.B. an
bestimmten formalen Bildungszertifikaten orientieren oder schlicht an Bezie-
hungen und Vergemeinschaftungen.
An die Stelle des Privateigentums tritt allerdings in den vergangenen hun-
dert Jahren verstärkt Organisation mit ihrer hierarchischen Differenzierung
von Verfügungsmacht, die weitgehend rein funktional und nicht herrschaftlich
zu legitimieren versucht wird (vgl. Schumm-Garling 1972; Pross 1965). Die
Medien dieser Funktionssysteme sind nämlich nicht nur akkumulationsfähig,
sondern auch differenzierungsfähig. Diese Eigenschaft prädestiniert sie als
Basis disparitärer Differenzierung. Einfluss, Status, Ansehen beruhen nicht auf
bloßem Eigentum bzw. Besitz an Geld, formal-positionalen Machtmitteln,
Wissen oder wissenschaftliche Reputation, sondern allein auf Differenzen:
Geld verschafft nur Einfluss, wenn man mehr hat als andere, eine formale
Machtposition bestimmt sich in Differenz zu höher bzw. niedriger ausgestatte-
Das Organisationsdispositiv moderner Gesellschaft 277

ten Positionen, Wissen ist keinesfalls an sich Macht, sondern nur, wenn man
um mehr bzw. spezielleres, knapperes Wissen als andere verfügt und wissen-
schaftliche Reputation entsteht ebenfalls nur in einer skalaren Dimension.
Damit erzeugen alle diese Medien automatisch Hierarchien und Knappheiten
bezüglich ihrer Verfügbarkeit. Sie können deshalb auch im Sinne von Hirsch
(1980) als „Positionsgüter“ bezeichnet werden, also als Güter, deren Wert sich
nicht in einem absoluten materiellen Gebrauchsnutzen niederschlägt, sondern
aus ihrer quantitativen bzw. qualitativen Differenz zur Verfügung anderer über
dieselbe Güterart resultiert. Für Positionsgüter ist es typisch, dass die individu-
ellen Anstrengungen um ihre Vermehrung oder Verbesserung nicht zu einer
Egalisierung führen, sondern zu einer Verschiebung der stratifikatorischen
Leiter nach oben oder zu einer Neudefinition der Wertkriterien.
Es fällt nun auf, dass in der Gegenwartsgesellschaft genau diejenigen Me-
dien, entlang derer sich die Funktionssysteme gebildet haben, nicht nur Medien
der systemischen Zirkulation und Allokation sind, sondern auch Medien der
Definition sozialer Ungleichheit, sozialer Schichtung. Die gesamte sozialstruk-
turell arbeitende Ungleichheitsforschung bis hin zum „Armuts- und Reich-
tumsbericht“ der gegenwärtigen Bundesregierung verwendet wie die Alltags-
menschen genau diese teilsystemischen Erfolgsmedien als Kriterien sozialer
Stratifizierung bzw. ihrer Abbildung in Tabellen und Theorien. Und wieder
stoßen wir auf die Organisationsform, die in diesem Zusammenhang dazu
eingesetzt wird, durch interne Hierarchisierungen, durch Stellen- und Positi-
onsstrukturen Zugänge zu und Zuteilungen von Medien zu institutionalisieren,
also die Positionierungshierarchien für die Positionsgüter zu definieren.
Beginnend schon im 19. Jahrhundert haben sich diese Strukturkonfigurati-
onen der einzelnen Organisationen und Organisationsarten durch Imitation
und Evolution soweit aneinander angeglichen, dass auf gesamtgesellschaftlicher
Ebene soziale Schichten (oder auch Klassen) beobachtbar werden. Damit wer-
den diese Medien nicht nur zu einem Mittel statistischer disparitärer Differen-
zierung, sondern ihre ungleiche, organisational determinierte Distribution be-
stimmt Partizipationsmöglichkeiten am institutionellen Apparat. Nicht nur
aufgrund des ideologischen Postulats der Chancengleichheit aller zur Partizipa-
tion an den institutionellen Teilsystemen, sondern auch auf Grund des fakti-
schen Zwanges zu Partizipation (zur „Inklusion“), sind diese Medien für Moti-
vierungs- und Disziplinierungszwecke einsetzbar. Kein Mensch benötigt für ein
„gutes Leben“ Geld, politischen Einfluss, Bildung (nicht einmal Lese- und
Schreibfähigkeit) oder wissenschaftliche Forschung. Hunderttausende von
Jahren sind Menschen ohne dies ausgekommen. In der modernen Gesellschaft
278 Michael Bruch & Klaus Türk

ist aber trotz der Existenz zweier Welten eine Partizipation am institutionellen
System über Teilnahmerollen für eine „bürgerliche“ Existenz unabdingbar. Die
Verteilung von Naturalien anstelle von Geld, die Verwehrung von Wahl- und
politischen Organisationsrechten, Beschneidung von „Bildungschancen“ und
Behinderung der Teilhabe am „wissenschaftlich-technischen Fortschritt“ gelten
deshalb nicht nur als die typischen Merkmale marginaler Existenzen in der
Moderne, sondern zum Teil auch als Strategien des Ausschlusses (z.B. von
ethnischen Minderheiten, lange Zeit hindurch von Frauen). Inklusion heißt
dann Unterwerfung unter die Logiken des institutionellen Systems als unab-
dingbare Voraussetzung für die Anerkennung als vollgültiges Mitglied der Ge-
sellschaft; Inklusion heißt aber noch lange nicht relevante Teilhabe, da die syste-
mischen Medien nicht etwa marktförmig allen prinzipiell mit gleichen Chancen
zur Verfügung stehen, sondern an organisationale Hierarchien gebunden sind.
Wenn nur noch eine lose Kopplung zwischen dem „öffentlich-organisatio-
nalen“ und dem privaten Bereich existiert, müsste dies auch Konsequenzen für
die disparitäre Differenzierung haben. Ungleichheiten im institutionellen Sys-
tem spiegeln sich möglicherweise dann nicht eins zu eins im Bereich des priva-
ten Lebens wider. Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen, um zu
behaupten, dass die Gouvernementalität der modernen Gesellschaft auf der
Trennung von privat-individuellem Ressourcenbesitz und institutionell-
organisationalen Verfügungsrechten über Ressourcen beruht. Mit der Auftren-
nung in die zwei Welten vollzieht sich auch eine Entkopplung zweier Struktur-
komplexe disparitärer Differenzierung. Dies ist für die ideologische Stabilität
der modernen Gesellschaft von außerordentlich großer Bedeutung, weil auf
diese Weise dem für sie fundamentalen Gleichheitspostulat Rechnung getragen
werden kann bei zugleich teils gewaltiger Disparität von faktischer Verfü-
gungsmacht im institutionellen System (vgl. Meyer 1994: 735ff.). Staatsbeamte,
Angestellte in Aktiengesellschaften, ehrenamtliche Vereinsvorstände (herausra-
gend Sport- und Kunstvereine), um nur einige Beispiele zu nennen, verfügen
im Rahmen ihrer Organisationsrollen über Milliardenbeträge, die politischen
Akteure der großen Interessenverbände, Parteisekretäre und Gewerkschafts-
funktionäre verfügen über großen politischen Einfluss, wissenschaftliche
Großtheoretiker bestimmen die jeweils herrschenden Paradigmen, ohne dass
sich solche Positionen in der herkömmlichen soziologischen Ungleichheitsfor-
schung überhaupt niederschlügen, weil sie nur gering mit Merkmalen individu-
ell-persönlicher Ungleichheit im Hinblick auf übliche Disparitätskriterien kor-
relieren. Die Differenzierung in die zwei Welten erlaubt also, die private soziale
Ungleichheit auf einem Niveau unterhalb der Skandalisierbarkeit zu halten
Das Organisationsdispositiv moderner Gesellschaft 279

(wenn auch hier immer wieder einmal Entrüstungen vorkommen), indem die
wesentlichen Disparitäten gleichsam durch einen Buchhaltungstrick auf den
organisationalen Bereich zugerechnet werden. Damit kann der Gleichheitsmy-
thos aufrecht erhalten werden, vor allem dann, wenn es gelingt, die trotzdem
noch auftretenden sozialen Disparitäten mit dem Leistungsprinzip im Hinblick
auf das institutionelle System zu rechtfertigen (vgl. auch Meyer 1994).
In besonders extremer Weise wurde diese Abkopplungsstrategie von real-
sozialistischen Gesellschaftssystemen in Kraft gesetzt, in denen die Differen-
zen im privaten Bereich noch sehr viel geringer waren als in den kapitalisti-
schen Demokratien, die organisationale Machtverteilung sich aber durch krasse
Machtdifferentiale auszeichnete. Dort hatte das Gleichheitsprinzip einen ideo-
logisch besonders zentralen Stellenwert, sodass die massiven Disparitäten na-
hezu vollständig auf das institutionelle System umgebucht werden mussten.
Die besondere bürokratische Rigidität dieses Systems wurde dann mit rein
sachlich-objektiven, funktionalen Erfordernissen zu legitimieren versucht.
Organisationen generieren und reproduzieren aber nicht nur soziale Dispa-
ritäten in Verbindung mit der Differenzierung in zwei Welten und dem Operie-
ren der institutionellen Teilsysteme, sondern sie sind auch soziale Orte der
Nutzung, Reproduktion, Verstärkung und Verbreitung von Mustern sozialer
Ungleichheit, die aus anderen Bereichen der Gesellschaft stammen. Sie vertei-
len in diesem Falle soziale Güter gemäß Unterscheidungskriterien, die nicht
von ihnen selbst stammen. Zu denken ist dabei vornehmlich an soziale Dis-
kriminationen entlang askriptiver Merkmale wie Herkunft, Ethnie, Rasse, Ge-
schlecht und Alter. Wir können hier nur auf das Buch „Durable Inequality“
von Charles Tilly (1998) verweisen. Organisation erweist sich somit zusam-
mengefasst als das Dispositiv, welches das moderne Regime sozialer Ungleich-
heit regiert.

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Das Organisationsdispositiv des
Journalismus

Klaus-Dieter Altmeppen

1 Organisationsbegriffe und Journalismusforschung


Organisation ist ein Phänomen mit enorm vielen Facetten, wie die Fülle an
Blickwinkeln der Organisationsforschung zeigt (vgl. zur Einführung Allmen-
dinger & Hinz 2002; Kieser & Kubicek 1992; Schreyögg 1999). Dies ist auch
darauf zurückzuführen, dass die Organisationsforschung an der Nahtstelle von
Organisationssoziologie und Betriebswirtschaft operiert, wodurch soziologi-
sche und ökonomische Begriffsinstrumentarien ineinanderfließen, wie etwa am
Begriff des ökonomischen Neo-Institutionalismus deutlich wird, mit dem Mo-
delle wie die Transaktionskostentheorie und ihre Abwandlungen in die Debatte
eingeführt werden. Ein zweites Kennzeichen der modernen Organisationsso-
ziologie besteht darin, dass Organisation als Konstrukt nicht mehr allein für die
Analyse der Koordination und Motivation der Operationen von Organisati-
onsmitgliedern verwendet wird. Dieser Untersuchungsfokus wird zunehmend
ergänzt durch Arbeiten, die Organisation als gesellschaftskonstituierendes Mus-
ter betrachten. Während es der ersten Forschungsrichtung darum geht, die
typischen Strukturen innerhalb konkretisierbarer Organisationen zu analysie-
ren, beschäftigt sich die zweite Richtung mit der Rückkehr der Organisation in
die Gesellschaft und der grundlegenden Bedeutung von Organisationsprinzi-
pien für gesellschaftliche Ordnung (vgl. Ortmann, Sydow & Windeler 1997).
Diese Frage steht auch im Beitrag von Bruch und Türk im Vordergrund.
Sie stellen Organisation als gesellschaftskonstituierendes Prinzip neben Markt
und Staat und arbeiten die Grundzüge des Organisationsdispositivs heraus. In
diesem Beitrag werden daher diese Grundprinzipien, die auf den ersten Blick
nicht zur organisationalen Journalismusforschung passfähig sind, rekonstruiert
(Kapitel 2). Zwar wird die Organisationsförmigkeit des Journalismus nicht
bestritten, in der Journalismusforschung dominieren jedoch Studien zur In-
282 Klaus-Dieter Altmeppen

nenperspektive, wie eine kurze Zusammenfassung in Kapitel 3 zeigt. Dass


beide Sichtweisen durchaus zusammenpassen, sollen die Ausführungen in
Kapitel 4 zeigen. Dort steht der Begriff der Struktur im Vordergrund, der eine
verbindende Klammer herstellt zwischen dem (gesellschaftlichen) Organisati-
onsdispositiv und der Analyse von Einzelorganisationen. Die Grundlage dafür
bildet die Strukturationstheorie (vgl. Giddens 1997). Ihr verbindender Charak-
ter offenbart sich schon dadurch, dass Bruch und Türk sich in ihrer Konzepti-
on auf die Strukturationstheorie berufen und dass es in der Journalismusfor-
schung Anwendungsvarianten dieser Theorie gibt. Die Strukturationstheorie
erlaubt es, das Verhältnis der (journalistischen) Organisation zur Gesellschaft
(Funktion) zu thematisieren und zu prüfen, wie die Organisiertheit einzelner
journalistischer Organisationen zustande kommt. Dabei spielen die organisati-
onalen Ziele eine ebenso bedeutsame Rolle wie die Stellung des Redaktionsma-
nagements.

2 Zum Verständnis von Organisation bei Bruch und Türk


Innerhalb der Organisationstheorien und -forschung sind verschiedene Rich-
tungen auszumachen. Eine davon zeigen Bruch und Türk auf, deren Argumen-
tationslinie sich von den meisten anderen in einem entscheidenden Punkt ab-
hebt. Sie verfolgen nicht die Frage, wie die einzelne bestimmbare Organisation
(ein Unternehmen, ein Verband, der Journalismus) die Grundprobleme der
Organisation (Koordination und Motivation) löst, sondern sie argumentieren,
dass Organisation eines der grundlegenden Strukturprinzipien von Gesellschaft
ist. Soziale Ordnung wird, so ihre These, quer durch alle gesellschaftlichen
Ebenen wesentlich durch Organisation hergestellt. Um den Unterschied von
Einzelorganisation und Organisation als gesellschaftlichem Strukturprinzip
kenntlich zu machen, unterscheiden Bruch und Türk (in diesem Band) zwi-
schen Organisation und Organisationen. Der Singular Organisation bezeichnet
danach ein Regierungsdispositiv, eine „Konfiguration von Wissens- und Hand-
lungspraxen, die sich historisch zu einer Einheit der Regulation gesellschaftli-
cher Kooperations- und Selbstverhältnisse verbinden.“ Den Autoren geht es in
ihrem Beitrag nur sekundär um die organisationale Ebene, wie also Organisati-
onen strukturiert sind und welche Abläufe in Organisationen geschehen. Es
geht ihnen vielmehr um eine Bestimmung des Stellenwerts von Organisation in
der Gesellschaft, sie wollen die Bedeutung von Organisation als gesellschafts-
prägende Institution neben Markt und Staat herausstreichen. Sie spezifizieren
Organisation als Dispositiv nach drei Dimensionen, der extensionalen, der
Das Organisationsdispositiv des Journalismus 283

intensionalen und der strategischen und beschreiben damit die kommunikati-


ven und strukturellen Elemente von Organisation.
Organisation geschieht, so ein weiterer zentraler Argumentationsstrang von
Bruch und Türk, nur in Machtverhältnissen, die mit dem Begriff der Regierung
bezeichnet werden. Den Begriff der Regierung lösen sie aus der gebräuchlichen
Verwendung heraus und definieren ihn als „eine spezifische Art der Konfigura-
tion und Systematisierung von Machtverhältnissen“ (ebd.: 268). Machtverhält-
nisse werden, in Anlehnung an Giddens (1997) als Verfügung über allokative,
autoritative und symbolische Ressourcen definiert. Diese Verfügung liegt häu-
fig, aber nicht immer, in den Händen der „Führung“, wobei Machtverhältnisse
Konstellationen der „Meta-Führung“ sind, die als Gouvernement (Regierung)
ein spezifisches Set (Dispositiv) von Wissen und Praktiken der Selbst- und
Fremdorientierung einrichten. Demnach wird Macht in Organisationen, allen
möglichen Eigenarten spezifischer Organisationen zum Trotz, grundsätzlich
auf die gleiche Art und Weise ausgeübt.
Bruch und Türk fragen vorrangig danach, wie die Gesellschaft durch Orga-
nisation konfiguriert wird. Sie bestreiten die Annahme einer Differenz von
Gesellschaft und Organisation, sondern gehen dagegen davon aus, dass Orga-
nisation ein Modus der Konstituierung von Gesellschaft („ein Modus der Re-
gierung von Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft“, Bruch & Türk, in diesem
Band: 268) ist. Organisation als Regierungspraxis der Gesellschaft zeichnet sich
durch „eine eigene Modalität der Ordnung und Machtausübung“ aus (ebd.:
267). Die Autoren wollen eine Theorie für diese Ordnung und die Machtver-
hältnisse entwerfen, wobei Ordnung auch als Organisationsförmigkeit bezeich-
net wird.
Erst auf einer zweiten Ebene sind Einzelorganisationen (wie etwa der Jour-
nalismus) Erkenntnisgegenstand für Bruch und Türk. Organisation als Disposi-
tiv bedeutet, dass sich die grundsätzlichen Muster des Dispositivs Organisation
im Handeln und Wirken von spezifischen Organisationen wiederfinden. Der
Journalismus organisational betrachtet ist demzufolge primär ebenfalls mit dem
Set von Regierungspraxen als einem gesellschaftlichen Ordnungsmuster zu
analysieren, das organisationsübergreifend wirksam ist. Darüber hinausgehend
können die Regierungspraxen aber durchaus von Organisation zu Organisation
differieren, einzelne Organisationen sich durch ihre Organisationsförmigkeit
voneinander unterscheiden lassen, ohne allerdings dem Dispositiv der Organi-
sation damit vollständig ausweichen zu können.
Für eine Weiterentwicklung der Zusammenhänge von Organisation und
Journalismus bedeutet diese Sichtweise, dass einerseits zu diskutieren ist, was
284 Klaus-Dieter Altmeppen

das Organisationsdispositiv für die Institution Journalismus bedeutet, dem


bekanntermaßen besondere konstitutive Leistungen innerhalb der Gesellschaft
abverlangt werden. Andererseits ist zu prüfen, inwieweit die Organisation des
Journalismus den Regeln des Organisationsdispositivs folgt bzw. ob abwei-
chende Strukturprinzipien im Journalismus zu erkennen sind.
(1) Organisation als Regierungsdispositiv ist, so sehen es Bruch und Türk,
ebenso wie Markt und Staat anonym, nicht einzelnen Organisationen
zuschreibbar. Organisation als Regierungdispositiv setzt voraus, dass
Organisation eine die Gesellschaft intensiv formende Kategorie ist,
deren Organisationsförmigkeit einzelorganisational übergreifende Ele-
mente aufweist und einen Machtfaktor sui generis darstellt. Journalis-
mus organisational zu analysieren bedeutet vor diesem Hintergrund,
dass Journalismus qua organisationalem Status zum Machtgefüge der
Organisation in der Gesellschaft zählt. Nur zweitrangig ist dabei die
Frage, wie sich der Journalismus organisiert und ob sich seine Organi-
sationsform von anderen Organisationen unterscheidet. Zu fragen ist
dann, ob Journalismus als Organisation noch ein – wie auch immer
gearteter – Sonderstatus aufgrund der gesellschaftlichen, funktionalen
Erwartungen zukommt, wie sie in Pressegesetzen und dem Betriebs-
verfassungsgesetz zum Ausdruck kommt. Dass derartige „Sonderstel-
lungen“ von Organisation durchaus möglich sind, gründet darin, dass
„die Strukturationseffekte von Organisationen nicht beliebig oder gar
offen sind“ (ebd.: 268). Vielmehr ergeben sich aus dem interorganisa-
tionalen Zusammenspiel Einflussformen, so dass „Organisation als ein
begrenztes Möglichkeitsfeld von Praktiken die Möglichkeitsfelder an-
derer gesellschaftlicher Praktiken systematisch öffnet bzw. schließt
und damit die Entwicklung bestimmter gesellschaftlicher Praktiken
ermöglicht bzw. behindert.“ (ebd.) Damit gerinnt die Annahme, dass
der Journalismus mit seiner Funktion der Beobachtung der Gesell-
schaft und der Vermittlung dieser Beobachtungen an die Gesellschaft
zu einem wesentlich größeren Maße als andere Organisationen zu den
Öffnungs- oder Schließungsprozessen beiträgt, zu einer Frage nach
den Machtmöglichkeiten des Journalismus, ihrer Entstehung, ihrer
Legitimation, ihrer Durchsetzung und ihren Folgen.
(2) Ein zweiter Blick richtet sich auf die Führung von Journalismus und
damit auf Faktoren etwa der Corporate Governance. Zwar ordnen
Bruch und Türk auch diesen Bereich nicht als klassische Management-
Das Organisationsdispositiv des Journalismus 285

forschung ein, sondern als die (vorgelagerte) Frage, wie Management


als Möglichkeitsraum überhaupt entsteht und wirkt, da Machtverhält-
nisse an soziale Beziehungen gekoppelt sind. Eine organisationale Be-
trachtung des Journalismus muss sich demnach mit Steuerungs- und
Machtpotenzialen von Management generell auseinandersetzen. Da
ein wesentliches Machtpotential von Management darin liegt, die Or-
ganisationsziele und die Formen ihrer Umsetzung festzulegen, muss
hinsichtlich des Journalismus zuvorderst erkundet werden, aufgrund
welcher Mechanismen das Management strukturelle Machtverhältnisse
durchsetzen und verändern kann. Einen Hinweis darauf geben Bruch
und Türk mit der Strukturationstheorie, die nach der Regelsetzung
und der Ressourcenverteilung fragt.
(3) Wenn Organisation ein grundlegendes gesellschaftliches Ordnungs-
muster ist, bleibt trotzdem die Frage, wie die Einzelorganisation dieses
Ordnungsmuster anwendet, reproduziert und modifiziert, kurz gesagt,
wie das Organisationsdispositiv umgesetzt wird. Dies führt dann zu
den Formen der Strukturation auf der Einzelorganisationsebene und
den dortigen Ordnungsmustern und zu der Frage, wie Organisation
als Kategorie formuliert sein muss, um bestimmte Organisationen –
wie etwa Medien und Journalismus – analytisch erfassen und vor allem
auch unterscheiden zu können. Hierhin gehört zudem die Frage, wie
Organisation als gesellschaftlich strukturierendes Muster im Verhältnis
zu den Individuen steht, die durch Organisation koordiniert und mo-
tiviert werden sollen.
(4) Der letzte Komplex schließlich berührt, was Bruch und Türk immer
wieder mit der je historischen Spezifizität von Organisation anspre-
chen, womit die Formen und Folgen von Strukturveränderungen an-
gesprochen sind. Definiert man Struktur als den Leitbegriff und ord-
net Organisation als eine dominante Struktur darunter ein, gerät die
Veränderung von Organisation zu einem Indikator für strukturellen
Wandel. Was sind dann aber, so ist zu fragen, die Kriterien für diesen
organisationalen Wandel, dessen induktive Ermittlung (also die Ver-
änderung von Redaktionsstrukturen beispielsweise) auf der aggregier-
ten Ebene einen Wandel von Organisation und der Art ihres Regie-
rungsdispositivs indizieren würde?
Organisation ist, Bruch und Türk folgend, auch ein Dispositiv des Journalis-
mus, der somit übergreifenden Kriterien der Organisation folgt, von diesem
286 Klaus-Dieter Altmeppen

Dispositiv aber nicht beherrscht wird, sondern durch eigene Zielsetzungen und
Modifizierungen eine angepasste Organisation annehmen kann. Im Folgenden
sollen diese Aspekte ausführlicher diskutiert werden.

3 Organisation und Journalismus:


Analysemuster der Journalismusforschung
Die journalistische Organisationsforschung hat sich teilweise an organisations-
soziologischen Vorlagen orientiert und dabei so etwas wie eine Redaktionsbe-
triebslehre entwickelt. Sie ist aber auch organisationstheoretisch eigene Wege
gegangen, die lange Zeit systemtheoretisch inspiriert waren – und immer noch
sind. Zunehmend werden aber auch Anregungen der Strukturationstheorie
aufgegriffen und zu organisationalen Modellen verdichtet. Diese einzelnen
Analysemuster sollen im Folgenden kurz umrissen werden.

3.1 Journalistische Organisationen und Redaktionsbetriebslehre


Organisation wird, so Bruch und Türk, in den Sozialwissenschaften durchweg
als eine wissenschaftliche Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Das sieht in der
Journalismusforschung ein wenig anders aus, wie der Korpus an theoretischen
wie empirischen Studien zeigt (vgl. zusammenfassend Altmeppen 2006; Esser
& Weßler 2002; Meier 2002), die die Organisation des Journalismus thematisie-
ren. Die Erforschung der organisationalen Voraussetzungen des Journalismus,
bekannt geworden als Redaktionsforschung, bildet nur einen Schwerpunkt der
Journalismusforschung, neben Studien zu Selbstverständnis und beruflichem
Rollenverständnis beispielsweise.
Zudem hat die Redaktionsforschung in all den Jahren nur ansatzweise Bö-
gen zur Organisationstheorie und -soziologie geschlagen. Die Grundlage der
meisten Studien zu journalistischer Organisation bilden die klassischen An-
nahmen der Organisationslehre, diese will „Richtlinien für die Gestaltung effi-
zienter Organisationsstrukturen erarbeiten bzw. [...] Manager lehren, wie sie
organisieren können oder sollen“ (Kieser & Kubicek 1992: 38). Zwar sind die
Kenntnisse von funktionaler und divisionaler Organisation, von Ein- und
Mehrliniensystem fundamental für das Verständnis organisationaler Vorgänge,
aber diese Art von Redaktionsbetriebslehre ist zu sehr an schematischen Vor-
stellungen von Hierarchie, geregelten Produktionsprozessen und planbaren
Produkten orientiert und kann beispielsweise die Folgen strukturellen Wandels
nicht befriedigend erfassen.
Das Organisationsdispositiv des Journalismus 287

So ist mittlerweile schon allein der Begriff „Redaktionsforschung“ anachro-


nistisch angesichts von Lokalredaktionen, die als Profitcenter outgesourct wer-
den, angesichts einer zunehmenden Zahl an Mediendienstleistern, derer sich
die „Redaktionen“ als Zulieferer bedienen und angesichts einer zunehmenden
Zahl an freien oder festen freien Journalisten. All diese organisationalen Entitä-
ten sind nicht in der Redaktion beheimatet, die somit längst nicht mehr „der
Ort für die Interpenetration von Journalisten als Akteuren und Journalismus
als gesellschaftlichem Funktionssystem“ ist (Scholl & Weischenberg 1998: 156).
Für derartige Funktions- und Strukturveränderungen reicht die Redaktionsbe-
triebslehre als Analysekonstrukt nicht aus.

3.2 Journalistische Organisationen und Systeme


So wundert es nicht, dass die Standards der Redaktionsbetriebslehre in den
meistern Fällen mit komplexeren Modellen gemischt werden. Als beständigste
„Zutat“ erweist sich die für die organisationale Journalismusforschung grund-
legende Studie von Rühl (1979), dessen Konzeption von System, Subsystemen
und Intermediärsystemen sowie die Input- und Outputorientierung nach wie
vor Bestand haben. Doch obwohl Begriffe wie Struktur, Entscheidung und
Kontingenz in der Organisationsforschung mit eigenen Modellen breit vertre-
ten sind, gibt es nur wenige Journalismusstudien, die dieses Inventar organisa-
tionstheoretisch nutzen. Organisational inspirierte Journalismusstudien rekur-
rieren entweder auf die (relativ simple) Organisationslehre oder sie leiten Orga-
nisation systemtheoretisch ab, wie etwa beim redaktionellen Entscheidungs-
handeln (vgl. Marcinkowski 1993) oder bei den Begriffen Rolle und Programm
(vgl. Blöbaum 1994). So erhält gerade der Programmbegriff in der Journalis-
musforschung eine zentrale Bedeutung, obwohl er in der Organisationsfor-
schung nur eine Organisationsstruktur unter anderen darstellt (vgl. Kieser &
Kubicek 1992).
Dies ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass die Systemtheorie we-
sentliche Begriffe der Organisationsforschung inkorporiert, wie etwa Organisa-
tion selbst, aber auch Entscheidung, Strukturen und Kontingenz. Auch der
Rollenbegriff ist in der Journalismusforschung Grundlage einer Vielzahl von
Studien, da er sowohl für journalistische Organisationsforschung (vgl. Blöbaum
2000; Rühl 1979) wie auch beim journalistischen Selbstverständnis (vgl. Dons-
bach 1982; Junghanns & Hanitzsch 2006: 423; Scholl & Weischenberg 1998:
157ff.) verwendet wird. Mit der Organisations- und Managementforschung
aber, die sich mit der Entstehung, Entwicklung und dem Einfluss von Positio-
288 Klaus-Dieter Altmeppen

nen und Stellen beschäftigen, ist er bislang nicht verbunden worden (vgl.
Schreyögg 1999).
Deutlich sichtbar werden diese weißen Flecken der organisatorischen Jour-
nalismusforschung schon dann, wenn man einen Blick in ein Standardwerk der
Organisationsforschung (Kieser 2001) wirft. Dort werden die grundlegenden
Richtungen der Organisationsforschung vorgestellt, von der Entscheidungs-
theorie über die Kontingenztheorie, die Human-Resource-Theorie bis zur
Strukturationstheorie. Nur wenige dieser Ansätze sind – in Reinform oder als
Anleihen – bislang von der Journalismusforschung aufgegriffen und angewen-
det worden. Hinzu kommt als weiteres Desiderat, dass journalistische Organi-
sationsforschung allenfalls punktuell erfolgt, sowohl hinsichtlich des Gegen-
stands als auch in der zeitlichen Kontinuität. Gegenstand der journalistischen
Organisationsforschung sind in der Mehrzahl Zeitungsredaktionen, Fernsehen,
Hörfunk und Online schon weit weniger, Zeitschriften nahezu gar nicht. Zu-
dem fehlt eine zeitliche Kontinuität der Erforschung von Journalismusorgani-
sationen, was vor allem bedauerlich ist, da damit keine Aussagen über struktu-
rellen Wandel und seine Folgen möglich sind.
Sicherlich sind vereinzelt Rückgriffe und Bezüge zu diesen Theorien er-
kennbar, bei Rühl (1979) beispielsweise die Entscheidungstheorie, und auch
mit dem Begriff der Programme, denen ja vor allem koordinierende Funktion
zukommt. Gerade Koordination ist in der Journalismusforschung eine unter-
geordnete Kategorie, in der Organisationsforschung dagegen der zentrale
Grund für Organisation, die entsteht, wenn die Aktivitäten mehrerer Akteure
auf ein gemeinsames Ziel hin zusammengebunden werden sollen (vgl. Schrey-
ögg 1999).

3.3 Journalistische Organisationen und Strukturation


Allerdings wird die Organisation als ein Maßstab in der Journalismus- und
Medienforschung in jüngster Zeit verstärkt forciert (vgl. Jarren 2001). Mit der
Strukturationstheorie wird der Anschluss an aktuelle Theoriediskussionen ge-
sucht, die im Verbund mit Mehrmethodendesigns den strukturellen Wandel
des Journalismus auf mehreren Ebenen und aus mehreren Blickwinkeln erfas-
sen wollen (vgl. Altmeppen 1999, 2006; Lublinski 2004; Quandt 2005; Wyss
2002). Zwar müssen die Stärken und Schwächen der Strukturationstheorie
noch ausgelotet werden (vgl. Walgenbach 1995). Als Sozialtheorie beansprucht
sie jedoch universellen Charakter, daher findet sie auch Eingang in andere
Teildisziplinen der Medien- und Kommunikationswissenschaft wie Organisati-
onskommunikation/PR (vgl. Röttger 2000) und politische Kommunikation
Das Organisationsdispositiv des Journalismus 289

(vgl. Jarren & Donges 2002). Zudem verknüpft eine strukturationstheoretische


Sichtweise sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Argumentationslinien, da
sie in beiden Wissenschaftsdisziplinen intensiv diskutiert wird. Ihr Potenzial
wird vor allem darin gesehen, die häufig unvereinbar wirkenden Pole rein vo-
luntaristischen und rein strukturell erzwungenen (journalistischen) Handelns
verbinden zu können. Das folgende Kapitel wird sich damit intensiver beschäf-
tigen.

3.4 Journalistische Organisationen, Organisation und Gesellschaft


Der Versuch, zwischen Organisation als gesellschaftlichem Dispositiv und
Organisationen als einzelnen Entitäten zu differenzieren, zwingt dazu, auch
den (organisationalen) Journalismus unter dieser doppelten Perspektive zu
betrachten. Zur Perspektive der Organisation als Dispositiv trägt die Journa-
lismusforschung keine Analysen bei. Untersuchungen zu journalistischen Or-
ganisationen beschäftigen sich mit deren Innenleben, während die Aspekte von
Leistungen und Funktionen vor allem auf der Makroebene, in Form system-
theoretischer Funktionsanalysen (vgl. Görke 2000; Kohring 2000) oder auf der
Mikroebene in Form von Selbstverständnis- und Rollenbilderhebungen thema-
tisiert werden (vgl. Scholl & Weischenberg 1998). Gefragt wird also entweder
danach, was der Journalismus für die Gesellschaft leistet oder was die Journalis-
ten für die Gesellschaft leisten. Dass journalistische Organisationen eine Ver-
mittlungsinstanz im Spiel der Ebenen sind – top down – indem sie die gesell-
schaftlichen Anforderungen an Journalismus katalysieren, und – bottom up –
indem sie die einzelnen Journalisten organisational integrieren, findet kaum
Beachtung.
Journalistische Organisationen fungieren somit als ein Scharnier zwischen
verschiedenen Ebenen: Auf der Ebene des Verhältnisses von Individuum
(Journalist) und Organisation (Journalismus) lässt sich mit diesem Scharnier
erkunden, welche Einflüsse die Ziele und Strategien journalistischer Organisa-
tionen auf das Handeln der Journalisten haben und inwieweit journalistisches
Handeln die Organisation beeinflusst; auf der Ebene des Verhältnisses von
Organisation (Journalismus) und Gesellschaft lässt sich erkunden, welchen
Einfluss gesellschaftliche Erwartungen auf die journalistischen Organisationen
haben und vice versa.
Beides ist für den Journalismus höchst problematisch: Wenn Organisation
gesellschaftskonstitutives Dispositiv ist, kann Journalismus nicht aus der Ord-
nung durch Organisation herausdefiniert werden, und auch nicht aus den dar-
aus resultierenden Machtkonstellationen. Solange der Journalismus aber
290 Klaus-Dieter Altmeppen

zugleich als ein gesellschaftlicher Akteur agieren soll, dessen Leistung in der
Selbstbeobachtung der Gesellschaft besteht, steckt er in einem Dilemma. Mit
den Augen des Organisationsdispositives gesehen reproduziert Journalismus –
über seine organisational strukturierenden Machtpraktiken – genau die Welt,
die er beobachten und der er die Ergebnisse der Beobachtung mitteilen soll.
Damit stellt sich die Frage nach den Leistungen des Journalismus vehement
auch als ein Problem der Ermöglichung oder Beschränkung journalistischer
Leistungen durch Organisation, was allein dadurch offensichtlich wird, dass die
organisationalen Führungsebenen und die Eigentümer und Aufsichtsgremien
die mit Abstand einflussreichsten Referenzgruppen des Journalismus sind (vgl.
Weischenberg, Malik & Scholl 2006: 358). Organisation und Management des
Fernsehens ermöglichen und beschränken Journalismus offensichtlich auf
andere Weise als die gleichen Institutionen der Zeitung.
Derartige organisationale Struktureinflüsse schlagen nolens volens bis auf
das journalistische Selbstverständnis durch, denn in den journalistischen Orga-
nisationen werden das Selbstverständnis und das Rollenbild von Journalisten
entscheidend geprägt. Als hierarchisch organisierte Sozialisationsinstanz fun-
giert die journalistische Organisation als zentrales Vehikel, das darüber ent-
scheidet, ob einzelne journalistische Organisationen als vierte Gewalt, als kriti-
scher Kontrolleur oder als seichter Unterhalter agieren.

4 Journalistische Organisationen:
Interaktion und Strukturation
Eine Analyse der Leistungen des Journalismus ist somit, ebenso wie die Frage
nach journalistischem Wandel, eine Frage nach den Strukturen einzelner jour-
nalistischer Organisationen. Struktureller journalistischer Wandel beispielsweise
geschieht ja nicht einfach, sondern folgt spezifischen Zielen, die in der Regel,
wie etwa bei der Umformung von ressortgebundenen Redaktionen in eine
Teamorganisation, durch das Management festgelegt werden. Derartige Re-
Strukturierungsprozesse sind komplexe Angelegenheiten, die nicht durch eine
Redaktionsbetriebslehre erfasst werden können. Diese steht in der Tradition
eines Organisationsbegriffs, der von steuerbaren, durchgeplanten Aktionen
ausgeht. Organisationaler Wandel ist aber immer ein rekursiver Prozess, bei
dem Struktur erst durch das Handeln der Organisationsmitglieder geschaffen
wird, denn Struktur ist nicht per se vorhanden. Die Ziele organisationalen
Wandels müssen sich handelnd bewähren, werden dabei reproduziert, ebenso
aber auch angepasst und modifiziert.
Das Organisationsdispositiv des Journalismus 291

4.1 Journalistische Organisationen als Systeme organisierten Handelns


Die derzeit avancierteste Theorie, um derartige organisationale Ereignisse zu
erfassen, ist die Strukturationstheorie (vgl. Giddens 1997). Obwohl es sich
dabei prinzipiell nicht um eine Organisationstheorie handelt, werden die
Grundgedanken dieser Theorie vor allem von Organisationsforschern (glei-
chermaßen aus der Soziologie und der Betriebswirtschaft) aufgegriffen (vgl.
Ortmann, Sydow & Windeler 1997). Das resultiert vorrangig daraus, dass die
Strukturationstheorie nolens volens mit den Begriffen Struktur, Institutionen,
Ressourcen und Regeln operiert – mit Begriffen also, die vielfältige An-
schlussmöglichkeiten gerade für Organisationsforschung bieten.
Journalistische Organisationen können unter Rückgriff auf begriffliche Ar-
beiten aus der Organisationsforschung als Systeme organisierten Handelns
definiert werden, die sich durch die Interdependenz von Handeln und Struktu-
ren auszeichnen (vgl. Altmeppen 2006). Die sich durch Handlungen und Struk-
turen rekursiv ergebenden „organisationalen Praktiken“ (Ortmann, Sydow &
Windeler 1997: 317) werden geformt vom teilsystemischen Orientierungshori-
zont, in dem sich die jeweilige Organisation (hier: der Journalismus) bewegt,
und von den organisationsspezifischen Normierungen (vgl. Altmeppen 2006).
Die Herstellung institutioneller Ordnung geschieht beispielsweise durch das
Handeln des Redaktionsmanagements, das auf eine Veränderung der Redakti-
onsorganisation gerichtet ist. Dies ist dann auch schon der Auftakt eines rekur-
siven Strukturationsprozesses, denn dass sich das Redaktionsmanagement zu
strukturellen Veränderungen herausgefordert sieht, ist eine Reaktion auf Prob-
leme mit den bestehenden Strukturen. Häufig sind diese Probleme finanzieller
Art, sodass Kostenkontrollprogramme als adäquate Lösung angesehen werden.
Häufig sind aber auch strukturelle Veränderungen ein Reflex auf veränderte
Berichterstattungsanforderungen, etwa wenn mehr Wert auf Service in der
Berichterstattung gelegt wird oder wenn die Berichterstattung vermehrt boule-
vardisiert wird. Das Redaktionsmanagement ist als Führungsebene legitimiert,
die Ziele der journalistischen Organisationen zu verändern, und kann daraus
auch die erforderlichen Machtdurchsetzungsmittel ableiten (vgl. Abbildung).
Strukturationstheoretisch lässt sich dies auf die Definition von Struktur als
die Kombination von Regeln und Ressourcen zurückführen, wobei beide Beg-
riffe grundlegend anders zu verstehen sind als üblicherweise. So bezieht der
Regelbegriff bei Giddens auch die Signifikation ein, beinhaltet also auch Regeln
zur Sinnkonstituierung. Organisationale Veränderungen fordern in doppelter
Weise die Sinnfrage heraus: einerseits müssen diese Veränderungen für das
Management Sinn machen, andererseits müssen die Veränderungen den Jour-
292 Klaus-Dieter Altmeppen

nalisten kommuniziert werden, die die neuen Regeln verstehen sollten und
handelnd umsetzen müssen.
In ihren Interaktionen richten sich die Journalistinnen und Journalisten auf
die organisationsspezifischen Regeln und Ressourcen als strukturelle Merkmale
ein. Sie akzeptieren die Ziele der Organisation, sofern sie einen sinnvollen
Handlungszusammenhang ergeben; oder sie opponieren gegen Veränderungen
in den Organisationszielen und versuchen, ihre eigenen Vorstellungen durch-
zusetzen. Gerade in Krisenzeiten, wenn journalistisches Handeln bewusster
ausgeübt wird, werden die Journalisten, ebenso wie das Management, ihr Han-
deln verstärkt reflexiv steuern, während beider Handeln im Alltag routinisiert
abläuft. Diese Routinen gewinnt das Handeln aus den strukturellen Rahmun-
gen, wie sie im Journalismus durch die Organisations- und Arbeitsprogramme
geschaffen werden.

Abbildung: Strukturation und Interaktion

Strukturation
(Regeln und Ressourcen)
Mesoebene journalistische Organisation als
Ergebnis von Strukturation
Signifikation Domination Legitimation

Prozess der
Vermittlungsmodalitäten Strukturierung
(soziale Praktiken)
(Rekursivität)

Interaktion
Mikroebene (journalistische Akteure + reflexiv
gesteuerte Handlungen)

Kommunikation Macht Sanktion

Arbeitsprogramme fassen das Recherchieren, Schreiben, Moderieren und Or-


ganisieren zusammen. Die Arbeitsprogramme wiederum sind eingelagert in
Organisationsprogramme wie Redaktionen, Ressorts, dem Zusammenspiel von
festen und freien Mitarbeitern und formellen Kommunikationsterminen wie
etwa Konferenzen. Die Programme sind Strukturprinzipien des Journalismus,
die als Organisationsdispositive angesehen werden können, denn sie sind, wie
Das Organisationsdispositiv des Journalismus 293

die empirischen Ergebnisse bestätigen, überorganisational gültige Struktur-


merkmale des Journalismus. Ihr Erhalt, ihr Aus- oder Umbau beruht auf Ent-
scheidungen des Managements, das seine Machtausübung durch die Verfügung
über allokative und autoritative Ressourcen ausüben kann. Die journalistischen
Programme sind somit Struktur, weil sie Regeln darüber enthalten, wie Journa-
listen arbeiten (sollen und/oder können).
Die Programme sind aber zugleich Struktur als Ressourcen, und zwar auf
vielfältige Art und Weise. Zunächst einmal ist die Organisation selbst eine
Ressource, eine vielfach disponible Masse an arbeitsrelevanten Notwendigkei-
ten wie Räumen, Technik, Finanzen. Darüber hinaus können Journalisten die
Organisation als Reputationsressource nutzen, indem sie etwa den Namen ihrer
Organisation als „Türöffner“ bei der Recherche nutzen. Auch der Begriff der
Ressource ist – wie der Begriff der Regel – dem Verständnis von Giddens
(1997) folgend sehr viel weiter zu fassen als im alltagssprachlichen Gebrauch.
Giddens unterscheidet allokative Ressourcen als Verfügungsmacht, die haupt-
sächlich materielle Güter betrifft, und autoritative Ressourcen als Verfügungs-
macht von Personen.
Von entscheidender Bedeutung bei einer Definition von Struktur als Regeln
und Ressourcen ist nun vorrangig, dass journalistische Institutionen zwar an
das generelle gesellschaftliche Organisationsdispositiv gebunden sind, jedoch
innerhalb dieses aufgespannten Rahmens eigene Strukturen, sprich Regeln und
Ressourcen ausbilden können (vgl. Moldaschl & Diefenbach 2002).1 Somit
lassen sich drei wichtige Bausteine einer Strukturtheorie des Journalismus her-
ausstellen:
(1) Ein Baustein besteht darin zu ermitteln, welche eigenen Ressourcen
Journalismus generieren kann bzw. welches seine Kernressourcen sind
und bei welchen Ressourcen es sich um generelle Ressourcen im Sinne
des Organisationsdispositivs handelt. Eine derartige Analyse führt
unmittelbar zurück zur Frage nach den Leistungen des Journalismus
und sie erlaubt es, den Jounalismus von anderen Organisationen zu
unterscheiden. Wenn die Leistung des Journalismus darin besteht, dass

1 Wenn hier plötzlich von journalistischen Institutionen gesprochen wird, so aus zwei Grün-
den: (1) Organisationen können als eine besonders ausgeprägte Form von Institutionen, al-
so sozialen Regelwerken, angesehen werden (vgl. Esser 2000: 238 ff.). (2) Damit kann der
irreführende semantische Zusammenhang von „Organisation und ihrer Struktur“ vermie-
den werden, denn Organisation ist Struktur (was bedeutet, dass eine Organisationstheorie
des Journalismus vor allem eine Strukturtheorie ist, vgl. Blöbaum 2000).
294 Klaus-Dieter Altmeppen

er „Themen, die zielgruppenspezifisch als informativ und relevant gel-


ten“ (Löffelholz 2003: 42) selektiert, bearbeitet und publiziert, sind da-
für eindeutig andere Ressourcen notwendig als wenn Schuhe, Hemden
oder Autos produziert werden. Bei allen Diskussionen um die Zukunft
des Journalismus wird in der Regel vergessen, dass diese Leistung des
Journalismus sehr spezifisch ist und eine Kernressource darstellt, die
nicht umstandslos imitiert oder substituiert werden kann. Bei den
Kernressourcen des Journalismus fällt des Weiteren auf, dass die Dis-
tribution nicht zu diesen Kernressourcen gehört. Der Journalismus ist
allein zur Produktion der Information in der Lage, die Distribution ist
das Geschäft (die Kernressource) der Medien (vgl. Altmeppen 2006).
Eine organisationale Analyse trägt somit zu einer deutlicheren Grenz-
ziehung des Journalismus bei, nicht allein im Hinblick auf komplett
andere Branchen, sondern auch im Kernbereich im Hinblick auf Me-
dienorganisationen. Die Differenz von Medien und Journalismus tritt
umso deutlicher ins Bewusstsein, je weniger die Medien journalistische
Berichterstattung und je mehr sie Unterhaltungsangebote offerieren.
Die Gleichsetzung von Journalismus und Medien wird damit mehr
und mehr zum Problem. So sprechen Weischenberg, Malik und Scholl
(2006: 349) in ihrem neuesten Journalistenreport von „journalistischen
Medienorganisationen“, was auch ein Reflex auf dieses Problem sein
dürfte und die Frage aufwirft, was denn nicht-journalistische Medien-
organisationen sind. Behauptungen jedenfalls, dass Medien ohne Jour-
nalismus nicht existieren könnten (vgl. Stöber 2005: 23), treffen ange-
sichts der Aus- und Entdifferenzierungen im Mediensystem allenfalls
noch auf Printmedien zu, da ihnen die Möglichkeiten der Diversifika-
tion (wie sie etwa die Unterhaltung beim Fernsehen bietet) fehlen.
Angesichts der digitalen Technologieentwicklungen dürften sich künf-
tig aber die wechselseitigen Interdependenzen von journalistischen
und Medienorganisationen noch weiter verflüchtigen.
(2) Ein zweiter Baustein behandelt die spezifische Kombinatorik von
Ressourcen, die journalistische Organisationen verwenden können.
Hierbei geht es darum, auf der Grundlage der Kern- und weiterer Res-
sourcen die jeweils sinnvollste (also ökonomisch und/oder publizis-
tisch erfolgreichste) Ressourcenallokation zu erreichen. So können das
Mitarbeiterpotenzial und die Organisationsreputation im einen Fall für
einen investigativen Recherchejournalismus wie etwa beim Spiegel ge-
Das Organisationsdispositiv des Journalismus 295

nutzt werden, im anderen Fall für einen Boulevardjournalismus wie


etwa bei den entsprechenden Fernsehmagazinen.
(3) Schließlich bestimmt nicht allein das Vorhandensein den Wert von
Ressourcen, sondern der Wert bestimmt sich vor allem aus dem
Gebrauch der Ressourcen. In der eklatantesten Form werden journa-
lismusspezifische Ressourcen vor allem dann unter die Lupe genom-
men, wenn zunehmend Unternehmensberatungen auch in Redaktio-
nen nach Effizienz- und Effektivitätspotenzial suchen.
Eine analoge Präzisierung lässt sich auch hinsichtlich der Regeln vornehmen.
Journalistische Organisationen können ihre Regeln in eigenständiger Weise
generieren (jedenfalls unter dem Schirm des Organisationsdispositivs), die
Regeln in organisationsspezifischer Weise kombinieren und die Auslegung der
Regeln in autonomer Weise engführen oder ausdehnen. Die Regelauslegung
wird jedoch immer durch die Ressourcen beeinflusst, denn nur beide Faktoren
zusammen ergeben Struktur. So ist das Ziel der journalistischen Organisation
(als Sinnkonstitutionsregel) nicht einfach veränderbar, wenn nicht auch die
Ressourcen an die Zielveränderung angepasst werden können (investigativer
Journalismus kann nicht ohne entsprechend qualifiziertes Personal, ohne aus-
reichend Zeitreserven und ohne gute Quellenkontakte realisiert werden). Ande-
rerseits führt eine Verknappung journalistischer Ressourcen (durch Kosten-
druck, Personalreduzierung, Mehrfachaufgaben) nahezu automatisch zu Quali-
tätseinbußen.

4.2 Journalistische Organisation und Management


Wenn bislang davon die Rede ist, dass der Journalismus Regeln und Ressour-
cen ausbilden kann, ist das noch reichlich unbestimmt. Strukturbildung – in
Form von Organisation – (vgl. Abbildung) findet „nicht einfach statt“, sie ist
nicht per se gegeben, sondern sie ist das Ergebnis von Strukturation, ist das
Ergebnis der Dualität von Handeln und Struktur. Erst die Interaktion kompe-
tenter Akteure, die ihre Handlungen reflexiv steuern können, sorgt für Struk-
tur, die im und durch das Handeln erst sichtbar und wirksam wird. Im Weite-
ren interessiert gerade dieses reflexiv, also bewusst gesteuerte Handeln, denn es
verweist auf das Konstrukt der Führung.2 Führung definieren Bruch und Türk

2 Das in Handlungs- und auch in der Strukturationstheorie dominante Problem unintendier-


ter Handlungsfolgen soll hier nur erwähnt werden.
296 Klaus-Dieter Altmeppen

(in diesem Band: 267) in Anlehnung an Foucault als die „Strukturierung des
Feldes möglicher Handlungen durch Handlungen“ und beziehen sich damit auf
den „Set an Regierungspraxen“, den die Führung applizieren kann, um die
Handlungen der Organisationsmitglieder anzuleiten. Es geht damit darum, wie
Management in das Organisationsdispositiv einzuordnen ist. Dass Management
und Organisation sehr eng zusammenspielen, wird deutlich bei einem Blick in
die Grundlagenliteratur der Organisations- und Managementforschung, in der
der jeweils andere Faktor immer mitdiskutiert wird (vgl. Steinmann & Schrey-
ögg 2000). Bruch und Türk gehen davon aus, dass Führung (hier verstanden als
das Redaktionsmanagement) eine bewusste Strukturierung des organisationalen
Handelns vornehmen, indem die Ziele der Organisation durch das Manage-
ment formuliert sowie Wege zur Zielerreichung definiert werden. Diese Füh-
rung geschieht aber nun selbst wiederum nur durch Handeln, das rekursiv mit
Strukturen verbunden ist, sich also auf diese Strukturen bezieht, um im Weite-
ren dann die jeweiligen Strukturvorstellungen zu kommunizieren.
Der Prozess der Strukturation greift somit auf doppelte Weise: Das Redak-
tionsmanagement, ausgestattet mit unterschiedlichen Machtmitteln (Anwei-
sung, Anordnung, Überzeugung, Überredung), entwirft seine Zielvorstellungen
selbst in einem rekursiven Prozess der Strukturierung, also gemäß spezieller
Regeln und der Verfügung über Ressourcen. Dies ist der Punkt, an dem empi-
rische Forschung ansetzen kann, indem sie nach den Zielvorstellungen des
Redaktionsmanagements und nach den dahinterliegenden Motiven fragt. In
Motiven wie Kostenreduzierung, Qualität der Berichterstattung, (publizisti-
schem) Konkurrenzdenken und Quotenerfolg manifestieren sich spezifische
Vorstellungen des Redaktionsmanagements über Regeln sowie Ressourcenver-
teilungen in journalistischen Organisationen. Deren Herkunft resultiert aus den
Umweltbeobachtungen des Redaktionsmanagements (Welche Strukturen
scheinen erfolgversprechend, sprich effizient und effektiv, für die eigenen Zie-
le?) sowie darauf aufbauenden Entscheidungen zur Veränderungen der Regeln
und Ressourcen der Aussagenproduktion in der eigenen Organisation.
Der Erfolg oder Misserfolg neuer Strukturen konkretisiert sich aber erst,
wenn die Zielvorstellungen Teil des Handelns der Journalisten werden, die auf
diesem Wege – wie das Redaktionsmanagement selbst – die Regeln und Res-
sourcen produzieren und reproduzieren. Über das Handeln werden die Struk-
turen auf Dauer gestellt, sie werden „rekursiv in Institutionen eingelagert“
(Giddens 1997: 76).
Das Organisationsdispositiv des Journalismus 297

4.3 Journalistisches Handeln


Dies geschieht allerdings nicht maßstabsgetreu, denn die Strukturen ermögli-
chen journalistisches Handeln nur bis zu einem bestimmten Punkt, und sie
beschränken es auch nur in bestimmter Weise. So können die Programme des
Nachrichtenschreibens lediglich als generelle Regeln angesehen werden, über
deren Anwendung im Einzelfall entschieden werden muss. Häufig ist es erfor-
derlich, die Regeln zu erweitern, zu ergänzen oder sie abgewandelt anzuwen-
den. Die Rekursivität journalistischen Handelns äußert sich gerade darin, dass
die Journalisten die Strukturen durch soziale Praktiken realisieren, die neben
den Programmen informell institutionalisierte Handlungsweisen, Verfahrens-
schritte und Arbeitsabläufe enthalten, wie etwa durch eigenständig installierte
Kommunikationswege, durch die individuelle oder koordinierte Gestaltung
von Arbeitsvorgängen und in hohem Maße durch Abstimmungsprozesse.
Der „Zwang“ zur Koordination – der wesentliche Grund für die Existenz
von Organisation – hebt die Bedeutung der Interaktion im Strukturierungspro-
zess hervor, was wiederum auf den zentralen Stellenwert der Kommunikation
verweist. Das ermöglicht es dann auch, den in der Journalismusforschung bis-
lang noch weitgehend unbestimmt gebliebenen Begriff des journalistischen
Handelns exakter zu fassen. Journalistisches Handeln kann als soziales Handeln
verstanden werden, dass sich im Orientierungshorizont und in den instutionel-
len Ordnungen journalistischer Organisationen vollzieht. In die organisationa-
len Interaktionen bringen die Journalisten ihre vorjournalistischen Erfahrungen
und Wissensvorräte, ihre Einstellungen und Werterahmen (die grundsätzlichen
Deutungsmuster ihrer individuellen Handlungen) ein. Dabei fügen sich die
nicht-journalistischen Deutungsmuster mit den journalistischen zusammen,
wobei vor allem – aber eben nicht allein – die journalistischen Programme (als
Strukturprägungen) wirksam werden. Die journalistischen Programme dienen
dabei primär dem Zweck, ein organisationales Entscheidungshandeln zu er-
möglichen, das zur Aussagenentstehung notwendig ist. Der Vollzug journalisti-
schen Handelns ergibt sich erst aus der Kombination von Entscheidungshan-
deln und koordinierendem Handeln, das sich durch die Interaktionen im orga-
nisationalen Rahmen institutionalisiert, also strukturell verfestigen kann.
Koordinierendes Handeln dient dazu, die Lücken in den Programmvorga-
ben auszufüllen. Die Rekursivität von Handeln und Struktur liegt darin, dass
die journalistischen Programme einen Korridor darstellen, der bestimmte Aus-
schnitte der journalistischen Arbeit konkretisiert. Nur sehr spezifische Elemen-
te des journalistischen Handelns sind geregelt. Darüber hinaus werden die
Programme aber erst koordinierend, im reflexiven Handeln, konstituiert. Un-
298 Klaus-Dieter Altmeppen

terschieden werden können dabei Koordinierungen des Handelns und Koordi-


nierungen durch Handeln. In den Arbeitssituationen, in denen die Programme
verbindliche Vorgaben darstellen, zum Beispiel beim Nachrichtenschreiben,
leisten sie eine Koordinierung des Handelns durch präzise Regeln wie die
Nachrichtenauswahl und verbindliche Muster des Nachrichtenaufbaus. Koor-
dinationen werden dadurch nicht überflüssig, sind aber, im Vergleich zu ande-
ren organisationalen Tätigkeiten, weniger häufig notwendig.
Wo Programme diese Strukturierungsleistungen nicht gewährleisten kön-
nen, durch Unspezifiziertheit der Aufgaben, durch Unangemessenheit im Hin-
blick auf die zu lösenden Probleme oder durch neue und unerwartete Problem-
stellungen (Krisen, Kriege, etc.), beginnt eine Koordinierung durch Handeln.
Durch ihr koordinierendes Handeln stellen die Journalistinnen und Journalis-
ten Konkretisierungen der Programme her, die sie demzufolge nicht nur re-
produzieren, sondern auch erweitern, umformulieren und spezifisch deuten.
Durch die Koordinationen werden fehlende Strukturierungen für die Arbeit
hergestellt (zum Beispiel die Frage der Themenauswahl in der Unterhaltung),
und es werden einzelne Strukturierungen verknüpft (zum Beispiel der Zusam-
menhang von Themen und Darstellungsformen). Dabei greifen die Journalis-
tinnen und Journalisten auf vorgegebene Strukturierungen (vorhandene Regeln
und bestehende Ressourcen) zurück und formen sie zugleich situationsspezi-
fisch um, denn die Verständigungen können nur unter den Bedingungen geleis-
tet werden, die die Ressourcen der Arbeit zulassen. Mit den Vermittlungsmoda-
litäten stellen die Journalisten Strukturen her, die auf organisationale Regeln
und Ressourcen zurückgreifen, die aber situationsbezogen modifiziert werden
müssen. Erst auf diese Weise, durch die Konstituierung des Arbeitsprozesses in
rekursiven Handeln-Struktur-Beziehungen, entstehen journalistische Medien-
angebote.
Weil die Strukturen unvollständig sind, bedürfen sie der deutenden, ergän-
zenden, entscheidenden und vermittelnden Eigentätigkeit der Journalisten –
deshalb führen Programme zu Koordinationen. Und weil andersherum die
Journalisten auch darauf bedacht sind, die Arbeitssituationen zu strukturieren
und zu stabilisieren, entstehen Programme (oder, weniger tiefgreifend: Modifi-
kationen von Programmen) durch Koordinationen. Die Erfahrungen, die die
Journalisten aufgrund der koordinierenden Handlungen machen, sedimentieren
im Wissensvorrat, sie werden institutionalisiert und stehen daher prinzipiell für
ähnliche Situationen wieder zur Verfügung.
Die Programme als Strukturrahmen ergeben zusammen mit dem individuel-
len, dem sozialen Handeln eines jeden Journalisten, das journalistische Han-
Das Organisationsdispositiv des Journalismus 299

deln. Die journalistischen Programme sind somit eine der wesentlichsten Ver-
mittlungsmodalitäten zwischen der Interaktion und der Struktur. Vermitt-
lungsmodalitäten sind verfestigte soziale Praktiken, auf Dauer gestellte Interak-
tionsmuster, die aber durchaus durchbrochen werden können, etwa wenn Stö-
rungen mit den gewohnten Interaktionsmustern nicht bewältigt werden kön-
nen. Dann begeben sich die Journalisten auf die Suche nach alternativen Lö-
sungsmustern, was wiederum häufig in Form von Interaktion geschieht. Hier
liegt eines der wesentlichen Erklärungsmuster für strukturellen Wandel im
Journalismus, der an der Veränderung von Regeln und Ressourcen gemessen
werden kann, und zwar auf den Ebenen von Redaktionsmanagement und jour-
nalististischem Handeln in organisationalen Bezügen.

5 Resümée
Das Regierungsdispositiv Organisation, wie es Bruch und Türk in die Diskus-
sion einbringen, ist ein auf den ersten Blick sperriges Konstrukt, da es sich
nicht ohne weiteres an die bisherige Forschung zum organisationalen Journa-
lismus anschließen lässt. Sein unbestreitbarer Vorteil liegt, so kurios das klingen
mag, darin, eine (organisationale) Gewöhnlichkeit des Journalismus zu konsta-
tieren, denn dem Dispositiv der Organisation kann sich (auch) der Journalis-
mus nicht entziehen. Er interagiert zunächst einmal nicht anders als andere
Organisationen (aus der Wirtschaft, der Bürokratie), er wird in einem rekursi-
ven Sinn gemanagt und damit von mikropolitischen Machtkonstellationen
durchdrungen. Dies bedeutet jedoch eben nicht, dass der Journalismus einer
organisationalen Determination unterliegt. Vielmehr wird erkennbar, dass die
Strukturen des Journalismus nicht per se gegeben sind oder angeordnet wer-
den, sondern in rekursiver Weise durch die Dualität von Handeln und Struktur
hergestellt werden. Die Dualität von Handeln und Struktur gilt gleichermaßen
für die Führung (das Redaktionsmanagement) wie für die Organisation selbst.
Der Aspekt der Führung verweist – der Rekursivität von Handeln und
Struktur folgend, der auch das Redaktionsmanagement unterliegt – darauf, dass
die derzeit konstatierbaren Zerfallserscheinungen des Journalismus (Kommer-
zialisierung, Formatierung, Boulevardisierung, Entgrenzung) nicht allein außer-
halb des Journalismus an gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen festgemacht
werden können. Das Redaktionsmanagement bezieht die Informationen für
seine Entscheidung aus den Beobachtungen der ökonomischen, sozialen und
kulturellen Rahmenbedingungen. Es verdichtet diese Beobachtungen zu ein-
zelorganisatorischen Entscheidungen, deren Umsetzung strukturprägend für
300 Klaus-Dieter Altmeppen

die jeweilige Organisation ist und die in ihrer Gesamtheit das Phänomen Jour-
nalismus ausmachen.
Vereinfacht wird ein Anschluss an das Konstrukt des Regierungsdispositivs
der Organisation dadurch, dass Bruch und Türk selbst in ihrer Konzeption auf
das Gedankengut der Strukturationstheorie zurückgreifen. Damit kann der
Blick von Organisation (als gesellschaftlichem Ordnungsmuster) auf die einzel-
nen Organisationen gelenkt werden. Dies schafft die Voraussetzung dafür,
nach den speziellen organisationalen Ordnungsmustern des Journalismus zu
fragen. In den Vordergrund rücken dabei die rekursiven Strukturierungen zwi-
schen und innerhalb von Führung und Organisation. Strukturierung ist ein
aktiver Prozess, der erst durch (journalistisches) Handeln in Gang gesetzt wird
und bei dem die Struktur das Handeln eben nicht nur beschränkt, sondern es
überhaupt erst ermöglicht.
Ein solches Konstrukt, das den (organisationalen) Prozess der Strukturie-
rung ebenso definiert wie das journalistische Handeln als Interaktion, eröffnet
Horizonte zur Erkundung des jederzeit dynamischen Organisationsgeschehens,
das über eine Redaktionsbetriebslehre hinausgeht und nicht nach dem Zustand
der Organisation fragt, sondern nach den Motiven, Gründen und Ursachen
von Veränderung. Der Hebel dafür ist die – auch empirisch – adaptierbare
Verwendung der Definition von Strukturen als Regeln und Ressourcen sowie
von journalistischem Handeln als Medium und Ergebnis von Struktur. Auf
dieser Grundlage ist es dann auch möglich, die Folgen des (häufig) strukturel-
len Wandels des Journalismus zu eruieren, denn das Regierungsdispositiv der
Organisation besteht im interessengeleiteten, von Machtansprüchen durchsetz-
ten Handeln der Organisationsakteure.

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INTERAKTION
Alle Rahmen krachen in den Fugen:
Erkenntnistheoretische und soziologische
Perspektiven bei Erving Goffman

Robert Hettlage

1 Lebensfluss und Zeitpfeil

Die offenkundige Kontradiktion, dass die Welt auf dem Zeitpfeil dahinschießt,
das Erkennen aber ein Anhalten dieser Turbulenzen sein muss, hat die
Menschheit immer schon fasziniert. Dass Menschen einen möglichst großen
Spielraum für sich gewinnen wollen, aus eben diesem Grund widerwillig Rück-
sicht auf die anderen nehmen müssen, ist ein anderes unauflösbares Daseins-
rätsel. Mit jeweils unterschiedlicher Denkrichtung wurde dafür auf die Gegen-
satzpaare von Werden und Sein, Leben und Begriff, Wandel und Ordnung,
Individuum und Gesellschaft zurückgegriffen. Die Welt- und Geistesgeschichte
oszilliert zwischen beiden Polen. Während manche historische Epochen eher
für die Seite der Stabilität optierten, ist das vergangene 20. Jahrhundert weitge-
hend über die Termini „Wandel“, „Leben“ und „Individuum“ zu erschließen.
Erkenntnistheoretische und soziologische Betrachtungsweisen sind dabei gar
nicht voneinander zu trennen. Das „Leben“ durchpulst die Welt, lässt sich aber
„intellektualistisch“ über Definitionen, Konzepte und feste Gestalten kaum
unmittelbar erfassen. Denn:
Der Begriff des Lebens, als die Summe aller nacheinander auftretenden Augen-
blicke ist [...] an dem kontinuierlichen Fluss des realen Lebens gar nicht zu voll-
ziehen, setzt vielmehr an dessen Stelle die Addition jener, nach Sachbegriffen
bezeichenbaren Inhalte [...] insofern sie gerade nicht als Leben, sondern als ir-
gendwie fest gewordene ideelle oder dingliche Gebilde gelten (Simmel 1985: 1).

Diese Spannung war Simmel durch die Lebensphilosophie seines Zeitgenossen


Henri Bergson (1964) vermittelt worden. Dieser empfahl, den dauerhaft flie-
306 Robert Hettlage

ßenden Lebensstrom ganzheitlich, d.h. intuitiv und einfühlend, zu begreifen.


Denn der Lebensschwung (elan vital) bringe ständig neue Formen hervor, die
aber unweigerlich in epistemologischen und gesellschaftlichen Aggregatszu-
ständen erstarrten. Das an sich Unteilbare würde in begriffliche Teile zerlegt,
die schöpferische Lebens- und Gesellschaftswirklichkeit sei dieser Technik aber
immer ein Stück voraus. So wie Begriffe immer zu eng für das Leben sind und
das Verborgene kaum „entbergen“ können, so steht es auch mit dem gesell-
schaftlichen Ordnungsanspruch. Der Mensch lebt in einem permanenten
Spannungszustand. Allein die Notwendigkeit der Bedürfnisbefriedigung zwingt
ihn in gesellschaftliche Formen der Produktion und des Konsums und in einen
Prozess kreativer Konstruktion und Destruktion hinein. Die Folgen der konti-
nuierlichen wissenschaftlichen und technologischen Innovation sind unvorher-
sehbar. Schon deswegen sehen sich die Menschen gedrängt, sich jenseits der
gesellschaftlichen Aggregate, Gesetze und Wandlungstendenzen in ihrem eige-
nen Lebensschwung zu profilieren.
Aber auch durch diese Reflexivität wird das gesellschaftliche Leben unauf-
hörlich umgestaltet. Während das 18. Jahrhundert aus der Lösung von den
gesellschaftlichen Fesseln das Freiheitsbedürfnis gewann, versuchte das
19. Jahrhundert, den Aspekt der Allgemeinheit durch Gleichheitsforderungen
zurückzuerobern. Das 20. Jahrhundert hingegen war von der Leitidee geprägt,
dass sich die unverwechselbaren Individuen in ihrer Differenziertheit und Un-
ergründlichkeit wieder unterscheiden wollen. Modernes, individualisiertes Le-
ben bedeutet nicht mehr nur gleiche Persönlichkeitsrechte, sondern auch Ver-
wirklichung der unvergleichlichen Besonderheit. Simmel (1970: 92) drückt das
so aus:
Alle Verhältnisse zu anderen sind so schließlich nur Stationen des Weges, auf
dem das Ich zu sich selber kommt: mag es sich den anderem im letzten Grunde
gleich fühlen, weil es [...] noch dieses stützenden Bewusstseins bedarf, [aber] die
vielen [sind] eigentlich nur da, damit jeder einzelne an den anderen seine Unver-
gleichlichkeit und die Individualität seiner Welt ermessen [kann].

Hier, an dieser Doppelthematik, setzt der „Simmel-Schüler“ Erving Goffman


(1922-1982) an. Der Strom des Lebens drückt sich in der unablässigen Abfolge
von Interaktionen aus. In ihnen entwirft sich das Individuum auf die Welt der
Mitmenschen hin. In der Kommunikation mit ihnen deutet es sich als unver-
gleichlich, muss von den anderen aber in diesem Anspruch auch anerkannt,
also „richtig“ gedeutet werden. Es bedarf des gegenseitigen „Fest-Stellens“,
ohne dass es gelänge, das jeweilige Individuum in seiner Einzigkeit und Beson-
derheit wirklich einzufangen. Darin drückt sich der dauerhafte Gegensatz von
Alle Rahmen krachen in den Fugen 307

Individualität und Gesellschaft, Person und Institution aus. Je höher die Ar-
beitsteilung und soziale Differenzierung, desto mehr kommen sich die Gel-
tungsansprüche der Interaktionspartner ins Gehege. Je dringlicher die gegensei-
tige Ergänzung der unterschiedlichen Lebensentwürfe, desto stärker geraten
der Individualismus des „Andersseins“ und der Ordnungsanspruch gegenseiti-
ger Verregelmäßigung in Konflikt. Mit anderen Worten: Das Drama des Le-
bens besteht in einer konstanten Doppelbewegung: Nämlich einmal darin, den
Anderen ständig suchen zu müssen, um sich sogleich von ihm wieder abzuhe-
ben. Will aber das Individuum autonom sein, dann wird es darin aber im
nächsten Handlungszug schon wieder überwunden, weil es nur durch den
Anderen zum Selbst gelangen kann. Im Strom des eigenen Handelns kann man
dem Anderen nicht entfliehen. Man ist in eine dauerhafte Spannung aus Nähe
und Distanz eingespannt.
Goffman theoretisch zu verorten ist nicht leicht, da er sich aller Verein-
nahmung durch Schulen und Denktraditionen immer wieder entzieht. Der
Grund liegt wohl darin, dass er Theoriekämpfe für unfruchtbar und Lehrer-
Schüler-Verhältnisse dem Abenteuer des Selber-Denkens für abträglich hielt.
Auch wollte er es den Exegeten nicht so einfach machen. Stattdessen gab er
sich mit einem Augenzwinkern und wohlwissend um die Unmöglichkeit „rei-
ner“, naturalistischer Beobachtung als Empiriker des Alltäglichen aus. Viele
haben das ernst genommen. Daher auch die häufigen Missverständnisse, die
dazu geführt hatten, dass Goffman lange als Geschichtenerzähler von Episo-
den und Kuriositäten im Mikrokosmos der kleinen Interaktionen verstanden
wurde. Das hatte ihm zwar eine hohe Popularität auch in den Nachbardiszipli-
nen eingetragen, doch andererseits dazu geführt, den hohen theoretischen
Anspruch dieses Soziologen zu verkennen.

2 Goffmans Intuition: Der immerwährende Kreislauf


des Verstehens
2.1 Der Ansatz der verstehenden Soziologie
Ohne Zweifel bewegt sich Goffman im weiten Umkreis einer interpretativen
Soziologie. Ihr zufolge haben gesellschaftliche, ja alle raum-zeitlichen Phäno-
mene nur als symbolische Ausdrucksformen von Sinn einen Zusammenhang
mit dem Handeln. Aufgabe der Soziologie ist es, diese Bedeutungen zu verste-
hen. Dafür muss man in das interaktive Geschehen eintauchen, die verwende-
ten Symbole kennen, mit ihnen umgehen lernen, Situationen unterscheiden
308 Robert Hettlage

und allmählich ein Gesamtbild des Handelns (und der Kultur) rekonstruieren.
Alltagserkenntnis und wissenschaftliche Beobachtung unterscheiden sich hierin
vorerst kaum.
ƒ Am ehesten kann man zu den Sinnkonstrukten der einzelnen Handelnden
vordringen, wenn man nach Weber (1968: 237ff.) einen rationalen Hand-
lungstypus zugrunde legt. Denn dann setzt der Handelnde die für seine
Ziele gebotenen Mittel so transparent ein, dass der Beobachtende im All-
tag und der Beobachter auf der zweiten Ebene (d.h. der Wissenschaftler)
den Zusammenhang unschwer herausfinden können. Dass wir dabei mit
einer Reihe von Unterstellungen („immer weiter so“, Relevanz-
Überschneidungen, Motivationsstrukturen) und mit jeweils in der Biogra-
phie verankerten Wissensvorräten operieren, hat Alfred Schütz (1970:
53ff.) ergänzend herausgearbeitet. „Verstehen“ heißt in diesem Fall, eine
Hypothese aufzustellen, die auf die Ziele verweist, welche der Handelnde
mit rationalen (oder anderen) Mitteln verfolgt (Rex 1970: 197). Jeder Han-
delnde wird solche Hypothesen aufstellen, wenn er mit seinem Gegenüber
zu tun hat. Er wird ihn zunächst mit rationalen Unterstellungen zu verste-
hen versuchen, um dann für Abweichungen zusätzliche Erklärungen zu
finden. Schwieriger wird es dann, wenn nicht-rationales Handeln zu erwar-
ten ist. Hier sind wir in unserem Verstehen und in unseren „Wir-
Beziehungen“ unsicherer. Nicht dass wir keine Hypothesen bilden könn-
ten. Nur tappen wir dabei stärker im Dunkeln. Die Erfahrungswerte, die
wir zum Auffinden von Hypothesen einsetzen, sind nicht stark erhärtet,
sondern können schnell enttäuscht werden. Denn die Gefühlsäußerungen
anderer Menschen sind in ihrer affektiven Dichte, in ihren psycho-sozialen
Verschlingungen, in ihrer Geschichte und ihrer interaktiven Reichweite
von außen schwer zu durchdringen. Die psychoanalytische Praxis kennt
dieses Problem und weiß um die Widerstände und den Aufwand an Zeit
und Empathie, der nötig ist, um solche Verstehensschichten freilegen zu
können. Die eine Unsicherheit ist also eine hermeneutische. Die Ziele so-
zialen Handelns sind variabel und weisen eine höchst mannigfaltige Viel-
zahl von Varianten auf. Jeder muss zunächst Modelle und Muster entwi-
ckeln, mit denen er typisch menschliches Handeln rekonstruiert, um damit
die weniger luziden Zonen des Handelns einzugrenzen.
ƒ Die andere Schwierigkeit, warum uns – im Sinne der Weber’schen Hand-
lungstypologie – affektives und traditionales Verhalten weniger transparent
erscheinen, ist diejenige, dass Rituale und Symbole mit den symbolisierten
Realitäten nur auf recht lose und willkürliche Weise verbunden sind. Was
Alle Rahmen krachen in den Fugen 309

sozial gelten soll, muss zwischen den Handelnden ausgehandelt werden.


Verstehen ist somit ein Dauervorgang, der sich auf Handlungsimpulse und
Reaktionsbereitschaften, auf Handlungswahrnehmungen, Wahrnehmungs-
korrekturen und gegenseitige Abstimmung von Perspektiven bezieht. Da-
bei ist von allen Teilnehmern einer Interaktion eine gespannte Aufmerk-
samkeit bei der Wahrnehmung der physischen und besonders der sozialen
Objekte in ihrer jeweiligen Umwelt von Nöten. Auf dieses Wechselspiel
zwischen den Handelnden und ihrer gesellschaftlichen Einbettung hat
Herbert Blumer (1969: 10) verwiesen. Die symbolisch interaktive Perspek-
tive besteht gerade darin, den Fokus darauf zu lenken, dass und wie sich
Akteure ihre Handlungen und deren rationale und/oder emotionale La-
dung gegenseitig anzeigen. Auf dieser symbolischen Basis erfolgt die In-
terpretation des eigenen und des gemeinsamen Tuns. Dadurch werden
gemeinsame Situationen hergestellt, in der die Objekte für die Teilnehmer
eine Bedeutung erhalten und eine Welt im Kleinen konstruieren. Die Be-
deutung der Objekte ist also nicht einfach vorgegeben oder eine bloß neu-
trale Verbindung von Faktoren, sondern ergibt sich aus dem interpretati-
ven Kontext. Handeln ist folglich nicht nur das Ergebnis vorgeformter
Erwartungen oder festgelegter Dispositionen, sondern das Resultat eines
andauernden Wechselspiels der Teilnehmer einer Situation. Diese erarbei-
ten sich dadurch das Verständnis ihrer gemeinsamen Handlungsentwürfe
und -probleme und konstruieren sich damit ihre Wirklichkeit. Dabei rea-
gieren die Teilnehmer nicht nur passiv aufeinander, sondern zeigen sich –
selbstreflexiv – gleichzeitig ihre Deutungen an. In diesem Deutungs- und
Lernprozess bildet sich Gesellschaft im Kleinen und im Großen.

2.2 Goffmans eigene, verstehende Perspektive


Goffman ist die verstehende Soziologie aufgrund seiner Lektüre von Schütz
und durch seine Zeit in Chicago im Umfeld von Blumer durchaus vertraut,
auch wenn er sich gegen alle Vereinnahmungen zur Wehr setzt. Er tut das
wohl, um seinen eigenen Blick auf das Verstehen plastischer herausarbeiten zu
können. Ganz im Sinn des symbolischen Interaktionismus verlegt er sich auf
die Deutungskreisläufe zwischen Personen und die Art und Weise, wie diese –
in unmittelbarer Gegenwart anderer – einen wenigstens vorläufigen Arbeits-
konsens über die Beschaffenheit ihrer Wirklichkeit bewirken. Von bestimmten
vorstrukturierten Situationen ausgehend inszenieren Menschen ihre Hand-
lungsentwürfe, versuchen sie trotz aller Risiken, Ausnahmen und Verletzbar-
310 Robert Hettlage

keiten aufrechtzuerhalten und zu einem guten Ende zu steuern, d.h. zur Akzep-
tanz zu führen. „Unterwegs“ kann aber viel passieren, so dass es auch zu Um-
orientierungen, Abbrüchen, Neuansätzen und damit Neudefinitionen kommt.
Diese sind der Ausgangspunkt für die nächste Deutungs- und Handlungsrunde.
Dabei geht es Goffman weniger um die subjektiven Deutungsperspektiven
der Handelnden als solche. In Anlehnung an Simmels „Formalismus“ und an
den Strukturalismus (Collins 1986) möchte er vielmehr formale Interaktions-
strukturen im Alltag beschreiben, wie sie sich, trotz aller schwankenden Ver-
stehens- oder Akzeptanzerfolge, trotz aller Zwischenfälle auf dem Weg zur
„richtigen“ Interpretation, herauskristallisieren. Dahinter möchte Goffman
(1999: 8) die Beziehungssystematik zwischen den Handlungen gleichzeitig
(„face to face“) Anwesender studieren. Dafür experimentiert er mit einer Viel-
zahl von Konzepten, mit denen er dieses pulsierende „Leben“ einzufangen
gedenkt. Seine Vorgehensweise der suggestiven Analogisierung, aber auch der
Dekonstruktion, wurde als „konzeptueller Konstruktivismus“ bezeichnet (Wil-
liams 1983). Für Lofland (2000) war Goffman sogar der „master coiner“ des
jeweils treffenden Begriffs.
ƒ Die dramaturgische Perspektive wird in den frühen Arbeiten zugrunde
gelegt. In „Wir alle spielen Theater“ (Goffman 2000) weist er auf die be-
sonderen Handlungen der Individuen unter den Bedingungen physischer
Kopräsenz hin. Denn die Welt ist – so gesehen – eine Bühne, auf der sich
die Einzelnen in ihrem Alltag präsentieren und bestimmte Rollen auffüh-
ren. Dabei lassen sich die Interaktionen in zentrierte und nicht-zentrierte
(fokussierte) unterscheiden (so in seinem Buch „Interaktion: Spaß am
Spiel, Rollendistanz“). Dabei zeigt sich schon, dass die Begegnungen ei-
nem unsichtbaren, normativen Regelwerk unterliegen, „unabhängig davon,
ob es sich um öffentliche, halböffentliche oder private Orte“ (Goffman
1971: 8), ob es sich um lockere Routinen oder ob es sich um Verhalten bei
„sozialen Gelegenheiten“ handelt. „Das Individuum im öffentlichen Aus-
tausch“ (Goffman 1982) bedarf sogar dieser strukturierten Anpassung an
die normative Ordnung, damit die Interaktion in geordneten Bahnen ver-
läuft und die Menschen – gerade wegen der Einschränkung ihrer Darstel-
lungsspielräume – Verhaltenssicherheit erlangen. Andernfalls wäre die De-
finition der Situation zu vorläufig. Das gilt auch noch im Fall eines sozial
anstößigen „Stigmas“ (Goffman 1998). Denn sogar das „Abnormale“
muss durch „Stigma-Management“ im alltäglichen Verkehr zwischen den
abweichenden und den normalen Gesellschaftsmitgliedern verhandelt und
jeweils neu geeicht werden (Kusow 2004: 180f.).
Alle Rahmen krachen in den Fugen 311

ƒ Während in den anfänglichen Arbeiten das strategisch sich inszenierende


Spieler-Selbst im Vordergrund stand, geht es Goffman in den späteren Ar-
beiten, besonders in der „Rahmen-Analyse“ (1996), eher um die andere
Seite der Medaille: um die Organisationsweise der alltäglichen Begegnun-
gen. Diese umschreibt er mit den Konzepten der interpersonellen Rituale,
der Interaktionsordnung und der sozialen Rahmung. Auch wenn Goffman
eine systematische Theoriebildung keineswegs beabsichtigt, versucht er
doch zu zeigen, dass sich die Individuen in ihrem Austausch nicht nur
dauernd maskieren, sondern auch berechtigten kognitiven Erwartungen
und moralischen Grundregeln gehorchen. Ausgehend von einer vorläufi-
gen Normalitätsannahme, konstituieren die Beteiligten durch dieses Vor-
verständnis „sinnhaft“ aufeinander bezogene Handlungen, ja sogar ihre
Bedürfnisse. Der Sinn bildet sich folglich in der Interaktion selbst. Der
Rahmen ist aber nicht ein für alle Mal gefestigt. Er wird ständig umgebil-
det, ja er kann sogar auseinander fallen, so dass die Ordnung wieder gänz-
lich neu gefunden werden muss. Auf diese Weise ergibt sich eine ständige
Spirale aus Vor-Definitionen, Engagement, kommunikativer Anerken-
nung, Enttäuschungen, Verletzungen, Blockaden, Rückzügen auf vorläufig
gesicherte Territorien und neuen Verfügbarkeiten für die nächste Deu-
tungsrunde. In „Rahmen-Analyse“ wird das ganz deutlich, denn hier zeigt
er, wie stark die kulturellen Deutungsmuster und deren sozialisierte Nor-
malität durch Unterwanderung der etablierten Deutungen ständig in Be-
wegung sind. Niemals ist ein für alle Mal gesichert, was in der Begegnung
„eigentlich vor sich geht“. Situationen müssen also fortlaufend neu- oder
nachinterpretiert werden, wenn man sich nicht hoffnungslos im Gewebe
von jederzeit möglichen Rahmungsirrtümern, bewussten Täuschungen
oder intransparenten Theateraufführungen verstricken will.
Interaktionen sind deswegen als interaktive Kommunikationssysteme zu be-
greifen, in denen die Darstellungszwänge der Teilnehmer und die nötigen nor-
mativen Rahmungsfestlegungen in einem gegenseitigen Abstimmungsverfahren
zu einer vorläufigen Deutungskongruenz gebracht werden. Diese Kreisläufe
sind im Folgenden genauer zu untersuchen.

3 Deuten und Darstellen: Goffmans dramatologischer Ansatz


Berühmt geworden ist Goffman vor allem durch seine frühen Arbeiten. Sie
wurden unter dem Etikett des dramaturgischen Handlungsmodells subsumiert.
Obwohl er nicht davon ausging, dass die ganze Welt eine Bühne sei, ist doch
312 Robert Hettlage

die Bühnenmetapher mit seinem Namen eng verbunden geblieben. Offensicht-


lich haben seine witzigen Detailbeobachtungen über den Alltag der face-to-
face-Begegnungen so viel Realitätsnähe, dass sich fast jeder in ihnen wiederer-
kennen kann. Wer hat nicht selbst schon mit Konfusionen und Verlegenheiten
zu kämpfen gehabt, die daraus entstanden, dass uns eine „Aufführung“ (z.B.
das Erzählen eines Witzes) nicht richtig gelungen ist, und wir nun versuchen
müssen, unser Gesicht zu retten. Insofern ist die Unterstellung recht suggestiv,
die Handelnden zunächst einmal so zu behandeln als seien sie Schauspieler, die
sich in einem Theater vor einem Publikum präsentieren und dieses von der
eigenen, möglichst gelungenen Darstellung einer Rolle überzeugen müssen.

3.1 Interaktion: Einigung auf reflexive Darstellungsformen


Tatsächlich macht es einen guten Sinn, jede Interaktion als von einem vierfa-
chen Zwang geleitet anzusehen. Einerseits gilt „Kopräsenz“, d.h. keiner kann
gänzlich ohne andere auskommen, hat sich also an anderen auszurichten (In-
teraktionszwang). Dabei muss er sich zwangsläufig irgendwie „zeigen“, weil er
in Anwesenheit anderer nicht nicht kommunizieren kann (Watzlawick, Beavin
& Jackson 1974: 50ff.). Diesem „Kundgabezwang“ (Srubar 1994: 15) steht
schließlich der jeweilige „Interpretationszwang“ gegenüber. Denn jeder muss
erkennen, was „hier eigentlich vor sich geht“, wenn sich jemand über bestimm-
te körperliche Signale zu erkennen gibt. Zumindest muss er durchschauen
lernen, was andere von sich in die Interaktion einzubringen bereit sind. Erfolg-
reich sind Kundgabe, Interaktion und Interpretation nur, wenn man dabei auch
die Perspektive des Anderen mit einbezieht. „Richtig“ kann nur handeln, wer
sich immer auch in die Rolle des Anderen versetzt (Reflexivitätszwang). Da
jeder Einzelne folglich als Handelnder und als Beobachter auftritt, laufen in
ihm die Positionen von ego und alter ständig durcheinander.
Zunächst unterscheidet Goffman Formen der Präsenz und Formen der In-
formation. Gemeinsame Anwesenheiten setzen voraus, dass Menschen einan-
der physisch nahe genug sind, um sich gegenseitig wahrgenommen zu fühlen
und „gesehen“ zu werden. Diese Erwartung äußert sich in wechselseitigen
Informationen sprachlicher und sonstiger expressiver Art (Nicken, Grüßen,
Lächeln). Denn jeder hat im „öffentlichen Raum“ der Kopräsenz – seien es
Begegnungen oder andere, mehr formelle Anlässe – gewisse „situationelle Ver-
pflichtungen“ gegenüber Bekannten oder Unbekannten. Dazu zählen angemes-
sene Kleidung, territorialer Respekt, Gesprächsrituale und die Kontrolle des
eigenen Körpers (Körperdistanz). Die jeweils zu beachtenden Regeln hängen
von der Typik der Situationen ab (Party, Spiel, Diskussionsrunde etc.). Mit
Alle Rahmen krachen in den Fugen 313

anderen Worten: Situationen werden mit Normen und Ritualen belegt, deren
Befolgung man in diesem speziellen Raum erwarten darf. Außerhalb dieser
raum-zeitlichen Grenzen sind die Verpflichtungen anderer Art oder erlöschen
gänzlich. Deshalb verwendet Goffman für die Präzisierung der Situationserfor-
dernisse auch das Konzept der Territorialität. Denn face-to-face-Interaktionen
sind an Räume gebunden, innerhalb derer der direkte Informationsaustausch
stattfinden kann. Hier liegt ein erster Hinweis auf die Rahmungsnotwendigkeit
vor.

3.2 Das Kommunikationssystem der Interaktion


Den hohen gegenseitigen Verpflichtungsgrad in Begegnungen illustriert Goff-
man durch das Konzept des Engagements. Schon der Eintritt in soziale Situa-
tionen ist durch angemessene Blickkontakte als Zeichen für „Anwesenheit“
normativ geregelt. Zugänge zu Begegnungen bedürfen wenigstens einer „per-
sönlichen (gestischen) Fassade“, aus der Alter, Geschlecht und „Zugänglich-
keit“ abzulesen sind. Jeder Teilnehmer muss sich und den anderen die jeweils
situative Verfügbarkeit für den in Gang gesetzten Handlungsablauf einer Un-
terhaltung oder einer Teamarbeit etc. darstellen. Kann er sich nicht voll auf die
Situation einlassen, dann muss er seine unangemessenen geistigen Abwesenhei-
ten („inadäquates Engagement“) wenigstens verhüllen und schützen („Enga-
gementschutz“). Schließlich kann es ja durchaus sein, dass sich jemand gleich-
zeitig mehreren Aktivitäten widmet, indem er zum Beispiel mit jemandem redet
und gleichzeitig einen Dritten beobachtet. Deswegen unterscheidet Goffman
Haupt- und Nebenengagements, dominante und untergeordnete Engagements.
Das An- und Wegblicken in nicht-zentrierten Interaktionen bezeichnet er als
„höfliche Gleichgültigkeit“ (Goffman 1971: 85). Die visuelle Beachtung muss
sogleich wieder zurückgenommen werden, um „besondere Absichten“ zu neut-
ralisieren. Wir kennen dieses Spiel von den ersten „interessierten“ Kontaktauf-
nahmen her. Bei zentrierten Begegnungen hingegen ist reger Blickkontakt als
Ausdruck erhöhter Zugänglichkeit sogar gefordert. Hierüber steuern sich die
ganzen Abläufe – vom Beginn bis zum Ende. Nichts ist irritierender oder be-
leidigender, als mit jemandem im direkten Kontakt zu stehen, ohne dass der
andere diesen gestisch entsprechend untermauert.
Beziehungszeichen sagen aber auch etwas über den Akteur selbst aus. Sie
untermauern nämlich ein mehr oder weniger kohärentes (Selbst- und Fremd-)
Bild des betreffenden Individuums. Denn jeder Handelnde muss bemüht sein,
den von ihm gezeigten Eindruck zu kontrollieren, um dadurch eine situations-
gemäße Darstellung zu „fabrizieren“. Denn die Teilnehmer erwarten eine kon-
314 Robert Hettlage

sistente, persönliche und soziale Identität. Der Handelnde symbolisiert nicht


nur Handlungen, sondern immer auch sich selbst als Ganzes und seinen Gel-
tungsanspruch im sozialen Feld. In der modernen, profanen Gesellschaft ist die
eigene Persönlichkeit das letzte sakrale Objekt, das uneingeschränkten An-
spruch auf Verehrung, Akzeptanz und Respekt erheischt. Der Schutz der Per-
sönlichkeitsrechte hat nicht nur eine makro-, sondern schon eine mikrosozio-
logische Bedeutung. Das heilige Selbst muss in der Interaktion – auf beiden
Seiten – jederzeit bestätigt und gesichert werden. Dem dienen die Begegnungs-
rituale. Als konventionalisierte soziale Verklammerungen (Begrüßungs- und
Verabschiedungsrituale) bereiten sie vorab einen vorläufig gesicherten Boden
für den erwartbaren Ablauf der Interaktion. Sie bewirken aber mehr: nämlich
soziale Anerkennung. Denn in ihnen bezeugt „ein Individuum seinen Respekt
und seine Ehrerbietung für ein Objekt von höchstem Wert“ (Goffman 1982:
97). Und was gibt es aus der subjektiven Sicht wertvolleres als das eigene
Selbst?
Kommunikation ist nie wirklich „zwanglos“, sondern folgt dem zwanglosen
Zwang des weiterlaufenden Lebens. Man muss auch künftig mit gewissen Per-
sonen weiterhandeln können, d.h. man muss die Begegnungen durch rituelle
Kontrollen „anschlussfähig“ halten. Aber auch wenn man sich noch so stark
kontrolliert, werden immer mehr Informationen mitgeteilt, als man selbst be-
absichtigen mag. Deswegen unterscheidet Goffman zwischen Informations-
flüssen, in denen Beziehungszeichen gegeben (signs given) oder weggegeben
werden (signs given off). Bei „gegebenen“ Informationen zeigt eine Person das
an, was sie andere wissen lassen will. Bei weggegebenen Informationen werden
unfreiwillige Hinweise in Gesten eingebaut, durch die der Akteur, ohne dass er
darüber vor sich völlige Klarheit gewinnt, seine eigene Glaubwürdigkeit zu
Markte trägt. Denn er setzt über den Tonfall, über Erröten, Stirnrunzeln oder
sein äußeres Erscheinungsbild häufig ungewollte Akzente, die das Gegenüber
zur Neubewertung der Information (oder Situation) veranlassen. Denn jede
irgendwie geartete Information fließt vom Handelnden zum Publikum, und
von diesem – als reflektiertes Image – wieder zurück zum Akteur. Im besten
Fall kann er daraus ablesen, wie gut oder schlecht er seinen Part gespielt hat
und welche Korrekturen er vorzunehmen hat. Daraus ist zweierlei abzuleiten:
einerseits der unhintergehbare Darstellungszwang, andererseits die Aufrechter-
haltung des eigenen Selbstbilds.
In Goffmans Interaktionstheorie ist ego jemand, der sich nicht nur wegen
seines Geltungsdrangs, sondern auch – viel fundamentaler – wegen der Not-
wendigkeit, sein Selbst zu schützen, ständig darum bemüht, seinen Ausdruck
Alle Rahmen krachen in den Fugen 315

sorgfältig zu kontrollieren, also einen guten Eindruck zu hinterlassen. Er hat


deshalb immer den Anderen, ein Publikum und sich selbst im Auge. Mit ande-
ren Worten: Er muss Eindrucksmanagement („impression management“)
betreiben, damit er so gelassen oder engagiert wie nötig, so selbstsicher und
gewandt wie möglich erscheint. Diese Informationen tragen entscheidend zur
Definition der Situation bei.
Gelingt diese Darstellung nicht (z.B. durch Verlegenheit und Ungeschick-
lichkeit), dann werden nicht nur die Ereignisse empfindlich gestört, es kommt
auch, was noch schlimmer ist, zu einer Gefährdung des Bildes, das andere
glauben, sich von mir machen zu müssen. Damit steht sogar mein Selbstbild
zur Disposition. Um das klarzumachen, wendet sich Goffman den Techniken
der Imagepflege zu. Vorab muss er zwischen dem dargestellten Selbst und dem
Darsteller unterscheiden. Das Erstere bezieht sich auf den Schauspieler, der
nach der gelungenen Verkörperung einer Figur und angemessenen Inszenie-
rung trachtet (Goffman 2000: 230). Wie die „weggegebenen“ Zeichen verdeut-
lichen, kann die Darstellung nicht ganz von dem dahinter verborgenen Darstel-
ler und seinem verletzlichen, sakrosankten Selbst abstrahieren. Insgesamt gilt
aber, dass man von anderen über die dargestellten Bilder und Rollen (Alter,
Geschlecht, Schicht) identifiziert werden muss. Das macht die soziale Identität
aus. Diese aber umhüllt eine einzigartige Biographie und situative Vorerfahrun-
gen, die als persönliche Identität in die soziale Interaktion hineingetragen und
dort identifiziert werden. Jeder ist zur situationsgerechten Darstellung seines
Selbst – in beiden Identitätsschichten – nicht nur verpflichtet (Pflicht zur
Kundgabe), er kann auch nicht anders, als über sich selbst solche relevanten
Informationen preiszugeben.
Die Regeln der Kundgabe schlagen zwangsläufig in Erwartungen an das
Individuum um. Was aneinander bindet sind für gewöhnlich die gegenseitigen
Vorschriften und Erwartungen hinsichtlich des kontrollierten Umgangs mitein-
ander. Dabei sind die Pflichten der einen Seite zugleich die Erwartungen der
anderen (Goffman 1982: 255). Diese harte Notwendigkeit schränkt die ur-
sprüngliche Theatermetapher erheblich ein. Denn die Menschen stehen nicht
einfach auf einer Bühne und sondern beliebige Bilder von sich ab. Jede Dar-
stellung wird auch immer unter dem Gesichtspunkt der Selbst-Darstellung
(und Selbst-Gefährdung) relevant. Es ist die Eigentümlichkeit der Kommuni-
kation, dass jeder dabei, ob er will oder nicht, Informationen über sich (als
Selbst) herausrücken muss, um überhaupt mit anderen Kontakt aufnehmen zu
können. Die Darstellung einer Rolle kann nicht gänzlich ohne die – wenigstens
partielle – Darstellung des dahinter versteckten Selbst auskommen (vgl. Goff-
316 Robert Hettlage

mans berühmte Ausführungen zur so genannten Rollendistanz). Beides ist


Pflicht und wird dementsprechend erwartet. Denn die Darstellung des Selbst
ist Beweis dafür, dass man in der Lage ist, vor einem Publikum überhaupt eine
Rolle zu spielen (Goffman 1973: 109). Diese Dreifachkompetenz zu bewälti-
gen, nämlich mit anderen zu kommunizieren, eine „Sache“ darzustellen (z.B.
ein Thema, eine Rolle) und sein Selbst dabei durchblicken zu lassen, stellt den
Einzelnen vor schwierige Managementaufgaben.
Natürlich soll nicht in Abrede gestellt werden, dass der Einzelne dabei ab-
sichtlich auch Fehlinformationen erzeugen kann. Das stellt die Interaktions-
partner vor erhebliche Verstehensleistungen. Denn ein zutreffendes Urteil über
den „wahren“ Wert einer Aussage, einer Geste oder eines Bildes gelingt nur,
wenn jemand Vorinformationen über die darstellende Person besitzt, wenn er
„weggegebene“ Informationen erkennt und somit den Hiatus zwischen darge-
stelltem und darstellendem Selbst überwindet. In der reflexiven Verknüpfung
mag das handelnde Ego dies wiederum voraussehen und die Informationen
über die eigene Person (erneut) manipulieren wollen. Solche Schutzmaßnah-
men für das eigene Selbst macht Goffman an der Unterscheidung zwischen
Vorder- und Hinterbühne klar. Auf der Vorderbühne gelten die Regeln des
Anstands und der Höflichkeit. Diese müssen nicht in wahrhaftiger Gesinnung
befolgt werden. Strategische Verhaltensweisen sind nicht ganz unwahrschein-
lich. Auf der Hinterbühne bedarf man solcher Masken hingegen nicht, da nur
einigen Wenigen der Blick hinter die Fassade freigegeben wird. Auf der Vor-
derbühne (etwa bei Beerdigungen) mag die Illusion der „wahren Gefühle“
verbreitet werden, während auf der Hinterbühne die strategisch unstimmigen
und „unanständigen“ Reaktionen zum Zug kommen. Die Trennung der Sze-
nen und der Publika setzt voraus, dass man die Interaktion gewissermaßen
zweiteilen kann. Das gelingt häufig dadurch, dass man der körperlichen Fassa-
de (Kleidung, Schmuck, Make-up) und der sozialen Fassade (Rollenkompe-
tenz) den Raum einer privaten Kulisse der Vorbereitung und des Trainings
vorschaltet. Nur wenige Verschworene (das „Ensemble“) dürfen bei der dra-
maturgischen Einübung als kritisches (Teil-)Publikum mitarbeiten.
Für das nicht eingeweihte eigentliche Publikum „vorne“ ist es deswegen
keineswegs immer klar, ob ein dargestelltes „Image“ einen richtigen oder einen
falschen Eindruck vermittelt. Wird er als aufgesetzt oder unehrenhaft durch-
schaut, dann stellt er nicht nur die Aufführung, sondern das Selbst schlechthin
in Frage. Je nachdem, ob die Inszenierung als diplomatisch, raffiniert oder
lügnerisch gewertet wird, fällt das Gesamturteil über die Persönlichkeit gnädig,
mitleidig oder vernichtend aus. Deswegen muss der Spieler auf hohe Konsis-
Alle Rahmen krachen in den Fugen 317

tenz seiner Spielzüge achten. Werden ein Ereignisverlauf oder eine Mitteilung
den Regeln entsprechend stimmig dargestellt, so kann der Handelnde die ge-
wünschte Bestätigung durch sein Gegenüber erhoffen. Praktiken und Konven-
tionen schützen beide Seiten. Sie legen das Maß der „richtigen“ Aufmerksam-
keit fest, grenzen störende Unterbrechungen und Beleidigungsrisiken ein und
führen Gespräche an den Klippen des möglicherweise irritierenden Abbruchs
vorbei. Insofern ist die Wahrung des jeweiligen Images die Bedingung für eine
gelungene Interaktion.
Werden Brüche im Eindrucksmanagement festgestellt, dann lässt das Publi-
kum die „Aufführung“ unter Umständen platzen. Als Sanktion wird es nicht
nur die Darstellung als eine solche entlarven, sondern auch den Darsteller
bloßstellen. Er verliert seinen guten Ruf, sein Ansehen, also seine soziale Iden-
tität (Goffman 2000: 55). Das ist das alltäglich inszenierte Drama jeder sozialen
Begegnung und ihrer Deutung. Die Distanz zwischen den Interaktionspartnern
bleibt unaufhebbar. Jede Selbstdarstellung kann scheitern und damit für den
Urheber gefährlich werden. Er gerät in eine peinliche Situation („Scham“), wird
Opfer von Spott, Verachtung, Lächerlichkeit und hat alle Mühe, sein Gesicht
zu wahren („face work“). Sind die Bemühungen – wozu oft auch die Mithilfe
anderer Teilnehmer erforderlich ist („Takt“) – nicht erfolgreich, so kommt das
einem sozialen Absturz gleich. Häufig kann man sich nur retten, wenn man die
peinliche Interaktion gänzlich abbricht. Im Grundsatz ist keine sozial herge-
stellte Wirklichkeit solchen Zweifeln und der Gefahr des Scheiterns gänzlich
enthoben. Deswegen ist das Bedürfnis nach festen Interpretations- und Verhal-
tensleitlinien groß. Das versucht Goffman an der Rahmenanalyse zu verdeutli-
chen.

4 Darstellung und Rahmung


Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass wir es bei Begegnungssituationen
zunächst mit den „öffentlichen“ (dargestellten) Personen zu tun haben. Die
Situation ist der Ort, in dem unabweislich über das Handeln und damit über
die soziale Ordnung entschieden wird. Die Selbst-Bilder sind deren Wider-
schein, so wie es Mead (1969) in seiner Dialektik von „Me“ and „I“ umrissen
hat.

4.1 Der Überraschungscharakter von Wirklichkeit


Individuen werden unablässig physisch, d.h. räumlich, zeitlich und über ihr
Engagement (also über Gesten, Gewohnheiten, Kommunikationsstile) veror-
318 Robert Hettlage

tet. Dieser Standort wird in jeder Interaktion provisorisch ausgehandelt. Dabei


sind die Sinn- und Sicherheitsklammern der Zeremonien und Rituale hilfreich.
Sie dienen als Interpretations- und Energiespeicher, in denen Erinnerungen an
frühere Interaktionen aufbewahrt werden.
Diese Sicherheiten sind aber nur vorläufiger Natur, denn die Vorräte an
Wissen müssen im „hier und jetzt“ ablaufenden Ereignis zum Tragen kommen.
Das verschärft den Verhandlungscharakter der Ordnung. Denn Beziehungen
erschöpfen sich nicht in allgemeinen sozialen Klassifikationen, sondern müssen
immer noch mit Hilfe besonderer, situationsspezifischer Beschreibungskatego-
rien abgetastet werden. Das Lernfeld ist grundsätzlich offen. Das macht es aus,
dass Handelnde nicht als reiner Reflex der Außenwelt agieren. Sie zappeln
nicht als Puppen an den Fäden „des Systems“, sondern wirken als „bricoleure“
ihrer kleinen Welt. Zwangsläufig wächst damit der Überraschungscharakter der
ausgehandelten Wirklichkeit an. Die größte Nähe kann plötzlich in Entfrem-
dung umschlagen, wenn die Regeln des Umgangs nicht eingehalten oder nicht
beherrscht werden. Jede falsche Bewegung ist Anlass zu erhöhter Alarmbereit-
schaft aller Seiten. Dadurch herrschen Unbestimmtheit und Befremden, Risiko
und Sorge, Verletzbarkeit und Angst vor.
Eine solche Verunsicherung hilft den Menschen nicht weiter. Wirklichkeit
muss eine gemeinsame werden, wenn wir nicht in Anomie verfallen wollen.
Vertrauensbildende Maßnahmen – wie rituelle Sorgfalt, dramaturgische Diszip-
lin und Loyalität – müssen das Gefühl der Regelhaftigkeit und Kontinuität
sichern helfen. Andernfalls wäre die Wirklichkeit gänzlich unvorhersehbar und
Ordnung unbeherrschbar. Deswegen sind Gesellschaften auf der Mikro- und
Makroebene jeweils auf der Suche nach einer gemeinsamen Ortsbestimmung,
aus der sich eine verlässliche (vielleicht auch idealisierte) „Normalität“ gewin-
nen lässt. Angesichts des schwankenden Bodens unter unseren Verstehens-
und Handlungsweisen sah sich Goffman gezwungen, die Frage der Stabilität,
des gegenseitigen Vertrauens, der Normalität der Erscheinungen (normal ap-
pearances) und des Engagements für eine gemeinsame Wirklichkeit neu zu
durchdenken. Dazu dient ihm das Konzept der Rahmung.

4.2 Ordnung durch Rahmung


Auch wenn Normalität ein soziales Konstrukt sein sollte, könnten wir nicht
darauf verzichten, eine Realität zu unterstellen, die nicht ständig neu „erfun-
den“ werden muss. Die Bewältigung des Alltags hängt davon ab. Sie kann nur
gelingen, wenn wir den zufälligen Charakter von Wirklichkeit einklammern,
und sei es nur durch ein unreflektiertes, dumpfes, traditionales Befolgen von
Alle Rahmen krachen in den Fugen 319

Routinen und Regeln. Das ist aber nicht genug, da sie – wie gesagt – von der
situativen Bastelarbeit der lokalen Handelnden abhängen. Definitives Vertrau-
en in die einmal festgestellte Wirklichkeit können wir also nicht gewinnen.
Deswegen oszillieren wir zwischen Notfall, Alarm und Beruhigung. Das sehen
wir schon daran, dass wir dann, wenn unsere Ordnungserwartungen enttäuscht
wurden und zusammenbrechen, schnell zu einer neuen, „modernen“ Lesart
von Wirklichkeit gelangen, die wir am besten gleich wieder für „normal“ erklä-
ren. Denn solcher Konsens ist das Werkzeug des sozialen Überlebens. Seine
Normalisierung ist die Leistung der Rahmung. Sie zieht die Grenze zwischen
„erstaunlich“ und „gewöhnlich“, „alarmierend“ und „beruhigend“, „normal“
und „nicht normal“. Rahmen sind wie Bilderrahmen. Sie binden unser Auge
und wirken als Klammern über das, was unseren Ereignissen ihre Bestimmtheit
verleiht.
Trotz der Fluidität der sozialen Wirklichkeit gelingt es den Menschen näm-
lich doch, ein gemeinsames Deutungsschema über die Irregularitäten alltägli-
cher Welterfahrung zu werfen und eine Art gruppenspezifisches Hintergrund-
verständnis für Ereignisse zu erreichen. Goffman spricht von „Gruppenkos-
mologie“. Er meint damit eine Art gesellschaftliche Sehhilfe, ein „sozialer
Wahrnehmungsfilter“, der uns glauben macht, dass das, was real erscheint,
auch real ist. Ein solcher „primärer Rahmen“ ist z.B. der Erkenntnisrealismus,
wonach es „fraglos“ eine originäre Außenwelt („den echten Schuss aus echten
Kanonen“) und die anderen gibt bzw. die Gesellschaft einfach „da“ ist („taken
for granted“) und für uns die Leitlinien der Interpretationen bereithält. Ein
solcher lebensweltlicher Realismus stellt sich auf ganz natürliche Weise ein, da
der vorgängige Herstellungsprozess solcher Vereinbarungen im alltäglichen
Vollzug unsichtbar gemacht wird. Das ist der Fall, weil die Ereignisse – in sich
selbst erfüllender Weise – unsere Projektionen zu bestätigen scheinen. Das
gewöhnliche Verhalten (ordinary conduct) ruht häufig schon auf einer Typisie-
rung des Schicklichen; es ist eine „Geste“ gegenüber dem Verbindlichen. Mit
anderen Worten: Ereignisse und Rahmen passen gewöhnlich so gut aufeinan-
der, weil das, was Menschen als „normal“ erwarten, immer schon als „real“
gerahmt wird.
„Normalität“ ist folglich die Unfraglichkeit der gruppenspezifischen Inter-
pretationshorizonte, also der Rahmen selbst. Die Alltagspragmatik zwingt of-
fensichtlich dazu, den Herstellungscharakter des sozialen Konsensus nicht
selbst wieder fraglich werden zu lassen, sondern dem Bewusstsein zu entzie-
hen. Rahmungen sind „implizites Wissen“ (Polanyi 1966) von der „gegebenen“
Normierung unseres Lebens. „So erscheint das Alltagsleben, so wirklich es an
320 Robert Hettlage

sich ist, oft als ein geschichteter Abglanz eines Urbilds, das selbst einen völlig
ungewissen Wirklichkeitsstatus hat“ (Goffman 1996: 604). „Normal“ zu han-
deln oder „natürlich“ zu sein, heißt in der interpretativen Soziologie und bei
Goffman im Besonderen nichts anderes, als dass man die anderen davon über-
zeugen kann, dass Rahmung und Wirklichkeit gleichzusetzen sind. Dann sind
kritische Distanz, Verdacht und Alarm überflüssig. Erscheinungen werden als
üblich und erwartbar gewertet, so dass man sie nicht mehr besonders beachten
muss. Diese Übereinstimmung ist zwar nur ein Arbeitskonsens, macht jedoch
die gemeinsame Lesbarkeit und die „Basiskontinuität“ der Welt aus (Goffman
1996: 317). Wenn den Beteiligten nämlich der Handlungsrahmen klar ist, dann
bleibt die inhärente Mannigfaltigkeit der Wirklichkeiten und subjektiven Deu-
tungen vorläufig still gestellt. Normal ist das durch Erfahrung Erhärtete und
Eingeübte, das gerade deswegen keine weiteren Fragen aufwirft. Es ist der
selbstverständlich gewordene Wissensvorrat im Alltag, der uns den Boden für
die Frage entzieht, „worin solche normalen Erscheinungen bestehen“ (Goff-
man 1971: 342). Normalität des Handelns, der Wahrnehmung und der Deu-
tung besteht folglich darin, dass vorläufig kein Anlass besteht, Ereignisse, ja die
ganze Rahmung der Sinnbereiche in Frage zu stellen (Goffman 1996: 523).
Normal ist eben normal.
So werden die Wirklichkeit und die Sozialstruktur etabliert. Die soziale
Ordnung kann „mechanisch“ weiterlaufen, weil sie das Verständnis ihres Ord-
nungscharakters schon als von den Interaktionspartnern geteilte Erkenntnis-
voraussetzung in sich integriert hat (ebd.: 563). Erst die Tatsache, dass Regel-
mäßigkeit des Verhaltens als normal und natürlich erscheint, erlaubt uns den
anderen in unserem Umfeld zu trauen (Goffman 1971: 317). So gesehen ist
soziale Realität eine „kognitive Organisation“ (Cicourel 1973: 27), deren Kon-
struktcharakter durch tagtägliche Einübung in eine bestehende Gruppenkultur,
ihre Klassifikationsschemata und Deutungsmuster verwischt worden ist. Erst
diese vorkonstruierten Bezugsschemata meiner Welt machen das Verstehen des
Ablaufs dieser Welt möglich (vgl. Schütz & Luckmann 1973: 11). Denn sie
operieren in jeder Begegnung als schon zugrunde gelegte, gemeinsam gewor-
dene Annahmen über die Art und Weise, wie man in einer Situation natürli-
cherweise vorzugehen hat. Insofern ist Normalität ein „überdeterminiertes“
Ereignis. Die Gewöhnung daran erzeugt Beschwichtigung und somit plausible
Erklärungsmöglichkeiten. (Das heißt aber auch: Wer etwas verbergen möchte,
muss sich am besten daran orientieren, was in den Augen anderer als normal
erscheint.) Es ist das schon vorab geteilte, also sozialisierte Verständnis vom
Sinn der Welt, das uns eine Übereinstimmung über die ordentliche Produktion
Alle Rahmen krachen in den Fugen 321

von Selbstdarstellungen und Rollen erlaubt und die Kontinuität unserer Begeg-
nungen absichert. Die Rahmung verschafft uns einen Sinn für richtige Struktu-
rierung unserer Interaktionen, auch dann noch, wenn diese unvorhergesehen
sind und uns vielleicht etwas seltsam erscheinen. Sie werden, sofern es eben
geht, „ein-geordnet“ (normalisiert).
Goffman nennt als solche Alltagsstrukturierungen die raum-zeitlichen
Rahmen (z.B. wenn im Theater der Vorhang fällt oder das Pausenzeichen er-
tönt). Daneben erwähnt er zeremonielle Rahmen (Grußpraktiken), Gesichts-
rahmen (bei Trauerfeiern oder Ehrungen), Gesprächsrahmen (Sprachstil, Mi-
mik bei Vorträgen) und Geschlechtsrahmungen (z.B. durch unterschwelliges
Kontrollieren von Geschlechtsidentitäten). Andere Rahmen sind denkbar.

5 Rahmung und Deutung: Der Kreislauf beginnt von neuem


Wie schon angedeutet ist Alltagssicherheit aber nur vorläufig zu gewinnen.
Denn in Wahrheit krachen auch alle Rahmen beständig in ihren Fugen. Sie sind
nicht ein für alle Mal gesichert, sondern können auch bersten und brechen. Die
vielfältige Ineinanderschachtelung der Wirklichkeiten wird daran ersichtlich,
dass die primären Rahmen im Laufe allmählich oder plötzlich umgerahmt wer-
den können (sekundäre Rahmen). Die grundsätzliche Wirksamkeit der primä-
ren Rahmen wird sogar erst dann sichtbar, wenn die (Normali-
täts-)Erwartungen, die mit ihnen verbunden sind, sich nicht bestätigen. Es
macht umgekehrt aber auch klar, wie verletzbar unser Handeln und unsere
Wirklichkeitskonstruktionen insgesamt sind.
Ein solcher Kontinuitätsbruch kann etwa dadurch zustande kommen, dass
etablierte Rahmungsvereinbarungen durch Rahmungsfallen, Rahmungsirrtümer
und Fehlinformationen (misframings), Täuschungen (fabrications) und Modu-
lationen („keyings“) mit anderen Inhalten unterlegt und somit unterlaufen
werden. Das kann für alle ersichtlich sein oder einem Teil der Interaktionspart-
ner verborgen bleiben. Ersteres ist bei den Modulationen der Fall. Sie machen
darauf aufmerksam, dass primäre Rahmen einen neuen Sinn erhalten, indem sie
in etwas transformiert werden, das dieser Wirklichkeit zwar nachgebildet ist,
von den Beteiligten aber ganz anders gedeutet wird.
Täuschungen und Lügen sind hingegen darauf aus, das Denken und Han-
deln von anderen Menschen so zu lenken, dass sie zu einer falschen Vorstel-
lung darüber gebracht werden, was eigentlich vor sich geht (1996: 98). Die
asymmetrische Informationsverteilung zwischen dem Täuscher und dem Opfer
macht, dass die Letzteren nur das wahrnehmen, was offensichtlich vor sich
322 Robert Hettlage

geht, während die Fälscher den wahren Hintergrund kennen. Die systematische
Produktion von Schein, also die Lüge, kann in guter oder in schädigender Ab-
sicht ausgeführt werden. Zudem gibt es selbst geschaffene Täuschungsmanö-
ver (z.B. Wahnvorstellungen, Tagträume). Auch die Täuschungen können
wieder transformiert werden, so dass sich komplizierte, mehrschichtige und
kaum noch durchschaubare Verwerfungen ergeben. Bekannt sind Fälle der
heimlichen Überwachung von Spionen oder jener Gauner, die selbst wieder
betrogen werden, oder schließlich des Fallenstellers, der selbst in seine Falle
tappt. Nie ist die Gefahr ganz auszuschließen, dass die Täuschung auffliegt und
die bisherige Sicherheit in der Deutung der Wirklichkeit gänzlich ins Wanken
bringt. Aber es ist auch dann schon der Fall, wenn der Zauberer seine Tricks
vorführt, wir ihm aber trotz aller Anstrengung unseres Spürsinns nicht auf die
Schliche kommen. Goffmans Schriften überborden mit Beispielen, die diese
konstruktive Kreativität belegen.
Werden Modulationen und Lügen erkannt, dann muss die bisherige Nor-
malitätsannahme grundsätzlich überdacht werden. Nur wenn man neue Infor-
mationen gewinnt, kann man sich daran machen herauszufinden, was „wirk-
lich“ gilt. Das weist uns auf das grundsätzliche Problem zurück, dass Realitäten
durch sozialen Abgleich hergestellt werden, gerade dadurch in ihrer Konstituti-
on aber auch veränderlich sind. Es muss die Mehrdeutigkeit primärer Rahmun-
gen prinzipiell einkalkuliert werden. Dadurch sind Fehlrahmungen, Rahmungs-
irrtümer und Rahmungsstreitigkeiten überhaupt möglich. Das macht die Sache
für den sicherheitsbedürftigen Alltagshandelnden nicht eben leichter. Denn er
muss sich bewusst bleiben, dass die in die Rahmen eingelagerten normativen
Erwartungen in ihrer tiefsten Konstitution auf schwankendem Boden stehen.
Denn sie sind nichts anderes als „enttäuschbare“, also veränderbare, soziale
Absicherungen darüber, welches Verhalten in welcher Situation als angemessen
gelten soll und welches Engagement dafür zu leisten ist. Rahmungen schaffen
zwar Sinn, Umrahmungen sind aber nicht ausgeschlossen. Sie schaffen dann
einen neuen Sinn. Die neu gewonnene Normalität muss wiederum durch Arti-
kulationszeichen (Mimik, Gestik) „bis auf weiteres“ zur gültigen Realität erklärt
werden.
Wir müssen mit der ceteris paribus-Klausel leben, wissen aber, dass sie nur
ein methodologischer Behelf ist, der jederzeit umgestoßen werden kann. Der
Gewinn an gemeinsamen Wirklichkeitsüberzeugungen ist niemals definitiv.
Vielmehr werden wir – bei näherem Hinsehen – auf beständig fortlaufende
Deutungskreisläufe verwiesen. Rahmen sind verletzlich. Normalverhalten ist
wahrscheinlich, aber nie wirklich gesichert. Jede Ordnung bleibt ein Entwurf
Alle Rahmen krachen in den Fugen 323

und ist immer eine „negotiated order“ (Strauss 1978). Im Grundsatz gilt das für
die kleinen und die großen Strukturierungen, für die Interaktionsordnung wie
für Makrogesellschaften.

6 Makrosoziologische Perspektiven
Goffmans Mikrosoziologie ist zwar ein in sich geschlossenes und stimmiges
Theoriegebäude, beinhaltet aber durchaus Erweiterungsmöglichkeiten, die auf
die Meso- und Makroebene zielen. Er war sich bewusst, dass soziale Mikro-
Ordnungen in den größeren Zusammenhang der „sozialen Tatsachen“ einer
Gesellschaftsstruktur eingebettet werden müssen.
Umgekehrt ließ er keinen Zweifel daran, dass auch Makrostrukturen ihre in-
terpretative Entstehungsgeschichte haben. Auch sie sind Herstellungsprozessen
unterworfen, denn sie werden durch die einzelnen Handelnden mit ihren jewei-
ligen Ressourcen jeden Tag von neuem implementiert, korrigiert und neu fest-
gestellt. Es gibt keine anderen als gedeutete Strukturen. Insofern sind die Mak-
rostrukturen vom dauernden „Strom des Lebens“ abhängig. Wenn ein Macht-
haber keine Zustimmung durch die Machtunterworfenen erfährt, kann er keine
andauernde Macht „haben“. Wenn Krieg ist und keiner hingeht, so sagte die
68er-Generation, dann ist eben kein Krieg. Wenn sich die Menschen massen-
haft auf von außen „gesetzte“ Deutungen nicht einlassen, dann haben diese
und die davon gestützten Sozialstrukturen auch keine soziale Geltungschance.
Mikro- und Makro-Ordnung stehen also in einer kontinuierlichen Verknüp-
fung. Den „Link“ zwischen beiden Ebenen hat Goffman nur angedeutet, aber
nicht selbst ausgearbeitet. Je nach Betrachtungsweise kann man die Analyse des
Zusammenhangs „von oben“ oder „von unten“ in Angriff nehmen. Ganz der
Simmel’schen Inspiration folgend, hat Goffman bei der „seelischen Wechsel-
wirkung zwischen Individuen“ angesetzt, die sich zu dauerhaften Beziehungs-
formen, also zur Vergesellschaftung, verdichten (Goffman 1953: IV). Er stützt
sich dabei auf die berühmte Passage aus Simmels „Grundfragen der Soziolo-
gie“ von 1917, in der es heißt:
Fortwährend verknüpft sich und löst sich und knüpft sich von neuem die Verge-
sellschaftung unter den Menschen, ein ewiges Fließen und Pulsieren, das die In-
dividuen verkettet, auch wo es nicht zu eigentlichen Organisationen aufsteigt.
Daß die Menschen sich gegenseitig anblicken und daß sie aufeinander eifersüch-
tig sind, daß sie sich Briefe schreiben oder miteinander zu Mittag essen, daß sie
sich ganz jenseits von greifbaren Interessen sympathisch oder antipathisch be-
rühren [...], daß einer den anderen nach dem Wege fragt und daß sie sich fürein-
ander anziehen und schmücken – all die tausend von Person zu Person spielen-
324 Robert Hettlage
den momentanen und dauernden, bewußten oder unbewußten, vorüberfliegen-
den oder folgenreichen Beziehungen, [...] knüpfen uns unaufhörlich zusammen
[...]. All jene großen Systeme und überindividuellen Organisationen, an die man
bei dem Begriff von Gesellschaften zu denken pflegt, sind nichts anderes als die
Verfestigungen – zu dauernden Rahmen und selbständigen Gebilden – von un-
mittelbaren, zwischen Individuum und Individuum stündlich und lebenslang hin
und hergehenden Wechselwirkungen.

Sein Studium der mikrosoziologischen Interaktionsordnungen reiht sich ein in


den Ansatz aller verstehenden Soziologie. Silverman (1972: 108ff.) umreißt
diese Denkweise folgendermaßen:
ƒ Im Blickpunkt der Betrachtungen steht das bedeutungsgeladene Handeln
und nicht das gleichförmige Verhalten an sich. Handlungen sind ein Sys-
tem von Erwartungen, Bewertungen von Zielen und Situationsdefinitio-
nen.
ƒ Bedeutungen sind das Ergebnis sozialer Typisierungen (von Wissensbe-
ständen, Rechten, Pflichten, Positionen, sozialen Feldern). Diese werden
von nachfolgenden Akteuren als „soziale Tatsache“ erlebt und bilden den
Bezugsrahmen, um eigenes und fremdes Handeln wieder mit Sinn zu bele-
gen.
ƒ Bedeutungen können nicht gänzlich in unserem Inneren gefunden werden.
Sie sind soziale Ereignisse, deren „Angemessenheit“ von anderen laufend
bestätigt und als „natürliche Ordnung der Dinge“ routinisiert (institutiona-
lisiert) wird. Sie bestimmen die Art, wie der Alltag sozial konstruiert und
als real wahrgenommen wird.
ƒ Bedeutungen sind folglich nicht einfach „objektiv“ gegeben, sondern wer-
den durch immerwährende, dramaturgische Aufführungen aufrecht erhal-
ten. Die so entstehende Wirklichkeit verlangt kooperative Handlungen,
wenn sie nicht verfallen soll. Wer immer die Erwartungen verletzt, bringt
unsere soziale Welt und die Selbstbilder zum Einsturz.
ƒ Bedeutungen und Erwartungen werden aber niemals von allen in gleicher
Weise geteilt. Es gibt immer abgegrenzte Sinnbereiche, unvollständig defi-
nierte Rollen und konkurrierende Interpretationsschemata für die Prob-
lembewältigung. Wer sich mit seiner Konzeption durchsetzt, erzwingt eine
bestimmte, vielleicht neue Definition der Wirklichkeit oder Normalität (al-
so sozialen Wandel).
ƒ Die Erklärung beginnt mit der Beobachtung subjektbezogener Gedanken-
gänge und der durchschnittlich intendierten Absichten der Handelnden.
Sie versucht Wahrscheinlichkeiten („Chancen“) auszuleuchten, warum sich
Alle Rahmen krachen in den Fugen 325

Menschen auf bestimmte Handlungen einlassen. Die Deutungen werden


nur zwingend, wenn sie von den Handelnden als „äußere“ Tatsache akzep-
tiert und objektiviert werden. Das gilt auch für die Begriffsbildung selbst.
ƒ Institutionen sind dramatische Konventionen, die auf die Darstellung und
Bestätigung von Meinungen benennbarer Akteure reduzierbar sind. Des-
halb sind Reifizierungen „der“ Gesellschaft, „des“ Staates, „der“ Rollen zu
vermeiden. Ändern sich die Meinungen („Definitionen“), dann ändern sich
auch die Institutionen.
„Das Drama ist in uns und wir sind das Drama.“ Diese Devise des italieni-
schen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Luigi Pirandello (1964) hat Goff-
man besonders ernst genommen und in seinen Darlegungen zur Interaktions-
ordnung beispielhaft demonstriert.

Literatur
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Rollen und Rahmen der
Interaktionsordnung: Journalismus
aus der Perspektive seiner Interaktionen

Carsten Schlüter

„Ich bin nicht jemand, der behaupten würde, daß sich unsere Aussagen auf großartige Leistungen
stützen könnten. Mir ist sogar zu Ohren gekommen, daß wir froh sein könnten, wenn wir unsere
bisherigen Ergebnisse gegen ein paar gute begriffliche Unterscheidungen und ein kühles Bier
eintauschen könnten. Doch es gibt nichts in der Welt, daß wir dafür eintauschen sollten, was wir
haben: die Begabung, alle Elemente des gesellschaftlichen Lebens mit einem unverstellten und
unbestechlichen Forschergeist anzugehen, und die Weisheit, dieses Mandat nirgendwo anders
einzulösen als bei uns und in unserer Disziplin.“ (Goffman 1994: 103)

1 Einleitung
1982, kurz vor seinem Tod, schrieb Goffman in der Funktion als Präsident der
American Sociological Association das Manuskript zu seiner Abschlussrede,
welche er nie halten konnte. Der Krebs hatte ihn bereits zu sehr geschwächt.
In diesem Manuskript fasste er noch einmal zusammen, was ihn Zeit seines
Lebens beschäftigt hat:
Es war in all den Jahren mein Anliegen, Anerkennung dafür zu finden, daß diese
Sphäre der unmittelbaren Interaktion der analytischen Untersuchung wert ist –
eine Sphäre, die man auf der Suche nach einem treffenden Namen, Interaktions-
ordnung nennen könnte (Goffman 1994: 55; Hervorhebung im Original)

In den anschließenden 25 Jahren haben sich verschiedene Sozialwissenschaften


diesem Anliegen angenommen und immer wieder auf den Erkenntnisgewinn
einer interaktionistischen Forschung hingewiesen. Doch obwohl Goffmans
Begriffe wie Rahmen, Rollendistanz oder Image in der Sozialwissenschaft ihren
festen Platz haben, gibt es kaum eine vertiefende Auseinandersetzung mit sei-
nem Werk. So ist es nicht verwunderlich, dass Hettlage und Lenz (1991) von
Goffman als einem „unbekannten Bekannten“ sprechen. Und was für die Sozi-
328 Carsten Schlüter

alwissenschaft insgesamt gilt, ist in der Kommunikations- und Medienwissen-


schaft nicht anders. Während die Kommunikatorforschung Goffman gänzlich
ignoriert – die einzige Ausnahme ist hier Willems (2000), der dafür plädiert, die
Rahmenanalyse auch auf den Journalismus anzuwenden –, finden sich verstreu-
te Artikel zur Rezeptionsforschung (vgl. z.B. Höflich 1996) und hier speziell
zum Framing-Ansatz (vgl. Entman 1993), dessen Ursprünge zu Goffman je-
doch in Vergessenheit geraten sind und nicht weiter aufgegriffen wurden (vgl.
u.a. Scheufele 1999; Renckstorf & Wester 1999; Bonfadelli 2003: 88f.).
Diese doch eher unbefriedigende Literaturlage sollte jedoch nicht zum An-
lass genommen werden, Goffman weiterhin in eine „Spezialistennische“ zu
drängen, in welcher sich wenige Eingeweihte tummeln, sondern ganz im Ge-
genteil dazu anregen, Goffmans Konzepte zu analysieren und auf breiter Ebe-
ne zu benutzen, um einen komplementären Erkenntniszuwachs zu erzielen.
Gerade in der Journalismusforschung, wo die Fokussierung auf Organisations-
systeme und gesellschaftliche Wechselwirkungen zwar enorme Erkenntnisfort-
schritte gegenüber den Anfängen der wissenschaftlichen Disziplin einbrachten,
nun jedoch zunehmend unter dem damit einhergehenden „Verlust“ von Zu-
sammenhängen zwischen Strukturen und individuellen Einflüssen in ein kriti-
siertes Vakuum geraten, ist zu prüfen, ob Goffmans Theoriearbeit einen fri-
schen Windstoß bieten kann.
Robert Hettlage hat in seinem Beitrag bereits auf die vielfältigen Denkan-
stöße Goffmans hingewiesen und zusammenfassend beschrieben, wie Goff-
man alltägliche Begegnungen analysiert hat. Dabei hat Hettlage herausgearbei-
tet, welche Mechanismen in der Interaktionsordnung greifen und damit einen
guten Einblick in die Goffmansche Theorie geboten. Im Folgenden soll nun
versucht werden, den Kern des Goffmanschen Ansatzes für die Journalismus-
forschung handhabbar zu machen. Zwangsläufig werden dabei einige von
Goffmans Thesen, die sich mit speziellen Ordnungsprinzipien allgemeiner,
alltäglicher Interaktionen beschäftigen und die Hettlage ausführlich vorgestellt
hat, vorerst beiseite gelassen, da sie das hier relevante Thema, nämlich die Ver-
knüpfung von Interaktionen zu journalistischem Handeln in Organisationen,
nicht primär berühren. Andere Ausarbeitungen Hettlages hingegen, wie Rah-
men- oder Rollenanalyse, sind unabdingbar für journalismustheoretische Aus-
führungen und werden daher vertiefend behandelt.
Rollen und Rahmen der Interaktionsordnung 329

2 Strukturen des Journalismus


„Mikro- und Makro-Ordnung stehen also in einer kontinuierlichen Verknüp-
fung.“ schreibt Hettlage (in diesem Band), wobei man, so Hettlage weiter, je
nach Betrachtungsweise “die Analyse des Zusammenhangs "von oben" oder
"von unten" in Angriff nehmen“ kann. Mit dieser Feststellung weist Hettlage
einerseits auf eine grundsätzliche Differenzierung von Theorien hin: den Aus-
gangspunkt der Beobachtung. So sind systemtheoretische Arbeiten durch ihren
Blick „von oben“ von denen zu unterscheiden, die auf das Individuum fokus-
sieren, also „von unten“ an das Forschungsproblem herangehen.
Andererseits betont Hettlage in seinem Text, dass Makro- und Mikroebene
in einer Verknüpfung stehen, demnach zwei Seiten einer Medaille bilden, die
komplementär zueinander stehen. In der Soziologie ist diese Erkenntnis weit
verbreitet und wird z.B. durch Begriffspaare wie System und Akteur ausge-
drückt, welche keineswegs untrennbar nebeneinander stehen, sondern integra-
tiv zu sehen sind. Integrativ in dem Sinne, dass beide Ansätze unterschiedliche
Erkenntnisse bieten und mithin komplementär sind (vgl. Schimank 2000:
277ff.). Dies ist möglich, da sowohl Makro- als auch Mikrotheorien Berüh-
rungspunkte haben. So unterschiedlich auch der Startpunkt des jeweiligen An-
satzes ist, die Schnittmenge bildet sich im Mesobereich der Organisationstruk-
turen.
Dies wird an zwei Beispielen der Journalismusforschung schnell deutlich:
Blöbaum (1994: 11) „konstruiert Journalismus als ein System, das sich im Laufe
der Entwicklung der modernen Gesellschaft herausgebildet, dabei eigene
Strukturen entwickelt und zusehends Eigenständigkeit entfaltet hat.“. Er beo-
bachtet demnach Journalismus als Teilsystem der Gesellschaft (Makroebene),
welches bestimmte Strukturen (vgl. ebd.: 15) entwickelt (Mesoebene). Umge-
kehrt argumentiert Wolfgang Donsbach,
if influences through institutional objectives exist, they make their way in a sub-
tle manner into a journalist´s self-perception as a subjectively independent deci-
sion-maker. In other words, they become part of the reality definition through
communication. This kind of communication does not necessarily happen over
each and every news decision. It can be a long-term process, which we then
would call 'socialization' in the newsroom.

Auch hier haben wir den Verweis auf die Mesoebene („institutional objecti-
ves”), nun jedoch vom Blickwinkel der Mikroebene („journalist´s self-
perception“). Bei beiden Ansätzen ist die Mesoebene der Strukturen sozusagen
Dreh- und Angelpunkt, Personen- und Systemforschung konstruieren sich
330 Carsten Schlüter

durch die Blickrichtung und treffen sich auf der Strukturebene der Organisati-
onen.

Abbildung: Die drei Ebenen der Journalismusforschung

Mikroebene Mesoebene Makroebene

Individuumzentrierte Gesellschaftszentrierte
Forschung Forschung
z.B. z.B.
x „Handlungstheorien“ x „Systemtheorien“

Berücksichtigung von Strukturen der Organisation

Wenn wir nun fragen, was die Journalismusforschung unter Strukturen des
Journalismus versteht, so erhalten wir differenzierte und im Detail wider-
sprüchliche Antworten. Am Anfang der Journalistik standen vor allem Hand-
lungsrollen im Vordergrund der Strukturmerkmale, wobei das Handeln einzel-
ner Journalisten als ideale Rollendefinition galt (vgl. z.B. die Analyse bei Löf-
felholz 2000: 36ff.). Diese individualistisch-normative Sicht hat jedoch sowohl
das Zusammenwirken von Handlungen und die daraus entstehende Strukture-
mergenz – welche nicht alleine durch die Beobachtung einzelner, individueller
Journalisten gefasst werden kann, sondern sich durch soziales, also gegenseitig
bezügliches Handeln ergibt – vernachlässigt, als auch organisatorische Impera-
tive unbeachtet gelassen (vgl. Blöbaum 1994: 48). Spätestens mit dem Rele-
vanzgewinn von systemtheoretischen, an Luhmanns Werk angelehnten Arbei-
ten wurde dem begegnet. Zwar war die Rolle des Journalisten auch weiterhin
eine der Hauptkriterien von Strukturen, doch ist diese in ihrem sozialen Kon-
text zu verstehen und steht nun neben Organisations- und Programmstruktu-
ren (vgl. Blöbaum 1994). Es ist nicht länger vordergründlich, was der einzelne
Journalist tut, sondern welche Strukturen sich im Laufe der Evolution des
Journalismus herausgebildet haben.
Rollen und Rahmen der Interaktionsordnung 331

Eine solche Sicht auf Organisationsstrukturen hat sich bis heute – in ver-
schiedensten Variationen (vgl. die Ausführungen bei Quandt 2005: 131) –
gehalten und bewährt. Bewährt in dem Sinne, als dass der formelle Aspekt der
Strukturen des Journalismus erkenntnisgewinnend beschrieben und untersucht
wird. Eine systemtheoretische Herangehensweise ist jedoch nicht ohne Kritik
geblieben, und in den letzten Jahren finden sich viele Versuche, die strukturelle
Ebene integrativ unter Berücksichtigung des individuellen Handelns zu be-
schreiben. Sei es unter Zuhilfenahme von kybernetischen Ansätzen (vgl.
Hienzsch 1990), der Strukturationstheorie von Anthony Giddens (1997; zur
Umsetzung in der Journalismusforschung vgl. Altmeppen 1999; Wyss 2004),
der Akteurstheorie von Uwe Schimank (2002; zur Umsetzung vgl. Neuberger
2000; Meier 2002), Journalismus als kommunikatives Handeln (vgl. Bucher
2000; Baum 1994), Struktur-Handlungsvorstellungen wie sie Raabe (2005) in
Anlehnung an das Habitus-Konzept Bourdieus vorschlägt oder einer Netz-
werkanalyse (vgl. Quandt 2005).
Hier zeigt sich eine der Verbindungslinien zu Konzepten Goffmans, die ei-
ne Definition von Strukturen durch die Reflexivität von Einzelhandlungen und
normativen Vorgaben benennen, wobei bislang jedoch die Strukturen in der
Forschung weiterhin als formale Elemente der journalistischen Organisation
betrachtet und analysiert werden. Mit anderen Worten, unter gleich welcher
Perspektive wir den Journalismus betrachtet haben, immer haben wir auf eine
spezifische Gruppe rekurriert, die mit vorgegebenen Gruppenstrukturen aus-
gestattet ist. Strukturen sind so formale journalismusbezogene, organisatorische
Vorgaben, in denen soziales Handeln geschieht und die umgekehrt soziales
Handeln erst ermöglichen. Nun mögen wir uns mit dieser Sichtweise zufrieden
geben, wenn dabei nicht eine Vielzahl von Fragen blieben, die wir auf diesem
Wege nicht hinreichend beantworten können. Besonders betrifft dies Aspekte
informeller Einflüsse auf die Entscheidungen des Journalismus. Obwohl viel-
fach darauf hingewiesen wurde, dass informelle Strukturen einen gewichtigen
Einfluss auf journalistische Entscheidungen ausüben (vgl. Rühl 1979: 299),
ging die Forschung diesem Aspekt bislang nur ungenügend auf den Grund. Die
Ursache hierfür mag in der Schwierigkeit liegen, informelle Strukturen und
persönliche Einflüsse in bestehende Theoriekonzepte einzuordnen, denn man
kann sie weder alleine durch den Bezug auf das Individuum, noch als Teil der
Organisationsstrukturen erklären. Sie hängen zwar mit den formellen Rollen-
strukturen zusammen, doch eine differenzierte Betrachtung lässt Einflüsse
hervortreten, die nicht aus einem spezifischen Organisationssystem stammen.
In den informellen Strukturen finden wir sowohl persönliche Einflüsse einzel-
332 Carsten Schlüter

ner Individuen als auch Einflüsse aus verschiedensten sozialen Systemen.


Wenn wir diese Einflüsse analysieren wollen, so ist es angebracht, eine andere
Beobachtungsebene als die organisatorische Gruppe oder einzelne Individuen
zu wählen. Hier bietet sich eine Beobachtungsebene an, die Goffman eine
fokussierte Versammlung oder besser: eine zentrierte Interaktion genannt hat (vgl.
u.a. Goffman 1973: 8).

3 Interaktionen in zentrierten Versammlungen


In seinem Buch „Interaktion. Spaß am Spiel. Rollendistanz“ (1973) differen-
ziert Goffman (1973: 7ff.) zwischen der Analyse von Gruppen (bzw. Organisa-
tionen) und der Analyse von zentrierten Versammlungen. Soziale Gruppen
„nehmen die Organisation als deutliche kollektive Einheit wahr, als ein soziales
Ganzes, ungeachtet der besonderen Beziehungen, die die Teilnehmer zueinan-
der haben mögen; […]“ (Goffman 1973: 9). Und weiter:
Soziale Gruppen besitzen, ob sie nun groß oder klein sind, einige allgemein or-
ganisatorische Vorschriften für den Ein- und Austritt, die Fähigkeit zu kollekti-
ver Aktion, eine Arbeitsteilung einschließlich der Führungsrollen, eine Sozialisa-
tionsfunktion primärer oder sekundärer Art; ein Mittel, persönliche Ziele zu be-
friedigen und latente und manifeste soziale Funktionen in der Außenwelt.
(ebd. 10)

In Beobachtungsdifferenz hierzu analysiert Goffman zentrierte Interaktionen


(oder zentrierte Versammlungen) und fordert, diese mit einem anderen begriff-
lichen Rahmen als den der Gruppen zu fassen, da hier vielseitige soziale Bezie-
hungen zwischen den Individuen geschehen, die durch eine Gruppenanalyse
nicht zu beschreiben sind. Und dabei geht es ihm nicht um Individualismus,
um einzelne Akteure, sondern um die Interaktion, die sich zwischen den Ak-
teuren bildet:
Most sociologists have plumped for individual persons, taking their circum-
stances and their relationships to others, and what they are asked, or choose, to
tell about their attitudes, beliefs, ideas and opinions, as representations of the so-
ciety whose members they are. Goffman´s monad was the social act itself – the
encounter between individuals. (Burns 1992: 25, Hervorhebung im Original)

Hettlage (in diesem Band) hat in seinen Ausführungen zum Kommunikations-


system der Interaktion bereits einige der Hauptpunkte der Goffmanschen In-
teraktionsanalyse herausgearbeitet, wie z.B. das kommunikative Engagement.
Daraus ergibt sich, dass Interaktionen eigene Strukturen beinhalten, aber nicht
unbeeinflusst von der Umwelt (soziale Gruppe bzw. Organisation) sind. Ge-
Rollen und Rahmen der Interaktionsordnung 333

mäß dieser Differenzierung wäre der hier vorgeschlagene analytische Fokus


nicht auf die organisatorische Einheit des Journalismus gerichtet, sondern läge
auf den Interaktionen, die sich innerhalb des journalistischen Systems bilden,
aber von diesem abzugrenzen sind. Dabei mag man nun denken, dass diese
Autonomie dazu führt, Interaktionssysteme alleine über eine detaillierte Be-
schreibung dramaturgischer Zwänge und Darstellungen einer alltäglichen In-
teraktion, wie sie auch Hettlage aufzählt, zu fassen. Das führt zu der Frage, mit
welchem Erkenntniszuwachs Goffmans Interaktionsordnung in die Journalis-
mustheorie eingebettet werden kann, wenn ihr Augenmerk offensichtlich
nichts mit den sie umgebenden journalistischen Strukturen zu tun hat. Die
Antwort gibt Goffman (1973: 73f.) selber, indem er die Zusammenhänge zwi-
schen der Interaktion und der sie umgebenden Umwelt als eine reflexive struk-
turelle Beeinflussung erläutert:
Wenn die Umwelt die Grenze einer Begegnung passiert und in die Interaktions-
tätigkeit eingearbeitet wird, tritt mehr ein als eine Neuordnung oder Umwand-
lung des Schemas. […] Ein Teil der bestimmenden Umwelt wird leichthin nicht
beachtet, ein Teil wird verdrängt […]. Um leichter in diesen organischen Begrif-
fen denken zu können, sollte eine organische Metapher versucht werden. Eine
lebende Zelle hat gewöhnlich eine Zellwand, eine Membrane, die die Zelle von
den Komponenten in ihrer äußeren Umgebung abschneidet und so eine selekti-
ve Beziehung zwischen ihnen und der inneren Zusammensetzung der Zelle si-
cherstellt. Die Elastizität und Gesundheit der Zelle ist in der Fähigkeit ihrer
Membrane ausgedrückt, eine besondere selektive Funktion aufrechtzuerhalten.

Bestimmte Strukturen des organisatorischen Systems diffundieren in die Inter-


aktionen und umgekehrt, immer in Abhängigkeit davon, wie stark das jeweilige
beobachtete Interaktionsgeflecht mit dem organisatorischen System verbunden
ist. Dabei sind Diffusionen nicht nur bzw. nicht unbedingt mit dem umgeben-
den Organisationssystem möglich. In der Interaktion können Strukturen aus
verschiedensten Systemen wirken, da alles außerhalb der Interaktion Umwelt
der Interaktion ist. Beobachten wir Interaktionen im Journalismus, so finden
wir nicht zwangsläufig Strukturen, die sich nach Rollen und Programmen des
Organisationssystems richten, sondern auch Einflüsse beispielsweise aus der
ökonomischen Umwelt. Darüber hinaus steht das Interaktionssystem nicht nur
mit sozialen Systemen in einer selektiven Beziehung, sondern auch mit den
psychischen Systemen der beteiligten Individuen, was sich u.a. im Einfluss von
Erfahrungen und persönlichen Werten niederschlagen kann.
Dies alles kann Auswirkungen auf das Interaktionssystem haben. Hierzu
schreibt Goffman (1973: 14) beispielsweise, dass eine bestimmte Position (und
daran anknüpfend auch Handlungen, die zu organisationsbezogenen Entschei-
334 Carsten Schlüter

dungen führen) in der Interaktion auf der Basis von Attributen der persönli-
chen Identität zugewiesen wird, wie „der anerkannten Erfahrung, der Beherr-
schung der Sprache, der Priorität des Erscheinens am Versammlungsort oder
des Alters.“ Diese dann eingenommene Position ist in Differenz zur formalen
Position innerhalb der Organisation zu betrachten, kann sich aber wieder auf
die organisatorischen Strukturen auswirken – und hat insofern auch Beobach-
tungswert für die Journalismusforschung. Werden in einer Redaktion Ent-
scheidungen getroffen, ist daher nicht zwangsläufig auf die journalistische
Struktur zu rekurrieren, sondern es können diese auch in Abhängigkeit von
einer bestimmten eingenommenen Position innerhalb der Begegnung gesehen
werden, die wiederum aus einer Vielzahl von Komponenten besteht. Diesen
Zusammenhang von organisationsexternen Strukturen und organisationsinter-
nen Entscheidungen nennen wir persönlichen oder auch informellen Einfluss.
Mit Hilfe der Goffmanschen Interaktionsordnung lassen sich diese selekti-
ven Beziehungen theoretisch beschreiben und empirisch beobachten, da ein
Interaktionssystem nach Goffman – anders als im Verständnis der Systemtheo-
rie nach Luhmann – sämtliche Erfahrungen der beteiligten Individuen mit
einschließt. Während eine systemtheoretische Sicht in der Journalismusfor-
schung nur die Strukturen beachtet, die dem spezifischen Organisationssystem
formal zugehörig sind, fokussiert Goffman in seinen Interaktionssystemen auf
sämtliche sozial zu beobachtenden Einflüsse und die daraus resultierenden
Strukturen. Dazu hat Goffman in seinem Werk ein begriffliches Instrumentari-
um entwickelt, das sich um zwei Schwerpunkte gruppiert. Zum einen ist dies
Goffmans dramatologischer Ansatz, zum anderen die Rahmenanalyse.

4 Rollen, Image und Identitäten im


dramatologischen Ansatz
Goffmans Untersuchungseinheiten waren Interaktionsstrukturen, ein Ord-
nungsrahmen welcher innerhalb einer zentrierten Begegnung zu beobachten
ist. Hettlage beschreibt diesen auf der Basis von situativen Normen und Ritua-
len und führt weiter aus, dass Goffman in seiner „dramatologischen Perspekti-
ve“ einen Schwerpunkt auf das Rollenspiel zwischen den Interaktionsteilneh-
mern gelegt hat. Die Rolle ist vor allem deshalb interessant, da sie eines der
wesentlichen Strukturmerkmale der Organisation ist.
Rollen gehören zu den eindeutigen Strukturmerkmalen in journalistischen Orga-
nisationen, da mit ihnen bestimmte Erwartungen und zum Teil sogar explizit
Aufgaben- und Leistungsbeschreibungen verbunden sind. Rollen erlauben somit
Rollen und Rahmen der Interaktionsordnung 335
auch Konkretisierungen des journalistischen Handelns, das ansonsten zu den
schwierig definierenden Merkmalen des Journalismus gehört. (Altmeppen 1999:
47)

Goffmans Rollenanalyse stellt einen Ansatz dar, der auf beobachtbare Reflexi-
vität zwischen Akteuren und Strukturen in der Interaktion beruht. Der Aus-
gangspunkt ist dabei weder auf das einzelne Individuum zentriert noch nimmt
er das gesellschaftliche System als Ausgangspunkt. Damit sind Rollen weder
alleine individuumsbezogen noch alleine normative Vorgaben eines Systems,
sondern immer auch abhängig von der spezifischen Situation und der Wech-
selbeziehung zwischen den Personen, die diese Rolle tragen:
Die Organisationsrolle als Resultat der genannten Rollendefinitionen kommt
empirisch fassbar zum Ausdruck im Rollenverhalten. Dies aber ist nicht nur be-
dingt durch relevante Normen der Organisationsrolle, sondern auch durch die
jeweilige konkrete Situation, in der eine Person handelt sowie deren Präferenzen.
(Abraham & Büschges 2004: 163, Hervorhebung im Original)

In der Journalismusforschung dominiert der makroperspektivische Blick auf


formalisierte Rollen. So hat Rühl die Rollenanalyse ins Zentrum seiner Ausfüh-
rungen gerückt. Er identifiziert das organisierte soziale Zeitungssystem über die
Strukturen, die als generalisierte Handlungserwartungen wirken (vgl. Rühl
1979[1969]: 72), die sich in Rollen niederschlagen. Dabei unterscheidet Rühl
formale von informellen Rollen. Formale Rollen sind „Redaktionserwartungen
für die Leistungen, die der einzelne Redakteur in seiner Position und in seinem
Ressort zu erbringen hat“ (ebd: 258), Verhaltenserwartungen etwa, die sich aus
den spezifischen Aufgaben und Hierarchien ergeben. Interessant ist nun, dass
„hinsichtlich der Arbeitsrollen verschiedene Variations- und Interpretations-
möglichkeiten“ bestehen (ebd: 259).
Die theoretischen Annahmen Rühls beschränken sich demnach nicht allei-
ne darauf, die organisationalen Strukturen in ihrer Kondensierung als entper-
sonalisierte Rollenvorgaben anzuerkennen, sondern werden erweitert auf die
persönlichen Einflussnahmen einzelner. Noch deutlicher als in der „Zeitungs-
redaktion als organisiertes soziales System“ tritt diese Annahme in den späteren
theoretischen Ausführungen Rühls zutage (1980: 52):
Aber da die Erfahrung lehrt, daß einzelnen Journalisten besondere Leistungen
gelingen, muß es möglich sein, dieses „Mehr“ durch die einzelnen Persönlichkei-
ten in das standardisierte journalistische Handeln einzubringen. Ungeachtet der
grundlegenden sozialen Handlungsmuster des Journalismus können durch den
Einsatz persönlicher Qualitäten einzelne Situationen besonders gut gemeistert
werden. Diese Einsicht läßt freilich nicht den Schluß zu, daß Journalismus nun
wohl doch eine Sache von Personen ist. Vielmehr wird damit erkannt, daß neben
336 Carsten Schlüter
den sozialen, vor allem den organisatorischen und beruflichen Aspekten journa-
listischen Handelns, biographische Fakten das Ansehen und das Auftreten des
einzelnen, seine Intelligenz, die Ergebnisse seiner Bildung und Ausbildung, seine
Erfolge und Beziehungen sowie seine innere Unabhängigkeit, seine Sprachkom-
petenz und sein Stil, kurz: daß persönliche Möglichkeiten und Qualitäten in
journalistische Leistungen eingehen, um sie mitzubewirken. Ein persönliches
Niveau im journalistischen Handeln wird selbst in ideologisch-kollektivistisch
orientierten Journalismussystemen nicht ausgeschlossen.

Das Problem besteht darin, die informellen Aspekte theoretisch einzugliedern


(vgl. auch die Kritik von Raabe 2005: 56ff.). Schaut man auf Rollen auf der
Interaktionsebene, dann ist der Rollenkern ein normatives Handlungsmuster,
eine „typische Reaktion von Individuen in einer besonderen Position“ (Goff-
man 1973: 104). Dieser Rollenkern diffundiert aus der Organisation in die
Interaktion und vice versa, eingebettet aber in Position und Situation.
Die typische Rolle muß natürlich vom tatsächlichen Rollenverhalten eines kon-
kreten Individuums in einer gegebenen Position unterschieden werden. Zwi-
schen der typischen und der tatsächlichen Reaktion können wir gewöhnlich ei-
nen Unterschied erwarten, wenn auch nur deshalb, weil die Position eines Indi-
viduums, in dem jetzt gebräuchlichen Sinn, in gewisser Weise von der variieren-
den Art abhängen wird, wie es selbst seine Situation sieht und definiert. Wo es
für eine gegebene Rolle einen normativen Rahmen gibt, können wir erwarten,
daß die komplexen Kräfte, die auf Individuen in den relevanten Positionen ein-
wirken, dafür sorgen, daß die typische Rolle in einem gewissen Grad vom nor-
mativen Modell abweicht - und zwar trotz der Neigung im gesellschaftlichen Le-
ben, das, was üblicherweise getan wird, in das umzuwandeln, was getan werden
sollte.: Im allgemeinen muß dann eine Unterscheidung zwischen einer typischen
Rolle, den normativen Aspekten der Rolle und dem tatsächlichen Rollenverhal-
ten eines besonderen Individuums gemacht werden. (ebd.: 104f., Hervorhebung
im Original)

Prinzipiell ist zu konstatieren, dass die Interaktionen, welche aufgrund ihrer


Formalität eng mit der Organisation verbunden sind – hierzu zählen regelmä-
ßige, standardisierte Handlungen wie beispielsweise die Recherche – dem Rol-
lenkern am ehesten entsprechen. Interaktionen, die eher die Möglichkeit zu
Variationen eröffnen, können demnach stärker von der Rollennorm abwei-
chen. Dies ist etwa der Fall bei Abstimmungen zwischen zwei Redakteuren
zwecks inhaltlicher Gestaltung eines Artikels – man könnte hier im Sinne Alt-
meppens (1999: 34f.) von koordinierenden Interaktionen sprechen1. Was bei

1 Sehr passend schreibt Altmeppen (1999: 160, Fußnote 28) an anderer Stelle: „Die Untersu-
chung von Machtspielen, Konkurrenzverhalten, Bündnissen und persönlichen wie struktu-
rellen Dominanzen, die in journalistischen Organisationen immer auch eine Rolle spielen,
Rollen und Rahmen der Interaktionsordnung 337

der Rollenübernahme zu den formalen Aspekten hinzu kommt, sind auf der
persönlichen – kognitiven – Seite die Aspekte der individuellen Gestaltung, wie
sie u.a. von Rühl genannt werden (vgl. Rühl 1980: 66): Gewandtheit, Höflich-
keit, Humor, Intelligenz usw., aber auch erlernte/sozialisierte Handlungsmus-
ter, welche aus anderen Interaktionsrahmen stammen. Dies sind Einflüsse
innerhalb des Handlungsspielraums, den die normativen, von der journalisti-
schen Organisation stammenden Strukturen eröffnen. Im Extremfall kann der
Handlungskorridor soweit ausgedehnt bzw. gänzlich verlassen werden, dass es
zur Rollendistanz kommt: die Möglichkeit eines Interagierenden, die Rolle be-
wusst abzulegen und entgegen den normativen Erwartungen zu handeln (vgl.
Goffman 1973: 118, vgl. auch Hettlage, in diesem Band)2. Damit werden die
organisatorischen Strukturen kontakarriert, verändert, einer situativen Interak-
tion angepasst.
Das tatsächliche Rollenverhalten ist immer abhängig von der sozialen Inter-
aktion. Der Rollenkern mag einen noch so großen Interpretationsspielraum
lassen, wenn die Interaktion dies nicht ermöglicht, bleibt jede Handlungsalter-
native irrelevant. Umgekehrt gilt ebenfalls: Der einzelne Journalist mag sich
zwar überlegen, wie er seine Rolle ausfüllt, wenn ihm die konkrete Interaktion
nicht die Möglichkeit dafür lässt, bleiben diese Überlegungen Wunschdenken.
Diese Feststellung ist zentral für Goffman und führt zurück auf die Problema-
tik zwischen individuenzentrierter und interaktionistischer Forschung. Einstel-
lungen einzelner Journalisten wären für Goffman irrelevant. Ein Journalist
kann von sich behaupten, er sei politisch einer bestimmten Richtung zugehörig
oder würde sich dem investigativen Journalismus zuordnen. Erst in der Inter-
aktion zeigt sich, ob diese virtuelle Selbstbeschreibung tatsächlich auch zutrifft,
die Interaktion also reelle Möglichkeiten zulässt, eine Selbstbeschreibung aktu-
ell zu konstruieren. Die Handlungsrelevanz, wie sie Scholl und Weischenberg
(1998: 157ff.) untersucht haben, hängt danach nicht nur von dem Wollen der
Journalisten und den Strukturen ab, sondern auch von den Möglichkeiten in
der Interaktionssituation. Goffman (1973: 108f.) spricht daher von situiertem
Rollenverhalten, dem Rollenverhalten in einer spezifischen Interaktion:
Eine situierte Rolle umfaßt also ein Bündel von Aktivitäten, die deutlich vor an-
deren Teilnehmern ausgeübt werden, gleichzeitig aber mit den Aktivitäten der

ist eine eigene Arbeit wert, gerade unter Bedingungen, in denen häufig Themen noch ge-
funden werden müssen.“
2 Gänzlich verlassen wird hier dann natürlich „nur“ die journalistische Rolle. Stattdessen
nimmt das Individuum eine andere Rolle an, z.B. die des Außenseiters oder Spaßvogels. Er
begibt sich dann ebenfalls in eine informelle Rolle und füllt diese für einen Augenblick voll-
kommen aus.
338 Carsten Schlüter
anderen in deutlichem Zusammenhang stehen. Diese Rollen unterscheiden sich
so von Rollen im allgemeinen, nicht nur, weil sie in einer bestimmten sozialen Si-
tuation realisiert werden, sondern auch, weil das System, dessen Teil sie sind, als
konkretes selbstkompensierendes System identifiziert werden kann.

Der Begriff situierte Rolle beinhaltet also sowohl den Rollenkern wie auch das
variierende Rollenverhalten und ist auf einen beobachtbaren Ausschnitt der
sozialen Realität, dem situierten Aktivitätssystem, bezogen.
Eng mit dem Goffmanschen Begriff der situierten Rolle verbunden sind
weitere analytische Komponenten, die in der Interaktion zum Tragen kommen
und die bereits von Hettlage angerissen wurden. Eines davon ist das Image.
Hettlage hat es Selbstbild genannt und auf die Techniken zur Imagepflege
hingewiesen, die Goffman ausgearbeitet hat. Als Image bezeichnet Goffman
ein Bündel positiver Werturteile, welche einem Interagierenden in und durch
die Interaktion zugesprochen werden. Es ist zwar ein Selbstbild, doch eines,
was durch die Interaktion gegeben wird. Wichtig ist an dieser Stelle nicht, wie
das Image zustande kommt oder welche Möglichkeiten Goffman erörtert hat,
um das Image zu wahren (vgl. hier die Ausführungen Hettlages). Wichtig ist
vielmehr, dass das Image die Interaktionen strukturiert und dann wiederum auf
Entscheidungen der organisatorischen Ebene strukturellen Einfluss haben
kann. Es wirkt sich auf die Position aus, die dem Interaktionsteilnehmer zuge-
sprochen wird, auch entgegen den formalen Strukturen. So ist nicht zwangsläu-
fig derjenige tatsächlich der Entscheider, der die adäquate formale Rolle be-
setzt. Möglich ist auch eine informelle Hierarchie, die sich durch Imagezu-
schreibungen ergibt und an deren Spitze derjenige Entscheidungen kommuni-
ziert, der das bessere Image besitzt. Image, Rolle und soziodemographische
Merkmale wie Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit ergeben zusammen
die soziale Identität, also das, was in der punktuellen (sachlichen und zeitlichen)
Interaktion von Alter und Ego dargestellt bzw. zugestanden wird. Diese soziale
Identität, so Hettlage (in diesem Band), „umhüllt eine einzigartige Biographie
und situative Vorerfahrungen, die als persönliche Identität in die soziale Interakti-
on hineingetragen und dort identifiziert werden“ (Hervorhebung im Original).
Die persönliche Identität macht einen Interagierenden unverwechselbar, sie ist
ein Zusammenschluss der verschiedenen sozialen Identitäten, die die Interagie-
renden voneinander kennen und die in der Interaktion aufgegriffen werden
bzw. wirken können.
Dazu zählen auch Rollen, die von den Interagierenden in anderen Interak-
tionssituationen ausgefüllt werden. So kann ein gemeinsames Badmintonspie-
len Erwartungen auf zukünftige Interaktionen – oder auch vergangene Erfah-
rungen neu (vgl. Goffman 1996: 139) – strukturieren und insofern auch außer-
Rollen und Rahmen der Interaktionsordnung 339

halb des Courts, nämlich in der Redaktion, Auswirkungen auf die informelle
Rolle haben. Ist einer der Spieler beispielsweise herausragend gut, kann diese
Imagezuschreibung zu einem Autoritätsgewinn in der Redaktion führen und
damit zu beobachtbaren Einflüssen in der journalismusbezogenen Interaktion,
obwohl der Ausgangspunkt der Erwartungsstrukturierung zeitlich, sozial und
sachlich außerhalb der Mitglieds- bzw. Arbeitsrolle der Redaktion liegt. Umge-
kehrt sind natürlich auch Erwartungen aus dem journalistischen System denk-
bar, die auf ein Verhalten außerhalb der journalistischen Rolle bzw. des journa-
listischen Systems wirken. Am Beispiel eines Arztes verdeutlicht Goffman
(1973: 107), dass der Einfluss einer spezifischen Rolle auch dann die Interakti-
on irritieren kann, wenn die entsprechende Person nicht in ihrer Arbeitsrolle
interagiert.
Eine vollständige Untersuchung der Rolle muß seine Krankenbesuche in der
Gemeinde einschließen, und was noch wichtiger ist, die ganz bestimmte Behand-
lung, die ihm widerfährt, wenn er offensichtlich überhaupt nicht in ärztlicher Sa-
che beschäftigt ist – eine Behandlung, die er dadurch erleichtert, daß er ein Arzt-
schild am Auto, ein besonderes Türschild, eine besondere Anrede und einen
speziellen Titel auf seinen amtlichen Dokumenten hat.

Entsprechend ist bei Journalisten an ihr Rollenverhalten beispielsweise bei


Vor-Ort-Recherchen zu denken, wo ihr Handeln aus einem Gemisch aus Rol-
lenerwartungen, Selbstimage, Image des Mediums sowie informellem Verhalten
besteht. Diese Konstituentien des Handelns, eingebettet in strukturelle Mecha-
nismen insgesamt, beeinflussen den Recherchevorgang und das Rechercheer-
gebnis. Damit wären wir bei einem weiteren theoretischen Konzept Goffmans:
dem Rahmen.

5 Rahmen
Den Ausgangspunkt der Analyse interaktionistischer Rahmen bei Goffman
beschreibt Hettlage (in diesem Band: 318) sehr plastisch:
Angesichts des schwankenden Bodens unter unseren Verstehens- und Hand-
lungsweisen sah sich Goffman gezwungen, die Frage der Stabilität, des gegensei-
tigen Vertrauens, der Normalität der Erscheinungen (normal appearances) und
des Engagements für eine gemeinsame Wirklichkeit neu zu durchdenken. Dazu
dient ihm das Konzept der Rahmung.

Mit der „Frame-Analysis“ (vgl. Goffman 1996) hat Goffman einen Vorschlag
zur Beschreibung von sozialisierten Kognitionsstrukturen entwickelt, die einem
Individuum in einer bestimmten Situation zugänglich sind. Rahmen sind struk-
340 Carsten Schlüter

turelle Komponenten der aktuellen Erfahrung. Indem wir eine vorgefundene


Situation in einen spezifischen Rahmen ordnen können, ergeben diese Situati-
on und die in ihr ablaufenden Interaktionen Sinn. Dennoch wäre es falsch, hier
von Sinnstrukturen als kulturelle Bedeutungsmuster zu sprechen, wie es in der
Lebensweltanalyse geschieht (vgl. Raabe in diesem Band), wenn damit univer-
selle Sinndeutungen gemeint sind, die von einer spezifischen Situation losgelöst
sind und als allgemeine Beschreibungen verschiedenster Interaktionen dienen.
Rahmen beziehen sich immer auf aktuelle punktuelle Strukturen einer be-
stimmten Interaktion und müssen beständig, der Situation angepasst und neu
ausgewählt werden. In ihrer flexiblen Handhabung sind sie kein allgemeines
analytisches Raster der Wissenschaft, sondern Organisationsprinzipien spezifi-
scher Erfahrung der Interagierenden. Eberle (1991: 205f.) beschreibt diesen
Unterschied zwischen den verschiedenen theoretischen Ansichten:
Lebenweltanalyse ist Philosophie, Rahmenanalyse ist Soziologie. Lebensweltana-
lyse zielt auf die universalen Grundstrukturen subjektiver Weltorientierung,
Rahmenanalyse untersucht die soziale Wirklichkeit in ihrer vorfindlichen histori-
schen und kulturellen Gestalt. Lebensweltanalyse will eine Hermeneutik liefern,
in deren Rahmen jede Sinndeutung lokalisierbar ist, Rahmenanalyse will einige
Organisationsprinzipien beschreiben, gemäß deren in unserer Gesellschaft Situa-
tionsdefinitionen vorgenommen werden. Lebensweltanalyse strebt nach einer
Anthropologie, welche die Sozialwissenschaft fundiert und damit begründet;
Rahmenanalyse ist primär eine Wissenssoziologie, welche die Rahmenstrukturen
der vorfindlichen sozialen Wirklichkeit beschreibt – und damit gleichzeitig das
als selbstverständlich vorausgesetzte (Erfahrungs-)Fundament herkömmlicher
soziologischer Analyse in seiner konkreten Gestalt.

Dieser Definition der Rahmenanalyse entspricht die Annahme über die Refle-
xivität der Rahmung. Rahmen kommen durch den gemeinsamen Prozess der
Rahmung zur Anwendung, die Wahl des „richtigen“ Rahmens – also die Rah-
mung – geschieht durch die Reflexivität von Ego und Alter. Dabei kommen
Fehlrahmungen vor, der Rahmungsprozess muss beständig erneuert werden
(vgl. Hettlage in diesem Band, der ein Repertoire von möglichen Missverständ-
lichkeiten aufzählt). Uns interessiert aber vor allem, dass die Rahmen eine Re-
gelmäßigkeit des gegenseitigen Verhaltens (und Vertrauens) auslösen, eine
Grundstruktur innerhalb (und aufgrund) derer bestimmte Interaktionen ge-
schehen und die für alle Individuen in einer bestimmten Situation ähnlich sind.
Rahmen hängen eng mit den Rollen zusammen, welche die Interaktionsteil-
nehmer ausfüllen. Auch hier herrscht Reflexivität, denn die Rolle bestimmt den
Rahmen und umgekehrt. Der Rahmen gibt bestimmte Verhaltensmuster vor,
wird aber erst durch die Interaktion ausgewählt. So existiert eine Vielzahl von
Rollen und Rahmen der Interaktionsordnung 341

Interaktionen innerhalb von Redaktionen, die sich nicht dem formalen Organi-
sationsdispositiv zuordnen lassen, sondern anders gerahmt werden: private
Gespräche innerhalb der Redaktion, Scherze, Kommunikation über das Kanti-
nenessen oder die Fußballweltmeisterschaft usw.
Anders als die Organisation wechselt die Interaktion beständig ihre Rah-
mung. Jeder Themenwechsel bringt eine neue Rahmung und damit auch eine
neue Struktur und neue Rollen hervor, da der Rahmen reflexiv mit den darge-
stellten Identitäten gekoppelt ist. Ist der gewählte Rahmen z.B. das persönliche
Gespräch über die Familien der Beteiligten, wirken familiäre Rollen als Rah-
mung. So kann aus persönlichen Gesprächen und den sich daraus ergebenen
Schlussfolgerungen ein Anlass entstehen, einen Artikel über Familienpolitik zu
verfassen. Aus der privaten Interaktion zwischen zwei Redakteuren wechselt
der Rahmen innerhalb der Interaktion vom persönlichen Gespräch zur forma-
lisierteren Journalismusinteraktion und umgekehrt.
Mit einer Rahmenanalyse kann also bestimmt werden, ob, wie und in wel-
chem Maße Rahmen Einfluss auf Entscheidungsstrukturen der organisatori-
schen Ebene haben. Der Vorteil des Rahmenkonzepts liegt in der Offenheit
der Beobachtungsanalyse, die dementsprechende methodische Vorgehenswei-
sen erfordert, da es um ein „dekonstruktivistisches Konzept“ geht:
Den systematischen Höhepunkt des Goffman´schen „Dekonstruktivismus“ bil-
det zweifellos die „Rahmenanalyse“, die „lebendige“ Alltagserfahrungen in Sinn-
strukturen auflöst. Goffmans rahmenanalytischer Strategie, „unbewußte“ Sinn-
komplexität zu enthüllen, entspricht ein komplexes System von Konzepten, das
die Differenzierung von Rahmenklassen und die Beschreibung von transforma-
tionslogischen Zusammenhängen zwischen verschiedenen Rahmen erlaubt. Die
Interaktionsebenen (und damit die Grenzen der Mikrosoziologie) überschrei-
tend, analysiert und dekonstruiert Goffman die Reflexivität und Schichtung sozi-
alen Sinns verschiedenster Art. (Willems 2000: 46f.)

Der Sinn des Handelns von Journalisten entsteht nicht allein aus dem funktio-
nalistischen Orientierungshorizont, sondern wird zudem konstituiert aus der
situativen Interaktionsrahmung und vielfältigen Sozialisationseinflüssen. In
Goffmans Perspektive ist die Grenzziehung zwischen journalistischem und
außerjournalistischem Handeln, wie Rühl (1980: 51) sie fordert, nicht möglich:
Sicherlich wird niemand ernsthaft unterstellen wollen, daß ein einzelner als Ge-
samtperson Journalist ist. Journalistisches Handeln stellt einen bestimmten Le-
bensvollzug dar, der sich rational nicht mit den vielen anderen Handlungsmus-
tern identifizieren läßt, zu denen eine Person fähig ist und die sie auch faktisch
vollzieht, wenn sie als Vater, Parteimitglied, Bausparer, Umweltschützer, Tourist,
Musikliebhaber u.ä. handelt. Daher ist eine Grenzziehung – aber keine hermeti-
342 Carsten Schlüter
sche Trennung! – zwischen journalistischem und außerjournalistischem Handeln
unerläßlich.

Die Interaktionsanalyse integriert – über Rollen beispielsweise – das Organisa-


tionssystem, ihr Schwerpunkt liegt aber in Begriffen wie informeller Rolle und
persönlichen Einflüssen. Sie liefert eine eigenständige Sicht auf die Strukturen
des Journalismus, die sich aber durchaus komplementär zu anderen Perspekti-
ven verhält.

6 Ausblick: empirische Umsetzung


Goffman wollte „formale Interaktionsstrukturen im Alltag beschreiben, wie sie
sich, trotz aller schwankenden Verstehens- oder Akzeptanzerfolge, trotz aller
Zwischenfälle auf dem Weg zur „richtigen“ Interpretation, herauskristallisie-
ren.“ (vgl. Hettlage, in diesem Band). Eine solche Untersuchung sollte mit den
Mitteln der Mikroanalyse durchgeführt werden (vgl. Goffman 1994: 55). Eberle
(1991: 206) sekundiert:
Gerade Goffman hat uns vorbildlich gezeigt, daß man durch eine konkrete, da-
tengeleitete Auseinandersetzung mit konkreten sozialen Phänomenen wesentlich
mehr über das Funktionieren der Gesellschaft erfährt als durch philosophisch
hochreflektierte Konstruktionen von „grand theories“. Aufgabe der Soziologie
muß sein, die soziale Wirklichkeit empirisch zu analysieren, d.h. sozio-kulturelle
Milieus oder „kleine Lebenswelten“ in ihrer konkreten Inhaltsfülle zu studieren.

Journalistische Organisationen sind derartige sozio-kulturelle Milieus, und


Gruppenansammlungen wie die Bundespressekonferenz können als kleine
Lebenswelten verstanden werden. Schon diese Begrifflichkeiten verweisen
darauf, dass in erster Linie qualitative Vorgehensweisen (wie die Beobachtung)
von Interaktionen das treffende Instrumentarium wären. Goffman selbst
schlägt vor, die Beobachtung auf bestimmte, regelmäßig vorkommende Inter-
aktionen zu fokussieren. Hierbei zeichnen sich dann situierte Rollen und Rah-
men ab, die in schematischen Handlungssätzen aufgeteilt werden können.
Konkret würde sich die Beobachtung demnach sachlich, zeitlich und sozial
fokussieren. Der Interaktionsausschnitt müsste qualitativ ausgewertet und die
Strukturen der Interaktion analysiert werden. Das Ergebnis wäre ein Schema
der situierten Strukturen (Rollen und Rahmen, formale und informelle) und der
verschiedenen Einflüsse untereinander. Begleitend wird dieses Ergebnis mit
dem Wissen über die formalen organisatorischen Strukturen abgeglichen. Auf
einem solchen Weg kann analysiert werden, inwieweit journalistische und au-
Rollen und Rahmen der Interaktionsordnung 343

ßerjournalistische Interaktionen und (formale wie informelle) Strukturen aus


welchen Systemen auf die Interaktion wirken.
Flankiert werden sollte eine solche Beobachtung durch qualitative Inter-
views (vgl. u.a. Spöhring 1995: 147ff.), die auch wieder Interaktionen darstellen
und von daher geeignet sind, einerseits die aus der Beobachtung gewonnenen
Erkenntnisse zu überprüfen und andererseits Wissen für die Analyse der Beo-
bachtung zu generieren (etwa über informelle Strukturen oder persönliche
Identitäten).

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NETZWERKE
Interorganisationale Netzwerke:
Soziologische Perspektiven und
Theorieansätze

Arnold Windeler

1 Einführung
Netzwerke erfreuen sich heute in der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Politik
und nicht zuletzt in den Medien nicht nur großer Aufmerksamkeit, sondern
gelten zuweilen als eines der definierenden Topoi moderner Vergesellschaftung
(vgl. etwa Mayntz 1992).1 Die Allgegenwart von Netzwerken zwischen Perso-
nen und vor allem zwischen Organisationen verweist auf deren Bedeutung:
Angesprochen sind Netzwerke zwischen Endherstellern und ihren System- und
Komponentenzulieferern in der Automobilindustrie, Franchisenetzwerke, wie
die von McDonalds oder OBI, oder Netzwerke in der Content-Produktion für
das Fernsehen, das Internet bis hin zu Peer-to-Peer-Systemen in der Musik-
produktion und -distribution sowie der verteilten Entwicklung von Portalen
(vgl. Sydow & Windeler 2004). Nicht selten geht Vernetzung mit radikalen
Umbrüchen von Industrien einher: So wurden Fernsehinhalte vor der Einfüh-
rung des Privatfernsehens Mitte der achtziger Jahre in Deutschland senderintern
produziert, heute jedoch werden sie vor allem senderextern von Fernsehprodu-
zenten zusammen mit Autoren, Regisseuren, Kameraleuten sowie weiteren
künstlerischen und technischen Mediendienstleistern, wie etwa Studiodienst-

1 Die Rede von Vernetzung und von Netzwerken ist nicht auf die Sozialwissenschaften
begrenzt. Netzwerkideen finden sich in verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen: Das gilt
für die Physik und Biologie genauso wie für die Linguistik und Anthropologie. Die Sozial-
anthropologie untersucht etwa Personennetzwerke als Entwicklung von Formen modernen
Zusammenlebens von Menschen jenseits tradierter Formen der Verwandtschaft.
348 Arnold Windeler

leistern, in Netzwerken erstellt, welche die Grenzen verschiedener Unterneh-


mungen überschreiten (vgl. Windeler 2004; Sydow & Windeler 1999).
Soziologisch interessieren Netzwerke zwischen Organisationen, auf die ich
mich im Folgenden konzentrieren will, als Medium und Resultat gesellschaftli-
cher Wandlungsprozesse. Individuelle Akteure und Organisationen verschaffen
sich, indem sie kontextsensitiv Interaktionen und Beziehungen in Netzwerken
koordinieren, besondere Handlungsmöglichkeiten. Obgleich die Akteure in-
tendiert handeln, entzieht sich ein Großteil der Konsequenzen ihres Handelns
ihrer Kontrolle. Akteure bewerten heute zwar permanent die Vor- und
Nachteile von Netzwerken im Vergleich zu Märkten und Organisationen und
entscheiden auf der Grundlage jeweils aktuell erneuerter Wissensbestände, wie
sie beispielsweise in einem konkreten Fall zusammenarbeiten wollen, ob sie die
praktizierte Form fortsetzen oder verändern. Vernetzung wird so selbst refle-
xiv, selbst zum Medium und Resultat einer zunehmend reflexiv gewordenen
Moderne. Durch diese Form „reflexiver Vernetzung“ (Windeler 2001: 334ff.)
oder reflexiver Governance schreiben Akteure gleichzeitig Unsicherheiten und
Risiken fort, denen sie durch Koordination mit anderen in Netzwerken gerade
zu entfliehen versuchen und produzieren andere Risiken. Netzwerke ermögli-
chen beispielsweise Projekte flexibel zu koordinieren und tragen zu einer Pro-
jektifizierung von Industrien und der Gesellschaft bei, die einerseits viele ge-
sellschaftliche Institutionen voraussetzt, sie andererseits aber auch in Frage
stellt, etwa im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts sowie der Interessenver-
tretung (vgl. Windeler & Wirth 2004, 2005). Und nicht zuletzt eröffnet Vernet-
zung Medienkonzernen Chancen, machtvoll auf die Produktion und Distribu-
tion von Content auch jenseits der eigenen Organisationsgrenzen Einfluss zu
nehmen, d.h. Möglichkeiten der Medienkonzentration ohne Zentralisation (vgl.
Harrison 1994), was bisher weitgehend undiskutiert geblieben ist (vgl. aber
Windeler 2004: 72f.; Wirth & Sydow 2004).
Im öffentlichen wie im wissenschaftlichen Diskurs verbinden heute viele
mit Netzwerken hochfliegende Erwartungen und Vorteile: Netzwerke gelten
als die Antwort auf die Turbulenzen der globalen Geschäftswelt, auf gestiegene
Risiken der Entwicklung und Erforschung von Technologien, welche die
Handlungsmöglichkeiten einer jeden Organisation alleine übersteigen, und auf
sinkende Fähigkeiten von Unternehmungen, einen Markt zu dominieren (vgl.
Buono 2003). Die Liste von Netzwerken positiv zugeschriebenen Fähigkeiten
und Eigenschaften ist damit keinesfalls erschöpft. Da überrascht es kaum, dass
einige die Netzwerkanalyse gar als die einzige Möglichkeit ansehen, moderne
Gesellschaften zu erklären (vgl. bereits White et al. 1976).
Interorganisationale Netzwerke 349

Sind Netzwerke der neue „one best way“ der Koordination im 21. Jahr-
hundert (vgl. Mayntz 1992; Snow et al. 1992), sind sie die Garanten von Wohl-
fahrtsgewinnen sowie des Abbaus sozialer Ungleichheiten (vgl. Perrow 1992)?
Mehr als Zweifel scheinen angebracht. Netzwerke haben auch ihre Schattensei-
ten, denn strukturell schließen sie nicht nur immer viele aus, selbst Teilnehmer
binden sie in ein durch das Netzwerk geprägtes Handlungs- und Beziehungsge-
flecht mit anderen ein, das ihnen ansonsten offen stehende Chancen verstellt
(vgl. Wirth & Sydow 2004). Zudem kreieren Netzwerke keine „heile Netzwerk-
welt“ (Gaitanides 1998), sondern bilden sich in Spannungsverhältnissen aus:
nicht zuletzt denen von Autonomie und Abhängigkeit und damit von Macht
und Herrschaft (vgl. Sydow et al. 1995). Auch die mit Netzwerken verbunde-
nen Resultate sind weder für die einzelnen Organisationen noch gesellschaft-
lich immer nur positiv (vgl. Teubner 2004). Nicht selten schaffen sie neue Ab-
hängigkeiten, führen zu neuen Formen von Exklusivität und Offenheit der
Zusammenarbeit, die neue Arten der Machtzusammenballung kreieren, zuwei-
len befördern sie auch illegale Aktivitäten (vgl. Baker & Faulkner 1993). Zuge-
spitzt belegt das der aktuelle Diskurs um Terrorismus. So reden Milward &
Raab (2003) im Zusammenhang von Al-Qaida und von Drogen- und Waffen-
handel von „Covert Networks“, und diskutiert Mayntz (2004) die Koordinati-
onsform des Netzwerks als Moment des transnationalen Terrorismus. Aber
klären wir erst einmal, was Netzwerke sind.

2 Die Netzwerkperspektive: allgemeine Merkmale


Da Netzwerke in Mode sind, steigert sich die begriffliche Konfusion. Zuweilen
entsteht der Eindruck, man sei in einem „terminological jungle in which any
newcomer may plant a tree“ (Barnes 1954: 3). Unklar ist bereits oft, was über-
haupt eine Netzwerkperspektive kennzeichnet. Was eine Netzwerkperspektive
ist, kann man vom – gleich noch näher vorgestellten – Strukturansatz der
Netzwerkanalyse lernen. Netzwerkansätze, die ihren Namen verdienen, offerie-
ren eine relationale Sichtweise auf Sets sozialer Beziehungen und deren Charakteristika
(vgl. Trezzini 1998: 515ff.; Emirbayer & Goodwin 1994: 1416; Collins 1988:
413). Die Netzwerkperspektive grenzt sich damit grundlegend von Ansätzen
ab, die Soziales primär über Ideen, Werte und „kognitive Landkarten“ erklären
oder Soziales über Variablen wie Geschlecht, Alter usw. zu erkunden suchen,
oder von einem „übersozialisierten“ oder „untersozialisierten Akteur“ ausge-
hen (vgl. Granovetter 1985). Der Sozialanthropologe J. Clyde Mitchell (1969:
1f.) sieht Netzwerke entsprechend als
350 Arnold Windeler

a specific set of linkages among a defined set of persons with the additional pro-
perty that the characteristics of these linkages as a whole may be used to inter-
pret the social behaviour of the persons involved.

Verallgemeinert man diese Bestimmung über Personen hinaus – etwa auf Un-
ternehmungen –, so sind Sets von Beziehungen zwischen einer definierten
Gruppe von Händlern, Automobilherstellern, System- und Komponentenzulie-
ferern, die ihre Geschäfte miteinander derart abstimmen, dass das Beziehungs-
geflecht zwischen ihnen für ihre Aktivitäten Bedeutung erlangt, Netzwerke,
genauer: Unternehmungsnetzwerke, da die beteiligten Akteure Unternehmun-
gen sind (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: Modell eines Unternehmungsnetzwerks

z.B. Konzernmütter, Rückversicherer,


externe Berater, technische und andere
Experten, staatliche Akteure, Vertreter
von Verbänden, Händler
z.B. Endproduzenten wie Automobilher-
steller und Versicherungen
z.B. Systemzulieferer, Makler, Zwischen-
händler
z.B. Komponentenzulieferer, private und
Industriekunden

Quelle: Windeler (2001: 34).

Drei Besonderheiten der Netzwerkperspektive will ich hervorheben. In Netz-


werkanalysen geht es erstens immer um Beziehungen zwischen mehr als zwei
Einheiten, etwa zwischen mehr als zwei Unternehmungen, und um mehr als
dyadische Beziehungen, sonst haben wir es nicht mit Netzwerkanalysen zu tun.
Selbstredend betrachtet man auch dyadische Beziehungen, etwa Geschäftsbe-
ziehungen zwischen einem Systemzulieferer und einem Komponentenzuliefe-
rer. Diese lassen sich, so die Netzwerkposition, allerdings nur unter Einbezug
weiterer Beziehungen und vor allem des Netzwerks der Beziehungen verstehen
und erklären.
Die Netzwerkperspektive ist zweitens neutral gegenüber unterschiedlichen
Aspekten von Vergesellschaftung und per se nicht normativ. Ob Netzwerke effi-
zient sind, Wohlfahrtsgewinne erbringen oder Demokratie befördern, ist nicht
gleich gesagt – auch das Gegenteil ist möglich. Normatives kommt erst durch
Interorganisationale Netzwerke 351

ergänzende Bestimmungen ins Spiel, etwa wenn beim Vorliegen bestimmter


Strukturmerkmale die Transaktionskostentheorie (vgl. Williamson 1990 [1985])
behauptet, Netzwerke seien die effiziente ökonomische Koordinationsform.
Die vorgestellte Netzwerkperspektive stellt drittens eine Basisidee von Vernet-
zung bereit, aber keine Netzwerktheorie (vgl. Barnes 1972: 2). Die Betrachtung von
Sets von Relationen als Netzwerke ist zwar nicht vollständig theorielos, wie die
Spezifität der relationalen Sichtweise belegt (vgl. Emirbayer & Goodwin 1994:
1414). Aussagen darüber, wie Netzwerke sich unter gleichzeitigem Bezug auf
Gesellschaft und gesellschaftlichen Institutionen und auf situative Interaktio-
nen und Beziehungen herausbilden und in Zeit und Raum fortschreiben, sind
damit aber noch nicht gemacht – diese sind vielmehr im Rahmen von Netz-
werktheorien erst noch auszuarbeiten (vgl. ausführlich hierzu Windeler 2005;
Windeler 2001: 33ff.).
In den Sozialwissenschaften werden heute zwei Netzwerkansätze unter-
schieden, der Strukturansatz und der Governanceansatz. Der Strukturansatz
der Netzwerkanalyse (Abschnitt 3) thematisiert Strukturen von Beziehungsge-
flechten, der Governanceansatz (Abschnitt 4) die Regelungen der Koordinati-
on von Interaktionen und Beziehungen zwischen beispielsweise Individuen
oder Organisationen in diesen Kontexten. Beide Ansätze entwickelten sich
weitgehend getrennt voneinander und beginnen erst, sich systematisch wech-
selseitig wahrzunehmen.

3 Der Strukturansatz der Netzwerkanalyse


Strukturelle Netzwerkforscher gehen davon aus, dass jeder mit verschiedenen
anderen interagiert und die korrespondierenden Beziehungen die Personen in
ein Beziehungsgeflecht einbinden, dessen Strukturmuster sowie deren Positio-
nen für das Verhalten von Akteuren bedeutsam sind. Untersucht werden ent-
sprechend die sozialen Strukturen der Beziehungsgeflechte und Positionen
zwischen einer definierten Menge von Akteuren (oder genereller sozialen Ele-
menten). Die Akteure (oder Elemente) betrachtet der Strukturansatz als „Kno-
ten“, die sie verbindenden Beziehungen als „Kanten“. Die Netzwerkknoten kön-
nen Personen, Gesellschaften, wenn beispielsweise Handelsblöcke wie die
Europäische Union untersucht werden, aber auch Unternehmungen sein.
Letztlich gilt: „[A]ny entity that is connected to a network of other such entities
will do“ (Emirbayer & Goodwin 1994: 1417).
Ebenso allgemein ist das Verständnis von Beziehungen zwischen den Einhei-
ten: Es können persönliche, freundschaftliche und geschäftliche ebenso wie
352 Arnold Windeler

kurzfristige und dauerhafte Beziehungen sein, neben tatsächlichen schließen sie


selbst potentielle Interaktionen ein (vgl. z.B. Pappi 1987: 17f.). Strukturelle
Netzwerkforscher betrachten sowohl Beziehungsgeflechte zwischen Akteuren
in Unternehmungen, etwa zwischen Konzernunternehmen in einem Konzern,
als auch zwischen Unternehmungen, in denen der Austausch von Gütern,
Dienstleistungen, Personal, Geld, Informationen, normativen Vorstellungen
und vielem mehr erfolgt, als Netzwerke. Vielleicht überraschend charakterisie-
ren sie selbst Märkte als Netzwerke, als Beziehungsgeflechte zwischen Markt-
teilnehmern.
Die Ursprünge des Strukturansatzes der Netzwerkanalyse liegen in der ersten
Hälfte des letzten Jahrhunderts. Entwicklungen moderner Vergesellschaftun-
gen, in denen neben den traditionellen auch andere Formen sozialer Beziehun-
gen an Gewicht gewinnen, lieferten Anstöße (vgl. Kilduff & Tsai 2003: 35ff.;
Windeler 2001: 91ff.; Jansen 1999: 31ff.; Scott 1990). Der Soziologe Georg
Simmel (1992 [1908]) gilt als ein theoretischer Vordenker des netzwerkanalyti-
schen Denkens, da er die Wechselwirkungen von Beziehungen zwischen Indi-
viduen als Zentrum der Soziologie versteht und die Handlungsweisen und
Orientierungen in elementarer Weise an ihre strukturell bestimmten Positionen
im Beziehungsgeflecht bindet (vgl. zu weiteren Vorläufern zusammenfassend
Breiger 2004; Windeler 2001: 91ff.).
Für die Entstehung des Strukturansatzes der Netzwerkanalyse sind drei wei-
tere Quellen wichtig: Erstens übertrugen Forscher wie Kurt Lewin, Fritz Heider
und Jacob Moreno um 1920 Ideen aus der Entwicklung von Feldtheorien in
der Physik auf die Untersuchung von sozialen Interaktionen in Kleingruppen
in der Gestaltpsychologie (vgl. z.B. Lewin 1951, 1936). Zur gleichen Zeit starte-
ten, zweitens, Wissenschaftler der Harvard Business School ihre über zehn Jahre
andauernden anthropologischen Studien über das Fabrikleben in dem zur Wes-
tern Electric Company gehörenden Hawthorne Werk in Chicago. Die berühm-
ten Hawthorne Studien zu informellen Gruppen waren die ersten, welche die
von Moreno entwickelten Soziogramme zur graphischen Darstellung der Be-
ziehungen zwischen Individuen in Kleingruppen nutzten, um die Strukturen
von Interaktionen zwischen Arbeitern in Organisationen abzubilden (Homans
1960 [1950]; Roethlisberger & Dickson 1947). Zudem setzten vor allem die
Sozialanthropologen der Universität Manchester Meilensteine bei der Entwick-
lung der strukturellen Netzwerkanalyse. So fand Barnes (1954) in seiner als
analytischer Wendepunkt der Netzwerkforschung bezeichneten Untersuchung
eines norwegischen Fischerdorfes auf der Insel Bremnes heraus, dass die Posi-
tionen in einer Gemeinschaft sich nicht primär aus den sozialen Attributen und
Interorganisationale Netzwerke 353

Normen von Klassen sozialer Akteure ergeben sowie die Interaktionsstruktu-


ren zwischen Dorfbewohnern nicht primär durch die ethnischen und familialen
Zugehörigkeiten geprägt sind, sondern aus den Interaktionen resultieren, die
Dorfmitglieder miteinander durchführen, wenn sie einander Hilfe gewähren,
sich unterhalten, Arbeitsplätze vermitteln und politische Aktivitäten durchfüh-
ren. Ähnliche Ergebnisse lieferten Studien über die Beziehungen von Arbeitern
in den multiethnischen, von saisonalen Booms geprägten Minenstädten Zent-
ralafrikas, die aufwiesen, dass die Beziehungsstrukturen weder durch Ver-
wandtschaft noch durch Erwerbsarbeit geprägt waren, sondern davon abge-
trennte Sozialstrukturen ausbildeten (vgl. Kilduff & Tsai 2003: 13ff.; Homans
1960 [1950]). Eine dritte einflussreiche Quelle der Netzwerkforschung bildet die
mathematische Graphentheorie. Vor allem Forscher der Gruppe um Harrison
C. White an der Harvard Universität analysierten mit Hilfe machtvoller Com-
puter Netzwerkstrukturen sozialer Interaktionen und Beziehungen jenseits von
Kleingruppenzusammenhängen und verhalfen dieser Forschungsrichtung da-
mit zu ihrem weltweiten Durchbruch (vgl. White et al. 1976; White 1965; zur
Geschichte Jansen 1999; Scott 1990).
Die Netzwerkanalyse des Strukturansatzes ist vor allem eine Methode der So-
zialstrukturanalyse. Oft verharren Studien dieses Ansatzes im Dickicht methodi-
scher Erörterungen. Das gilt aber keinesfalls für alle, obgleich selbst avancierte
Studien kaum in der Lage sind, die sozialen Praktiken der (Re-)Produktion der
Netzwerke in Zeit und Raum zu erfassen. Illustrativ will ich zwei Studien ledig-
lich ganz kurz ansprechen, die explizit theoriegeleitet vorgehen, ohne deren
Theoriepositionen eingehender zu kritisieren (vgl. Windeler 2001: 117ff.). Die
eine analysiert Verflechtungen zwischen Unternehmungen, die andere zeigt die
Bedeutung von Strukturen für ökonomische Informationsgewinne auf.
Franz Urban Pappi, Peter Kappelhoff und Christian Melbeck (1987) liefern
ein Beispiel für die Untersuchung von Machtstrukturen und Machtkonzentrati-
onen in Industrien. Sie bestimmen „Die Struktur der Unternehmensverflech-
tungen in der Bundesrepublik“ im Privatsektor vor allem durch zwei Struktur-
informationen:
2. Die Privatwirtschaft ist in der Art einer Machtstruktur organisiert mit Unter-
nehmen an der Spitze, die direkt zur Machtdomäne der Deutschen Bank und der
Dresdner Bank gehören. 3. Dieses Machtzentrum ist aber intern differenziert.
Neben einer Anzahl von Überlappungen in den Einflusssphären der beiden
Banken zeigen sich nämlich deutlich unterschiedene „Hinterhöfe“ (ebd.: 713).

Sodann fragen sie, welche der Theorien über die Bedeutung und Ausprägungen
dauerhafter Lieferbeziehungen zwischen Unternehmungen dem bestimmten
354 Arnold Windeler

Strukturmuster entspricht und kommen zu dem hier nur referierten Ergebnis,


dass dies am ehesten für die Theorie der Bankenhegemonie zutrifft. Ferner
reflektieren sie die Bedeutung der Beziehungs- und Positionsstruktur für die
Handlungs- und Steuerungsfähigkeiten der beteiligten Unternehmungen und
schließen:
Das Handlungs- und Steuerungspotential der Unternehmen hängt nicht nur von
ihrer Wirtschaftskraft ab, sondern wird wesentlich bestimmt von ihrer Platzie-
rung im Netz der Unternehmensverflechtungen. Ein atomistisches Marktmodell,
das nur die Ressourcenpositionen der Unternehmen und die daraus abgeleiteten
Unternehmensstrategien berücksichtigen würde, reicht zum Verständnis der In-
terorganisationsbeziehungen in ihrer systemischen Verflechtung nicht aus
(ebd.: 714).

Ronald Burt (1992) – mein zweites Beispiel – geht es in seiner Wettbewerbs-


theorie um die Frage, wer sich aufgrund welcher Position im Beziehungsge-
flecht Vorteile bei der Nutzung von Informationen als der zentralen Ressource
im Wettbewerb verschaffen kann – eine Frage, die insbesondere auch für Jour-
nalisten wichtig sein dürfte. Seine Diagnose lautet: besonders wichtig sind
nicht-redundante Beziehungen, die auf „strukturelle Löcher“ hinweisen (vgl.
Abbildung 2). Die Bedeutung des Gesagten lässt sich bereits an einem minima-
len Netzwerk von drei Akteuren und unter Bezug auf das Konzept des „la-
chenden Dritten“ von Simmel illustrieren:
Strukturelle Löcher bieten Akteuren Vorteile. [...] Akteure, die strukturelle Lö-
cher überbrücken, verbinden unterschiedliche Welten. Sie können die Rolle des
„lachenden Dritten“ einnehmen, weil ihre Position am Schnittpunkt ansonsten
unverbundener Cluster reichlich Gelegenheiten bietet, die sich in Geschäftser-
folg ummünzen lassen. Ein Endfertiger in der Position Ego kann in einer Triade
mit zwei Zulieferern [A und B] eine Tertius-Strategie verfolgen und diese gegen-
einander ausspielen, weil und solange die Zulieferer nicht miteinander verbun-
den sind. Gelingt dem Akteur das, so ist er der lachende Dritte (Windeler 2001:
114).

Entsprechend sind für Burt die Akteure strukturell-autonom und erfolgreich,


deren Beziehungsmuster so sind, dass sie die strukturellen Löcher relevanter
Akteure kontrollieren, ohne selbst auf der abhängigen Seite struktureller Lö-
cher zu stehen.
Interorganisationale Netzwerke 355

Abbildung 2: Redundante und durch ein „structural hole“ gekennzeichnete Beziehungen


zwischen drei Akteuren

EGO EGO

A B A B

“structural hole”

4 Der Governanceansatz der Netzwerkanalyse


Organisationssoziologen und Managementforscher widmen sich insbesondere
der Governance, der Steuerung und Regelung der Koordination der Interakti-
onen und Beziehungen zwischen Organisationen in Netzwerken. Governance
meint dabei nicht nur „politische Steuerung“ im Rahmen des hierarchischen
Kontrollmodells (Mayntz 1998), sondern schließt stärker kooperative Formen
der Koordination und interorganisationale Koordinationsformen ein:
Governance bezeichnet den Prozess des Steuerns und Regelns eines technischen
und sozialen Zusammenhangs. [...] Steuerung meint jedoch nicht notwendiger-
weise autoritative Anordnung. Obzwar in der historischen Figur eines Steuer-
manns begründet, ist Governance nicht auf den Spezialfall hierarchischer Steue-
rung reduzierbar, in der die Steuerungsleistungen auf ein singuläres Steuerungs-
subjekt zurückgehen. Aus einer generalisierten Steuerungs- und Regelungsper-
spektive im Sinne von Governance ist ein breites Spektrum von Mechanismen
denkbar, angefangen bei dem erwähnten singulär-hierarchischen Schema, über
komplexe und heterogene Steuerungssysteme, in denen vielzahlige eigenständige
Steuerungssubjekte über ebenso vielfältige Koordinationsmechanismen und Res-
sourcenflüsse ineinandergreifen und zusammenwirken bis hin zum atomisti-
schen Markt als Extrempunkt dezentraler Steuerung (Schneider & Kenis 1996:
10).

Die Governance von Netzwerken bildet einen gestalteten Ordnungsrahmen für


das Geschehen in ihnen, bezeichnet die von Netzwerkkoordinatoren geschaf-
fenen allgemeinen Bedingungen, unter denen Akteure im Netzwerk und mit
Dritten miteinander interagieren und Beziehungen ausgestalten (vgl. Windeler
2001: 267ff.). Bestimmen lässt sich die Governance über Praktiken der Selektion
von Akteuren und Handlungsdomänen, der Allokation von Ressourcen, das heißt,
der abgestimmten Produktion oder Nutzung von Ressourcen im Netzwerk, der
Evaluation des Netzwerkgeschehens, der Integration der Aktivitäten und Bezie-
356 Arnold Windeler

hungen in den Netzwerkzusammenhang, der Konfiguration der Positionen der


Netzwerkakteure und der Konstitution der Netzwerkgrenzen und der hierüber er-
zielten oder erzielbaren Resultate (vgl. ebd.: 249ff.).
Die Netzwerkgovernance variiert mit dem Netzwerktypus. In hierarchischen
Netzwerken finden wir eine hierarchische Struktur vor, die vorrangig von ei-
nem erkennbaren und von den Netzwerkakteuren akzeptierten Netzwerkkoor-
dinator (oder über eine kleine Anzahl von Akteuren) ausgestaltet wird, wäh-
rend in heterarchischen Netzwerken eine heterarchische Struktur vorliegt, die
gemeinsam von den Netzwerkmitgliedern festgelegt wird und die Führung des
Netzwerkes zumeist für eine bestimmte Zeitperiode auf einen der Akteure
überträgt. In der Regel gibt es in Netzwerken mehrere strategisch platzierte
Akteure: Netzwerke sind „vielköpfige Hydren“ (Teubner 1992).
Governanceforscher unterscheiden Märkte, Unternehmungen und Unter-
nehmungsnetzwerke nach ihren – gleich vorgestellten – Governances. Folge-
richtig sind für sie nur ganz besondere Sozialsysteme Netzwerke; andere, etwa
Märkte oder Unternehmungen und damit auch Konzerne, sind für Vertreter
dieser Richtung der Netzwerkforschung hingegen keine Netzwerke.
Vertreter des Governanceansatzes streiten darüber, was die Netzwerkgo-
vernance ausmacht. Das trägt elementar zum begrifflichen Durcheinander im
Netzwerkdiskurs bei. Ich will die Vielzahl der Netzwerkbestimmungen hier
nicht auflisten (vgl. Sydow 2003). Stattdessen stelle ich kurz einen Netzwerk-
begriff vor, der durch die Strukturationstheorie des englischen Soziologen
Anthony Giddens (1984) informiert ist (vgl. zum Folgenden Windeler 2005;
Windeler 2003).
Unternehmungsnetzwerke bilden in strukturationstheoretischer Sicht ers-
tens eine besondere Koordinationsform „beyond market and hierarchy“, um mit
Powell (1990) zu sprechen. Insbesondere die durch die Transaktionskostenthe-
orie (Williamson 1990 [1985]) geprägte betriebswirtschaftliche Netzwerkfor-
schung sieht das in der Regel anders (vgl. z.B. Sydow 1992). Sie versteht Netz-
werke als eine Hybridform auf dem Kontinuum zwischen Markt und Hierar-
chie, wobei die Hybriden eine „swollen middle“ (Hennart 1993) bilden. Da auf
vermachteten Märkten marktliche und auch hierarchische Momente ebenso
eine Rolle spielen wie in vielen Unternehmungen, überrascht das kaum. Zum
Beispiel nutzen viele dezentrale Konzerne eine Vielzahl marktlicher Momente.
Entsprechend kommt die Frage auf: Sind dann nicht alle (oder fast alle) realen
Märkte und Unternehmungen Hybride? Gegen die Hybridvorstellung lassen
sich eine Vielzahl weiterer historischer und systematischer Einwände erheben.
Interorganisationale Netzwerke 357

Das habe ich an anderer Stelle ausgeführt (Windeler 2005: 218ff.; Windeler
2001: 237ff.).
Der strukturationstheoretische Begriff des Unternehmungsnetzwerks greift
– und das ist eine zweite Besonderheit – die Bestimmung von Mitchell auf,
spricht im Gegensatz zu dieser aber nur dann von Netzwerken, wenn der Be-
ziehungszusammenhang eine besondere Qualität aufweist. Die Definition lau-
tet:
Unternehmungsnetzwerke sind vornehmlich aus Geschäftsbeziehungen und Ge-
schäftsinteraktionen zusammengesetzt, die (mehr als zwei) Unternehmungen
überwiegend mit Blick auf den zwischen ihnen konstituierten dauerhaften Be-
ziehungszusammenhang reflexiv koordinieren (ebd.: 231f., Hervorhebung im
Original).

Wir haben es bei Interorganisationssystemen von Unternehmungen also nur


dann mit Netzwerken zu tun, wenn die Unternehmungen ihre Aktivitäten und
Beziehungen im Beziehungsgeflecht dominant unter Rekurs auf den dauerhaf-
ten Beziehungszusammenhang koordinieren.
Drittens analysiert der strukturationstheoretische Netzwerkansatz die sozia-
len Praktiken der Konstitution von Netzwerken, untersucht, wie Akteure reflexiv
unter Bezug auf relevante Kontexte Netzwerke praktisch initiieren und been-
den, die Governance ausgestalten und die Aktivitäten in Netzwerken und in
relevanten Kontexten überwachen, rationalisieren und strategisch fortschrei-
ben. Neben den im Strukturansatz betrachteten Strukturen der Beziehungen
und Positionen im Netzwerk werden explizit einerseits die Netzwerke übergrei-
fenden Kontexte mit ihren Strukturen, Institutionen usw. und andererseits die
Praktiken der Akteure aufgegriffen, die Netzwerke durch ihr Handeln
(re-)produzieren. In den Blick geraten so die zentralen Orientierungspunkte des
Handelns, die strukturellen und institutionellen Mechanismen der (Re-)Pro-
duktion von Netzwerken sowie die gesellschaftlichen Wirkungen von Vernet-
zung.
Märkte, Unternehmungen und Unternehmungsnetzwerke werden, viertens,
nicht idealtypisch, sondern über den faktisch dominanten Koordinationsmodus
bestimmt und voneinander abgegrenzt. Märkte zeichnen sich dadurch aus, dass
die Geschäftsinteraktionen und Geschäftsbeziehungen vornehmlich über Geld
und Marktpreise koordiniert werden. Unternehmungen koordinieren ihre Interakti-
onen und Beziehungen hochgradig reflexiv, so dass dies eine einheitliche Leitung
in wirtschaftlichen Angelegenheiten begründet. Im Resultat führt das zu dieser Ge-
genüberstellung der Koordinationsmodi Markt, Unternehmung und Netzwerke
(vgl. Abbildung 3).
358 Arnold Windeler

Abbildung 3: Unternehmungsnetzwerke, Märkte und Unternehmungen:


eine Gegenüberstellung ihrer Koordinationsmodi2
Grad, in dem die Koordination auf
dem dauerhaften Beziehungs-
zusammenhang zwischen
Unternehmungen beruht
Unternehmungs-
netzwerke

Unternehmungen
Märkte

Theoretischer Nullpunkt, Grad, in dem die


in dem die Koordination aus- Koordination auf
schließlich auf Marktpreisen einheitlicher
und diskretem Tausch beruht Leitung beruht

Quelle: Windeler (2001: 235).

Die grafische Gegenüberstellung der Koordinationsmodi verdeutlicht, dass


sich in der Praxis von Unternehmungsnetzwerken unterschiedliche Grade der
Bezugnahme auf den dauerhaften Beziehungszusammenhang finden. Gewinnt
in Unternehmungsnetzwerken etwa der Grad einheitlicher Leitung in wirt-
schaftlichen Angelegenheiten oder die Koordination über Marktpreise bei der
Koordination der Geschäftspraktiken in relevantem Umfang an Bedeutung,
dann nähern wir uns den (in Abbildung 3 eingezeichneten) Grauzonen der
Koordination. Begründen die Geschäftspraktiken im Netzwerk etwa das Do-
minantwerden einer einheitlichen Leitung in wirtschaftlichen Angelegenheiten,
dann hört das Netzwerk auf, ein Netzwerk zu sein. Es wird zu einer Unter-
nehmung – etwa einem faktischen Konzern mit allen seinen ökonomischen
und rechtlichen Implikationen (vgl. z.B. Teubner 2001). Gewinnen Marktpreise
und Momente des diskreten Tauschs an Gewicht und nimmt die Relevanz des

2 Die Pole der X-Achse lauten: Koordination ausschließlich über Marktpreise oder über
einheitliche Leitung. Die Pole der Y-Achse heißen: Koordination zwischen Unternehmun-
gen ausschließlich als diskreter Tausch oder über den dauerhaften Beziehungszusammen-
hang. Einheitliche Leitung bei annähernd diskretem Tausch kennzeichnet sehr flüchtige
Unternehmungen und/oder Unternehmungen mit flüchtigen Beschäftigungsverhältnissen
(Zeitarbeiter, Projektbeschäftigte usw.).
Interorganisationale Netzwerke 359

dauerhaften Beziehungszusammenhangs für die Koordination ab, dann ändert


sich die Koordination von einer netzwerkförmigen zu einer marktlichen.
Die Literatur über Netzwerkgovernances definiert Netzwerke zumeist je-
doch nicht über den Beziehungszusammenhang, sondern über eine bestimmte
Qualität von Beziehungen: Im Angebot ist vor allem Vertrauen, dem Kriterium,
dem sich eine Vielzahl von Autoren sowohl in der Betriebswirtschaftslehre, wie
etwa Gerum et al. (1998), als auch insbesondere in der Soziologie verschreiben;
die Liste reicht hier von Powell (1990) über Bachmann (2000) und Weyer
(2000) bis hin zu Luhmann (2000) – und zwar nahezu durchgehend mit Refe-
renz auf die Bestimmung durch Powell. Prominent ist weiterhin das Kriterium
der Kooperation, dem Kriterium, welchem etwa Sydow (1992) mit seiner Be-
stimmung von Netzwerkbeziehungen als Beziehungen, die eher durch Koope-
ration denn Kompetition gekennzeichnet sind, Geltung verschafft, aber z.B.
auch Semlinger (2000). Weitere Kriterien sind Verlässlichkeit (Ortmann 2003),
Verhandlung (Mayntz 1996) oder ein bestimmtes Vertragsrecht (Williamson 1990
[1985], zur Kritik Teubner 1992).
Selbstredend lassen sich alle diese (und weitere mögliche) Strukturmerkmale
von Netzwerken als Definitionsmerkmale verwenden. Nicht wenige kombinie-
ren diese (oder weitere) Kriterien zu Sets von Qualitätsanforderungen an
Netzwerke (vgl. z.B. Fischer & Gensior 1995). Fraglich ist, ob es zweckmäßig
ist, Netzwerke so zu definieren. Erstens tritt das zentrale Moment der Netz-
werkperspektive, der Rekurs auf das Beziehungsgeflecht zwischen den Akteu-
ren (oder Einheiten), zumindest in den Hintergrund. Zweitens, wählt man etwa
Vertrauen als Definitionsmerkmal, dann finden wir zumindest fast keine Netz-
werke im Bereich der Ökonomie. Sind z.B. Netzwerke zwischen Endprodu-
zenten und Zulieferern in der Automobilindustrie vor allem durch vertrauens-
basierte Beziehungen gekennzeichnet oder nicht eher durch Machtdifferenzen?
Modernisierungstheoretisch ist grundsätzlicher zu fragen: So moderne Gesell-
schaften dadurch charakterisiert sind, dass Akteure die selbst mit geschaffenen
Risiken nur durch Zutrauen in die Verlässlichkeit einer Person oder eines Sys-
tems bezüglich bestimmter Resultate oder Ereignisse überwinden können (vgl.
Giddens 1990: 34), warum sind dann nur Netzwerke und nicht auch das Ge-
schehen auf Märkten und in Organisationen durch Vertrauen mit geprägt?
Wenn sie es aber auch sind, dann wäre zunächst noch einmal zu klären, inwie-
fern genau Vertrauen das Distinktionsmerkmal für Netzwerke sein kann. Die
in der Netzwerkforschung oft als Definitionsmerkmal von Netzwerken ge-
brauchten Kriterien (wie Vertrauen) lassen sich ggf. also zur Auszeichnung
360 Arnold Windeler

besonderer Netzwerke nutzen; nur recht unzureichend lässt sich auf ihrer Basis
jedoch ein allgemeiner Netzwerkbegriff formulieren.
Die Geschichte des Governanceansatzes ist nicht so systematisch aufbereitet
wie die des Strukturansatzes (vgl. Sydow 1992: 56ff.). Auch dieser Netzwerkan-
satz ist tief im soziologischen und wirtschaftswissenschaftlichen Denken ver-
ankert. So charakterisiert Max Weber (1976 [1921]) die Koordinationsform von
Märkten und die von Organisationen als Bürokratien im Zusammenhang von
„Wirtschaft und Gesellschaft“, und stellt Ronald Coase (bereits 1937) Märkte
und Organisationen als in Bezug auf Kosten alternative Koordinationsmodi
vor. Der Diskurs um Netzwerkgovernance schreibt diese frühen theoretischen
Überlegungen sowie die in der Organisationssoziologie etablierten Sichtweisen
auf die Koordination von Aktivitäten und Beziehungen fort (vgl. Oliver &
Ebers 1998), ohne jedoch in vielen Fällen selbst die strukturelle Einbettung im
Sinne Granovetters systematisch aufzugreifen. Fast durchgängig wird die For-
derung Max Webers verfehlt, die Bedeutung kultureller Ordnungen und Insti-
tutionen sowie die Bedeutung von Koordinationsformen für die Ausgestaltung
von Herrschaftszusammenhängen zu berücksichtigen – eine der Ausnahmen
bildet die strukturationstheoretische Netzwerkforschung, die Strukturen und
Institutionen im Prozess der Strukturation von Netzwerken integriert (vgl.
Windeler 2001). Trotz der Theoriedefizite des Governanceansatzes gewann
dieser im Netzwerkdiskurs ab Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts
gesellschaftlich hohe Beachtung: Geschuldet ist das vor allem den Diskussio-
nen um die so genannte Japanoffensive.
Weltweite Aufmerksamkeit erfuhr die Netzwerkgovernance durch die Stu-
dien von Piore und Sabel (1985 [1984]) über „Das Ende der Massenprodukti-
on“ und die des Massachusetts Institute of Technology (MIT) zur „Lean Pro-
duction“ (vgl. Womack et al. 1991). Piore und Sabel diagnostizieren, dass die
Industriegesellschaften weltweit vor der Weggabelung stehen, entweder die
bestehende Struktur in Richtung auf einen „multinationalen Keynesianismus“
fortzuschreiten oder den dazu alternativen Weg der „flexiblen Spezialisierung“
mit Netzwerken zwischen kleinen Unternehmungen einzuschlagen. Die „Lean
Studie“ hebt die Vorteile der internen Strukturierung von Produktionsorganisa-
tionen und der Kooperationsformen der Zusammenarbeit in Netzwerken mit
Zulieferern und Abnehmern in Japan hervor (vgl. Ortmann 1995: 291ff.). Gan-
ze Pilgerscharen von Managern und Forschern überschwemmen in der Folge-
zeit die Emilia Romagna im Norden Italiens oder Japan, um die Formen ver-
netzter Produktion genauer zu erkunden. In der Managementforschung liefert
die Transaktionskostentheorie (vgl. Williamson 1990 [1985]) den dominanten
Interorganisationale Netzwerke 361

Erklärungsansatz, in der Arbeits- und Industriesoziologie in Deutschland ist es


der zur „systemischen Rationalisierung“ (Altmann et al. 1986, Baethge &
Oberbeck 1986, vgl. Windeler 2001: 69ff.). Eine andere instruktive Studie ist
die von Richardson (1972), der schon früh darauf hinweist, dass Organisatio-
nen nicht als Inseln geplanter Koordination im Meer von Marktbeziehungen zu
verstehen sind, sondern in vielen Fällen in ein dichtes Netzwerk von interorga-
nisationalen Beziehungen eingebunden seien. Beginnend mit den neunziger
Jahren boomt die Erforschung von Netzwerkgovernances.
Auch für die Forschungen über Governances will ich ganz kurz ein Beispiel
vorstellen, das des Projektnetzwerks. Projektnetzwerke bilden einen besonde-
ren Typus von Netzwerken, denen in Hightech-Industrien ebenso hohe Bedeu-
tung zukommt wie in Medienindustrien, da sie Möglichkeiten bieten, dauerhaf-
tere Zusammenhänge zur Abwicklung zeitlich befristeter Projekte von einer
Vielzahl von Akteuren unterschiedlicher Organisationen zu gewährleisten.
Schauen wir exemplarisch, wie heute Sender, Produzenten, Regisseure, Au-
toren sowie technische und künstlerische Mediendienstleister (MDL) arbeitstei-
lig die Programminhalte für das Fernsehen in Kontexten produzieren, die
Grenzen verschiedener Unternehmungen überschreiten (vgl. Windeler 2004).
Die an der Produktion von Content in einem Projekt Beteiligten koordinieren
ihre jeweiligen Projektaktivitäten, indem sie für den Produzenten A typische
Produktionspraktiken mit ihren Sicht-, Legitimations- und Handlungsweisen
aktualisieren (ȹ). Und indem und insoweit sie so produzieren, wie man Pro-
gramminhalte üblicherweise bei diesem Produzenten herstellt, institutionalisie-
ren (Ȼ) sie diese Praktiken als für das Projektnetzwerk des Produzenten A typi-
sche rekursive Konstitution.
Fünf strukturelle Besonderheiten dieser Produktionskoordination seien
herausgestellt, ohne sie im Einzelnen herzuleiten. Erstens: Sender wählen –
parallel zum aufkeimenden Diskurs um flexible Spezialisierung und Vernetzung
– ab Mitte der achtziger Jahre ihre Produzenten für die Fertigung eines be-
stimmten Fernsehinhalts weder nur nach dem vorgelegten Stoff noch nur nach
dem Preis aus. Bedeutsam sind mindestens ebenso Erfahrungen aus früherer
Zusammenarbeit und Einschätzungen, ob der Produzent in der Lage ist, das
Produktionsnetzwerk bei der Realisierung konkreter Projekte aus der Sicht der
Fernsehsender – als den in dieser Industrie mächtigsten Akteuren – kompetent
im Rahmen des Budgets zu steuern (vgl. Windeler et al. 2000). Produzenten
sind entsprechend durchgängig bemüht, nicht nur attraktive Projekte zu akqui-
rieren, sondern auch interessante Akteure an sich zu binden. Beide, Fernseh-
sender und Produzenten, ahmen zudem, indem sie die Netzwerkform aufgrei-
362 Arnold Windeler

fen, nach, was in der Gesellschaft als „fortschrittlich“ gilt (vgl. DiMaggio &
Powell 1983).

Abbildung 4: Projekt und Projektnetzwerk – Mechanismus der (Re-)Produktion

Projekt des
Produzenten A Sender

Autoren

Produ-
zent A

Regis- techn.
seure MDL

künstl.
MDL
Aktualisierung Institutionalisierung

Sender

Autoren

Produ-
zent A

Regis- techn.
seure MDL

Projektnetzwerk des künstl.


Produzenten A MDL

Quelle: Windeler (2004: 66).

Anmerkung: techn. MDL = technische Mediendienstleister


künstl. MDL = künstlerische Mediendienstleister

Der skizzierte Reproduktionsmechanismus von Projektnetzwerken bewirkt,


zweitens, dass Produzenten wieder und wieder mit bestimmten Autoren, Regis-
seuren, technischen Mediendienstleistern etc. zusammenarbeiten und trotz der
in der Regel nicht fortlaufenden, sondern immer wieder unterbrochenen Prak-
tiken gleichwohl dauerhafte Beziehungszusammenhänge zwischen den Akteu-
Interorganisationale Netzwerke 363

ren konstituieren, die für die (gelingende) Koordination ihrer Aktivitäten im


jeweiligen Projektzusammenhang oft entscheidend sind. Insgesamt haben wir
es daher mit einem über einzelne Projekte hinweg (re-)produzierten Netzwerk,
das heißt, mit einem Projektnetzwerk zu tun.
Drittens: Fernsehsender und Produzenten bilden zusammen das Koordina-
tionszentrum der Projektnetzwerke, indem sie – in verteilten Rollen – faktisch
recht weitgehend Einfluss auf die Koordination der Leistungserstellung neh-
men. Viertens: Die wiederkehrende Zusammenarbeit der Beteiligten an der
Produktion von Fernsehinhalten erlaubt ihnen, kompetent an gemeinsame
Erfahrungen aus vorhergehenden Projekten anzuschließen, wie man etwas
macht. Fünftens: Personen und personale Beziehungen spielen in Projektnetz-
werken der Fernsehproduktion – wie vermutlich generell in Kulturindustrien –
eine besonders wichtige Rolle. Das gilt zumindest für höherwertigen Content
wie TV Movies, aber in einem geringeren Maße selbst für Daily Soaps. Die
Beziehung zwischen einem Produzenten und einem Redakteur eines Fernseh-
senders kann zwar auch eine personale oder persönliche sein, beide treten sich
im Kontext der Fernsehproduktion aber nicht nur als Privatpersonen, sondern
zumindest auch, wenn nicht sogar vorrangig, als Repräsentanten von Organisa-
tionen gegenüber, wodurch sie über ihre Praktiken das interorganisationale
Projektnetzwerk mit herausbilden.

5 Moderne Gesellschaften und Netzwerkanalyse:


Zur Rückkehr des Akteurs und der Gesellschaft
Moderne Gesellschaften sind durch reflexive Ausgestaltungen von Netzwerken
und anderen Koordinationsformen gekennzeichnet, die nicht selten die Gren-
zen von verschiedenen Nationalstaaten und einzelnen Gesellschaftsbereichen,
wie denen von Wirtschaft und Wissenschaft, überschreiten, gleichzeitig aber
deren Institutionengefüge nachhaltig beeinflussen. Die Organisationsforschung
erweitert mit der Aufnahme von Netzwerken nachhaltig ihren Analyserahmen
auf die heute oft im Mittelpunkt aktueller Gesellschaftsdiskurse stehenden
(interorganisationalen) Beziehungsgeflechte. Das Wissen über die Konstitution
von Netzwerken und deren Wirkungen in modernen Kontexten ist aber er-
staunlich begrenzt, obwohl sie heute so viel Aufmerksamkeit erhalten.
Natürlich konzentrierten sich Organisationsforscher bereits in den sechzi-
ger Jahren nicht mehr nur auf das Innere einzelner Organisationen, sondern
nehmen deren Umwelten systematisch nach und nach mit auf und erweitern
dadurch nachhaltig unser Wissen über die soziale Einbettung von Organisatio-
364 Arnold Windeler

nen. So öffnete sich die Organisationsforschung bereits mit der Betrachtung


von Organisationen als „offene Systeme“ (Katz & Kahn 1966) der Umwelt
von Organisationen und präzisierte deren Bedeutung dann im Rahmen der
Kontingenzforschung (vgl. als Überblick Child 1997) sowie der Analysen über
Ressourcenabhängigkeiten (vgl. Pfeffer & Salancik 1978), die Evolution von
Organisationen (vgl. Hannan & Freeman 1989) und über die institutionelle
Einbettung von Organisationen (vgl. DiMaggio & Powell 1983). Aber es sind
doch die Veränderungen der achtziger Jahre, die die Umwelt von Organisatio-
nen als Sets von Beziehungen zwischen Organisationen mit ihren Strukturen
und Governances von Organisationen, Netzwerken und Märkten präziser
weltweit – und weit über die Organisationssoziologie hinaus – in den Blick
bringen. Dadurch verfeinert sich aber nicht nur elementar der analytische
Zugriff auf die soziale Konstitution von Sets von Beziehungen zwischen Orga-
nisationen, es wird auch unmissverständlich deutlich, dass, will man sie erklä-
ren, ergänzende Theorien benötigt werden (vgl. Windeler 2001: 334ff.).
Ist es das Verdienst des Strukturansatzes der Netzwerkforschung, den
Strukturen von Beziehungen für die Ausgestaltung von Aktivitäten Beachtung
zu verleihen, so ist es die Leistung des Governanceansatzes, auf die absichts-
vollen Ausgestaltungen der allgemeinen Bedingungen interorganisationaler
Zusammenhänge aufmerksam zu machen. Gegen den Strukturansatz wird zu
Recht eingewendet, er sei oft lediglich eine Methode der Sozialstrukturanalyse,
die nur statische Bilder von Beziehungsgeflechten liefert und unfähig sei, den
Akteur und seine Handlungen hinreichend zu berücksichtigen, während dem
Governanceansatz – etwa in der Gestalt des Transaktionskostenansatzes –
berechtigt vorgeworfen wird, er verlöre mit seiner Konzentration auf dyadische
Beziehungen die Strukturmuster der Beziehungsgeflechte und die gesellschaft-
liche Einbettung aus den Augen (vgl. für viele Windeler 2005; Kilduff & Tsai
2003; Windeler 2001; Granovetter 1985, 1979; Barnes 1972).
Sozialtheorien, die die Defizite des Struktur- wie des Governanceansatzes
überwinden, müssen in ihren Erklärungen von Vernetzung und der durch sie
erzeugten Wirkungen zwei Dinge berücksichtigen. Erstens müssen sie aufneh-
men, wie Akteure die Beziehungsstrukturen und die Governances unter rekur-
sivem Bezug auf gesellschaftliche Zusammenhänge konstituieren, was Han-
delnde von den Strukturen, Handlungsoptionen und Konsequenzen verstehen
und wie sie ihr Wissen jeweils im Handeln nutzen. Zweitens müssen die Erklä-
rungsansätze gesellschaftliche Zusammenhänge und deren Entwicklungen als
Medium und Resultat der Prozesse ihrer Herausbildung thematisieren. Denn
Akteure betten ihre Aktivitäten und die von Netzwerken in die übergreifenden
Interorganisationale Netzwerke 365

Kontexte ein, nutzen sie in Netzwerken, verwenden gesellschaftliche Sicht-,


Legitimations- und Handlungsweisen, um ihre Aktivitäten und Beziehungen
etwa im Prozess der Produkterstellung miteinander zu koordinieren, und brin-
gen diese gleichzeitig durch ihr Handeln immer wieder erneut hervor oder
verändern sie. Erst Studien, die kompetente Akteure und gesellschaftliche Zu-
sammenhänge im angesprochenen Sinne berücksichtigen, ermöglichen es,
relevante Fragen zu klären, etwa die, ob Netzwerke Medienkonzernen gestat-
ten, strategisch eine Konzentration ohne Zentralisation zu betreiben, ob Netz-
werke Akteuren über strukturelle Löcher Autonomie zur Informationsgewin-
nung und -verwertung verschaffen oder ob Projektnetzwerke Einfluss auf die
produzierten Contents haben und die Ausgestaltung einer Vielzahl gesellschaft-
licher Institutionen beeinflussen. Erst Netzwerkanalysen, die eine avancierte
Sozialtheorie verwenden, erlauben die Rückkehr des Akteurs und die der Ge-
sellschaft und ermöglichen, die Fragestellungen des Struktur- und des Gover-
nanceansatzes umfassend aufzugreifen und Vernetzung als Medium und Resul-
tat moderner Vergesellschaftung zu verstehen.

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Netzwerkansätze:
Potenziale für die Journalismusforschung

Thorsten Quandt

1 Einleitung: Auf dem Weg zum Netzwerkzeitalter?


Ob Terrornetzwerke, das World Wide Web oder Firmengeflechte – der Netz-
werkgedanke ist in einer Vielzahl aktueller Diskussionen zu finden. Zwar sind
die mit dem Begriff „Netzwerk“ bezeichneten Phänomene höchst unterschied-
licher Natur, doch werden sie durch eine grundlegende Metapher und die basa-
le Idee einer Struktur aus miteinander verwobenen Einzelelementen geeint. Die
Anwendungsfelder dieser Idee liegen mitunter weit voneinander entfernt:
Manchmal werden Macht, Einfluss (Perrow 1992) oder ökonomische Koordi-
nation (Williamson 1985) mit dem Netzwerkgedanken beschrieben, dann wie-
der allerlei Erscheinungen in der Natur (Barabási 2002), und mitunter wird
sogar die „Netzwerkgesellschaft“ (Castells 2000) heraufbeschworen. Befinden
wir uns also auf dem Weg zu einem Netzwerkzeitalter, in dem alles, was um
uns herum vorgeht, als Netzwerk strukturiert ist – auch und vor allem die ge-
sellschaftliche Kommunikation (vgl. Hepp et al. 2006)?
Arnold Windelers vorangegangene Ausarbeitung will und kann eine (einfa-
che) Antwort vordergründig erst einmal nicht geben – konzentriert sich der
Autor doch zunächst auf einen sehr speziellen Typ von Netzwerken: nämlich
jene Netzwerke, die aus Unternehmungen bestehen, d.h. er interessiert sich für
den spezifischen Fall der so genannten „interorganisationalen Netzwerke“.
Damit fokussiert er aus journalismustheoretischer Sichtweise einen eher spär-
lich untersuchten Bereich, der wohl am ehesten auf einer Meso-Ebene zwi-
schen gesamtgesellschaftlichen Modellierungen und mikroperspektivischen
Ansätzen zu verorten ist. Zwar gab es vereinzelt Versuche, sich diesem zu
widmen, doch galt ihm sicherlich nicht das Hauptaugenmerk der Forschung.
Windelers (in diesem Band: 348) Aussage, „soziologisch interessieren Netzwer-
372 Thorsten Quandt

ke zwischen Organisationen“, trifft also für die Journalismusforschung bislang


nicht zu – hier standen andere Interessenbereiche im Vordergrund. Freilich
bedeutet dies nicht, dass sich die Journalismusforschung nicht stärker damit
auseinander setzen sollte. In der Vergangenheit wurde des Öfteren eine Stär-
kung der unternehmensbezogenen Sichtweise gefordert, um Journalismus in
seiner organisationalen Verfasstheit besser modellieren zu können – und auch
um seinen Platz im Mediensystem oder sein Verhältnis zu diesem klarer
bestimmen zu können (vgl. Altmeppen 2004). In diesem Sinne erscheint es
natürlich attraktiv, bei der Betrachtung journalistischer Organisationen gleich
zu Ansätzen zu greifen, die besonders weit reichend und „aktuell“ sind. Hierzu
gehören Netzwerkansätze sicherlich; so stellt Windeler (in diesem Band: 348)
fest:
Netzwerke gelten als die Antwort auf die Turbulenzen der globalen Geschäfts-
welt, auf gestiegene Risiken der Entwicklung und Erforschung von Technolo-
gien [...] und auf sinkende Fähigkeiten von Unternehmungen, einen Markt zu
dominieren. (Hervorhebung im Original)

Allerdings muss man differenzieren: Was Windeler eingangs seines Beitrags


zurückhaltend als eine Sichtweise skizziert, die momentan vor allem in der
Ökonomie und der Organisationssoziologie en vogue ist, entpuppt sich bei
näherer Betrachtung als ein ganzes Bündel unterschiedlichster Diskussions-
stränge, welche über die von ihm genannten Bereiche weit hinausgehen. Durch
die Ausführungen Windelers wird zudem klar (auch wenn er dies nicht expli-
ziert), dass man Netzwerke als empirisch gegebene, „tatsächliche“ Struktur
verstehen kann oder als „abstrakte“ Denkfigur für (soziale) Strukturen (vgl.
hierzu ausführlicher Abschnitt 3).
Damit lässt sich bereits in gewisser Weise die eingangs gestellte Frage nach
einem Netzwerkzeitalter und der Anwendung netzwerkanalytischer Ansätze
auf gesellschaftliche Kommunikation beantworten: Nimmt man Netzwerke als
Denkfigur für die Beschreibung sozialer Phänomene, so kann es gar kein spe-
zielles Netzwerkzeitalter geben – schon immer hat es Strukturen gegeben, die
sich mit Hilfe des Netzwerkkonzepts beschreiben lassen. Gleichzeitig sollte das
Netzwerkkonzept auch auf Kommunikation und Journalismus übertragbar
sein, handelt es sich bei diesem Konzept doch um eine universelle Form der
Strukturbeschreibung. Folgt man der „empirischen Sichtweise“, so ist die Frage
nach einem Netzwerkzeitalter nur über die Erforschung real existierender
Strukturen im Zeitverlauf zu beantworten. Allerdings müsste man hier zu-
nächst klären, worauf der Strukturbegriff angewandt wird (Organisationen,
Personen, Kommunikationen usf.), und es müssten zeitstabil vergleichbare
Netzwerkansätze: Potenziale für die Journalismusforschung 373

Beobachtungsinstrumente benutzt werden. Für die Kommunikationswissen-


schaft und speziell die Journalismusforschung wäre dann natürlich auch die
Frage wichtig, inwieweit sich Netzwerkstrukturen in bestimmten Journalismus-
bereichen durchgesetzt haben und den Journalismus verändern. Die Formulie-
rungen deuten es an: empirisch ist noch viel zu tun – ein „Netzwerkzeitalter“
aus Sichtweise der Kommunikationswissenschaft auszurufen wäre also ver-
früht.
Egal in welche Richtung man aber die Potenziale der verschiedenen Netz-
werkansätze ausloten will, tut zunächst die Klärung basaler Konzepte Not. Will
man sich als Journalismusforscher den genannten Sichtweisen nähern, müssen
zunächst einige Grundbegriffe definitorisch eingegrenzt werden, die bislang im
Fach nicht eingeführt sind. Windeler setzt diese zum Teil voraus, da sie in
anderen Wissenschaftsbereichen schon zum Basiswissen gehören. Daher wird
im Folgenden zunächst nochmals auf einige Konzepte der Netzwerksichtweise
eingegangen (Abschnitt 2). Erst dann werden verschiedene Netzwerkansätze
kurz besprochen (wobei hier über die von Windeler beschriebenen Diskussi-
onsstränge hinausgegangen wird; vgl. Abschnitt 3), um danach mögliche An-
wendungsmöglichkeiten in der Journalismusforschung zu erkunden (vgl. Ab-
schnitt 4). Abschließend werden die Entwicklungsmöglichkeiten einer Netz-
werksichtweise für die Journalismusforschung diskutiert, aber auch Probleme
bei der „Übertragung“ angesprochen (vgl. Abschnitt 5).

2 Grundlagen: Was sind überhaupt Netzwerke?


Eingangs wurde bereits beschrieben, dass in Hinblick auf Netzwerke nicht
immer einheitliche Begrifflichkeiten genutzt werden. Zum Teil bezeichnet
derselbe Begriff unterschiedliche empirische Gegebenheiten oder theoretische
Konstrukte, zum Teil werden mehrere Namen für ein und dieselben Dinge
verwandt. Arnold Windelers Beitrag greift diese Problematik auf und trägt zu
einer Eingrenzung der Begriffe bei, jedoch konzentriert er sich in seinem Bei-
trag vor allem auf eine Klärung in dem von ihm diskutierten Bereich der Orga-
nisationssoziologie (im Rahmen einer eher wirtschaftswissenschaftlichen Dis-
kussion). Für die Journalismusforschung muss man möglicherweise etwas all-
gemeiner auf den Netzwerk-Begriff eingehen, da eine vergleichbare Diskussion
(auch über ähnlich gelagerte Konzepte) noch nicht stattgefunden hat.
Freilich ist der Netzwerkbegriff in der Kommunikationswissenschaft im
Allgemeinen und der Journalismusforschung im Speziellen nicht völlig unbe-
kannt: Insbesondere in den letzten Jahren tauchte er vermehrt auf, jedoch in
374 Thorsten Quandt

einem ganz anderen Zusammenhang als bisher beschrieben: nämlich in der


Debatte über „Computernetze“ und das Internet. Die Denkfigur der „Vernet-
zung von Computern“ (bzw. Menschen) ist dabei allerdings nur selten der
zentrale Punkt – das „Internet“ wird meist in Analogie zu den traditionellen
Massenmedien betrachtet.
Dadurch wird jedoch oft nicht deutlich, dass gerade bei Computernetzwer-
ken Prinzipien greifen, die in der Logik und Mathematik fußen und zum Teil vor
Jahrhunderten entwickelt bzw. entdeckt wurden. In der Mathematik hat man
sich mit Elementen und deren Relationen mindestens seit dem 18. Jahrhundert
beschäftigt – die entsprechende Forschungsrichtung firmiert unter dem Ober-
begriff „Graphentheorie“. Bereits Leonhard Euler wandte deren grundlegende
Ideen bei einem mathematischen Beweis – dem so genannten „Königsberger
Brücken-Problem“ – im Jahr 1737 an (vgl. eine ausführliche Beschreibung bei
Barabási 2002: 10ff.). Die Idee des „Graphen“ findet sich bereits dort: Es han-
delt sich um eine Struktur, die sich mittels Elementen (auch: Knoten, Ecken)
und deren Beziehungen (auch: Relationen, Kanten) grafisch sowie mit Hilfe
mathematischer Formelsprache fassen lässt (vgl. Diestel 2000; Biggs, Lloyd &
Wilson 1976). Basierend auf diesen zunächst einfachen Grundlagen entwickelte
sich eine formale Graphentheorie, mit der auch komplexe Phänomene be-
schrieben werden können: Höchst unterschiedliche Netzwerktopologien sind
mit Hilfe gerichteter oder ungerichteter Graphen darstellbar.
Die Anwendungsfelder der mathematischen Netzwerk-Perspektive sind
dementsprechend vielfältig, und die Denkfiguren kommen in diversen Diszip-
linen zur Entfaltung: Unter anderem wurden in der Biologie Populationsent-
wicklungen und die Ausbreitung von Epidemien mit Hilfe netzwerktheoreti-
scher Denkfiguren modelliert; in der Ökonomie wurden Marktbeziehungen
und Firmengeflechte mit Hilfe von Netzwerken dargestellt; und auch in den
Sozialwissenschaften wurden Graphen dazu genutzt, beispielsweise Gruppen-
beziehungen zu beschreiben. In jüngster Zeit spielt die mathematische Model-
lierung von Netzwerken in Bereichen eine Rolle, die auch öffentlich stark dis-
kutiert werden: Zur Anwendung kommen einige der grundlegenden Konzepte
unter anderem bei der Analyse des Consumer-Verhaltens, bei der Identifikation
von Gensequenzen oder bei der Fahndung nach Terroristen (vgl. Barabási
2002; Buchanan 2002; Grötker 2002). Hier wird deutlich: Die basalen Ideen
einer (mathematisch-strukturellen) Netzwerkperspektive können auf verschie-
denste empirische Phänomene angewendet werden; damit bilden sie aber noch
keine „Theorie“ im Sinne der Sozialwissenschaften.
Netzwerkansätze: Potenziale für die Journalismusforschung 375

Allerdings existieren auch in den Sozialwissenschaften und der Soziologie netz-


werkanalytische Ansätze, die sich – zumindest in Teilen – relativ eigenständig
von der eben dargestellten, mathematisch-strukturellen Sichtweise entwickelt
haben. Zwar gibt es natürlich Berührungspunkte, doch sind die Diskussionen
in den verschiedenen Wissenschafts-Communities weitgehend autonom ge-
führt worden. In der Soziologie kommt der Vernetzungs-Gedanke vor allem
aus der Betrachtung von Beziehungsstrukturen: Hier wurde schon früh die
Metapher des Netzwerks eingeführt. Jedoch verweisen Vertreter einer Netz-
werkorientierung darauf, dass allein die Idee einer „Vernetzung“ nicht als Basis
für eine sozialwissenschaftliche Perspektive ausreicht. In einer (auch von Win-
deler zitierten) Definition von James Clyde Mitchell werden weitergehende
Anforderungen formuliert – im Original übrigens auch in Abgrenzung zu einer
rein metaphorischen Nutzung des Netzwerkbegriffs:
The image of “networks of social relations” to represent a complex set of inter-
relationships in a social system has had a long history. This use of “network”,
however, is purely metaphorical and is very different from the notion of a social
network as a specific set of linkages among a defined set of persons with the ad-
ditional property that the characteristics of these linkages as a whole may be used
to interpret the social behaviour of the persons involved. (Mitchell 1969: 1)

Hervorzuheben ist hier zweierlei: Zum einen die Konzentration auf Personen-
netzwerke (d.h. die Knoten der Netzwerke sind Menschen), zum anderen der
Verweis auf den Einfluss des Ganzen auf das Verhalten des Einzelnen. Letzt-
genannte Überlegung ist von zentraler Bedeutung für soziale Netzwerke: Ein
Netzwerk besteht nicht nur aus den Einzelelementen, sondern bildet eine spe-
zifische Struktur, die wiederum auf die Elemente selbst rückwirken kann.
Diese Idee findet sich bereits in frühen soziologischen Ausarbeitungen. Als
einer der Ersten hat sich der Berliner Soziologie Georg Simmel Ende des 19.
und Anfang des 20. Jahrhunderts mit sozialen Wechselwirkungen auseinander-
gesetzt. Sein Konzept enthält dabei einige Aspekte, die auch für eine moderne
Netzwerktheorie gelten können, wie Nedelmann (2000: 134) hier ausführt:
Erstens beinhaltet es die Aufforderung, die wechselseitigen Relationen zwischen
Individuen, Gruppen oder anderen analytischen Einheiten zu untersuchen. Zwei-
tens fordert der Begriff der Wechselwirkung zu einer bestimmten Art kausaler
Erklärung auf, die über das übliche Ursache-Folge-Schema hinausgeht und prin-
zipiell auch die Möglichkeit zirkulärer Kausalität in Erwägung zieht. […] Drittens
verweist der Begriff der Wechselwirkung auf ein dynamisches Prinzip. (Hervorhe-
bungen im Original)
376 Thorsten Quandt

Damit liefere Simmel bereits „grundlegende Überlegungen zu einer netzwerk-


theoretisch argumentierenden System- und Evolutionstheorie, die die Bedeu-
tung kausaler Rückkopplungen und selektiver Strukturen für die Evolution
eines Geflechts von Wechselwirkungen in den Mittelpunkt des theoretischen
Interesses rückt“, so Kappelhoff (1999: 133). In der Sozialanthropologie wurde
der Netzwerkgedanke ebenfalls aufgegriffen – zunächst metaphorisch, dann
stärker theoretisch und empirisch. Der Begriff des „Netzwerks“ wurde bei-
spielsweise von Alfred Reginald Radcliffe-Brown in den 30er Jahren des letzten
Jahrhunderts thematisiert, wobei die zentrale Idee der Musterbildung bei der
Verbindung von Einzelelementen in seinen Arbeiten zur Sozialstruktur bereits
enthalten war. Ein „analytischer Wendepunkt der Netzwerkforschung“ wird
von Windeler (2001: 93) in den Arbeiten von John A. Barnes gesehen; insbe-
sondere dessen Studie zum sozialen Netzwerk eines norwegischen Fischerdor-
fes wurde dadurch berühmt, dass hier „die Netzwerkperspektive zur Bestim-
mung sozialer Strukturen“ (ebd.) genutzt wurde. Damit machte der Netzwerk-
gedanke einen bedeutenden Schritt – von der Metapher hin zum theoretischen
wie empirischen Analysekonzept. In der Folge traf sich auch der eingangs be-
sprochene, mathematisch-logische Diskurs zu Netzwerken mit der soziologi-
schen Orientierung: Denn zunehmend wurden mathematische Modelle bei der
Netzwerkanalyse angewandt (vgl. z.B. White 1963: 163), vor allem in den letz-
ten beiden Jahrzehnten gefördert durch Computertechnologie und zunehmend
anwendungsfreundlichere Statistikprogramme, die es ermöglichen, große Da-
tensätze mit entsprechenden Analysealgorithmen auszuwerten.
In der Kommunikationswissenschaft wurden die genannten Diskussionsstränge
freilich nur vereinzelt aufgegriffen (vgl. z.B. Schenk 1995); das Echo netzwerk-
analytischer Ansätze war bislang eher verhalten, sowohl was die Empirie, als
auch die Theorie und die Analysemethoden angeht. Zwar gab es neben den
eingangs genannten, eher metaphorischen Nutzungen des Begriffs (z.B. im
Zusammenhang mit Computernetzen) in den letzten Jahren einige theoretische
Bemühungen, Netzwerke als theoretisches Konzept für die Kommunikations-
wissenschaft zu erschließen (vgl. z.B. Weber 2001 sowie ergänzend hierzu den
Band von Hepp et al. 2006), doch sind dies noch heterogene und vereinzelte –
wenn auch viel versprechende – Ansätze. Die prinzipiell zur Verfügung ste-
henden Analyseinstrumentarien und Programme kommen ebenfalls nur selten
zum Einsatz.
Definitorisch kann man also keinen genuin kommunikationswissenschaftli-
chen Netzwerkbegriff bestimmen; es empfiehlt sich, die beiden bereits be-
schriebenen Diskussionsstränge (in der Mathematik/Logik bzw. der Soziolo-
Netzwerkansätze: Potenziale für die Journalismusforschung 377

gie) zu berücksichtigen. Daraus kann man zunächst einen klareren Netzwerk-


begriff entwickeln:
ƒ Ein Netzwerk ist eine Struktur, die aus einer Zahl an Elementen (auch:
Knoten, Ecken) und deren Verbindungen (auch: Relationen, Kanten) be-
steht.
ƒ In den Sozialwissenschaften werden vor allem soziale Netzwerke be-
schrieben, deren Elemente Personen (auch: Akteure) sind. Die Verbindun-
gen zwischen den Elementen bilden in diesen Netzwerken soziale Bezie-
hungen ab (z.B. Freundschaftsbeziehungen, kommunikativer Austausch,
Einfluss).
Darüber hinaus sind Netzwerke natürlich noch weiter zu qualifizieren. Vieles
ergibt sich dabei aus dem bereits Gesagten. So können z.B. soziale Beziehun-
gen als gerichtete oder ungerichtete Relationen modelliert werden: Beispiels-
weise mag eine „ungerichtete“ (letztlich also zweiseitige) Freundschaftsbezie-
hung zwischen Person A und B bestehen, doch möglicherweise übt nur A auf
B einen bestimmten Einfluss aus. Das heißt, hier wäre noch die Richtung der
Relation zu definieren. Freilich könnte man Einfluss auch anhand seiner Stärke
beschreiben, was für gewöhnlich auch mit einer unterschiedlichen Stärke der
entsprechenden Kanten im Graphen ausgedrückt wird (visuell als „Dicke“ der
Verbindungslinien darzustellen). Betrachtet man die Gesamtstruktur des Netz-
werks, lassen sich weitere Beschreibungsmöglichkeiten finden – beispielsweise
können Netzwerke unterschiedlich „dicht“ sein, d.h. eine verschieden große
Menge an realisierten Relationen im Verhältnis zur Zahl an Netzwerk-
Elementen aufweisen (vgl. ausführlicher Wasserman & Faust 1994 sowie Scott
2000). Auch kann man einzelne Knoten und Verbindungen ins Verhältnis zum
gesamten Netzwerk setzen: Zu analysieren wäre beispielsweise, ob Knoten
stark vernetzt sind oder nicht, und ob einzelne Verbindungen im Verhältnis
zum Rest des Netzwerks besonders bedeutsam sind oder in bestimmte Berei-
che der Struktur führen.
Eines wird bei dieser knappen Bestimmung von Netzwerken für die Kom-
munikationswissenschaft deutlich: Es handelt sich um ein „empirisch leeres“
Konzept. Zwar werden meist „Personennetzwerke“ modelliert, doch ist dies
keine zwingende Vorgabe: Was letztlich als Netzwerk beschrieben wird (d.h.
welche empirischen Gegebenheiten man als Elemente und Relationen betrach-
tet), ist Sache des Forschers. Auf dieser Basis kann man immer noch nicht von
einer Netzwerktheorie sprechen, sondern lediglich von einer speziellen Sicht-
weise – einer Netzwerkperspektive (vgl. hierzu Windeler 2001: 35). Barnes
378 Thorsten Quandt

stellte bereits vor gut 30 Jahren fest: „this remains a basic idea and nothing
more“ (Barnes 1972: 2), und auch Windeler erkennt in einer solchen Perspekti-
ve lediglich „eine allgemeine Idee für die Untersuchung von Netzwerken bzw.
die sozialer Strukturen“ (Windeler 2001: 37).
Will man eine solche basale Idee für sozialwissenschaftliche Netzwerkan-
sätze oder gar eine journalistische „Netzwerktheorie“ nutzen, sind Konkretisie-
rungen in Hinblick auf gesellschaftliche Phänomene notwendig. Festzulegen
ist, welche Elemente betrachtet werden, welcher Art die Verbindungen sind,
und wie Gesamtstruktur und Netzwerkdynamiken in Bezug zu Beobachtungs-
realitäten stehen. Dadurch wird die vormals „empirisch leere“ Netzwerksicht-
weise mit sozialwissenschaftlich relevanten Phänomenen verknüpft und da-
durch erst fassbar. Solche Netzwerkansätze – die eben nicht mehr nur „rein
perspektivisch“ zu verstehen sind, sondern auch sozialwissenschaftlichen Phä-
nomenbezug haben – gibt es in ganz unterschiedlichen Ausformungen. Im
folgenden Abschnitt soll zunächst überblicksartig besprochen werden, welche
möglichen Anwendungs-Varianten einer Netzwerksichtweise denkbar sind –
und welche Typen von Netzwerkansätzen tatsächlich schon erprobt wurden.

3 Varianten: Welche Typen von Netzwerkansätzen gibt es?


Deutlich wurde bereits: Eine so universelle Perspektive wie die Netzwerk-
sichtweise kann in vielen Disziplinen und in den unterschiedlichsten Zusam-
menhängen zur Anwendung kommen. Im Folgenden soll daher nur über mög-
liche Varianten in den Sozialwissenschaften (und speziell: der Journalismusfor-
schung) gesprochen werden – andere, insbesondere naturwissenschaftliche
Disziplinen, bleiben hier ausgeklammert. Freilich gibt es auch in den Sozialwis-
senschaften vielfältige Typen von Netzwerkansätzen. Zunächst sollen hier
solche Ansätze im Vordergrund stehen, die sich auch im engeren Sinne mit
„sozial“-wissenschaftlichen Fragestellungen, also dem Menschen in gesell-
schaftlichen Zusammenhängen, auseinandersetzen; mehr noch: Die Betrach-
tungen sollen auf jene Ansätze fokussieren, die den Menschen direkt einbezie-
hen, d.h. auch Personen(gruppen) oder deren Handeln in den Netzwerken
berücksichtigen.
Will man diese Ansätze ordnen, so sind zunächst Kriterien für die allgemei-
ne Typologisierung der Ansätze zu finden. Einen Hinweis auf eine Hauptun-
terscheidung hat bereits Windeler in seinem Beitrag in diesem Band gegeben.
Er differenziert – für die von ihm besprochene wirtschaftswissenschaftliche
bzw. organisationssoziologische Sichtweise – zwei Arten von Ansätzen: den
Netzwerkansätze: Potenziale für die Journalismusforschung 379

Strukturansatz und den Governanceansatz. Erstgenannter beschäftigt sich mit


der Beschreibung von Beziehungsnetzwerken mit Hilfe der bereits oben ge-
nannten Denkfiguren der Netzwerkperspektive (hierzu gehört also z.B. die
Darstellung von Netzwerken mit Hilfe von Graphen). Wie Windeler (in diesem
Band: 353) bereits andeutet, handelt es sich um eine „Formal“-Analyse, die
Strukturen abbildet; in der Folge „verharren Studien dieses Ansatzes [oft] im
Dickicht methodischer Erörterungen“. Und:
Gegen den Strukturansatz wird zu Recht eingewendet, er sei oft lediglich eine
Methode der Sozialstrukturanalyse, die nur statische Bilder von Beziehungsge-
flechten liefert und unfähig sei, den Akteur und seine Handlungen hinreichend
zu berücksichtigen. (ebd.: 366)

Der von Windeler ebenfalls eingehend erläuterte Governanceansatz fokussiert


hingegen kaum die Netzwerkstrukturen selbst. Vielmehr geht es um die Steue-
rung und Regelung spezifischer Arten von Strukturen, die als Netzwerke be-
zeichnet werden:
Governanceforscher unterscheiden Märkte, Unternehmungen und Unterneh-
mungsnetzwerke nach ihren [...] Governances. Folgerichtig sind für sie nur ganz
besondere Sozialsysteme Netzwerke; andere, etwa Märkte oder Unternehmun-
gen und damit auch Konzerne, sind für Vertreter dieser Richtung der Netzwerk-
forschung hingegen keine Netzwerke. (ebd.: 356)

Die im vorherigen Abschnitt dargestellten Spezifika von sozialwissenschaftli-


chen Netzwerken spielen also kaum eine Rolle; es geht stattdessen um die
Koordination in inter-organisationalen Zusammenhängen. Der Netzwerkge-
danke ist dabei nur durch einen Phänomenbezug auf spezielle Konstellationen
von Organisationen gegeben – was zu der Kritik führte, der Ansatz „verlöre
mit seiner Konzentration auf dyadische Beziehungen die Strukturmuster der
Beziehungsgeflechte und die gesellschaftliche Einbettung aus den Augen“
(ebd.: 366).
Ganz allgemein kann man also die Ansätze danach unterscheiden, wie stark
sie formale Netzwerk-Aspekte fokussieren (was zumeist auch eine Anwendung von
Netzwerkmethoden zur Analyse der Strukturen mit sich bringt) und wie stark
der Netzwerkbezug auf der Ebene der empirischen Phänomene ist. Will man es für die
beiden genannten Ansätze zuspitzen, könnte man den Strukturansatz als ex-
trem formal-strukturellen Ansatz bezeichnen, der auf unterschiedliche Phäno-
mene einen Blick durch die „Netzwerk-Brille“ wirft, während der Governan-
ceansatz bereits gegebene empirische Netzwerkstrukturen nimmt, um dort
bestimmte Teilaspekte mit Hilfe nicht zwingend „netzwerktypischer“ Denk-
muster (in diesem Fall: organisationssoziologischer Art) zu erklären. Freilich
380 Thorsten Quandt

schließt eine formale Netzwerk-Sichtweise nicht schon per se einen Netzwerk-


bezug auf der Phänomen-Ebene aus – zwar findet man vielfach „Reinformen“
formaler oder phänomenbezogener Perspektiven im Sinne eines „Entweder-
Oders“, doch können die beiden Positionen auch in weniger extremen Misch-
formen näher zusammengebracht werden. Gänzlich davon abzugrenzen sind
allerdings rein metaphorische Herangehensweisen – diese nutzen den Netz-
werkgedanken unspezifisch, d.h. weder als formalisierte Beschreibung, noch im
Sinne eines konkreten Netzwerkphänomens (wenngleich sie wohl näher an
phänomenbezogenen Sichtweisen sind, da ihnen meist die Beobachtung
zugrunde liegt, dass ein sozialer Bereich ja „irgendwie“ einem Netzwerk ähne-
le).
Neben dieser Variation von Netzwerkansätzen gibt es mindestens eine wei-
tere zentrale Unterscheidung – nämlich jene auf Basis der betrachteten Elemente des
Netzwerks. Vielfach werden zwar Netzwerke mit Personennetzwerken gleich
gesetzt (d.h. das Netzwerk besteht aus Akteuren und deren Relationen), doch
gibt es durchaus Betrachtungen, die hier einen anderen Weg gehen. Windeler
verweist in seinem Beitrag bereits auf weitere Typen: So kommen natürlich
Unternehmungsnetzwerke bzw. Netzwerke aus Organisationen zur Sprache;
hier sind die Einzelelemente also nicht mehr Individuen, sondern ganze Unter-
nehmen (die man wiederum als Personengruppen oder soziale Netzwerke mo-
dellieren kann). Weiterhin nennt er auch das Internet – ein Netzwerk aus
Computern – und Peer-to-Peer-Systeme; bei Letzteren ist mithin unklar, ob die
Grundelemente die miteinander verbundenen Computer sind oder tatsächlich
die namensgebenden Peers (im Sinne realer Personen), die Daten untereinan-
der tauschen.
Klar wird dadurch: Mit einer Begrenzung auf Personennetzwerke würde
man die möglichen Anwendungen einer Netzwerkperspektive unnötig limitie-
ren. Selbst wenn man die oben genannten Computernetzwerke ausnimmt – die
freilich Relevanz für die Sozialwissenschaften haben können – bleiben neben
Personennetzwerken auch Netzwerke aus Unternehmen bzw. Gruppen. Veror-
tet man diese Elemente auf den üblichen Ebenen sozialwissenschaftlicher Be-
trachtung, so bewegt man sich mit den Elementen auf der Mikro- und der
Mesoebene. Allerdings gilt es zu betonen, dass man mit der Netzwerksichtwei-
se die Ebene der Einzelelemente stets transzendiert: Denn die Strukturen, die
durch die Verbindung der Elemente bestehen, haben natürlich weitaus höhere
Extension. So bilden Personennetzwerke Gruppen, Organisationen, Staaten
oder sogar Verbünde, die Ländergrenzen sprengen. Letztlich ist eine Netz-
werksichtweise damit fast beliebig skalierbar – ein Netzwerk aus Personen
Netzwerkansätze: Potenziale für die Journalismusforschung 381

kann eine Gruppe bilden; diese Gruppe kann wieder Teil eines größeren Netz-
werks aus Personengruppen sein usw. Attraktiv wird die Netzwerksichtweise
damit vor allem für sozialwissenschaftliche Fragestellungen, die sich mit dem
Zusammenspiel aus Einzelelementen und Strukturen auseinandersetzen – also
auch für die Frage nach dem „Mikro-Makro-Link“ (vgl. hierzu z.B. Alexander
et al. 1987); der Vorteil der Perspektive liegt vor allem darin begründet, dass für
verschiedenste Extensionsebenen dieselben formalen Grundprinzipien angelegt
werden können.
Ergänzt werden muss an dieser Stelle allerdings, dass die meisten Ansätze
bei den Elementen nicht unterhalb der Personenebene ansetzen, aber auch
nicht über die Mesoebene hinausreichen. Dies ist jedoch keine prinzipielle
Beschränkung: Der Autor dieses Beitrags hat beispielsweise einen Vorschlag
vorgelegt, wie man menschliches Handeln mit Hilfe eines netzwerkperspektivi-
schen Ansatzes analysieren kann (vgl. ausführlicher Abschnitt 4 sowie Quandt
2005a). Mithin wäre auch denkbar, die dahinter liegenden Bedeutungsnetzwer-
ke auf der Ebene mentaler Strukturen zu untersuchen (vgl. hierzu Spitzer
2000), welche untrennbar mit menschlichem Handeln verbunden sind und
dieses erst ermöglichen. Man bewegt sich dann von der Mikrosoziologie schon
auf die Ebene einer (bislang so noch nicht bezeichneten) Nanosoziologie –
oder eben bereits in Bereiche der Psychologie. Wobei auch hier gilt: Im Gegen-
satz zu rein psychologischen Betrachtungen geht ein solcher Nano-Ansatz über
die Ebene individueller mentaler Strukturen hinaus; betrachtet man die entste-
henden Netzwerke in größeren Zusammenhängen, kann man sogar ganze
„Bedeutungscluster“ (oder die im konkreten Handeln sichtbaren „Handlungs-
syteme“; vgl. Quandt 2005a: 147-154) identifizieren, die gesamtgesellschaftliche
Relevanz besitzen und damit eigentlich auch ein Thema für die Makrosoziolo-
gie sind.
Nimmt man die beiden eben beschriebenen Unterscheidungsmerkmale –
Bezugsebene des Ansatzes und Charakterisierung des Netzwerkgedankens – als
Grundlage für eine allgemeine Typologie, so ergibt sich eine Matrix (vgl. Ab-
bildung), die jedoch in der Praxis vor allem auf der Mikro- und Mesoebene
besetzt ist. Elemente auf anderen Ebenen sind denkbar, aber – wie bereits
angesprochen – noch nicht in entsprechenden Ansätzen berücksichtigt wor-
den. Ebenso werden zurzeit formal-strukturelle und phänomenbezogene An-
sätze immer noch vielfach als oppositionell gesehen (siehe oben); eine Synthese
ist jedoch denkbar.
382 Thorsten Quandt

Abbildung: Typen von Netzwerkansätzen

Neben den genannten Differenzierungsmöglichkeiten gibt es natürlich noch


weitere Eigenheiten, die Netzwerkansätze voneinander unterscheiden. So
könnte man bei einer Typologie z.B. auch die Nutzung spezifischer Netz-
werkmethoden berücksichtigen – wenngleich diese Methoden vor allem dann
Berücksichtigung finden, wenn formale Aspekte der Netzwerke betrachtet
werden (d.h. diese Differenzierung würde größtenteils mit jener zwischen for-
mal-strukturellen und rein phänomenbezogenen Ansätzen zusammenfallen).
Daneben wären Netzwerkansätze wohl auch danach zu unterscheiden, wie
stark sie Dynamiken der Entwicklung berücksichtigen. Windeler (in diesem
Band: 353) kritisiert angesichts der momentanen Lage nämlich zu Recht, dass
„selbst avancierte Studien kaum in der Lage sind, die sozialen Praktiken der
(Re-)Produktion der Netzwerke in Zeit und Raum zu erfassen“. Dies hängt
wohl vor allem damit zusammen, dass Netzwerke zumeist als statische Struktu-
ren gedacht werden, die nur in jeweils einer Ausformung existieren. Zu selten
wird die Strukturbildung (vgl. hierzu Giddens 1997) selbst in Augenschein
genommen. Doch nichts spricht dagegen, Netzwerke als veränderlich zu mo-
dellieren: Schließlich können in den genannten Anwendungsfällen – z.B. Per-
Netzwerkansätze: Potenziale für die Journalismusforschung 383

sonen- und Unternehmungsnetzwerke – durchaus Verbindungen geknüpft


werden, und sie können sich auch auflösen (vgl. ergänzend Quandt 2005a:
148).
Mit den genannten Kriterien ist ein Ordnungsprinzip gegeben, um eine
ganze Reihe an Netzwerkansätzen zu unterscheiden. Jedoch wurde eingangs
bereits erwähnt, dass hierbei nur die in einem sehr engen Sinne auf den Men-
schen bezogenen Ansätze geordnet werden: Es geht stets um Personen oder
Gruppen (mithin auch Organisationen) oder deren Handeln. Denkbar sind
aber auch Netzwerke anderer Art. So könnten z.B. Medieninhalte auf die ihnen
innewohnenden Relationen untersucht werden – insbesondere im Internet
legen die Linkstrukturen entsprechende Analysen nahe, da sie bereits im Wort-
sinne „Verbindungen“ darstellen. Aber selbst in traditionellen Medien könnten
Verweisstrukturen untersucht werden (z.B. in Form von impliziten oder expli-
ziten Hinweisen auf andere Medien, Agenturen oder sonstige Quellen); und es
wäre durchaus denkbar „Bedeutungsnetzwerke“ nachzuzeichnen, in dem man
analysiert, welche Akteure, Themen, Orte, Bewertungen usw. miteinander
verwoben sind. Zu diskutieren wäre natürlich auch hier, inwieweit Inhalte (im
Sinne von Produkten menschlichen Handelns) – in dem oben genannten Ord-
nungsprinzip verortet werden können. Allerdings würde dies für den hier vor-
liegenden Beitrag zu weit führen – auch andere Verhaltensspuren und „ding-
liche“ Ressourcen können durchaus als Netzwerke modelliert werden (vgl.
Quandt 2005b). Wie bereits erwähnt, ist die Netzwerksichtweise als universelles
Prinzip der Betrachtung letztlich auf fast alles übertragbar, und demgemäß sind
weitere Unterscheidungsmöglichkeiten natürlich in fast jede Richtung vorstell-
bar. Die hier bereits genannten zentralen Differenzierungsoptionen sollen aber
einstweilen genügen, um einen etwas klareren Blick auf verschiedenste Netz-
werkansätze aus Sicht der Journalismusforschung werfen zu können.

4 Anwendung: Journalismusforschung und Netzwerke


Nachdem in den vorherigen Abschnitten geklärt wurde, was einen Netzwerk-
ansatz ausmacht und wie ganz allgemein verschiedene Typen von Ansätzen
unterschieden werden können, sollen nun einige Anwendungsoptionen für die
Journalismusforschung diskutiert werden. Dabei kann es sich nur um erste
Vorschläge handeln – wie bereits erwähnt wurde, gibt es bislang kaum konkre-
te Nutzungen in der Kommunikationswissenschaft (und der Journalismusfor-
schung im Speziellen).
384 Thorsten Quandt

Einige Möglichkeiten zeigt bereits der Beitrag von Windeler auf, und zwar
in Bezug auf Unternehmungsnetzwerke. Mit der Fokussierung der von ihm
genannten Ansätze einerseits auf Strukturen, andererseits auf „Governance“,
sind schon klassische organisationssoziologische Interessengebiete abgesteckt.
Für die Journalismusforschung sind die entsprechenden Erkenntnisse durchaus
spannend: Gerade die unübersichtlichen Einfluss- und Besitzstrukturen sind
für Fragen der Konzentration (und damit verbunden auch: des Pluralismus und
der Meinungsfreiheit) von Bedeutung. Eine Beschreibung formaler Netzwerk-
strukturen des Medienmarktes mit seinen eng miteinander verflochtenen Play-
ern, ausgehend von den Daten zu wechselseitigen Besitzverhältnissen und
Einflussnahmen, könnte hier erhellend sein – ließen sich doch so Cluster und
Schwerpunkte des Beziehungsnetzwerkes identifizieren, aber auch Knoten-
punkte mit strategischer Bedeutung, beispielsweise in exponierter Lage zwi-
schen zwei Firmenclustern (vgl. Kempf, von Pape & Quandt 2006). Ähnliche
Darstellungen sind von anderen Industriebereichen bereits angefertigt worden
(vgl. u.a. die Arbeiten des Netzwerkanalytikers Valdis Krebs, wie z.B. das
Netzwerk der Internetindustrie1), und für die Journalismusforschung liegen
relevante Marktdaten vor (z.B. die Übersichten von Röper, vgl. Fußnote 1).
Allerdings gibt es hier einiges zu bedenken: Hinter einer solchen Analyse
steht zumeist die Überlegung, dass sich damit Machtstrukturen abbilden lassen
– doch die empirischen Indikatoren hierfür sind natürlich nicht nur Besitzver-
hältnisse, sondern auch informelle Beziehungen, (markt-)politische Einfluss-
nahmen und vieles mehr. Insofern müssen empirisch beschreibbare Relationen
unterschiedlicher Art identifiziert und messbar gemacht werden, und damit
sind solche Netzwerke mitnichten „eindimensional“. Untersucht werden könn-
te zudem auch die Entwicklung der Strukturen über längere Zeiträume – hier
ließe sich beispielsweise bestimmen, wie stabil Firmencluster sind, ob die Ver-
dichtungen zunehmen, oder ob auch Auflösungsprozesse zu konstatieren sind.
Allerdings besteht bei den zeitbezogenen Maßen für Netzwerkbeschreibungen
ein Defizit: Diese sind kaum verbreitet und werden in den einschlägigen
Handbüchern nur am Rande oder gar nicht berücksichtigt (vgl. Wasserman &
Faust 1994 sowie Scott 2000); freilich kann dies auch als Herausforderung
verstanden werden, hier produktiv einen Ansatz – und auch entsprechende
Kennwerte – (weiter) zu entwickeln.

1 http://www.orgnet.com/netindustry.html
Netzwerkansätze: Potenziale für die Journalismusforschung 385

Neben den Strukturbeschreibungen haben auch die von Windeler (in die-
sem Band: 361ff.) angesprochenen „Projektnetzwerke“ sowie die von ihm im
Rahmen des „Governance“-Ansatzes diskutierte Erforschung vernetzter Pro-
duktion hohe Relevanz, denn in den Medienhäusern kam es in den letzten
Jahren zu deutlichen Veränderungen in der Arbeitsorganisation und den allge-
meinen Produktionsbedingungen. Flexibilisierung, Auslagerung der Produkti-
on, Arbeiten in projektbezogenen Teams, variable Tätigkeitsprofile – mit die-
sen Schlagworten lassen sich einige Eckpunkte dieses Wandels in der Produk-
tion abstecken (vgl. Altmeppen & Quandt 2002). Nach Windeler (in diesem
Band: 361) bieten z.B. Projektnetzwerke die Möglichkeit „dauerhaftere Zu-
sammenhänge zur Abwicklung zeitlich befristeter Projekte von einer Vielzahl
von Akteuren unterschiedlicher Organisationen zu gewährleisten“. Sie passen
damit gut zu den aktuellen Anforderungen in der Medienindustrie. In diesem
Sinne würde auch eine praxisbezogene Journalismusforschung gut daran tun,
sich mit derlei Konzepten auseinanderzusetzen; kann man doch davon ausge-
hen, dass sie zunehmend an Bedeutung gewinnen und dadurch auch die jour-
nalistischen Produktionsbedingungen – mithin auch das entsprechende Be-
rufsbild – prägen werden. Tatsächlich skizzieren diverse Arbeiten derlei Pro-
zesse des Wandels: Das traditionelle Bild journalistischer Inhalteproduktion ist
demnach nicht mehr überall und vollständig zutreffend (vgl. z.B. Altmeppen &
Quandt 2002; Bardoel & Deuze 2001; Deuze 2004; Engels 2003; Neuberger
2002; Quandt 2005a; Quandt et al. 2006; Singer 2003). Konkret zeigt sich dies
im Online-Journalismus, dessen Angebote zum Teil in völlig neuartigen Ar-
beitszusammenhängen entstehen – u.a. im Rahmen distribuierter Produktion
an unterschiedlichen Orten, synchron oder zeitversetzt (vgl. hierzu Projekte
zum dezentralen, kollaborativen Journalismus wie z.B. www.indymedia.org).
Journalismusbezogene Weblogs und Diskussionsforen, die allerdings meistens
in nicht-professionellen Zusammenhängen entstehen, können ebenfalls in
diesem Zusammenhang diskutiert werden. Bei diesen neuen (Vor-)Formen des
Journalismus könnte man – neben der Denkfigur der Netzwerk-Produktion –
zudem die strukturelle Netzwerkanalyse zum Einsatz bringen, um die empi-
risch beobachtbaren Produktionsstrukturen mittels Graphen und auch mathe-
matisch zu beschreiben sowie in Hinblick auf die Distribution zentraler Infor-
mations- oder Produktionsknoten zu optimieren (wenn z.B. der Informations-
fluss im Netzwerk zu stark von einzelnen Akteuren abhängig ist, könnten diese
überlastet werden, und ihr Ausfall würde den Produktionsprozess nachhaltig
stören).
386 Thorsten Quandt

Mit diesen Analysen hat man bereits den Schritt von den organisationsbe-
zogenen Analysen zu den personengebundenen Netzwerken vollzogen – die
einem umfassenden Wandel unterworfen sind, wie Windelers Ausführungen in
diesem Band verdeutlichen. Netzwerke bieten hier – sowohl als Denkfolie für
die Analyse als auch im Sinne einer Organisationsform – interessante Möglich-
keiten, die sicherlich nicht auf die bereits erwähnten Projektnetzwerke be-
schränkt sind. So kann man beispielsweise die (formellen wie informellen)
Beziehungen innerhalb einer Redaktion mit Hilfe von Netzwerkmodellen dar-
stellen, ebenso wie Informationsnetzwerke, um z.B. zentrale Quellen und be-
sonders einflussreiche Informanten zu identifizieren. Gerade für die personen-
bezogene Sozialstrukturanalyse gibt es in der Soziologie reichlich Vorbildmate-
rial (als frühe Quelle dieser „Soziometrie“ vgl. Moreno 1934), und auch in der
Kommunikationswissenschaft wurden bereits Schritte in dieser Richtung getan
(vgl. Schenk 1995). Hier steht auch ein fortgeschrittenes Analyseinstrumentari-
um (u.a. in Form anwendungsreifer Software, wie z.B. UCINET oder Clemen-
tine) zur Verfügung.
Mit diesen eher klassischen Anwendungen auf der Meso- und Mikroebene
erschöpft sich das Potenzial einer Netzwerksichtweise jedoch nicht. Prinzipiell
ist denkbar, auch bei „kleineren“ Elementen als den Akteuren zu beginnen.
Wie bereits angedeutet, hat beispielsweise der Autor einige Eckpunkte einer
Netzwerktheorie menschlichen Handelns vorgestellt (Quandt 2005a). Ange-
setzt wurde dabei bei grundlegenden, miteinander vernetzten Handlungsele-
menten, welche die Bausteine einer jeden menschlichen Handlung darstellen:
Handlungstyp, Zeit und Ort, Ressourcen, Subjektbezüge und Kontext. Durch
das alltägliche Handeln der Akteure werden spezifische Konstellationen solcher
Elemente reproduziert. Diese Konstellationen in Form von Assoziationen
(Relationen zwischen verschiedenen Handlungen bzw. Elementen) und Se-
quenzen (zeitbezogene Abfolgen von Handlungen bzw. Elementen) werden
von den Handelnden in einem Wissensvorrat abgelegt und bei der Planung
neuer Handlungen als strukturelle Orientierung herangezogen; sie bilden also
die Basis für Handlungsregeln. Es konnte theoretisch begründet und auch
empirisch am Beispiel des Handelns in Online-Redaktionen belegt werden,
dass solche Muster größere Netzwerke bilden, die nicht auf Individuen be-
schränkt sind, sondern von den meisten Personen in bestimmten sozialen Be-
reichen (hier: im Online-Journalismus bzw. in den zugehörigen Redaktionen)
geteilt werden. Damit wirken diese Netzwerke quasi als Orientierungshorizonte
für das Handeln; durch die bestehenden Netze wird das Handeln einerseits
geleitet (wenn auch nicht determiniert), andererseits werden die Netze durch
Netzwerkansätze: Potenziale für die Journalismusforschung 387

das weitere Handeln immer wieder neu (re-)konstruiert und (re-)konfiguriert.


Eine solche Sichtweise hat durchaus praktischen Nutzen und lässt sich mit
empirischen Ergebnissen verbinden (vgl. Quandt 2005a: Kapitel 5 ff.); aller-
dings sind noch viele Fragen zu klären – z.B. jene nach der Rolle von Ko-
Orientierung, Kommunikation und Wahrnehmungsprozessen bei der Repro-
duktion von Handlungsmustern.
Auf der Ebene soziologischer „Grundbausteine“ wäre wohl auch zu disku-
tieren, inwieweit man als Basiselement auf „Kommunikationen“ zurückgreifen
kann – und ob hier Anschlussfähigkeit zu bestehenden Theorien gegeben ist.
Obwohl man (ebenso wie bei der eben vorgestellten handlungstheoretischen
Sichtweise) quasi bei „Atomen“ des Sozialen anfängt, sind Netzwerke aus
Kommunikationen auch auf einer Makroebene modellierbar. Denn letztlich gilt
hier das bereits Gesagte: Eine Netzwerksichtweise übersteigt in ihren Aussagen
– durch die Betrachtung der spezifischen Netzwerkstrukturen – immer die
Bezugsebene der Einzelelemente. Interessante erste Vorschläge zu einer im
Wortsinne „kommunikations“-wissenschaftlichen Netzwerktheorie hat Stefan
Weber gemacht, indem er die Semantiken von „System“ und „Netzwerk“ ver-
gleichend gegenübergestellt hat (Weber 2001); Bezugspunkt ist also explizit die
auf Kommunikation abzielende Systemtheorie, die in der deutschsprachigen
Journalismusforschung eine zentrale Rolle spielt (vgl. Löffelholz 2004). Aller-
dings ist noch abzuwarten, inwieweit diese ersten (begrifflichen) Gegenüber-
stellungen weiterführende Arbeiten nach sich ziehen, und ob die zu entwerfen-
de Netzwerktheorie dann ein Komplement oder Konkurrent zur Systemtheorie
wäre.
Versteht man Kommunikation etwas abstrakter als die Relationierung von
Informationen, so ließe sich die Netzwerkanalyse zudem in weiteren For-
schungszusammenhängen einsetzen: Beispielsweise könnten Bedeutungsstruk-
turen in veröffentlichten Texten mit Hilfe von Netzwerken beschrieben wer-
den. So könnten Bezüge zwischen Informationseinheiten (die natürlich zu-
nächst definitorisch festgelegt werden müssten) analysiert werden, um z.B.
Verdichtungen und Cluster erkennen zu können – d.h. um „Schwerpunkte“
der Berichterstattung im wahrsten Sinne des Wortes zu identifizieren. Indes
müssen Informationen hier nicht (nur) im Sinne journalistischer „Aussagen“
verstanden werden – letztlich können beliebige Medieneigenschaften, so sie
denn in Beziehung zueinander gesetzt werden könnten, in Form von Netzwer-
ken dargestellt werden. Beispielweise hat der Autor dieses Beitrags (zusammen
mit Kempf und von Pape) einen Vorschlag dazu vorgelegt, wie man technolo-
gische, soziale und ökonomische Medieneigenschaften als Mehrebenen-
388 Thorsten Quandt

Netzwerke darstellen kann; eine solche Sichtweise kann, wie andernorts ge-
zeigt, u.a. im Rahmen des Innovationsmanagements in Medienbetrieben zu
klareren Situationsanalysen führen (vgl. Kempf, von Pape & Quandt 2006).
Anhand dieses kurzen Abrisses sollte deutlich geworden sein: Eine Netz-
werksichtweise kann auf verschiedenen Betrachtungsebenen zur Anwendung
kommen. Sie ist nicht nur auf Unternehmen oder Personen als Grundelement
angewiesen, sondern kann auch anderweitig gewinnbringend genutzt werden.
Allerdings ist wohl ebenso klar hervorgetreten, dass „Netzwerktheorien“ in der
Journalismusforschung bislang nur in Ansätzen existieren – im positiven Sinne
besteht also noch sehr viel Freiraum für kreative Theoriebildung.

5 Diskussion: Potenziale und Probleme der


Netzwerksichtweise
In den vorangegangenen Abschnitten wurde der Begriff des „Netzwerks“ defi-
nitorisch näher bestimmt, es wurden verschiedene Typen von Netzwerkansät-
zen vorgestellt und „Anwendungsmöglichkeiten“ für die Journalismusfor-
schung erörtert. Dabei ging die Diskussion über die von Arnold Windeler vor-
gestellten „interorganisationalen Netzwerke“ hinaus; denn wie auch Windeler
erwähnt, ist die Netzwerkperspektive nicht als ein Ansatz zu verstehen, son-
dern als eine grundlegende Orientierung auf unterschiedlichste Phänomene.
Erst in der Übertragung auf das Soziale ist das zunächst „empirisch leere“
Konzept des Netzwerks so mit Sinnbezügen zu füllen, dass spezifische Ansätze
und Theorien entstehen können. Damit werden aber auch schon einige der
Potenziale – und Probleme – einer Netzwerksichtweise offenbar.
Im negativen Sinne kann man nämlich monieren, dass der Netzwerkbegriff
allein nur eine Metapher, bestenfalls ein (strukturorientiertes, formal-logisches)
Konzept ist; damit wäre aber noch keine sozialwissenschaftlich relevante Sub-
stanz (und mithin schon gar keine für die Journalismusforschung) vorhanden.
Oder zugespitzt: Der Gewinn der Netzwerksichtweise läge nur darin, dass man
in den Modellen statt auf einige Pfeile und Quadrate eben auf Netzwerke zu-
rückgreifen würde; an den Sachverhalten würde dies nichts ändern.
Einer solchen Kritik (auf die auch Windeler in seinem Beitrag verweist)
kann man entgegenhalten, dass sie die perspektivische Umstellung – und damit:
die Änderung der Denkweise über Soziales – außer Acht lässt. Denn das Den-
ken in Netzen lässt mitunter ganz eigene Aspekte hervortreten. Mit Hilfe der
Netzwerksichtweise ist das Soziale auf andere Weise zu skizzieren als z.B. mit
klassischen kommunikationswissenschaftlichen Modellen (vgl. z.B. die Über-
Netzwerkansätze: Potenziale für die Journalismusforschung 389

sicht in Maletzke 1988) oder der Systemtheorie. Sicherlich richtig ist aber, dass
solche konkreten Netzwerkansätze oder sogar ausgearbeitete Netzwerktheorien
insbesondere in der Kommunikationswissenschaft (und der Journalismusfor-
schung im Speziellen) Mangelware sind. Dies wurde auch im letzten Abschnitt
deutlich: Vorschläge für spezifischere Ansätze sind nur vereinzelt gemacht
worden und harren zumeist einer weiteren Ausarbeitung. Allerdings spricht
dies nicht gegen Netzwerkansätze per se; der Mangel an konkreten Arbeiten
kann auch als Zeichen der aktuellen Dominanz anderer Positionen gedeutet
werden – zu nennen wäre hier beispielsweise die Systemtheorie.
Mit dieser hat die Netzwerksichtweise zumindest eine gewisse Universalität
gemeinsam, denn sie zieht ihre Kraft ebenso aus einigen zentralen Konzepten
und Betrachtungsweisen, die vielfältig übertragbar sind. Im Detail bestehen
natürlich erhebliche Unterschiede, was den Ausarbeitungsgrad und die Diffe-
renziertheit der Aussagen angeht. In Teilen hat dies mit dem bereits angespro-
chenen Mangel an konkreten Spezifikationen in Richtung Netzwerktheorie zu
tun. Freilich müsste sich aber ein Netzwerkansatz schon per se ein gewisses
Maß an Offenheit erhalten: denn Netzwerke sind (im Gegensatz zu Systemen)
als nicht klar abgrenzbar und variabel zu denken. Eine Netzwerksichtweise
entwickelt vor allem dann einen besonderen Charme, wenn die Relationen als
veränderlich angesehen werden: so können (und müssen) Netzwerke als per-
manent zu rekonstruierende Gebilde modelliert werden, die – quasi organisch
– wachsen, sich stabilisieren, verfallen oder sich sogar auflösen können. Wie
bereits erwähnt, liegt in der Dynamisierung allerdings ein zentrales Problem der
Netzwerksichtweise: Die Darstellung als Netz – d.h. als „Struktur“ – verführt
allzu leicht dazu, Phänomene nur statisch zu begreifen. Der Grund mag mitun-
ter auch banaler Natur sein: Denn Wandel und Dynamik von Netzwerken sind
eben nur unter Schwierigkeiten „abbildbar“, d.h. in Schaubilder oder grafische
Modelle zu überführen. So konstatiert auch Doreian:
The nodes of the network can change in two senses: (i) their presence and (ii)
their properties. Actors – be they individuals, organizations or nations – can co-
me to and go from their networks. We tend not to consider this, confining our
attention to those actors present at all of the time points [...] considered. [...] The
implicit notion that we can describe the “structure of the network” as a static
object, one that is in equilibrium form, seems remarkably quaint.. (Doreian 1995;
zitiert nach Windeler 2001: 118)

Die prinzipielle Komplexität der Darstellung mag auch ein Hindernis bei der
Nutzung für „praktische“ journalistische Fragen sein. Schließlich wird vielfach
gegenüber der Journalismusforschung hervorgebracht, dass sie zu abstrakt –
390 Thorsten Quandt

und an den „Realitäten“ des Alltagsjournalismus vorbei – argumentiert (vgl.


z.B. Haller 2000; Kübler 2005: 207f.). Doch sollte man sich von „kompliziert“
erscheinenden Graphen (vgl. z.B. Quandt 2005a: 347ff.) im Rahmen von
Netzwerkansätzen nicht täuschen lassen: Denn die Besonderheit von Netz-
werkansätzen liegt darin, dass mit Hilfe eines begrenzten Reservoirs an Grund-
elementen und deren Relationen komplexe Muster erzeugt werden. Umgekehrt
ist somit auch das Einfache, Basale im Komplexen stets zu erkennen.
Dass der Praxisbezug sogar eher eine Stärke der Netzwerkansätze ist, zeig-
ten ja bereits die Ausführungen Windelers in diesem Band: Denn die Wirt-
schaftswissenschaften und die Organisationssoziologie sind in besonderem
Maße an Aspekten der Praxis interessiert; schließlich haben wirtschaftswissen-
schaftliche Modelle in ihrer Anwendung vielfach direkte Auswirkungen für
Märkte, Unternehmen und dort arbeitende Personen. Deutlich wird dies insbe-
sondere anhand des „Governance“-Ansatzes und der von Windeler diskutier-
ten Projektnetzwerke.
Eine ähnlich starke Verzahnung von Wissenschaft und Praxis ist in der
Journalismusforschung nicht zu konstatieren. Doch muss es im Interesse jeder
Sozialwissenschaft sein, für ihren Phänomenbereich relevante Erkenntnisse
und Modelle zu liefern. Ansätze auf Basis der Netzwerksichtweise hätten hier
sicherlich Vorteile; sie zu erarbeiten ist eine fordernde und gleichsam spannen-
de Aufgabe – hoffentlich nicht erst für die „next generation“ der Journalismus-
forscher.

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MACHT
Macht: Dimensionen und
Perspektiven eines Phänomens

Peter Imbusch

1 Macht – Annäherungen an einen schwierigen Begriff


Begriffe wie Macht, Herrschaft, Autorität zählen zu den zentralen Kategorien
der Sozialwissenschaften. In der Hierarchie unverzichtbarer Grundbegriffe
rangieren sie ganz weit oben (vgl. Korte & Schäfers 2006; Schäfers & Kopp
2006). Solchen Begriffen ist ein hohes Maß an Charme eigen, der daraus resul-
tiert, dass jedermann sie benutzt und offensichtlich eine genaue Vorstellung
davon hat, was mit ihnen gemeint ist, somit eine Verständigung über ihre in-
haltlichen Aspekte voraussetzungslos möglich zu sein scheint. Gleichwohl hat
Galbraith schon früh gewarnt: „Das Wort Macht gehört zu der nicht allzu
großen Zahl von Begriffen, die zwar häufig benutzt werden, bei denen aber nur
ein geringes Bedürfnis besteht, darüber nachzudenken, was sie eigentlich be-
deuten.“ (Galbraith 1987: 13) Bei genauerer Betrachtung offenbaren sich denn
auch nicht nur eine Vieldeutigkeit der mit Macht bezeichneten Phänomene und
ein überlappender Wortgebrauch mit Herrschaft, sondern auch unterschiedli-
che, teils sogar konträre Einschätzungen und Bewertungen ihrer inhaltlichen
Ausprägungen.
Zudem fallen das Alltagsverständnis und das Wissenschaftsverständnis von
Macht (und Herrschaft) auseinander: Gilt es im Alltag als weitgehend ausge-
macht, dass Macht etwas Negatives ist – was sich z.B. in Assoziationen wie
„Machtmensch“, „Machtbesessenheit“, „Machthunger“ und „Machtergrei-
fung“ zeigt – und Herrschaft häufig mit Zwang und Unterdrückung in eins
gesetzt wird, so ist das wissenschaftliche Verständnis differenzierter, wenn
auch bis heute Uneinigkeit über ein angemessenes Verständnis von Macht,
ihrer Grundlagen, Quellen, Träger etc. fortbesteht. Dies hat seinen Grund
nicht zuletzt darin, dass der Machtbegriff immer Teil größerer ideologischer
Debatten gewesen ist und sich Macht (wie auch Herrschaft) im Grunde einem
396 Peter Imbusch

auf Quantifizierbarkeit angelegten Methodenzugriff entzieht (vgl. Zelger 1975;


Hradil 1980): Macht ist eben nichts Gegenständliches, unmittelbar Sichtbares,
sondern weithin unsichtbare Eigenschaft sozialer Beziehungen. Macht ist – wie
auch Herrschaft – ein primär relationales und nicht attributionales Phänomen,
auch wenn im Alltagsverständnis von „Machthabern“ bzw. „Macht haben“
gesprochen wird, was eher eine Eigenschaft oder ein Besitzverständnis nahe
legt. Macht hat niemand für sich allein, sie existiert nur in Verbindung mit und
zu anderen Menschen, weil Macht stets ein soziales Verhältnis bezeichnet.
Die Abwertung eines Begriffs beginnt häufig mit seiner Verengung. In Be-
zug auf den Machtbegriff wäre deshalb zunächst einmal auf die Vielfältigkeit
des Machtvokabulars ohne feste Bedeutungsgrenzen hinzuweisen, die sich
schon aus einer historisch-etymologischen Herangehensweise ergibt. Das Wort
Macht bezeichnet nämlich a) was ein Mensch, eine Menschengruppe oder die
Menschheit allgemein „vermag“ und hebt somit auf ihr physisches oder psychi-
sches Leistungs-„Vermögen“, ihre Kraft oder ihre körperliche und geistige
Stärke ab; b) die jemandem zustehende und/oder ausgeübte Befugnis, über
etwas oder andere zu bestimmen; c) die existente Staats- oder Regierungsge-
walt, etwa im Sinne einer Macht im Staate; d) eine herrschende Klasse, Clique
oder Elite; e) den Staat als Ganzes, etwa im Sinne von „Supermacht“, „Groß-
macht“ oder „Kolonialmacht“; f) nicht zuletzt auch die Wirkung oder das Wir-
kungsvermögen von vorhandenen oder vorgestellten Verhältnissen, Eigen-
schaften oder Wesenheiten, etwa im Sinne einer „Macht der Gewohnheit“,
„der Liebe“, „der Vernunft“, „der Unterwelt“, „der Götter“ etc. Eine Vielzahl
von Komposita dient dabei der Spezifizierung einzelner Facetten des Macht-
begriffs (vgl. Klenner 1990; Faber, Ilting & Meier 1982). Macht ist also überall
anzutreffen, und jeder Mensch kann entsprechend seinen Chancen und Mög-
lichkeiten Macht entfalten. Es sind also nicht allein die vermeintlich oder real
Mächtigen, die Macht haben: Mächtig ist potenziell jeder, weil Macht eine all-
gemein menschliche Möglichkeit darstellt.
Dieser sachlichen Differenzierung des Bedeutungsgehalts von Macht in
„Möglichkeit“, „Vermögen und Können“ und ihre Nähe zu „Kraft“ und „E-
nergie“ stehen Charakterisierungen von Macht als „böse“ oder gar „satanisch“
gegenüber, die dann zu jenen kategorischen Negativbestimmungen führen, wie
sie etwa in Jacob Burckhardts (1970: 61) Formel von der Macht als dem abso-
lut Bösen oder in dem Diktum Lord Actons (1972: 335) von der korruptiven
Wirkung der Macht zum Ausdruck kommt. Macht ist bis heute ein „essentially
contested concept“ geblieben, „characterized by unresolved – and indeed unre-
solvable – disputes over its meanings and proper application“ (Ball 1993: 554).
Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens 397

Nicht zuletzt auf Grund dieses Begriffs- und Verständniswirrwarrs hat Max
Weber (1976: 28f.) seinerzeit den Begriff der Macht als „soziologisch amorph“
bezeichnet und sein Machtverständnis mit großer Wirkung auf den soziologi-
schen und politologischen Diskurs wie folgt definiert: „Macht bedeutet jede
Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen
Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ Er hat
dabei explizit unterstrichen, dass „alle denkbaren Qualitäten eines Menschen
und alle denkbaren Konstellationen [...] jemand in die Lage versetzen [können],
seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen.“
Im Gegensatz dazu hatte Weber Herrschaft an Legitimität zurückgebunden
und von Macht als soziologisch amorpher Kategorie geschieden. Den Herr-
schaftsbegriff präzisierte er wie folgt: „Herrschaft soll heißen die Chance, für
einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu fin-
den.“ (ebd.: 28)
Nicht also jede Chance, „Macht“ und „Einfluss“ auf andere Menschen aus-
zuüben. Herrschaft („Autorität“) in diesem Sinne kann im Einzelfall auf den
verschiedensten Motiven der Fügsamkeit: von dumpfer Gewöhnung angefan-
gen bis zu rein zweckrationalen Erwägungen, beruhen. Ein bestimmtes Mini-
mum an Gehorchenwollen, also: Interesse (äußerem oder innerem) am Gehor-
chen, gehört zu jedem echten Herrschaftsverhältnis (ebd.: 122).

2 Macht als soziale Figuration


Macht bezeichnet also ein soziales Verhältnis, sie ist eine zentrale Form der Ver-
gesellschaftung und immer ein Beziehungsgefüge. Bei Macht handelt es sich
um einen sozialen Prozess. Um dieses Prozesshafte deutlich zu machen, haben
Sofsky und Paris (1994: 13f.) – unter Rückgriff auf Georg Simmels formale
Soziologie und in Anlehnung an Norbert Elias’ Einsichten in Machtfelder als
interdependente Beziehungsgeflechte von Gruppen – den Begriff der „Macht-
figuration“ geprägt:
Eine Machtfiguration ist ein komplexes Geflecht asymmetrischer und
wechselseitiger Beziehungen, in dem mehrere Personen, Gruppen oder Partei-
en miteinander verknüpft sind und in dem Veränderungen einer Relation auch
die anderen Relationen ändern [...] Das Konzept der Machtfiguration erlaubt
eine genuin soziologische Analyse. Es rekonstruiert die Dynamik von Macht-
prozessen [...] aus dem sozialen Verhältnis selbst.
Versteht man Macht in diesem Sinne als Machtfiguration, dann lassen sich
ausgehend von den sozialanthropologischen Grundlagen der Macht die Di-
398 Peter Imbusch

mensionen des Machtbegriffs und seine wichtigsten Differenzierungen heraus-


arbeiten und schließlich auch die Effekte der Macht beschreiben.

2.1 Sozialanthropologische Grundlagen der Macht


Die Frage, warum und auf Grund welcher Fähigkeiten die Menschen Macht
ausüben können und warum andere Menschen diese Macht erdulden, ertragen
oder erleiden, ist zum einen die Frage danach, wie Macht überhaupt wirkt, zum
anderen eine nach den sozialanthropologischen Grundlagen der Macht. Fasst
man Macht ganz kategorial als etwas auf, was der Mensch „vermag“ (z.B. das
Vermögen, sich gegen fremde Kräfte durchzusetzen), so wird man zunächst
einmal dieses menschliche Vermögen in vier spezifische Handlungstypen diffe-
renzieren können, denen wiederum vier vitale Abhängigkeiten gegenüberste-
hen. Heinrich Popitz (1992: 24-39) hat vier anthropologisch nicht weiter redu-
zierbare Bedingungen herausgestellt, die zugleich vier Grundtypen der Macht
bilden, von denen sich wiederum andere Typologisierungsmöglichkeiten ablei-
ten lassen:
ƒ Aktionsmacht (als Verletzungsmacht) meint nicht nur jene kreatürliche Ver-
letzbarkeit des menschlichen Körpers, dem der Mensch in vielfältiger Wei-
se ausgesetzt ist, sondern auch ökonomische Verletzbarkeit durch den
Entzug von Subsistenzmitteln, von Raub und Zerstörung, von Zugangsbe-
schränkungen zu Ressourcen und nicht zuletzt auch Verletzbarkeit durch
den Entzug sozialer Teilhabechancen. Das typische daraus resultierende
Machtverhältnis wäre pure Gewalt.
ƒ Instrumentelle Macht (als Unterwerfungsmacht) ist die konventionelle und
geläufigste Form der Durchsetzung gegen fremde Kräfte. Sie basiert auf
dem Geben- und Nehmen-Können, der Verfügung über Belohnungen und
Strafen, dem Gewähren oder dem Entzug von Gratifikationen. Sie ist die
Macht des Entweder-Oder. Instrumentelle Macht wirkt durch das glaub-
hafte Verfügenkönnen über diese Mittel und die Bewahrung dieser
Glaubwürdigkeit. Das typische hieraus resultierende Machtverhältnis wäre
soziale Erpressung oder Konformität erzeugende Angst und Hoffnung.
ƒ Autoritative Macht (als das Verhalten und die Einstellungen steuernde
Macht) ist eine Macht, die einwilligende Folgebereitschaft erzeugt. Sie
wirkt (verinnerlicht) über den jeweiligen Kontrollbereich hinaus, also auch
dort, wo Handlungen nicht direkt kontrolliert werden können. Das typi-
sche hieraus resultierende Machtverhältnis wäre fraglose Autorität.
Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens 399

ƒ Datensetzende Macht (als objektvermittelte Macht technischen Handelns)


ergibt sich etwa aus jenen technischen Artefakten, mittels deren Hersteller
Macht über andere Menschen ausüben können, weil in die Dinge latente,
jederzeit manifest werden könnende Macht eingebaut ist. Sie ist aber auch
Rückwirkung der technischen Beherrschung der Natur durch den Men-
schen. Das sich hieraus ergebende typische Machtverhältnis ließe sich als
technische Dominanz fassen.
Natürlich können diese Machttypen zusammen auftreten und sich in ihrer
Wirkung akkumulieren. Diesen konstitutiven Handlungsfähigkeiten der Men-
schen entsprechen bei Popitz vitale Abhängigkeiten des Menschen, die zugleich
verdeutlichen, warum sich die Anderen fügen und unterwerfen, nämlich a)
aufgrund ihrer Verletzbarkeit, b) ihrer Sorge um die Zukunft, c) ihrer Aner-
kennungs- und Maßstabsbedürftigkeit, sowie d) ihrem Angewiesensein auf
hochkomplexe technische Apparaturen.

2.2 Prozesse der Machtbildung


Die sozialanthropologischen Grundlagen der Macht bilden gewissermaßen die
Basis, auf der Macht sich herausbilden kann. Popitz (1992: 185-231) hat die
Prozesse der Machtbildung eindrucksvoll an Beispielen beschrieben. Fasst man
seine Ergebnisse zusammen, dann kann als Ausgangspunkt von Machtbil-
dungsprozessen gelten, dass jemand ein Privileg definiert und wahrnimmt oder
sich gesellschaftliche Ressourcen aneignen kann, die eine gewisse Überlegen-
heit verbürgen. Privilegien betreffen immer knappe Güter, so dass die Durch-
setzung von Privilegien stets zu Lasten und auf Kosten anderer, zu kurz ge-
kommener Individuen geht.
Solidarität ist ein wichtiger Schritt in der Verfestigung von Macht, denn um
Widerstände möglichst zu minimieren, solidarisieren sich die Privilegierten und
bestätigen sich gegenseitig, legitime Rechte wahrzunehmen. Spätestens zu die-
sem Zeitpunkt ist vergessen, dass hier ursprünglich Macht gegen den Willen
anderer durchgesetzt wurde.
Macht bekommt sodann durch Institutionen und Organisationen Struktur,
indem Mächtige zwischen sich und anderen differenzieren. Da sie die Verfü-
gungsmacht über knappe Güter haben, von denen die Macht nun selbst das
Wichtigste ist, können sie bestimmen, wer wie nah oder fern zur Macht steht.
Macht stabilisiert sich also über soziale Schließungsprozesse und über die ge-
stufte Partizipation an ihr. Da die Reproduktion von Macht auch immer eine
beschränkte Umverteilung voraussetzt, stimmen schließlich auch die weniger
400 Peter Imbusch

oder gar nicht Mächtigen der neu etablierten Machtordnung zu, weil das die
geringsten Nachteile bei der Wahrnehmung ihrer verbliebenen Lebenschancen
verbürgt (vgl. Abels 2001 I: 249f.). Die reine Möglichkeit zur Machtausübung
wächst sich zur Fähigkeit der Machtausübung aus (potenzielle Stufen), wird
sodann zur latent wirkenden Macht und schließlich zu manifest wirksamer
Macht (aktuelle Stufen) (vgl. Hradil 1980: 34-40).

2.3 Dimensionen der Macht


Um zu verstehen, was Macht ist und wie sie wirkt, ist es allerdings keineswegs
ausreichend, den Machtbegriff typologisch auseinander zu legen und Prozesse
der Machtbildung zu reflektieren. Vielmehr müssen wenigstens vier Dimensio-
nen der Macht berücksichtigt werden, um zu gehaltvollen Machtanalysen zu
gelangen: Alle Macht beruht auf bestimmten grundlegenden Machtquellen, wel-
che als Ursprünge und Gründe von Macht betrachtet werden können. Denn
die Machtquellen eröffnen eigentlich erst den Zugang zu den Machtmitteln. Die-
se sind die Trümpfe eines Machtspiels, mit denen Konflikte ausgefochten,
Widerstand geleistet oder gebrochen wird. Machtquellen und Machtmittel lie-
gen noch im Bereich der potenziellen Macht, da man beispielsweise über
Machtmittel verfügen kann, ohne diese einsetzen zu müssen. Erst mit dem
Einsatz der Machtmittel, wenn sich Machtmittel in Formen der Machtausübung
niederschlagen, übersetzt sich potentielle Macht in aktuelle Macht. Den einzel-
nen Formen der Machtausübung liegen jeweils typische Wirkungsmechanismen von
Macht zu Grunde.
Dass Max Weber mit seiner Charakterisierung des Machtbegriffs als „sozio-
logisch amorph“ durchaus Recht hatte, zeigt sich nicht nur an der Vielfalt der
Machtquellen, sondern auch daran, dass die Abgrenzungen zwischen den ein-
zelnen Dimensionen nicht immer trennscharf sind. Dies wird im folgenden bei
einem Durchgang durch die Bestandteile der einzelnen Machtdimensionen
deutlich.

2.3.1 Machtquellen
Die Machtquellen stellen die unmittelbaren Gründe für die Macht dar, wie sie
sich aus den allgemeineren sozialanthropologischen Grundlagen der Macht
ergeben. Eine erste solche Machtquelle ist zunächst physische Stärke bzw.
psychische Überlegenheit. Körperliche Stärke garantiert zumindest in Konflikt-
situationen im Mikro-Bereich eine Form der Überlegenheit, der sich andere
fraglos beugen werden. Ist man einem „Muskelprotz“ körperlich sichtlich un-
Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens 401

terlegen, wird man es sich gut überlegen, sich auf eine Kraftprobe einzulassen,
bei der man offensichtlich „den Kürzeren zieht“. Macht als körperliche Über-
legenheit schafft ziemlich unhinterfragt Gehorsam, sie wirkt direkt. Auf der
Makro-Ebene lassen sich ähnliche Wirkungen durch die Monopolisierung phy-
sischer Gewaltmittel (Polizei, Militär) beim Staat erzielen.
Beruht die Macht einer Person auf psychischen Besonderheiten, etwa auf
Ausstrahlung, Geist, Intellekt, dann wird sie eher bestimmten Persönlichkeits-
merkmalen eines Menschen zugeschrieben, deren Überlegenheit man neidvoll
oder neidlos anerkennt. Psychische, geistige, rhetorische, moralische oder sons-
tige Eigenschaften können also ebenfalls den Zugang zu Machtmitteln ebnen,
weil sie zur Sinngebung eingesetzt werden können oder Situationsdefinitionen
erfolgreich durchzusetzen vermögen. In vielen Fällen steht die Macht der Per-
sönlichkeit in engem Zusammenhang mit Formen konditionierter Macht, mit
der Fähigkeit also, Überzeugungen oder Motivationen zu schaffen. Von hier
aus ist der Weg zur Ausbildung von Charisma und Autorität nicht weit. Die
Anerkennung der Persönlichkeit anderer bedeutet zugleich immer ein stückweit
Verzicht auf Selbstbestimmung.
Eigentum und Besitz stellen eine weitere wesentliche Quelle von Macht dar.
Macht ergibt sich hier aus der mehr oder weniger exklusiven Verfügung über
die Produktionsmittel und die damit verbundenen property rights, den mit der
Verfügung oder dem Besitz eines Gutes einhergehenden Eigentumsrechten. Sie
kann aber auch Resultat der Monopolisierung bestimmter gesellschaftlich be-
deutsamer Ressourcen (von Rohstoffen und Böden bis hin zu Patenten) sein.
Sie erwächst aus der Reichtums- und Einkommenskonzentration einer Gesell-
schaft, so dass etwa Pierre Bourdieu (1992) das ökonomische Kapital als die
grundlegendste, weil in alle anderen Kapitalarten transformierbare Kapitalie
betrachtet. Ökonomisch tritt sie als Marktmacht im Sinne der Ausbildung mo-
nopolistischer oder oligopolistischer Positionen in Erscheinung, die anderen
Marktteilnehmern bestimmte Tauschbedingungen aufzwingt, ohne die forma-
len Prinzipien der Marktgesellschaft zu verletzen. Auch können Eigentum und
Wohlstand habituell den Eindruck von Autorität und Entschlusskraft vermit-
teln, die dann wieder zu Formen konditionierter Unterwerfung oder kompen-
satorischer Macht führen können.
Schließlich kann in der Organisation eine der wichtigsten Machtquellen
moderner Gesellschaften gesehen werden. Organisationen bilden durch den
zielgerichteten Zusammenschluss und die Bündelung von Kräften Handlungs-
potenziale aus, die individuellen Machtaspirationen durch die Verfügung über
größere und andere Ressourcen weit überlegen sind. Macht entsteht dabei aus
402 Peter Imbusch

Kooperation und Zentralisierung und schlägt sich u.a. in bürokratischen Struk-


turen nieder. Wo Macht erstrebt wird, ist in der Regel auch eine entsprechende
Organisation der Macht vorhanden (vgl. Crozier & Friedberg 1979).

2.3.2 Machtmittel
Die Machtmittel stellen dagegen die konkreten Medien der Machtausübung
dar. Mittels ihres Einsatzes wird der Ausgang von Machtkämpfen und Herr-
schaftskonflikten entschieden. An erster Stelle zu nennen wäre hier Kapital,
und zwar Kapital in jenem umfassenden Sinne, wie Bourdieu seine Kapitalarten
gefasst hat, nämlich als ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital (vgl. die
Beiträge von Willems und Hanitzsch in diesem Band). Ökonomisches Kapital
– etwa in Form von Geld – stellt ein universelles Tauschmedium dar, welches
den höchsten Konvertierungsgrad in die anderen Kapitalarten aufweist und
entsprechend kompensatorisch oder konditionierend eingesetzt werden kann.
Soziales Kapital zeigt sich vor allem in einem dauerhaften Netzwerk mehr oder
minder institutionalisierter Beziehungen, mit dem nicht nur Kennen und Aner-
kennen, sondern auch die aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe
resultierenden Ressourcen verbunden sind. Während die Macht des sozialen
Kapitals häufig sehr manifest wirkt, zeigt sich die Wirkung des kulturellen Ka-
pitals eher auf symbolischer Ebene und muss von dort aus seine Macht erst
entfalten. In inkorporiertem Zustand (Bildung, Wissen, Begabung) bildet das
kulturelle Kapital eine dauerhafte, habituell verfestigte Disposition des Orga-
nismus; in objektiviertem Zustand kommt es vor allem in der Produktion kul-
tureller Güter zum Ausdruck; und in institutionalisiertem Zustand hat es sich
etwa in Form von schulischen oder akademischen Titeln objektiviert, die für
„feine Unterschiede“ (Bourdieu 1982) sorgen und Kompetenz und Wissen
garantieren, mit denen dann Autorität und Einfluss verbunden sind.
Körperschaften und Organisationen bilden nicht nur eine bedeutsame
Machtquelle, sondern stellen zugleich ein wichtiges Machtmittel dar. Formale
Institutionen bilden nämlich das machtrelevante institutionelle Gefüge der
Gesellschaft, deren interne Macht über Positionen hierarchisch gegliedert und
mit bestimmten Befugnissen versehen ist, deren externe Macht darin zum Aus-
druck kommt, dass sie strukturell verfestigte, häufig normsetzende Macht ist,
weil in ihnen gesellschaftlich relevante Entscheidungen gefällt und umgesetzt
werden. Insofern kann es sich bei der von Organisationen ausgehenden Macht
sowohl um kompensatorische wie auch konditionierende Macht handeln.
Ein besonderes Machtmittel stellt auch die Sanktionsgewalt eines Amtes
dar, das an öffentliche bürokratische Strukturen gebunden ist. Im Gegensatz zu
Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens 403

den übrigen Organisationen und Körperschaften werden hier insbesondere


konditionierte und repressive Formen der Macht ausgeübt, die sich aus den
spezifischen Befugnissen solcher Bürokratien ergeben. Im Sinne legaler Herr-
schaft begegnet uns die Bürokratie im Alltag vor allem als (mehr oder weniger)
rationale Verwaltung, die Sachlichkeit und Zweckmäßigkeit mit spezifischen
Erzwingungsmaßstäben verbindet und so ihren Sanktionscharakter gewinnt.
Wenn auch eine Vielzahl von Vorschriften nicht unmittelbar sanktionsfähig ist,
so gilt doch die Sanktionsdrohung im Prinzip, weil ihre Umsetzung jederzeit
erzwungen werden könnte.
Schließlich stellt die Verfügung über und der Umgang mit Informationen
ein Machtmittel beträchtlichen Ausmaßes dar. „Wissen ist Macht“ – heißt es
nicht umsonst kurz und knapp im Volksmund. Macht kann beispielsweise auf
einem Monopol hinsichtlich der Verfügung über Informationen im weitesten
Sinne beruhen. Dies betrifft ganz basales Wissen, grundlegende Verfahrensab-
läufe, bestimmte Techniken (die mittels Patenten höchst exklusiv verfügbar
sind), aber auch aktuelle politische Informationen, gilt auf anderen Stufen ge-
sellschaftlicher Entwicklung etwa für Heilswissen und magische Praktiken, die
ihren Inhabern seit je Macht verliehen und Expertokratien zu begründen hal-
fen. Informationsmonopole sind zwar flüchtige, aber mitunter sehr effektive
Machtmittel. Berücksichtigt man zudem, dass Informationen und Wissen ma-
nipuliert, gestreut oder selektiv eingesetzt, bei wichtigen Entscheidungen zu-
rück gehalten oder offenbart werden können, so wird der Stellenwert von In-
formationen als Machtmittel einsichtig. Die Macht der Medien als Bereitsteller
und Bearbeiter von Informationen ergibt sich einerseits aus den berechtigten
Informationsbedürfnissen der Menschen, andererseits aus den Manipulations-
möglichkeiten von Nachrichten, mit denen Meinungen „gemacht“ werden.
Informationen und Wissen als Machtmittel zu betrachten, heißt ihre konditio-
nierenden Aspekte (also im Hinblick auf Änderungen des Bewusstseins, der
Überzeugungen oder des Glaubens) in den Mittelpunkt zu rücken.

2.3.3 Formen der Machtausübung


Die meisten Formen der Machtausübung lassen sich auf einem Kontinuum wie
folgt rubrizieren (vgl. Olsen & Marger 1993: 3f.; Turner 2005): Die diskretesten
Formen der Machtausübung sind Einfluss, Überzeugung und Motivation. Ein-
fluss übt ein Akteur auf der Grundlage allgemein akzeptierter Regeln aus. Die
Fähigkeit, Einfluss geltend zu machen, hängt meistens von einer Machtposition
in einem Netzwerk oder einer Organisation ab, welche die Verfügung über
bestimmte Ressourcen mit sich bringt und tendenziell um so effektiver wird, je
404 Peter Imbusch

höher eine Position in der Sozialstruktur lokalisiert ist. Überzeugung setzt da-
gegen eine sich aus Wissen und Information speisende persönliche Autorität
und geistige Überlegenheit voraus, die Argumente in Auseinandersetzungen
mit anderen vernünftig zu begründen vermag. Einfluss und Überzeugung ver-
anlassen jemanden dazu, etwas zu tun, was er vorher nicht beabsichtigte. Moti-
vation stellt dagegen eine verdeckte Form sozialer Macht dar, der es nicht dar-
um geht, Widerstände überwinden zu müssen, sondern andere dazu zu veran-
lassen, etwas überhaupt erst zu wollen oder auch nicht zu wollen, ein bestimm-
tes Verhalten in Gang zu setzen oder zielorientiertes Handeln auszulösen. Ein-
fluss, Überzeugung und Motivation sind damit genuine Formen kommunikati-
ver Macht. Sie rangieren in bezug auf die mit der Machtausübung verbundenen
Zwänge ganz unten auf der Skala.
Autorität wird grundsätzlich – in der Regel von machtschwächeren Grup-
pen – zugeschrieben, sie beruht auf Anerkennung (Sofsky & Paris 1994: 21-
156; vgl. Sennett 1985). Sie kann in zwei Formen auftreten: Als Amts- und
Befehlsgewalt basiert sie auf der vorgängigen Gewährung von Legitimität sei-
tens der Machtunterworfenen, denn sie ermächtigt einen Akteur, bestimmte
Entscheidungen mit Aussicht auf persönliche Anerkennung und Gehorsams-
bereitschaft zu fällen. Autorität bezeichnet in diesem Sinne den rechtmäßig
anerkannten Einfluss einer sozialen Instanz. Sie gründet v.a. auf legalen Rech-
ten und rationalem Wissen. Mit Autorität kann aber auch persönliche Autorität
gemeint sein, die Macht der Persönlichkeit (Attraktion). Sie entsteht durch eine
Reihe herausragender persönlicher Eigenschaften, langen Erfahrungen oder
besonderen Kenntnissen und steht häufig mit der Existenz von Charisma in
Verbindung, die einer Person eine „natürliche“ Autorität verleiht. Sie kann
jedoch auch auf diffuser Anziehung oder kognitiver Identifikation beruhen.
Diese Form der Autorität ist unabhängig von der Stellung in einer Hierarchie
und kann auch einfach zugeschrieben sein: Jemand hat Autorität, wenn und
weil andere ihn anerkennen. Autorität beruht in diesem Fall auf besonderen
Wissensvorräten, traditionellem Glauben bzw. entsprechenden Werten oder
der anderweitig geschätzten Ausstrahlung einer Person. Verschmelzen Autori-
tät im Sinne von Amts- und Befehlsgewalt und persönliche Autorität miteinan-
der, dann ist in der Regel ein hohes soziales Prestige die Folge. Während Auto-
rität eine relativ stabile Form der Machtausübung begründet, sticht im Falle der
Attraktion der transitorische, flüchtige Charakter von Macht hervor.
Kontrolle ist eine Form der Machtausübung, die sich bereits sehr verschie-
dener Methoden bedienen kann und eine unterschiedliche Reichweite besitzt.
Sie kann sich lediglich auf bestimmte Handlungen und Interaktionsprozesse
Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens 405

beziehen, sie kann aber auch regional oder global angelegt sein – je nachdem
von welcher Form der Macht die Rede ist. Sie kann sich auf Entscheidungssi-
tuationen und damit auf intentional Handelnde, aber auch sog. Nicht-
Entscheidungen beziehen und dadurch bestimmte strategische Weichenstel-
lungen vornehmen. Peter Bachrach und Morton S. Baratz (1962) haben Nicht-
Entscheidungen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen ausgemacht und
sie das „zweite Gesicht der Macht“ genannt.
Zwang liegt dagegen dann vor, wenn auf einen möglichen Adressaten
Druck über das Gewähren bzw. Zurückhalten bestimmter Ressourcen ausge-
übt bzw. damit gedroht wird oder er von bestimmten Handlungen auf Grund
der zwingenden Einflussnahme anderer abgehalten wird. Zwang kann auf recht
verschiedene Weise ausgeübt werden: Bei den sanften Formen des Zwangs
werden demjenigen, auf den Zwang ausgeübt wird, im Falle wunschgemäßen
Verhaltens bestimmte Vorteile gewährt oder in Aussicht gestellt (Nutzenas-
pekt). Im Fall brachialer Zwangsmittel wird mit Gewalt oder Strafen gedroht,
um die eigene Macht gegenüber einem anderen durchzusetzen (Schadensas-
pekt). Dagegen stellt das staatliche Gewaltmonopol einen Spezialfall der
Zwangsausübung dar. Als rationaler anstaltsmäßiger Herrschaftsverband stellt
der Staat schon bei Weber (1976: 822) ein auf das Mittel der legitimen Gewalt-
samkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen dar,
dem sich die beherrschten Menschen kraft seiner Autorität fügen müssen, weil
er bestimmte Grundfunktionen für die Durchführung und Aufrechterhaltung
der Ordnung erfüllt.
Entgegen einer vielfach anzutreffenden Vorstellung muss schließlich auch
die Gewalt als eine Form der Machtausübung, die von der einfachen Macht-
demonstration bis hin zur absoluten Macht reichen kann (Sofsky 1993: 29ff.),
angesehen werden. Sicherlich lässt sich Gewalt auf einem Kontinuum der
Formen möglicher Machtausübung am entgegengesetzten Ende zu den friedli-
chen Formen der Machtausübung (wie Einfluss, Überzeugung und Motivation)
verorten, aber Macht und Gewalt sind keine Gegensätze. Hannah Arendts
(1970: 57) Behauptung, dass es zwischen Macht und Gewalt keinerlei Übergän-
ge gibt und dass Gewalt dort auf den Plan tritt, wo Macht in Gefahr ist, kann
nur soweit zugestimmt werden, als sich Macht und Gewalt als Phänomene
nicht aufeinander reduzieren lassen (vgl. Imbusch 1998: 15f.). Doch gibt es
einen Überschneidungsbereich von Macht und Gewalt, der genau darin be-
steht, dass Gewalt ein sehr effektives Machtmittel sein kann, weil sie unmittel-
bar Gehorsam erzwingt und Widerstand zu überwinden weiß (vgl. Imbusch
2002). In diesem Sinne spricht etwa Popitz von Verletzungsmacht als Gewalt.
406 Peter Imbusch

Dass nicht alle Macht Gewaltcharakter besitzt, dürfte aber ebenso offensicht-
lich sein.

2.3.4 Wirkungsmechanismen der Macht


Bisher ist schon verschiedentlich auf die möglichen Wirkungsmechanismen der
Macht Bezug genommen worden, ohne diese eigens systematisch auszuführen.
Drei solcher Wirkungsmechanismen lassen sich nach ihrer je spezifischen Art
unterscheiden: Sanktion, Kompensation, Manipulation.
Macht als Durchsetzung des eigenen Willens kann grundsätzlich deshalb
wirken und dadurch ihr Ziel erreichen, dass etwaiges Widerstreben mit Strafen
oder Sanktionen belegt ist. Die Aussicht eines Individuums oder einer Gruppe
auf schmerzhafte Gegenmaßnahmen für den Fall, dass dem Willen des Ande-
ren nicht entsprochen wird, lässt die Betroffenen ihre ursprünglichen Präferen-
zen eher aufgeben oder veranlasst sie zu einer Verhaltensänderung im Sinne
des Machtausübenden. Der Wirkungsmechanismus der Sanktion erreicht also
Unterwerfung durch die Auferlegung oder die (gestaffelte) Drohung mit unan-
genehmen Konsequenzen.
Macht kann aber auch deshalb wirksam sein, weil positive Sanktionen ver-
hängt worden sind, die Unterwerfung unter fremden Willen also dadurch er-
reicht wurde, Wohlverhalten zu belohnen – etwa durch Lob, Geld, die Erfül-
lung bestimmter Versprechen oder die Aussicht auf sonstige materielle und
immaterielle Vorteile. In diesem Fall bekommt das sich unterordnende Indivi-
duum also etwas für es Wichtiges zum Ausgleich.
Schließlich existiert als dritter grundlegender Wirkungsmechanismus von
Macht die Manipulation. Im Gegensatz zu den beiden zuvor genannten Me-
chanismen, bei denen sich ein Einzelner oder eine Gruppe ihrer mal erzwun-
genen, mal entgoltenen Unterordnung durchaus bewusst ist, wird im Falle der
Manipulation konditionierend auf andere eingewirkt: Die Unterwerfung ent-
spricht scheinbar dem selbstgewählten Kurs und wird vom Beeinflussten ent-
weder gar nicht oder zumindest nicht vollständig als das erkannt, was sie tat-
sächlich ist, nämlich Machtausübung. Manipulation erzielt ihre Wirkung im
Falle einer Bewusstseinsänderung, der Aufgabe einer Überzeugung oder eines
Glaubens und darf nicht nur im negativen Sinne des Wortes als krude Beein-
flussung verstanden werden. Sie kann auch durch Unterordnung unter geliebte
Menschen, durch Identifikation mit einer charismatischen Persönlichkeit oder
Autoritätsperson entstehen.
Diese Wirkungsmechanismen der Macht stehen jeweils in engem Zusam-
menhang mit bestimmten Machtmitteln. Sanktion, Strafe und Drohungen ent-
Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens 407

falten ihre Wirkungen häufig auf der Basis von physischen Machtmitteln;
Kompensation und Belohnung bedürfen zur Entfaltung ihrer Wirkung in der
Regel bestimmter ökonomischer Ressourcen; und Manipulation erzielt ihre
Wirkung auf der Basis symbolischer Machtmittel. Diese drei Methoden der
Machtausübung hat John Kenneth Galbraith (1987: 17f.) in seiner Anatomie
der Macht deshalb auch als repressive Macht, als kompensatorische Macht und
als konditionierte Macht bezeichnet.
Repressive Macht erzielt Unterordnung durch die Fähigkeit, die individuellen
oder kollektiven Präferenzen eines einzelnen oder einer Gruppe mit derart un-
angenehmen oder schmerzhaften Gegenmaßnahmen zu belegen, daß die Betrof-
fenen ihre Präferenzen aufgeben. Der Terminus enthält einen Beigeschmack von
Bestrafung [...] Im Gegensatz dazu erzielt kompensatorische Macht Unterwer-
fung durch das Angebot, Wohlverhalten zu belohnen [...] Ein gemeinsames
Merkmal sowohl der repressiven wie der kompensatorischen Macht besteht dar-
in, daß das sich unterordnende Individuum sich seiner Unterordnung – hier er-
zwungen, dort entgolten – bewußt ist. Die Ausübung konditionierter Macht hin-
gegen wird durch eine Änderung des Bewußtseins, der Überzeugungen und des
Glaubens bewirkt [...] Die Unterwerfung entspricht dem selbstgewählten Kurs
und wird nicht als das erkannt, was sie tatsächlich ist.

2.4 Effekte der Macht


Mit jedem Einsatz von Macht verbindet sich die Hoffnung, bestimmte Effekte
und gewünschte Wirkungen zu erreichen, die anders nicht oder schwerer zu
erlangen gewesen wären. Macht erzielt dabei Effekte immer in bestimmten
Sozialräumen, die den Geltungs- und Wirkungsbereich von Macht abstecken.
Dieser lässt sich wiederum idealtypisch in dreierlei Hinsicht differenzieren,
nämlich erstens hinsichtlich der Reichweite, zweitens hinsichtlich des Gel-
tungsgrades und drittens hinsichtlich der Wirkungsintensität.
Die Reichweite von Macht zeigt sich am ehesten in personeller oder territo-
rialer Weise. Macht wird typischerweise über eine bestimmte Zahl von Perso-
nen oder über ein bestimmtes Territorium ausgeübt. Die Reichweite der Macht
ließe sich über die Erhöhung der der Macht unterworfenen Menschenzahl oder
die Vergrößerung eines Einflussbereichs steigern.
Der Geltungsgrad der Macht zielt auf die Zuverlässigkeit der zu erwarten-
den Konformität und dürfte u.a. von der Legalität der Machtausübung oder
sonstiger Legitimitätsquellen der Macht abhängig sein. Der Geltungsgrad von
Macht würde sich erhöhen, wenn Gehorsam und Folgebereitschaft zuverlässi-
ger als zuvor erwartet werden können oder Macht unhinterfragter befolgt wür-
de.
408 Peter Imbusch

Für die Wirkungsintensität der Macht sind vor allem die Durchsetzungs-
kraft bzw. -fähigkeit und die Innovationskraft bzw. ein entsprechendes Poten-
zial von Bedeutung. Eine Verstärkung der Wirkungsintensität der Macht kann
in der machtvolleren Durchsetzung des eigenen Willens gesehen werden, der
nun einen größeren Widerstand zu überwinden vermag als zuvor. Die Innova-
tionskraft von Macht würde sich daran zeigen, dass etwa mit Bestehendem
gebrochen werden kann oder Ungewohntes und Neues verbindlich geregelt
wird. Die Intensität würde mit der Größe einer Herausforderung steigen müs-
sen (vgl. Popitz 1992: 234f.).

2.5 Ebenen der Macht


Diese Differenzierungen weisen über die Webersche Definition von Macht
insofern hinaus, als sie nicht nur das Handeln zur Überwindung von Wider-
stand als Machtaktion begreifen, sondern auch die Gründe für die Möglichkeit
zur Machtausübung spezifizieren. Steven Lukes (1974) hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass Macht mindestens ein dreidimensionales Phänomen ist und
mithin auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt werden kann. Er hat dabei
den rein auf der Handlungsebene angesiedelten, klassischen Machtbegriff von
Weber als eindimensional gekennzeichnet, weil er auf die Durchsetzung des
eigenen Willens gegen Widerstand abhebt und ihn damit in die Nähe von
Kampf und Konflikt rückt.
Weber lässt schon eine zweite Dimension von Machtausübung – so ge-
nannte non-decisions – außer Acht. Machtausübung beinhaltet hier Kontrolle
über soziale Situationen und Akteure mit dem Ziel, bestimmte Aktivitäten von
vornherein zu verhindern oder Entscheidungen, issues etc. erst gar nicht auf die
Tagesordnung gelangen zu lassen. Dabei geht es um die Beeinflussung der
Rahmenbedingungen für die Machtausübung etwa über die Manipulation oder
die Kontrolle der Spielregeln. Dieses „zweite Gesicht der Macht“ (Bachrach &
Baratz 1962) besteht also wesentlich in verborgener Machtausübung mittels
„Nicht-Entscheidungen“ oder Nicht-Handeln, so dass bestimmte Diskussio-
nen oder Handlungen als illegitim erscheinen.
Aber auch eine solche zweidimensionale Fassung von Macht bleibt immer
noch an die intentionale Willensdurchsetzung von Individuen gekoppelt. Nach
Lukes gilt es deshalb auch noch eine dritte Dimension zu berücksichtigen:
Diese besteht in einem impliziten gesellschaftlichen oder gruppenförmigen
Konsensus, dass bestimmte Dinge gar nicht verhandelbar sind, sondern als
gegeben akzeptiert werden müssen. Diese dritte Ebene der Machtausübung
zielt also auf die Kontrolle des größeren gesellschaftlichen Kontextes und der
Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens 409

Rahmenbedingungen, in denen die Handlungen anderer Personen stattfinden,


im besonderen auf die Öffnung oder Schließung bestimmter Optionen und
Handlungskorridore ab. Dazu sind in der Regel Machtpositionen vonnöten, die
es bestimmten Akteuren erlauben, soziale Situationen zu strukturieren und auf
die Sichtweisen, Erklärungsmuster und Interessendefinitionen anderer Akteure
Einfluss auszuüben (vgl. Lukes 1974: 11-25; Clegg 1989, 1975). Eine solche
„Meta-Macht“ impliziert weitreichende Kontrolle über soziale Prozesse und
Organisationen. Noch vor der Ebene der Abstimmung der Spielregeln und
weit vor dem eigentlichen Handeln sind also bereits bestimmte Aspekte fest
geschrieben – unzweifelhaft ein Machtphänomen.

3 Herrschaft als institutionalisierte Macht


Macht ist also ein äußerst komplexes soziales Phänomen. Sie tritt in einer Viel-
zahl von Formen und Arten auf. Sie kann sporadisch oder relativ dauerhaft
sein, sie kann kontinuierlich oder diskontinuierlich, partiell oder umfassend
ausgeübt werden, sie kann informell oder ganz offiziell gebraucht werden.
Herrschaft ist dagegen ein Spezialfall von Macht, die sich verdichtet, verfes-
tigt, verstetigt und akkumuliert hat. Denn im Gegensatz zu Macht zeichnet sich
Herrschaft durch eine gewisse Dauerhaftigkeit aus. Herrschaft kann entspre-
chend auch als ein institutionalisiertes Dauerverhältnis der Machtausübung
einer übergeordneten Person oder Personengruppe gegenüber untergeordneten
Gruppen verstanden werden, das ohne ein Mindestmaß an Anerkennung und
Gehorsam (Webers eingangs zitiertes, berühmtes Gehorchenwollen) nicht
möglich wäre. Herrschaft hat damit stärkere Bezüge zur Legitimität als Macht,
müssen doch die Herrschenden in viel größerem Maße danach streben, ihre
Herrschaft zu legitimieren, um sie dauerhaft ausüben zu können.

3.1 Der Institutionalisierungsprozess von Herrschaft


Betrachtet man Herrschaft mit Max Weber als institutionalisierte Macht, dann
wird man zunächst einmal auf den Institutionalisierungsprozess der Macht
selbst verwiesen. Popitz (1992) hat auf drei Elemente aufmerksam gemacht, die
den Institutionalisierungsprozess von Macht in Richtung auf Herrschaft kenn-
zeichnen: Zum einen löst sich Macht mehr und mehr von bestimmten Perso-
nen und geht an bestimmte Funktionen und Positionen über, so dass es zu
einer zunehmenden Entpersonalisierung von Machtverhältnissen kommt. Zum
anderen löst sich Machtausübung in zunehmendem Maße von persönlicher
410 Peter Imbusch

Willkür und orientiert sich stattdessen an feststehenden Regeln und Verfah-


rensweisen, so dass auch eine Formalisierung der Machtausübung eintritt.
Schließlich wird Macht in zunehmendem Umfang in übergreifende Ordnungs-
gefüge integriert und verschmilzt mit den „bestehenden Verhältnissen“. Ent-
personalisierung, Formalisierung und Integrierung bewirken eine Erhöhung der
Stabilität und damit auch eine Absicherung von Macht, die sich im Institutiona-
lisierungsprozess verfestigt und entsprechend schwer rückgängig zu machen
ist. Popitz (1992: 236 ff.) hat diesen Prozess im Sinne eines Stufenmodells
dargestellt, das folgende Ebenen aufweist:
Auf der ersten Stufe bleibt Macht immer auf den Einzelfall beschränkt,
vollzieht sich bestenfalls als eine lockere und zufällige Aneinanderreihung von
Aktionen, so dass sie im Grunde noch eine Vorstufe darstellt, die Popitz mit
dem Namen „sporadische Macht“ belegt. Zur Verfestigung stehen hier weder
ausreichende Machtmittel zur Verfügung noch bezieht sich die Machtausübung
auf wiederholbare Situationen, noch kann der Machtausübende wiederholbare
Leistungen durchsetzen, geschweige denn den Schwächeren irgendwie an sich
binden.
Auf der zweiten Stufe kann ein Machthaber das Verhalten der Untergebe-
nen nicht nur im Einzelfall lenken, sondern auch normieren. Dadurch kann er
Verhaltensregelmäßigkeiten durchsetzen, die teils bereits auf Sanktionen beru-
hen, und Fügsamkeit mit möglichen Vorteilen für beide Seiten normativ verfes-
tigen. Die zweite Stufe auf dem Weg zur Institutionalisierung ist die der nor-
mierenden Macht.
Auf der dritten Ebene kommt es zur Positionalisierung von Macht und zur
Herausbildung erster Ansätze von Herrschaftsbastionen, weil sich normierende
Macht zu positioneller Macht fortentwickelt und sich als solche zu einer über-
personalen Machtstellung verdichtet. Dies ist der bedeutendste Einschnitt im
Prozess der Institutionalisierung von Macht, weil er den Beginn von Herrschaft
markiert und alle weiteren Stufen nur noch als Ausbau dieser grundlegenden
positionellen Verfestigungen zu verstehen sind.
Auf der vierten Stufe bilden sich Positionsgefüge der Herrschaft heraus, die
sich um zentrale Machtpositionen herum gruppieren. Als entscheidenden
Schritt auf dieser Stufe betrachtet Popitz die Verfestigung einer Arbeitsteilung
innerhalb einer Struktur von Positionsgefügen, so dass sich nicht nur übertrag-
bare Machtstellungen dauerhaft etablieren, sondern bei fortbestehenden Herr-
schaftspositionen auch die Herrschenden austauschbar werden.
Mit der Etablierung staatlicher Herrschaft – der Veralltäglichung zentrierter
Gebietsherrschaft im allgemeinen –, welche die fünfte und letzte Stufe der
Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens 411

Institutionalisierung von Macht bildet, ist zugleich ein qualitativ neues Niveau
im Institutionalisierungsprozess erreicht, das sich nicht zuletzt den außeror-
dentlichen Monopolisierungserfolgen einer zentralisierten, territorial ausgerich-
teten Herrschaftsinstanz wie etwa dem modernen Staat schuldet, der zwar
einerseits beträchtliche soziale Zwänge für den Einzelnen heraufbeschwört und
über gravierende Sanktionsmonopole verfügt, andererseits aber lebenswichtige
Ordnungsfunktionen für das Individuum erfüllt.
Mit den einzelnen Stufen der Institutionalisierung von Macht bis hin zur
Verfestigung als Herrschaft nehmen die „Machtvolumina“ (Mann 1991) zu und
die „Machtsteigerungen“ schlagen sich in der „Zunahme der Reichweite“, der
„Erhöhung des Geltungsgrades des Machtwillens“ und einer „Verstärkung der
Wirkungsintensität“ nieder. Mit der Durchsetzung zentralisierter Herrschaft im
Alltag ist zugleich die Endstufe der Institutionalisierung von Macht erreicht, so
dass Michael Mann (1991: 14) in seiner „Geschichte der Macht“ geschrieben
hat: „Gesellschaften bestehen aus vielfältigen, sich überlagernden und über-
schneidenden sozialräumlichen Machtgeflechten.“ Die Analyse von Gesell-
schaftsstrukturen kann nun durch das Inbeziehungsetzen einzelner Dimensio-
nen sozialer Macht geschehen.

3.2 Drei Typen legitimer Herrschaft


Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang besteht in der Frage
nach der Legitimität solcher Herrschaftsgebilde. Max Weber (1976: 541) hatte
Herrschaft als einen „Sonderfall von Macht“ bezeichnet und Herrschaft im
Gegensatz zur Machtausübung an Legitimation gebunden. Der wesentliche
Unterschied zwischen Macht als Chance, seinen Willen auch gegen Widerstre-
ben durchzusetzen, und Herrschaft als Chance, für einen bestimmten Befehl
Gehorsam zu finden, wird also durch das Moment des Anerkennens und des
Annehmens markiert. Denn Legitimation zur Herrschaft bekommt Macht nur
durch die Zustimmung der betroffenen Menschen, wobei sich der Legitimati-
onsanspruch potenziell Herrschender und der Legitimationsglaube möglicher
Herrschaftsunterworfener treffen müssen (vgl. Bourdieu 1982). Herrschaft
steht damit in modernen Gesellschaften unter einem besonderen Rechtferti-
gungszwang. Legitimität kann einer Herrschaftsordnung nach Weber zuge-
schrieben werden
ƒ auf Grund von Tradition, d.h. der Geltung des immer Gewesenen;
ƒ auf Grund affektuellen Glaubens, d.h. der Geltung des neu Offenbarten
oder des Vorbildlichen;
412 Peter Imbusch

ƒ auf Grund wertrationalen Glaubens, d.h. der Geltung des als absolut gültig
und richtig Erkannten; sowie
ƒ auf Grund positiver Satzung, d.h. dem Glauben an deren Rechtmäßigkeit
und Legitimität (Weber 1976: 19).
Dabei unterscheidet er drei reine Typen der legitimen Herrschaft: Die traditio-
nelle Herrschaft beruht auf der „Heiligkeit überkommener Ordnungen und Her-
rengewalten“. Sie legitimiert sich vor allem über die dauerhafte Anerkennung
ihrer Faktizität, dadurch, dass „es immer schon so war“. Einen zweiten Typus
legitimer Herrschaft sieht Weber in der charismatischen Herrschaft. Sie beruht auf
außeralltäglichen Eigenschaften und als außergewöhnlich anerkannten Qualitä-
ten der Persönlichkeit, kurz dem Charisma einer Person, die Autorität verleiht
und Folgsamkeit verbürgt. Die charismatische Legitimation von Herrschaft ist
deshalb zugleich die risikoreichste Art der Legitimation von Herrschaft (vgl.
Sofsky & Paris 1994: 149ff.). Dagegen betrachtet Weber die legale Herrschaft
mit einem modernen bürokratischen Verwaltungsstab als die rationalste Herr-
schaftsform, weil sie auf einem festgelegten Satz von Regeln und berechenbaren
Verhaltensweisen beruht, die für jedermann einsichtig sind und verlässlich
funktionieren.

3.3 Typen illegitimer Herrschaft – Gefahr der Verselbständigung von Macht


Hans Haferkamp hat in seinem Buch „Soziologie der Herrschaft“ (1983) eine
Macht- und Herrschaftstheorie eingefordert, die auch die Folgen von Macht
und Herrschaft „in ihrer Zweideutigkeit“ thematisiert. Er wendet sich darin
gegen die seit Max Webers Auseinandersetzung mit den verschiedenen Typen
legitimer Herrschaft gängige starke Kopplung von Herrschaft und Legitimität,
die den herrschaftssoziologisch interessanten Tatbestand aus dem Bewusstsein
verloren hat, dass auch eine ganze Reihe von Typen illegitimer Herrschaft
existiert. Über Jahrhunderte hinweg bildeten diese Herrschaftsformen noch bis
in die Gegenwart hinein eher die Regel (man denke etwa an die vielen Oligar-
chien, Diktaturen und autoritären Regimes), demokratisch legitimierte Systeme
die Ausnahme auf der Welt. Gerade das, worin Weber ein generelles Prinzip
von Herrschaft gesehen hatte – Gewährleistung von Überleben oder sogar
Wohlergehen gegen Herrschaftsunterwerfung – scheint in diesen Fällen wenn
nicht gänzlich außer Kraft, so doch in erheblichem Maße eingeschränkt gewe-
sen zu sein. Der Pflicht der Beherrschten zum Gehorsam und zur Anerken-
nung der Herrschaft stand jedenfalls keineswegs immer eine entsprechende
Pflicht der Bewährung seitens der Herrschenden gegenüber.
Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens 413

4 Theorien der Macht


Es gibt eine Fülle von theoretischen Zugängen zu Macht und Herrschaft, von
Theorien der Macht und Theoretisierungen von Herrschaftsverhältnissen (vgl.
Imbusch 1998; Hindess 1996; Han 2005; Kondylis 1992; Rolshausen 1997;
Maurer 2004; Honneth 1989; Luhmann 1988), die unterschiedliche Aspekte der
bezeichneten Phänomene beleuchten, verschiedenartig begründete Machtver-
ständnisse aufweisen und gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse konträr
reflektieren. Da diese hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden können,
gleichwohl das Feld aber in theoretischer Hinsicht etwas sortiert werden soll,
möchte ich die vielfältigen Diskussionen um Macht und Herrschaft um einige
zentrale Achsen herum organisieren und damit eher typologische Zugänge
deutlich machen.
Theorien der Macht lassen sich zunächst einmal grundlegend danach diffe-
renzieren, ob sie Macht im Sinne eines power to oder eines power over thematisie-
ren. Im ersten Fall würde die Möglichkeit bzw. die Fähigkeit eines Akteurs,
etwas zu tun, was er ansonsten nicht getan oder gekonnt hätte, im Vorder-
grund stehen, im letztgenannten Fall be- oder verhindert ein Akteur Handlun-
gen oder Verhaltensweisen anderer Personen. In einem Fall wird also auf die
förderliche Fähigkeit abgehoben, allein oder zusammen mit anderen bestimmte
Ziele zu erreichen, im anderen Fall steht eine Machtausübung, die wesentlich
Kontrolle über andere anstrebt, im Mittelpunkt.
Damit gehen zugleich positive oder negative Bewertungen von Macht und
unterschiedliche Legitimationsstandards einher. Während die einen hier Macht
neutral als einen allgemeinen menschlichen Handlungsmodus betrachten und
Möglichkeitsspielräume betonen, beschäftigen sich die anderen mit den un-
gleich verteilten Machtressourcen und Machtmitteln und weisen auf die daraus
resultierenden Ungleichgewichte hin, thematisieren also stärker Überwälti-
gungsaspekte von Macht. In der empirischen Machtforschung hat dies z.B. zur
Folge, dass einerseits die Legitimität und Pluralität von Eliten betont wird,
andererseits auf die Konzentration und Bündelung von Befugnissen bei
Machteliten hingewiesen wird, die partikularistische Interessen durchzusetzen
vermögen (vgl. Hradil & Imbusch 2003). Eine skeptische Bewertung von
Macht findet sich typischerweise bei machtschwächeren Gruppen; aber auch
wirkliche Machthaber thematisieren nicht gerne ihre Macht und weisen statt-
dessen lieber auf ihren begrenzten Einfluss hin.
Sodann ließen sich Machtverständnisse danach unterscheiden, ob ihnen ein
weiter Machtbegriff oder ein enger Machtbegriff zu Grunde liegt. So gehen
414 Peter Imbusch

manche Ansätze davon aus, dass alle menschlichen Beziehungen und alle Be-
reiche des gesellschaftlichen Lebens quasi kapillarisch von Macht durchdrun-
gen sind, Macht sozusagen ein allgegenwärtiges und ubiquitäres Phänomen ist,
wohingegen andere den Machtbegriff auf bestimmte soziale Tatbestände zu
begrenzen versuchen und ihn eher dosiert zur Anwendung bringen. Eine Mik-
rophysik der Macht, die zwar zur genaueren Thematisierung von verborgenen
Machtphänomenen, aber auch zu einer semantischen Ausdehnung geführt und
einer Inflationierung von Macht Vorschub geleistet hat, stehen hier auf analyti-
sche Genauigkeit abzielende Machtverständnisse gegenüber, die Macht als
konkretes gesellschaftliches Steuerungsmedium verstehen und ihren Geltungs-
bereich einzugrenzen versuchen.
Machttheorien ließen sich des Weiteren danach differenzieren, ob sie eher
einen dezisionistischen bzw. exekutiven Machtbegriff besitzen oder einem
kommunikativen Machtbegriff frönen. Auf der einen Seite stünden dann
Machtverständnisse, die auf die konkrete Überwindung von Widerstand und
die Konfliktivität von Gesellschaften abzielen, die Macht an bestimmte Kräfte-
verhältnisse binden und an sozialstrukturelle Aspekte rückkoppeln; auf der
anderen Seite stünden jene Theorien, die in Macht primär ein Kommunikati-
onsmedium, ein Mittel der Verständigung oder überhaupt die Grundlage für
gemeinschaftliches Handeln sehen. Im letztgenannten Fall hätte Macht immer
auch eine normative Komponente, im erstgenannten Fall nicht. Gewalt würde
so einerseits ein Phänomen der Macht bilden, andererseits wären Macht und
Gewalt strikte Gegensätze.
Schließlich ließen sich Theorien der Macht auch nach den dahinter stehen-
den Gesellschaftsverständnissen differenzieren. So wären etwa handlungstheo-
retische Machtverständnisse von struktur- oder systemtheoretischen zu unter-
scheiden und es ließen sich intermediäre Ansätze erkennen, die in unterschied-
licher Form verschiedene Aspekte der Macht zusammen zu bringen versuchen.
Auch in Bezug auf die Herrschaftsproblematik lässt sich ein ganz unter-
schiedlicher wissenschaftlicher Umgang erkennen. Individualistisch orientierte
Theorien oder rationale Akteursmodelle, die vom Menschen als einem egoisti-
schen Nutzenmaximierer ausgehen, sehen in der Herrschaft mit ihren stabilen
Formen der Über- und Unterordnung einen nützlichen und allseits vorteilhaf-
ten Ordnungs- und Koordinationsmechanismus, mit dessen Hilfe das Handeln
vieler Einzelner koordiniert werden kann. Gehorsam und Anerkennung der
Herrschaft werden hier mit individuellen Vorteilsüberlegungen begründet.
In vielen Gesellschaftstheorien bzw. Sozialtheorien gilt Herrschaft dagegen
als eine allgemeine soziale Regelungs- und Beziehungsform, deren Vor- und
Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens 415

Nachteile sich in konkreten Analysen unterhalb des abstrakten Herrschaftsbeg-


riffs erweisen müssen. Hier ist das Angebot an Theorien außerordentlich breit
und das Spektrum der Untersuchungsgegenstände kaum noch überschaubar, so
dass stärker herrschaftskritische neben herrschaftsaffirmativen Bezugnahmen
existieren.
Schließlich gibt es eine Reihe von kritischen und marxistisch orientierten
Theorien, die Herrschaft als einen Macht- oder Konfliktregelungsmechanismus
auffassen und darauf hinweisen, dass Herrschaft mehr oder weniger stabile
Formen hierarchischer Ordnung hervor bringt, die keinesfalls für alle gleicher-
maßen vorteilhaft sind. Sie verweisen bei ihrer Kritik an Herrschaft auf Abhän-
gigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse, betonen den Zwangscharakter von
Herrschaft und die anzutreffende Willkür der Machtausübung, erinnern an
Gewaltherrschaften und wollen Herrschaft insgesamt möglichst minimieren,
weil sie einer demokratischen Konstitution der Gesellschaft ein Stück weit
entgegen steht. Der Legitimierbarkeit von Herrschaft stehen sie grundsätzlich
skeptisch gegenüber.

5 Ein Ausblick: Macht und Medien


Abschließend möchte ich das Gesagte nicht noch einmal zusammen fassen,
sondern eher einige weiterführende Linien der Diskussion um Macht hervor
heben, um dann Anschlussmöglichkeiten an das Feld der Medien aufzuzeigen.
Betrachtet man Macht und ihre Wirkungsweise differenziert und unterzieht
sie einer nüchtern-sachlichen Analyse, dann ist sie kein gutes Objekt für allge-
meine Entrüstung. Zu vielfältig ist die Bedeutung von Macht, zu vielgestaltig
sind die Akteure, die Macht einsetzen können, zu bunt sind die Machtfelder,
und zu mehrdimensional ihre Quellen, Mittel und Wirkungen.
Gleichwohl sollte das Thema Macht angesichts seiner engen Bezüge zu so-
zialer Ungleichheit mit gesunder Skepsis, aber nicht fixiert auf das Böse
schlechthin betrachtet werden. Denn Macht hat grundlegend mit sozialer Hie-
rarchisierung und der Ausbildung sozialer Ränge zu tun. Macht und Herrschaft
sind in Gesellschaftsformationen und sozialen Figurationen mit der ungleichen
Verteilung von gesellschaftlich relevanten Ressourcen verknüpft. Die wesentli-
che Bedingung für eine effektive Machtausübung bleibt die Asymmetrie der
wechselseitigen Abhängigkeit (vgl. Giddens & Held 1982).
Pauschalurteile über alle Formen der Macht sind auch deshalb inadäquat,
weil nicht erst moderne Gesellschaften mit vielfältigen Machtprozessen und
Herrschaftsstrukturen durchzogene Ordnungsgebilde sind. Was moderne Ge-
416 Peter Imbusch

sellschaften allerdings von früheren „traditionellen“ Gesellschaften unterschei-


det, ist, dass Macht und Herrschaft keine unhinterfragten und unhinterfragba-
ren sozialen Phänomene mehr darstellen, sondern begründungs- und legitimie-
rungsbedürftig werden. Die mit ihnen einhergehenden sozialen Ungleichheiten,
unterschiedlichen Kapitalausstattungen und sozialen Chancen der Menschen,
Über- und Unterordnungsverhältnisse und Abhängigkeiten können seit der
Aufklärung nicht mehr als Ausdruck eines göttlichen Willens oder anderweiti-
ger transzendentaler Mächte aufgefasst werden, sondern müssen als – wie auch
immer vermittelt – von Menschen gemacht verstanden werden. Macht und
Herrschaft müssen daher als ubiquitäre Phänomene menschlicher Gesellschaf-
ten gelten. Da macht- und herrschaftsfreie Gesellschaften Utopien geblieben
sind, kommt es entscheidend auf die Art und Weise ihrer Organisation an –
gerade letztere ist jedoch heftig umkämpft (vgl. Greven 1991; Gebhardt &
Münkler 1993; Frisch 1996). Macht und Herrschaft stellen nicht zuletzt deshalb
eine Herausforderung für menschliche Gesellschaften dar, weil sie dauerhaft
und unvermeidlich Konflikte über ihre Geltungsgrundlagen und ihre Gel-
tungsbereiche produzieren. Das verweist nicht nur auf die anhaltende Aktuali-
tät der mit den Begriffen bezeichneten Phänomene, sondern auch darauf, dass
die Begriffe und ihre jeweilige Interpretation immer Teil größerer ideologischer
Auseinandersetzungen waren und zentrale Bezugspunkte gesellschaftspoliti-
scher Debatten darstellten.
Wie lassen sich nun Macht und Medien zusammen bringen? Fünf Kontexte
scheinen mir bedeutsam zu sein, die jeweils unterschiedliche Bezüge von Macht
und Medien herzustellen erlauben:
ƒ Medien verfügen über Macht: Medien wie Zeitungen, Rundfunk und das Fern-
sehen sind selbst mächtige Institutionen, die mit dem Medium Informati-
on, aber auch der Themensetzung bzw. -unterschlagung, Meinungsmache
und Ideologien Einfluss auf gesellschaftliche Akteure und die öffentliche
Meinung ausüben können. Sie üben dabei eine Art kommunikativer Macht
aus. Medien können über die Art der Berichterstattung, die Struktur des
Informationsangebots und die vielfältigen Manipulationsmöglichkeiten
mittels Sprache/Worten, Bildern sowie der generellen Art der Darstellung
von gesellschaftlich relevanten Sachverhalten Macht- und Herrschaftsver-
hältnisse unterminieren oder stabilisieren. Macht und Einfluss sind in der
Regel an vermachtete Interessen rückgekoppelt und werden von Journalis-
ten transportiert, so dass sich nicht umsonst in beinahe allen Institutionen
Kodizes über den verantwortlichen Umgang mit der eigenen Macht fin-
den.
Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens 417

ƒ Medien kontrollieren Macht: Neben der überragenden Rolle der Medien in der
Informationsvermittlung kommt den Medien im demokratischen Verfas-
sungsstaat auch eine Rolle als „vierter Gewalt“ und als Kontrollinstanz ge-
genüber den Mächtigen zu. Insbesondere in Selbstbeschreibungen der Me-
dien findet sich diese Funktion der Machteinhegung und der Kontrolle ge-
genüber den sich unter Umständen verselbständigenden Machtgelüsten
von Politik und Wirtschaft, aus der wichtige Legitimationen für sie er-
wachsen. In diesem Sinne können Medien ein ausgleichender Machtfaktor
sein, der die Machtfülle von Mächtigen einschränkt.
ƒ Medien bieten ein Forum für Macht: Medien dienen sich aber auch den Mächti-
gen an, sie bedienen die Medienfixierung der Mächtigen im Zeitalter eines
allmächtigen Info- und Politainments (vgl. Bourdieu 1998; Dörner 2001)
und bieten ihnen Möglichkeiten zur Selbstdarstellung, zur Präsentation,
zur Vermittlung von Nachrichten etc. Wer sagt was wo, wer verbreitet als
erster eine Nachricht, wer ist am nächsten dran an der Macht – das sind
einige der Essentials im alltäglichen Konkurrenzkampf um Top-
Nachrichten, Quoten, Absatzmöglichkeiten und Macht.
ƒ Medien sind ein Teil des gesellschaftlichen Machtsystems: Medien agieren nicht im
luftleeren Raum, sie sind Instanzen, in denen es zwar um die Ware Infor-
mation, aber nicht immer um wahre Information geht. Als Organisationen,
die mit unterschiedlicher Machtfülle ausgestattet sind, fügen sie sich in an-
dere Machtstrukturen und -hierarchien ein oder konstituieren solche selbst.
Zwar hängen Reichweite und Wirkungsmöglichkeiten vom konkreten Ty-
pus des Mediums ab, Medien strukturieren aber auf jeden Fall den Blick
auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse und können dazu beitragen, solche
durchsichtig zu machen oder zu verschleiern.
ƒ Medien sind selbst vermachtete Organisationen: Als solche haben sie zunächst
einmal ein Interesse an der Reproduktion ihrer eigenen Macht. Des Weite-
ren sind sie als hierarchische Institutionen mit verschiedenen Machtebenen
durchzogen, auf denen es unterschiedliche Befugnisse und Autoritätsver-
hältnisse gibt. Den bei ihnen beschäftigten Menschen geht es immer auch
um Macht und Einfluss, insofern finden permanent Machtkämpfe in ihnen
statt. In den Medien wird zudem auf höchst unterschiedliche Weise und
mit verschiedenartigsten Mitteln um Macht gekämpft.
Dies sind nur einige wenige, keineswegs erschöpfende Stichworte zum Thema
Macht und Medien. Es ließen sich noch andere Kontexte denken, innerhalb
derer einschlägige Thematiken bearbeitbar wären. Die Untersuchung von
418 Peter Imbusch

Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnissen in den Medien ist zweifellos ein


wichtiges und spannendes, aber erst noch zu erschließendes Feld für Macht-
studien.

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Journalismus und Macht: Ein
Systematisierungs- und Analyseentwurf

Klaus-Dieter Altmeppen

1 Journalismus und Macht: Begriffsfacetten


Pressefreiheit und Pressegrundrechte, Medienzensur und Selbstzensur, Redak-
tionsstatute und redaktionelle Autonomie, Meinungsmacht und Marktmacht:
Die Wechselwirkungen von Macht und Journalismus werden in einer Vielzahl
von Begriffen ausgedrückt, die den facettenreichen Mechanismen von Macht-
verhältnissen im öffentlichen Raum nachspüren. Die Vermachtung der Öffent-
lichkeit (vgl. Baum 1994: 145 ff.) durch das Handeln und Wirken von Journa-
lismus und Medien läuft in vielen Studien implizit mit, etwa immer dann, wenn
es um den Einfluss der Berichterstattung geht. Explizit jedoch wird Macht
zusammen mit Journalismus kaum einmal thematisiert, eine „aktuelle Konturie-
rung der Kategorie Macht bezogen auf Medien liegt nicht vor.“ (Leidinger
2003: 57)
Macht ist eben eine schwierige Angelegenheit. Macht haben, Macht aus-
üben, Macht kontrollieren: Die Verben, mit denen Machtverhältnisse beschrie-
ben werden, verraten, dass Macht erstens ein aktiver Vorgang ist und zweitens
ein relationaler. Macht entsteht in sozialen Prozessen, in denen einzelne Perso-
nen, Gruppen oder Institutionen aktiv dominante Herrschaftsformen gegen-
über anderen anstreben. Macht als relationales Konstrukt bezeichnet die Tatsa-
che, dass Macht eine Ausdrucksform von Interaktionen in sozialen Beziehun-
gen ist.
Soziale Beziehungen und Prozesse sind höchst komplexe Abläufe mensch-
lichen Handelns, dementsprechend sind Machtverhältnisse ebenfalls höchst
komplexe, ineinander verschachtelte Handlungsformen. Dies wird auch im
Beitrag von Imbusch (in diesem Band) deutlich, der die Vielfalt der Konstrukte
von Macht veranschaulicht. Sein Resümée umreißt diejenigen Machtverhältnis-
se, die im Hinblick auf die Macht der Medien relevant sind und die zugleich
422 Klaus-Dieter Altmeppen

sehr verschiedene Ebenen machtvoller Medien aufzeigen, als Macht in, durch
und von Medien. Allerdings geht es in diesem Band und so auch in diesem
Beitrag um die Macht des Journalismus. Ist damit automatisch auch die Macht
der Medien eingeschlossen? Und, hinsichtlich der Medien, sind damit Personen
(welche?) gemeint oder Organisationen? Ganz offensichtlich spricht Imbusch
nicht allein von – in der Medien- und Kommunikationswissenschaft – so do-
minanten Konzepten wie der Meinungsmacht oder der Marktmacht. Wer aber
übt die Meinungsmacht aus und worauf beruht Marktmacht? Sind marktmäch-
tige Medien wie die privat-kommerziellen Fernsehsender gleichzeitig auch
meinungsmächtig, obwohl ihre politische Berichterstattung nur einen geringen
Programmanteil ausmacht? Lässt sich Meinungsmacht überhaupt auf politische
Information eingrenzen? Auch Unterhaltungsangebote dürften Einfluss haben
und durchaus auch zu politischer Meinungsmacht beitragen (vielleicht auch nur
als Bestätigung der Abkehr vom Politischen). Unterhaltungsangebote haben
aber auf alle Fälle Einfluss auf Lebensstile und Freizeitverhalten und in Kom-
bination mit der Werbung kann durchaus von Unterhaltungsprogrammen ge-
sprochen werden, die gezielt und geplant, also machtvoll, das Publikumsinte-
resse ansprechen und Bedürfnisse wecken sollen.
Die Dimensionen von Macht und Journalismus provozieren mehr Fragen
(deren Anzahl sich beliebig erweitern ließe) als Antworten parat stehen. Dies
hat zwei Gründe. Erstens ist der Komplex von Macht und Journalismus ein
Desiderat in der Forschung. Machtfragen im Journalismus laufen (so etwa bei
Erhebungen über das Selbstverständnis der Journalisten) gleichsam implizit
mit. Inwieweit Einstellungen Handlungsrelevanz haben, und zwar als gewollt
machtvoll durchgesetzte Dispositionen, bleibt im Dunkeln (vgl. für den Zu-
sammenhang von Einstellungen und Handlungsrelevanz Scholl & Weischen-
berg 1998; für Macht im Zusammenhang mit kulturalistischen Ansätzen zum
Beispiel Lünenborg 2005).
Der zweite Grund liegt in der Dominanz – und gleichzeitigen Reduzierung
– der Machtfragen des Journalismus auf die zwei Faktoren der Meinungs- und
Marktmacht. Damit beschäftigen sich insbesondere die politische Kommunika-
tion und die Medienökonomie. Meinungsmacht richtet sich auf die durch die
Berichterstattung gegebene Möglichkeit, die öffentliche Meinung zu beeinflus-
sen. „Die entscheidende Macht der Massenmedien“, so Gerhards (1991: 58)
„beruht auf der Tatsache, daß sie öffentliche Meinung generieren, die Einfluß
auf die Meinungsbildung und die Ausbildung von Wahlpräferenzen nimmt.“
Bei der Marktmacht stehen die Aspekte von Medienkonzentration und Mono-
polbildung im Vordergrund, beide Machtbegriffe bilden einen engen Zusam-
Journalismus und Macht 423

menhang immer dann, wenn es um die publizistische Vielfalt geht (vgl. Hein-
rich 1999: 231f., Karmasin 1998: 182 ff.).
Wirtschaftliche und publizistische Vielfalt, und damit Macht, bilden einen
engen Zusammenhang (vgl. die Beiträge in Schatz, Jarren & Knaup 1997), der
aus dem dualen Charakter der Medienprodukte als Ware und als Kulturgut
resultiert. Die Verfügungsmacht über die Produktion und Distribution dieser
Güter eröffnet sowohl ökonomische wie publizistische Machtoptionen. Daher
hat die Medienkonzentrationspolitik nicht nur „die Entstehung und den Miss-
brauch von Marktmacht zu verhindern [...], sondern auch die Entstehung und
den Missbrauch von Meinungsmacht.“ (Seufert 1997: 258)
Neben diesen Machtformen verblassen weitere Machtfaktoren und auch bei
diesen beiden Konstrukten werden die Verästelungen von Macht, wie Imbusch
(in diesem Band) sie aufzeigt, nur vereinzelt aufgegriffen. Zudem lässt sich in
den Analysen eine diffuse, keineswegs begrifflich immer eindeutige Koinzidenz
von Medien und Journalismus sowie von Journalismus und Journalisten fest-
stellen. Damit bleibt unklar, wo beispielsweise Machtzentren lokalisiert werden
können. Lässt sich das an einzelnen Journalisten festmachen, an Redaktionen,
an bestimmten Sendungen oder Printtiteln, oder ist das Medienmanagement
ein Machtfaktor?
Für einen ersten Versuch, diesen Komplex zu sortieren, zu systematisieren
und damit zu differenzierteren Analysen zu gelangen, werden im Folgenden,
nach einer Definition des Machtbegriffs als Verfügung und Kontrolle über
Ressourcen und Ereignisse (Abschnitt 2), in einem zweiten Schritt die von
Imbusch aufgezeigten Dimensionen des power to and power over aufgegriffen
(Abschnitt 3). Dies dient zum einen dazu, Macht danach zu unterscheiden, wer
sie ausübt: Beantwortet werden soll die Frage, ob Journalisten oder journalisti-
sche Organisationen oder Medienorganisationen die Machthaber sind. Zur
Machtausübung bedienen sich die Machthaber ferner bestimmter Machtquel-
len, -mittel und -formen, die zum zweiten im Hinblick auf Journalismus kon-
kretisiert werden sollen. Im vierten Schritt werden diese Machtdimensionen
und -formen beispielhaft anhand ihrer Geltung, Intensität und Reichweite im
Journalismus geprüft (Abschnitt 4).

2 Macht: Eine Begriffsdefinition


Macht ist ein schillernder Begriff, auch weil sie nicht als Eigenschaft (den Ak-
teuren, Akteurkonstellationen, Organisationen) zugeschrieben werden kann.
Macht ist nicht gegenständlich oder unmittelbar sichtbar, Macht ist eine „weit-
424 Klaus-Dieter Altmeppen

hin unsichtbare Eigenschaft sozialer Beziehungen.“ (Imbusch 1998: 9) Als


Bestandteil von Beziehungen stellt Macht eine relationale Größe dar, die sich in
sozialen Beziehungen entfalten kann. Der Begriff „Machthaber“ ist, wenn er
generalisierend verwendet wird, irreführend. Macht ist kein Zustand unverän-
derlichen Besitzes, sie kann nur auf eine bestimmbare Beziehung bezogen
werden. Deshalb sind Medien nicht generell Meinungsmachthaber, nur be-
stimmte Medien können zu einem bestimmten Zeitpunkt und im Hinblick auf
spezifische andere Beteiligte als Machtfaktor gelten, und auch innerhalb sozia-
ler Beziehungen können Machtverhältnisse wechseln.
In vielen weiteren Fällen dagegen dürften Medien machtlose Berichterstat-
ter sein, was aber auch schon wieder viel über Machtbeziehungen aussagt, denn
als Bestandteil sozialer Beziehungen laufen Machtdimensionen in allen Interak-
tionen mit. Sie können, aber sie müssen nicht virulent werden. Dies ist der
Grund, warum Machtkonfigurationen als zentrale Form der Vergesellschaftung
angesehen werden, aber als sozial amorph gelten. Machtkonfigurationen sind
ein komplexes wechselseitiges Geflecht sozialer Beziehungen, und sie sind
asymetrisch, aber eben nicht dauerhaft in eine Richtung asymetrisch, sondern
können auch in ihrer Richtung durchaus wechseln.
Diese grundlegenden Ansichten zur Macht sowie eine nach wie vor zentrale
Machtdefinition stammen von Max Weber (2005 [1909]: 38), der Macht
verstand als
jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen
Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. (…) Der
Begriff Macht ist soziologisch amorph. Alle denkbaren Qualitäten eines Men-
schen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen,
seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen.

Webers Definition ist seither weiter entwickelt und umgedeutet worden, wobei
vor allem versucht wurde, spezifischere Begriffe zu finden als „alle denkbaren
Qualitäten und Konstellationen“. Insbesondere die Konstellationen sind dazu
konkreter benannt worden. Im Ergebnis wird Macht als eine Beziehungsgröße
zwischen Akteuren/Akteurkonstellationen mit aufeinander bezogenen Hand-
lungen verstanden, wobei die Handelnden Interessen haben, die auf gleiche
Ereignisse und Ressourcen bezogen sind. Eine Machtbeziehung ist demnach
der Bedingungs- und Bedeutungsrahmen, der die Umsetzung der [...] Verhal-
tensbereitschaften in konkretes Handeln, d.h. den konkreten sozialen Austausch
im Sinne eines Austausches oder einer gegenseitigen Übertragung von Kontrolle
über Ressourcen und Ereignisse verständlich bzw. verstehbar macht. (Küpper &
Felsch 2000: 21)
Journalismus und Macht 425

Hier ist der eigene Wille aus Webers Definition erkennbar, reformuliert als
Interesse an der Erreichung von Zielen. Zur Durchsetzung der getroffenen
Entscheidungen können Akteure handelnd Macht gebrauchen, um Ereignisse
oder Ressourcen zu kontrollieren. Den Aspekt der Kontrolle von Ressourcen
hat Giddens mit seiner Strukturationstheorie um den aktiven Aspekt erweitert,
wenn er darauf hinweist, dass die Akteure zur Durchsetzung ihres Willens
Ressourcen mobilisieren können. Ressourcen sind somit nicht nur Faktoren,
die durch Macht beherrscht werden sollen, sondern Ressourcen sind selbst
gleichfalls Machtquellen und Machtmittel, da die Verfügbarkeit und der Einsatz
der Ressourcen über die Stärke der Machtausübung entscheiden. Ein wesentli-
cher weiterer Mechanismus des rekursiven Ressourcenbegriffs von Giddens
liegt darin, dass Ressourcen unterteilt werden: allokative Ressourcen beziehen
sich auf Formen des Vermögens zur Umgestaltung der Herrschaft über Objek-
te, Güter oder materielle Phänomene, autoritative Ressourcen „beziehen sich
auf Typen des Vermögens zur Umgestaltung, die Herrschaft über Personen
oder Akteure generieren.“ (Giddens 1997: 86). Während der Besitz eines Me-
dienunternehmens beispielsweise eine typische allokative Ressource ist, kann
ein Journalist die Reputation der ihn beschäftigenden Zeitung als autoritative
Ressource einsetzen, um Zugang zu Recherchequellen zu erlangen.
Da Machtbeziehungen auf Handlungsakten gründen, bei denen die Han-
delnden (gleichgerichtete oder unterschiedliche) Interessen vertreten, entstehen
quasi automatisch Macht- und Verteilungskonflikte. Auch wenn Macht nicht
automatisch mit Konflikt verbunden ist, wendet ein Akteur Machtausübung
regelmässig an als „Versuch, die anderen Akteure innerhalb der Machtbezie-
hung zu veranlassen, ihre Verhaltensbereitschaften in das von ihm gewünschte
konkrete Verhalten zu überführen.“ (Küpper & Felsch 2000: 21)
Die Machtausübung ist gekoppelt an das Vermögen des Akteurs, seine An-
sprüche und Interessen durchzusetzen. Vermögen bedeutet, dass Machtaus-
übung selbst wiederum daran gebunden ist, dass bestimmte Machtmechanis-
men vorhanden sind. „Ein wesentliches Element von Machtbeziehungen sind
daher die Optionen, über die die beteiligten Akteure verfügen und die es ihnen
ermöglichen, ihr Verhalten ungewiss zu halten.“ (Theis-Berglmair 1997: 27) Je
größer die Optionen sind, je mehr Optionen bestehen, über Machtmittel und -
mechanismen zu verfügen, umso größer ist die Chance der Machtausübung der
Akteure, denn die Wahl zwischen Optionen erhöht den Handlungsspielraum
des Akteurs. Eine Wahl zwischen mehreren Optionen vergrößert die Unsi-
cherheit bei den weiteren Beteiligten der Machtbeziehungen, allerdings nur
dann, wenn die Optionen relevant sind für die Beteiligten (vgl. Crozier &
426 Klaus-Dieter Altmeppen

Friedberg 1979: 43), denn: nur wenn das zu behandelnde Problem oder das
Interesse der Beteiligten gleichgerichtet ist, kommt es zu Machtspielen mit
Zugewinn oder Verlust von Macht. Machtzuwachs bedeutet in solchen Situati-
onen, dass ein Akteur grössere Fähigkeiten der Kontrolle entwickeln kann, ein
Machtverlust bedeutet dementsprechend vor allem, dass die Verfügung über
Ressourcen weniger oder gar nicht mehr aktiviert werden kann und dass die
Kontrolle über die Ereignisse den Akteuren immer mehr entgleitet. Mit der
aktuellen Machtausübung sollen immer Handlungsoptionen vergrößert und
Unsicherheitszonen verringert werden (vgl. Röttger 2000: 158).
Macht ist zusammengefasst eine relationale Größe in sozialen Beziehungen,
bei denen Interessen, die von den Beteiligten gleichermaßen auf Ressourcen
und Ereignisse gerichtet sind, machtvoll durchgesetzt werden. Dies bedeutet,
dass die Beteiligten – Akteure, Akteurkonstellationen und Organisationen –
spezifisches Vermögen (wie etwa die Mobilisierung von Ressourcen) zur
Durchsetzung ihrer Interessen besitzen.

3 Journalismus und Macht: Analysedimensionen


Auch eine Machtdefinition als die Verfügung über Ressourcen und Kontrolle
von Ereignissen erfordert es zu klären, wer die Macht besitzt (power to) und
über wen Macht ausgeübt wird (power over). Machthaber und Betroffene von
Machtausübung können einzelne Personen sein wie auch Organisationen, wo-
bei aufgrund des relationalen Verhältnisses von Macht Personen oder Organi-
sationen in der einen Situation Macht ausüben, in der anderen Situation Leid-
tragende von Machtausübung sein können. Diese wechselseitigen Machtver-
hältnisse gilt es zu berücksichtigen, wenn dargelegt wird, dass einzelne Journa-
listen ebenso Machthaber sein können wie journalistische Organisationen. Als
weiterer Machtfaktor kommen Medienorganisationen hinzu, die nicht
umstandslos mit journalistischen Organisationen gleichgesetzt werden können.
Da sich die Leistungen und Strukturen beider Organisationen unterscheiden,
existieren auch Unterschiede in den Machtverhältnissen. Diese Unterschiede
der Macht für und über Journalisten, journalistische Organisationen und Me-
dienorganisationen stehen im Fokus der folgenden Abschnitte.

3.1 Journalismus und Macht: Für wen?


Macht spielt eine Rolle in den Beziehungen zwischen Redakteuren und Redak-
tionsmanagement (Entscheidungshierarchie), sie spielt eine Rolle in den Bezie-
Journalismus und Macht 427

hungen zwischen Journalisten und ihren Interviewpartnern, Akteurkonstellati-


onen wie Rundfunkräte agieren innerhalb machtvoller Beziehungen mit dem
Medienmanagement, und Organisationen wie die Landesmedienanstalten oder
die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK)
stecken in machtdurchsetzten Verhandlungen mit den Medienorganisationen.
Macht kann, soviel wird deutlich, ausgeübt werden von Personen oder Akteu-
ren, von Akteurkonstellationen und von Organisationen. Hinsichtlich des Be-
ziehungsgefüges von Journalismus und Macht stellt sich also die Frage: Macht
für wen? Die Frage zielt auf die eine der beiden grundlegenden Unterscheidun-
gen zur Macht, das power to als die Möglichkeit oder Fähigkeit eines Akteurs,
etwas zu tun, was er ohne Machtmittel nicht hätte tun können.
Grundsätzlich stecken im Bedingungsgefüge des Journalismus die einzelnen
Akteure (Journalisten) genauso wie die journalistischen Organisationen (Redak-
tionen, Ressorts, Newsrooms) in Machtbeziehungen, wobei schon allein das
Verhältnis von Journalist und journalistischer Organisation höchst charakteris-
tische Machtbeziehungen konstitutiert (Vertragsverhältnis, Hierarchie, Selbst-
verständnis), die im Folgenden noch näher thematisiert werden. Von erhebli-
cher Bedeutung scheint uns aber noch eine weitere Differenzierung zu sein: die
zwischen journalistischen und Medienorganisationen.
Aus organisationaler Perspektive lassen sich Journalismus und Medien als
eigenständige Organisationen ansehen, die funktional autonom, aber organisa-
tional abhängig sind (vgl. zum Folgenden Altmeppen 2006: 201 ff.). Diese
Abhängigkeit besteht wechselseitig, denn die Kernkompetenz des Journalismus
ist die aktuelle Informationsproduktion, der Journalismus verfügt jedoch nicht
über die Möglichkeit der Distribution. Diese Leistung erfüllen die Medienorga-
nisationen, sie benötigen dafür aber quasi im Gegenzug Inhalte.
Aus dieser Konstellation ergeben sich wechselseitig Erwartungen, Anpas-
sungen und Abhängigkeiten zwischen der Informationsproduktion (der journa-
listischen Organisationen) und der Mitteilungsleistung (der Medienorganisatio-
nen). Erwartungen, Anpassungen und Abhängigkeiten werden über die Ko-
Orientierung geregelt, über die Kommunikation der sozialen Beziehungspart-
ner und über strukturelle Arrangements. Ko-Orientierung bedeutet, dass sich
die journalistischen Organisationen (wie Redaktionen oder Ressorts) und die
Medienorganisationen nicht nur beständig beobachten, sondern sie versuchen,
sich gegenseitig zu beeinflussen oder passen sich wechselseitig an. Diese Ko-
Orientierung verläuft nolens volens über Mechanismen der Macht, wie Beein-
flussung, Druck oder Anpassung. Der Grund dafür liegt darin, dass die Me-
dienorganisationen die journalistischen Organisationen für ihre Informations-
428 Klaus-Dieter Altmeppen

leistungen bezahlen, wobei der Begriff des Zahlens hier als Metapher zu ver-
stehen ist. Die Medienorganisationen bezahlen nämlich, indem sie den journa-
listischen Organisationen Ressourcen zur Verfügung stellen. Dieses Tauschge-
schäft, Informationsprodukte gegen Ressourcen, begründet eine Reihe von
strukturellen und sozialen Machtbeziehungen zwischen journalistischen und
Medienorganisationen.
Die Frage nach den „Machthabern“ ist folglich dreifach zu beantworten
(vgl. Abbildung 1), mit den Journalisten, den journalistischen Organisationen
und den Medienorganisationen. Alle drei potenziellen „Machthaber“ stehen in
komplexen wechselseitigen Machtbeziehungen und in komplexen Machtbezie-
hungen mit ihrer Umwelt.

Abbildung 1: Journalismus und Macht: Für wen?

MACHT

FÜR

Journalistische Medien-
Journalisten
Organisationen organisationen

Politik Wirtschaft PR Werbung


EINFLUSSNAHME

Angesichts dieser Unterscheidung von eigenständigen Medienorganisationen


und journalistischen Organisationen wird ersichtlich, dass die gewohnten
Machtbegriffe Meinungsmacht und Marktmacht unterschiedlich zuzuordnen
sind. Meinungsmacht ist an den Journalismus gebunden, denn die journalisti-
schen Organisationen leisten die informative Berichterstattung, mittels derer
Journalismus und Macht 429

Meinungsmacht überhaupt erst ausgeübt werden kann. In Attribuierungen wie


Leitmedien (Spiegel, Tagesschau) drückt sich diese Meinungsmacht aus. Auch
einzelne Journalisten können „Meinungsmachthaber“ sein, wenn sie einen
herausgehobenen Reputationsstatus haben wie etwa Hans Leyendecker stell-
vertretend für investigativen Journalismus oder Sabine Christiansen für politi-
sche Talkshows. Zu dieser Macht einzelner Journalisten trägt allerdings der
immer noch vorhandene Mythos des Berufs als frei, unabhängig und öffentlich
nicht unerheblich bei, weshalb dieser Mythos denn auch gerne zwischen Buch-
deckeln weitergegeben wird (vgl. Pörksen 2005).
Da Journalisten und journalistische Organisationen (in der Kombination
von individueller Entscheidung und strukturellen Zwängen) immer noch zu
einem nicht unerheblichen Teil die Schleusenwärter sind, die aus singulären
Aussagen öffentliche Erklärungen machen, stehen sie vielfach im Zentrum von
Einflussversuchen. Politik und Wirtschaft, aber auch die von ihnen instrumen-
talisierte Public Relations richten hocheffiziente Beziehungsstrukturen zu ein-
zelnen Journalisten wie auch zu journalistischen Organisationen ein, um ihre
öffentlichen Kommunikationsinteressen mit Macht durchzusetzen. Auch diese
Machtverhältnisse sind jedoch wie viele andere höchst facettenreich und kei-
neswegs unidirektional. Der Macht des Schleusenwärters über die Ressource
Schleuse (öffnen oder geschlossen halten) steht seine Abhängigkeit von der
Ressource Information gegenüber, was wiederum eine Machtquelle des Infor-
mationsträgers begründet. Eindeutig aber konstituieren sich machtvolle Bezie-
hungen der PR nicht zu Medienorganisationen, sondern zu Journalisten und
deren Organisationen, denn dort wird entschieden, welche Inhalte hergestellt
und welche von der Produktion ausgeschlossen werden. Meinungsmacht wird
in derartig diffizilen, von vielen Interessen geleiteten Beziehungsverhältnissen
produziert.
Die Marktmacht dagegen ist kein publizistisches, sondern ein ökonomi-
sches Phänomen und daher Sache der Medienorganisationen. Sie agieren im
Orientierungshorizont der Wirtschaft, ihre Handlungskriterien sind wirtschaft-
licher Provenienz. Ihr Machtpotential liegt nicht allein, aber in sehr viel grösse-
rem Maße als bei journalistischen Organisationen in allokativen Ressourcen.
Als Besitzer, Eigentümer oder Gesellschafter verfügen die Machthaber der
Medienorganisationen über Kapital, Rechte, Produkte und Sachvermögen, das
im Hinblick auf Marktmacht eingesetzt wird, um die Kosten- oder die Preis-
führerschaft zu erreichen, um Fusionen, Kooperationen und Beteiligungen der
Medienorganisationen untereinander und mit anderen Branchen zu schmieden.
Die Werbung ist dabei gleichzeitig Bündnispartner wie auch Gegner. Bündnis-
430 Klaus-Dieter Altmeppen

partner ist sie, weil werbefinanzierte Medien auf gute Beziehungen zur Werbe-
wirtschaft angewiesen sind. Gegner ist die Werbung, weil über Tarife, Preise
und Rabatte in oftmals zähen Verhandlungen entschieden wird, in denen die
Quote oder Auflage ein zentrales und mächtiges (oder im Falle des Misserfolgs
auf dem Rezipientenmarkt ohnmächtiges) Argument ist. Diese Bedeutung der
Quote spricht prinzipiell für eine Macht der Rezipienten, die aber real nicht
vorhanden ist, denn die Rezipienten müssten organisiert sein, um ihre gemein-
samen Interessen zu artikulieren und ihre Medienwahl möglicherweise kollektiv
als Machtmittel einsetzen zu können.
Da die Medienorganisationen für die Werbung der Verhandlungspartner
sind, richten sich auch die (machtvoll vorgetragenen) Beschwerden der Wer-
bewirtschaft über unerwünschte Berichterstattung an die Medienorganisatio-
nen, insbesondere das Medienmanagement. Vermittelt über die Ko-Orientie-
rung erreichen die Beschwerden dann die journalistischen Organisationen,
wobei das Medienmanagement die Ressourcen, mit denen es die journalisti-
schen Organisationen finanziert, als Machtmittel einsetzen kann.

3.2 Journalismus und Macht: Über wen oder was?


Die zweite grundlegende Differenzierung des Machtbegriffs drückt sich im
power over aus, der Frage, auf welche Weise Akteure oder Organisationen die
Handlungen Anderer be- oder verhindern können (vgl. Imbusch, in diesem
Band). Analog zu einem um das Verständnis der Strukturationstheorie erwei-
terten Machtbegriff müsste auch hier die Frage ergänzt werden, auf welche
Weise Akteure Macht nicht nur zur Verhinderung nutzen, sondern auch zur
Ermöglichung eines Handelns, das ihren Interessen und Zielen entspricht.
Motivation beispielsweise ist ein Element von Machtheorien, bei dem es nicht
um repressive, sondern um progressive Machtausübung geht.
Entsprechend unserer Definition von Macht ist die Frage im Grunde
schnell beantwortet: Es geht um Ressourcen und Ereignisse, die mittels der
Macht kontrolliert werden sollen, um interessengeleitete Ziele durchzusetzen,
zu sichern oder auszubauen. Damit ist die konkrete Beantwortung an eine
empirische Prüfung geknüpft, mit der festzustellen wäre, welche Ressourcen
und welche Ereignisse im Fokus der Machtbestrebungen stehen. Allerdings
müssen nicht alle Machtverhältnisse empirisch überprüft werden, da insbeson-
dere aufgrund struktureller Verhältnisse offenkundige Machtbeziehungen be-
stehen – so etwa bei Besitz und Hierarchie – deren Existenz keiner empiri-
schen Prüfung bedarf. Allerdings ist zum Beispiel gerade hinsichtlich der
Macht durch ökonomisches Kapital zu fragen, inwieweit publizistische Ziele
Journalismus und Macht 431

noch eine Rolle spielen, ob und wie diese Ziele durchsetzbar sind. Können
einzelne Journalisten, als Autoritätspersonen, publizistische Ansprüche durch-
setzen? Oder ist dies den journalistischen Organisationen vorbehalten, die als
Ganzes und mit Unterstützung ihres Redaktionsmanagements publizistische
Ziele erreichen können?

3.3 Macht worüber? Richtungen der Macht im Journalismus


Die Frage, wer Macht hat, ist gekoppelt mit der Frage, worüber Macht ausge-
übt wird. Auch beim power over ist demnach zu unterschieden, ob Journalisten,
journalistische Organisationen oder Medienorganisationen Macht über Res-
sourcen oder Ereignisse haben, wie in Abbildung 2 dargestellt. Es können
einzelne Journalisten oder Organisationen die Verfügung von Ressourcen und
die Kontrolle über Ereignisse im Hinblick auf andere Personen und Organisa-
tionen an streben; Journalisten oder journalistische Organisationen möchten
bestimmte institutionelle Arrangements (Tarifverträge, Redaktionsstatute, Re-
gularien der Selbstkontrolle) beeinflussen; Medienorganisationen wollen den
Wettbewerb diktieren oder Einfluss auf das Rezipientenhandeln erreichen. Für
all diese Ziele und Interessen können die Akteure auf unterschiedliche Macht-
quellen zurückgreifen und unterschiedliche Machtmittel sowie Formen der
Machtausübung anwenden (vgl. zur Unterscheidung dieser Kriterien den Bei-
trag von Imbusch in diesem Band). Welche Machttechniken angewendet wer-
den, entscheidet sich anhand der Ressourcen oder Ereignisse und der beteilig-
ten Akteure, die die jeweiligen Machtkonstellationen bilden.
Die Macht des einzelnen Journalisten dürfte, ausserhalb von Autorität oder
Position, eher gering sein. Die Ressourcen und Ereignisse, die Journalisten
kontrollieren wollen, sind im persönlichen Bereich die Karriere und das beruf-
liche Fortkommen sowie das Gehalt und das Ansehen der beruflichen Tätig-
keit. In ihrer Tätigkeit wollen Journalisten desweiteren die jeweiligen Arbeits-
prozesse kontrollieren, also etwa Recherchepartner und -wege festlegen oder
die Themenauswahl mitbestimmen. Journalistische Organisationen dagegen
streben, insbesondere in Form des Redaktionsmanagements, nach effizienter
Koordination der Arbeitsprozesse, nach Konsonanz oder manchmal auch nach
Exklusivität der Berichterstattung im Vergleich zu anderen Redaktionen. Sie
achten ferner auf die Reaktionen des Publikums, registrieren Veränderungen
des Rezipientenverhaltens und suchen darauf adäquat zu reagieren. Machtkons-
tellationen bilden sich in diesen Fällen vor allem zwischen einzelnen Journalis-
ten und der journalistischen Organisation bzw. deren Management.
432 Klaus-Dieter Altmeppen

Journalisten wie journalistische Organisationen müssen sich ferner mit insti-


tutionellen Arrangements auseinandersetzen. Dazu gehören Tarifauseinander-
setzungen zwischen den Sozialpartnern, der ständige Kampf um die Autono-
mie der redaktionellen Arbeit (Redaktionsstatute) und die Durchsetzung ethi-
scher Standards. Gerade bei der Aushandlung institutioneller Arrangements
treffen journalistische und Medienorganisationen regelmässig aufeinander, in
den turbulenten letzten Jahren der Medienindustrie mit immer schärferen Aus-
einandersetzungen. Dabei werden die Dauerthemen der Autonomie und der
Ethik zunehmend verdrängt von den Folgen der Kommerzialisierung. Längst
tritt eine große Zahl an Zeitungsverlagen die sogenannte Tarifflucht an. Im
weitgehendsten Fall verlassen die Verlage den Bundesverband der Deutschen
Zeitungsverlage und regeln Gehälter über Haustarifverträge. Aber auch Out-
sourcing, Leiharbeit und untertarifliche Bezahlung von Volontären gehören
mittlerweile zum Alltag.

Abbildung 2: Journalismus und Macht: Über wen oder was?


Journalistische Medien-
Journalisten
Organisationen organisationen

MACHT

ÜBER

Ressourcen / Ereignisse

Machtquellen Machtmittel Machtausübung

Personen: Journalisten Märkte


Wettbewerb Rezipienten
Organisationen: Redaktionen
Institutionen: Statute, Ethik, Tarife
Journalismus und Macht 433

Zwar scheint der Beziehungszusammenhang von Journalisten und Medienor-


ganisationen in der Tarifpartnerschaft derzeit mehrheitlich von sozialpartner-
schaftlicher Harmonie geprägt zu sein. Tarifverhandlungen verlaufen seit Jah-
ren in relativer Ruhe und Abgeschiedenheit, von Streik oder Schlichtung, wie
sie noch in den siebziger Jahren Ausdruck „antagonistischer Sozialstrukturen“
(Prott 1976: 376) waren, ist keine Rede. Die Antagonismen allerdings sind nicht
nur geblieben, sie werden schärfer aber auch subtiler vollzogen. Mit dem Aus-
stieg aus den tarifvertraglichen Bindungen verlassen die Arbeitgeber einen
Machtraum, der durch Regeln des Miteinanders und der Einigung geprägt ist.
Ausserhalb dieses Machtraumes lassen sich die Interessen der Medienorganisa-
tionen ganz offensichtlich sozusagen in „freierer Wildbahn“ durchsetzen. O-
der, wie Kiefer (2002: 498) formuliert hat: „Wer den Verwüstungen des Wett-
bewerbs widerstehen will, muss selbst einen Machtfaktor darstellen.“ Dass
Widerstand der Journalisten offenbar ausbleibt oder nur innerhalb betroffener
Medienunternehmen stattfindet, ist ein erstes Resultat der Singularisierung
medienunternehmerischer Interessen: Befreit von tarifvertraglichen Bindungen
können die Medienorganisationen vor dem Hintergrund des prekären journalis-
tischen Arbeitsmarkts sehr viel machtvoller auftreten. Dass der Fahrstuhl der
Wohlstandsgesellschaft die Journalisten darüber hinaus offensichtlich in eine
komfortable Zone hinaufbefördert hat, trägt dazu bei, dass die Organisation
arbeitnehmerischer Interessen, eine Grundvoraussetzung für Gegenmacht,
nahezu völlig ausfällt.
Die geringen tariflichen Auseinandersetzungen aufgrund der tiefgreifenden
Re-Strukturierungen in journalistischen Organisationen sind ein herausragen-
des Beispiel der Erhaltung und Sicherung sowie des Ausbaus von Macht über
Ressourcen (Personal, Gehalt, organisationale Struktur) und Ereignisse (tarif-
vertragliche Bindungen). Dabei dient die Organisation als eine Machtquelle sui
generis mit ganz entscheidenden Wirkungen.

3.4 Macht wodurch? Machtquellen, Machtmittel, Machtausübung im Journalismus


Von entscheidender Bedeutung bei der Bewertung von Macht sind die Quellen
und Mittel der Macht, die darüber entscheiden, welche Formen der Machtaus-
übung angewendet werden, um potenzielle in aktuelle Macht zu verwandeln
(vgl. Imbusch, in diesem Band). Machtquellen wie die (journalistische) Organi-
sation, physische und psychische Stärke (der Journalisten) sowie Eigentum und
Besitz (der Medieninhaber) sind „Ursprünge der und Gründe von Macht“.
Machtquellen werden zu Machtfaktoren, wenn sie durch Machtmittel als kon-
krete Medien zur Machtausübung eingesetzt werden. Aus der Vielfalt mögli-
434 Klaus-Dieter Altmeppen

cher Quellen, Mittel und Formen der Machtausübung ergeben sich komplexe
Geflechte asymetrischer und wechselseitiger Beziehungen, die als Machtfigura-
tion bezeichnet werden (vgl. Imbusch 1998: 13). Diese Vielfalt soll im Folgen-
den am Beispiel der journalistischen Organisation durchgespielt werden, denn
Organisation gilt als eine der wichtigsten Machtquellen moderner Gesellschaf-
ten, und zwar in doppelter Weise: als Macht der Organisation wie auch als
Organisation der Macht.

3.4.1 Machtausübung in und durch journalistische Organisationen


Die Macht der Organisation gründet sich auf ihre strukturellen Merkmale, die
den Wirkungskreis von Machtbeziehungen determinieren (vgl. Crozier &
Friedberg 1997: 47). Dabei können zwei Wirkungskreise unterschieden werden,
die sich in der Praxis überlappen. Der eine Wirkungskreis bezeichnet die Macht
in Organisationen, das täglich zur Konstituierung der journalistischen Arbeits-
prozesse notwendige koordinative oder konfrontative Aushandeln sowie die
mit Hierarchie und Anordnung verbundenen Arbeitsanweisungen. Der zweite
Wirkungskreis befasst sich mit der Machtausübung durch Organisationen und
charakterisiert die Interaktionen journalistischer Organisationen mit ihrer Um-
welt, mit Quellen, mit konkurrierenden Redaktionen, mit der PR mit dem Pub-
likum.
In zeitlicher Hinsicht stellen Organisationen Machtbeziehungen auf Dauer,
da die Mitglieder (Journalisten) in der Regel mehr oder wenige dauerhafte (Ver-
trags-)Verhältnisse mit der Organisation eingehen. Aber auch Organisationen
aus der Umwelt interagieren längerfristig mit dem Journalismus, aufgrund ver-
traglicher Bindungen, wie etwa Nachrichtenagenturen oder aufgrund von Er-
wartungsstrukturen wie etwa die PR. Ein weiteres Merkmal von Macht und
Organisation liegt in den Strukturen selbst, denn Organisation als Struktur
schafft oder benötigt Ressourcen und stellt Regeln des organisationalen Han-
delns auf. Desweiteren schliesslich regulieren Organisationen auch den Ablauf
der Machtbeziehungen, durch formale und informelle Regelungen (Verfahrens-
abläufe, hierarchische Positionen, Management) werden bestimmte Wege zur
Interessendurchsetzung vorgezeichnet, andere verschlossen und nolens volens
Machtkonflikte und Wege ihrer Austragung vorgezeichnet.
Die Macht der (journalistischen) Organisation beruht vor allem auf der Ver-
fügung über Ressourcen, über allokative wie den Personaleinsatz, über autorita-
tive wie die Reputation. Die (journalistische) Organisation der Macht, verstan-
den als Bildung, Reproduktion und Verlust von Macht (vgl. Imbusch 1998: 13),
findet sowohl intra- wie interorganisational statt:
Journalismus und Macht 435

(1) Intraorganisationale Machtbeziehungen: Formen der Machtausübung in-


nerhalb journalistischer Organisationen sind sui generis aufgrund von
Über- und Unterordnungen durch Hierarchie angelegt (Redaktionsmana-
gement). Regelmässige Machtbeziehungen bestehen beispielsweise wäh-
rend der jährlichen Etatverhandlungen, wenn Ressorts um die Zuteilung
von Ressourcen streiten. Intraorganisationale Machtkonstellationen durch-
ziehen aber auch die alltägliche Arbeit, etwa wenn es um die Auswahl von
Themen geht, die Journalisten konkurrenzierend vorschlagen. Signifikante
Formen der Machtausübung treten zudem immer dann auf, wenn es um
Veränderungsprozesse geht. Re-Organisations- und Re-Strukturierungs-
prozesse wie die Auflösung und Neukombination von Ressorts und
Kostendeckelungsmaßnahmen, aber auch beispielsweise die Kündigung
von Nachrichtenagenturen und der damit verbundene veränderte Informa-
tionsbeschaffungsprozess berühren divergierende Interessen und können
daher nur in Handlungsakten abgeschlossen werden, in denen Macht
durchgesetzt wird.
(2) Interorganisationale Machtbeziehungen: Journalistengewerkschaften, die
mit den Arbeitgebern über Vergütungen verhandeln, stellen das deutlichste
– und ein formell institutionalisiertes – Beispiel interorganisationaler
Machtbeziehungen dar. Ein weiteres, nahezu beständiges Konfliktfeld mit
intensiven Machtauseinandersetzungen ergibt sich aus der Konzeption von
Medien und Journalismus als voneinander unabhängigen Organisationen,
die aber über die Ko-Orientierung der Medien als Distributeure und der
journalistischen Organisationen als Produzenten aktueller und relevanter
Inhalte miteinander verbunden sind. Auch hier wird über machtvolle Aus-
handlungsprozesse vor allem über Ressourcen verhandelt. Insbesondere in
den vergangenen krisenbehafteten Jahren hat sich gezeigt, dass die journa-
listischen Organisationen regelmässig über die Verknappung von Ressour-
cen gedeckelt werden, da die Medienorganisationen laufend weniger für
die journalistischen Leistungen „bezahlen“. Interorganisationale Machtbe-
ziehungen bestehen ferner auf der publizistischen Ebene, wenn verschie-
dene journalistische Organisationen um die Exklusivität von Informatio-
nen buhlen. Dazu werden allokative Ressourcen aktiviert (etwa wenn mehr
Redakteure für die Recherche eingesetzt werden), dazu werden aber auch
autoritative Ressourcen wie die Reputation der journalistischen Organisa-
tion eingesetzt.
436 Klaus-Dieter Altmeppen

Macht der Organisation, Macht über die Organisation und Organisation der
Macht sind miteinander verknüpfte Faktoren: Die Reputation einer Redaktion,
beispielsweise als besonders investigative Institution, verschafft der Redaktion
Macht in den Umweltbeziehungen gegenüber den Recherchequellen, das Aus-
maß der Reputation hängt aber davon ab, inwieweit das Redaktionsmanage-
ment investigativen Journalismus strukturell (durch Ressourcen und Regeln)
ermöglicht und ob die journalistische Organisation bereit ist, ihren Journalisten
durch Freiräume „den Rücken zu stärken“. Die Macht über die Organisation,
also die Organisation selbst als Machtfaktor behandeln zu können, ermöglicht
somit das organisationale Handeln der Organisation nach außen. Umgekehrt
beschränken die externen Strukturen das Machtpotenzial von Organisationen,
die Macht von Organisationen findet ihre Grenzen in den Umweltstrukturen,
also auch in der Macht anderer Organisationen.
Es geht dabei in der Regel immer um den Versuch, Regelungen und Struk-
turen im Sinne der Eigeninteressen der Organisation durch machtvolles Han-
deln zu erreichen (vgl. Zimmer & Ortmann 1996). „Jede ernst zu nehmende
Analyse kollektiven Handelns muss [...] Macht in das Zentrum ihrer Überle-
gungen stellen, denn kollektives Handeln ist im Grunde nichts anderes als
alltägliche Politik. Macht ist ihr ‚Rohstoff’“ (Crozier & Friedberg 1979: 14).
Die Möglichkeiten machtvoller Handlungen in und durch journalistische
Organisationen beruhen vorrangig darauf, dass es einzelne Akteure oder Ak-
teurkonstellationen sind, die machtvoll und machtbewusst handeln. Als Mit-
glieder bestimmter Organisationen handeln sie sozusagen in deren Auftrag, ihr
Handeln wird dementsprechend von den institutionellen Ordnungen der Or-
ganisation gepägt (allerdings können immer auch sehr individuelle Interessen
eine Rolle spielen), und in erster Linie von den Zielen der journalistischen
Organisationen. Die Macht des Journalismus ist also auch eine Frage der Füh-
rung, die die Ziele der Organisation formuliert, dazu Ressourcen bereitstellt
und Regelwerke (wie die Redaktionsstruktur) etabliert (vgl. Altmeppen 2006:
209 ff.). Gleichzeitig kontrolliert das Redaktionsmanagement die Ressourcen
und Ereignisse, und avanciert gewiss zu einem zentralen und machtvollen Ak-
teur in journalistischen Organisationen, da ihm qua Autorität Entscheidungs-
hoheit zugesprochen wird. Aber das Redaktionsmanagement ist in gleichem
Maße in strukturelle Gegebenheiten und soziale Beziehungen eingebunden wie
alle anderen Organisationsmitglieder, daher unterliegt es ebenso den Spielre-
geln der Macht wie alle anderen Organisationsmitglieder (vgl. den Beitrag „Das
Organisationsdispositiv des Journalismus“ in diesem Band).
Journalismus und Macht 437

Seine grundlegende Macht kann das Redaktionsmanagement daraus herlei-


ten, das es den Fortbestand und die Stabilität der journalistischen Organisation
sichern soll und die Organisation damit „am unmittelbarsten und stärksten
kontrollieren“ kann (Crozier & Friedberg 1997: 75). Der Handlungspielraum
und die Handlungsmöglichkeiten des Managements sind aber nicht unbegrenzt,
sondern finden ihre Grenzen in Machtbeziehungen inner- und außerhalb der
journalistischen Organisationen.
Grundsätzlich aber hat das Management einen generell größeren Einfluss,
bestimmte Regeln aufzustellen und über die Verteilung von Ressourcen zu
entscheiden. Das Redaktionsmanagement kann somit den Handlungsspielraum
für die Journalisten erweitern oder verengen. Für Medienmanagerinnen bei-
spielsweise hat Keil (2001) nachgewiesen, dass sie einen größeren Handlungs-
spielraum haben und dass sie aufgrund ihrer Position die Macht haben, „for-
male Organisationsstrukturen in ihrem Verantwortungsbereich und in der
gesamten Rundfunkanstalt zu verändern“, und dass sich desweiteren ihre „De-
finitionsmacht“ auch auf die Organisationskultur erstreckt. Mit der Zuweisung
positionaler Autorität entsteht die Definitionsmacht, aus der Position heraus
kulturelle und strukturelle Veränderungen vorzunehmen.
Dass dies auch für Medienmanagerinnen gilt, sollte nicht darüber hinweg
täuschen, dass Frauen im Journalismus nach wie vor massiv benachteiligt wer-
den. Nur gut ein Drittel aller Journalisten in Deutschland sind weiblich, ihr
Arbeitsplatz steht häufig in Redaktionen oder Ressorts wie Mode, Wellness
und Lifestyle (vgl. Weischenberg, Malik & Scholl 2006: 48). Während also
schon die quantitativen Zahlen die verschobenen Machtverhältnisse abbilden,
manifestieren sich Formen der Diskriminierung und Unterlegenheit darüber
hinaus dadurch, dass Frauen kaum einmal Machthaber über ökonomisches
Kapital in journalistischen Organisationen sind und dass sie Formen der
Machtausübung (Einfluss, Autorität) nicht nur anders handhaben, sondern
dieser Art der Machtausübung in den männlich dominierten sozialen Netzwer-
ken in der Regel auch unterlegen sind.
Eine der stärksten Begrenzungen und die Quelle stetiger Aushandlungskon-
flikte auch für das Redaktionsmanagement stellen die Medienorganisationen
dar. Sie sichern den Fortbestand der journalistischen Organisation, indem sie
die dafür notwendigen Ressourcen zur Verfügung stellen. Nolens volens ist
damit aber auch Verfügungsmacht verbunden, die ein ernstes Problem für das
Redaktionsmanagement darstellt, das einerseits in die sozialen Beziehungs-
strukturen mit Medienorganisationen eingebunden ist, weil Redaktionsmanager
Teil des Medienmanagements sind. Andererseits erwarten die Mitglieder der
438 Klaus-Dieter Altmeppen

journalistischen Organisationen von ihrem Management, dass es die Belange


und Bedürfnisse der Redaktion vertritt. In dieser Strukturdichotomie von Me-
dien- und journalistischen Organisationen sind prinzipiell latente Machtkonflik-
te angelegt.

4 Dimensionen von Journalismus und Macht:


Eine Systematisierung möglicher Ausprägungen
Die Vieldeutigkeit von Macht scheint eher noch zuzunehmen, bringt man das
Konstrukt in Verbindung mit dem Journalismus. Zu den generell mit Macht
verbundenen Ausprägungen kommen beim Journalismus noch alle Machtfor-
men hinzu, die sich im Zusammenhang mit öffentlicher Meinung und öffentli-
chen Funktionen ergeben. Selbst wenn die Medienorganisationen als eigen-
ständiger Machtfaktor ausgeblendet werden, verbleiben mit den Journalisten
und journalistischen Organisationen, mit den Unterscheidungen von power to
und power over, von Machtquellen, -mitteln und Formen der Machtausübung
immer noch enorm viele Variablen für eine Matrix, wie sie in Tabelle 1 vorliegt.

Tabelle 1: Journalismus und Dimensionen der Macht


Indikatoren Geltungsgrad Wirkungs- Reichweite Ressour-
der Macht- intensität cenart
dimensionen
Machtquellen
Psychische soziale Beziehungen (Verhandlungen face-to-face; soziale Beziehungen autoritativ
Stärke über Gehalt, Durchsetzungskraft des situativ hoch und Netzwerke (Umfeld
Journalisten z.B. bei der Recherche) Recherche, intra-/
interorganisational)
Eigen- Medieneigentümer, Anteilseigner, materiell; organisationale Bezie- autoritativ,
tum/Besitz Gesellschafter symbolisch hungen; intraorgani- allokativ
sational (Eigentum);
interorganisational
(Reputation, Autorität)
Organisation Organisationsmitglieder (Redaktion); intraorgani- organisationale autoritativ,
Hierarchie (Management, Eigentü- sational Beziehungen; intraor- allokativ
mer); Organisation als Ressource; hoch (Hie- ganisational (Struk-
strukturelle Macht rarchie); tur); interorganisatio-
interorgani- nal (Reputation,
sational Autorität)
hoch
Journalismus und Macht 439

Tabelle 1: Journalismus und Dimensionen der Macht (Fortsetzung)


Indikatoren Geltungsgrad Wirkungs- Reichweite Ressour-
der Macht- intensität cenart
dimensionen
Machtmittel
Ökonomisches Property rights (Lizenzen); Sachgüter höchste gesellschaftsweit allokativ,
Kapital (Druckereien, Medienhäuser); Ausdehnung autoritativ
Finanzmittel (Kapital, Aktien)
Soziales Unternehmensverantwortung; Wahr- indirekt soziale Beziehungen autoritativ
Kapital nehmung gesellschaftlicher Funktionen; (Nutzung von und Netzwerke;
Ethische Normen; Institutionalisierte „Vitamin B“); organisationale Bezie-
Beziehungen und dauerhafte symbolisch hungen; Medienbran-
Netzwerke (Verbände wie BDZV, djv; che
Aufsichtsgremien); Wissen, Verfügung
über Informationen; Gender
Kulturelles Journalismus als Produzent kultureller symbolisch soziale Beziehungen; autoritativ
Kapital Güter; gesellschaftliche Stellung des gesellschaftsweit
Journalismus (4. Gewalt); Berufliches
Ansehen der Journalisten („Bega-
bungsberuf“); Deutungshoheit (Agenda
Setting, Meinungsführer); Gender
Formen der Machtausübung
Einfluss, Persönlichkeit (Publizisten, face-to-face, soziale Beziehungen autoritativ
Überzeugung, Meinungsführer, Hierarchie) situativ und Netzwerke; organi-
Motivation sationale Beziehungen;
intraorganisational
(Redaktionshierarchie
und -management);
interorganisational
(Fusionsverhandlungen,
Tarifverhandlungen)
Autorität Persönlichkeitsmerkmale; Amt und face-to-face, soziale Beziehungen autoritativ
Position (Führungsposition, Glaubwür- situativ und Netzwerke
digkeit der Berichterstattung); symbo- wechselnd
lisch (Reputation des Journalisten)
Kontrolle Soziale Beziehungen intraorganisatio- sozial und soziale und autoritativ,
nal (Redaktionshierarchie); formelle regelgebun- kontraktliche allokativ
Regeln (vertragliche Beziehungen – den; abhängig Beziehungen
Anstellungsvertrag, Nachrichtenfakto- vom Sankti-
ren, Gegenlesen); informelle Regeln onspotential
(Redaktionsnormen); gesellschaftliche
Legitimation (Kritik und Kontrolle)
440 Klaus-Dieter Altmeppen

Die Tabelleninhalte verbinden Indikatoren ausgewählter Machtdimensionen


(Machtquellen, Machtmittel, Formen der Machtausübung), mit dem Geltungs-
grad, der Wirkungsintensität und der Reichweite von Macht. Mit diesen drei
Faktoren werden Effekte der Macht beschrieben, die von den Machthabern
intendiert sind (vgl. zu den Machtdimensionen und den Effekten der Macht
den Beitrag von Imbusch in diesem Band). Zudem gibt die rechte Spalte Aus-
kunft darüber, welche Art von Ressourcen mit dem jeweiligen Indikator ange-
sprochen ist. Die Darstellung in der Tabelle stellt einen ersten Systematisie-
rungsversuch zur Vielfalt von Wirkungsfaktoren in Machtprozessen dar. Ange-
sichts der Komplexität von Macht kann diese Synopse nur auszugsweise die
Vielzahl möglicher Macht wiedergeben, die das Beziehungsgefüge von Journa-
lismus und Macht kennzeichnen.

4.1 Machtfigurationen im Journalismus: Beispiele


Die Vielfalt der Machtausübung im und durch den Journalismus beruht vor
allem darauf, dass die Dynamik von Machtprozessen aus miteinander verwo-
benen Machtfigurationen entsteht, an denen Personen ebenso beteiligt sind wie
Gruppen und Organisationen. Grundsätzlich unterschieden werden können
zwei Ebenen der Machtausübung: diejenige im Journalismus, mit Personen wie
einzelnen Journalisten, Medieneigentümern und Medienmanagern, mit Grup-
pen von Journalisten oder Mediengesellschaftern und mit Organisationen wie
Ressorts, Tarifpartnern und Nachrichtenzulieferern und die Machtausübung
durch Journalismus, mit wiederum einzelnen Journalisten und Organisationen
wie den Redaktionen auf der einen und den Berichterstattungssubjekten und
-objekten wie Parteien, Verbänden, Sportvereinen und der PR sowie Politikern,
Wirtschaftsvertretern und PR-Fachkräften auf der anderen Seite.
Die Zusammensetzung der Personen, Gruppen und Organisationen kann
in den mehr oder weniger langen Zeiträumen von Machtprozessen ebenso
wechseln wie die Interessen der Beteiligten. So wird bei der Re-Strukturierung
von Redaktionen (etwa durch Outsourcing) nicht selten auch das Führungsper-
sonal ausgewechselt. Dies hat seinen Grund häufig darin, dass der neuen Füh-
rung eine unbelastete, vor allem aber grössere Durchsetzungskraft bei der Re-
Strukturierung zugesprochen wird (Nutzung autoritativer Ressourcen durch die
Machtquelle psychische Stärke). Die Etablierung der neuen Führungsstruktur
beruht wiederum auf der Machtquelle Organisation, die in der Verfügung der
Medieneigentümer liegt und durch hierarchische Machtstrukturen gesteuert
werden kann.
Journalismus und Macht 441

An diesem Beispiel wird deutlich, dass Geltungsgrad, Wirkungsintensität


und Reichweite der Machtdimensionen nicht isoliert vorkommen, sondern zum
Auf- und Ausbau von Machtverhältnissen miteinander kombiniert werden. Je
mehr eine Merkmalshäufung von Machtformen konstatiert werden kann, umso
wirkungsvoller kann Macht ausgeübt werden. Macht bedeutet in diesem Fall
Macht über journalistische Organisationen durch „Entscheidungsbefugnisse,
die auf Eigentums- oder sonstigen Verfügungsrechten beruhen.“ (Theis-
Berglmair 1997: 26) Durch den Besitz von ökonomischem Kapital, durch die
damit verbundene Verfügungsmacht (Kontrolle) über die Organisation wird
die Organisation selbst zum Machtfaktor, denn Macht „lässt sich nicht in Ra-
tings messen oder durch Marktanteilsbegrenzungen regulieren“, sondern, so
Kiefer (2002: 498), „meint den Ressourcenpool, der einsetzbar ist, um [...] wirt-
schaftliche und/oder publizistische Ziele und Vorstellungen auch gegen Wider-
stand durchzusetzen“.
Eine wesentliche, aber nur schwer zu beobachtende Kombination ist dieje-
nige von autoritativen und allokativen Ressourcen. Während die Verfügungs-
macht über allokative Ressourcen und ihren Umfang messbar sind (über öko-
nomische Unternehmensdaten und über Marktdaten der Mediennutzung) und
zudem häufig auch in einer Ursache-Wirkungsschleife zuordnenbar sind (bei
Übernahmen wie etwa der Kauf der Frankfurter Rundschau durch das Verlags-
haus NevenDuMont), entziehen sich autoritative Ressourcen in der Regel der
Beobachtung und Bewertung. Dies sollte aber nicht dazu verführen, autoritati-
ve Ressourcen als weniger wichtig einzuschätzen. Übernahmen und Fusionen
im Zeitungsmarkt beispielsweise werden nicht allein anhand des ökonomischen
Kapitals geregelt. Da entweder mehrere Anbieter miteinander konkurrieren
oder die Kulturen von Käufer und Verkäufer nicht kompatibel sind, müssen in
vielen Situationen Verhandlungsstärke, Durchsetzungsvermögen, Wissen und
Beziehungsnetzwerke als ebenso bedeutsame Wirkungsfaktoren eingesetzt
werden, die aus sozialem Kapital, Einfluss oder psychischer Stärke resultieren
und insgesamt als Verhandlungsmacht zusammengefasst werden können.
Ihre höchste Wirkmächtigkeit entfalten allokative und autoritative Ressour-
cen, wenn sie miteinander kombiniert werden, wenn Kapitalkraft und Durch-
setzungsvermögen gemeinsam von einem Machthaber eingesetzt werden. Au-
toritative Ressourcen werden dabei als diskrete Formen der Machtausübung
eingesetzt, die von schmeichelndem Umwerben bis zum unverhohlenen verba-
len Drohen reichen können.
Ungewöhnlich genug, werden bisweilen sogar unmittelbare Zwangsmaß-
nahmen im Journalismus angewandt, jüngst erst bei der Münsterschen Zeitung, bei
442 Klaus-Dieter Altmeppen

der eine ganze Lokalredaktion von einem Tag auf den anderen entlassen wurde
(vgl. Spiegel Online, 24. Januar 2007), da ihr nicht zugetraut werde, den Markt-
anforderungen gerecht zu werden. Mag dies auch ein in seiner Rigidität einma-
liger Vorgang sein, reflektiert er doch die derzeitigen Veränderungsbestrebun-
gen in der Printbranche, die über Re-Strukturierungen den Kostendruck sen-
ken will. Dieser auf breiter Front initiierte Prozess hat nicht allein konkrete
Folgen für einzelne Journalisten (von Gehaltskürzungen bis hin zu Entlassun-
gen), sondern hinterlässt Spuren bei allen Journalisten und journalistischen
Organisationen, die in den Worten von Leidinger (2003) durchaus als markt-
strukturell vermittelte Selbstzensur bezeichnet werden können. Im Gegensatz
zur klassischen staatlichen Zensur umreisst Leidinger mit diesem Begriff
Machtformen, die durch (Mit-)Eigentum funktionieren. Hierzu zählen Repres-
salien, Aufsichts-, Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten, Sinnkontroll-
mechanismen hegemonialer Instanzen, Einschränkung der Arbeitsmöglichkei-
ten, Verbote und Unterbindungsmassnahmen in technischer, organisatorischer,
rechtlicher und personeller Hinsicht (Leidinger 2003: 91):
Diese Zensurformen setzen entweder bei den JournalistInnen an – vor, während
oder nach deren Arbeitsprozess – oder nachgeordnet bei den technischen bzw.
organisatorischen Verbreitungsmöglichkeiten der Publikation. Die Formen be-
ziehen sich entweder auf einzelne Medien (binnenstrukturell) oder auf das ge-
samte Medienangebot (aussenstrukturell). Dabei sind (halb)staatliche, redaktio-
nelle, verlegerische oder unternehmerische sowie andere individuelle oder kollek-
tive Einzelpersonen als Akteure identifizierbar.

Marktstrukturelle Selbstzensur, die Auswirkungen auf die Medieninhalte hat,


funktioniert demnach in genau der Kombination von ökonomisch induzierten
Einflüssen mit autoritativen Ressourcen von Personen oder Gruppen. Aus den
ökonomische Entscheidungen entstehen Akte der (Selbst-)Zensur, da sie Fol-
gen für das Handeln der Journalisten haben, gleichgültig, ob diese Folgen in-
tendiert sind oder nicht, gleichgültig auch, ob die Journalisten die Entscheidun-
gen als Zensur wahrnehmen oder nicht, da ganz diskret ein Klima der Bedro-
hung im Journalismus entsteht.

4.2 Meinungsmacht
Abschliessend soll vor dem Hintergrund der bisherigen Analyse von Journa-
lismus und Macht eines der meistbenutzten, zugleich aber schwierigsten Kon-
strukte im Kontext von Journalismus und Macht noch einmal aufgegriffen
werden: der Umgang mit der Meinungsmacht. Hilfreich sind dabei zwei Kon-
strukte, die Bruch und Türk (in diesem Band) in die Diskussion einführen: zum
Journalismus und Macht 443

einen das Konstrukt des Medienkapitals, zum zweiten dasjenige der Positions-
güter. Medienkapital wird nicht im Hinblick auf Medienorganisationen ange-
wendet, sondern als ein generelles Konstrukt, um festzustellen, welche Form
von Kapital spezifische Formen von Organisationen „zu hüten und zu mehren
trachten“. Dieses Kapital kann nun aber nicht absolut und uneingeschränkt
machtvoll eingesetzt werden, sondern nur relational zur quantitativen oder
qualitativen Verfügbarkeit dieser Güter bei anderen Organisationen. Diese
Verfügbarkeit macht das so verstandene Medienkapital zu Positionsgütern.
Beim Medienkapital geht es in vorderster Linie um die Kernkompetenzen
von Organisationen, und so wie Versicherungen ihre Kernkompetenz der heu-
tigen Absicherung allfälliger zukünftiger Risiken hüten und mehren wollen, so
sind journalistische Organisationen bestrebt, ihre Kernkompetenz der Produk-
tion aktueller und relevanter News zu hüten. In dieser Kernkompetenz gründet
die Meinungsmacht journalistischer Organisationen, denn sie ist an die Produk-
tion öffentlicher Aussagen gebunden und somit in erster Linie ein Machtfaktor,
den journalistische Organisationen einsetzen können, da sie die Produzenten
informativer und aktueller Berichterstattung sind. Typischerweise wird Mei-
nungsmacht den sogenannten Leitmedien zugeschrieben, Printmedien vor
allem, die eine hohe Koinzidenz von journalistischem Produkt und Medienor-
ganisation aufweisen, da die Berichterstattung ihre Kernressource ist und
Printmedien anders als Fernsehen oder Hörfunk kaum Produktdiversifikation
betreiben können. Meinungsmacht ist in dieser Perspektive zuallererst das
Vermögen einzelner (journalistischer) Organisationen, die öffentliche Mei-
nungsbildung durch Berichterstattung zu initiieren, weiter zu treiben und zu
beeinflussen. Journalistische Organisationen haben somit sui generis, qua öf-
fentlichem Auftrag und öffentlicher Zuschreibung, ein Medienkapital durch
das Monopol der Berichterstattung. Wie andere Machtformen können die
journalistischen Organisationen aber auch dieses Medienkapital nicht uneinge-
schränkt einsetzen. Die Balance of Power sorgt – in demokratischen Systemen –
für eine relative Verfügungsmacht über die öffentliche Meinung.
Allerdings, auch darauf macht eine organisationale Analyse aufmerksam, ist
diese Verfügungsmacht verknüpft mit einer Organisationsmacht. Kapitalstarke
journalistische Organisationen können erheblich mehr Kontrolle über Res-
sourcen und Ereignisse ausüben als weniger kapitalstarke. Sie können mehr in
die Berichterstattung investieren und somit eine potentiell bestehende Mei-
nungsmacht weiter ausbauen. Dies ist sozusagen die publizistische Form der
Anzeigen-Auflagen-Spirale, nach der höhere Auflagen zu mehr Einnahmen
führen, die wiederum in die Stärkung der Marktstellung investiert werden kön-
444 Klaus-Dieter Altmeppen

nen. Es wäre jedoch illusorisch anzunehmen, dass die höheren Einnahmen


regelmässig für die Qualität der Berichterstattung eingesetzt würden, schliess-
lich wollen auch die Gesellschafter an den Mehreinnahmen partizipieren. Un-
bestreitbar aber stärkt die Organisationsmacht auch die Meinungsmacht, die als
eine autoritative Ressource von den journalistischen Organisationen benutzt
wird.
Allerdings ist Meinungsmacht nicht allein an Kapitalmacht geknüpft. Auch
eine fehlende Countervailing Power kann zu Meinungsmacht führen, wenn durch
fehlenden Wettbewerb (Ein-Zeitungskreise, Duopol im Fernsehmarkt) die
Kontrolle über die Ressourcen und Ereignisse keine Begrenzung erfährt. Dabei
ist höchst bedeutsam, dass derart machtvolle Zustände erstens schon bei der
Auswahl von Themen (Unterdrückung von Berichterstattung, vgl. die Beiträge
in Leif 2003) in den journalistischen Organisationen sehr wirksam sind. Zwei-
tens sind journalistische Organisationen, die allein, ohne Gegenmacht, auf
weiter Flur agieren können, ihre mächtige Position der Meinungsmacht durch
weitere Machtbeziehungen (soziale Netzwerke) stützen und ausbauen können.
Meinungsmacht als eine Form des „journalistischen Kapitals“ (vgl. den Bei-
trag von Hanitzsch in diesem Band) entsteht somit zum einen in Relation zu
anderen journalistischen Akteuren und Organisationen, wenn die Deutungs-
macht als Meinungsführer in der Konkurrenz mit anderen errungen wird. Mei-
nungsmacht entsteht desweiteren durch die Ausschaltung von Gegenmacht.

5 Resümeé
Die Macht hat, auch im Journalismus, viele Gesichter, deren Vielfalt weit über
die in der Regel diskutierte Meinungs- und Marktmacht hinausgeht. Das von
der Machtforschung erarbeitete Arsenal an Begriffen und Konstrukten zur
Macht ist bislang von der Journalismusforschung kaum aufgegriffen worden.
Mögliche Dimensionen der Macht, ihr Geltungsgrad, ihre Wirkungsintensität
und Reichweite sowie die Quellen, Mittel und Formen der Machtausübung
laufen wenn überhaupt dann allenfalls nebenbei als Gegenstand der Forschung
mit. Sie stehen aber nicht im Fokus und werden auch nur am Rande durch
systematische Begriffsarbeit getragen.
Systematischere theoretische, begriffliche und empirische Arbeit zum
Komplex Journalismus und Macht muss bei grundlegenden Fragen und Prob-
lemen ansetzen. Hierzu zählen die Aspekte des power over und power to, die in
Frageform gekleidet bereits erste Aufschlüsse und Einblicke in notwendige
Differenzierungen liefern. So sind bei der Frage nach der Macht für wen signi-
Journalismus und Macht 445

fikante Unterscheidungen zwischen Journalisten, journalistischen Organisatio-


nen und Medienorganisationen zu machen. Zwar ist Imbusch (vgl. seinen Bei-
trag) zuzustimmen, dass Medien über unterschiedlichste Machträume verfügen.
Aber Medienorganisationen (wie Verlage und Rundfunksender) sind nicht
gleichzusetzen mit journalistischen Organisationen (wie Redaktionen oder
Ressorts), ihre Struktur, ihre Ziele und damit auch ihre Formen der Machtaus-
übung unterscheiden sich. Medienorganisationen haben daher ein Interesse an
der Kontrolle anderer Ressourcen und Ereignisse als journalistische Organisa-
tionen.
Beide organisationalen Entitäten verfügen über Macht, sind selbst vermach-
tet und sind Teil des gesellschaftlichen Machtsystems, aber auf durchaus unter-
schiedliche Weise. Während die Medienorganisationen vor allem im wirtschaft-
lichen System wirken, um ihren Bestand durch die fortwährende Distribution
von Inhalten zu garantieren, agiert der Journalismus in den verschiedenen Are-
nen der Öffentlichkeit, in denen er Inhalte produzieren (sammeln, bearbeiten,
zur Veröffentlichung anbieten) soll. Medienorganisationen üben Macht vorran-
gig über ökonomisches Kapital aus, journalistische Organisationen über kultu-
relles Kapital.
Die Kontrolle von Macht (im Sinne der vierten Gewalt) und ein Forum für
Macht bietet aber – jedenfalls im Rahmen der aktuellen, informativen Bericht-
erstattung – allein der Journalismus, in Form einzelner Journalisten oder in
Form der journalistischen Organisationen. Für seine produzierten Inhalte be-
nötigt der Journalismus einen Distributionsapparat, den die Medienorganisati-
onen bieten. Die wiederum sind für ihr Geschäft der Distribution auf Inhalte
angewiesen. In dieser wechselseitigen Interdependenz sind bereits viele der
Machtkonflikte angelegt, die den Journalismus kennzeichnen.

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Wiesbaden: Gabler. 87-114.
Autorinnen und Autoren
Klaus-Dieter Altmeppen, PD Dr. phil., geb. 1956, wissenschaftlicher Oberas-
sistent und Privatdozent im Fachgebiet Medienwissenschaft, Institut für Me-
dien- und Kommunikationswissenschaft der TU Ilmenau. Arbeitsgebiete:
Journalismusforschung, Medienökonomie, -management und -organisation.

Michael Bruch, Dr. rer. soc., geb. 1963, wissenschaftlicher Assistent an der
Bergischen Universität Wuppertal. Arbeitsgebiete: Organisationssoziologie,
historische Organisationsforschung, Gesellschaftstheorie.

Hartmut Esser, Prof. Dr. rer. nat., geb. 1943, Ordinarius für Soziologie und
Wissenschaftslehre an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität
Mannheim. Arbeitsgebiete: Empirische Sozialforschung, Wissenschaftstheorie
und Methodologie, soziologische Theorieansätze, Migrationsforschung, Famili-
ensoziologie.

Susanne Fengler, Dr. phil., geb. 1971, Lehrbeauftragte an den Universitäten


Zürich und Luzern. Arbeitsgebiete: Journalismusforschung, Organisations-
kommunikation.

Thomas Hanitzsch, Dr. phil., Dipl.-Journalist, geb. 1969, Oberassistent am


Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zü-
rich. Arbeitsgebiete: komparative Medienforschung, kulturvergleichende Jour-
nalismusforschung, Kriegsberichterstattung.

Robert Hettlage, Prof. Dr. Dr., geb. 1943, Lehrstuhl für Soziologie an der Uni-
versität Regensburg. Arbeitsgebiete: Soziologische Theorie, Wirtschaftssozio-
logie, Familiensoziologie, Migrationssoziologie, vergleichende Sozialstruktur-
forschung.

Stefan Hradil, Prof. Dr. Dr. h.c., geb. 1946, Lehrstuhl für Soziologie an der
Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Arbeitsgebiete: Sozialstrukturanalyse,
auch im internationalen Vergleich, Soziale Ungleichheit, Soziale Milieus und
Lebensstile, Singles, die künftige demographische und gesellschaftliche Ent-
wicklung Deutschlands.
450 Autorinnen und Autoren

Peter Imbusch, PD Dr., geb. 1960, Privatdozent für Soziologie, vertritt zurzeit
eine Professur am Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg.
Arbeitsgebiete: Politische Soziologie, Sozialstrukturanalyse, Konflikt- und Ge-
waltforschung, soziologische Theorien.

Michael Jäckel, Prof. Dr. phil., geb. 1959, Professur für Soziologie an der Uni-
versität Trier. Arbeitsgebiete: Mediensoziologie, Konsumsoziologie, Neue
Technologien und Arbeitsorganisation, Allgemeine Soziologie.

Christoph Neuberger, Prof. Dr. phil., Dipl.-Journalist, geb. 1964, Professur für
Kommunikationswissenschaft (Schwerpunkt Journalistik) am Institut für
Kommunikationswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Müns-
ter. Arbeitsgebiete: Journalismusforschung, Internetforschung.

Thorsten Quandt, Dr. phil., geb. 1971, Forschungsassistent am Institut für


Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-
Universität München. Arbeitsgebiete: Medieninnovationsforschung, Online-
kommunikation, Journalismusforschung, Medientheorie.

Johannes Raabe, Dr. phil., Dipl.-Journalist, geb. 1963, wissenschaftlicher Assis-


tent am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft der Otto-Friedrich-
Universität Bamberg. Arbeitsgebiete: Journalismusforschung, Kommunikati-
onstheorie, Medienlehre, Journalismus- und Medienethik.

Carsten Reinemann, Dr. phil., geb. 1971, wissenschaftlicher Assistent am Insti-


tut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Arbeitsgebiete:
Journalismusforschung, politische Kommunikation, Medienwirkungsfor-
schung, Medieninhalte, Methoden.

Stephan Russ-Mohl, Prof. Dr. rer. soc., geb. 1950, Lehrstuhl für Kommunika-
tionswissenschaft an der Università della Svizzera italiana in Lugano und Leiter
des European Journalism Observatory (www.ejo.ch). Arbeitsgebiete: Journalis-
tische Praxis, Medienmanagement

Uwe Schimank, Prof. Dr. rer. soc., geb. 1955, Lehrstuhl für Soziologie an der
FernUniversität Hagen, Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften. Ar-
beitsgebiete: Soziologische Gesellschaftstheorie, Organisationssoziologie,
Sportsoziologie, Hochschulforschung.
Autorinnen und Autoren 451

Carsten Schlüter, M.A., geb. 1971, Redakteur beim Goodwill Verlag Lünen.
Arbeitsgebiete: Interaktionsforschung, Journalismusforschung, qualitative Me-
thoden.

Klaus Türk, Prof. Dr. rer. pol., geb. 1944, Professur für Soziologie, insbesonde-
re Soziologie der Organisation an der Bergischen Universität Wuppertal. Ar-
beitsgebiete: Organisationssoziologie, Gesellschaftstheorie, Kulturgeschichte
der Arbeit.

Herbert Willems, Prof. Dr. phil., geb. 1956, Prof. für Soziologie mit den
Schwerpunkten Mikrosoziologie und qualitative Sozialforschung am Institut
für Soziologie der Universität Gießen. Arbeitsgebiete: Mikrosoziologie, Mas-
senmedien, Theatralisierungsprozesse.

Arnold Windeler, Prof. Dr. phil., geb. 1956, Lehrstuhl für Soziologie, Fachge-
biet Organisationssoziologie am Institut für Soziologie der Technischen Uni-
versität Berlin. Arbeitsgebiete: Organisations- und Sozialtheorie, Industrieso-
ziologie und interorganisationale Netzwerke.

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