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Journalismustheorie:
Next Generation
Soziologische Grundlegung
und theoretische Innovation
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
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cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-531-14213-5
Inhalt
RATIONALITÄT
Michael Jäckel
„...dass man nichts zu wählen hat“:
Die Kontroverse um den Homo Oeconomicus 71
Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl
Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft 97
AKTEURKONSTELLATIONEN
Uwe Schimank
Handeln in Konstellationen: Die reflexive Konstitution von
handelndem Zusammenwirken und sozialen Strukturen 121
Christoph Neuberger
Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln via Öffentlichkeit:
Journalismus und gesellschaftliche Strukturdynamik 139
KAPITAL-FELD-HABITUS
Herbert Willems
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 215
Thomas Hanitzsch
Die Struktur des journalistischen Felds 239
ORGANISATION
Michael Bruch & Klaus Türk
Das Organisationsdispositiv moderner Gesellschaft 263
Klaus-Dieter Altmeppen
Das Organisationsdispositiv des Journalismus 281
INTERAKTION
Robert Hettlage
Alle Rahmen krachen in den Fugen: Erkenntnistheoretische
und soziologische Perspektiven bei Erving Goffman 305
Carsten Schlüter
Rollen und Rahmen der Interaktionsordnung:
Journalismus aus der Perspektive seiner Interaktionen 327
NETZWERKE
Arnold Windeler
Interorganisationale Netzwerke: Soziologische
Perspektiven und Theorieansätze 347
Thorsten Quandt
Netzwerkansätze: Potenziale für die Journalismusforschung 371
MACHT
Peter Imbusch
Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens 395
Klaus-Dieter Altmeppen
Journalismus und Macht: Ein Systematisierungs- und Analyseentwurf 421
Autorinnen und Autoren 449
Zur Einführung: Die Journalismustheorie
und das Treffen der Generationen
1 Vgl. http://www.worldsofjournalisms.org.
14 Thomas Hanitzsch, Klaus-Dieter Altmeppen & Carsten Schlüter
Mit anderen Worten: Je genauer eine Theorie auf einen bestimmten Aspekt
fokussiert, um so blinder ist sie für den „Rest“. Schimank fordert daher einen
Zur Einführung 15
Milieu nicht nur das soziale Umfeld journalistischer Handlungs- und Kommu-
nikationspraxis, sondern auch das „Medium“, in dem sich diese Praxis ereignet
und ereignen kann, indem spezifische Sinnstrukturen im Denken, Wahrneh-
men, Deuten und Handeln der Akteure aktualisiert werden und dabei struktu-
rierend, sinnstiftend und so handlungsanleitend auf die Praxis zurückwirken.
Die Arbeiten Pierre Bourdieus sind dabei zentral für diesen wie auch den
fünften Abschnitt des vorliegenden Bandes, in dem sich zwei Autoren der
Begriffstriade von „Kapital“, „Feld“ und „Habitus“ widmen. Herbert Willems
beschreibt in seinem Grundlagenbeitrag eine ambivalente Kultur- und Wirk-
lichkeitsbedeutung journalistischer Medienerzeugnisse. Denn einerseits sind sie
vermittelte Reproduktionen von habituellen Sinnstrukturen des Publikums,
und andererseits stellen sie feldbestimmte Inszenierungen dar, die einen eige-
nen Sinn und eine eigene Wirklichkeit „haben“ und dadurch einen eigenen
Sinn und eine eigene Wirklichkeit hervorbringen. Für die empirische Analyse
von Journalismus gilt jedoch, so das Fazit von Thomas Hanitzsch, dass sich Fel-
der nicht unmittelbar beobachten lassen. Daher kommt die Beobachtung von
Journalismus an den objektiven Feldpositionen sowie den zwischen ihnen
herrschenden Relationen nicht vorbei. Damit fällt den journalistischen Akteu-
ren, die diese Feldpositionen besetzen, eine zentrale Rolle bei der Analyse zu.
Journalismus wird demnach quasi „durch die Augen der Akteure“ beobachtet.
Die Augen der Akteure sind allerdings „getrübt“ durch den organisationa-
len Blick. Organisation ist nach Michael Bruch und Klaus Türk eines der zentralen
Strukturprinzipien von Gesellschaft, da sie alle gesellschaftlichen Kooperati-
onsverhältnisse reguliert. Von Organisation als gesellschaftlichem Regulie-
rungsprinzip unterscheiden sie die Einzelorganisationen. Eine solche ist der
Journalismus, der, so Klaus-Dieter Altmeppen, von der Journalismusforschung in
der Regel auch als Einzelorganisation untersucht wird. Allerdings ist die Struk-
tur des Journalismus weder per se gegeben, noch wird sie schlicht angeordnet.
Sie entwickelt und verändert sich rekursiv durch die Dualität von Handeln und
Struktur, und zwar sowohl die Organisation selbst wie auch das Redaktions-
management. Die sozial konstituierten Ordnungsmuster des Journalismus sind
insoweit ein Spiegelbild der Gesellschaft, wie sie deren Struktur reproduzieren.
Sie sind dagegen nur soweit journalismustypisch, wie journalistische Organisa-
tionen zum Beispiel auch strukturell erkennen lassen, dass in besonderem Ma-
ße Wert gelegt wird auf publizistische Qualitätsansprüche.
Mit Robert Hettlages Erörterung des symbolischen Interaktionismus knüpft
der siebente Abschnitt zunächst an den individuellen Blick des Akteurs an.
Aber auch dieser Blick benötigt eine „gesellschaftliche Sehhilfe“, einen Rah-
18 Thomas Hanitzsch, Klaus-Dieter Altmeppen & Carsten Schlüter
men, der dafür sorgt, dass nicht jede Situation neu definiert werden muss. Wis-
sensvorrat und gemeinsame Deutungsmuster sorgen für eine soziale Ordnung,
in der viele Handlungen mechanisch ablaufen, also nicht hinterfragt werden
(müssen). Auf diese Rollen – als eines der hervorstechenden Organisations-
muster – rekurriert Carsten Schlüter in seinem Beitrag. Rollen, insbesondere ihr
Kern, diffundieren von der Organisation in die Interaktion und vice versa,
werden bei diesem interaktiven Vorgang aber verändert, weil sie an Rollener-
wartungen und situative Erfordernisse angepasst werden. Daher muss zwi-
schen typischen Rollen, den normativen Aspekten der Rolle und dem tatsächli-
chen Rollenverhalten unterschieden werden.
Eine besondere Form der Interaktion und des Handelns sind Netzwerke.
Arnold Windeler stellt zwei bedeutsame Netzwerkansätze vor: den Strukturan-
satz, der die Strukturen der Beziehungsgeflechte untersucht, und den Gover-
nance-Ansatz, der sich mit der Regelung von Koordinationen zwischen Netz-
werkteilnehmern befasst. Der Beitrag von Thorsten Quandt setzt an diesen
Grundlagen an und kommt zu einer Matrix mit verschiedenen Netzwerktypen
auf der Makro-, Meso-, Mikro- und der Nanoebene. Auf dieser Basis macht er
sich auf die Suche nach Netzwerkansätzen in der Journalismusforschung. Fün-
dig wird er bei den Unternehmensnetzwerken, die insbesondere in Form von
Verflechtungen den Journalismus beeinflussen. Darüber hinaus legen journa-
lismusbezogene Weblogs und Diskussionsforen eine Netzwerkanalyse nahe.
Aber auch unterhalb dieser Ebenen lassen sich Netzwerkansätze fruchtbar
nutzen, insbesondere bei der Analyse der Produktionsbedingungen des Journa-
lismus, bei denen Handlungsnetzwerke bestehen, die eine wesentliche Rolle bei
der Orientierung und Regulierung des journalistischen Handelns spielen.
In das journalistische Handeln ist immer auch Macht eingewebt. Macht ist
ein Phänomen mit vielfältigen Dimensionen und vieldeutigen Perspektiven, wie
Peter Imbusch zu Beginn des neunten Abschnitts deutlich macht. Aufbauend auf
Macht als Figuration, also einem komplexen Geflecht asymmetrischer und
wechselseitiger Beziehungen, breitet er die Dimensionen, Effekte und Ebenen
des Machtbegriffs aus. Seinen Ausblick auf Macht und Medien greift Klaus-
Dieter Altmeppen in seinem Beitrag auf und wendet ihn auf den Journalismus an.
Dabei analysiert er – anhand der Elemente des „power to“ und „power over“ –
Macht zunächst einmal danach, ob Journalisten, journalistische Organisationen
oder Medienorganisationen Machthaber sind und worüber sie Macht ausüben
können. In einem zweiten Schritt systematisiert er anhand dieser Unterteilung
die verschiedenen Machttechniken (Machtquellen, Machtmittel, Formen der
Zur Einführung 19
Machtausübung) sowie die Machtausdehnungen und zeigt auf diese Weise die
Vielfältigkeit von Macht im Journalismus auf.
Handeln und Struktur, Interaktion und Rahmen, Akteur und Konstellation,
Macht und Organisation: Alle Beiträge vereint die Suche nach der Nahtstelle
zwischen akteursorientierten Ansätzen und gesellschaftstheoretischen Perspek-
tiven. Folgende generelle Tendenzen sind in der Diskussion um theoretische
Entwürfe für die Journalismusforschung erkennbar: Einerseits ist eine (Wie-
der-)Belebung der Perspektive der handelnden Akteure festzustellen. Mittler-
weile gilt als weithin anerkannt, dass eine Journalismustheorie ohne die Journa-
listen nicht auskommt. Zweitens ist die Dualität von Struktur, d.h. die rekursive
Hervorbringung und Perpetuierung von Handeln und Strukturen, Bestandteil
vieler Ansätze, und dies gilt nicht nur für jene, die sich an Giddens’ Struktura-
tionstheorie orientieren. Drittens ist eine allmähliche Aufwertung des Kultur-
begriffs in der Journalismusforschung zu beobachten, nicht zuletzt auch des-
halb, weil die Kultursoziologie eine Vielzahl von Ansätzen bereithält, die Be-
ziehung von Individuum und Gesellschaft zu beschreiben (vgl. Reckwitz 2000).
Und schließlich ist festzustellen, dass immer mehr Autoren mit dem substan-
zialistischen Denken brechen und den Relationen zwischen den Subjekten bzw.
Objekten der Analyse mehr Beachtung schenken. Für die Journalismustheorie
gilt jedenfalls, so das optimistische Fazit der Herausgeber, dass die Potenziale
längst nicht erschöpfend ausgelotet sind. Zusätzliche Theoriescheinwerfer, so
ist zu hoffen, bringen dazu bislang unbekannte Facetten des Gegenstands
Journalismus in der Forschung zum Vorschein.
******
Das Gelingen ist bei einem sozialwissenschaftlichen Experiment (als das dieser
Band auch zu verstehen ist) immer ambivalent, denn nicht nur die soziale Pra-
xis ist komplex und kontingent, sondern auch ihre Bewertung durch die Beob-
achter. Gelungen ist aber auf jeden Fall das Erscheinen dieses Bandes. Dass
sich Soziologen und Journalismusforscher auf das Experiment eingelassen
haben, miteinander verknüpfte Beiträge zu schreiben, die Gedankengänge der
jeweils anderen Seite aufzunehmen und fortzuführen, dafür gebührt ihnen ein
ganz besonderer Dank der Herausgeber. Zu danken haben wir auch Barbara
Emig-Roller vom VS Verlag, die wie die Autoren das Experiment von Anfang
an engagiert unterstützt und die lange Produktionszeit klaglos ertragen hat.
20 Thomas Hanitzsch, Klaus-Dieter Altmeppen & Carsten Schlüter
Julia Hehrlein und Ingmar Steinicke haben sich durch lange Korrekturfahnen
gearbeitet und viele kleine Fehler behoben, deren Vorhandensein den Heraus-
gebern schon gar nicht mehr aufgefallen ist. Vielen Dank dafür.
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HANDELN
Der Handlungsbegriff in
der modernen Soziologie
Hartmut Esser
damit sowohl die Wirkung von Merkmalen sozialer Situationen erklärt werden
kann, wie also auch die Entstehung neuer Situationen. Die Bestimmung und
Nutzung einer geeigneten Handlungstheorie für die Logik der Selektion des
Handelns ist somit ein unverzichtbarer – wenngleich nicht allein ausreichender
– Teil der soziologischen Erklärung gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen.
Die drei Formen des Verhaltens unterscheiden sich systematisch nach dem
Grad ihrer Unabhängigkeit von den durch eine Vergangenheit gegebenen Um-
ständen, ihrem Bezug auf zukünftige Folgen, ihrer Flexibilität und dem Grad
der jeweils nötigen Reflexion. Genetische Programme bilden den einen Pol
einer vergangenheitsbezogenen, automatischen und relativ starren „Reaktion“,
Intentionen und subjektiver Sinn den anderen Pol einer zukunftsbezogenen,
verzögerten und für feinere Unterschiede auch flexiblen „Aktion“. Das Handeln
ist dann jene Form des Verhaltens, die mit der Bildung von Intentionen und
der Kalkulation zukünftiger Folgen verbunden ist. Menschliche Organismen
sind im Prinzip zu allen drei Formen des Verhaltens in der Lage, und das empi-
rische soziale Geschehen besteht immer aus einer Mischung aller drei Vorgän-
ge.
Die Erklärung des Verhaltens nach genetisch vererbten oder durch Lernen
erworbenen Programmen ist ähnlich: Bestimmte, als Hinweissignale fungieren-
de Objekte in einer Umgebung lösen die Reaktion mehr oder weniger spontan
aus, wobei in Notsituationen die rascher reagierenden und mit den biologi-
schen Funktionen enger verzahnten genetischen Programme die Führung
übernehmen, meist verbunden mit typischen Emotionen, wie beim Anblick
einer Schlange. Das Handeln nach Intentionen folgt einer anderen Logik. Es
entspricht einer – mehr oder weniger „bewussten“ – Entscheidung zwischen
verschiedenen Alternativen nach einer Phase der berechnenden Reflexion
möglicher Folgen und deren Bewertung. Die Akteure haben mit dieser Reflexi-
on bestimmte „gute Gründe“ für ihr Tun bedacht. Sie wissen, warum sie so
handeln, wie sie es tun, und sie könnten ihr Handeln danach unter Hinweis
darauf rechtfertigen.
Die guten Gründe bilden den Kern des subjektiven Sinns, den die Akteure
mit ihrem Handeln verbinden. Im Nachvollzug der guten Gründe durch ande-
re Akteure wird dann auch ein „Verstehen“ des (intentionalen) Handelns mög-
lich. Die Reaktionen auf der Grundlage genetischer oder gelernter Programme
folgen dagegen keinem derartig reflektierten „subjektiven Sinn“, wenngleich sie
damit im Einzelfall durchaus vereinbar sein können, sie meist mit möglichen
guten Gründen durchaus vereinbar wären und man sie daher nachträglich da-
mit in Verbindung bringen kann, etwa in Form von „Rationalisierungen“. Die
Bildung von Intentionen, die Herausarbeitung guter Gründe und der Bezug auf
einen subjektiven Sinn bezeichnen damit letztlich den gleichen Vorgang: Es
stehen verschiedene Alternativen als mögliche Stellungnahmen zur Verfügung,
und es wird jene schließlich ausgewählt, die den bewusst herausgearbeiteten
Intentionen eines Akteurs am ehesten entspricht.
30 Hartmut Esser
2.4 (Zweck-)Rationalität
Die Wert-Erwartungstheorie bezieht sich auf eine besonders extreme Form der
Intentionalität des Verhaltens: Die Akteure kennen alle Alternativen, haben
eindeutig geordnete Präferenzen für die verschiedenen möglichen Konsequen-
zen, und sie sind über die Wirksamkeit der verschiedenen Alternativen (als
Mittel zur Erreichung der Ziele) perfekt informiert. Dahinter steht das Modell
des rational und nach dem Prinzip der Nutzenmaximierung funktionierenden
Homo Oeconomicus. Max Weber hat diesen Typ des Handelns als zweckratio-
nales Handeln bezeichnet. Weil dabei die Ziele und die Mittel explizit bedacht
und gegeneinander gedanklich abgewogen werden, weil dadurch ferner die
„guten Gründe“ für oder gegen eine Alternative besonders transparent heraus-
gearbeitet werden und somit auch der von den Handelnden mit ihrem Tun
verbundene subjektive Sinn besonders klar ist, sind der Homo Oeconomicus
und die Wert-Erwartungstheorie besonders deutliche Fälle der Intentionalität,
und jede Erklärung, die dem folgt, bedeutet entsprechend eine besonders aus-
geprägte Form des Verstehens der Akteure.
Der Handlungsbegriff in der modernen Soziologie 33
tiert und dadurch „bedingt“, das normative Handeln ist unabhängig von zu-
künftigen Konsequenzen und wird „unbedingt“ ausgeführt. Ähnlich unter-
scheiden James S. March und Johan Olsen (1989) die „logic of calculativeness“
von der „logic of appropriateness“: die Berechnung von Folgen einerseits und
die Beachtung von Regeln andererseits.
nichts weiter sei als die Folge eines solchen „Programms“ (vgl. etwa Vanberg
2002).
3.2 Heuristiken
Die empirische Untersuchung des Verhaltens bzw. Handelns der Menschen hat
in der Tat ergeben, dass es zahllose Abweichungen vom Modell des rationalen
Handelns gibt, aber auch, dass Menschen unter bestimmten Umständen durch-
aus zu rationalen Berechnungen in der Lage sind – und das unter bestimmten
Umständen auch tun. Es gibt also offensichtlich (mindestens) zwei verschiede-
ne Arten der Selektion von Alternativen: eine, die stark der automatisch-
spontanen Auslösung biologisch ererbter und/oder sozial gelernter Programme
entspricht und über den Weg der Mustererkennung und Aktivierung eines
Programms verläuft; und eine, die auf der reflektierend-kalkulierenden Bildung
von Intentionen und des Vergleichs guter Gründe beruht, in ihrer deutlichsten
Form nach den Regeln der Wert-Erwartungstheorie.
Zwischen diesen beiden Extremformen gibt es eine Reihe von Zwischen-
stufen oder Heuristiken. Sie lassen sich auf zwei Dimensionen anordnen: der für
die Selektion einer Alternative nötige Aufwand und die „objektive“ Richtigkeit
der Reaktion in Bezug auf die Lösung des situational gegebenen Problems. Die
beiden Dimensionen variieren bei den verschiedenen Heuristiken gegenläufig:
Je „rationaler“ eine Heuristik ist, umso aufwändiger ist sie auch, sie liefert aber
gleichzeitig die genaueren und „objektiv“ besseren Entscheidungen – und
umgekehrt für die „automatischen“ Heuristiken. Leicht ist zu sehen, dass es
sich um eine Art von Optimierungsproblem für die Selektion der Heuristiken
handelt: Bei vielen Situationen lohnt sich eine rationale Durchdringung nicht,
weil der erforderliche Mehraufwand an Informationsbeschaffung und
-verarbeitung den zu erwartenden Mehrertrag an Verbesserung der Entschei-
dung nicht lohnt. Bei anderen aber schon.
3.3 Dual-Process-Theorie(n)
Vor diesem Hintergrund sind die so genannten dual-process-Theorien entstan-
den. Ihr Gegenstand ist die Erklärung der Selektion automatischer versus stär-
ker elaborierter Heuristiken. Der Ausgangspunkt war die Unterscheidung zwei-
er verschiedener Konzepte der so genannten Einstellungs- oder Attitüdentheo-
rie in der (Sozial-)Psychologie. Die klassische Einstellungstheorie nach Allport
(1985) hatte eine Einstellung als Einheit von Affekten, Kognitionen und Ver-
36 Hartmut Esser
halten aufgefasst und erklärte das Verhalten durch die (automatische) Auslö-
sung dieser Einheit über situative Reize.
Nachdem aber festgestellt worden war, dass die Verbindung zwischen Ein-
stellungen und Verhalten alles andere als unmittelbar war, kam es zur Entwick-
lung eines alternativen Modells, der Theorie des „geplanten“ bzw. des „über-
legten“ Handelns nach Ajzen und Fishbein (1980). Darin wird angenommen,
dass jedem Verhalten die Bildung von Intentionen vorausgeht, wobei dieser
Vorgang nichts anderes ist als die Bildung von EU-Gewichten nach den Vor-
gaben der Wert-Erwartungstheorie. Die klassische Einstellungstheorie ent-
spricht damit dem Modell des normativen Handelns, die Theorien des geplan-
ten bzw. des überlegten Handelns dem des rationalen Handelns. Zahllose em-
pirische Untersuchungen haben inzwischen gezeigt, dass beide „Logiken“ vor-
kommen und dass es Bedingungen gibt, unter denen die Akteure von der einen
auf die andere Logik wechseln. Das Ziel der dual-process-Theorien ist es, die
Bedingungen zu spezifizieren und empirisch zu untermauern, unter denen die
Akteure der einen oder der anderen Logik folgen: unmittelbare Auslösung
einer kognitiv-emotionalen Reaktion, etwa eines rassischen Stereotyps, oder
eine stärkere gedankliche Durchdringung und elaborierte Beurteilung der Situa-
tion und der jeweiligen Reaktion (vgl. dazu die Übersicht bei Chaiken und
Trope 1999).
In der am weitesten entwickelten Fassung der dual-process-Theorie(n) bei
Russell H. Fazio (1990) folgt die Aktivierung eines (stereotypen) mentalen
Modells dem Match zwischen typischen symbolischen Reizen in der Situation
und bestimmten, damit assoziierten gedanklichen Vorstellungen. Aber erst bei
einer unerwarteten Störung des Matchs besteht die Chance auf eine „rationale“
Beurteilung. Dazu kommt es aber erst unter drei weiteren Bedingungen: Es
muss hierfür eine hinreichend starke Motivation gegeben sein, es müssen die für
die entsprechenden Berechnungen nötigen Gelegenheiten vorhanden sein, speziell
die Zeit für die erforderliche Informationsverarbeitung, und der dafür nötige
Aufwand darf nicht zu hoch sein. Bindungen an gewisse gedanklich-emotionale
Muster sind nach diesen Ansätzen, ganz ähnlich wie bei Simon, die Folge ent-
weder eines (perfekten) Matchs zwischen einem „zugänglichen“ mentalen Mo-
dell (einer bestimmten stereotypisierten Einstellung) oder aber, wenn der
Match gestört ist, des Mangels an Motivation und/oder Gelegenheiten bzw. zu
hohem Aufwand für eine „rationale“ (und damit auf Situationsvariationen
reagierende) Analyse der genauen Umstände und der möglichen Erträge. In-
zwischen gibt es zahllose empirische Hinweise auf die Richtigkeit dieser An-
nahmen der dual-process-Theorie(n).
Der Handlungsbegriff in der modernen Soziologie 37
gegeben, kommt es zum Typ des „rationalen“ Handelns, im Extremfall also zur
Entscheidung nach der Wert-Erwartungstheorie. Liegt nur eine der drei Bedin-
gungen nicht vor, wird eine andere Heuristik gewählt, etwa eine emotionalisier-
te Suche nach einer raschen Lösung, etwa bei Zeitdruck, die Orientierung an
vordergründigen Aspekten oder auch eine rein zufällige Reaktion. Man könnte
diese (Not-)Lösungen, die ein Akteur versucht, wenn zwar der Match gestört,
aber eine rationale Durchdringung nicht möglich ist oder nicht lohnend er-
scheint, zusammenfassend als „Interpretation“ bezeichnen.
4.1 Wertrationalität
Ein spezielles Problem aus wenigstens einigen der Typologien des Handelns ist
damit jedoch noch nicht gelöst: die Einordnung der Wertrationalität als der
„bewusst“ vorgenommenen Festlegung auf einen bestimmten, nicht mehr in
Frage gestellten Bezugspunkt des Handelns. Diese Besonderheit einer sowohl
rational begründeten wie dann gleichzeitig aber auch unbedingten Festlegung
findet sich unter verschiedenen Bezeichnungen: March und Olsen (1989) ver-
weisen auf die Übereinstimmung eines „angemessenen“ Handelns (auch) mit
der „Identität“ des Akteurs; Boudon (1980) beschreibt die (scheinbar) nicht an
Konsequenzen orientierte „cognitive rationality“ einer Bindung an „good rea-
sons“; und Habermas (1981) schließlich macht die rational-argumentative Bin-
dung an gewisse moralische Prinzipien zur Grundlage seines speziellen Typs
des kommunikativen Handelns fest. Alle diese Festlegungen können im Rah-
men des Modells der Frame-Selektion als die Fixierung einer bestimmten „De-
finition“ der Situation rekonstruiert werden, gerade dann, wenn empirisch die
Zeichen dagegen sprechen und der Match zwischen dem erkennbaren „Modell
der Wirklichkeit“ und den Vorstellungen eines gewünschten „Modells für die
40 Hartmut Esser
Kölner Dom als Treffpunkt eines Paares, das sich aus den Augen verloren hat.
Symbolische Interaktion ist die wechselseitig sichtbare Abstimmung des Handelns
über Zeichen, speziell über Gesten, etwa beim Tanz oder bei einem Orchester
mit einem Dirigenten. Kommunikation schließlich ist eine symbolische Interakti-
on über Zeichen mit explizitem Inhalt, den so genannten Medien. Das wich-
tigste Medium der Kommunikation ist die Sprache. Jede Kommunikation ist
damit auch symbolische Interaktion, und jede symbolische Interaktion beruht
auch auf gedanklicher Ko-Orientierung, weil die verschiedenen Zeichen, wie
die Medien auch, niemals ganz in ihrer Bedeutung festgelegt sind und auf ei-
nem – mehr oder weniger breiten – Satz an geteiltem Hintergrundwissen beru-
hen.
Eine soziale Beziehung schließlich ist ein soziales Handeln, das ganz auf wech-
selseitig geteilten und als sicher unterstellten Orientierungen beruht, den „Fra-
mes“ etwa, die eine Situation fest „definieren“. Die sozialen Rollen, an gesell-
schaftlichen Positionen geknüpfte und sanktionierte Erwartungen an das Han-
deln der Akteure, die die Positionen besetzen, wären der wohl deutlichste Fall
einer solchen sozialen Beziehung.
Die drei Typen des sozialen Handelns – strategisches Handeln, Interaktion
und soziale Beziehung – lassen sich nach dem Grad der jeweils vorhandenen
doppelten Kontingenz ordnen. Er ist beim strategischen Handeln am größten
und bei der sozialen Beziehung am geringsten. Soziale Beziehungen sind im
Ergebnis den parametrischen Situationen nahezu gleich: Obwohl andere Ak-
teure in der Situation vorhanden sind und handeln, muss das nicht weiter be-
achtet werden, weil deren Tun so gut wie vollständig vorhersagbar ist und den
wechselseitig bekannten Regeln entspricht. Analog ist zu erwarten, dass das
„rationale“ Handeln der bei den strategischen Situationen vorherrschende Typ
des Handels ist, und das „normative“ der bei den sozialen Beziehungen. Das
alltägliche (soziale) Handeln ist immer eine Mischung aus allen diesen Formen:
Immer sind wohl strategische Elemente beteiligt, interaktive Vorgänge der
gedanklichen, symbolischen und kommunikativen Abstimmung und soziale
Beziehungen. Aber es ist auch davon auszugehen, dass es jeweils typische Ge-
wichtungen dieser Komponenten gibt, etwa bei geschäftlichen Verhandlungen,
beim Besuch einer Diskothek oder bei einem religiösen Ritus.
Bei den Transaktionen mischen sich alle möglichen Aspekte des strategischen
Handelns, der Interaktion und der sozialen Beziehungen, einschließlich gewis-
ser Begleiterscheinungen wie Bluff, Schmeichelei und Austausch von Höflich-
keitsfloskeln. Ein Spezialfall davon sind die Verhandlungen. Hier geht es darum,
wer bei einem im Grunde für beide vorteilhaften Geschäft das bessere Ende
für sich hat. Die Untergrenze der Konzessionsbereitschaft der Akteure ist
dabei das, was sie hätten, wenn sie alleine wären. Das Grundproblem ist bei
allen Transaktionen aber ganz ähnlich zu dem des kollektiven Handelns: Jeder
möchte seinen Vorteil wahren, und nur, wenn es einen einigermaßen verlässli-
chen Rahmen gibt, der die strategischen Versuchungen und Befürchtungen
ausschalten kann, ist der produktive Wert gesichert.
es sich lohnt und ein Nachdenken über die Folgen möglich und nicht zu teuer
ist. Diese Logiken sind jeweils auf ihre Weise optimal: Die rasche Reaktion auf
der Grundlage mentaler Modelle der Orientierung und des Handelns lässt die
in langen Erfahrungen gewonnenen Optimierungen für bekannte Situationen
extrem kostengünstig zum Zuge kommen; die aufwändige Berechnung von
Konsequenzen ist dagegen immer dann die optimale Lösung, wenn es keine
bewährten Standards gibt, wenn sich die Investition einer rationalen Durch-
dringung lohnt und wenn der Aufwand dafür nicht zu groß ist. Wie es aussieht,
folgt demnach selbst die Logik der Selektion dieser „Logiken“ der Logik der
Optimierung, und zwar auch dann, wenn man anzuerkennen hat, dass diese
übergreifende Logik nicht die einer rationalen Berechnung ist. Es ist eine be-
sonders raffinierte Art der Rationalität. Sie kombiniert die zu Regeln geronnene
Rationalität der Programme, mit denen speziell die nicht-menschlichen Orga-
nismen auf die Herausforderungen der Umgebung reagieren, mit der Rationali-
tät der bewussten Vernunft und der Wahl von Alternativen auf der Grundlage
guter Gründe und verstehbarem subjektivem Sinn, zu dem nur die Menschen
in der Lage sind.
Wenn es gleichwohl immer wieder zu suboptimalen oder gar desaströsen
gesellschaftlichen Prozessen kommt, dann liegt das nicht an jener, durchaus
wundersamen, Raffinesse der Gesetze, denen das Handeln der Menschen und
darüber hinaus sogar die Selektion der „Logik“ des Handelns – einfach-
automatisch versus reflektiert-elaboriert – folgt. Es liegt vielmehr daran, dass
das in einer Situation durchaus vernünftige und angemessene Handeln Konse-
quenzen haben kann, die niemand beabsichtigte oder kontrollieren konnte. Um
das erklären und verstehen zu können, braucht man mehr als eine Theorie des
Handelns. Man braucht das komplette Modell der soziologischen Erklärung
mit allen drei Schritten von Logik der Situation, Logik der Selektion und Logik
der Aggregation, manchmal in ganzen Ketten von Sequenzen bestimmter
Pfadabhängigkeiten verbunden. Hier nimmt die Theorie des Handelns einen
zentralen und unverzichtbaren Platz ein. Aber sie ist für das Verständnis der
oft ganz und gar unvernünftig und unbeeinflussbar erscheinenden gesellschaft-
lichen Prozesse eben auch nicht alles.
46 Hartmut Esser
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Subjektiv rationale Akteure: Das Potenzial
handlungstheoretischer Erklärungen
für die Journalismusforschung
Carsten Reinemann
1 Einleitung
Hartmut Esser fächert in seinem Beitrag für diesen Band sein Konzept von
„Handlung“ auf. Neben der von Esser skizzierten werden in den Sozialwissen-
schaften eine Reihe weiterer handlungstheoretischer Konzeptionen vertreten,
die sich in ihrem Allgemeinheitsgrad, dem zu erklärenden Handlungstyp und
ihren zentralen erklärenden Konstrukten deutlich unterscheiden (dazu z.B.
Gabriel 2004; Schmid 2004; Schimank 2000). Diese Fülle an Handlungsbegrif-
fen und -theorien auf ihre Eignung für die Journalismusforschung zu prüfen,
würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Den Ausgangspunkt dieses Bei-
trags bildet deshalb in erster Linie die Konzeption Essers sowie anderer ihm
nahe stehender Autoren. Sein Ziel ist es, die Eignung einer solchen handlungs-
theoretischen Konzeption für die Journalismusforschung zu diskutieren und
aufzuzeigen, welche Herausforderungen sich aus handlungstheoretischer Sicht
für die Journalismusforschung ergeben.
Das von Esser skizzierte Handlungskonzept ist Teil eines strukturell-
individualistischen Ansatzes (Opp 2004). In seinem handlungstheoretischen Kern
steht die Wert-Erwartungstheorie als Entscheidungsregel. Deshalb wird Essers
Konzept von vielen Beobachtern als moderne Variante einer Theorie rationa-
len Handelns (= Rational Choice- oder RC-Theorie) bezeichnet – auch wenn
Esser selbst dieser Einordnung kritisch gegenüber steht. Ausgangspunkt für die
Anwendung von Rational Choice ist die Idee einer theoriegeleiteten, empirisch
gehaltvollen, erklärenden Sozialwissenschaft (im Überblick Kunz 2004).
Grundprinzip ist die Annahme, dass Akteure in Entscheidungssituationen
versuchen, unter den jeweils gegebenen Restriktionen ihre Präferenzen (Ziele,
48 Carsten Reinemann
Motive, Wünsche) möglichst gut zu realisieren. Ziel ist die Erklärung kollekti-
ver Phänomene auf der Basis von Erklärungen individuellen Handelns, das in
einen sozialen Kontext eingebettet ist (methodologischer Individualismus). Es geht
also nicht allein um die Erklärung individuellen Handelns, sondern zumindest
bei soziologischen Anwendungen letztlich immer um die Erklärung von Mak-
rophänomenen. Dabei wird der Begriff der Rationalität heute oft in einem sehr
allgemeinen Sinn verwendet. Diekmann und Voss beispielsweise definieren
Rationalität als „Handeln in Übereinstimmung mit den Annahmen […] einer
Entscheidungstheorie“ (2004: 13). Diese Entscheidungstheorie kann, muss
aber nicht die Wert-Erwartungs- oder SEU-Theorie sein (ebd.: 16ff.).
In seinem Beitrag vertritt Esser wie andere handlungs- bzw. akteurstheore-
tisch orientierte Autoren die Auffassung, dass eine befriedigende Erklärung
menschlichen Handelns nur dann möglich ist, wenn man die subjektive Perspektive
der Akteure einnimmt: Wenn man ihre Wahrnehmung der Situation versteht, ihre
Präferenzen (Ziele, Wünsche, Motive), ihre Sicht möglicher Handlungsalternati-
ven und relevanter Restriktionen, ihre Bewertungen möglicher Handlungsfol-
gen. Weiterhin beschreibt Esser die Wert-Erwartungstheorie als einfachste und
zugleich umfassendste Möglichkeit zur Erklärung der Wahl zwischen verschie-
denen Handlungsalternativen. Selbst die klassischen Weber’schen Handlungs-
typen lassen sich seiner Ansicht nach mit Hilfe der Wert-Erwartungstheorie
rekonstruieren. Dabei stellen zweckrationales, wertrationales, affektuelles und
traditionales Handeln seiner Ansicht nach sowohl ein spezielles Modell des
Handelns als auch einen besonderen Modus der Informationsverarbeitung dar.
Die Auswahl eines Modells und eines Modus wiederum erfolgt nach den Re-
geln der Wert-Erwartungstheorie. Akteure entscheiden also nach Nutzenerwä-
gungen, welcher Typ des Handelns in einer bestimmten Situation angemessen
ist und wie viel kognitiven Aufwand sie für Entscheidungen aufbringen wollen
(dazu auch Esser 1999: 224ff.). Alltägliches soziales Handeln zeichnet sich
durch den steten Wechsel zwischen verschiedenen Handlungstypen aus: Wäh-
rend in einem Moment die zweck- oder wertrationale Abwägung von Hand-
lungsalternativen angemessen erscheinen mag, ist es im anderen das quasi-
automatische Abspulen tradierter Handlungsmuster. Hinter dieser Konzeption
steht das Menschenbild eines resourceful, restricted, expecting, evaluating, maximizing
man (RREEMM-Modell).
Von besonderer Bedeutung ist ein Hinweis, mit dem Esser seinen Beitrag
beginnt und enden lässt: Für sozialwissenschaftliche Analysen, die nicht allein
an der Erklärung individuellen Handelns interessiert sind, sondern zumindest
auch an Makrophänomenen und sozialen Prozessen, ist eine Handlungstheorie
Subjektiv rationale Akteure 49
allein nicht ausreichend. Denn menschliches Handeln ist in der Regel soziales
Handeln. Will man Strukturen, Makroeffekte und dynamische soziale Prozesse
erklären, dann braucht man für deren Erklärung zusätzlich zu einer Handlungs-
theorie Aggregationsregeln, welche die Effekte der Interaktionen von Akteuren
erklären. Dieser Hinweis macht deutlich, dass der oftmals gegenüber Hand-
lungstheorien geäußerte Vorwurf des Reduktionismus zumindest für modernde
Varianten von Theorien rationalen Handelns nicht zutrifft. Allerdings werden
Interaktionen und Aggregationen nicht im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen,
da sie nicht den Kern der Handlungstheorie betreffen und zudem den zur
Verfügung stehenden Rahmen sprengen würden.
man nicht nur einzelne Personen, sondern auch Organisationen als journalisti-
sche Akteure begreifen. Bei einer solchen Betrachtung wird die organisatori-
sche Einbindung einzelner Journalisten bereits berücksichtigt. Drittens gehen
Vertreter strukturell-individualistischer Ansätze auch ganz allgemein davon aus,
dass die für das Handeln entscheidenden subjektiven Situationsdefinitionen
nicht in einem „sozialen oder institutionellen Vakuum“ stattfinden, sondern
meist durch soziale und institutionelle Strukturen (Organisationen) geprägt
werden. Die individuellen Motive und Einstellungen der Journalisten allein –
da hat Altmeppen Recht – erklären Makrophänomene im Journalismus nicht.
Allerdings würde dies wohl kaum ein Vertreter einer modernen RC-Variante
behaupten (dazu z.B. Kunz 2004; Opp 2004).
Ein weiterer Grund für die Skepsis gegenüber Theorien rationalen Han-
delns im Speziellen dürfte darin liegen, dass mit ihnen noch immer die Ein-
schränkung auf ökonomische Präferenzen und Eigennutz im engeren Sinne
verbunden wird. Allerdings wird mittlerweile zwischen einer engen und einer
weiten Version von Rational Choice differenziert, die sich im Hinblick auf ihre
Zusatzannahmen deutlich unterscheiden (Opp 2004). Die Zusatzannahmen
bestimmen, welche Arten von Präferenzen und Restriktionen in Erklärungen
berücksichtigt werden. Die enge Version liegt vielen Anwendungen in den
Wirtschaftswissenschaften zugrunde, die weite Version ist beispielsweise Basis
sozialpsychologischer Analysen. Die weite Version stellt konsequent die „sub-
jektive Rationalität“ von Akteuren in den Mittelpunkt: Subjektiv wahrgenom-
mener Nutzen und subjektive Erwartungen treten an die Stelle „objektiv“ ge-
gebener Wahrscheinlichkeiten, Informationskosten und Heuristiken menschli-
cher Informationsverarbeitung sowie die soziale Einbettung individuellen
Handelns werden berücksichtigt (vgl. Tabelle 1). Dass die Anwendung einer
weiten Version von Rational Choice keineswegs „zirkulär, ad hoc oder tautolo-
gisch ist“, zeigt überzeugend Opp (2004). Dass sich mit ihr zudem viele ver-
meintliche „Anomalien“ von Rational Choice im Rahmen der Theorie erklären
lassen, belegt Esser (1999: 313ff.). Aufgrund ihrer Offenheit erscheint die weite
Version von Rational Choice ein besonders geeigneter Rahmen für die Journa-
lismusforschung zu sein.
Eine letzte Ursache für die Skepsis gegenüber handlungstheoretischen
Konzeptionen mag auch in unterschiedlichen Auffassungen darüber bestehen,
was die wichtigen Fragen der Journalismusforschung sind. Denn welche Fra-
gen man für wichtig hält, beeinflusst auch, welchen theoretischen Zugang man
für sinnvoll hält, und der jeweilige theoretische Zugang präformiert wiederum
die theoretische und empirische Analyse des Untersuchungsgegenstandes. Es
52 Carsten Reinemann
B1
innere Bedingungen der
G2 Medienorganisation H1 Handeln von Medienor-
ņņņņņņņņņņņņņņ ganisationen
äußere Bedingungen für
einzelne Journalisten
B2
G3 innere Bedingungen H2 Handeln
einzelner Journalisten einzelner Journalisten
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kunz (2004: 205) und Esser (1999: 166).
Anmerkungen: G1, G2, G3: Genese der äußeren und inneren Bedingungen (Entstehungsgeschichte der
sozialen und organisatorischen Strukturen sowie der organisatorischen und individuellen Präferenzen);
B1, B2: Brückenannahmen, die die relevanten Aspekte der Situation sowie Bewertungen und Erwartun-
gen bestimmen; H1, H2: Anwendung der Wert-Erwartungstheorie zur Evaluation und Auswahl der
Handlungsalternativen.
Die äußeren Bedingungen einer Situation werden vor dem Hintergrund der
inneren Bedingungen wahrgenommen und interpretiert. Die äußeren Bedin-
gungen gehen deshalb als subjektiv wahrgenommene äußere Bedingungen in
die Definition der Situation ein: Die situational relevanten Ziele werden aktua-
lisiert, und es wird entschieden, welcher Handlungstyp am ehesten angemessen
56 Carsten Reinemann
Abbildung 2: Die Definition der Situation und die Auswahl von Handlungsalternativen
G1 äußere
Bedingungen
Wahrnehmung
Kognition/Heuristiken
Alternative A: Konsequenzen
Definition (Bewertungen/Erwartungen)
der Situation offenes
Aktualisierung rele- H Handeln
vanter Präferenzen/
Programme, etc. Alternative B: Konsequenzen
(Bewertungen/Erwartungen)
G2 innere Bedingungen
Präferenzen, etc.
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kunz (2004: 205) und Esser (1999: 166).
Anmerkungen: G1, G2: Genese der äußeren und inneren Bedingungen (Entstehungsgeschichte der sozialen
und organisatorischen Strukturen sowie der organisatorischen und individuellen Präferenzen);
H1: Anwendung der Wert-Erwartungstheorie zur Evaluation und Auswahl der Handlungsalternativen.
dingung des Handelns der anderen Akteure darstellen und aufeinander reagie-
ren. Die Handlungstheorie hat dabei ihren Platz jeweils dort, wo auf der Basis
der Wahrnehmung der Situation sowie der relevanten Präferenzen eine be-
stimmte Handlungsalternative gewählt wird, also etwa eine Entscheidung für
eine emotionale Meldung oder Darstellungsweise (die unteren beiden waage-
rechten Pfeile).
B1 A1
Situation der
H1 Handeln von
Medienunternehmen Medienunternehmen
B2 A2
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kunz (2004: 205) und Esser (1999: 166).
Anmerkungen: B1, B2: Brückenannahmen, die die relevanten Aspekte der Situation sowie Bewertungen
und Erwartungen bestimmten; H1, H2: Anwendung der Wert-Erwartungstheorie zur Evaluation und
Auswahl der Handlungsalternativen. A1, A2: Aggregationsregeln zur Erklärung kollektiver Effekte bzw.
Phänomene.
4 Ausblick
Ziel dieses Beitrags war, die Bedeutung des Konzepts „Handlung“ für die
Journalismusforschung zu diskutieren. Ausgangspunkt waren die Ausführun-
gen Hartmut Essers (in diesem Band), die im Kontext des von ihm und ande-
ren Autoren vertretenen strukturell-individualistischen Ansatzes gesehen wer-
den müssen. In dessen Rahmen ist die Erklärung des Handelns von Akteuren
Subjektiv rationale Akteure 63
nen versteht, die für konkrete Entscheidungen relevant sind, kann die
Journalismusforschung einen praktischen Beitrag zur Verbesserung journa-
listischer Qualität und zur Korrektur von Fehlentwicklungen im Journa-
lismus leisten.
3. Eine handlungstheoretische Perspektive kann anders als andere theoreti-
sche Ansätze zur Erklärung aller Formen des Handelns journalistischer
Akteure nutzbar gemacht werden. Dazu zählen nicht nur die klassischen
Formen journalistischen Handelns wie das Treffen von Publikationsent-
scheidungen, die Auswahl von Informationsquellen oder journalistischen
Darstellungsformen, sondern ebenso die Berufswahl, der Berufswechsel
oder die Entscheidung für die Lektüre einer bestimmten Tageszeitung.
4. Angesichts der überaus realen Konsequenzen journalistischen Handelns,
muss sich eine für die Journalismusforschung geeignete Theorie an ihrer
Fähigkeit messen lassen, konkretes Handeln journalistischer Akteure sowie
die daraus entstehenden sozialen Prozesse befriedigend zu erklären. Sie
muss also über die Definition von Begriffen und die Beschreibung von
Strukturen und Einflussfaktoren hinausgehen, um zu erklären, wie sich
diese Faktoren unter welchen Bedingungen konkret auswirken. Außerdem
sollte ein geeigneter Ansatz auch in der Lage sein, dynamische Prozesse
und sozialen Wandel darzustellen und zu erklären. Die beschriebene hand-
lungstheoretische Perspektive ist dazu prinzipiell in der Lage. Allerdings
sind dazu komplexe Analysen der Interaktionen von Akteuren und der
Folgen dieser Interaktionen notwendig. Denn auch wenn die Wert-
Erwartungstheorie auf den ersten Blick nicht sonderlich komplex erschei-
nen mag: Sie ist eben nur ein Teil einer strukturell-individualistischen Er-
klärung, die mit dem Versuch, die Folgen der Interaktionen von Akteuren
zu rekonstruieren, die Komplexität sozialer Prozesse wirklich ernst nimmt.
5. Eine handlungstheoretische Perspektive macht die makrotheoretische
Diskussion in der Journalismusforschung wieder anschlussfähig an die in
der Journalismusforschung wichtigen theoretischen Ansätze mittlerer
Reichweite sowie an zentrale Forschungsfelder der empirischen Journalis-
musforschung. Dazu zählen beispielsweise die Nachrichtenwert-Theorie,
das Zwei-Komponenten-Modell der Nachrichtenauswahl, der Framing-
Ansatz, die Theorie der instrumentellen Aktualisierung und die gesamte
Medieninhaltsforschung, bei der es um die wichtigsten Ergebnisse journa-
listischen Handelns geht. Aber auch das Knüpfen von Verbindungen zu
anderen Feldern der Kommunikationswissenschaft, die sich ja teilweise
ebenfalls mit den Bedingungen und Ergebnissen journalistischen Handelns
Subjektiv rationale Akteure 65
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RATIONALITÄT
„…dass man nichts zu wählen hat“:
Die Kontroverse um den Homo
Oeconomicus1
Michael Jäckel
1 Der vorliegende Beitrag ist in Teilen bereits in dem allgemeinen Teil meines Buches „Wahl-
freiheit in der Fernsehnutzung“ (1996) publiziert worden. Er wurde für den vorliegenden
Zweck überarbeitet und um neue Aspekte aus der Rational Choice-Debatte (vgl. zusam-
menfassend Diekmann & Voss 2004 und Hill 2002) erweitert. Ich danke Thomas Grund für
wertvolle Hinweise.
72 Michael Jäckel
Zwecken gesprochen wird, bezieht sich die Entscheidungstheorie auf den Ide-
altypus des „homo oeconomicus“. Dieser lässt sich mit Esser (1993: 236) wie
folgt definieren: „[..] daß er seinen individuellen Nutzen auf der Grundlage
vollkommener Information und stabiler und geordneter Präferenzen im Rah-
men gegebener Restriktionen maximier[t].“ Restriktionen können zeitlicher
(Zeitbudget), ökonomischer (Kaufkraft), sozialer (Orientierung an bzw. Be-
rücksichtigung der Interessen anderer) oder normativer Art (geltende Normen)
sein. Die Restriktionen fangen also vieles von dem auf, was der so genannten
Umwelt zugerechnet werden muss. Es ist daher auch zu diskutieren, was die
Formulierung „im Rahmen gegebener Restriktionen“ alles umfasst und was als
Kern der Erklärung bestehen bleibt. Zunächst wird das ökonomische Pro-
gramm in der Soziologie skizziert, sodann Erweiterungen des Modells behan-
delt und schließlich eine Systematisierung der Einwände vorgenommen.
higkeit, „auf den einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben“ oder seien Tatsa-
chen, die „ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben“
(Durkheim 1976: 114) besitzen. Bourdieu (1987: 127) hat die damit verbunde-
nen erkenntnistheoretischen Konsequenzen sehr anschaulich zusammenge-
fasst: „Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Han-
deln mehr Sinn, als sie selber wissen. “
Lindenberg (1985: 247) hat für diesen Erklärungstypus von Handlungen
das Akronym SRSM vorgeschlagen: „Socialized, Roleplaying, socially Sanctio-
ned Man“. Homans schloss seine Rede mit polemischen Anspielungen auf jene
soziologischen Theoretiker, die in Durkheim ihren Bezugs- und Ausgangs-
punkt sahen:
Wenn ein ernsthafter Versuch gemacht wird, Theorien aufzustellen, die – und
sei es nur im Ansatz – soziale Phänomene erklären, so stellt sich heraus, daß ihre
allgemeinen Hypothesen sich nicht auf das Gleichgewicht von Gesellschaften,
sondern auf das Verhalten von Menschen beziehen. Dies gilt sogar für einige gu-
te Funktionalisten, obwohl sie es nicht zugeben werden. Sie verstecken die psy-
chologischen Erklärungen unter dem Tisch und ziehen sie verstohlen wie eine
Flasche Whisky hervor, um sie zu benutzen, wenn sie Hilfe brauchen. Ich erhebe
die Forderung, daß wir das, was wir über Theorie sagen, in Übereinstimmung
bringen mit dem, was wir tatsächlich tun, und so unserer intellektuellen Heuche-
lei ein Ende machen. (Homans 1972b: 57)
Lindenberg setzt sich hier gegen den Vorwurf der Naivität zur Wehr. Eine vom
Individuum ausgehende soziologische Erklärung sei nicht reduktionistisch. Sie
behaupte nicht, dass kollektive Phänomene (z.B. Arbeitsteilung, Urbanisierung,
Stabilität) einem Individuum zugeschrieben werden können, „sondern besten-
falls einer Bedingungskonstellation individueller Effekte“ (ebd.: 57).2
Versucht man aus diesen ersten Hinweisen auf soziologische Theorien ein
Kernproblem herauszufiltern, so liegt es in einer Uneinigkeit über den oder die
Bestimmungsgründe von Handlungen: Hier wird die Bedeutung von Werten,
Normen und Rollen für das Handeln der Menschen in den Vordergrund ge-
stellt, dort eine individualistische Sozialwissenschaft (vgl. Opp 1979) gefordert,
die das individuelle Kalkül zur Ausgangsbasis auch soziologischer Erklärungen
machen soll. In Dichotomien finden diese „Frontstellungen“ dann ihren Nie-
derschlag: „Homo Oeconomicus und Homo Sociologicus. Die Schreckens-
männer der Sozialwissenschaften“ (Weise 1989); „Die zwei Soziologien. Indi-
vidualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie“ (Vanberg 1975) – die
Liste ähnlich lautender Titel ließe sich noch verlängern. Immer wieder ist es die
von Homans eingeklagte Fundierung individuellen Handelns (vornehmlich
realisiert durch ökonomisches Denken), die die Trennlinie zwischen einer „so-
zialen“ und einer „nicht-sozialen“ Erklärung markiert. Wiesenthal hat einmal
von einer platten Faustregel gesprochen, die wie folgt lautet: „In der Ökono-
mie lernt man, wie man wählen muß, und in der Soziologie, daß man gar nichts
zu wählen hat.“ (Wiesenthal 1987: 13, Hervorhebung im Original)
Um das handlungstheoretische Programm einer in ökonomischen Katego-
rien denkenden Soziologie angemessen beurteilen zu können, muss man sich
zunächst mit dem theoretischen Anspruch, sodann mit Modifikationen und
Erweiterungen dieser Theorie auseinandersetzen. Dies erfolgt nicht in der
Absicht, alle hierzu vorliegenden Arbeiten zu referieren, sondern die Kernge-
danken herauszuarbeiten.
2 Anders dagegen Kappelhoff (1992: 222), der – wiederum bezogen auf Homans – von einem
behavioristischen Reduktionismus spricht.
„…dass man nichts zu wählen hat“ 75
einer Handlung sind „die Kosten der besten Alternative, auf die wir ver-
zichten mussten, wenn wir die Wahl hatten“ (ebd.: 31).
Wenn Individuen rational handeln, dann werden sie so lange ein bestimm-
tes Gut (im oben beschriebenen Sinne) konsumieren oder in einer be-
stimmten Art und Weise handeln, bis der Grenznutzen der zuletzt ausge-
führten Handlung unter die Grenzkosten sinkt. Grenzkosten ergeben sich
dabei immer aus dem Wert ausgeschlagener Optionen.
Diese Hauptannahmen des Modells von McKenzie und Tullock (1984: 32ff.)
betonen die Rationalität von Handlungen. Gleichwohl merken die Autoren an:
Niemand kann sich natürlich so präzise verhalten, wie wir es oben beschrieben
haben. Vielleicht kann er es nicht, und vielleicht lohnt sich eine derartige Genau-
igkeit auch gar nicht. [...] Es kommt uns eigentlich auch nur darauf an, daß ratio-
nale Individuen sich ungefähr so wie beschrieben verhalten werden (ebd.: 35).
Die Parallelen zu Homans’ Programm für die Soziologie lassen sich leicht auf-
zeigen (vgl. Homans 1972c: 59ff. und Opp 1972: 31ff.). Auch er betrachtet die
Handlungen der Menschen als eine Funktion ihres Ertrags. Dieser Ertrag er-
gibt sich aus der Differenz von Nutzen (= Belohnungen) und Kosten von
Wahlhandlungen, wobei sich die Kosten aus dem Wert der besten, nicht wahr-
genommenen Handlungsalternative ergeben. Wenngleich sich in Homans ver-
haltenstheoretischem Programm eine Vielzahl von Begriffen aus der Lerntheo-
rie wiederfinden (z.B. Deprivation, Reiz, Stimulus, Belohnung), baut seine
Argumentation sowohl auf dieser Tradition als auch auf der ökonomischen
Verhaltenstheorie auf, die früher als Wahlhandlungstheorie bezeichnet wurde
und heute mit dem Begriff „Rational Choice“ angesprochen wird.3 Seine Basis-
hypothesen, die hier im Einzelnen nicht erläutert werden sollen, integrieren
ökonomische und lerntheoretische Erklärungen und sind nach Homans in der
Lage, nicht nur, wie die Theorie des rationalen Handelns, Werte und Präferen-
zen als gegeben hinzunehmen, sondern ihre Entstehung und Veränderung zu
erklären (vgl. Homans 1972d: 116). Eine entscheidende heuristische Regel bzw.
Arbeitshypothese der Rational Choice-Theorie lautet nach Diekmann und Voss
wie folgt: „Verhaltensänderungen möglichst durch die Veränderung von Re-
3 Homans’ Theorie kann nicht als Lerntheorie im Sinne des Behaviorismus eingestuft wer-
den, sondern als eine auf den Erkenntnissen der Lerntheorie aufbauende Wahlhandlungs-
theorie, die die Reaktionen bzw. Folgen vorangegangener Verhaltensweisen in die zukünfti-
ge Handlungsplanung einfließen lässt. Vgl. zur Bedeutung Homans für die moderne Sozio-
logie auch Coleman und Lindenberg (1990).
„…dass man nichts zu wählen hat“ 77
Aber wenig später findet man eine Aussage, die zumindest einen Hinweis auf
die Verifikation durch Bewährung enthält. Denn dort heißt es:
Da wir normalerweise handeln müssen und nicht reflektieren können, um den
Forderungen des Augenblicks zu genügen, kümmern wir uns nicht um die „For-
derung nach Gewißheit“. Wir sind zufrieden, wenn wir eine faire Chance der
Realisierung unserer Absichten haben und diese Chance haben wir, so denken
wir jedenfalls, wenn wir den Mechanismus der Gewohnheiten, Regeln und Prin-
zipien in Bewegung setzen, der sich früher einmal bewährt hat und sich hoffent-
lich auch jetzt bewähren wird. (ebd.: 32)
4 Dieser Hinweis – diese Einschränkung ist notwendig – bezieht sich auf eine Darstellung
von Leibniz’ Theorie des Wollens und kann nicht ohne weiteres als eine Aussage, die
Schütz in seine Theorie integriert, interpretiert werden (vgl. Schütz 1971: 102ff.).
„…dass man nichts zu wählen hat“ 83
struktur des Handelns“ (ebd.: 440). Die Einordnung der Logik der Situation,
die bei Schütz an den Begriff der Relevanz gekoppelt wird, erfolgt, so Esser,
nach einem dominierenden Leitmotiv. Diesen Prozess der Situationsbestim-
mung bezeichnet er mit dem Begriff „frame“ (= Rahmen). „Frames vereinfa-
chen die Zielstruktur des Handelns“ (ebd.: 440). Damit ergibt sich für die ers-
ten beiden Analyseschritte das Bild laut Abbildung 1.
Frame Habits
Schemata Skripts
Anlehnung an William Isaac Thomas verwandte (vgl. Preglau 1995: 73). Typi-
sierungen von Situationen beruhen danach auf dem vorhandenen Wissensvor-
rat. Alltagshandeln sei, so Srubar, gerade nicht durch Selektionslogik gekenn-
zeichnet. Schütz bestreite nicht „die Möglichkeit, ein Handlungsmodell, das auf
Nutzenmaximierung aufbaut, aufzustellen [...]“. Und weiter heißt es: „Was er
bestreitet, ist die universelle Geltung einer solchen Selektionslogik“ (Srubar
1992: 161).
Insbesondere zieht Srubar in Zweifel, dass man die „unreflektierte ‚Wahl’
von Habits und die spontane Orientierung an bestimmten Frames“ (Esser
1991b: 442) noch als einen Unterfall des rationalen Handelns einordnen kann.
Warum, so lautet sein Gegenvorschlag, kann man dann nicht von einem „Ide-
altypus des Routinehandelns“ ausgehen (Srubar 1992: 162)? Warum kann man
nicht Abweichungen vom Routinehandeln als Spezialfälle betrachten, die dann
einen rationalen Handlungstypus erfordern? Für ihn ist Routinehandeln kein
Spezialfall rationalen Handelns, für Esser gilt das Gegenteil. Nach Collins
(1993: 58) konstruiert Esser ein Modell „of a second order of rationality; more
accurately, a prior order of rational choice as to whether it is advantageous to
engage in calculations or to stick with an accepted routine.“
Srubar neigt dazu, das rationale Handeln auf den wirtschaftlichen Bereich
zu konzentrieren (vgl. hierzu auch Srubar 1993: 39). Die entscheidende Frage
aber ist, woher ein Akteur weiß, dass ihm Routinen in bestimmten Situationen
weiterhelfen. Er muss auf Erfahrungen oder Vorbilder zurückgreifen, um ihre
Angemessenheit beurteilen zu können. Die Adäquanz einer Typenbildung
beruht auf dem Kriterium Erfolg/Misserfolg, Gelingen/Misslingen. Auch eine
Theorie des Routinehandelns kommt ohne diese Kategorien nicht aus. Routi-
nehandeln muss nicht zum Gegenstand einer eigenen Theorie gemacht werden,
sondern kann als Spezialfall rationalen Handelns betrachtet werden. Selbst
Gewohnheitshandeln (unreflektierte Wahl) kann über die Handlungsfolgen
eine nachträgliche Bewertung erfahren. Einschränkend kann hinzugefügt wer-
den, dass die unreflektierte Wahl selbst schon wieder einen Grenzfall der
Handlungsplanung darstellt und einer starken Vereinfachung der Mittelstruktur
(vgl. Abbildung 1) gleichkommt.
Neben diesem Rekonstruktionsversuch einer Handlungstheorie, die das
Kernstück des so genannten interpretativen Paradigmas ausmacht, ist auf einen
weiteren theoretischen Vermittlungsversuch hinzuweisen. Gemeint ist der
Versuch einer Synthese zwischen Homo Oeconomicus und Homo Sociologi-
cus.
„…dass man nichts zu wählen hat“ 85
Der Konjunktiv am Ende des Zitats verdeutlicht zugleich, dass es den „perfek-
ten Kalkulierer“ nicht geben kann. Man kann auch dann von Rationalität spre-
chen, wenn man nicht vollkommen informiert ist, sondern lediglich versucht,
optimal informiert zu sein (ebd.: 53). Die Entscheidung wiederum, ob man
auch eine nicht-optimale Entscheidungsfindung akzeptiert, hängt von der
Wahrnehmung der Situation und der Antizipation der Folgekosten aus nicht-
optimalen Entscheidungen ab. Die Reihenfolge lautet: vollkommen informiert,
optimal informiert, nicht-optimal informiert. Wenn die Kosten aus einer fal-
schen Entscheidung hoch veranschlagt werden, muss man versuchen, eine
optimale Strategie zu finden. Erscheint die Situation weniger folgenreich, ist
eine nicht-optimale Entscheidungsfindung eher tragbar (vgl. Jäckel 1992:
254f.). Nicht-optimal kann im Extremfall bedeuten, dass man weitgehend auf
Vorab-Informationen verzichtet und damit nicht mehr von einer Handlungs-
planung gesprochen werden kann.
Der Entscheidungsablauf ist mehrstufig angelegt. In Anlehnung an die Be-
stimmung der Situationsbeschaffenheit unterscheidet Zintl dabei Niedrig- und
Hochkostensituationen. In Hochkostensituationen können nicht-optimale
Entscheidungen folgenreich sein, in Niedrigkostensituationen lassen sich die
Folgen verschmerzen (vgl. Zintl 1989: 254). Kliemt (1987: 59), auf den sich
Zintl hierbei beruft, hat die Unterscheidung zwischen „low“ und „high cost“-
Situationen diskutiert, um ein kombiniertes Verhaltensmodell vorzuschlagen.
Solange mit bestimmten Handlungen nur geringe Kosten verbunden sind, sei
es gerade nicht rational, sich „in every instance of choice“ als ein „rational
decision maker“ zu verhalten. In diesem Zusammenhang taucht ein Begriff auf,
auf den auch Esser in seinem Rekonstruktionsversuch der Theorie von Schütz
Bezug genommen hat: Daumenregeln („rules of thumb“, Kliemt 1987: 60).
Kliemts Vorschlag zielt auf eine Aufhebung der Dichotomie von „social“ und
„…dass man nichts zu wählen hat“ 87
„economic man“ durch die Beachtung der Situation und der daran orientierten
Einschätzung der Folgekosten. Sein Fazit lautet: „Obviously we should try to
combine in one behavioral model two human faculties simultaneously: that of
acting according to some rules and that of choosing according to the exigencies
of the moment.“ (ebd.: 62). Nicht die Dichotomie, nicht der Gegensatz helfe
theoretisch weiter, sondern: „Both men are combined in one person.“ (ebd.:
63), wie Abbildung 2 visualisiert.
Socio-economic man
Homo Socio-oeconomicus
Situationsabhängiges
Handlungsmodell
Motive Konkretisierung
= auf sozial aner-
fundamentale suchen kannten Wegen,
Bedürfnisse, Anschluss an Orientierung an
anthropologische Kulturformen
Universalien
Motivation
=
Verschmelzung von
Motiv und Programm
Eine daraus abgeleitete Forderung ist für eine Handlungslehre bedeutsam: „Die
‚Logik der Selektion’ muss um den Vorgang der Selektion von Typen des Han-
delns, und das heißt: von besonderen Orientierungen und/oder von Graden
der Informationsverarbeitung, erweitert werden.“ (Esser 2004: 97) Auf diese
Erweiterung hat Esser bereits 1990 hingewiesen: „[…] dass die – unbezweifel-
bare Existenz – verschiedener Typen des Handelns – z.B. zweckrational, wert-
rational, traditionell, affektuell – keineswegs heißt, dass man Handeln und sozi-
ale Prozesse nicht aus einer einheitlichen Handlungstheorie heraus erklären
könnte.“ (ebd.: 244) Abbildung 4 fasst diese Überlegungen zusammen.
Auch Talcott Parsons lehnt eine rein utilitaristische Erklärung von Hand-
lungen ab. Nach seiner Auffassung müssen Menschen erst zur Erkenntnis der
sozialen Realität kommen, um ihre (langfristigen) Interessen umsetzen zu kön-
nen. Daher sind Bezugspunkte erforderlich, die sich beispielsweise in Normen
und Werten bereits konkretisiert haben. Auf diese Art und Weise wird eine
normative Einbindung individueller Handlungen angestrebt. Parsons unter-
scheidet dabei vier strukturelle Komponenten: die subjektiven Ziele (ends), die
Mittel des Handelns als eine Komponente der Situation eines Akteurs (means),
die Bedingungen der jeweiligen Situation (conditions) und die Normen (norms)
als regulierender Faktor (vgl. Parsons 1967).
„…dass man nichts zu wählen hat“ 91
Abbildung 4: Die drei Logiken von Esser und Typen des Handelns
Sowohl Weber als auch Parsons betonen also ein Mischungsverhältnis ver-
schiedener Komponenten. Das wird auch im Homo Oeconomicus-Modell
mitgedacht, dort aber – zumindest von Seiten der Kritiker – als zu pauschale
Randerscheinung thematisiert. Das Mischungsverhältnis kann aber auch noch
auf eine andere Art und Weise thematisiert werden, nämlich über die Berück-
sichtigung der Einbindung in konkrete Interaktionen.
Die Relativierung rein utilitaristischer Konzepte findet man in der Soziolo-
gie vielfach beschrieben, insbesondere in den Theorien von Bourdieu und
Giddens. Giddens betont in seiner Theorie der Strukturierung, dass Menschen
sich in ihrem praktischen Handeln auf vorgelagerte Strukturen beziehen, wobei
sie mit diesem Handeln wiederum Strukturen schaffen. Diese Formel der Dua-
lität von Struktur impliziert, dass die jeweiligen Strukturen sowohl Vorausset-
zung als auch Produkt von Handeln sind, und diese wiederum nicht als Zwang
wahrgenommen werden, sondern als Voraussetzung zur Ermöglichung be-
stimmter Handlungen (vgl. Giddens 1988).
Ebenso kündigt Bourdieu (1994) konsequent den Gegensatz von Indivi-
duum und Gesellschaft auf, in dem er für ein Denken in Relationen plädiert
(vgl. die Beiträge von Willems und Hanitzsch in diesem Band). Die soziale
Praxis lässt sich nach seiner Auffassung nicht auf eine Widerspiegelung von
Kulturmustern und Regeln reduzieren. Es handelt sich hierbei nicht um Tatsa-
92 Michael Jäckel
chen. Alle Regeln enthalten ein Moment von Unbestimmtheit, und gerade an
dieser Stelle setzt die Logik der Praxis an. Dort kommen die Strategien der
Akteure ins Spiel, die versuchen, diese Unbestimmtheit der Praxis auszunutzen.
Die Partitur ist zwar vorgegeben, aber es gibt Unterschiede in der Art und
Weise, wie sie gespielt wird. Diese Art und Weise des Spielens wiederum kann
nicht dem voluntaristischen Belieben der Akteure überlassen werden, sondern
ist wiederum Resultat eines über Sozialisation erworbenen Lehrplans. Hierfür
steht bei Bourdieu der Habitus-Begriff. Dieser Begriff steht für sedimentierte
Erfahrungen, für eine Art zweite Natur des Individuums, die dennoch nicht
gleichzusetzen ist mit einer vorgeschriebenen Rolle. Der Habitus ist „als nicht
gewähltes Prinzip aller Wahlen“ (Bohn & Hahn 2000: 258) der Rahmen der
Möglichkeiten. Damit wird hier eine Erklärung für das gegeben, was im Rah-
men der einleitend gegebenen Definition des Homo Oeconomicus unter die
Kategorie „Restriktionen“ gefallen ist.
Wer über den Homo Oeconomicus spricht, muss also die jeweilige Logik
der Situation mitdenken und in Erklärungsmodellen berücksichtigen. Von
zentraler Bedeutung ist daher das Arbeiten mit Brückenannahmen oder
-hypothesen, die Strukturvariablen mit den Variablen der Individualtheorie
(beispielsweise wahrgenommene Nutzungsalternativen, Interessen und Ziele
der Akteure) verbinden müssen. Brückenhypothesen sind gewissermaßen der
Input für eine verhältnismäßig „inhaltsleere“ Handlungstheorie von großer
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Ökonomik als neue Perspektive für
die Kommunikationswissenschaft
1 Einleitung
Michael Jäckel hat sich in seinem Beitrag umfassend mit dem Modell des ratio-
nalen Akteurs1 aus der Perspektive des Soziologen auseinandergesetzt und die
Meilensteine einer ökonomischen Perspektive in der Soziologie umrissen. Seine
„Zeitreise“ durch die Geschichte ökonomisch inspirierten Denkens in der
Soziologie beginnt er mit George C. Homans, der Mitte der 60er Jahre des 20.
Jahrhunderts – gegen den damaligen Mainstream in den Gesellschaftswissen-
schaften – für eine stärkere Berücksichtigung des Individuums plädierte: Nicht
allein die Strukturen, sondern auch die Individuen sollten das Interesse der
Soziologen wecken – denn das Handeln der Menschen wird nicht nur durch
gesellschaftliche Normen und Regeln bestimmt, sondern auch durch die urei-
genen und durchaus eigennützigen Ziele der Akteure.
Jäckel schreibt die Renaissance individualistischen bzw. ökonomischen
Denkens in der Soziologie fort, wenn er auf die wichtigen Impulse hinweist,
die, wiederum Homans zufolge, von Anthony Downs, Gary S. Becker, Richard
B. McKenzie und Gordon Tullock sowie von Herbert A. Simon ausgingen:
Diesen Autoren sei es zu verdanken, dass die ökonomische Perspektive in den
Sozialwissenschaften zugleich Erweiterungen als auch Einschränkungen erfah-
ren habe. Insbesondere Downs und Becker haben der Ökonomik neue An-
2 Die Analysen von Ökonomikern beschäftigen sich mit so unterschiedlichen Gebieten wie
der Politik (z.B. Arrow 1951; Buchanan 1962, 1987, 1988; Downs 1957/1968; als aktueller
Überblick: Braun 1999), dem Recht (z.B. Posner 1993; Schäfer-Ott 1986), der Bürokratie
(z.B. Niskanen 1974; Downs 1967), der Kunst (z.B. Frey & Pommerehne 1989), der Litera-
tur (z.B. English 2005), dem Hochschulsektor (z.B. Helmstädter 2004; Albert 2004) dem
Gesundheitswesen (z.B. Herder-Dorneich 1980), Kriminalität und Drogenkonsum (z.B. Be-
cker & Becker 1998; Becker 1982), Umweltschutz (z.B. Bonus 1984), Familien- und Ge-
schlechterbeziehungen (z.B. Becker 1982; Boulding 1973) und religiösen Bindungen (z.B.
Graf 2004; Moore 1994).
Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft 99
Und so ist es womöglich kein Zufall, dass just in einer Zeit, in der das Erklä-
rungspotenzial der das Fach bislang dominierenden Systemtheorie zunehmend
100 Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl
kritisch hinterfragt wird (vgl. z.B. Löffelholz 2004), ein neues Interesse an der
Theorie rationalen Handelns aufkeimt (vgl. Hamilton 2004; Hosp 2005; Rei-
nemann 2005; Vowe & Wolling 2000). Noch allerdings beklagt Marie-Luise
Kiefer (2001: 193) zu Recht, dass das „Konzept des Akteurs als zielorientierte
Handlungseinheit, als Mikro- und Makroprozesse intendiert oder unintendiert
steuerndes Individuum, [...] so gut wie keine systematische Rolle” in der Publi-
zistik- und Kommunikationswissenschaft spiele, vereinzelte Ansätze in der
politischen Kommunikation einmal ausgenommen.3 Allerdings gilt auch für die
Publizistik- und Kommunikationswissenschaft Dietmar Brauns (1999: 180) auf
die Politikwissenschaft gemünztes Diktum: Dass nämlich
implizit oder explizit immer schon auf Annahmen über das Akteurshandeln zu-
rückgegriffen wird, die dann aber selten klar offen gelegt werden. Häufig erweist
sich dabei, dass man von ganz ähnlichen Annahmen über die Intentionen der
Akteure ausgeht wie die Rational Choice Theorie (nämlich z.B. Maximierung
von Macht), ohne dies aber konsequent weiterzuverfolgen.
Beispiele für die implizite Annahme rationalen Handelns finden sich an ganz
unterschiedlichen Stellen unseres Fachs:
Der Uses-and-Gratifications-Ansatz basiert auf der Annahme rationaler, nut-
zenmaximierender Rezipienten. „Interessen, Motive und Präferenzen des
Publikums (werden) zum Ausgangspunkt der Erklärung medienbezogenen
Handelns”, fasst Jäckel (2002: 80) zusammen.4
Die Theorie der Nachrichtenfaktoren (Schulz 1976) enthält ebenfalls starke
ökonomische Bezüge – allein schon dadurch, dass sie Nachrichten, wie
Gütern, einen „Wert” zuspricht. Dieser Wert wiederum bezieht sich eng
auf das vermutete Publikumsinteresse und den unterstellten Publikums-
nutzen; er dient also der Aufmerksamkeits-Maximierung und damit letzt-
lich der Steigerung der Verkaufsauflagen bzw. Einschaltquoten.
Auch viel diskutierte Medienwirkungen wie Agenda-Setting, Priming und
Framing lassen sich ökonomisch erklären, wenn man mit Römmele (2002:
20, 32) deren Beitrag zur Senkung der individuellen Informationskosten ra-
tionaler Mediennutzer anspricht: „Die theoretisch unendliche Menge an
Informationen wird von den Medien auf eine aktuelle Agenda reduziert;
komplizierte Sachverhalte werden oftmals vereinfacht dargestellt. [...] Fer-
ner handelt es sich um strukturierte Information, in der eine bevorzugte
Interpretation der Realität angeboten wird.“
In der PR-Forschung werden laufend neue Methoden entwickelt, um
Kommunikationsleistungen angemessen zu bewerten und so das Wert-
schöpfungs-Potenzial insbesondere von Corporate Communication besser zu
erfassen (vgl. Pfannenberg & Zerfass 2005). Ökonomisch betrachtet, geht
es hier um die Frage nach Kosten und Nutzen des „Rent-Seeking“, des
Strebens nach einer Aufmerksamkeitsrente für die PR-treibenden Organi-
sationen und Individuen (vgl. Hosp 2005).
Die Theorie der Schweigespirale (Noelle-Neumann 1982; van Aaken 1992:
79ff.) basiert ebenfalls auf Annahmen der Ökonomik: Menschen suchen
nicht nur auf rationale Weise Information, sondern verwerten diese auch
rational im Blick auf ihre Umwelt weiter: Wer mit seinen Ansichten auf
positive Verstärkung (= Belohnung) im Umfeld hoffen darf, geht aus der
Deckung. Wer dagegen mit Druck und Ablehnung (= Sanktionen) im Be-
kannten- und Freundeskreis rechnen muss, behält seine Meinung für sich
und schweigt in der Öffentlichkeit. So verstärken die Medien einerseits
Stimmungen in der Bevölkerung, andererseits bleiben womöglich „schwei-
gende Mehrheiten” unter der Wahrnehmungsschwelle in der Öffentlich-
keit.
Gerade in der Journalismusforschung sind lange Zeit anstelle von Interessen
(-konstellationen) die Rollen thematisiert worden, die Journalisten insbesondere
in demokratischen Gesellschaften übernehmen wollen – und übernehmen
sollen. „Neutraler Informationsvermittler“, „Analytiker komplexer Sachverhal-
te“ oder „Anwalt der Schwachen“ lauten die auch in der internationalen Jour-
nalismusforschung oft genannten Rollenselbstbilder (vgl. Weaver et al. 2006;
Marr et al. 2001; Weischenberg, Scholl & Malik 2006).
Andererseits wird gerade in unserem Fach seit einigen Jahren immer öfter
die „Ökonomisierung“ des Journalismus in seinen (negativen) Auswirkungen
auf die Qualität der massenmedial vermittelten Informationen beschrieben.
Höchste Zeit also für eine ökonomische Analyse nicht nur der Medienunter-
nehmen, sondern auch der Medienmacher! Denn für diese ergeben sich selbst
in straff organisierten, „durchökonomisierten“ Medienkonzernen immer wie-
der Handlungsspielräume (vgl. Hamilton 2004: 25), und diese sind in der redak-
102 Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl
5 In den USA diskutieren Ökonomiker schon seit einiger Zeit über Aufmerksamkeit als
knappe Ressource (vgl. Simon 1983; Olson 1982, 1985; Downs 1957, 1968). Auch in der
Politikwissenschaft ist der Tauschcharakter von Aufmerksamkeit thematisiert worden.
Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft 103
keit6. Und so lässt sich der Journalist in der Tat als „Homo oeconomicus“
beschreiben: Wenn wir ihm unterstellen, dass er nicht an erster Stelle nach
höherem Einkommen strebt. Viel wichtigere Anreize als Geld sind für Journa-
listen offenbar öffentliche Aufmerksamkeit – und damit einhergehend Selbst-
verwirklichung, Prestigegewinn, soziales Ansehen, leichterer Zugang zu exklu-
siven Quellen und auch Macht. Erst mittelbar kann ein hohes Aufmerksam-
keitseinkommen möglicherweise auch zur Einkommenssteigerung führen.7
Ein Gehaltsbestandteil bei Journalisten ist schließlich die „Aufmerksam-
keitsdividende”: Der privilegierte Zugang zu Eliten, zu gesellschaftlichen Er-
eignissen von Rang und zur Öffentlichkeit, die Chance, sich gedruckt zu sehen,
und die damit einhergehende Selbstverwirklichung werden von den Verlegern
als „geldwerte” Vorteile eingestuft. Journalisten müssen sie meist mit Gehalts-
verzicht „erkaufen”. Da Journalisten beim Berufseinstieg in der Regel bereits
wissen, dass mit einer akademischen Ausbildung anderswo höhere Einkommen
zu erzielen sind, dürften materielle Interessen in ihrem Kalkül also keine her-
ausragende Rolle spielen. Der Beruf wird – zumindest anfangs – oft als Beru-
fung gesehen. Erst im Verlauf eines journalistischen Berufslebens verschieben
sich die Präferenzen: Das Einkommen wird wichtiger – sei es wegen familiärer
Verpflichtungen und gestiegener Ansprüche, sei es, weil der Beruf weniger
idealistisch und damit nicht mehr als „Berufung” eingeschätzt wird; viele Jour-
nalisten wechseln in die Öffentlichkeitsarbeit über (vgl. z.B. Marr et al. 2001:
97).
6 Selbstverständlich ist Günther Bentele Recht zu geben, wenn dieser moniert, Kommunika-
tionsprozesse würden verkürzt dargestellt, reduzierte man sie auf „Tauschakte” (vgl. Dis-
kussion im Rahmen eines Vortrags bei der DGPuK-Jahrestagung 2004 in Erfurt). Gleich-
wohl halten wir diese bewusste Reduktion für eine ökonomische Analyse journalistischer
Interaktionen für sinnvoll.
7 Warum Journalisten sich mit vergleichsweise niedrigen Einkommen zufrieden geben müs-
sen, haben Becker et al. (1996) – implizit erkennbar ökonomisch – mit dem Überangebot an
Arbeitskräften erklärt: Die jährliche Zahl der Absolventen kommunikationswissenschaftli-
cher Studiengänge bzw. Journalism Schools übersteigt in Amerika bei weitem die Ein-
stiegsmöglichkeiten in den Beruf. Besonders viele Nachwuchs-Journalisten drängten dort
zudem in den Fernsehbereich, wo infolgedessen – auch im Vergleich zu den Zeitungen –
noch niedrigere Gehälter gezahlt würden. Eine ähnliche Situation ergibt sich für den euro-
päischen Raum, wo das Überangebot an journalistischen Arbeitskräften seit der Medienkri-
se 2001/2002 noch zugenommen hat und die Preise weiter drückt. Umgekehrt konnte man
andererseits beobachten, wie die Gehälter für Wirtschaftsjournalisten im Gefolge des Bör-
senbooms zeitweilig explodierten, da die vielen neu gegründeten Wirtschaftstitel kaum qua-
lifizierte Finanzjournalisten finden konnten (vgl. Klusmann 2002).
104 Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl
Knappe Ressourcen
(Zeit, Geld, Information, …)
Ziel:
Homo
Präferenzen Eigennutz-
oeconomicus
Maximierung
(materiell/immateriell)
Restriktionen
(Normen, Regeln, …)
Unter der Maßgabe, dass Journalisten primär an der Maximierung von Auf-
merksamkeit interessiert sind, können wir nun auch auf den Journalismus das
Forschungsprogramm der Ökonomik anwenden, welches Braun (1999: 39f.)
wie folgt beschreibt: „Jeder Mensch, egal in welchem Bereich er handelt, wird
in Analogie zum Wirtschaftssubjekt konstruiert. Bei jedem (materiellen oder
immateriellen) Gut, was man also anstrebt, wird die Kalkulation wie eine Preis-
berechnung behandelt, die der Akteur in seinem Inneren vornimmt.“
8 In aller Kürze seien sie noch einmal zusammengefasst: Der rationale Akteur („Homo oeco-
nomicus“) sucht in Interaktionen seinen eigenen Vorteil zu maximieren. Dabei handelt er
unter Bedingungen der Ressourcenknappheit. Er wird von Präferenzen geleitet, wenn er ei-
ne Entscheidung trifft. Zugleich begrenzen Restriktionen die Handlungsmöglichkeiten des
Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft 105
einige alltägliche Situationen durch, in die Journalisten bei ihrer Arbeit geraten
könnten – und verweisen dabei auf die Eckpfeiler des ökonomischen Analyse-
ansatzes.
Homo
oeconomicus
Sonstige
zweckbestimmte Anreize
Der „eigennützige” Akteur, von dem die Ökonomik ausgeht, befindet sich
stets „in einer Situation der Knappheit, so dass er nicht alle Bedürfnisse (gleich-
zeitig) befriedigen kann, sondern sich jeweils zwischen mehreren Möglichkeiten
entscheiden muss.” (Kirchgässner 1991: 12f.) Stellen wir uns also vor, dass ein
Journalist für eine Tageszeitung eine aufwendige Reportage über Korruption in
Deutschland recherchieren möchte. Gleichzeitig ist er jedoch in das Tagesge-
schäft seines Blatts eingebunden, bei dem er als Redakteur die Innenpolitik-
Seiten betreut: Er muss an Redaktionskonferenzen zur Planung der Seiten
teilnehmen, Agenturmaterial sichten, Kollegen auf Termine schicken und Ma-
nuskripte bearbeiten. Der Journalist befindet sich damit in einer Situation der
Knappheit, was seine Zeit und Arbeitskraft angeht. Er muss sich also gut über-
legen, wie er seine Ressourcen am besten zu seinem Vorteil – und zum Nutzen
der Redaktion – einsetzen kann. Zwei Handlungsalternativen muss der rationale
Journalist folglich gegeneinander abwägen:
Akteurs. Aufgrund beschränkter Fähigkeiten zur Aufnahme und Verarbeitung von Informa-
tionen kann der rationale Akteur jedoch stets allenfalls hinreichend informiert sind („boun-
ded rationality“) und in seinen Interaktionen zudem allenfalls befriedigende, jedoch keine
optimalen Verhandlungsergebnisse erzielen („satisficing“ statt „optimizing“).
106 Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl
Doch hat der Journalist überhaupt eine Chance auf diesen begehrten Posten?
Soll die Stelle des Chefreporters noch in diesem oder erst im nächsten Jahr
besetzt werden? Ist an der Korruptionsgeschichte wirklich so viel „dran”, dass
der Aufwand lohnt? Und schätzt der neue Chefredakteur es am Ende über-
haupt, wenn Routineaufgaben vernachlässigt werden, um prestigeträchtige
Einzelprojekte zu verwirklichen? All diese Fragen stellt sich der Journalist –
und muss sich daher vor dem Schleier der Ungewissheit entscheiden, ohne die
Antworten zu kennen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird der Journalist bei
seiner Abwägung von Handlungsalternativen nur eingeschränkt rational vorgehen
können: Wie bereits erwähnt, nehmen Ökonomiker an, dass Akteure sich bei
meist unvollständiger Information nur begrenzt rational verhalten können (vgl.
Simon 1983; Downs 1968: 202). Für alle rationalen Akteure besteht in Ent-
scheidungssituationen nämlich insofern ein „Informationsproblem”, als die
Beschaffung und Verarbeitung vollständiger Information zu einer Entschei-
dungssituation in der Regel mit unverhältnismäßig hohen „Kosten” verbunden
ist. Statt nach der optimalen Tauschmöglichkeit weiterzusuchen, wird der ein-
Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft 107
geschränkt rationale Akteur also die Suche abbrechen, sobald ein Tausch ein
zufriedenstellendes Ergebnis verheißt.
Rationales Handeln wird aus ökonomischer Sicht weiterhin durch die Präfe-
renzen der Akteure gesteuert. Damit gemeint sind die Interessen, Motive und
Ziele der Akteure, die ihr Verhalten bestimmen. Der Journalist in unserem
Beispiel hat gleich mehrere Beweggründe, die Reportage über Korruption zu
beginnen: Er wird von sozialen Anreizen geleitet – denn er möchte sich mit
seinem Beitrag in der eigenen Redaktion als hartnäckiger Rechercheur profilie-
ren, der für die demnächst freiwerdende Stelle des Chefreporters der richtige
Mann ist. Er wird von materiellen Motiven getrieben – denn der begehrenswer-
te Job wäre mit einem Gehaltszuwachs verbunden. Und er wird von „zweckbe-
stimmten”, also sich aus den Zielen der Organisation ergebenden Anreizen
geleitet – weil er zum Renommee der Zeitung beitragen und sich zugleich im
Kampf gegen Korruption engagieren möchte: Je nach Wertorientierung kön-
nen es also sehr komplexe Zielsysteme sein, an denen der einzelne sein Han-
deln ausrichtet. „Die Nutzenfunktion des [modernen] Homo oeconomicus [ist]
prinzipiell offen”, so Kirchgässner (1997: 24). Rationales Handeln zielt auf
Effektivität und Effizienz des Mitteleinsatzes, jedoch nicht zwingend auf enge
Zielvorgaben wie den größtmöglichen Gewinn oder den persönlichen finan-
ziellen Vorteil. In der ökonomischen Analyse wird der Begriff rational niemals
auf die Ziele, sondern stets nur auf die Mittel eines Handlungsträgers angewen-
det (Downs 1968: 5).
Der geringstmögliche Aufwand, den der Journalist in diesem Beispiel
betreiben muss, um auf der Karriereleiter ein Stück voranzukommen, wäre eine
große Korruptionsreportage bei gleichzeitiger Vernachlässigung seiner Routi-
neaufgaben. Das hat er gleich erkannt, als er den Jahresbericht des Netzwerks
gegen Korruption „Transparency International” in die Hände bekam. Ergo hat
er den ebenfalls auf seinem Schreibtisch liegenden Tätigkeitsbericht des Minis-
teriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit beiseite gelegt, denn ein Beitrag
über die deutsche Entwicklungshilfe im Ausland verspräche vergleichsweise
wenig Aussicht auf Aufmerksamkeit. Der Journalist handelt also bei der Sich-
tung des eingehenden Materials „nicht zufällig”, sondern er reagiert „in syste-
matischer und damit vorhersehbarer Weise” (Frey 1990: 4). Er verhält sich
rational, indem er das Thema Korruption aufnimmt und das Thema Entwick-
lungshilfe liegen lässt, weil ihm die eine Handlungsmöglichkeit „vorteilhafter”
und die andere „ungünstiger” erscheint.
Der Journalist geht also mit der Absicht in die nächste Redaktionskonfe-
renz, die Reportage über Korruption in Deutschland vorzuschlagen. Doch dort
108 Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl
stellt sich heraus: Er ist nicht der Einzige, der der neuen Führung auffallen
möchte. Unerwartet schlägt seine Kollegin im Politikressort in der Redaktions-
konferenz eine große Geschichte über Misswirtschaft im Verteidigungsministe-
rium vor. Offenbar befindet sich der Journalist bereits in einem Wettbewerb um
die Gunst des Chefredakteurs und die Stelle des Chefreporters. In der
Ökonomik wird Wettbewerb als Konstellation mit mindestens drei Akteuren
bezeichnet (vgl. Homann & Suchanek 2000: 168, 249). Im hier behandelten
Fall wären das der Chefredakteur, der demnächst die Stelle des Chefreporters
besetzt, sowie der Journalist und seine Kollegin, die um die Stelle konkurrieren.
Doch nicht genug, dass bereits eine Konkurrenz um die Aufmerksamkeit
des neuen Chefs entbrannt ist: Kaum, dass der Journalist für sein Thema Kor-
ruption geworben hat, macht der Sportchef das Platzproblem geltend: Dem-
nächst beginnen die Olympischen Spiele, für die längst tägliche Extra-Seiten
eingeplant sind. Der Chef vom Dienst spricht die Kostenfrage an, denn das
Redaktionsbudget ist für dieses Quartal so gut wie ausgeschöpft, und es gibt
kaum noch Mittel für Reisekosten und Vertretungslösungen. Der Journalist
kann also keine Vertretung beantragen und auch nicht sicher mit redaktio-
nellem Platz für seine Reportage rechnen. Ein Ökonomiker würde konstatie-
ren: Die Möglichkeiten des Journalisten, seine Recherche zu realisieren, sind
durch eine Reihe von Restriktionen eingeschränkt, welche die Entscheidungs-
Optionen des Individuums begrenzen. „[I]nnerhalb dieses Handlungsspiel-
raums liegen die einzelnen Handlungsmöglichkeiten, die ihm zur Verfügung
stehen und aus denen es auswählen muss.” (Kirchgässner 1991: 13)
Während der Journalist nach der unerfreulichen Redaktionskonferenz noch
über weitere Handlungsoptionen nachdenkt, tritt seine Kollegin an den
Schreibtisch und bietet ihm einen „Deal” an: Wenn er sie nächste Woche beim
„Seitenbauen” vertritt, so dass sie in Ruhe ihre Ministeriums-Geschichte re-
cherchieren kann, wird sie übernächste Woche für ihn einspringen, damit er
Zeit für seine Korruptions-Reportage hat. Eine gute Idee, denkt der Journalist
– und hält dann doch inne: Was, wenn die Kollegin eine Woche eher mit ihrer
Geschichte herauskommt und damit schon eine „Duftmarke” bei der neuen
Chefredaktion setzt, während er noch an seiner Reportage arbeitet? Und was,
wenn sie ihm zwar dieses Angebot macht, ihre Zusage auf Vertretung aber
zurückzieht, sobald ihr eigenes Stück geschrieben ist?
Unser Redakteur befindet sich angesichts des Kooperations-Angebots in
einer verzwickten Situation, die Ökonomiker als Dilemma beschreiben würden.
Dilemmata sind dadurch gekennzeichnet, dass sowohl gemeinsame als auch
konfligierende Interessen von mindestens zwei Akteuren im Spiel sind und das
Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft 109
Bei jedem Tausch, also bei jeder Interaktion, liegen zugleich gemeinsame und
konfligierende Interessen vor, führen Homann & Suchanek (2000: 8) weiter
aus. Die gemeinsamen Interessen bestehen demnach in den Vorteilen, die jeder
der am Tauschhandel beteiligten Akteure aus der Interaktion zieht – Ökono-
miker bezeichnen diese als „Kooperations-“ oder „Tauschgewinne“ („gains from
trade“). „Die konfligierenden Interessen betreffen die Aufteilung der Koopera-
tionsgewinne.” (ebd.) Gebräuchlichstes Tauschmittel ist Geld, doch gerade im
Fall des Journalismus werden häufig immaterielle Güter wie „Informationen”
gegen „Aufmerksamkeit” getauscht.
Sowohl der Journalist als auch seine Kollegin haben ein Interesse an gegen-
seitiger Entlastung von Routineaufgaben. Ihre Interessen konfligieren aber
insoweit, als beide um den Posten des Chefreporters konkurrieren. Zudem
kennt der Journalist die Kollegin nicht gut genug, um halbwegs verlässliche
Annahmen über ihr zu erwartendes Verhalten bilden zu können. Ökonomiker
warnen: Interaktionen können aufgrund von Anreiz- oder Informationsproblemen
scheitern (vgl. Homann & Suchanek 2000: 8). Der Journalist sucht daher Rat
und bespricht sich beim Mittagessen mit einem älteren Redakteur, der schon
mehrfach mit der betreffenden Kollegin zusammengearbeitet hat. Dieser ist der
Ansicht, sie sei nicht sehr verlässlich. Beispielsweise habe sie letztes Jahr zuge-
sagt, ihm am Wahltag für seine Reportage O-Töne aus den Parteizentralen zu
besorgen. Dann aber habe sie aus den Zitaten, die sie gesammelt hatte, kurzer-
hand selbst eine witzige Glosse gemacht und dem Chefredakteur angeboten –
der gleich zugegriffen habe, während er selbst nun mit einem nur halbfertigen
Beitrag dastand. Offenbar war es der Kollegin also wichtiger, bei der Redakti-
onsleitung zu glänzen, als die Abmachung einzuhalten: Ihr Interesse, auf sich
aufmerksam zu machen, war größer als der Wunsch, sich die Kooperationsbe-
reitschaft des Kollegen zu erhalten und gemeinsam eine gelungene Reportage
über den Wahltag zu erstellen.
110 Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl
Die Zweifel des Journalisten sind durch das Gespräch mit dem älteren Kol-
legen gewachsen: Was geschieht, wenn er seinen Teil der Abmachung erfüllt
und die Kollegin entlastet – sie aber in der Folgewoche „unvorhersehbare neue
Termine” vorschützt und ihn auf seinen redaktionellen Pflichten sitzen lässt,
statt ihn, wie vereinbart, für seine Korruptions-Reportage zu entlasten? Öko-
nomiker würden sagen, dass in der hier gegebenen Situation die Gefahr des
Defektierens besteht, d.h. der Interaktionspartner bricht eine Verabredung, um
seinen eigenen Vorteil zu realisieren.9 Denn zum einen kann der einzelne Ak-
teur die Befürchtung haben, dass er übervorteilt wird; zum anderen kann es –
spiegelbildlich dazu – sein, dass er selbst einen Anreiz hat, einen oder mehrere
Interaktionspartner „auszubeuten.” Zu beachten ist hier insbesondere der für
Interaktionssituationen charakteristische Umstand, dass das erwartete Verhal-
ten des anderen für das eigene Verhalten eine zentrale Rolle spielt: Bereits die
Vermutung, man könnte vom anderen übervorteilt werden, wenn man sich
kooperativ verhält, kann dazu führen, dass der eigene Beitrag zur Realisierung
des gemeinsamen Projekts nicht geleistet wird; ein solches Verhalten wird auch
als „präventive Gegenausbeutung” bezeichnet (vgl. Homann & Suchanek 2000:
35f.).
Tatsächlich scheint dem Journalisten diese Gefahr nach dem Gespräch mit
dem Redakteur in der Mittagspause noch größer. Nach einigem Überlegen
schlägt er das Angebot seiner Kollegin aus. „Von der lasse ich mich doch nicht
über den Tisch ziehen”, denkt er, als er sich auf den Weg zu ihr macht, um den
„Deal” abzusagen. In die Sprache der Ökonomik übersetzt würde man seine
Sorge so formulieren: „Wer im Sinne des gemeinsamen Interesses vorleistet,
setzt sich der Ausbeutung aus.” Doch die Folge ist: Nun haben weder er noch
seine Kollegin genug Zeit, ihre Reportagen zu machen – keiner der beiden
realisiert mögliche „Kooperationsgewinne”.
Aufgrund der unterschiedlichen Anreiz- und Informationslage, und da der Ak-
teur sich niemals vollständig sicher sein kann, wie sein Interaktionspartner han-
deln wird, hat dies zur Folge, das mögliche Kooperationsgewinne nicht erzielt wer-
den – weil Akteure präventiv defektieren, um sich vor Ausbeutung zu schützen.
(Homann & Suchanek 2000: 39f., Hervorhebung im Original)
Wir haben diese Überlegungen an anderer Stelle (Fengler & Ruß-Mohl 2005)
weiter ausgeführt. Bereits jetzt sollte jedoch modellhaft deutlich geworden sein:
9 Wobei der „Vertragsbruch” für den Akteur mit hohen „psychischen Kosten” der kogniti-
ven Dissonanzen verbunden ist, „die entstehen, wenn der Spieler einem freundlich-
intendierten Akt unfreundlich entgegnet.” (Ockenfels 1999: 21)
Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft 111
10 Homann & Suchanek (2000: 22) ergänzen: „Dabei werden unter ‚Akteuren’ [...] letztlich
immer natürliche Personen verstanden. Im übertragenen Sinn kann man für ganz bestimm-
te Fragestellungen unter ‚Akteuren’ aber auch kollektive Akteure wie Haushalte, Unterneh-
men und sogar Staaten verstehen. Die Theorie fokussiert hier immer wieder auf einen ‚Ak-
teur’, der seine Interessen verfolgt, und sein Verhalten wird analog dem Verhalten einer na-
türlichen Person modelliert.”
112 Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl
nicht für das Handeln einzelner Journalisten, sondern für das aggregierte Ergeb-
nis des Verhaltens vieler, die zu ihrem eigenen Vorteil rational handeln. Ein
gutes Beispiel ist der von Beobachtern zunehmend kritisierte „Rudeljournalis-
mus” (Theo Sommer, Die Zeit) oder „Herdentrieb” (Hartmann von der Tann,
ARD). Rudelverhalten im Journalismus lässt sich ökonomisch erklären und ist
ein weiterer Beleg für das rationale Kalkül, das sich hinter vielen redaktionellen
Entscheidungen verbirgt.
Nehmen wir den vielfach diskutierten CDU-Spendenskandal 1999/2000 als
Beispiel. Auf die Medienagenda gebracht wurde das Thema insbesondere von
Hans Leyendecker von der Süddeutschen Zeitung: Er recherchierte investigativ –
mit einem hohen Einsatz an Ressourcen wie Zeit und Arbeitskraft und mit
Hilfe seines Netzwerks gut informierter Quellen (vgl. Ludwig 2002: 144). Für
seine Redaktion war der Einsatz risikobehaftet – denn eine gründliche und
ergebnisoffene Recherche hätte ja auch zu dem Schluss kommen können, dass
Leyendecker auf der falschen Fährte war und dem ehemaligen Bundeskanzler
Helmut Kohl und den CDU-Funktionären kein Fehlverhalten nachzuweisen
sein würde.
Als Leyendecker dann schließlich seine Rechercheergebnisse publizierte,
profitierten umgehend auch andere Journalisten und Medien „kostenlos” von
Leyendeckers Vorleistung – indem sie die Recherche-Ergebnisse des „Frontrun-
ners” zitierten. Ihre Eigenleistung bestand allenfalls darin, die Geschichte weiter
zu drehen. Leyendeckers Exklusiv-Nachricht wurde zum öffentlichen Gut:
Offensichtlich hat der CDU-Spendenskandal unzähligen Berufskollegen die
Möglichkeit geboten, sich als „free-rider” zu verhalten und von den Vorleistun-
gen des SZ-Kollegen zu profitieren.
Ob der Journalist als „Homo oeconomicus” eher seine eigenen individuel-
len Interessen, die Interessen der Redaktion oder sogar seines Berufsstands
insgesamt vertritt, hängt nach Mancur Olsons „Theorie des kollektiven Han-
delns” (1968) entscheidend von der jeweiligen Gruppengröße in der konkreten
Handlungssituation ab. Zum „Trittbrettfahrer”, der von den Vorleistungen
anderer profitiert, werden auch Journalisten mit zunehmender Wahrscheinlich-
keit, je größer die Gruppe ist, der sie angehören und je weniger der eigene
Beitrag zum Wohl der Gruppe – oder aber die eigene Bereicherung auf Kosten
der Gruppe – den anderen Gruppenmitgliedern auffallen dürfte (vgl. auch
Braun 1999: 51). In Kleingruppen werden sich auch Journalisten eher für das
Gruppeninteresse einsetzen, weil dort ihr Handeln für das Erreichen des
Gruppeninteresses wahrnehmbar und wichtig ist.
Ökonomik als neue Perspektive für die Kommunikationswissenschaft 113
Aus diesem „free-riding” resultieren auch die bekannten Exzesse der Medienbe-
richterstattung, wie etwa in der Clinton-Lewinsky-Affäre, aber auch bei der
Berichterstattung über Themen wie BSE, Anthrax und SARS: Weil bestimmte
Informationen zu öffentlichen Gütern geworden sind und damit nichts oder –
infolge von Zusatzrecherchen – nur wenig „kosten”, stürzen sich alle Medien
auf dasselbe Thema und „lutschen es aus”. Es kommt zur Übernutzung – ein
Phänomen, das Ökonomiker wiederum seit langem als „die Tragik der Allmen-
de” kennen (Matzner 1982; Sutter 2001).11
11 Unter der „Tragik der Allmende” versteht man in der Volkswirtschaftslehre die Beobach-
tung, dass Menschen weniger leisten, wenn sie kollektiv tätig sind, der individuelle Ertrag
jedoch nicht kontrolliert wird. Dieses Problem tritt in Allmenden auf. Die Allmende (auch:
Allmande, wahrscheinlich von mittelhochdeutsch „was allen gemein ist”) ist ein im Besitz
einer Dorfgemeinschaft befindliches Grundeigentum. Weil es allen Bauern zur Verfügung
steht, besteht die Gefahr, dass auch alle ihr Vieh dorthin treiben und so die Fläche über-
nutzt wird – mit dem Endergebnis, dass dort kein Futter mehr wächst und somit die All-
mende niemandem mehr nützt. Die Allmende ist jener Teil des Gemeindevermögens, der
nicht unmittelbar im Interesse der ganzen Gemeinde zur Bestreitung von Ausgaben ver-
wandt wird, sondern an dem alle Gemeindemitglieder das Recht zur Nutzung haben. In
114 Susanne Fengler & Stephan Ruß-Mohl
5 Fazit
Aus unserer Sicht besitzt die Ökonomik als Theorieentwurf auch im Bereich
der Kommunikationswissenschaft die folgenden fünf Vorzüge:
Allmenden werden also Ressourcen stärker ausgebeutet, als dies ökonomisch sinnvoll ist.
Gegenmaßnahmen sind Kontrolle oder Besitz.
12 Seine Machtstellung gewinnt der Spiegel umgekehrt nicht allein aus seiner Millionenauflage,
sondern auch aus den Multiplikatoreffekten, die er daraus erzielt, dass andere Medien seine
Themen aufgreifen – rund 180.000 Mal im Jahr, wie ein früherer Leiter der Abteilung In-
formation beim Hamburger Nachrichtenmagazin bereits vor ein paar Jahren verkündete
(Lohfeldt 2000).
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AKTEURKONSTELLATIONEN
Handeln in Konstellationen:
Die reflexive Konstitution von
handelndem Zusammenwirken
und sozialen Strukturen
Uwe Schimank
1 Einleitung
Ich stelle im vorliegenden Beitrag eine soziologische Theorieperspektive vor,
die akteurtheoretisch fundiert ist und gesellschaftliche Phänomene wie etwa
den hier interessierenden Journalismus differenzierungstheoretisch erfasst.
Diese Perspektive unterscheidet sich von einer durch Talcott Parsons und
Niklas Luhmann geprägten systemtheoretischen Herangehensweise an gesell-
schaftliche Differenzierung, auch wenn wichtige Einsichten dieser Herange-
hensweise aufgegriffen und akteurtheoretisch reformuliert werden.
Ohne hier ins Detail gehen zu können, präsentiere ich meine Perspektive in
einer Serie von Leitsätzen, die vor allem deutlich machen sollen, worin die
Fragerichtung dieser Art von Soziologie besteht und wie der Bezugsrahmen
aussieht, in dem sich die theoretischen Werkzeuge zur Beantwortung der ge-
stellten Fragen befinden.1
finden – wenn sich jemand nicht etwa deshalb an eine Norm hält, weil er sich
die negativen Effekte allseitiger Normverletzungen vor Augen führt oder das
Risiko, erwischt und bestraft zu werden, kalkuliert, sondern nur, weil er erfah-
rungsgemäß Gewissensbisse bekäme.
Wer eine Handlung in die Welt setzt und mit ihr eine bestimmte Intention
verfolgt, darf sich nicht darüber wundern, wenn am Ende etwas ganz anderes
daraus resultiert. Erstaunlich ist vielmehr erfolgreiche und auch noch neben-
wirkungsfreie Intentionalität. Der Regelfall ist Transintentionalität. Dies kann
schon beim monologischen, nicht-sozialen Handeln passieren: Ich betätige eine
bestimmte Tastenkombination an meinem PC, und es geschieht etwas ganz
anderes als erwartet. Erst recht und eigentlich soziologisch interessant tritt
Transintentionalität im handelnden Zusammenwirken ein. Das Handeln ande-
rer kommt meinem auf die eine oder andere Weise in die Quere – und meines
ihrem.
Die eine grundlegende Art von Transintentionalität ist gescheiterte Intenti-
onalität. Ein Akteur bezweckt etwas Bestimmtes und muss dann feststellen,
dass er dies aufgrund von Interferenzen mit dem Handeln anderer nicht er-
reicht oder nur unter gravierenden, seine Zielverfolgung überschattenden nega-
tiven Nebenwirkungen, und auf jeden Fall nur für eine begrenzte Zeit. Jeder
Kompromiss, den man in irgendeiner Situation macht, ist bereits ein Fall ge-
scheiterter Intentionalität, auch wenn der Akteur im Nachhinein noch ganz
zufrieden ist oder sogar von vornherein realistisch damit gerechnet hat. Doch
eigentlich wollte er etwas anderes.
Die zweite grundlegende Art von Transintentionalität besteht in von den
betreffenden Akteuren dauerhaft unbeachteten oder zunächst unbeachteten
und sich dann aber ihrer Aufmerksamkeit aufdrängenden Wirkungen. Die
Akteure realisieren ihre Intentionen oder scheitern damit; doch nebenher resul-
tiert aus ihrem handelnden Zusammenwirken noch etwas, was sie entweder
überhaupt nicht registrieren oder zwar beiläufig bemerken, aber nicht weiter
wichtig nehmen. Solche Nebenwirkungen sind oft unerwünscht, fallen dann
sicher auch eher auf, können aber auch positiver Art sein – wenn etwa die
Anwesenheit vieler Journalisten bei einer Demonstration dafür sorgt, dass die
Polizei weniger brutal vorgeht, weil sie die schlechte Presse fürchtet. Die Jour-
nalisten wollen nicht als Beschützer der Demonstranten auftreten, sondern
sind auf der Jagd nach einer guten Story. Die zweifellos titelseitenträchtige
Schlagzeile vom Tod friedlicher Demonstranten durch polizeilichen Schuss-
waffengebrauch wird so vielleicht gar zur sich selbst widerlegenden Prophezei-
ung, womit auch wieder gescheiterte Intentionalität im Spiel wäre.
Handeln in Konstellationen 125
2 Der Pressekodex des Deutschen Presserats beispielsweise ist verschriftlicht, aber gleichwohl
nicht formalisiert, weil er lediglich Apellcharakter hat. Formalisierung bedeutet, dass eine
normative Erwartung mit Hilfe von Sanktionen – die mehr sind als Rügen – durchgesetzt
werden kann.
Handeln in Konstellationen 127
3 Akteure in Konstellationen
Der bisher skizzierte Bezugsrahmen geht auf das Verhältnis von handelndem
Zusammenwirken und sozialen Strukturen ein und konzentriert sich dabei auf
Letztere in ihrer Handlungsprägung und Geprägtheit durch handelndes Zu-
sammenwirken. Nun soll der Blick geschwenkt werden und das handelnde
Zusammenwirken fokussieren: Handelndes Zusammenwirken ergibt sich aus
dem Aufeinandertreffen von Akteuren in Konstellationen.
Sobald es Interferenzen zwischen den Intentionen von mindestens zwei
Akteuren gibt, besteht eine Akteurkonstellation. Jemand handelt und bemerkt
früher oder später, schon bei der Planung seines Tuns oder erst im Vollzug,
dass er zur Erreichung seiner Absichten die Unterstützung anderer benötigt;
und diese Unterstützung kann auch ausbleiben, weil ein entsprechendes Han-
deln nicht ohne Weiteres in den Intentionen der betreffenden anderen liegt.
Oder ein Akteur wird gewahr, dass es bei der Realisierung seiner Intentionen
davon abhängt, dass andere ihn nicht stören; und auch das ist nicht selbstver-
ständlich, weil sich solche Störungen daraus ergeben können, was die anderen
mit ihrem jeweiligen Handeln intendieren. Ein Handelnder kann derartige
Intentionsinterferenzen, wie sie sich aus dem Aktiv- oder dem Unterlassungs-
128 Uwe Schimank
Ein erstes Modell, das bis heute den soziologischen Mainstream repräsen-
tiert, ist der Homo Sociologicus. Dies ist ein Akteur, der sein Handeln primär an
institutionalisierten Normen ausrichtet. Erwartungsstrukturen sagen ihm, wor-
um es ihm in einer bestimmten Situation zu gehen und wie er entsprechend zu
handeln hat. So muss sich z.B. ein Redakteur an der politischen Linie seiner
Zeitung orientieren, ob diese nun formell als Redaktionsstatut oder informell
durch kollegialen Austausch vermittelt wird.
Dem Homo Sociologicus steht als zweites Akteurmodell der Homo Oecono-
micus gegenüber. Er handelt so, dass er seinen eigenen erwarteten Nutzen unter
geringstmöglichem Aufwand maximiert. Damit wird der Homo Oeconomicus
primär durch solche sozialen Strukturen geprägt, die den Nutzen und die Auf-
wändigkeit bestimmter Handlungen bestimmen. Der Medienrezipient, der als
Konsument auszuwählen hat, ob er sich das Abonnement einer Tageszeitung
oder einen Pay-TV-Anschluss leistet, wäre ein Beispiel – das im Übrigen auch
gleich verdeutlicht, wie wenig rational solche Nutzenerwägungen zumeist ange-
stellt werden.
Immer wieder handeln Akteure auch aufgrund von Emotionen wie Neid,
Wut, Liebe oder Freude. Ein drittes Akteurmodell ist daher der „emotional man“
(Flam 1990). Emotionale Handlungsantriebe werden durch andere sozialstruk-
turelle Determinanten ausgelöst als norm- oder nutzenorientiertes Handeln. So
erwächst z.B. Neid aus sozialen Verteilungsstrukturen, die von dem Betreffen-
den als ungerechtfertigt erlebt werden: Warum verdienen die Chefs so viel
Geld, und ich muss mich für einen Hungerlohn krummlegen?
Ein viertes Akteurmodell ist schließlich der Identitätsbehaupter. Die Identität
einer Person ist ihr Selbstbild; und es gibt Handlungen, die wir nur oder haupt-
sächlich deshalb ausführen, weil wir nach außen und uns selbst dokumentieren
wollen, wie wir uns selbst sehen und gesehen werden wollen. Das gilt z.B. für
alle Arten von Gesinnungstätern, die sogar gegen Normen verstoßen und teil-
weise hohe persönliche Kosten auf sich nehmen. Dieses Akteurmodell hebt
zum einen solche sozialen Strukturen hervor, die – vor allem durch Sozialisati-
on vermittelt – den Charakter eines Akteurs formen; zum anderen geht es um
soziale Strukturen, die in ihrer Diskrepanz zum Selbstbild identitätsbedrohend
wirken.
Man gelangt somit zu einem Nebeneinander von vier analytischen Akteur-
modellen, mittels derer sich Handlungswahlen auf je andere sozialstrukturelle
Handlungsbedingungen zurückführen lassen. Für die Analyse realer Akteure
kann man immer wieder auch Kombinationen von zwei oder mehr Akteurmo-
dellen heranziehen – sollte aber stets bedenken, dass dieser analytische Auf-
130 Uwe Schimank
wand angesichts dessen, dass hier nur eine Vorfrage behandelt wird, vertretbar
bleibt.
Ins Zentrum dessen, womit sich Soziologen entsprechend der hier vorge-
schlagenen Theorieperspektive zu beschäftigen haben, stößt man vor, wenn
man sich den Akteurkonstellationen zuwendet. Drei Arten von Akteurkonstel-
lationen lassen sich unterscheiden: Beobachtungs-, Beeinflussungs- und Ver-
handlungskonstellationen.
Beobachtungskonstellationen sind der elementarste Typ. Sie entstehen, sobald
mindestens zwei Akteure einander wahrnehmen und ihr Handeln durch die
Wahrnehmung des jeweils anderen mitbestimmen lassen. Jeder beobachtet, was
die Gegenüber tun, und passt sich dadurch der Konstellation an. Eine ganz
einfache alltägliche Situation, in der dies geschieht, ist z.B. das gegenseitige
einander Ausweichen von Passanten auf einem engen Bürgersteig. Aber auch
die massenhafte Ausbreitung von Moden beispielsweise erfolgt über wechsel-
seitige Beobachtung. Beobachtungskonstellationen schließen den Austausch
von Zeichen ein; denn die Beteiligten wissen oft, dass sie beobachtet werden,
und können dies nutzen. Diese gegenseitigen Signale können nichtsprachlich,
aber auch sprachlich erfolgen. Das wechselseitig beobachtete Tun der Akteure
kann also durchaus auch im Reden oder Schreiben bestehen. So nehmen etwa
Journalisten aufmerksam zur Kenntnis, was ihre Kollegen zu einem bestimm-
ten Thema publizieren, und richten ihre je eigenen Artikel oder Kommentare
daran aus – sei es, dass sie sich dem gängigen Meinungsspektrum einfügen, sei
es, dass sie sich ganz bewusst dagegen profilieren.
Ein Journalist, der weiß, dass seine Artikel von vielen Kollegen gelesen
werden, die etwas darauf geben, was er schreibt, kann diesen Tatbestand zur
Kenntnis nehmen, sich über die Beachtung durch die Kollegen freuen – und es
dabei belassen. Er kann aber auch versuchen, auf der Basis dieser Wertschät-
zung seiner Arbeit gezielte Meinungsbildung bei den Kollegen zu betreiben –
und darüber bei der Leserschaft. Sobald so etwas auftritt, handelt es sich schon
um keine Beobachtungskonstellation mehr, sondern bereits um eine Beeinflus-
sungskonstellation. Diese beruht auf wechselseitiger Beobachtung, geht aber dar-
über hinaus. Wechselseitige Beeinflussung kann auf vielerlei Weisen geschehen:
durch Androhung von Prügel, durch moralische Appelle, durch wissenschaftli-
che Wahrheiten, am besten aus Expertenmund, durch Loben oder Schmeiche-
leien oder durch persönliches Charisma. Diesen und weiteren Einflussarten
gemeinsam ist die intentionale aktive Einschränkung der Handlungsmöglich-
keiten des Gegenübers. Auf der einen Seite kann dies mittels angedrohter nega-
tiver Konsequenzen, auf der anderen Seite durch in Aussicht gestellte positive
Handeln in Konstellationen 131
4 Funktionale Differenzierung
Damit sind die basalen Komponenten des analytischen Bezugsrahmens erläu-
tert (vgl. Abbildung 1). Dass jede von ihnen sehr viel mehr vertieft werden
132 Uwe Schimank
könnte und müsste, versteht sich von selbst. Ich will aber hier nur eine Kom-
ponente herausgreifen, die von besonderer Bedeutung ist, wenn man als An-
wendungsbereich des Bezugsrahmens die Gesellschaftsebene – genauer: die
moderne Gesellschaft – wählt.3
Abbildung: Akteur-Struktur-Dynamiken
Akteure Konstellationen
x homo sociologicus x Beobachtung
x homo oeconomicus x Beeinflussung
x „emotional man“ x Verhandlung
x Identitätsbehaupter
Intentionalität Transintentionalität
Strukturdynamiken
x Aufbau
x Erhaltung
x Veränderung
Die moderne Gesellschaft ist funktional differenziert, gliedert sich also in ein
Nebeneinander von Teilsystemen, die alle je besondere „Wertsphären“ (Weber
1967 [1919]) darstellen: Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Kunst, Sport und
auch die Massenmedien sind einige davon. In der hier gewählten, an Weber
und Luhmann anknüpfenden differenzierungstheoretischen Perspektive konsti-
tuieren sich gesellschaftliche Teilsysteme also auf der Ebene kultureller Deu-
tungsstrukturen durch je spezifische, alles teilsystemische Geschehen anleiten-
de evaluative Orientierungen: Gesellschaftliche Teilsysteme wie die Massenme-
dien differenzieren sich auf einen als binären Code konstruierten Leitwert hin
aus. Bei den Massenmedien ist dies der Code „informativ/nicht informativ“
(Blöbaum 1994: 272ff.).4
Die Teilsysteme sind also die obersten „Weichensteller“ (Weber 1978
[1920]: 252) der modernen Gesellschaft, präformieren über Ideen die grundle-
genden Richtungen, in die Akteurinteressen und auch normative Erwartungen
angelegt werden. Die je teilsystemspezifischen Leistungsrollen wie die Rolle des
Journalisten in den Massenmedien und die teilsystemspezifischen Organisatio-
nen – Zeitungen und Fernsehsender – sind in all ihrem Tun und Lassen letzt-
lich darauf fixiert, Informatives zu entdecken und zu verbreiten. Dieser Code
„informativ/nicht informativ“ wird durch entsprechende Programme, die teils
kognitiver, teils normativer und teils evaluativer Art sind, operationalisiert, etwa
die Nachrichtenfaktoren oder das professionelle Ethos des Journalismus.
Als selbstreferentieller, sich aus nichts anderem begründender Leitwert
steht der des Informativen neben altehrwürdigeren wie dem Schönen, dem
Wahren oder dem Rechtmäßigen. Jeder dieser Werte konstituiert die Autono-
mie des betreffenden Teilsystems in dem Sinne, dass er intern über alles geht –
und extern nichts gilt, weil dort anderes über alles geht. Dass Journalisten auf
nichts so sehr schielen wie darauf, was andere Journalisten tun, und letztlich
daraus ableiten, was sie selbst tun, stellt nicht etwa eine professionelle Patholo-
gie dieses Berufsstands dar, sondern ist bei den zentralen Leistungsrollen ande-
rer Teilsysteme – ob Ärzte oder Lehrer, Politiker oder Manager, Priester oder
Künstler – nicht anders.
Diese Autonomie auf der Ebene des Leitwerts heißt nicht, dass ein Teilsys-
tem wie die Massenmedien autark wäre. Ganz im Gegenteil: Gerade die hoch-
gradige funktionale Spezialisierung auf den Leitwert bringt eine ebenso hoch-
gradige Abhängigkeit von vielerlei Leistungen anderer Teilsysteme mit sich.
Keine funktionierenden Massenmedien ohne Rechtssicherheit, eine gebildete
Bevölkerung, an Kunst und Sport Interessierte, wirtschaftliche Gewinne, politi-
sche Förderung sowie militärisch gewährleistete Sicherheit! Diese Abhängigkei-
ten mögen sehr groß sein: Sie werden unter Autonomiegesichtspunkten erst
dann problematisch, wenn sie strategisch genutzt werden, also etwa Großun-
ternehmen Werbeanzeigen daran binden, dass bestimmte politische Kommen-
tare nicht veröffentlicht werden, und dieses Ansinnen auch erfolgreich ist.
Schon Ersteres dürfte nicht allzu häufig passieren – Letzteres noch weniger.
4 Man spricht auch von „aktuell/nicht aktuell“ (Scholl & Weischenberg 1998: 63ff.), womit
dasselbe gemeint ist: ein sachlicher Informationsgehalt, der zeitlich gegenwartsnah und so-
zial für die jeweilige Rezipientenschaft relevant ist.
134 Uwe Schimank
anwuchs und vor allem auf regelmäßige Befriedigung Wert legte, entwuchsen
die Zeitungen rasch dem ursprünglichen Status der produktionstechnischen
Lückenbüßer. Eine eigendynamische Eskalation setzte ein: Weil die den Zei-
tungen bereitgestellten Informationen nicht mehr ausreichten, um den Wis-
sensdurst des Publikums zu bedienen, bildete sich allmählich die Rolle des
Journalisten heraus, der selbst Informationen recherchiert und aufbereitet; und
wie für jeden anderen Beruf auch kristallisierten sich Standards, die in Pro-
grammen und vor allem im binären Code „informativ/nicht informativ“ ihren
Ausdruck fanden. Die weitere Binnendifferenzierung der Massenmedien in
Radio, Fernsehen und mittlerweile Internet ist dann vor allem technikinduziert
gewesen – auf der Basis eines mit dem Zeitungswesen gefestigten Codes und
der ihn umgebenden Programme. Ebenso kam es zu einer sachlichen Differen-
zierung in Sparten und Ressorts, in der sich die teilsystemische Differenzierung
der Gesellschaft teilweise widerspiegelt.
Schon dieses holzschnittartige Bild lässt erkennen, dass die Strukturdyna-
mik hochgradig transintentional verlief. Keiner der im 17. Jahrhundert initiativ
werdenden Drucker hatte das vorausgesehen, geschweige denn beabsichtigt,
was dann 150 Jahre später als Fernwirkung dessen, was er mit angestoßen hat-
te, eingetreten war; keiner ahnte den binären Code voraus. Dass mit Blick auf
die Politik etwas Drittes neben staatlichen Verlautbarungen und den Mei-
nungsäußerungen von Interessengruppen entstand, nämlich ein zum einen auf
sachliche Berichterstattung über Ereignisse und die dazugehörige Meinungs-
vielfalt, zum anderen auf eigenständige Kommentierung setzender Journalis-
mus, war ebenso wenig das Resultat eines erfolgreichen strategischen Master-
plans der Professionalisierung, den irgendjemand implementiert hätte. Doch
man muss und sollte deswegen nicht einfach – wie Luhmann es tut – zur Ver-
legenheitsformel „Evolution“ greifen, in der letztlich zufällige, also auch nicht
erklärungskräftige Variationen den Ton angeben. Man kann vielmehr, wie an-
gedeutet, die typischen Interessenlagen der involvierten Akteure herausarbei-
ten, woraus sich die Intentionen ihres jeweiligen Handelns ergeben; und das
Ineinandergreifen dieser Intentionen, gepaart mit wechselseitiger Beobachtung
und gegebenenfalls auch Beeinflussung, im handelnden Zusammenwirken lässt
sich als klares Muster rekonstruieren.5
Es ist sicherlich vereinfacht, die Ausdifferenzierung der Massenmedien ana-
lytisch so zu fassen, dass keiner der involvierten Akteure – auch in der Spät-
5 Auch darin muss natürlich Raum für diverse „Cournot-Effekte“ (Boudon 1984: 173ff.), also
koinzidentielle Einwirkungen auf die jeweilige Strukturdynamik, vorgesehen werden.
136 Uwe Schimank
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Beobachten, Beeinflussen und
Verhandeln via Öffentlichkeit:
Journalismus und gesellschaftliche
Strukturdynamik
Christoph Neuberger
1 Einführung
Nachdem lange Zeit die Systemtheorie die Journalismusforschung dominiert
hat, werden zunehmend andere soziologische Theorien entdeckt. Dazu zählen
Giddens Strukturationstheorie, Akteurtheorien, der „Cultural studies“-Ansatz
und das Bourdieu’sche Konzept des sozialen Feldes (vgl. den Theorieüberblick
in Löffelholz 2004). So belebend die Pluralisierung ist: Zu dieser Aufholbewe-
gung gehört es auch, dass Grundsatzdebatten noch einmal geführt und Front-
stellungen wiederholt werden, die in der Soziologie mittlerweile als überwun-
den oder zumindest entschärft gelten (Mikro- und Makroanalyse, Erklären und
Verstehen, System und Akteur, „homo oeconomicus“ und andere Akteurmo-
delle).
Diese Umwege erspart ein integrativer Ansatz, wie ihn Uwe Schimank aus-
gearbeitet hat. Schimank stellt in seinem Beitrag in diesem Band die basalen
Komponenten seines Bezugsrahmens vor, die er vor allem in seinem Buch
„Handeln und Strukturen“ (vgl. Schimank 2000) vertieft1:
Eine Akteurkonstellation entsteht, sobald „die Intentionen von mindestens
zwei Akteuren interferieren“ (ebd.: 173) und sie durch handelndes Zu-
sammenwirken versuchen, ihre Intentionen zu realisieren.
1 Vgl. zur Diskussion integrativer Ansätze in der Soziologie: Greshoff & Schimank (2006).
140 Christoph Neuberger
2 Deutungsstrukturen im Journalismus
2.1 Evaluative Deutungsstrukturen
Der Journalismus ist ein Leistungssystem innerhalb des funktional ausdifferen-
zierten gesellschaftlichen Teilsystems Öffentlichkeit, dessen Sinngrenzen durch
eine Funktion und einen binären Code markiert sind. Als Funktion des Journa-
lismus gilt die gesellschaftliche Selbstbeobachtung, als binärer Code „aktuell“ –
„nicht-aktuell“ (vgl. Neuberger 2004: 298f.; Scholl & Weischenberg 1998:
63ff.).
Der Leitwert „Aktualität“ definiert sozial und zeitlich, was journalistisch re-
levant ist: Die Zeitung setze ihre Leser über alles in Kenntnis, so Groth (1960:
189), „was deren Lebensinteressen in der Gegenwart berührt.“ Sachlich bleibt
das Themenspektrum offen: Themen können aus allen gesellschaftlichen Teil-
systemen aufgegriffen werden, sofern sie gegenwärtig (= zeitlich) weitgehend
einheitlich (= sozial) relevant sind. Nachrichtenfaktoren (wie Negativismus,
Eliteperson und Nähe) als Selektionskriterien sind kognitiv-berufliche Deu-
tungsstrukturen, die Aktualität operationalisieren.
Der Journalismus stellt innerhalb anderer Teilsysteme Öffentlichkeit her
und vermittelt zwischen Leistungserbringern und -empfängern, etwa zwischen
Staat, Parteien und Bürgern, zwischen Produzenten und Konsumenten. Darin
besteht seine Vermittlungsleistung für andere gesellschaftliche Teilsysteme (vgl.
2 In früheren Darstellungen bezeichnete Schimank (1996: 243-248; vgl. Schimank 1992: 166-
173) diese Strukturbereiche als „teilsystemischer Orientierungshorizont“, „institutionelle
Ordnung“ und „Akteurkonstellation“.
142 Christoph Neuberger
Neuberger 2004: 299ff.). Allerdings unterwirft er sich dabei nicht gänzlich der
jeweiligen teilsystemischen Rationalität, sondern behauptet sich als eigenständi-
ges System (vgl. Abschnitt 4).
Der auf die öffentliche Verbreitung allgemein relevanter Neuigkeiten spezi-
alisierte Journalismus ist ein Unruheherd der Gesellschaft, der oft Ausgangs-
punkt von Strukturdynamiken ist. Er dient der
Erzeugung und Verarbeitung von Irritation. [...] Massenmedien halten, könnte
man deshalb auch sagen, die Gesellschaft wach. Sie erzeugen eine ständig erneu-
erte Bereitschaft, mit Überraschungen, ja mit Störungen zu rechnen. (Luhmann
1996: 46-48)
3 Erwartungsstrukturen im Journalismus
Erwartungsstrukturen setzen die teilsystemische Handlungslogik in konkrete
Anweisungen um und machen sie durchsetzungsfähig. Die Erwartungsstruktu-
ren im Journalismus kann man in einen Arbeits- und einen Berufskontext un-
terteilen (vgl. Rühl 1989: 254f.):
Arbeit: Arbeitsorganisationen (Redaktionen), Arbeitsrollen (Redakteur,
Reporter etc.) und redaktionelle Entscheidungsprogramme für das Darstel-
len, Ordnen, Selektieren, Sammeln und Prüfen von Informationen (vgl.
Altmeppen 2004: 425ff.; Blöbaum 1994: 220ff.) sind unmittelbar leistungs-
erbringend. Sie dienen als Vorgaben für die Produktion bestimmter Me-
dienangebote.
Beruf: Berufsorganisationen (Journalistenverbände), Berufsrollen („neutra-
ler Berichterstatter‘, „Kritiker an Missständen“, „Anwalt der Benachteilig-
ten“ etc.) (vgl. Scholl & Weischenberg 1998: 157ff.) und Berufsnormen als
allgemeine journalistische Standards (Vielfalt, Trennung von Nachricht
und Meinung etc.) regulieren und orientieren. Sie operationalisieren den
binären Code des Systems Journalismus. Berufliche Erwartungsstrukturen
sind in Berufskodizes und Gesetzen formalisiert.3
Die beruflichen Strukturen werden nicht unverändert in die redaktionellen
Strukturen übernommen. Organisationen können den Handlungslogiken meh-
3 Die konkrete Abgrenzung zwischen Deutungs- und Erwartungsstrukturen fällt nicht immer
leicht, da auch Regeln, die mit Sanktionen bewehrt sind, kognitive und evaluative Deutun-
gen enthalten.
144 Christoph Neuberger
4 Konstellationsstrukturen im Journalismus
Akteure besitzen drei basale Merkmale: Sie verfolgen bestimmte Interessen,
verfügen über Einflusspotenziale, um ihre Interessen in Akteurkonstellationen
durchzusetzen, und haben dafür eine Handlungsstrategie. Konstellationsstruk-
turen sind stabile Akteurkonstellationen, die oft auf der (gleichen oder unglei-
chen, positiv oder negativ bewerteten) Verteilung von Einflusspotenzialen
beruhen. Journalisten sind „Vermittlungsakteure“ (Schimank 2000: 271) inner-
halb einer längeren Einflusskette: Auf der Inputseite geht es um die Beziehung
zwischen dem Journalismus zu seinen Quellen, zur Öffentlichkeitsarbeit und
zur Werbung, auf der Outputseite um die Beziehung zu seinem Publikum. Die
weiteren Ausführungen konzentrieren sich auf das Verhältnis zwischen Öffent-
lichkeitsarbeit, Journalismus und Publikum.
Über das Öffentlichkeitssystem werden Einflussbeziehungen für alle Teil-
systeme der Gesellschaft vermittelt. Das öffentliche Beobachten, Beeinflussen
und Verhandeln bestimmt in wachsendem Maße die Gesellschaft (These der
„Medialisierung“; Imhof 2006). Der Journalismus, der die Einflüsse als Subjekt
kanalisiert, ist (gerade deshalb) selbst Objekt vielfältiger Einflussversuche aus
seiner Umwelt. Sozialer Einfluss besteht darin, die Handlungsalternativen des
Gegenübers einzuschränken. Die Möglichkeiten dafür sind vielfältig (vgl.
Schimank 2000: 249ff.); Luhmann beschreibt z.B. Einflusspotenziale als sym-
bolisch generalisierte Kommunikationsmedien (Geld, Macht, Wahrheit, Moral
etc.).
Im Öffentlichkeitssystem lassen sich spezifische Einflusspotenziale des
Journalismus für Publikum und Öffentlichkeitsarbeit unterscheiden. Im Ver-
hältnis zu den Rezipienten ist in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften
das Überzeugen der zentrale, aber nicht der einzige Mechanismus, um zur
Annahme von Kommunikationsofferten zu bewegen (vgl. Abschnitt 7). Akteu-
re, die Öffentlichkeitsarbeit betreiben, streben nach Aufmerksamkeit (= Quan-
tität) und Zustimmung (= Qualität). Massenmedien, die diese verleihen, kön-
nen Anpassungsbereitschaft einfordern: Die Öffentlichkeitsarbeit, die versucht,
146 Christoph Neuberger
4 Nach Luhmann (1996: 43) informieren Massenmedien nicht nur, sondern teilen zugleich
mit, worüber andere informiert sind und man deshalb selbst informiert sein muss, will man
keinen Ansehensverlust erleiden.
Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln via Öffentlichkeit 147
Leistungen) (vgl. Franck 1998: 131; vgl. auch Peters 1996), Themen aufgrund
ihrer Thematisierung (und nicht ihrer Relevanz) und Meinungen aufgrund ihrer
Artikulation (und nicht aus Überzeugung) akzeptiert.
Die Relevanzzuschreibung anderer Funktionssysteme wird also durch eine
eigenständige Einschätzung im Öffentlichkeitssystem abgelöst, an die Stelle
von Fremd- tritt Selbstreferenz. So treten nicht jene Wissenschaftler in Talk-
shows auf, die wissenschaftsintern über hohe Reputation verfügen, sondern
jene, die prominent sind und sich medienkonform präsentieren (vgl. Weingart
2001: 262ff.). Imhof (2006: 199ff.) sieht darin Hinweise auf eine „Medialisie-
rung“ der Gesellschaft und die Ausdifferenzierung eines Funktionssystems der
Medien.5 Die auf Neuigkeit und Aufmerksamkeitsgewinnung in einem breiten
Publikum ausgerichtete Eigenlogik des Journalismus wird aus der Perspektive
anderer Funktionssysteme oft als negative Externalität wahrgenommen. Um-
weltstörungen (ein Skandal beschädigt die Reputation eines Politikers etc.) und
der systeminterne Neuigkeitsdrang (der durch „frische“ Themen, die alte ver-
drängen, oder durch die Umbewertung von „positiv“ nach „negativ“ gestillt
wird) stoppen diesen Prozess der Selbstverstärkung.
Prominente erwerben durch ihre Bekanntheit auch die Fähigkeit, Unbe-
kannte(s) im Öffentlichkeitssystem ins Rampenlicht zu rücken (vgl. Franck
1998: 127). Solche „Abstrahlungseffekte“ lassen sich bei Auftritten von Promi-
nenten in der Werbung oder in Fernsehshows beobachten. Prominenz und
Reputation können in Einflusspotenziale anderer Teilsysteme konvertiert wer-
den: Politiker können die im Wahlkampf erworbene Bekanntheit und Beliebt-
heit am Wahltag in politische Macht umwandeln, Unternehmen die Zuwen-
dung und Zustimmung für sich und ihre Produkte in Geldeinnahmen ummün-
zen.
5 Ähnliche „Abkopplungsphänomene“ (Schmidt & Spieß 1996: 25) werden in der Werbung
registriert, die zunehmend vom Produkt- auf den Kommunikationswettbewerb umstellt und
so ihren ursprünglichen Zweck aus den Augen verliert. Daneben gibt es Funktionssysteme
(wie Sport und Kunst), welche die Reputationszuschreibung weitgehend an das Öffentlich-
keitssystem abgetreten haben.
148 Christoph Neuberger
chem Maße durch Werbeerlöse. Die Öffentlichkeitsarbeit trägt dazu bei, dass
in Redaktionen die Kosten reduziert werden können. Sie beeinflusst durch
(nicht-)monetäre Zuwendungen an Journalisten. Vergleichsweise gering sind
dagegen die Zahlungsfähigkeit und -bereitschaft des Publikums.
Der Medienökonom Heinrich (1996: 166) kommt zum Ergebnis, dass auf
dem Publikumsmarkt „der Qualitätswettbewerb eher schlecht funktioniert und
dass vor allem ein Kostenwettbewerb mit negativen Auswirkungen auf die
publizistische Qualität zu beobachten ist“. Dies liegt zum einen an der geringen
Qualitätstransparenz („Erfahrungs-“ und „Vertrauensgüter“, die Rezipienten
ex ante oder selbst a posteriori nicht beurteilen können, sowie hohe Kosten für
die Informationsgewinnung bei relativ geringem Nutzen). Zum anderen lassen
sich journalistische Angebote als „öffentliches Gut“ schlecht vermarkten
(Nicht-Ausschließbarkeit von Nichtzahlern und Nicht-Rivalität im Konsum).
Aus diesen Gründen herrscht unter den Rezipienten eine Art „rationale Igno-
ranz“: Sie sind nicht bereit, ein Qualitätsangebot durch die Bezahlung eines
hohen Preises zu honorieren. So besteht für die Produzenten kaum ein Anreiz,
bessere Qualität zu liefern. Deshalb herrscht auf journalistischen Märkten eher
ein Kosten- als ein Qualitätswettbewerb (vgl. ebd.: 167ff.). Diese Vermark-
tungsprobleme besitzt die Werbung nicht, weshalb Medienunternehmen dazu
neigen, sich stärker an den Interessen der Werbetreibenden zu orientieren.
Zwischen den beruflichen Deutungs- und Erwartungsstrukturen einerseits
und den Konstellationsstrukturen andererseits herrscht im Journalismus also
ein Spannungsverhältnis, das durch die Ökonomisierung zunimmt (vgl. Hein-
rich 2001). Zwar sollen Berufsnormen den Einfluss der Öffentlichkeitsarbeit
und der Werbung auf den redaktionellen Teil der Massenmedien eindämmen,
doch dass sie akzeptiert und eingehalten werden, ist zweifelhaft.
6 Handlungsantriebe im Journalismus
Wie verhalten sich Journalisten im Spannungsverhältnis zwischen beruflichen
Erwartungen und ökonomischen Einflüssen? Was motiviert Journalisten? Dar-
über geben die Ergebnisse einer repräsentativen Journalistenbefragung Auf-
schluss, die Schneider, Schönbach & Stürzebecher (1993: 20) im Jahr 1992 in
den alten Bundesländern durchgeführt haben (N=983). Dabei sollten Journalis-
ten angeben, welche Punkte sie „persönlich heute an Ihrem Beruf besonders
anziehend finden“. Extrinsische Motive, bei denen der Beruf als Mittel zum
Zweck betrachtet wird, wurden eher selten genannt. Dies galt sowohl für das
ökonomische Einkommen („gute Verdienstmöglichkeiten“: 43%, „gute Zu-
Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln via Öffentlichkeit 149
7.1 Beobachtung
Kann der Journalismus als „Spiegel“ der Umwelt fungieren, kann er ein unver-
zerrtes „Abbild“ liefern? Unter Journalisten ist dies eine verbreitete Vor-
stellung: Eine repräsentative Befragung ergab im Jahr 2006, dass rund drei
Viertel der Journalisten (74%) der Aufgabe zustimmten, Journalisten sollten
„die Realität genauso abbilden, wie sie ist“ (vgl. Weischenberg, Malik & Scholl
2006: 356).
Erkenntnistheoretisch muss eine solche Aufgabe als unerfüllbar gelten, be-
sonders aus der Sicht des „Radikalen Konstruktivismus“, der auch in der Jour-
nalismusforschung Anhänger gefunden hat. Auch dann, wenn man eine kri-
tisch-rationale Position einnimmt, muss man von diesem Anspruch erhebliche
Abstriche machen. Neben der prinzipiellen Fehlbarkeit von Erkenntnis ist bei
der Abbildfunktion weiter zu berücksichtigen, dass jede Selektion mit einer
subjektiv-wertenden Entscheidung verbunden ist, es also keine „objektiven“
Kriterien der Nachrichtenauswahl gibt, sondern höchstens Konventionen dar-
über existieren können (vgl. Neuberger 1997b; Seel 2002).
Dass Journalisten bloße Beobachter gesellschaftlicher Vorgänge sein sollen,
ist dennoch Teil der beruflichen Erwartungsstruktur. Für den heute dominan-
ten Nachrichtenjournalismus ist Objektivität die Zentralnorm (vgl. Weischen-
berg 1983; Neuberger 1997b). Damit verbunden sind auch Erwartungen wie
Unparteilichkeit, die standardisierte Nachrichtenform („W-Fragen“, Aufbau
nach dem Prinzip der „umgekehrten Pyramide“), die Nennung von Quellen
sowie die Trennung von Nachricht und Meinung, die über die Erkenntnisfrage
hinausreichen.
Die Norm der Trennung von Nachricht und Meinung soll eine für den Re-
zipienten erkennbare Grenze zwischen neutraler Beobachtung und intendierter
Beeinflussung im Journalismus ziehen. Allerdings können metakommunikative
Rahmenhinweise auch zur Täuschung der Rezipienten eingesetzt werden. Dies
ist etwa dann der Fall, wenn in Nachrichten implizit bewertet wird, etwa durch
die Synchronisation der Kommentarlinie mit der Nachrichtenauswahl (vgl.
Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln via Öffentlichkeit 153
7.2 Beeinflussung
Ein wesentlicher Teil der Journalismusforschung ist Fragen der Beeinflussung
gewidmet: Wollen Journalisten Einfluss nehmen? Welche Eigeninteressen
verfolgen sie, welche Fremdinteressen wirken auf sie ein? Mit welchen Mitteln
versuchen sie, diese durchzusetzen? Wie erfolgreich können sie ihre Intentio-
nen realisieren?
Lange Zeit wurden deutsche Journalisten für ihr angeblich „missionarisches
Bewusstsein“ kritisiert. Ihnen wurde unterstellt, dass sie eigenständige politi-
sche Interessen verfolgen und über eine große, nicht demokratisch legitimierte
Macht verfügen, um Wähler zu beeinflussen. Empirische Befunde haben diese
154 Christoph Neuberger
Vorstellung weitgehend widerlegt: Weder ließ sich eine solche Intention nach-
weisen (vgl. Schönbach, Stürzebecher & Schneider 1994), noch erscheint es
plausibel, dass sie eine solche Absicht umstandslos realisieren könnten (vgl.
Weischenberg, von Bassewitz & Scholl 1989). Die früher verbreitete Vorstel-
lung eines monokausalen und intentional steuerbaren Wirkungsverlaufs ist
differenzierteren Modellen gewichen. Deshalb ist überwiegend mit transinten-
tionalen Effekten zu rechnen.6
Öffentlichkeitsarbeit versucht, über eine Einflusskette (vgl. Schimank 2000:
271), in der Journalismus das Zwischenglied bildet, das Publikum zu erreichen.
Auch die Beziehung zwischen Öffentlichkeitsarbeit und Journalismus wurde –
wie jene zwischen Journalismus und Publikum – zunächst als einseitig domi-
nierte Beeinflussungskonstellation interpretiert. Dieser Steuerungsoptimismus
ist gleichfalls gewichen: Anstatt von einer „Determination“ des Journalismus
durch PR auszugehen, werden mit Hilfe des „Intereffikationsmodells“ unter-
schiedliche Einflusskonstellationen empirisch analysiert (vgl. zuletzt Altmep-
pen, Röttger & Bentele 2004).
Veränderungen der medialen Randbedingungen können die Einflusskons-
tellationen verschieben. Im Internet kommt es teilweise zu einer „Disinterme-
diation“ (Shapiro 1999), d.h. der Journalismus kann als Zwischenglied der Ein-
flusskette entfallen. Einerseits kann dadurch die Öffentlichkeitsarbeit in einen
direkten Kontakt mit ihren Bezugsgruppen treten und muss nicht mehr den
Umweg über die Redaktionen gehen. Andererseits können die Nutzer mit
geringem Aufwand von der Rezipienten- in die Kommunikatorrolle wechseln
(vgl. Neuberger 2006): Neben der „exit“-Option (= Abwanderung) verfügen
sie so in höherem Maße auch über die „voice“-Option (= Widerspruch) als
Sanktionsmittel (vgl. Hirschman 1974).
Die Wirksamkeit von Beeinflussungsmitteln hängt vom Handlungsantrieb
der Akteure ab. Dafür hat Schimank (2000: 250ff.) eine Systematik (vgl. Abbil-
dung 2) entwickelt, die für die Medienwirkungsforschung und die Argumenta-
tionstheorie eine Reihe von Anschlussmöglichkeiten bietet. Der Einsatz von
Einflusspotenzialen anderer Funktionssysteme (Macht, Geld etc.) kann als
Versprechen oder Drohung angekündigt werden, um Rezipienten von ihrem
eigenen Vor- oder Nachteil zu überzeugen (z.B. eine Steuersenkung als Wahl-
6 Mit dem Internet verliert der Journalismus das Monopol, als „Gatekeeper“ den Zugang zur
aktuellen Öffentlichkeit zu kontrollieren. Da er in der Netzkommunikation nicht als domi-
nanter Akteur auftreten kann, ist Transintentionalität noch wahrscheinlicher (vgl. Schimank
2000: 277).
Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln via Öffentlichkeit 155
7.3 Verhandlung
Die anspruchsvollste Variante, um Strukturen zu ändern, ist das Verhandeln.
Das Verhandlungsziel, nämlich eine bindende Vereinbarung, mit der Erwar-
tungssicherheit geschaffen wird, kann nicht in der Öffentlichkeit selbst erreicht
werden, sondern nur außerhalb, z.B. in einem Parlament (vgl. Gerhards &
Neidhardt 1993: 81). Bei den im Vorfeld geführten Verhandlungen legen die in
einer Konstellation involvierten Akteure einander Vorschläge vor, die im idea-
len Fall schrittweise angenähert werden, bis Einigkeit erzielt ist. Dies setzt
voraus, dass jeder Teilnehmer mit jedem anderen Teilnehmer kommunizieren
kann. Wechselseitige Kommunikation ist aber nur unter wenigen Teilnehmern
möglich. In der Massenkommunikation verhandeln deshalb zumeist nur die
Sprecher großer Interessengruppen miteinander (vgl. Schimank 2000: 288f.).
Diese Einschränkung der Partizipation ist aber nur ein Hindernis für Verhand-
lungen in einer massenmedial hergestellten Öffentlichkeit.
156 Christoph Neuberger
8 Schluss
In diesem Beitrag wurde ausgeführt, wie der Journalismus durch Beobachten,
Beeinflussen und Verhandeln seine gesellschaftliche Umwelt verändert. Der
Journalismus wurde als Faktor betrachtet, der Wandel vorantreibt. Der Struk-
turwandel in Journalismus und Öffentlichkeit selbst wurde dabei ausgeklam-
mert. Aber auch dieser Wandel lässt sich mit Hilfe des Bezugsrahmens von
Schimank analysieren. Dazu gehören Fragen nach dem rekursiven Verhältnis
zwischen Handeln und Strukturen in Redaktionen (vgl. Quandt 2005; Altmep-
pen 2004), nach dem Entstehen von Deutungsschemata im Kontext neuer
Beobachten, Beeinflussen und Verhandeln via Öffentlichkeit 157
Medien (vgl. Neuberger 2005), der Ökonomisierung (vgl. Heinrich 2001) und
der „Entgrenzung“ des Journalismus (vgl. Loosen 2005).
Ebenfalls noch nicht vertieft werden konnte die Frage nach den Erklä-
rungsmöglichkeiten. Schimank (in diesem Band: 135) will – anders als Luh-
mann – nicht „zur Verlegenheitsformel ‚Evolution’ greifen, in der letztlich
zufällige, also auch nicht erklärungskräftige Variationen den Ton angeben“. Er
konzediert aber, dass Strukturdynamiken nur begrenzt theoretisierbar sind,
nämlich nur, soweit sie geschlossen sind und sich nicht zufällig ereignen (vgl.
Schimank 2000: 196-205). Den Versuchen, das Rezipientenhandeln zu erklä-
ren7, stehen noch kaum entsprechende Bemühungen für journalistisches Han-
deln gegenüber (vgl. die Beiträge von Esser und Reinemann in diesem Band).
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MILIEUS UND LEBENSSTILE
Soziale Milieus und Lebensstile:
Ein Angebot zur Erklärung von
Medienarbeit und Medienwirkung
Stefan Hradil
Prägekraft von Klassen und Schichten und damit der Erwerbssphäre und der
Arbeitswelt. Milieubegriffe „passten“ in die Realität und mehr noch in die Vor-
stellungen nicht allzu gut, die in den 1960er und 1970er Jahren eine ökonomi-
sierte, standardisierte, materiell determinierte Industriegesellschaft zu erkennen
glaubt. Denn das Milieukonzept lässt die Konstitution von Lebenswelten be-
wusst offen. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf die verschiedensten Entste-
hungshintergründe von Umwelten (auf berufliche, religiöse, regionale, lebens-
weisebedingte, politische, moralische etc.). So wurde der Milieubegriff von der
Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre hinein wenig benutzt.
Seit den 1980er Jahren spielt die Milieuperspektive in der sozialwissen-
schaftlichen Literatur wieder eine sehr viel bedeutendere Rolle. Sowohl als
beiläufig verwendeter Hinweis auf diverse soziale Umwelten und Prägekräfte
(vom Drogen- bis zum Bänkermilieu) als auch als sorgsam definierter, opera-
tionalisierter Zentralbegriff soziologischer Studien hat der Milieubegriff seither
Konjunktur.
Das Lebensstilkonzept boomt ebenfalls seit den 1980er Jahren. Auch damit
geriet eine Sichtweise wieder in den Vordergrund der Aufmerksamkeit, die
lange zuvor, schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ausgearbeitet worden war.
Georg Simmel (1858-1918) erkannte, dass die Modernisierung dazu führt,
dass die Einzelnen in immer mehr und immer unterschiedlicheren „sozialen
Kreisen“ leben (1989 [1900], bes. Kap. 6). Ihnen gehören die Menschen, an-
ders als in vormodernen Gesellschaften, jeweils nur in Teilen ihrer Persönlich-
keit an. Mit der Loslösung aus angestammten sozialen Einbettungen wird es
für die Menschen aber schwieriger, stabile Identitäten auszubilden. Individuelle
Gestaltungen des Lebens werden möglich und nötig. Dabei drohen sich die
heterogenen Außenwelten von der eigenen Lebensweise und Wahrnehmung zu
entfremden. Mittels Stilbildung wird versucht, Brücken zu schlagen und ande-
ren den eigenen Lebensstil zu vermitteln (vgl. Konietzka 1995: 19).
Max Weber (1864-1920) führte den Begriff der „Lebensführung“ in die So-
ziologie ein. Vor allem die Konfessions- und Standeszugehörigkeit werden
durch eine typische Art der Lebensführung symbolisiert (1976 [1921]: 534ff.).
Allerdings hatten die genannten Klassiker der Lebensstilanalyse nur wenige
direkte Auswirkungen auf die zeitgenössische Lebensstilforschung. Der Boom
sozialwissenschaftlicher Milieu- und Lebensstilstudien seit den 1980er Jahren
wurde eher durch praktische Erfordernisse und entsprechende Marketing- und
Wahlkampfstudien angestoßen.
Im Zuge dieses Aufschwungs der Lebensstilforschung wurde in den 1980er
Jahren immer stärker die Selbstreflexivität, die aktive Gestaltung, die eigenstän-
168 Stefan Hradil
2 Grundzüge
Der Milieu- und der Lebensstilbegriff weisen Gemeinsamkeiten auf. Deswegen
werden sie (auch in diesem Beitrag) nicht selten gemeinsam dargestellt. Beide
betonen die „subjektive“ Seite der Gesellschaft, d.h. soziale Strukturierungen
und Gruppierungen, für die das Denken und Verhalten der Menschen konsti-
tutiv sind. Weiterhin ist beiden Begriffen gemeinsam, dass sie das Denken und
Verhalten der Menschen als teilweise unabhängig von äußeren Lebensbe-
dingungen sehen.
Schließlich sind beide Konzepte synthetisch angelegt. Milieu- und Lebens-
stilbegriffe bündeln jeweils zahlreiche Dimensionen und Aspekte. Dies führt in
der empirischen Forschungspraxis zu erheblichem Aufwand.
Sucht man in der Literatur nach den Unterschieden zwischen dem Milieu-
und dem Lebensstilbegriff, so wird man feststellen, dass die einschlägigen De-
finitionen sich nicht selten überschneiden und manchmal sogar fast deckungs-
gleich sind. Dennoch weist der Milieubegriff andere Schwerpunkte als der
Soziale Milieus und Lebensstile 169
bewirken, dass sich die Struktur sozialer Ungleichheit immer wieder neu her-
stellt.
Bourdieu geht von der ungleichen Verteilung dreier Ressourcenarten aus:
dem ökonomischen Kapital, dem Bildungskapital und dem „sozialen Kapital“
(soziale Beziehungen). Je nach Ausmaß ihres Kapitalbesitzes insgesamt gehören
die Menschen der Arbeiterklasse, dem Kleinbürgertum oder der Bourgeoisie an
(vertikaler Aspekt). Und je nach Zusammensetzung bzw. Zukunftsaussichten ihres
Kapitalbesitzes werden sie den Klassenfraktionen des Besitzbürgertums, des
Bildungsbürgertums sowie dem alten, dem neuen oder dem „exekutiven“
Kleinbürgertum zugerechnet (horizontaler Aspekt).
Wenn Menschen innerhalb der jeweiligen Lebensbedingungen ihrer sozia-
len Klasse aufwachsen, entstehen nach Bourdieu weitgehend unbewusst klas-
senspezifische Habitusformen. Dies sind latente Denk-, Wahrnehmungs- und
Bewertungsmuster, die einerseits Möglichkeiten alltäglichen Handelns begren-
zen, andererseits Handlungen hervorbringen. So entsteht nach Bourdieu der
Habitus der Arbeiterklasse in einer Lage harter Notwendigkeiten. Er zieht weit-
gehend Nützlichkeitsdenken und eine „Kultur des Mangels“ nach sich. So
werden z.B. Käufe nach Preis, Haltbarkeit und nicht nach ästhetischen Ge-
sichtspunkten vorgenommen. Während also der Habitus der Arbeiterklasse ein
„Sich-Einrichten“ in gegebenen Verhältnissen nahe lege, sei der Habitus des
Kleinbürgertums, seiner Mittellage entsprechend, auf sozialen Aufstieg, auf die
ehrgeizige, teils ängstliche, teils plakative Erfüllung vorgegebener kultureller
Normen ausgerichtet, auch in Fragen der Bildung und des Geschmacks. Der
Habitus des Kleinbürgertums bedeute angestrengtes Bemühen, das „Richtige“
zu tun. Der Habitus der Bourgeoisie hingegen ermögliche es, sich in Kenntnis der
„richtigen“ Standards über diese zu erheben, einen eigenen Stil zu entwickeln,
diesen u.U. als gesellschaftliche Norm zu propagieren und durchzusetzen. Das
Kleinbürgertum sei wiederum darauf angewiesen, dieser neuen „Orthodoxie“
gerecht zu werden. Die Arbeiterklasse verharre in ihrer Kultur des Mangels.
Somit reproduziere sich die Herrschaft der Bourgeoisie auf kulturelle Weise.
Die Konsequenzen dieser Habitusformen zeigen sich nach Bourdieu in un-
terschiedlichen alltäglichen Lebensstilen der Menschen. Zu diesen gehören die
jeweils bevorzugten Wohnungseinrichtungen und Speisen, Sänger und Musik-
werke, Maler, Museen und Komponisten. Hierbei stellt Bourdieu eine hohe
Übereinstimmung von Klassen(fraktions)zugehörigkeit, Habitusform und prak-
tischen Verhaltensweisen fest.
Die Theorie der rationalen Wahl bezieht sich, anders als die Habitus-Theorie,
auf das Handeln von Individuen und geht modellhaft davon aus, dass die Ein-
172 Stefan Hradil
zelnen danach streben, ihren Nutzen zu maximieren. Sie werden daher jene
Wahl aus den zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen treffen, die die
eigenen Zielvorstellungen weitmöglichst bzw. mit geringstem Aufwand er-
reicht.
Aufbauend auf diesem Theoriemuster behauptet Hartmut Lüdtke (1989),
dass Lebensstile deswegen zustande kommen, weil sie sich aus der Sicht der
Individuen in Probierprozessen als die jeweils zweckmäßigste Organisations-
form ihres Alltagslebens herausgestellt haben. Je nach dem Ausmaß vorhande-
ner ökonomischer, kultureller und sozialer Ressourcen ist hierbei der Suchbe-
reich von vornherein mehr oder minder eingeschränkt. Dabei werden Lebens-
stil-elemente, die sich zur Erreichung individueller Präferenzen bewährt haben,
wiederholt und „automatisiert“. Im Laufe der Zeit ergibt sich so eine Selektion
und „Verdichtung“ von Handlungsweisen und -ketten. Nach Alternativen wird
immer weniger gesucht. So entstandene individuelle Lebensstile werden zu
gemeinsamen Mustern gesellschaftlicher Lebensstilgruppierungen, indem wie-
derum aus Nützlichkeitsgründen, u.a. wegen Kommunikationserleichterung,
Unterschiede zu relativ ähnlichen Lebensstilen minimiert und zu unähnlichen
maximiert werden.
Die Identitätstheorie betont, dass soziale Milieus und Lebensstile durch das
Bemühen zustande kommen, die eigene soziale Identität zu entwickeln und zu
dokumentieren. Mittels Stilisierung der eigenen Lebensweise werden einerseits
Selbstzuordnung und Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppierungen möglich
gemacht und andererseits Absetzung und Distanz zu anderen Gruppierungen
sichergestellt (Hörning & Michailow 1990: 502).
Identitätstheorien finden sich in unterschiedlichen Varianten. Von be-
stimmten Autoren (z.B. Hörning & Michailow 1990) wird die Entstehung von
sozialen Milieus und Lebensstilgruppierungen primär aus Integrationsbemü-
hungen von Menschen erklärt. Andere Varianten (z.B. Berking & Neckel 1990)
sind eher auf Konflikte, die Herstellung von Differenzen und die Abgren-
zungsprozesse von sozialen „Territorien“ ausgerichtet.
Die Individualisierungstheorie geht davon aus, dass Modernisierung mit der Zu-
nahme persönlicher Ressourcen, Freiheiten und Sicherheiten einhergeht. Damit
verbunden ist eine Herauslösung der Einzelnen aus vielfältigen kulturellen,
sozialen und wirtschaftlichen Bindungen. Dies bedeutet für die Menschen
Verluste von Vertrautheit und Sicherheit in Gemeinschaften einerseits, Gewin-
ne an individueller Handlungsfähigkeit und Entfaltungsmöglichkeit anderer-
seits.
Soziale Milieus und Lebensstile 173
Allerdings hatte sich, Ulrich Beck (1986) zufolge, bis zum Beginn der
1960er Jahre in Deutschland die Modernisierung und Individualisierung erst
unvollkommen durchgesetzt. Zwar waren traditionale Bindungen, z.B. der
Dorfgemeinschaft und Religion, schwächer geworden, aber in der emotionali-
sierten Kleinfamilie verstärkten sich gemeinschaftliche Bindungen noch, vor
allem für Frauen. Und in die industriegesellschaftlichen Schichten waren Män-
ner unvermindert eingebunden.
Spätestens seit Beginn der 1960er Jahre vollzieht sich nach Ansicht Becks
eine zweite Stufe gesellschaftlicher Modernisierung und Individualisierung. Sie
steht vor allem im Zusammenhang mit verschärfter Arbeitsmarktkonkurrenz
und Mobilität, aber auch mit gesteigertem Wohlstand, höherem Bildungsniveau
auch für Frauen, besserer sozialer Absicherung, Ausweitung der Freizeit etc.
Im Rahmen dieses erneuten Individualisierungsschubs lösen sich die Individu-
en aus ihrer Einbindung in Klassen und Schichten und aus „Familienbanden“.
Dies gilt auch und gerade für Frauen. Die Menschen sind nun in der Lage, aber
auch darauf angewiesen, Zuschnitt und Verlauf ihres Lebens selbst zu entwi-
ckeln. Allgemeingültige Vorbilder hierfür gibt es immer weniger. Die Vielfalt
der gefundenen Lösungen wächst, auch im Hinblick auf Lebensstile.
3 Wichtige Ergebnisse
Besonders bekannt geworden sind jene Befunde, die die gesamtgesellschaftliche
Struktur sozialer Milieus und Lebensstile in Deutschland wiedergeben. Das
Gefüge sozialer Milieus in Deutschland ist bis zu einem gewissen Grade von der
Schichtstruktur abhängig (siehe Abbildung 1). Es gibt typische Unterschicht-,
Mittelschicht- und Oberschicht-Milieus. Welche Werthaltungen und Mentalitä-
ten ein Mensch aufweist, ist also auch eine Frage seiner Einkommenshöhe,
seines Bildungsgrades und seiner beruflichen Stellung. Milieuzugehörigkeiten
können Trennlinien zwischen sozialen Schichten schaffen. „Die Grenze der
Distinktion trennt die oberen von den mittleren Milieus. Die Grenze der Res-
pektabilität trennt die mittleren von den unteren.“ (Vester et al. 2001: 26) Aber
die Schichtzugehörigkeit gibt keineswegs zureichend über die Milieuzugehörig-
keit Auskunft. In der Regel finden sich innerhalb der einzelnen Schichten meh-
rere Milieus „nebeneinander“. Bestimmte soziale Milieus erstrecken sich auch
„senkrecht“ über Schichtgrenzen hinweg (siehe Abbildung 1).
174 Stefan Hradil
1 Unter einer Kohorte werden die Menschen verstanden, die im selben Zeitraum zur Welt
kamen.
Soziale Milieus und Lebensstile 175
Abbildung 2: Die historische Entwicklung sozialer Milieus in Deutschland 1900 bis 2000
Positiv privilegierte Schichten
Adel, Bürokratie Gehobenes Bürgertum Konservativ-
moderne kapitalistische konservativ, preußisch geprägt, Technokratisches Milieu
Bourgeoisie, vornehme und karitatives Verantwortungs- exklusiver Lebensstil, machtbe-
exklusive Lebensführung, status- bewusstsein, patriarchalisch, wusst, Distinktion, Interesse an
bewusst, Interesse an Legitimation traditionelle Orientierung, Wertevermittlung, z.T. karitatives
der privilegierten Lage „Dienen“, Diakonie Engagement, Humanität „von
oben“ (Typus: partiell Humanisten)
Kleinbürgerliches und
Kleinbürgertum, Handwerker
aufstrebende Gruppen, Neigung zu Kleinbürgertum modern bürgerliches Milieu
ethisch-rationaler Lebensführung, konservativ, Streben nach mate- traditionelle moralische Werte,
gemeinschaftsorientiert, Lebens- rieller Sicherheit, traditionell, (Pflicht, Dienst, Disziplin, Sicher-
führung kann Religiosität begrün- vornehmlich moralisch (Gesetz vor heit, Fleiß…), Status- und hierar-
den, aber auch „ideelle Surrogate“, Evangelium) chieorientiert, extrinsisch motiviert,
Laienintellektualismus (plebejisch/ Alltagsorientierung und -stabilisie-
kleinbürgerlich), praktische Reli- rung durch die Kirche (Typus: Tra-
giosität (der „fassbare Heiland“) ditionelle/Moderne Kirchenchristen)
Der selbstbewusste Arbeiter
Gruppenbewusst, Streben nach
materieller Sicherheit,, Sehnsucht Traditionelles Arbeitermilieu,
nach menschlicher Wärme, Leistungsorientiertes und
Abstiegsbedrohtes Brüderlichkeit, Gerechtigkeit, modernes Arbeitermilieu
Frage nach dem Wesen des
Kleinbürgertum Nationales Leistungsethos, Balan-
Evangeliums, Interesse an der ce Realismus-Hedonismus-Ge-
unterste Schicht des modernen
religiösen Erziehung der Kinder meinschaft, moderner Laienintel-
Proletariats, Tagelöhner, Sklaven,
deklassiert, kaum Aussicht auf lektualismus, intrinsisch motiviert,
Verbesserung der Lage durch verinnerlichte (protestantische)
ethisch-rationale Lebensführung, Ethik, selbstbestimmt autoritätskri-
Desintegrierte
häufig unstete Lebensweise, z.T. tisch (Typus: Alltagschristen, Nüch-
Interesse an Erlangung von Selbst-
radikales Erlösungsbedürfnis terne Pragmatiker, Anspruchsvolle)
geltung, zwischen „Ohne-mich“
und Hang zur Radikalität, Interesse
an kirchlicher Gemeinschaft, Sehn- Traditionsloses Arbeitermilieu
sucht nach „ehrlicher“ Aussage weniger innengeleitete Selbstdis-
und Echtheit der Träger kirchlicher ziplin, gelegenheitsorientiert, Sorge
Botschaft um gesellschaftliche Anerkennung,
„underdog“-Bewusstsein, z.T.
prekäre Verhältnisse
Kulturelle Vorlieben
Sachlich-
pragmatische
Moderne Kultur Arbeits- und
Qualitätsbewusste Erlebnisorientierte,
Einfach
(12%) vielseitig Aktive
Lebende,
arbeitsorientierte (9%)
Häusliche Häusliche
(13%) mit Interesse an
leichter Unterhal- Expressiv
tung und Mode Vielseitige
(10%) (12%) Hedonisti-
Populär, sche Freizeit-
Sicherheits- orientierte
volks-
orientierte, sozial (6%)
tümlich Traditionelle, Eingebundene mit
zurückgezogen Vorlieben für volks-
Lebende tümliche Kultur und
(16%) Mode
(11%)
Aktionsradius
häuslich außerhäuslich
Beschreibt man die Lebensstile der Menschen aufgrund des jeweiligen Freizeit-
verhaltens und Musikgeschmacks, der Lektüregewohnheiten, Fernsehinteres-
sen, des Kleidungsstils, der Lebensziele und der Wahrnehmung des persönli-
chen Alltags (Schneider & Spellerberg 1999: 101) und ordnet die Personen je
178 Stefan Hradil
Ganzheitlich
kulturell
Interessierte
Selbst-
verwirklichungs- Kulturbezogen- Selbst-
milieu Postmaterielle, asketischer verwirklichungs-
aktive Vielseitige Lebensstil orientierte
Unterhaltungsmilieu Freizeitorientierte Hedonistisch Unterhaltungs-
Gesellige expressiver orientierte
Expressive Lebensstil (z.T.)
Vielseitige
Prestigebezogene
Selbstdarstellung
Pragmatisch
Berufs-orientierte
Hedonistisch
expressiver
Häusliche Lebensstil (z.T.)
Unterhaltungs-
Integrationsmilieu suchende Familien-zentrierter Integrations-
Lebensstil orientierte
Traditionelle,
freizeitaktive
Ortsgebundene
2 Eine Kontroverse zwischen Thomas Meyer, Gerhard Schulze und Stefan Hradil, die den
Stand der Kritik und Gegenkritik zusammenfasst, findet sich in Hradil (2001b).
Soziale Milieus und Lebensstile 181
zeigten sich aber gleichwohl Übereinstimmungen, die auf reale und vergleichs-
weise beständige Strukturen schließen lassen. Daher kann gerade die Vielfalt
der Herangehensweisen, mit deren Hilfe man immer wieder auf im Kern ähnli-
che Strukturen gestoßen ist, als Hinweis auf den Realitätsgehalt der For-
schungsergebnisse gelten. Zum anderen wurde die anfänglich vielleicht zwangs-
läufige und sogar hilfreiche Theorielosigkeit der Milieu- und Lebensstilfor-
schung im Laufe der Zeit immer mehr durch theoriegeleitete Forschungen
ersetzt. Für die neueren Beiträge kann der Vorwurf der Theorielosigkeit kaum
mehr gelten. Insbesondere ist der neueren Forschung daran gelegen, theoreti-
sche Brücken zwischen den „objektiven“ Lebensbedingungen und den „sub-
jektiven“ Lebensweisen der Menschen zu schlagen (vgl. z.B. Wieland 2004).
Nicht selten wurde die Milieu- und Lebensstilforschung – vor allem in der
Anfangszeit ihrer Renaissance in den 1980er Jahren – als alleinige Nachfolgerin
der Klassen- und Schichtungsforschung angesehen. Zahlreiche Forscher mo-
nierten, dass eine so interpretierte Milieu- und Lebensstilforschung ideologische
Funktionen ausübe. An die Stelle von Ungleichheitsforschung und Erforschung
materieller Lebensbedingungen sei soziokulturelle Vielfaltsforschung (Geißler
1996) getreten. Es werde der Eindruck erzeugt, Bildungs-, Einkommens- und
Vermögensungleichheiten seien unwichtig, die Lebensgestaltung sei ein buntes
Reich individueller Freiheiten geworden.
Diese Gefahren haben vor allem im Überschwang der Renaissance der Mi-
lieu- und Lebensstilforschungen der 1980er Jahre durchaus bestanden. Aber
seither hat die empirische Forschung ermittelt, dass neben Alter, Lebensform
und Geschlecht auch die Schichtzugehörigkeit die Freiheit der Lebensgestal-
tung einschränkt. Auf der anderen Seite hat sich die Klassen- und Schichtungs-
forschung von der Unterstellung verabschieden müssen, nach denen die äußere
Lebenslage zwangsläufig bestimmte Lebensweisen nach sich zieht. Mittlerweile
existiert, bei anhaltender Diskussion, eine fruchtbare Koexistenz zwischen der
Ungleichheits- und der Milieu- bzw. Lebensstilforschung.
Schließlich sollen noch drei Einwände genannt werden, die sich weniger ge-
gen die Milieu- und Lebensstilforschung schlechthin als gegen den derzeitigen
Forschungsstand bzw. gegen häufig geübte Vorgehensweisen richten:
1. Lebensstile werden vorwiegend, soziale Milieus teilweise mit Hilfe von
Verhaltensindikatoren erfasst. Mit Hilfe der so ermittelten Lebensstile und
sozialen Milieus werden wiederum Verhaltensweisen (Konsum, politische
Wahlen, Gesundheitsverhalten etc.) erklärt. Dies weckte den Verdacht der
Tautologie. Es wurde kritisiert, dass Verhalten mit Verhalten begründet
werde, was dergleichen „Erklärungen“ logisch wertlos mache.
182 Stefan Hradil
Gegen diesen Vorwurf wurde argumentiert, dass soziale Milieus und Le-
bensstile (strukturell und individuell) relativ geschlossene und stabile Mus-
ter der Lebensweise darstellen. Sie sind auf anderer logischer Ebene als die
einzelnen Verhaltensakte einzuordnen und können so durchaus als Erklä-
rung für Konsumverhalten, Medienverhalten etc. dienen.
2. Um soziale Milieus oder Lebensstile zu erforschen, wird jeweils eine Fülle
von Indikatoren bzw. Variablen verwendet. Teilweise werden mehr als 50
Fragen eingesetzt. Dies ist sehr zeitaufwändig und teuer. Kritiker wandten
ein, dass dieser Aufwand oft in keinem Verhältnis zum Erkenntnisgewinn
gegenüber „sparsameren“ Konzepten, z.B. der Berufs- oder Schichtstruk-
tur, stehe. Tatsächlich stellt der hohe Aufwand bis heute ein Hemmnis für
die weitere Verbreitung der Milieu- und Lebensstilforschung dar. An zahl-
reichen Stellen wird deshalb an einfacheren Operationalisierungen gearbei-
tet.
3. Schließlich wurde kritisiert, dass die Forschung blind sei für Veränderungen
von sozialen Milieus und Lebensstilen sowie für den persönlichen Wechsel
von Milieu- bzw. Lebensstilzugehörigkeiten.
In der Tat erbringen fast alle vorliegenden Milieu- und Lebensstilstudien bloße
Momentaufnahmen. Sie beschreiben die derzeitige Mentalität bzw. Lebensge-
staltung von Menschen und versuchen, hieraus Erklärungen abzuleiten. Es
wird hieraus weder deutlich, wie lange soziale Milieus und Lebensstile beste-
hen, noch, wie lange die Einzelnen einem bestimmten sozialen Milieu bzw.
Lebensstil angehören und welche „Milieu- bzw. Lebensstilbiographie“ sie
durchlaufen. Dies zu wissen, wäre u.a. wichtig, um Erklärungen historischer
Prozesse und individuellen Verhaltens fundierter vornehmen zu können. Wer
z.B. aus dem konservativen Milieu ins liberale geraten ist, wird sich anders
verhalten als diejenigen, die aus dem „68er-Milieu“ dorthin kamen.
Auch hier gilt, dass der Vorwurf heute weniger trifft als gestern. Insbeson-
dere über den Wandel der oben beschriebenen „Sinus-Milieus“ wissen wir seit
Mitte der 1980er Jahre durch Zeitreihendaten relativ gut Bescheid. Auch Stu-
dien zur Mobilität über Milieu- und Lebensstilgrenzen hinweg liegen seit eini-
gen Jahren vor (Vester et al. 2001; Wahl 2004, 2003, 1997).
6 Fazit
Die Erforschung von Milieus und Lebensstilen ist aus dem Bereich der ge-
werblichen Marketing- und Wahlforschung herausgetreten und von einer
Modeerscheinung zu einem etablierten Bestandteil der sozialwissenschaftlichen
Forschung geworden. Manche Übertreibungen aus der Anfangszeit der akade-
mischen Renaissance der 1980er Jahre sind überwunden. In einer wohlhaben-
den, pluralisierten und sich wandelnden Gesellschaft, in der Selbstdefinitionen,
Zurechnungen und Verhaltensweisen der Menschen nicht mehr allein von
verfügbaren Ressourcen, sondern auch von deren Verwendungsweise geprägt
sind, ist die Perspektive der Milieu- und Lebensstilforschung unerlässlich ge-
worden. Sie ersetzt herkömmliche Sozialstrukturanalysen nicht, sondern er-
gänzt sie.
Nicht zuletzt zeigt sich der Gewinn dieser Forschungsrichtung in der Jour-
nalismusforschung. Sie hilft, den sozialen Standort, die Einstellungen und die
Motive von Journalisten zu verstehen. Milieu- und Lebensstilstudien geben vor
186 Stefan Hradil
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KAPITAL – FELD – HABITUS
Elemente einer Journalismustheorie
nach Bourdieu
Herbert Willems
1 Einführung
Der vorliegende Aufsatz verfolgt das Ziel, bestimmte Schlüsselelemente der
soziologischen Theorie als Ansätze der Untersuchung journalistischer Praxis
vorzuführen. Im Vordergrund stehen die zentralen Konzepte Pierre Bourdieus,
dessen Werk in diesem Zusammenhang als besonders vielversprechend er-
scheint. Meine diesbezüglichen Überlegungen gehen davon aus, dass die theo-
retische Bedeutung Bourdieus weniger in einem eigenständigen „Theoriesys-
tem“ als in der Arbeit an Konzepten besteht, die in der Soziologie bereits vor
Bourdieu Tradition hatten. Gleichzeitig (und deswegen) gehe ich davon aus,
dass diese Konzepte zu den relevantesten Ansätzen einer integrativen sozial-
wissenschaftlichen bzw. soziologischen Theoriebildung zu zählen sind, die ein
aktuelles Optimum an deskriptiver und analytischer Aussagekraft versprechen.
An drei Begriffe Bourdieus ist hier vor allem zu denken: Feld, Habitus und
Kapital. Ihr Status im Bourdieu’schen Werk ist mittlerweile vielfach reflektiert
worden, ohne zu übersehen, dass Bourdieu damit auf den Schultern von Riesen
wie Marx, Durkheim oder Weber steht. Allein dies ist jedoch viel weniger be-
deutsam als die besondere perspektivische und theoretische Parallelität und
Anschlussfähigkeit zwischen den Arbeiten von Bourdieu und Norbert Elias.
Dies gilt gerade im Hinblick auf die genannte Begrifflichkeit. Die Gedanken-
und Denkfigur, für die sie steht, ist schon bei und für Elias grundlegend und
werkzentral. In dem vorliegenden Aufsatz werde ich daher des Öfteren auf die
Verwandtschaft und auch Komplementarität zwischen Elias und Bourdieu zu
216 Herbert Willems
1 Eine Komplementärbeziehung zwischen Elias’ und Bourdieus Ansätzen besteht vor allem
insofern, als Elias (im Gegensatz zu Bourdieu) seinem Ansatz einen entschieden histori-
schen und differenzierungstheoretischen Rahmen gegeben hat. Darüber hinaus ist Elias Be-
grifflichkeit offener und daher umfassender. Dies gilt insbesondere für den Begriff der „Fi-
guration“, der die verschiedensten sozialen Beziehungsgebilde umfasst – auch Konstellatio-
nen innerhalb von Feldern.
2 Gewisse Parallelen drängen sich von hier aus auch zu anderen Konzepten und Theorien
auf. Zu nennen wäre insbesondere die Luhmann’sche Systemtheorie mit ihrem Konzept des
(funktionalen) „Subsystems“ und die Foucault’sche Diskurstheorie mit ihren Konzepten
„Dispositiv“ und „Spezialdiskurs“. Hier ist allerdings nicht der Ort, diese Parallelen genauer
zu bestimmen.
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 217
dige Bewegung gezogen werden, um den Rang, den Abstand, die Kluft gegen-
über den anderen aufrechtzuhalten (Bourdieu 1989: 35, Hervorhebung im Ori-
ginal).
Die Begriffe Feld und Figuration meinen, anders und genauer gesagt, span-
nungsvolle und dynamische Beziehungsordnungen von Akteuren, die als sozia-
le Subjekte und Objekte in immer auch symbolischen Ungleichheits-, Macht- und
Konkurrenzverhältnissen stehen und entsprechende Kämpfe um Überlegen-
heit – und d.h. Distinktion – führen. Menschen und Menschengruppen erschei-
nen im Elias’schen wie im Bourdieu’schen Modellrahmen also einerseits nie
isoliert, sondern immer nur in sozialen Relationen, die sie ebenso „bilden“ wie
sie von ihnen „gebildet“ werden. Ganz wie Elias, nur ohne dessen historische
Ausrichtung, betont Bourdieu (1989: 71), „dass die Wirklichkeit relational ist”.
Vor diesem Hintergrund fokussieren Elias wie Bourdieu die psychischen und
körperlichen Seiten der menschlichen Wirklichkeit als Momente, Effekte und
Voraussetzungen jener sozialen „Zusammenhänge“, für die die Begriffe Figura-
tion und Feld stehen.3 Sie bezeichnen eine soziale Realität, die dem Handeln
und dem Handelnden objektive Grenzen setzt und zugleich mit diesen und
durch diese Grenzen bestimmte Spielräume eröffnet. Elias und Bourdieu brin-
gen diese Bivalenz des Sozialen in Relationen zwischen Objektivität und Sub-
jektivität, Zwang und Freiheit auf den metaphorischen Begriff des Spiels, den
beide gleichermaßen weitreichend, ja radikal ausbuchstabieren (vgl. Bourdieu:
1998; 1989; Elias 1981: 75ff.). Für Elias wie für Bourdieu erschließt sich die
Realität der Felder/Figurationen gleichsam als eine Realität von feldspezifi-
schen Spielen mit Spielregeln, Spielern, Einsätzen, Trümpfen, Gewinnen und
Verlusten, Spielzügen, Endergebnissen. Das „Ich” (Elias) muss entsprechend
als eine Tatsache „im Spiel“ betrachtet werden – in einem Spiel, in dem sich
Spieler aufgrund unterschiedlicher Positionen im (Spiel-)Feld in einem dynami-
schen „Spannungsgefüge” (Elias) und einer mehr oder weniger labilen Macht-
3 Indem Bourdieu und Elias die theoretische und analytische Aufmerksamkeit auf allen
Ebenen primär auf die „Interdependenzen der Menschen“ (Elias 1981: 144) lenken, wenden
sie sich gegen herkömmliche disziplinär und „philosophisch“ ausgemachte Trennungen.
Vor allem soll, wie Elias formuliert, der „Zwang gelockert werden, so zu sprechen, als ob
‚Individuum’ und ‚Gesellschaft’ zwei verschiedene und überdies auch noch antagonistische
Figuren seien [...]“ (ebd.: 140). Elias wendet sich besonders entschieden dagegen, das von
ihm als historisches Resultat erklärte „Selbstbild vom ‚Ich im verschlossenen Gehäuse’, das
Bild vom Menschen als ‚homo clausus’“ (ebd.: 141), soziologisch zu verdoppeln. Im Blick
hat er dabei vor allem die Systemtheorie Parsons’scher Prägung.
218 Herbert Willems
balance befinden.4 „Im Zentrum der wechselnden Figurationen” steht für Elias
(1981: 142f.) „das Hin und Her einer Machtbalance, die sich bald mehr der
einen und bald mehr der anderen Seite zuneigt“. Genau in diesem Sinne ent-
wirft Bourdieu die Ordnung der Felder:
„Ein Feld ist ein strukturierter gesellschaftlicher Raum, ein Kräftefeld – es
gibt Herrscher und Beherrschte, es gibt konstante, ständige Ungleichheitsbe-
ziehungen in diesem Raum, und es ist auch eine Arena, in der um Veränderung
oder Erhaltung dieses Kräftefeldes gekämpft wird. In diesem Universum bringt
jeder die (relative) Kraft, über die er verfügt und die seine Position im Feld und
folglich seine Strategien bestimmt, in die Konkurrenz mit den anderen ein“
(Bourdieu 1998: 57).
Dass Felder/Figurationen gleichsam Arenen sind, in denen mit „passen-
den“ (Kapital-)Mitteln strategisch gekämpft wird, bedeutet aber weder für
Bourdieu noch für Elias, Akteure primär als bewusst kalkulierende und rational
wählende Individuen zu verstehen. Im Gegenteil: Strategien erscheinen zu-
nächst und hauptsächlich als etwas Produziertes und „Gerahmtes“: durch Ha-
bitus.
2.2 Habitus
Der Feldbegriff, der ja auf Räume zielt, „in denen objektive Beziehungen herr-
schen und die ihre je eigene Logik und Notwendigkeit aufweisen” (Bourdieu
1989: 72), ist durch den Habitusbegriff komplementiert, der die entsprechen-
den personalen und kollektiven Verhaltensdispositionen entwirft. Der Begriff
des Habitus ist nun nicht nur bei und für Bourdieu zentral, sondern überhaupt
ein – vor Bourdieu allerdings vielfach verkanntes Kernelement der soziologi-
schen Begriffsgeschichte, dessen Flexibilität und Entwicklungsfähigkeit gerade
aus seiner Tradition ersichtlich wird.
Einen dem Bourdieu’schen Konzept im kompetenztheoretischen Grundan-
satz (jenseits von Gesellschafts- und Klassentheorie) verwandten Habitusbeg-
riff haben (vor Bourdieu) Gehlen und – im Anschluss an ihn – Berger und
Luckmann (1969) entwickelt. Nach Gehlen (1986: 19), der von „Systemen
stereotypisierter und stabilisierter Gewohnheiten” spricht, handeln wir sehr oft
„in habituell gewordenen, eingeschliffenen Verhaltensfiguren, die ‚von selbst’
ablaufen. Dies aber versteht sich nicht nur von dem im engeren Sinne prakti-
4 Die Labilität der Machtbalance konstituiert erst das Spiel als offenes Spiel, d.h. den Spiel-
raum des Spielers und der „Partei“, für die er spielt.
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 219
schen, äußeren Handeln, sondern vor allem auch von dessen inneren Bestands-
stücken: Gedanken- und Urteilsgängen, Wertgefühlen und Entscheidungsak-
ten; auch sie sind meist weitgehend automatisiert” (Gehlen 1957: 104). Berger
und Luckmann sprechen in diesem Zusammenhang von einem „alles mensch-
liche Tun” umfassenden „Gesetz der Gewöhnung [...]. Jede Handlung, die man
häufig wiederholt, verfestigt sich zu einem Modell, welches [...] reproduziert
werden kann und dabei vom Handelnden als Modell aufgefaßt wird” (1969:
56).
Habitualisierung in diesem Sinne bedeutet für Gehlen sowie Berger und
Luckmann wie auch für Bourdieu zunächst einen Gewinn an Handlungsfähig-
keit und (weil) eine „Einsparung von Kraft” (Berger & Luckmann 1969: 56).
Gehlen betont die mit Potenzialsteigerungen – etwa im beruflichen Handeln –
verbundene
ungemeine Entlastungsleistung eines solchen sozial orientierten Automatismus
[...]. Es sind nämlich auch die zur Arbeit notwendigen Bewusstseinsfunktionen
habitualisiert, einschließlich der Aufmerksamkeit, die unter diesen Bedingungen
selbst habituell wird und ihre Eigenschaft, rasch zu ermüden, in hohem Grade
verliert (Gehlen 1957: 104f.; Berger & Luckmann 1969: 26f., 43f.).
renden Aktion zum Ausdruck und führt damit einen solchen Worten wie
„Struktur“ verwandten Sinn ein; sie benennt im Weiteren eine Seinsweise,
einen habituellen Zustand (besonders des Körpers) und vor allem eine Prä-
disposition, eine Tendenz, einen Hang oder eine „Neigung” (Bourdieu 1976:
446). Habitus sind demnach keine Determinanten von Verhaltensweisen, son-
dern sozusagen generative Rahmen und damit Identitäten von Verhaltenswahr-
scheinlichkeiten, Kontingenzspielräumen und (An-)Passungsverhältnissen. Es
geht nicht etwa um im Handeln kopierte „Drehbücher“ (wie die so genannten
Skripttheorien unterstellen), sondern um „eine allgemeine Grundhaltung, eine
Disposition gegenüber der Welt, die zu systematischen Stellungnahmen führt
[…] wie einer spricht, tanzt, lacht, liest, was er liest, was er mag, welche Be-
kannte und Freunde er hat usw. All das ist eng miteinander verknüpft” (Bour-
dieu 1989: 25).
Bourdieu unterstreicht und spezifiziert dieses Verständnis (knapp zehn Jah-
re nach dem „Entwurf”), indem er den Habitus als Verhaltensgenerator mit
nicht nur systematischem Charakter sondern auch gleichsam eingebauter Fein-
abstimmung vorführt: „Habitusformen” erscheinen
als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Struk-
turen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h.
als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die
objektiv an ihr Ziel angepaßt sein können, ohne jedoch bewußtes Anstreben von
Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderli-
chen Operationen vorauszusetzen (Bourdieu 1987: 98f.).
5 Von feinen Unterschieden spricht nicht nur Bourdieu in seinem (in der deutschen Überset-
zung) gleichnamigen Buch, sondern auch schon Gehlen (1957: 105). Ihm zufolge entwickelt
sich „auf dieser Basis spezialisierter Gewohnheiten gesetzmäßig eine immer höhere Reiz-
schwelle, ein sich verfeinernder optischer und taktiler Sinn für Qualitätsunterschiede, ein
Plus an motorischen Feinreaktionen und eine differenzierte Skala verfügbarer Denkschema-
ta; kurz, ein hohes gezüchtetes Können“ (Gehlen 1957: 105; vgl. auch 1986: 29f.).
222 Herbert Willems
Antwort gefunden werden. Nur diese Art erworbener Meisterschaft, die mit der
automatischen Sicherheit eines Instinkts funktioniert, gestattet es, augenblicklich
auf alle möglichen ungewissen Situationen und Mehrdeutigkeiten der Praxis zu
reagieren (Bourdieu 1987: 190f.).
Die vielfältigen Varianten des praktischen Sinns und jene reflexartigen Reakti-
onsweisen, die wie die Schamangst einen Zwang und unter Umständen einen
„unpraktischen Sinn“ bedeuten, führt Bourdieu auf bestimmte Klassen sozialer
Existenzbedingungen zurück, die den jeweiligen Habitus gleichsam – einer
Grammatik analog – programmieren.
Da er ein erworbenes System von Erzeugungsschemata ist, können mit dem
Habitus alle Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen, und nur diese, frei
hervorgebracht werden, die innerhalb der Grenzen der besonderen Bedingungen
seiner eigenen Hervorbringung liegen. Über den Habitus regiert die Struktur, die
ihn erzeugt hat, die Praxis, und zwar nicht in den Gleisen eines mechanischen
Determinismus, sondern über die Einschränkungen und Grenzen, die seinen Er-
findungen von vornherein gesetzt sind (Bourdieu 1987: 102).
6 Natürlich versteht man nicht zuletzt im Feld der Wissenschaft sofort, was hier gemeint ist.
Allerdings tritt auch sofort die Wesensdifferenz der Kapitaltypen zu Tage. Beziehungskapi-
tal ist eine recht diffuse, instabile und unzuverlässige Angelegenheit.
7 Der Begriff des symbolischen Kapitals wird von Bourdieu mit und ohne Rückbezug auf die
genannten Kapitaltypen nicht völlig klar und einheitlich verwendet. Es ist auch fraglich, ob
nicht noch andere als die von Bourdieu fokussierten Grundlagen symbolischen Kapitals
von größerer Bedeutung sind. Zu denken wäre etwa an „korporales Kapital“, von dem
Bourdieu verschiedentlich spricht. Auch mit dem Körper können sich ja wie mit Beziehun-
gen (und in Beziehungen) diverse Ressourcen verbinden.
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 225
3.2 Der Journalist als Akteur im Spannungsgefüge zwischen seinem Medienfeld und
der Kultur seines Publikums
Journalisten sind – bei allem, was sie sonst noch sind – hauptsächlich Genera-
toren von bestimmten Informationstypen und Informationsinszenierungen.
Die Aktion und Praxis des Journalisten besteht in spezifisch interessierten,
nämlich sich an antizipierten Publikumsverständnissen und Publikumsinteres-
sen ausrichtenden Beobachtungen, die in (sprachlichen) Beschreibungen und
(bildlichen) Darstellungen dramaturgisch aufbereitet und interpretiert werden.
12 Zum Beispiel ihrem individuellen Stil, der allerdings als Habituseffekt zu erklären ist.
228 Herbert Willems
13 Historisch ist Letzteres zunehmend der Fall. Heute sind alle „Feldspieler“ – vom Kleriker
bis zum Künstler – mehr oder weniger von Meinungen und Images abhängig, die Journalis-
ten professionell gestalten und sozusagen verwalten.
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 229
Ensemble von Habitus. Sie sind eine omnipräsente und permanent fungierende
„Tiefenrealität“, die dem jeweils aktuellen informationellen „Realitätsverlust“
und „Realitätsloch“ des Publikums als eine für die medialen „Wirklichkeitskon-
strukteure“ maßgebende und entscheidende Kraft gegenübersteht. Anders
formuliert: So sehr die Medien, und damit der Journalismus, die aktuelle In-
formationswirklichkeit des Publikums bestimmen, so sehr bestimmt die Habi-
tusausstattung des Publikums, seine innere „Realitätsgrammatik“, was und wie
mit welchen Effekten und Erfolgsaussichten medial kommuniziert werden
kann.
Bourdieus Argumentation – gerade auch sein Kapitalbegriff – berührt und
überschneidet sich in diesem Zusammenhang mit medienwissenschaftlichen
Überlegungen, die unter dem Titel „kulturelles Forum“ laufen. Gemeint ist
damit zunächst, dass die Massenmedien – mit dem Fernsehen als der alles
überragenden Variante14 – Raum-, Zeit- und Sozialgrenzen übergreifende Fo-
ren im Sinne von Plattformen, Schau- und Marktplätzen von Kultur bilden, auf
denen und hinter denen professionelle Akteure wie die Journalisten als Ver-
mittler von Information und Sinn operieren. Marshall Sahlins (vgl. 1976: 217)
und im Anschluss an ihn Newcomb und Hirsch (1986) sprechen von „Sym-
bolverkäufern”, die (wie alle Verkäufer dieser Welt) in einem marktstrategi-
schen Sinne publikumsorientiert sind. Damit rücken nicht die „systeminter-
nen“, generativen und kreativen Dimensionen von – u.a. journalistischen –
Medienerzeugnissen in den Vordergrund, sondern vielmehr wird ihre kulturell-
reflexive, sozusagen indikatorische Seite reflektiert. Sie ergibt sich aus der Be-
obachtungsrichtung und Beobachtungsleistung der medialen „Symbolverkäu-
fer“. Das heißt: Vor dem Hintergrund ihrer Handlungsziele reagieren Medien-
akteure wie die Journalisten mit hoher Sensibilität z.B. auf „konkrete Ereignis-
se, auf den Wandel gesellschaftlicher Strukturen bzw. Organisationsformen
oder auf Veränderungen in Einstellungen und Wertvorstellungen. Auch tech-
nologische Innovationen [...] sind für sie wichtige Anstöße” (Newcomb &
Hirsch 1986: 180). Ob es hauptsächlich darum geht, berichtend oder „nach-
richtend“ zu informieren oder aber zu werben oder „bloß“ zu unterhalten – die
adressierten Publika und alles, was sie an Wissen und Sinn mitbringen, sind –
so die Argumentation im Rahmen des kulturellen Forumskonzepts – die ei-
gentliche „Autorität“ der „Symbolverkäufer“ (vgl. Fiske & Hartley 1978: 86).
Diese müssen demnach buchstäblich und gleichsam die (Habitus-)Sprache des
14 Für viele Beobachter, wie auch für Bourdieu, ist das Fernsehen das „Leitmedium“ und der
Fernsehjournalismus sozusagen der Leitjournalismus.
230 Herbert Willems
Die heutigen Journalisten erscheinen hier also ganz ähnlich wie bei Elias die
Höflinge: als nutzen- und d.h. kapitalorientierte Beobachtungs- und Inszenie-
rungsvirtuosen, die sich in einer systematisch reflexiven Distanz zu den Tätig-
keiten und Erzeugnissen ihres Feldes befinden.
15 So kann die Lektüre eines Boulevardblatts für einen „gebildeten“ und als „gebildet“ auftre-
tenden Leser geradezu als Stigma erscheinen. Umgekehrt sind bestimmte Presseerzeugnisse
fast Statussymbole und indikatorische Elemente eines Lebensstils, in dem auch die Behaup-
tung einer Lebensanschauung und einer Identität steckt.
232 Herbert Willems
16 Medienproduzenten aller Art aktivieren natürlich zudem und auf dieser Basis ein professio-
nell-technisches „Lehrbuchwissen“, zum Beispiel über Formen der Textgestaltung (vgl. Ra-
ger, Hartwich-Reick & Pfeiffer 1998). Darüber hinaus kann man davon ausgehen, dass die
verschiedensten Medienproduzenten – gerade auch Journalisten – sowohl in ihrer Ausbil-
dung als auch in ihrer beruflichen Praxis permanent zu spezifisch kompetenzbildenden
Selbstreflexionen und Selbstevaluationen veranlasst werden.
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 233
Qualität der ausgesandten Information und der Struktur des Publikums besteht.
Ihre Lesbarkeit und Durchschlagskraft sind umso größer, je direkter sie auf im-
plizite oder explizite Erwartungen antworten, die die Rezipienten prinzipiell ihrer
Erziehung durch das Elternhaus und ihren sozialen Bindungen [...] verdanken
(Bourdieu 1991: 169).
Journalisten müssen also, in und mit welchem Medium auch immer sie operie-
ren, vor allem zwei habitusverdankte und habitusformierte „Künste“ beherr-
schen und verbinden: eine Kunst der Beobachtung und des Verstehens einer-
seits und eine – entsprechende – mindestens textuelle Inszenierungskunst an-
dererseits. Der Journalist ist mit anderen Worten immer auch ein Stratege, ein
„Empathievirtuose“ und ein dramaturgischer Gestaltungskünstler mit ausge-
prägtem Bewusstsein für die (strategische) Erfolgsrelevanz der Form. Die ent-
sprechenden Habitus bilden sich dabei wesentlich am Typ des Mediums, des-
sen Unterschiedlichkeit eine ist, die auch Unterschiede der Habitusanforderung
macht. Anders als die Printmedien eröffnet das Fernsehen z.B. die habituell
voraussetzungsvolle Dimension der korporalen „Performance“ des Journalisten.
Und diese Dimension spielt offenbar in verschiedenen Rollen (als Moderator,
Berichterstatter, Kommentator) eine immer größere Rolle. Vor allem Fernseh-
journalisten sind heute im Rahmen entsprechender Formate (Interviews, Talk-
Runden usw.) mehr denn je „Performancekünstler“, deren erfolgsbestimmende
Kunst habitusbestimmt ist.
18 Journalisten stehen damit in einer Reihe mit anderen Berufen, die ihre besondere sachliche
und moralische Geltung und Würde mit einem eigenen dramaturgischen Instrumentarium
herstellen. Richter, Priester und Therapeuten gehören dazu.
19 Luhmann, der die Programmangebote in dem besagten Sinne klassifiziert hat, weiß nicht
recht, ob er sie eher zur Unterhaltung oder eher zu den Nachrichten und Berichten zählen
soll (vgl. 1996: 96ff.).
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 235
20 Johannes Weiß meint Ähnliches, wenn er von „Vergewöhnlichung“ spricht. Auch ihm geht
es nur vordergründig um „Kulturkritik“. Der entscheidende analytische Fokus richtet sich
vielmehr bei Weiß wie bei Bourdieu auf die generativen Mechanismen (und damit auf eine
gewisse Zwangsläufigkeit) einer kulturellen Entwicklungstendenz.
21 Nachrichten sind demnach in gewisser Weise zu einem Spezialfall von Unterhaltung gewor-
den. Dessen Besonderheit (die Besonderheit der Nachrichtenunterhaltung) liegt zum einen
in der Wahrheit der mitgeteilten Informationen und zum anderen in der Art dieser Informa-
tionen. In der generellen Erfolgslogik des „Infotainments“ sind potentiell (publikums-)
unterhaltsame Informationen diejenigen, die einen „sachlich“ dramatischen Inhalt haben,
d.h. im allgemeinsten Sinne mit Abweichungen von Normalität zu tun haben.
236 Herbert Willems
tiert zugleich ein Bild von der Welt, das geglaubt werden kann. Mit Bourdieu
formuliert: (Welt-)Geschichte als „eine Abfolge scheinbar absurder Geschich-
ten, die sich schließlich alle ähneln […]” (1998: 138). Ebenso wie durch die
Selektion und dramaturgische Aufbereitung von „news“ fungiert die journalis-
tische Kommunikation durch die narrative, d.h. Kontexte herstellende, Enthül-
lung bzw. Entlarvung von „Hintergründen“ als Bildner von „Weltbildern“, die
sich sozusagen an dem mentalen Apparat des Publikums festmachen, ihn aber
auch überlagern, überformen und durchdringen. Als ein Beispiel für die hier
gemeinte Sinn- und Wirklichkeitskonstruktion kann ein Auszug aus einem
(typischen) Bericht des Spiegel dienen, der die ehemaligen Kanzlerkandidaten
der SPD, Lafontaine und Schröder, auf ihrem Parteitag 1997 schildert:
Die beiden präsentierten in Hannover grelle Bilder ihrer politischen Männer-
freundschaft anstelle klarer Antworten. Und je länger und aufdringlicher sie ihre
Eintracht in die Kameras und in die Mikrophone witzelten, desto deutlicher
wurde aus ihrem Krampflächeln purer Hohn – nicht nur ihre Kandidaten-Show
erschien absurd, sondern nicht minder die Erwartung, die Herren würden ihr
„wahres Gesicht“ zeigen. Daß Politiker nicht nur zur Täuschung, sondern auch
zum Schutz Rollen spielen, daß sie Masken und Kostüme benutzen, ist auch eine
Wahrheit. [...] Immer schon hatte auf Parteitagen die Erwartung von Mitgliedern,
Presse und Publikum den Reden der Hauptmatadore gegolten. Die Macht des
Fernsehens erhebt diese Auftritte endgültig in den Rang von Herrschaftsritualen.
[...] Die beiden wußten, daß ihre Auftritte Profilierungschance und Falle zugleich
waren. [...] Zwar beklatschten seine Gefolgsleute noch tapfer die ersten Sätze,
aber mit zunehmender Dauer wuchs die Distanz zwischen Redner und Audito-
rium. Schröder las ab. Brav trug er einen gewitzten und dramaturgisch ordentlich
aufgebauten Text vor, dessen Gewicht ihn zu ermüden schien. Pflichtapplaus.
[...] Und doch ist der Preis beträchtlich, den Lafontaine für seine Konzentration
auf die Pflege der Parteiseele zahlt. Er verkürzt sein Image um eine Dimension
von Intellektualität und Reflexion, über die er verfügt. [...] In Hannover hat La-
fontaine sich präsentiert, aber nicht gezeigt. Wie Schröder hält er bewußt Teile
seines Denkens und seines Wesens versteckt. [...] Undeutlichkeit statt Pro-
gramm? Oder gar als Programm? Darin steckt auch Kalkül, um niemanden zu
verschrecken (Leinemann 1997: 22ff.).
Das Bild von der Welt, das hier inszeniert wird, ist, wie schon die „dramatolo-
gische“ Metaphorik22 zeigt, ein ganz und gar und ganz besonders theatralisches.
Es ist ein gemachter Blick auf eine Theater-Welt, ein „Blick auf eine Arena, in
der Ehrgeizlinge ohne jede Überzeugung Manöver durchführen, bei denen sie
sich von konkurrenzbedingten Interessen leiten lassen” (Bourdieu 1998: 134).
22 Show, Täuschung, Rolle, Maske, Kostüm, Auftritt, Ritual, Publikum, Dramaturgie, Image
usw.
Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu 237
Indem journalistische Diskurse – und d.h. aus der hier vertretenen Perspek-
tive auch: Journalisten – derartige Sinnstrukturen, die offenbar auf fruchtbaren
Boden fallen, in endlosen Variationen kontinuierlich reproduzieren, sind sie in
besonderer Weise und systematisch kulturell positioniert, bedingt und wirksam.
Sie stehen damit neben anderen medialen Diskursen, die, wie z.B. die Wer-
bung, unter entsprechenden Voraussetzungen ihrerseits charakteristische
„Weltbilder“ mit vergleichbarem Inhalt hervorbringen (vgl. Willems & Kautt
2003). Eine Analyse, die die Logik bzw. Entwicklungslogik solcher Medienkul-
tur(en) verstehen und auf ihre Erzeugungsmechanismen zurückführen will,
kann auf die dargelegten Konzepte nicht verzichten.
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Die Struktur des journalistischen Felds
Thomas Hanitzsch
lich ist, die für sich genommen nicht unproblematisch sind (vgl. Reinemann, in
diesem Band).
Aus diesen Gründen hat sich die Journalismustheorie im deutschsprachigen
Raum in letzter Zeit stärker auf die integrativen Ansätze zubewegt, die mittlerwei-
le in zunehmender Taktzahl vorgelegt werden (vgl. u.a. Quandt 2002; Neuber-
ger 2000; Altmeppen 1999; Weischenberg 1998). Kultursoziologische Ansätze
hingegen haben es weiterhin schwer, obwohl gerade hier ein beträchtliches
Potenzial für die integrative Theoriekonstruktion brach liegt. Ein Grund hier-
für mag die weitgehende Abstinenz der Cultural Studies gegenüber der Analyse
von Prozessen der Produktion von Informationsangeboten sein. Journalismus-
forschung wird hier oft exklusiv im Gewand von Rezeptions- und Aneignungs-
forschung betrieben, und zuweilen verliert sie sich in schöngeistiger Polemik à
la John Hartleys (2000: 45) „Everyone is a journalist, and journalism is every-
where.“
In diese Indifferenz der kultursoziologischen Theoriebildung stoßen nun
Ansätze hinein, die auf den theoretischen Arbeiten des im Jahre 2002 verstor-
benen französischen Soziologen Pierre Bourdieu aufbauen. Auch wenn Bour-
dieu selbst kaum dezidierte Journalismusforschung betrieben hat (vgl. Raabe
2003: 471), so hat der (französische) Journalismus bereits in Bourdieus frühen
kultursoziologischen Analysen stets einen wichtigen Platz eingenommen (vgl.
Bastin 2003: 263). Mit dem Einzug des Privatfernsehens in Frankreich zu Be-
ginn der 1990er Jahre und der damit verbundenen gesellschaftlichen Transfor-
mation nimmt Bourdieus Auseinandersetzung mit Journalismus schließlich
weiter an Intensität zu (vgl. Benson & Neveu 2005b: 1).
Mit Spannung wurde daher Bourdieus Buch „Über das Fernsehen“ (1998c,
Sur la télévision, ersch. 1996) aufgenommen. Doch die Enttäuschung unter vielen
Forscherkollegen war groß: Die nicht einmal 140 Seiten umfassende Abhand-
lung war eine weitgehend polemische Abrechnung mit dem Journalismus und
dem Mediensystem im Frankreich der 1990er Jahre. Anders als die wissen-
schaftliche Bewertung des Bandes muss eine historische Würdigung dieser
Arbeit jedoch in Rechnung stellen, dass sich Pierre Bourdieu über seine for-
scherischen Aktivitäten hinaus mit zunehmendem Lebensalter immer stärker
auch als politischer Intellektueller engagierte. Der schmale Band „Über das
Fernsehen“ war vermutlich weniger als profunde wissenschaftliche Analyse
gedacht, sondern vielmehr als Ausdruck von Bourdieus Positionierung im
politischen Feld. Die Auseinandersetzung mit dem 1992 erstmals auf Franzö-
sisch erschienenen Band „Die Regeln der Kunst“ (1999, Les règles de l’art), der in
vielfacher Hinsicht eine Konsolidierung von Bourdieus früheren Arbeiten
Die Struktur des journalistischen Felds 241
1 In ähnlicher Weise vermutet Willems (in diesem Band), dass „bestimmte Presseerzeugnisse
fast Statussymbole und indikatorische Elemente eines Lebensstils“ sind.
242 Thomas Hanitzsch
wenden, die sich zuvor durch ihr Renommee und ihre Vertrauenswürdigkeit
ausgezeichnet haben.
Journalistische Organisationen, also Redaktionen und Medienbetriebe, können
wiederum das Renommee solch herausragender Journalisten dazu benutzen,
das eigene Ansehen aufzupolieren. Allerdings ist dieses Phänomen in den USA
stärker verbreitet, während es sich in Deutschland weitgehend auf exponierte
Moderatoren (z.B. Sandra Maischberger, Ulrich Wickert) und Ikonen der Aus-
landsberichterstattung (z.B. Peter Scholl-Latour) beschränkt. Das objektivierte
Kulturkapital im journalistischen Feld ist sehr spezifisch und kann zur Charak-
terisierung sowohl von Journalisten (anhand ihrer Praktiken) als auch von Re-
daktionen bzw. Medienangeboten (anhand der Inhalte) herangezogen werden.
Idealtypisch lässt sich hier ein Kontinuum ausmachen, dass sich zwischen zwei
Polen aufspannt. Auf der einen Seite steht ein reichweitenorientierter Journa-
lismus, der über eine intensive Marktbeobachtung (Auflage, Quote, Zielgruppe,
etc.) an die Notwendigkeiten und Spielregeln des ökonomischen Feldes ange-
passt ist. Am deutlichsten ist diese Form des objektivierten Kulturkapitals u.a.
im Boulevardjournalismus, in der Prominenten-Berichterstattung und im
Sportjournalismus. Demgegenüber steht ein angebotsorientierter „anspruchs-
voller“ Journalismus, der sich stärker an der Eigenlogik des kulturellen Feldes
orientiert und sich im spezifischen symbolischen Kapital des praktizierten
Journalismus niederschlägt. Im Zentrum steht hierbei vor allem die publizisti-
sche Qualität von Journalismus, verkörpert u.a. in Genres wie dem Feuilleton
und Praktiken wie dem investigativen Journalismus. Da sich in modernen Me-
dienunternehmen die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass mit einem „Avantgar-
de-Journalismus“ dieser Couleur kaum Geld zu verdienen ist, lässt die weitere
Kommerzialisierung von öffentlicher Kommunikation befürchten, dass sich
ein solcher Journalismus weiter in die kulturellen Nischen eines intellektuellen
Elite-Publikums zurückziehen wird.
Mit einer „anspruchsvollen“ Berichterstattung lässt sich also vor allem im
kulturellen Feld punkten, in dem das spezifische symbolische Kapital des Jour-
nalismus mehr „wert“ ist als im ökonomischen Feld. Hier regiert die „anti-
‚ökonomische’ Ökonomie der reinen Kunst“, die auf der „Verleugnung der
‚Ökonomie’ (des ‚Kommerziellen’) und des (kurzfristigen) ‚ökonomischen’
Profits“ basiert (Bourdieu 1999: 228). Einigen Medienbetrieben gelingt es den-
noch, die Balance zwischen einem reichweitenorientierten und anspruchsvollen
Journalismus zu halten, da sich kulturelles Prestige-Kapital durchaus in öko-
nomisches Kapital umwandeln lässt: So mögen Konsumenten bereit sein, für
ein Premium-Produkt einen höheren Preis zu zahlen, und Anzeigenkunden
Die Struktur des journalistischen Felds 245
werden ihre Werbung gerne in einem attraktiven Umfeld mit einem ebenso
(ökonomisch) attraktiven Publikum der höheren Einkommensklassen platzie-
ren (vgl. Schäfer 2004).
Die Bedeutung des ökonomischen Kapitals für Redaktionen und Medien-
betriebe lässt sich anhand einer neueren Publikation von Bourdieu (1998a:
174f.) differenzierter darstellen. Das finanzielle Kapital, verstanden als der direkte
oder indirekte Zugriff auf monetäre Ressourcen, repräsentiert im Journalismus
die Einnahmenseite in Form von Verkaufserlös, Werbeeinnahmen und Gebüh-
ren. Ein wichtiger Indikator für die symbolische Komponente des finanziellen
Kapitals ist Profitabilität, während eine unmittelbare Konsequenz der zuneh-
menden Bedeutung dieser Kapitalie eine steigende Medienkonzentration ist (als
concentration of ownership). Direkt damit im Zusammenhang – nämlich gekoppelt
über den ökonomischen Wettbewerb – steht das kommerzielle Kapital (Verkaufs-
kraft), das vor allem von Marketing und Vertrieb abhängig ist. Gemessen wird
der Umfang des kommerziellen Kapitals in Form von Auflagen, Zuschauer-
bzw. Nutzerquoten und Marktanteilen. Diese Kapitalsorte ist für das in priva-
ten und zunehmend auch öffentlich-rechtlichen Medienangeboten zu beobach-
tende „Mainstreaming“ der Inhalte verantwortlich, da Medienorganisationen
ihren Erfolg über das Erreichen von möglichst hohen Marktanteilen definieren.
Hierfür ist allerdings eine konsequente und permanente Wettbewerber- und
Marktbeobachtung notwendig, die gesteuert wird von der Verfügbarkeit an
technologischem Kapital, definiert als Bestand an wissenschaftlichen und/oder
technischen Ressourcen für die Produktion von Gütern. Die wissenschaftli-
chen Ressourcen stehen in Form von Publikumsforschung zur Verfügung,
wobei Medienunternehmen hierbei überwiegend auf externe Dienste zurück-
greifen (Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Wer-
beträgern, Gesellschaft für Konsumforschung, AC Nielsen, etc.).
+ Autonomie – Autonomie
– ökonomisches + ökonomisches
Kapital Kapital
+ spezifisches – spezifisches
symbolisches symbolisches
Kapital Kapital
JOURNALISMUS
– Kapitalvolumen
2 Bourdieu verwendet diese Begriffe nicht immer konsistent, zuweilen spricht er vom „litera-
rischen (und künstlerischen) Feld“ oder „intellektuellen Feld“, wenn er sich auf das Feld der
kulturellen Produktion bezieht.
Die Struktur des journalistischen Felds 249
Produktion. Auf der anderen Seite positionieren sich z.B. der populäre Journa-
lismus, die Prominenten-Berichterstattung, der Sportjournalismus sowie Ju-
gend- und Musikzeitschriften im Grenzland zwischen Unterhaltung und dem
journalistischen Feld. Zudem ist der Übergang von Journalismus zu nicht-
professioneller Kulturproduktion an den Rändern des journalistischen Feldes
oft fließend.
Die unterschiedlichen Positionen innerhalb des journalistischen Feldes las-
sen sich nun mittels eines zweidimensionalen Koordinatensystems beschreiben,
wie es von Bourdieu vielfach verwendet wurde (vgl. Abbildung 2). Auch hier
beschreibt die vertikale Achse das Kapitalvolumen und die horizontale Achse
die Kapitalstruktur. Der linke Rand des Feldes repräsentiert den „intellektuel-
len Pol“ (Marchetti 2005: 71) mit hoher Autonomie, großem Umfang an spezi-
fischem symbolischen (kulturellen) Kapital, aber geringem Ausmaß an ökono-
mischem Kapital. Der rechte Rand des Feldes bildet den „kommerziellen Pol“
mit geringer Autonomie, geringem spezifischen symbolischen (kulturellen)
Kapital, aber hohem Umfang an ökonomischem Kapital. Die Grenzen des
Feldes werden dabei von den jeweils am weitesten auseinander liegenden Posi-
tionen bestimmt, wobei einzelne Feldpositionen ihre Identität oft in Abgren-
zung – oder gar Opposition – zu anderen Positionen artikulieren. So ist der an
den trivialen Bedürfnissen der Konsumenten orientierte Service- und Ratgeber-
Journalismus, der seinem Publikum konkrete Hilfestellungen im täglichen Le-
ben geben will, u.a. auch als Reaktion auf die Vernachlässigung des Alltags
durch den lange Zeit vor allem die Printmedien dominierenden elitären Politik-
journalismus zu verstehen.
Je näher Feldpositionen dem kommerziellen Pol stehen, umso mehr regiert
die ökonomische Logik der Massenproduktion, die auf das Erreichen eines
möglichst großen Publikums bzw. möglichst großer Marktanteile abzielt. Die
journalistische Autonomie, d.h. die Durchsetzungskraft der spezifischen Logik
(nomos) des journalistischen Feldes, wird den heteronomen Kräften von Aufla-
gen, Quoten und Nutzerzahlen geopfert. Nicht zuletzt deshalb findet die
Tabloidisierung der Medienlandschaft am kommerziellen Pol statt: Mit 3,6
Millionen verkauften Exemplaren ist mit Bild die auflagenstärkste Tageszeitung
in der Bundesrepublik eine Boulevardzeitung (IVW, I/2006). Darüber hinaus
ist auf dieser Seite des Feldes die Abhängigkeit von Werbeeinnahmen beson-
ders stark ausgeprägt, wodurch die Fremdsteuerung durch das ökonomische
Feld zusätzlich begünstigt wird.
Abbildung 2: Das deutsche Mediensystem und das journalistische Feld.
+ Kapitalvolumen
– Kapitalvolumen
252 Thomas Hanitzsch
Raabe (2005a: 199) hat auf die Bedeutung des Habitus für die Stabilisierung des
journalistischen Feldes hingewiesen.
Weil die Akteure jedoch in diese feldspezifischen Praktiken eingelebt sind und
sie ihnen selbstverständlich erscheinen, verkennen sie die Ergebnisse ihres Han-
delns als individuelle Hervorbringungen, die sie sich persönlich zurechnen, wäh-
rend sie doch zugleich Produkte der Prinzipien und Hervorbringungsweisen ei-
nes feldspezifischen Habitus sind.
Andererseits ist der Habitus der Akteure nicht allein durch berufliche Sozialisa-
tion geprägt. In Luhmanns (1987: 430) Verständnis signalisieren Rollen abs-
trakte Handlungserwartungen, die nur einen Ausschnitt aus dem Verhalten eines
Menschen bilden. Journalisten können also demnach beim Verlassen des Sys-
tems Journalismus – z.B. nach einem langen Bürotag – ihre jeweilige system-
spezifische Rolle buchstäblich beim Pförtner abgeben, um dann in eine andere
Rolle zu schlüpfen (z.B. als Familienvater). Im personengebundenen Habitus jedoch
fließen Erfahrungen zusammen, die Akteure in verschiedenen Feldern gesam-
melt haben. Nicht zuletzt deshalb bildet der Habitus ein Einfallstor für hetero-
nome Kräfte. Es ist genau diese Schnittstelle von journalistischer Berufswelt
und Lebenswelt, die dafür sorgt, dass sich z.B. die politischen Präferenzen von
Journalisten und Medienbetrieben in der Berichterstattung niederschlagen
können.
Da Akteure permanent in verschiedenen Feldern agieren, entwickeln sie
zwar einen praktischen Sinn für erfolgreiches Handeln in bestimmten Feldzu-
sammenhängen. Aber Journalisten können schlecht vermeiden, dass außerbe-
ruflich erworbene Habitusprägungen in Form von journalismusfremden Wahr-
nehmungs-, Denk- und Handlungsweisen ihr berufliches Agieren mitgestalten.
Insbesondere kulturelle Einflüsse spielen hierbei eine bedeutsame Rolle, wie
zahlreiche internationale Studien (vgl. u.a. Weaver 1998) oder die Diskussion
um „asiatische Werte“ im Journalismus zeigen (vgl. Xiaoge 2005). Auch die
Befunde aus zwei repräsentativen Journalistenbefragungen konnten zu Beginn
der 1990er Jahre ein unterschiedliches Rollenselbstverständnis von west- und
ostdeutschen Journalisten nachweisen (vgl. Scholl & Weischenberg 1998: 238f.;
Schönbach, Stürzebecher & Schneider 1994: 145ff.). Außerdem hat eine Jour-
nalistenbefragung in Indonesien zahlreiche Indizien dafür geliefert, dass Fakto-
ren wie Bildungsgrad, ethnische Zugehörigkeit und Territorialität durchaus
einen, wenn auch nur geringen Einfluss auf das Rollenverständnis haben kön-
nen (vgl. Hanitzsch 2004: 205ff., 2006).
Die Kräfte einer lebenslangen Habitusprägung können auch ein wichtiger
Motor für Dynamik im journalistischen Feld sein. Bourdieu (1999: 357) selbst
256 Thomas Hanitzsch
hat in seiner Analyse des Feldes der kulturellen Produktion darauf hingewiesen,
dass sich große Umwälzungen oft aus dem Eindringen von Neulingen in das
Feld ergeben. Diese könnten schon aufgrund ihrer Anzahl und sozialen Zu-
sammensetzung bestehende Feldstrukturen umgestalten und sogar ganze Fel-
der einer Neubewertung unterziehen. Gerade Journalismus wird als kommuni-
kationssensibles Feld die kulturellen Umwälzungen moderner Gesellschaften
auch in Zukunft zu spüren bekommen. Die heutige junge Konsumentengene-
ration stellt andere Ansprüche an Journalismus als dies noch vor 40 Jahren der
Fall war. Wenn diese Akteure das journalistische Feld betreten, werden sie
diese Erwartungen „mitnehmen“ und in die bestehenden Feldstrukturen ein-
bringen. Insofern sind Entertainisierungs-Tendenzen im Journalismus nicht
allein als ökonomisch induziert zu verstehen. Sie wurden vielmehr vom popu-
lärkulturell geprägten Habitus der nachwachsenden Journalistengeneration in
das Feld hineingetragen.
Andererseits ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass neue Journalistengenera-
tionen grundlegende Gesetze des Feldes – den nomos – antasten werden.
Denn immerhin stammen Journalisten, da sie wie viele Intellektuelle und Aka-
demiker etwa gleichstark mit ökonomischem und kulturellem Kapital ausges-
tattet sind, aus zentralen und privilegierten Positionen im Macht-Feld. Daher
sind sie dazu prädisponiert, in ihrem Feld eher eine homologe Position einzu-
nehmen (vgl. Bourdieu 1999: 141), von der aus sie kein großes Interesse an
einer prinzipiellen Änderung der „Spielregeln“ verspüren.
5 Schlussbetrachtung
Aus der vorangegangenen Darstellung ergeben sich zwei grundlegende Konse-
quenzen für die empirische Journalismusforschung: Erstens spielen sich die
beruflichen Handlungen von Journalisten im redaktionellen Alltag nicht nur
innerhalb professioneller Strukturen sondern auch innerhalb der individuell
spezifischen Lebenswelt ab. Es kann daher mit einiger Plausibilität davon aus-
gegangen werden, dass das professionelle Handeln und Erleben von Journalis-
ten auch durch Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Verhaltensdispositionen
mitgeprägt wird, die außerhalb der beruflichen Realität erworben werden.
Zweitens lassen sich Felder nicht unmittelbar beobachten. Daher kommt eine
Dekonstruktion des journalistischen Feldes an einer Analyse der objektiven
Feldpositionen sowie den zwischen ihnen herrschenden Relationen nicht vor-
bei. Die einzelnen Positionen, zwischen denen sich das journalistische Feld
aufspannt, werden durch Akteure – d.h. Journalisten – besetzt. Es ist deshalb
Die Struktur des journalistischen Felds 257
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ORGANISATION
Das Organisationsdispositiv
moderner Gesellschaft
1 Problemstellung
Den unterschiedlichen Thematisierungen von Organisation innerhalb der Sozi-
alwissenschaften ist gemeinsam, dass sie weder die Voraussetzungen der Gene-
se, der Existenz und der Reproduktion von Organisation selbst untersuchen,
noch sich um eine inhaltliche Bestimmung des allgemeinen Konzepts „Organi-
sation“ etwa im Unterschied zu anderen Formen der Regulation menschlicher
Kooperation bemühen. Organisation wird durchweg (mit gewissen Ausnahmen
etwa in der Systemtheorie) als gesellschaftliche Selbstverständlichkeit in diesen
wissenschaftlichen Disziplinen ebenso schlicht vorausgesetzt wie in der gesell-
schaftlichen Alltagspraxis.
Im Vergleich dazu nähern wir uns dem Organisationsphänomen aus einer
Perspektive, die auf die Frage nach den für die modernen Gesellschaften zent-
ralen Formen und Prinzipien der Regulation der gesellschaftlichen Kooperati-
onsverhältnisse gerichtet ist (Bruch 1999; Türk 1999, 1995). Um die Eigenart
der organisationalen Regulation begrifflich zu erfassen, greifen wir auf Überle-
gungen Michel Foucaults zum Verhältnis von Wissen und Macht zurück, die er
auf den Begriff der Gouvernementalität bringt, in dem Regieren und Denkwei-
se systematisch miteinander verbunden werden (Foucault 2000; Lemke 1997).
Dieser Zugang basiert auf der These, dass Organisation ein historisch spezifi-
sches Machtverhältnis konstituiert, das sich durch eine Machtausübung aus-
zeichnet, die quer zur staatlich-juridischen und ökonomischen Machtausübung
liegt. Auf der Basis dieser Überlegungen rekonstruieren wir Organisation als
ein historisches Regierungsdispositiv. Der Begriff des Regierungsdispositivs
bezeichnet eine Konfiguration von Wissens- und Handlungspraxen, die sich
historisch zu einer Einheit der Regulation gesellschaftlicher Kooperations- und
Selbstverhältnisse verbinden. Die Bezeichnung dieser Einheit als Dispositiv soll
264 Michael Bruch & Klaus Türk
1 Wir verwenden den Wissensbegriff im Sinne Foucaults in Abgrenzung zum Begriff der
Erkenntnis als „einen Prozeß, der das Subjekt einer Veränderung unterwirft, gerade indem
es erkennt [...]. Es ist dieser Prozeß, der gestattet, das Subjekt zu verändern und gleichzeitig
das Objekt zu konstruieren“ (Foucault 1997: 52).
266 Michael Bruch & Klaus Türk
Machtverhältnisse kommen letztlich zwar nicht ohne Gewalt und auch nicht
ohne Konsens aus, diese bilden aber nicht die Grundlage von Machtverhältnis-
sen, sondern sind Teil ihres Instrumentariums. Das Charakteristische eines
Machtverhältnisses besteht in der Formierung eines Raums von Möglichkeiten,
den Möglichkeitsraum („Spielraum“) anderer zu formieren. So ist Organisation
der legalistisch legitimierte Raum von Möglichkeiten par excellence, die Hand-
lungsräume der ihr Subsumierten zu definieren. Dabei werden die Subjekte, auf
die Macht ausgeübt wird, durchaus als Subjekte des Handelns anerkannt –
heute sogar vehement als „Subjekte“ gefordert –, sodass sich „vor dem Macht-
verhältnis ein ganzes Feld von möglichen Antworten, Reaktionen, Wirkungen,
Erfindungen eröffnet“ (Foucault 1987: 254). Machtausübung operiert auf dem
„Möglichkeitsfeld, in das sich das Verhalten der Subjekte eingeschrieben hat
[...]“ (ebd.: 255). Es geht um die Strukturierung und damit um die Reduktion
von Kontingenz. Diese Strukturierung des Feldes möglicher Handlungen durch
Handlungen versucht Foucault mittels des Begriffs der „Führung“ zu erfassen.
Führung ist zugleich die Tätigkeit des „Anführens“ anderer und die Weise der
Selbstorientierung des Verhaltens in einem Feld von Möglichkeiten. Machtver-
hältnisse sind Verhältnisse der „Meta-Führung“, des „Führens der Führungen“.
Dafür setzt Foucault den Begriff „Gouvernement“ bzw. Regierung ein als
jeweils historisch spezifisches Set („Dispositiv“) von Wissen und Praktiken der
Selbst- und Fremdorientierung.
Die der Macht eigene Verhältnisweise wäre somit weder auf Seiten der Gewalt
und des Kampfes noch auf Seiten des Vertrages und der Willensbande (die allen-
falls ihre Instrumente sein können) zu suchen, vielmehr auf Seiten dieser einzig-
artigen, weder kriegerischen noch juridischen Weise des Handelns: des Gouver-
nement (Foucault 1987: 255).
3 Wir gehen in diesem Abschnitt sehr selektiv nur auf einige wenige Aspekte ein. Für die
inhaltliche Beschreibung von Organisation als Dispositiv verweisen wir auf die Darstellun-
gen in Türk, Lemke und Bruch (2002), insbesondere auf die dortigen Ausführungen zu den
drei Organisationsdimensionen der Ordnung, des Gebildes und der Vergemeinschaftung.
4 Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Prozesse der Ausdehnung des Feldes von Regie-
rung sowie der Redefinition von Objekten und Auftrennung von Zusammenhängen, sodass
sie organisierbar werden. Dies geht notwendigerweise einher mit neuen Formen von ar-
beitsteiliger und funktionaler Differenzierung der Gesellschaft.
Das Organisationsdispositiv moderner Gesellschaft 271
5 Dabei ist sowohl an soziale Orte wie etwa die „Firma“ zu denken, als auch an geografisch
definierte Räume, die durch Gebäude und Mauern abgegrenzt werden wie Gefängnisse oder
Manufakturen.
272 Michael Bruch & Klaus Türk
3.2 Agentschaft
Überdies ermöglicht das Organisationsdispositiv eine Regierungs- bzw. Macht-
ausübung, die weder auf ökonomischem Eigentum noch auf dem Prinzip for-
maldemokratischer Repräsentation beruht. Zentral dafür ist das Konzept der
Agentschaft. Hierbei handelt es sich um eine Akteurskonstruktion, die sich
deutlich von den Vorstellungen des Liberalismus unterscheidet, aber auch in
Differenz steht zu Vorstellungen, wie wir sie in weiten Teilen der Sozialwissen-
schaften finden (vgl. Meyer & Jepperson 2000). Diese Konstruktion ist insbe-
sondere für das Organisationsphänomen von herausragender Relevanz, dem ja
über die Bedeutungskonstellation des Gebildes ein Subjekt- bzw. Akteursstatus
zugeschrieben wird. Nun ist es aber klar und auch juristisch durchaus komplex
geregelt, dass jede Organisation eines sie vertretenen Organs bedarf, wenn etwa
Verträge abgeschlossen oder Rechenschaftsberichte abgefasst werden sollen.
Die natürliche Person des Vertreters handelt dann „im Auftrage“, an Stelle der
Organisation selbst, sie ist „Agent“ für den „Prinzipal“ Organisation. Aber
auch die Organisation selbst tritt durchweg – besonders deutlich bei Verbän-
den – wiederum nur als „Agentin“ ihrer Mitglieder bzw. eines als allgemein
definierten Interesses auf. Ebenso lässt sich individuelles Handeln in organisa-
tionalen Arbeitsrollen als ein Handeln für ein anderes – die Unternehmung, die
Partei, den Staat, die Wissenschaft, die Universität, den Fachbereich, die Bil-
dung, die Nation, die Familie, die Freiheit, die Religion und so fort – begrün-
den, legitimieren und motivieren. In scharfem Kontrast zur sonst üblichen
Bestimmung des Akteurs als gleichsam naturgegebenes Letztelement jeglicher
Gesellschaft, das seine Spezifizität in der rationalen Verfolgung eigener Nut-
zenmaximierung findet, zeichnet sich diese Konstruktion im Wesentlichen
durch ihre Agentschaftsqualität aus.
Gemäß dem üblichen Konzept des Akteurs würde es kaum Schwierigkeiten
bereiten, auch Tieren Akteursqualität im Sinne von Intentionalität und Nut-
zenmaximierung zuzuschreiben; die Exploration des Akteursbegriffs in der
274 Michael Bruch & Klaus Türk
ten Positionen, Wissen ist keinesfalls an sich Macht, sondern nur, wenn man
um mehr bzw. spezielleres, knapperes Wissen als andere verfügt und wissen-
schaftliche Reputation entsteht ebenfalls nur in einer skalaren Dimension.
Damit erzeugen alle diese Medien automatisch Hierarchien und Knappheiten
bezüglich ihrer Verfügbarkeit. Sie können deshalb auch im Sinne von Hirsch
(1980) als „Positionsgüter“ bezeichnet werden, also als Güter, deren Wert sich
nicht in einem absoluten materiellen Gebrauchsnutzen niederschlägt, sondern
aus ihrer quantitativen bzw. qualitativen Differenz zur Verfügung anderer über
dieselbe Güterart resultiert. Für Positionsgüter ist es typisch, dass die individu-
ellen Anstrengungen um ihre Vermehrung oder Verbesserung nicht zu einer
Egalisierung führen, sondern zu einer Verschiebung der stratifikatorischen
Leiter nach oben oder zu einer Neudefinition der Wertkriterien.
Es fällt nun auf, dass in der Gegenwartsgesellschaft genau diejenigen Me-
dien, entlang derer sich die Funktionssysteme gebildet haben, nicht nur Medien
der systemischen Zirkulation und Allokation sind, sondern auch Medien der
Definition sozialer Ungleichheit, sozialer Schichtung. Die gesamte sozialstruk-
turell arbeitende Ungleichheitsforschung bis hin zum „Armuts- und Reich-
tumsbericht“ der gegenwärtigen Bundesregierung verwendet wie die Alltags-
menschen genau diese teilsystemischen Erfolgsmedien als Kriterien sozialer
Stratifizierung bzw. ihrer Abbildung in Tabellen und Theorien. Und wieder
stoßen wir auf die Organisationsform, die in diesem Zusammenhang dazu
eingesetzt wird, durch interne Hierarchisierungen, durch Stellen- und Positi-
onsstrukturen Zugänge zu und Zuteilungen von Medien zu institutionalisieren,
also die Positionierungshierarchien für die Positionsgüter zu definieren.
Beginnend schon im 19. Jahrhundert haben sich diese Strukturkonfigurati-
onen der einzelnen Organisationen und Organisationsarten durch Imitation
und Evolution soweit aneinander angeglichen, dass auf gesamtgesellschaftlicher
Ebene soziale Schichten (oder auch Klassen) beobachtbar werden. Damit wer-
den diese Medien nicht nur zu einem Mittel statistischer disparitärer Differen-
zierung, sondern ihre ungleiche, organisational determinierte Distribution be-
stimmt Partizipationsmöglichkeiten am institutionellen Apparat. Nicht nur
aufgrund des ideologischen Postulats der Chancengleichheit aller zur Partizipa-
tion an den institutionellen Teilsystemen, sondern auch auf Grund des fakti-
schen Zwanges zu Partizipation (zur „Inklusion“), sind diese Medien für Moti-
vierungs- und Disziplinierungszwecke einsetzbar. Kein Mensch benötigt für ein
„gutes Leben“ Geld, politischen Einfluss, Bildung (nicht einmal Lese- und
Schreibfähigkeit) oder wissenschaftliche Forschung. Hunderttausende von
Jahren sind Menschen ohne dies ausgekommen. In der modernen Gesellschaft
278 Michael Bruch & Klaus Türk
ist aber trotz der Existenz zweier Welten eine Partizipation am institutionellen
System über Teilnahmerollen für eine „bürgerliche“ Existenz unabdingbar. Die
Verteilung von Naturalien anstelle von Geld, die Verwehrung von Wahl- und
politischen Organisationsrechten, Beschneidung von „Bildungschancen“ und
Behinderung der Teilhabe am „wissenschaftlich-technischen Fortschritt“ gelten
deshalb nicht nur als die typischen Merkmale marginaler Existenzen in der
Moderne, sondern zum Teil auch als Strategien des Ausschlusses (z.B. von
ethnischen Minderheiten, lange Zeit hindurch von Frauen). Inklusion heißt
dann Unterwerfung unter die Logiken des institutionellen Systems als unab-
dingbare Voraussetzung für die Anerkennung als vollgültiges Mitglied der Ge-
sellschaft; Inklusion heißt aber noch lange nicht relevante Teilhabe, da die syste-
mischen Medien nicht etwa marktförmig allen prinzipiell mit gleichen Chancen
zur Verfügung stehen, sondern an organisationale Hierarchien gebunden sind.
Wenn nur noch eine lose Kopplung zwischen dem „öffentlich-organisatio-
nalen“ und dem privaten Bereich existiert, müsste dies auch Konsequenzen für
die disparitäre Differenzierung haben. Ungleichheiten im institutionellen Sys-
tem spiegeln sich möglicherweise dann nicht eins zu eins im Bereich des priva-
ten Lebens wider. Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen, um zu
behaupten, dass die Gouvernementalität der modernen Gesellschaft auf der
Trennung von privat-individuellem Ressourcenbesitz und institutionell-
organisationalen Verfügungsrechten über Ressourcen beruht. Mit der Auftren-
nung in die zwei Welten vollzieht sich auch eine Entkopplung zweier Struktur-
komplexe disparitärer Differenzierung. Dies ist für die ideologische Stabilität
der modernen Gesellschaft von außerordentlich großer Bedeutung, weil auf
diese Weise dem für sie fundamentalen Gleichheitspostulat Rechnung getragen
werden kann bei zugleich teils gewaltiger Disparität von faktischer Verfü-
gungsmacht im institutionellen System (vgl. Meyer 1994: 735ff.). Staatsbeamte,
Angestellte in Aktiengesellschaften, ehrenamtliche Vereinsvorstände (herausra-
gend Sport- und Kunstvereine), um nur einige Beispiele zu nennen, verfügen
im Rahmen ihrer Organisationsrollen über Milliardenbeträge, die politischen
Akteure der großen Interessenverbände, Parteisekretäre und Gewerkschafts-
funktionäre verfügen über großen politischen Einfluss, wissenschaftliche
Großtheoretiker bestimmen die jeweils herrschenden Paradigmen, ohne dass
sich solche Positionen in der herkömmlichen soziologischen Ungleichheitsfor-
schung überhaupt niederschlügen, weil sie nur gering mit Merkmalen individu-
ell-persönlicher Ungleichheit im Hinblick auf übliche Disparitätskriterien kor-
relieren. Die Differenzierung in die zwei Welten erlaubt also, die private soziale
Ungleichheit auf einem Niveau unterhalb der Skandalisierbarkeit zu halten
Das Organisationsdispositiv moderner Gesellschaft 279
(wenn auch hier immer wieder einmal Entrüstungen vorkommen), indem die
wesentlichen Disparitäten gleichsam durch einen Buchhaltungstrick auf den
organisationalen Bereich zugerechnet werden. Damit kann der Gleichheitsmy-
thos aufrecht erhalten werden, vor allem dann, wenn es gelingt, die trotzdem
noch auftretenden sozialen Disparitäten mit dem Leistungsprinzip im Hinblick
auf das institutionelle System zu rechtfertigen (vgl. auch Meyer 1994).
In besonders extremer Weise wurde diese Abkopplungsstrategie von real-
sozialistischen Gesellschaftssystemen in Kraft gesetzt, in denen die Differen-
zen im privaten Bereich noch sehr viel geringer waren als in den kapitalisti-
schen Demokratien, die organisationale Machtverteilung sich aber durch krasse
Machtdifferentiale auszeichnete. Dort hatte das Gleichheitsprinzip einen ideo-
logisch besonders zentralen Stellenwert, sodass die massiven Disparitäten na-
hezu vollständig auf das institutionelle System umgebucht werden mussten.
Die besondere bürokratische Rigidität dieses Systems wurde dann mit rein
sachlich-objektiven, funktionalen Erfordernissen zu legitimieren versucht.
Organisationen generieren und reproduzieren aber nicht nur soziale Dispa-
ritäten in Verbindung mit der Differenzierung in zwei Welten und dem Operie-
ren der institutionellen Teilsysteme, sondern sie sind auch soziale Orte der
Nutzung, Reproduktion, Verstärkung und Verbreitung von Mustern sozialer
Ungleichheit, die aus anderen Bereichen der Gesellschaft stammen. Sie vertei-
len in diesem Falle soziale Güter gemäß Unterscheidungskriterien, die nicht
von ihnen selbst stammen. Zu denken ist dabei vornehmlich an soziale Dis-
kriminationen entlang askriptiver Merkmale wie Herkunft, Ethnie, Rasse, Ge-
schlecht und Alter. Wir können hier nur auf das Buch „Durable Inequality“
von Charles Tilly (1998) verweisen. Organisation erweist sich somit zusam-
mengefasst als das Dispositiv, welches das moderne Regime sozialer Ungleich-
heit regiert.
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Das Organisationsdispositiv des
Journalismus
Klaus-Dieter Altmeppen
Dispositiv aber nicht beherrscht wird, sondern durch eigene Zielsetzungen und
Modifizierungen eine angepasste Organisation annehmen kann. Im Folgenden
sollen diese Aspekte ausführlicher diskutiert werden.
nen und Stellen beschäftigen, ist er bislang nicht verbunden worden (vgl.
Schreyögg 1999).
Deutlich sichtbar werden diese weißen Flecken der organisatorischen Jour-
nalismusforschung schon dann, wenn man einen Blick in ein Standardwerk der
Organisationsforschung (Kieser 2001) wirft. Dort werden die grundlegenden
Richtungen der Organisationsforschung vorgestellt, von der Entscheidungs-
theorie über die Kontingenztheorie, die Human-Resource-Theorie bis zur
Strukturationstheorie. Nur wenige dieser Ansätze sind – in Reinform oder als
Anleihen – bislang von der Journalismusforschung aufgegriffen und angewen-
det worden. Hinzu kommt als weiteres Desiderat, dass journalistische Organi-
sationsforschung allenfalls punktuell erfolgt, sowohl hinsichtlich des Gegen-
stands als auch in der zeitlichen Kontinuität. Gegenstand der journalistischen
Organisationsforschung sind in der Mehrzahl Zeitungsredaktionen, Fernsehen,
Hörfunk und Online schon weit weniger, Zeitschriften nahezu gar nicht. Zu-
dem fehlt eine zeitliche Kontinuität der Erforschung von Journalismusorgani-
sationen, was vor allem bedauerlich ist, da damit keine Aussagen über struktu-
rellen Wandel und seine Folgen möglich sind.
Sicherlich sind vereinzelt Rückgriffe und Bezüge zu diesen Theorien er-
kennbar, bei Rühl (1979) beispielsweise die Entscheidungstheorie, und auch
mit dem Begriff der Programme, denen ja vor allem koordinierende Funktion
zukommt. Gerade Koordination ist in der Journalismusforschung eine unter-
geordnete Kategorie, in der Organisationsforschung dagegen der zentrale
Grund für Organisation, die entsteht, wenn die Aktivitäten mehrerer Akteure
auf ein gemeinsames Ziel hin zusammengebunden werden sollen (vgl. Schrey-
ögg 1999).
zugleich als ein gesellschaftlicher Akteur agieren soll, dessen Leistung in der
Selbstbeobachtung der Gesellschaft besteht, steckt er in einem Dilemma. Mit
den Augen des Organisationsdispositives gesehen reproduziert Journalismus –
über seine organisational strukturierenden Machtpraktiken – genau die Welt,
die er beobachten und der er die Ergebnisse der Beobachtung mitteilen soll.
Damit stellt sich die Frage nach den Leistungen des Journalismus vehement
auch als ein Problem der Ermöglichung oder Beschränkung journalistischer
Leistungen durch Organisation, was allein dadurch offensichtlich wird, dass die
organisationalen Führungsebenen und die Eigentümer und Aufsichtsgremien
die mit Abstand einflussreichsten Referenzgruppen des Journalismus sind (vgl.
Weischenberg, Malik & Scholl 2006: 358). Organisation und Management des
Fernsehens ermöglichen und beschränken Journalismus offensichtlich auf
andere Weise als die gleichen Institutionen der Zeitung.
Derartige organisationale Struktureinflüsse schlagen nolens volens bis auf
das journalistische Selbstverständnis durch, denn in den journalistischen Orga-
nisationen werden das Selbstverständnis und das Rollenbild von Journalisten
entscheidend geprägt. Als hierarchisch organisierte Sozialisationsinstanz fun-
giert die journalistische Organisation als zentrales Vehikel, das darüber ent-
scheidet, ob einzelne journalistische Organisationen als vierte Gewalt, als kriti-
scher Kontrolleur oder als seichter Unterhalter agieren.
4 Journalistische Organisationen:
Interaktion und Strukturation
Eine Analyse der Leistungen des Journalismus ist somit, ebenso wie die Frage
nach journalistischem Wandel, eine Frage nach den Strukturen einzelner jour-
nalistischer Organisationen. Struktureller journalistischer Wandel beispielsweise
geschieht ja nicht einfach, sondern folgt spezifischen Zielen, die in der Regel,
wie etwa bei der Umformung von ressortgebundenen Redaktionen in eine
Teamorganisation, durch das Management festgelegt werden. Derartige Re-
Strukturierungsprozesse sind komplexe Angelegenheiten, die nicht durch eine
Redaktionsbetriebslehre erfasst werden können. Diese steht in der Tradition
eines Organisationsbegriffs, der von steuerbaren, durchgeplanten Aktionen
ausgeht. Organisationaler Wandel ist aber immer ein rekursiver Prozess, bei
dem Struktur erst durch das Handeln der Organisationsmitglieder geschaffen
wird, denn Struktur ist nicht per se vorhanden. Die Ziele organisationalen
Wandels müssen sich handelnd bewähren, werden dabei reproduziert, ebenso
aber auch angepasst und modifiziert.
Das Organisationsdispositiv des Journalismus 291
nalisten kommuniziert werden, die die neuen Regeln verstehen sollten und
handelnd umsetzen müssen.
In ihren Interaktionen richten sich die Journalistinnen und Journalisten auf
die organisationsspezifischen Regeln und Ressourcen als strukturelle Merkmale
ein. Sie akzeptieren die Ziele der Organisation, sofern sie einen sinnvollen
Handlungszusammenhang ergeben; oder sie opponieren gegen Veränderungen
in den Organisationszielen und versuchen, ihre eigenen Vorstellungen durch-
zusetzen. Gerade in Krisenzeiten, wenn journalistisches Handeln bewusster
ausgeübt wird, werden die Journalisten, ebenso wie das Management, ihr Han-
deln verstärkt reflexiv steuern, während beider Handeln im Alltag routinisiert
abläuft. Diese Routinen gewinnt das Handeln aus den strukturellen Rahmun-
gen, wie sie im Journalismus durch die Organisations- und Arbeitsprogramme
geschaffen werden.
Strukturation
(Regeln und Ressourcen)
Mesoebene journalistische Organisation als
Ergebnis von Strukturation
Signifikation Domination Legitimation
Prozess der
Vermittlungsmodalitäten Strukturierung
(soziale Praktiken)
(Rekursivität)
Interaktion
Mikroebene (journalistische Akteure + reflexiv
gesteuerte Handlungen)
1 Wenn hier plötzlich von journalistischen Institutionen gesprochen wird, so aus zwei Grün-
den: (1) Organisationen können als eine besonders ausgeprägte Form von Institutionen, al-
so sozialen Regelwerken, angesehen werden (vgl. Esser 2000: 238 ff.). (2) Damit kann der
irreführende semantische Zusammenhang von „Organisation und ihrer Struktur“ vermie-
den werden, denn Organisation ist Struktur (was bedeutet, dass eine Organisationstheorie
des Journalismus vor allem eine Strukturtheorie ist, vgl. Blöbaum 2000).
294 Klaus-Dieter Altmeppen
(in diesem Band: 267) in Anlehnung an Foucault als die „Strukturierung des
Feldes möglicher Handlungen durch Handlungen“ und beziehen sich damit auf
den „Set an Regierungspraxen“, den die Führung applizieren kann, um die
Handlungen der Organisationsmitglieder anzuleiten. Es geht damit darum, wie
Management in das Organisationsdispositiv einzuordnen ist. Dass Management
und Organisation sehr eng zusammenspielen, wird deutlich bei einem Blick in
die Grundlagenliteratur der Organisations- und Managementforschung, in der
der jeweils andere Faktor immer mitdiskutiert wird (vgl. Steinmann & Schrey-
ögg 2000). Bruch und Türk gehen davon aus, dass Führung (hier verstanden als
das Redaktionsmanagement) eine bewusste Strukturierung des organisationalen
Handelns vornehmen, indem die Ziele der Organisation durch das Manage-
ment formuliert sowie Wege zur Zielerreichung definiert werden. Diese Füh-
rung geschieht aber nun selbst wiederum nur durch Handeln, das rekursiv mit
Strukturen verbunden ist, sich also auf diese Strukturen bezieht, um im Weite-
ren dann die jeweiligen Strukturvorstellungen zu kommunizieren.
Der Prozess der Strukturation greift somit auf doppelte Weise: Das Redak-
tionsmanagement, ausgestattet mit unterschiedlichen Machtmitteln (Anwei-
sung, Anordnung, Überzeugung, Überredung), entwirft seine Zielvorstellungen
selbst in einem rekursiven Prozess der Strukturierung, also gemäß spezieller
Regeln und der Verfügung über Ressourcen. Dies ist der Punkt, an dem empi-
rische Forschung ansetzen kann, indem sie nach den Zielvorstellungen des
Redaktionsmanagements und nach den dahinterliegenden Motiven fragt. In
Motiven wie Kostenreduzierung, Qualität der Berichterstattung, (publizisti-
schem) Konkurrenzdenken und Quotenerfolg manifestieren sich spezifische
Vorstellungen des Redaktionsmanagements über Regeln sowie Ressourcenver-
teilungen in journalistischen Organisationen. Deren Herkunft resultiert aus den
Umweltbeobachtungen des Redaktionsmanagements (Welche Strukturen
scheinen erfolgversprechend, sprich effizient und effektiv, für die eigenen Zie-
le?) sowie darauf aufbauenden Entscheidungen zur Veränderungen der Regeln
und Ressourcen der Aussagenproduktion in der eigenen Organisation.
Der Erfolg oder Misserfolg neuer Strukturen konkretisiert sich aber erst,
wenn die Zielvorstellungen Teil des Handelns der Journalisten werden, die auf
diesem Wege – wie das Redaktionsmanagement selbst – die Regeln und Res-
sourcen produzieren und reproduzieren. Über das Handeln werden die Struk-
turen auf Dauer gestellt, sie werden „rekursiv in Institutionen eingelagert“
(Giddens 1997: 76).
Das Organisationsdispositiv des Journalismus 297
deln. Die journalistischen Programme sind somit eine der wesentlichsten Ver-
mittlungsmodalitäten zwischen der Interaktion und der Struktur. Vermitt-
lungsmodalitäten sind verfestigte soziale Praktiken, auf Dauer gestellte Interak-
tionsmuster, die aber durchaus durchbrochen werden können, etwa wenn Stö-
rungen mit den gewohnten Interaktionsmustern nicht bewältigt werden kön-
nen. Dann begeben sich die Journalisten auf die Suche nach alternativen Lö-
sungsmustern, was wiederum häufig in Form von Interaktion geschieht. Hier
liegt eines der wesentlichen Erklärungsmuster für strukturellen Wandel im
Journalismus, der an der Veränderung von Regeln und Ressourcen gemessen
werden kann, und zwar auf den Ebenen von Redaktionsmanagement und jour-
nalististischem Handeln in organisationalen Bezügen.
5 Resümée
Das Regierungsdispositiv Organisation, wie es Bruch und Türk in die Diskus-
sion einbringen, ist ein auf den ersten Blick sperriges Konstrukt, da es sich
nicht ohne weiteres an die bisherige Forschung zum organisationalen Journa-
lismus anschließen lässt. Sein unbestreitbarer Vorteil liegt, so kurios das klingen
mag, darin, eine (organisationale) Gewöhnlichkeit des Journalismus zu konsta-
tieren, denn dem Dispositiv der Organisation kann sich (auch) der Journalis-
mus nicht entziehen. Er interagiert zunächst einmal nicht anders als andere
Organisationen (aus der Wirtschaft, der Bürokratie), er wird in einem rekursi-
ven Sinn gemanagt und damit von mikropolitischen Machtkonstellationen
durchdrungen. Dies bedeutet jedoch eben nicht, dass der Journalismus einer
organisationalen Determination unterliegt. Vielmehr wird erkennbar, dass die
Strukturen des Journalismus nicht per se gegeben sind oder angeordnet wer-
den, sondern in rekursiver Weise durch die Dualität von Handeln und Struktur
hergestellt werden. Die Dualität von Handeln und Struktur gilt gleichermaßen
für die Führung (das Redaktionsmanagement) wie für die Organisation selbst.
Der Aspekt der Führung verweist – der Rekursivität von Handeln und
Struktur folgend, der auch das Redaktionsmanagement unterliegt – darauf, dass
die derzeit konstatierbaren Zerfallserscheinungen des Journalismus (Kommer-
zialisierung, Formatierung, Boulevardisierung, Entgrenzung) nicht allein außer-
halb des Journalismus an gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen festgemacht
werden können. Das Redaktionsmanagement bezieht die Informationen für
seine Entscheidung aus den Beobachtungen der ökonomischen, sozialen und
kulturellen Rahmenbedingungen. Es verdichtet diese Beobachtungen zu ein-
zelorganisatorischen Entscheidungen, deren Umsetzung strukturprägend für
300 Klaus-Dieter Altmeppen
die jeweilige Organisation ist und die in ihrer Gesamtheit das Phänomen Jour-
nalismus ausmachen.
Vereinfacht wird ein Anschluss an das Konstrukt des Regierungsdispositivs
der Organisation dadurch, dass Bruch und Türk selbst in ihrer Konzeption auf
das Gedankengut der Strukturationstheorie zurückgreifen. Damit kann der
Blick von Organisation (als gesellschaftlichem Ordnungsmuster) auf die einzel-
nen Organisationen gelenkt werden. Dies schafft die Voraussetzung dafür,
nach den speziellen organisationalen Ordnungsmustern des Journalismus zu
fragen. In den Vordergrund rücken dabei die rekursiven Strukturierungen zwi-
schen und innerhalb von Führung und Organisation. Strukturierung ist ein
aktiver Prozess, der erst durch (journalistisches) Handeln in Gang gesetzt wird
und bei dem die Struktur das Handeln eben nicht nur beschränkt, sondern es
überhaupt erst ermöglicht.
Ein solches Konstrukt, das den (organisationalen) Prozess der Strukturie-
rung ebenso definiert wie das journalistische Handeln als Interaktion, eröffnet
Horizonte zur Erkundung des jederzeit dynamischen Organisationsgeschehens,
das über eine Redaktionsbetriebslehre hinausgeht und nicht nach dem Zustand
der Organisation fragt, sondern nach den Motiven, Gründen und Ursachen
von Veränderung. Der Hebel dafür ist die – auch empirisch – adaptierbare
Verwendung der Definition von Strukturen als Regeln und Ressourcen sowie
von journalistischem Handeln als Medium und Ergebnis von Struktur. Auf
dieser Grundlage ist es dann auch möglich, die Folgen des (häufig) strukturel-
len Wandels des Journalismus zu eruieren, denn das Regierungsdispositiv der
Organisation besteht im interessengeleiteten, von Machtansprüchen durchsetz-
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INTERAKTION
Alle Rahmen krachen in den Fugen:
Erkenntnistheoretische und soziologische
Perspektiven bei Erving Goffman
Robert Hettlage
Die offenkundige Kontradiktion, dass die Welt auf dem Zeitpfeil dahinschießt,
das Erkennen aber ein Anhalten dieser Turbulenzen sein muss, hat die
Menschheit immer schon fasziniert. Dass Menschen einen möglichst großen
Spielraum für sich gewinnen wollen, aus eben diesem Grund widerwillig Rück-
sicht auf die anderen nehmen müssen, ist ein anderes unauflösbares Daseins-
rätsel. Mit jeweils unterschiedlicher Denkrichtung wurde dafür auf die Gegen-
satzpaare von Werden und Sein, Leben und Begriff, Wandel und Ordnung,
Individuum und Gesellschaft zurückgegriffen. Die Welt- und Geistesgeschichte
oszilliert zwischen beiden Polen. Während manche historische Epochen eher
für die Seite der Stabilität optierten, ist das vergangene 20. Jahrhundert weitge-
hend über die Termini „Wandel“, „Leben“ und „Individuum“ zu erschließen.
Erkenntnistheoretische und soziologische Betrachtungsweisen sind dabei gar
nicht voneinander zu trennen. Das „Leben“ durchpulst die Welt, lässt sich aber
„intellektualistisch“ über Definitionen, Konzepte und feste Gestalten kaum
unmittelbar erfassen. Denn:
Der Begriff des Lebens, als die Summe aller nacheinander auftretenden Augen-
blicke ist [...] an dem kontinuierlichen Fluss des realen Lebens gar nicht zu voll-
ziehen, setzt vielmehr an dessen Stelle die Addition jener, nach Sachbegriffen
bezeichenbaren Inhalte [...] insofern sie gerade nicht als Leben, sondern als ir-
gendwie fest gewordene ideelle oder dingliche Gebilde gelten (Simmel 1985: 1).
Individualität und Gesellschaft, Person und Institution aus. Je höher die Ar-
beitsteilung und soziale Differenzierung, desto mehr kommen sich die Gel-
tungsansprüche der Interaktionspartner ins Gehege. Je dringlicher die gegensei-
tige Ergänzung der unterschiedlichen Lebensentwürfe, desto stärker geraten
der Individualismus des „Andersseins“ und der Ordnungsanspruch gegenseiti-
ger Verregelmäßigung in Konflikt. Mit anderen Worten: Das Drama des Le-
bens besteht in einer konstanten Doppelbewegung: Nämlich einmal darin, den
Anderen ständig suchen zu müssen, um sich sogleich von ihm wieder abzuhe-
ben. Will aber das Individuum autonom sein, dann wird es darin aber im
nächsten Handlungszug schon wieder überwunden, weil es nur durch den
Anderen zum Selbst gelangen kann. Im Strom des eigenen Handelns kann man
dem Anderen nicht entfliehen. Man ist in eine dauerhafte Spannung aus Nähe
und Distanz eingespannt.
Goffman theoretisch zu verorten ist nicht leicht, da er sich aller Verein-
nahmung durch Schulen und Denktraditionen immer wieder entzieht. Der
Grund liegt wohl darin, dass er Theoriekämpfe für unfruchtbar und Lehrer-
Schüler-Verhältnisse dem Abenteuer des Selber-Denkens für abträglich hielt.
Auch wollte er es den Exegeten nicht so einfach machen. Stattdessen gab er
sich mit einem Augenzwinkern und wohlwissend um die Unmöglichkeit „rei-
ner“, naturalistischer Beobachtung als Empiriker des Alltäglichen aus. Viele
haben das ernst genommen. Daher auch die häufigen Missverständnisse, die
dazu geführt hatten, dass Goffman lange als Geschichtenerzähler von Episo-
den und Kuriositäten im Mikrokosmos der kleinen Interaktionen verstanden
wurde. Das hatte ihm zwar eine hohe Popularität auch in den Nachbardiszipli-
nen eingetragen, doch andererseits dazu geführt, den hohen theoretischen
Anspruch dieses Soziologen zu verkennen.
und allmählich ein Gesamtbild des Handelns (und der Kultur) rekonstruieren.
Alltagserkenntnis und wissenschaftliche Beobachtung unterscheiden sich hierin
vorerst kaum.
Am ehesten kann man zu den Sinnkonstrukten der einzelnen Handelnden
vordringen, wenn man nach Weber (1968: 237ff.) einen rationalen Hand-
lungstypus zugrunde legt. Denn dann setzt der Handelnde die für seine
Ziele gebotenen Mittel so transparent ein, dass der Beobachtende im All-
tag und der Beobachter auf der zweiten Ebene (d.h. der Wissenschaftler)
den Zusammenhang unschwer herausfinden können. Dass wir dabei mit
einer Reihe von Unterstellungen („immer weiter so“, Relevanz-
Überschneidungen, Motivationsstrukturen) und mit jeweils in der Biogra-
phie verankerten Wissensvorräten operieren, hat Alfred Schütz (1970:
53ff.) ergänzend herausgearbeitet. „Verstehen“ heißt in diesem Fall, eine
Hypothese aufzustellen, die auf die Ziele verweist, welche der Handelnde
mit rationalen (oder anderen) Mitteln verfolgt (Rex 1970: 197). Jeder Han-
delnde wird solche Hypothesen aufstellen, wenn er mit seinem Gegenüber
zu tun hat. Er wird ihn zunächst mit rationalen Unterstellungen zu verste-
hen versuchen, um dann für Abweichungen zusätzliche Erklärungen zu
finden. Schwieriger wird es dann, wenn nicht-rationales Handeln zu erwar-
ten ist. Hier sind wir in unserem Verstehen und in unseren „Wir-
Beziehungen“ unsicherer. Nicht dass wir keine Hypothesen bilden könn-
ten. Nur tappen wir dabei stärker im Dunkeln. Die Erfahrungswerte, die
wir zum Auffinden von Hypothesen einsetzen, sind nicht stark erhärtet,
sondern können schnell enttäuscht werden. Denn die Gefühlsäußerungen
anderer Menschen sind in ihrer affektiven Dichte, in ihren psycho-sozialen
Verschlingungen, in ihrer Geschichte und ihrer interaktiven Reichweite
von außen schwer zu durchdringen. Die psychoanalytische Praxis kennt
dieses Problem und weiß um die Widerstände und den Aufwand an Zeit
und Empathie, der nötig ist, um solche Verstehensschichten freilegen zu
können. Die eine Unsicherheit ist also eine hermeneutische. Die Ziele so-
zialen Handelns sind variabel und weisen eine höchst mannigfaltige Viel-
zahl von Varianten auf. Jeder muss zunächst Modelle und Muster entwi-
ckeln, mit denen er typisch menschliches Handeln rekonstruiert, um damit
die weniger luziden Zonen des Handelns einzugrenzen.
Die andere Schwierigkeit, warum uns – im Sinne der Weber’schen Hand-
lungstypologie – affektives und traditionales Verhalten weniger transparent
erscheinen, ist diejenige, dass Rituale und Symbole mit den symbolisierten
Realitäten nur auf recht lose und willkürliche Weise verbunden sind. Was
Alle Rahmen krachen in den Fugen 309
keiten aufrechtzuerhalten und zu einem guten Ende zu steuern, d.h. zur Akzep-
tanz zu führen. „Unterwegs“ kann aber viel passieren, so dass es auch zu Um-
orientierungen, Abbrüchen, Neuansätzen und damit Neudefinitionen kommt.
Diese sind der Ausgangspunkt für die nächste Deutungs- und Handlungsrunde.
Dabei geht es Goffman weniger um die subjektiven Deutungsperspektiven
der Handelnden als solche. In Anlehnung an Simmels „Formalismus“ und an
den Strukturalismus (Collins 1986) möchte er vielmehr formale Interaktions-
strukturen im Alltag beschreiben, wie sie sich, trotz aller schwankenden Ver-
stehens- oder Akzeptanzerfolge, trotz aller Zwischenfälle auf dem Weg zur
„richtigen“ Interpretation, herauskristallisieren. Dahinter möchte Goffman
(1999: 8) die Beziehungssystematik zwischen den Handlungen gleichzeitig
(„face to face“) Anwesender studieren. Dafür experimentiert er mit einer Viel-
zahl von Konzepten, mit denen er dieses pulsierende „Leben“ einzufangen
gedenkt. Seine Vorgehensweise der suggestiven Analogisierung, aber auch der
Dekonstruktion, wurde als „konzeptueller Konstruktivismus“ bezeichnet (Wil-
liams 1983). Für Lofland (2000) war Goffman sogar der „master coiner“ des
jeweils treffenden Begriffs.
Die dramaturgische Perspektive wird in den frühen Arbeiten zugrunde
gelegt. In „Wir alle spielen Theater“ (Goffman 2000) weist er auf die be-
sonderen Handlungen der Individuen unter den Bedingungen physischer
Kopräsenz hin. Denn die Welt ist – so gesehen – eine Bühne, auf der sich
die Einzelnen in ihrem Alltag präsentieren und bestimmte Rollen auffüh-
ren. Dabei lassen sich die Interaktionen in zentrierte und nicht-zentrierte
(fokussierte) unterscheiden (so in seinem Buch „Interaktion: Spaß am
Spiel, Rollendistanz“). Dabei zeigt sich schon, dass die Begegnungen ei-
nem unsichtbaren, normativen Regelwerk unterliegen, „unabhängig davon,
ob es sich um öffentliche, halböffentliche oder private Orte“ (Goffman
1971: 8), ob es sich um lockere Routinen oder ob es sich um Verhalten bei
„sozialen Gelegenheiten“ handelt. „Das Individuum im öffentlichen Aus-
tausch“ (Goffman 1982) bedarf sogar dieser strukturierten Anpassung an
die normative Ordnung, damit die Interaktion in geordneten Bahnen ver-
läuft und die Menschen – gerade wegen der Einschränkung ihrer Darstel-
lungsspielräume – Verhaltenssicherheit erlangen. Andernfalls wäre die De-
finition der Situation zu vorläufig. Das gilt auch noch im Fall eines sozial
anstößigen „Stigmas“ (Goffman 1998). Denn sogar das „Abnormale“
muss durch „Stigma-Management“ im alltäglichen Verkehr zwischen den
abweichenden und den normalen Gesellschaftsmitgliedern verhandelt und
jeweils neu geeicht werden (Kusow 2004: 180f.).
Alle Rahmen krachen in den Fugen 311
anderen Worten: Situationen werden mit Normen und Ritualen belegt, deren
Befolgung man in diesem speziellen Raum erwarten darf. Außerhalb dieser
raum-zeitlichen Grenzen sind die Verpflichtungen anderer Art oder erlöschen
gänzlich. Deshalb verwendet Goffman für die Präzisierung der Situationserfor-
dernisse auch das Konzept der Territorialität. Denn face-to-face-Interaktionen
sind an Räume gebunden, innerhalb derer der direkte Informationsaustausch
stattfinden kann. Hier liegt ein erster Hinweis auf die Rahmungsnotwendigkeit
vor.
tenz seiner Spielzüge achten. Werden ein Ereignisverlauf oder eine Mitteilung
den Regeln entsprechend stimmig dargestellt, so kann der Handelnde die ge-
wünschte Bestätigung durch sein Gegenüber erhoffen. Praktiken und Konven-
tionen schützen beide Seiten. Sie legen das Maß der „richtigen“ Aufmerksam-
keit fest, grenzen störende Unterbrechungen und Beleidigungsrisiken ein und
führen Gespräche an den Klippen des möglicherweise irritierenden Abbruchs
vorbei. Insofern ist die Wahrung des jeweiligen Images die Bedingung für eine
gelungene Interaktion.
Werden Brüche im Eindrucksmanagement festgestellt, dann lässt das Publi-
kum die „Aufführung“ unter Umständen platzen. Als Sanktion wird es nicht
nur die Darstellung als eine solche entlarven, sondern auch den Darsteller
bloßstellen. Er verliert seinen guten Ruf, sein Ansehen, also seine soziale Iden-
tität (Goffman 2000: 55). Das ist das alltäglich inszenierte Drama jeder sozialen
Begegnung und ihrer Deutung. Die Distanz zwischen den Interaktionspartnern
bleibt unaufhebbar. Jede Selbstdarstellung kann scheitern und damit für den
Urheber gefährlich werden. Er gerät in eine peinliche Situation („Scham“), wird
Opfer von Spott, Verachtung, Lächerlichkeit und hat alle Mühe, sein Gesicht
zu wahren („face work“). Sind die Bemühungen – wozu oft auch die Mithilfe
anderer Teilnehmer erforderlich ist („Takt“) – nicht erfolgreich, so kommt das
einem sozialen Absturz gleich. Häufig kann man sich nur retten, wenn man die
peinliche Interaktion gänzlich abbricht. Im Grundsatz ist keine sozial herge-
stellte Wirklichkeit solchen Zweifeln und der Gefahr des Scheiterns gänzlich
enthoben. Deswegen ist das Bedürfnis nach festen Interpretations- und Verhal-
tensleitlinien groß. Das versucht Goffman an der Rahmenanalyse zu verdeutli-
chen.
Routinen und Regeln. Das ist aber nicht genug, da sie – wie gesagt – von der
situativen Bastelarbeit der lokalen Handelnden abhängen. Definitives Vertrau-
en in die einmal festgestellte Wirklichkeit können wir also nicht gewinnen.
Deswegen oszillieren wir zwischen Notfall, Alarm und Beruhigung. Das sehen
wir schon daran, dass wir dann, wenn unsere Ordnungserwartungen enttäuscht
wurden und zusammenbrechen, schnell zu einer neuen, „modernen“ Lesart
von Wirklichkeit gelangen, die wir am besten gleich wieder für „normal“ erklä-
ren. Denn solcher Konsens ist das Werkzeug des sozialen Überlebens. Seine
Normalisierung ist die Leistung der Rahmung. Sie zieht die Grenze zwischen
„erstaunlich“ und „gewöhnlich“, „alarmierend“ und „beruhigend“, „normal“
und „nicht normal“. Rahmen sind wie Bilderrahmen. Sie binden unser Auge
und wirken als Klammern über das, was unseren Ereignissen ihre Bestimmtheit
verleiht.
Trotz der Fluidität der sozialen Wirklichkeit gelingt es den Menschen näm-
lich doch, ein gemeinsames Deutungsschema über die Irregularitäten alltägli-
cher Welterfahrung zu werfen und eine Art gruppenspezifisches Hintergrund-
verständnis für Ereignisse zu erreichen. Goffman spricht von „Gruppenkos-
mologie“. Er meint damit eine Art gesellschaftliche Sehhilfe, ein „sozialer
Wahrnehmungsfilter“, der uns glauben macht, dass das, was real erscheint,
auch real ist. Ein solcher „primärer Rahmen“ ist z.B. der Erkenntnisrealismus,
wonach es „fraglos“ eine originäre Außenwelt („den echten Schuss aus echten
Kanonen“) und die anderen gibt bzw. die Gesellschaft einfach „da“ ist („taken
for granted“) und für uns die Leitlinien der Interpretationen bereithält. Ein
solcher lebensweltlicher Realismus stellt sich auf ganz natürliche Weise ein, da
der vorgängige Herstellungsprozess solcher Vereinbarungen im alltäglichen
Vollzug unsichtbar gemacht wird. Das ist der Fall, weil die Ereignisse – in sich
selbst erfüllender Weise – unsere Projektionen zu bestätigen scheinen. Das
gewöhnliche Verhalten (ordinary conduct) ruht häufig schon auf einer Typisie-
rung des Schicklichen; es ist eine „Geste“ gegenüber dem Verbindlichen. Mit
anderen Worten: Ereignisse und Rahmen passen gewöhnlich so gut aufeinan-
der, weil das, was Menschen als „normal“ erwarten, immer schon als „real“
gerahmt wird.
„Normalität“ ist folglich die Unfraglichkeit der gruppenspezifischen Inter-
pretationshorizonte, also der Rahmen selbst. Die Alltagspragmatik zwingt of-
fensichtlich dazu, den Herstellungscharakter des sozialen Konsensus nicht
selbst wieder fraglich werden zu lassen, sondern dem Bewusstsein zu entzie-
hen. Rahmungen sind „implizites Wissen“ (Polanyi 1966) von der „gegebenen“
Normierung unseres Lebens. „So erscheint das Alltagsleben, so wirklich es an
320 Robert Hettlage
sich ist, oft als ein geschichteter Abglanz eines Urbilds, das selbst einen völlig
ungewissen Wirklichkeitsstatus hat“ (Goffman 1996: 604). „Normal“ zu han-
deln oder „natürlich“ zu sein, heißt in der interpretativen Soziologie und bei
Goffman im Besonderen nichts anderes, als dass man die anderen davon über-
zeugen kann, dass Rahmung und Wirklichkeit gleichzusetzen sind. Dann sind
kritische Distanz, Verdacht und Alarm überflüssig. Erscheinungen werden als
üblich und erwartbar gewertet, so dass man sie nicht mehr besonders beachten
muss. Diese Übereinstimmung ist zwar nur ein Arbeitskonsens, macht jedoch
die gemeinsame Lesbarkeit und die „Basiskontinuität“ der Welt aus (Goffman
1996: 317). Wenn den Beteiligten nämlich der Handlungsrahmen klar ist, dann
bleibt die inhärente Mannigfaltigkeit der Wirklichkeiten und subjektiven Deu-
tungen vorläufig still gestellt. Normal ist das durch Erfahrung Erhärtete und
Eingeübte, das gerade deswegen keine weiteren Fragen aufwirft. Es ist der
selbstverständlich gewordene Wissensvorrat im Alltag, der uns den Boden für
die Frage entzieht, „worin solche normalen Erscheinungen bestehen“ (Goff-
man 1971: 342). Normalität des Handelns, der Wahrnehmung und der Deu-
tung besteht folglich darin, dass vorläufig kein Anlass besteht, Ereignisse, ja die
ganze Rahmung der Sinnbereiche in Frage zu stellen (Goffman 1996: 523).
Normal ist eben normal.
So werden die Wirklichkeit und die Sozialstruktur etabliert. Die soziale
Ordnung kann „mechanisch“ weiterlaufen, weil sie das Verständnis ihres Ord-
nungscharakters schon als von den Interaktionspartnern geteilte Erkenntnis-
voraussetzung in sich integriert hat (ebd.: 563). Erst die Tatsache, dass Regel-
mäßigkeit des Verhaltens als normal und natürlich erscheint, erlaubt uns den
anderen in unserem Umfeld zu trauen (Goffman 1971: 317). So gesehen ist
soziale Realität eine „kognitive Organisation“ (Cicourel 1973: 27), deren Kon-
struktcharakter durch tagtägliche Einübung in eine bestehende Gruppenkultur,
ihre Klassifikationsschemata und Deutungsmuster verwischt worden ist. Erst
diese vorkonstruierten Bezugsschemata meiner Welt machen das Verstehen des
Ablaufs dieser Welt möglich (vgl. Schütz & Luckmann 1973: 11). Denn sie
operieren in jeder Begegnung als schon zugrunde gelegte, gemeinsam gewor-
dene Annahmen über die Art und Weise, wie man in einer Situation natürli-
cherweise vorzugehen hat. Insofern ist Normalität ein „überdeterminiertes“
Ereignis. Die Gewöhnung daran erzeugt Beschwichtigung und somit plausible
Erklärungsmöglichkeiten. (Das heißt aber auch: Wer etwas verbergen möchte,
muss sich am besten daran orientieren, was in den Augen anderer als normal
erscheint.) Es ist das schon vorab geteilte, also sozialisierte Verständnis vom
Sinn der Welt, das uns eine Übereinstimmung über die ordentliche Produktion
Alle Rahmen krachen in den Fugen 321
von Selbstdarstellungen und Rollen erlaubt und die Kontinuität unserer Begeg-
nungen absichert. Die Rahmung verschafft uns einen Sinn für richtige Struktu-
rierung unserer Interaktionen, auch dann noch, wenn diese unvorhergesehen
sind und uns vielleicht etwas seltsam erscheinen. Sie werden, sofern es eben
geht, „ein-geordnet“ (normalisiert).
Goffman nennt als solche Alltagsstrukturierungen die raum-zeitlichen
Rahmen (z.B. wenn im Theater der Vorhang fällt oder das Pausenzeichen er-
tönt). Daneben erwähnt er zeremonielle Rahmen (Grußpraktiken), Gesichts-
rahmen (bei Trauerfeiern oder Ehrungen), Gesprächsrahmen (Sprachstil, Mi-
mik bei Vorträgen) und Geschlechtsrahmungen (z.B. durch unterschwelliges
Kontrollieren von Geschlechtsidentitäten). Andere Rahmen sind denkbar.
geht, während die Fälscher den wahren Hintergrund kennen. Die systematische
Produktion von Schein, also die Lüge, kann in guter oder in schädigender Ab-
sicht ausgeführt werden. Zudem gibt es selbst geschaffene Täuschungsmanö-
ver (z.B. Wahnvorstellungen, Tagträume). Auch die Täuschungen können
wieder transformiert werden, so dass sich komplizierte, mehrschichtige und
kaum noch durchschaubare Verwerfungen ergeben. Bekannt sind Fälle der
heimlichen Überwachung von Spionen oder jener Gauner, die selbst wieder
betrogen werden, oder schließlich des Fallenstellers, der selbst in seine Falle
tappt. Nie ist die Gefahr ganz auszuschließen, dass die Täuschung auffliegt und
die bisherige Sicherheit in der Deutung der Wirklichkeit gänzlich ins Wanken
bringt. Aber es ist auch dann schon der Fall, wenn der Zauberer seine Tricks
vorführt, wir ihm aber trotz aller Anstrengung unseres Spürsinns nicht auf die
Schliche kommen. Goffmans Schriften überborden mit Beispielen, die diese
konstruktive Kreativität belegen.
Werden Modulationen und Lügen erkannt, dann muss die bisherige Nor-
malitätsannahme grundsätzlich überdacht werden. Nur wenn man neue Infor-
mationen gewinnt, kann man sich daran machen herauszufinden, was „wirk-
lich“ gilt. Das weist uns auf das grundsätzliche Problem zurück, dass Realitäten
durch sozialen Abgleich hergestellt werden, gerade dadurch in ihrer Konstituti-
on aber auch veränderlich sind. Es muss die Mehrdeutigkeit primärer Rahmun-
gen prinzipiell einkalkuliert werden. Dadurch sind Fehlrahmungen, Rahmungs-
irrtümer und Rahmungsstreitigkeiten überhaupt möglich. Das macht die Sache
für den sicherheitsbedürftigen Alltagshandelnden nicht eben leichter. Denn er
muss sich bewusst bleiben, dass die in die Rahmen eingelagerten normativen
Erwartungen in ihrer tiefsten Konstitution auf schwankendem Boden stehen.
Denn sie sind nichts anderes als „enttäuschbare“, also veränderbare, soziale
Absicherungen darüber, welches Verhalten in welcher Situation als angemessen
gelten soll und welches Engagement dafür zu leisten ist. Rahmungen schaffen
zwar Sinn, Umrahmungen sind aber nicht ausgeschlossen. Sie schaffen dann
einen neuen Sinn. Die neu gewonnene Normalität muss wiederum durch Arti-
kulationszeichen (Mimik, Gestik) „bis auf weiteres“ zur gültigen Realität erklärt
werden.
Wir müssen mit der ceteris paribus-Klausel leben, wissen aber, dass sie nur
ein methodologischer Behelf ist, der jederzeit umgestoßen werden kann. Der
Gewinn an gemeinsamen Wirklichkeitsüberzeugungen ist niemals definitiv.
Vielmehr werden wir – bei näherem Hinsehen – auf beständig fortlaufende
Deutungskreisläufe verwiesen. Rahmen sind verletzlich. Normalverhalten ist
wahrscheinlich, aber nie wirklich gesichert. Jede Ordnung bleibt ein Entwurf
Alle Rahmen krachen in den Fugen 323
und ist immer eine „negotiated order“ (Strauss 1978). Im Grundsatz gilt das für
die kleinen und die großen Strukturierungen, für die Interaktionsordnung wie
für Makrogesellschaften.
6 Makrosoziologische Perspektiven
Goffmans Mikrosoziologie ist zwar ein in sich geschlossenes und stimmiges
Theoriegebäude, beinhaltet aber durchaus Erweiterungsmöglichkeiten, die auf
die Meso- und Makroebene zielen. Er war sich bewusst, dass soziale Mikro-
Ordnungen in den größeren Zusammenhang der „sozialen Tatsachen“ einer
Gesellschaftsstruktur eingebettet werden müssen.
Umgekehrt ließ er keinen Zweifel daran, dass auch Makrostrukturen ihre in-
terpretative Entstehungsgeschichte haben. Auch sie sind Herstellungsprozessen
unterworfen, denn sie werden durch die einzelnen Handelnden mit ihren jewei-
ligen Ressourcen jeden Tag von neuem implementiert, korrigiert und neu fest-
gestellt. Es gibt keine anderen als gedeutete Strukturen. Insofern sind die Mak-
rostrukturen vom dauernden „Strom des Lebens“ abhängig. Wenn ein Macht-
haber keine Zustimmung durch die Machtunterworfenen erfährt, kann er keine
andauernde Macht „haben“. Wenn Krieg ist und keiner hingeht, so sagte die
68er-Generation, dann ist eben kein Krieg. Wenn sich die Menschen massen-
haft auf von außen „gesetzte“ Deutungen nicht einlassen, dann haben diese
und die davon gestützten Sozialstrukturen auch keine soziale Geltungschance.
Mikro- und Makro-Ordnung stehen also in einer kontinuierlichen Verknüp-
fung. Den „Link“ zwischen beiden Ebenen hat Goffman nur angedeutet, aber
nicht selbst ausgearbeitet. Je nach Betrachtungsweise kann man die Analyse des
Zusammenhangs „von oben“ oder „von unten“ in Angriff nehmen. Ganz der
Simmel’schen Inspiration folgend, hat Goffman bei der „seelischen Wechsel-
wirkung zwischen Individuen“ angesetzt, die sich zu dauerhaften Beziehungs-
formen, also zur Vergesellschaftung, verdichten (Goffman 1953: IV). Er stützt
sich dabei auf die berühmte Passage aus Simmels „Grundfragen der Soziolo-
gie“ von 1917, in der es heißt:
Fortwährend verknüpft sich und löst sich und knüpft sich von neuem die Verge-
sellschaftung unter den Menschen, ein ewiges Fließen und Pulsieren, das die In-
dividuen verkettet, auch wo es nicht zu eigentlichen Organisationen aufsteigt.
Daß die Menschen sich gegenseitig anblicken und daß sie aufeinander eifersüch-
tig sind, daß sie sich Briefe schreiben oder miteinander zu Mittag essen, daß sie
sich ganz jenseits von greifbaren Interessen sympathisch oder antipathisch be-
rühren [...], daß einer den anderen nach dem Wege fragt und daß sie sich fürein-
ander anziehen und schmücken – all die tausend von Person zu Person spielen-
324 Robert Hettlage
den momentanen und dauernden, bewußten oder unbewußten, vorüberfliegen-
den oder folgenreichen Beziehungen, [...] knüpfen uns unaufhörlich zusammen
[...]. All jene großen Systeme und überindividuellen Organisationen, an die man
bei dem Begriff von Gesellschaften zu denken pflegt, sind nichts anderes als die
Verfestigungen – zu dauernden Rahmen und selbständigen Gebilden – von un-
mittelbaren, zwischen Individuum und Individuum stündlich und lebenslang hin
und hergehenden Wechselwirkungen.
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Rollen und Rahmen der
Interaktionsordnung: Journalismus
aus der Perspektive seiner Interaktionen
Carsten Schlüter
„Ich bin nicht jemand, der behaupten würde, daß sich unsere Aussagen auf großartige Leistungen
stützen könnten. Mir ist sogar zu Ohren gekommen, daß wir froh sein könnten, wenn wir unsere
bisherigen Ergebnisse gegen ein paar gute begriffliche Unterscheidungen und ein kühles Bier
eintauschen könnten. Doch es gibt nichts in der Welt, daß wir dafür eintauschen sollten, was wir
haben: die Begabung, alle Elemente des gesellschaftlichen Lebens mit einem unverstellten und
unbestechlichen Forschergeist anzugehen, und die Weisheit, dieses Mandat nirgendwo anders
einzulösen als bei uns und in unserer Disziplin.“ (Goffman 1994: 103)
1 Einleitung
1982, kurz vor seinem Tod, schrieb Goffman in der Funktion als Präsident der
American Sociological Association das Manuskript zu seiner Abschlussrede,
welche er nie halten konnte. Der Krebs hatte ihn bereits zu sehr geschwächt.
In diesem Manuskript fasste er noch einmal zusammen, was ihn Zeit seines
Lebens beschäftigt hat:
Es war in all den Jahren mein Anliegen, Anerkennung dafür zu finden, daß diese
Sphäre der unmittelbaren Interaktion der analytischen Untersuchung wert ist –
eine Sphäre, die man auf der Suche nach einem treffenden Namen, Interaktions-
ordnung nennen könnte (Goffman 1994: 55; Hervorhebung im Original)
Auch hier haben wir den Verweis auf die Mesoebene („institutional objecti-
ves”), nun jedoch vom Blickwinkel der Mikroebene („journalist´s self-
perception“). Bei beiden Ansätzen ist die Mesoebene der Strukturen sozusagen
Dreh- und Angelpunkt, Personen- und Systemforschung konstruieren sich
330 Carsten Schlüter
durch die Blickrichtung und treffen sich auf der Strukturebene der Organisati-
onen.
Individuumzentrierte Gesellschaftszentrierte
Forschung Forschung
z.B. z.B.
x „Handlungstheorien“ x „Systemtheorien“
Wenn wir nun fragen, was die Journalismusforschung unter Strukturen des
Journalismus versteht, so erhalten wir differenzierte und im Detail wider-
sprüchliche Antworten. Am Anfang der Journalistik standen vor allem Hand-
lungsrollen im Vordergrund der Strukturmerkmale, wobei das Handeln einzel-
ner Journalisten als ideale Rollendefinition galt (vgl. z.B. die Analyse bei Löf-
felholz 2000: 36ff.). Diese individualistisch-normative Sicht hat jedoch sowohl
das Zusammenwirken von Handlungen und die daraus entstehende Strukture-
mergenz – welche nicht alleine durch die Beobachtung einzelner, individueller
Journalisten gefasst werden kann, sondern sich durch soziales, also gegenseitig
bezügliches Handeln ergibt – vernachlässigt, als auch organisatorische Impera-
tive unbeachtet gelassen (vgl. Blöbaum 1994: 48). Spätestens mit dem Rele-
vanzgewinn von systemtheoretischen, an Luhmanns Werk angelehnten Arbei-
ten wurde dem begegnet. Zwar war die Rolle des Journalisten auch weiterhin
eine der Hauptkriterien von Strukturen, doch ist diese in ihrem sozialen Kon-
text zu verstehen und steht nun neben Organisations- und Programmstruktu-
ren (vgl. Blöbaum 1994). Es ist nicht länger vordergründlich, was der einzelne
Journalist tut, sondern welche Strukturen sich im Laufe der Evolution des
Journalismus herausgebildet haben.
Rollen und Rahmen der Interaktionsordnung 331
Eine solche Sicht auf Organisationsstrukturen hat sich bis heute – in ver-
schiedensten Variationen (vgl. die Ausführungen bei Quandt 2005: 131) –
gehalten und bewährt. Bewährt in dem Sinne, als dass der formelle Aspekt der
Strukturen des Journalismus erkenntnisgewinnend beschrieben und untersucht
wird. Eine systemtheoretische Herangehensweise ist jedoch nicht ohne Kritik
geblieben, und in den letzten Jahren finden sich viele Versuche, die strukturelle
Ebene integrativ unter Berücksichtigung des individuellen Handelns zu be-
schreiben. Sei es unter Zuhilfenahme von kybernetischen Ansätzen (vgl.
Hienzsch 1990), der Strukturationstheorie von Anthony Giddens (1997; zur
Umsetzung in der Journalismusforschung vgl. Altmeppen 1999; Wyss 2004),
der Akteurstheorie von Uwe Schimank (2002; zur Umsetzung vgl. Neuberger
2000; Meier 2002), Journalismus als kommunikatives Handeln (vgl. Bucher
2000; Baum 1994), Struktur-Handlungsvorstellungen wie sie Raabe (2005) in
Anlehnung an das Habitus-Konzept Bourdieus vorschlägt oder einer Netz-
werkanalyse (vgl. Quandt 2005).
Hier zeigt sich eine der Verbindungslinien zu Konzepten Goffmans, die ei-
ne Definition von Strukturen durch die Reflexivität von Einzelhandlungen und
normativen Vorgaben benennen, wobei bislang jedoch die Strukturen in der
Forschung weiterhin als formale Elemente der journalistischen Organisation
betrachtet und analysiert werden. Mit anderen Worten, unter gleich welcher
Perspektive wir den Journalismus betrachtet haben, immer haben wir auf eine
spezifische Gruppe rekurriert, die mit vorgegebenen Gruppenstrukturen aus-
gestattet ist. Strukturen sind so formale journalismusbezogene, organisatorische
Vorgaben, in denen soziales Handeln geschieht und die umgekehrt soziales
Handeln erst ermöglichen. Nun mögen wir uns mit dieser Sichtweise zufrieden
geben, wenn dabei nicht eine Vielzahl von Fragen blieben, die wir auf diesem
Wege nicht hinreichend beantworten können. Besonders betrifft dies Aspekte
informeller Einflüsse auf die Entscheidungen des Journalismus. Obwohl viel-
fach darauf hingewiesen wurde, dass informelle Strukturen einen gewichtigen
Einfluss auf journalistische Entscheidungen ausüben (vgl. Rühl 1979: 299),
ging die Forschung diesem Aspekt bislang nur ungenügend auf den Grund. Die
Ursache hierfür mag in der Schwierigkeit liegen, informelle Strukturen und
persönliche Einflüsse in bestehende Theoriekonzepte einzuordnen, denn man
kann sie weder alleine durch den Bezug auf das Individuum, noch als Teil der
Organisationsstrukturen erklären. Sie hängen zwar mit den formellen Rollen-
strukturen zusammen, doch eine differenzierte Betrachtung lässt Einflüsse
hervortreten, die nicht aus einem spezifischen Organisationssystem stammen.
In den informellen Strukturen finden wir sowohl persönliche Einflüsse einzel-
332 Carsten Schlüter
dungen führen) in der Interaktion auf der Basis von Attributen der persönli-
chen Identität zugewiesen wird, wie „der anerkannten Erfahrung, der Beherr-
schung der Sprache, der Priorität des Erscheinens am Versammlungsort oder
des Alters.“ Diese dann eingenommene Position ist in Differenz zur formalen
Position innerhalb der Organisation zu betrachten, kann sich aber wieder auf
die organisatorischen Strukturen auswirken – und hat insofern auch Beobach-
tungswert für die Journalismusforschung. Werden in einer Redaktion Ent-
scheidungen getroffen, ist daher nicht zwangsläufig auf die journalistische
Struktur zu rekurrieren, sondern es können diese auch in Abhängigkeit von
einer bestimmten eingenommenen Position innerhalb der Begegnung gesehen
werden, die wiederum aus einer Vielzahl von Komponenten besteht. Diesen
Zusammenhang von organisationsexternen Strukturen und organisationsinter-
nen Entscheidungen nennen wir persönlichen oder auch informellen Einfluss.
Mit Hilfe der Goffmanschen Interaktionsordnung lassen sich diese selekti-
ven Beziehungen theoretisch beschreiben und empirisch beobachten, da ein
Interaktionssystem nach Goffman – anders als im Verständnis der Systemtheo-
rie nach Luhmann – sämtliche Erfahrungen der beteiligten Individuen mit
einschließt. Während eine systemtheoretische Sicht in der Journalismusfor-
schung nur die Strukturen beachtet, die dem spezifischen Organisationssystem
formal zugehörig sind, fokussiert Goffman in seinen Interaktionssystemen auf
sämtliche sozial zu beobachtenden Einflüsse und die daraus resultierenden
Strukturen. Dazu hat Goffman in seinem Werk ein begriffliches Instrumentari-
um entwickelt, das sich um zwei Schwerpunkte gruppiert. Zum einen ist dies
Goffmans dramatologischer Ansatz, zum anderen die Rahmenanalyse.
Goffmans Rollenanalyse stellt einen Ansatz dar, der auf beobachtbare Reflexi-
vität zwischen Akteuren und Strukturen in der Interaktion beruht. Der Aus-
gangspunkt ist dabei weder auf das einzelne Individuum zentriert noch nimmt
er das gesellschaftliche System als Ausgangspunkt. Damit sind Rollen weder
alleine individuumsbezogen noch alleine normative Vorgaben eines Systems,
sondern immer auch abhängig von der spezifischen Situation und der Wech-
selbeziehung zwischen den Personen, die diese Rolle tragen:
Die Organisationsrolle als Resultat der genannten Rollendefinitionen kommt
empirisch fassbar zum Ausdruck im Rollenverhalten. Dies aber ist nicht nur be-
dingt durch relevante Normen der Organisationsrolle, sondern auch durch die
jeweilige konkrete Situation, in der eine Person handelt sowie deren Präferenzen.
(Abraham & Büschges 2004: 163, Hervorhebung im Original)
1 Sehr passend schreibt Altmeppen (1999: 160, Fußnote 28) an anderer Stelle: „Die Untersu-
chung von Machtspielen, Konkurrenzverhalten, Bündnissen und persönlichen wie struktu-
rellen Dominanzen, die in journalistischen Organisationen immer auch eine Rolle spielen,
Rollen und Rahmen der Interaktionsordnung 337
der Rollenübernahme zu den formalen Aspekten hinzu kommt, sind auf der
persönlichen – kognitiven – Seite die Aspekte der individuellen Gestaltung, wie
sie u.a. von Rühl genannt werden (vgl. Rühl 1980: 66): Gewandtheit, Höflich-
keit, Humor, Intelligenz usw., aber auch erlernte/sozialisierte Handlungsmus-
ter, welche aus anderen Interaktionsrahmen stammen. Dies sind Einflüsse
innerhalb des Handlungsspielraums, den die normativen, von der journalisti-
schen Organisation stammenden Strukturen eröffnen. Im Extremfall kann der
Handlungskorridor soweit ausgedehnt bzw. gänzlich verlassen werden, dass es
zur Rollendistanz kommt: die Möglichkeit eines Interagierenden, die Rolle be-
wusst abzulegen und entgegen den normativen Erwartungen zu handeln (vgl.
Goffman 1973: 118, vgl. auch Hettlage, in diesem Band)2. Damit werden die
organisatorischen Strukturen kontakarriert, verändert, einer situativen Interak-
tion angepasst.
Das tatsächliche Rollenverhalten ist immer abhängig von der sozialen Inter-
aktion. Der Rollenkern mag einen noch so großen Interpretationsspielraum
lassen, wenn die Interaktion dies nicht ermöglicht, bleibt jede Handlungsalter-
native irrelevant. Umgekehrt gilt ebenfalls: Der einzelne Journalist mag sich
zwar überlegen, wie er seine Rolle ausfüllt, wenn ihm die konkrete Interaktion
nicht die Möglichkeit dafür lässt, bleiben diese Überlegungen Wunschdenken.
Diese Feststellung ist zentral für Goffman und führt zurück auf die Problema-
tik zwischen individuenzentrierter und interaktionistischer Forschung. Einstel-
lungen einzelner Journalisten wären für Goffman irrelevant. Ein Journalist
kann von sich behaupten, er sei politisch einer bestimmten Richtung zugehörig
oder würde sich dem investigativen Journalismus zuordnen. Erst in der Inter-
aktion zeigt sich, ob diese virtuelle Selbstbeschreibung tatsächlich auch zutrifft,
die Interaktion also reelle Möglichkeiten zulässt, eine Selbstbeschreibung aktu-
ell zu konstruieren. Die Handlungsrelevanz, wie sie Scholl und Weischenberg
(1998: 157ff.) untersucht haben, hängt danach nicht nur von dem Wollen der
Journalisten und den Strukturen ab, sondern auch von den Möglichkeiten in
der Interaktionssituation. Goffman (1973: 108f.) spricht daher von situiertem
Rollenverhalten, dem Rollenverhalten in einer spezifischen Interaktion:
Eine situierte Rolle umfaßt also ein Bündel von Aktivitäten, die deutlich vor an-
deren Teilnehmern ausgeübt werden, gleichzeitig aber mit den Aktivitäten der
ist eine eigene Arbeit wert, gerade unter Bedingungen, in denen häufig Themen noch ge-
funden werden müssen.“
2 Gänzlich verlassen wird hier dann natürlich „nur“ die journalistische Rolle. Stattdessen
nimmt das Individuum eine andere Rolle an, z.B. die des Außenseiters oder Spaßvogels. Er
begibt sich dann ebenfalls in eine informelle Rolle und füllt diese für einen Augenblick voll-
kommen aus.
338 Carsten Schlüter
anderen in deutlichem Zusammenhang stehen. Diese Rollen unterscheiden sich
so von Rollen im allgemeinen, nicht nur, weil sie in einer bestimmten sozialen Si-
tuation realisiert werden, sondern auch, weil das System, dessen Teil sie sind, als
konkretes selbstkompensierendes System identifiziert werden kann.
Der Begriff situierte Rolle beinhaltet also sowohl den Rollenkern wie auch das
variierende Rollenverhalten und ist auf einen beobachtbaren Ausschnitt der
sozialen Realität, dem situierten Aktivitätssystem, bezogen.
Eng mit dem Goffmanschen Begriff der situierten Rolle verbunden sind
weitere analytische Komponenten, die in der Interaktion zum Tragen kommen
und die bereits von Hettlage angerissen wurden. Eines davon ist das Image.
Hettlage hat es Selbstbild genannt und auf die Techniken zur Imagepflege
hingewiesen, die Goffman ausgearbeitet hat. Als Image bezeichnet Goffman
ein Bündel positiver Werturteile, welche einem Interagierenden in und durch
die Interaktion zugesprochen werden. Es ist zwar ein Selbstbild, doch eines,
was durch die Interaktion gegeben wird. Wichtig ist an dieser Stelle nicht, wie
das Image zustande kommt oder welche Möglichkeiten Goffman erörtert hat,
um das Image zu wahren (vgl. hier die Ausführungen Hettlages). Wichtig ist
vielmehr, dass das Image die Interaktionen strukturiert und dann wiederum auf
Entscheidungen der organisatorischen Ebene strukturellen Einfluss haben
kann. Es wirkt sich auf die Position aus, die dem Interaktionsteilnehmer zuge-
sprochen wird, auch entgegen den formalen Strukturen. So ist nicht zwangsläu-
fig derjenige tatsächlich der Entscheider, der die adäquate formale Rolle be-
setzt. Möglich ist auch eine informelle Hierarchie, die sich durch Imagezu-
schreibungen ergibt und an deren Spitze derjenige Entscheidungen kommuni-
ziert, der das bessere Image besitzt. Image, Rolle und soziodemographische
Merkmale wie Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit ergeben zusammen
die soziale Identität, also das, was in der punktuellen (sachlichen und zeitlichen)
Interaktion von Alter und Ego dargestellt bzw. zugestanden wird. Diese soziale
Identität, so Hettlage (in diesem Band), „umhüllt eine einzigartige Biographie
und situative Vorerfahrungen, die als persönliche Identität in die soziale Interakti-
on hineingetragen und dort identifiziert werden“ (Hervorhebung im Original).
Die persönliche Identität macht einen Interagierenden unverwechselbar, sie ist
ein Zusammenschluss der verschiedenen sozialen Identitäten, die die Interagie-
renden voneinander kennen und die in der Interaktion aufgegriffen werden
bzw. wirken können.
Dazu zählen auch Rollen, die von den Interagierenden in anderen Interak-
tionssituationen ausgefüllt werden. So kann ein gemeinsames Badmintonspie-
len Erwartungen auf zukünftige Interaktionen – oder auch vergangene Erfah-
rungen neu (vgl. Goffman 1996: 139) – strukturieren und insofern auch außer-
Rollen und Rahmen der Interaktionsordnung 339
halb des Courts, nämlich in der Redaktion, Auswirkungen auf die informelle
Rolle haben. Ist einer der Spieler beispielsweise herausragend gut, kann diese
Imagezuschreibung zu einem Autoritätsgewinn in der Redaktion führen und
damit zu beobachtbaren Einflüssen in der journalismusbezogenen Interaktion,
obwohl der Ausgangspunkt der Erwartungsstrukturierung zeitlich, sozial und
sachlich außerhalb der Mitglieds- bzw. Arbeitsrolle der Redaktion liegt. Umge-
kehrt sind natürlich auch Erwartungen aus dem journalistischen System denk-
bar, die auf ein Verhalten außerhalb der journalistischen Rolle bzw. des journa-
listischen Systems wirken. Am Beispiel eines Arztes verdeutlicht Goffman
(1973: 107), dass der Einfluss einer spezifischen Rolle auch dann die Interakti-
on irritieren kann, wenn die entsprechende Person nicht in ihrer Arbeitsrolle
interagiert.
Eine vollständige Untersuchung der Rolle muß seine Krankenbesuche in der
Gemeinde einschließen, und was noch wichtiger ist, die ganz bestimmte Behand-
lung, die ihm widerfährt, wenn er offensichtlich überhaupt nicht in ärztlicher Sa-
che beschäftigt ist – eine Behandlung, die er dadurch erleichtert, daß er ein Arzt-
schild am Auto, ein besonderes Türschild, eine besondere Anrede und einen
speziellen Titel auf seinen amtlichen Dokumenten hat.
5 Rahmen
Den Ausgangspunkt der Analyse interaktionistischer Rahmen bei Goffman
beschreibt Hettlage (in diesem Band: 318) sehr plastisch:
Angesichts des schwankenden Bodens unter unseren Verstehens- und Hand-
lungsweisen sah sich Goffman gezwungen, die Frage der Stabilität, des gegensei-
tigen Vertrauens, der Normalität der Erscheinungen (normal appearances) und
des Engagements für eine gemeinsame Wirklichkeit neu zu durchdenken. Dazu
dient ihm das Konzept der Rahmung.
Mit der „Frame-Analysis“ (vgl. Goffman 1996) hat Goffman einen Vorschlag
zur Beschreibung von sozialisierten Kognitionsstrukturen entwickelt, die einem
Individuum in einer bestimmten Situation zugänglich sind. Rahmen sind struk-
340 Carsten Schlüter
Dieser Definition der Rahmenanalyse entspricht die Annahme über die Refle-
xivität der Rahmung. Rahmen kommen durch den gemeinsamen Prozess der
Rahmung zur Anwendung, die Wahl des „richtigen“ Rahmens – also die Rah-
mung – geschieht durch die Reflexivität von Ego und Alter. Dabei kommen
Fehlrahmungen vor, der Rahmungsprozess muss beständig erneuert werden
(vgl. Hettlage in diesem Band, der ein Repertoire von möglichen Missverständ-
lichkeiten aufzählt). Uns interessiert aber vor allem, dass die Rahmen eine Re-
gelmäßigkeit des gegenseitigen Verhaltens (und Vertrauens) auslösen, eine
Grundstruktur innerhalb (und aufgrund) derer bestimmte Interaktionen ge-
schehen und die für alle Individuen in einer bestimmten Situation ähnlich sind.
Rahmen hängen eng mit den Rollen zusammen, welche die Interaktionsteil-
nehmer ausfüllen. Auch hier herrscht Reflexivität, denn die Rolle bestimmt den
Rahmen und umgekehrt. Der Rahmen gibt bestimmte Verhaltensmuster vor,
wird aber erst durch die Interaktion ausgewählt. So existiert eine Vielzahl von
Rollen und Rahmen der Interaktionsordnung 341
Interaktionen innerhalb von Redaktionen, die sich nicht dem formalen Organi-
sationsdispositiv zuordnen lassen, sondern anders gerahmt werden: private
Gespräche innerhalb der Redaktion, Scherze, Kommunikation über das Kanti-
nenessen oder die Fußballweltmeisterschaft usw.
Anders als die Organisation wechselt die Interaktion beständig ihre Rah-
mung. Jeder Themenwechsel bringt eine neue Rahmung und damit auch eine
neue Struktur und neue Rollen hervor, da der Rahmen reflexiv mit den darge-
stellten Identitäten gekoppelt ist. Ist der gewählte Rahmen z.B. das persönliche
Gespräch über die Familien der Beteiligten, wirken familiäre Rollen als Rah-
mung. So kann aus persönlichen Gesprächen und den sich daraus ergebenen
Schlussfolgerungen ein Anlass entstehen, einen Artikel über Familienpolitik zu
verfassen. Aus der privaten Interaktion zwischen zwei Redakteuren wechselt
der Rahmen innerhalb der Interaktion vom persönlichen Gespräch zur forma-
lisierteren Journalismusinteraktion und umgekehrt.
Mit einer Rahmenanalyse kann also bestimmt werden, ob, wie und in wel-
chem Maße Rahmen Einfluss auf Entscheidungsstrukturen der organisatori-
schen Ebene haben. Der Vorteil des Rahmenkonzepts liegt in der Offenheit
der Beobachtungsanalyse, die dementsprechende methodische Vorgehenswei-
sen erfordert, da es um ein „dekonstruktivistisches Konzept“ geht:
Den systematischen Höhepunkt des Goffman´schen „Dekonstruktivismus“ bil-
det zweifellos die „Rahmenanalyse“, die „lebendige“ Alltagserfahrungen in Sinn-
strukturen auflöst. Goffmans rahmenanalytischer Strategie, „unbewußte“ Sinn-
komplexität zu enthüllen, entspricht ein komplexes System von Konzepten, das
die Differenzierung von Rahmenklassen und die Beschreibung von transforma-
tionslogischen Zusammenhängen zwischen verschiedenen Rahmen erlaubt. Die
Interaktionsebenen (und damit die Grenzen der Mikrosoziologie) überschrei-
tend, analysiert und dekonstruiert Goffman die Reflexivität und Schichtung sozi-
alen Sinns verschiedenster Art. (Willems 2000: 46f.)
Der Sinn des Handelns von Journalisten entsteht nicht allein aus dem funktio-
nalistischen Orientierungshorizont, sondern wird zudem konstituiert aus der
situativen Interaktionsrahmung und vielfältigen Sozialisationseinflüssen. In
Goffmans Perspektive ist die Grenzziehung zwischen journalistischem und
außerjournalistischem Handeln, wie Rühl (1980: 51) sie fordert, nicht möglich:
Sicherlich wird niemand ernsthaft unterstellen wollen, daß ein einzelner als Ge-
samtperson Journalist ist. Journalistisches Handeln stellt einen bestimmten Le-
bensvollzug dar, der sich rational nicht mit den vielen anderen Handlungsmus-
tern identifizieren läßt, zu denen eine Person fähig ist und die sie auch faktisch
vollzieht, wenn sie als Vater, Parteimitglied, Bausparer, Umweltschützer, Tourist,
Musikliebhaber u.ä. handelt. Daher ist eine Grenzziehung – aber keine hermeti-
342 Carsten Schlüter
sche Trennung! – zwischen journalistischem und außerjournalistischem Handeln
unerläßlich.
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NETZWERKE
Interorganisationale Netzwerke:
Soziologische Perspektiven und
Theorieansätze
Arnold Windeler
1 Einführung
Netzwerke erfreuen sich heute in der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Politik
und nicht zuletzt in den Medien nicht nur großer Aufmerksamkeit, sondern
gelten zuweilen als eines der definierenden Topoi moderner Vergesellschaftung
(vgl. etwa Mayntz 1992).1 Die Allgegenwart von Netzwerken zwischen Perso-
nen und vor allem zwischen Organisationen verweist auf deren Bedeutung:
Angesprochen sind Netzwerke zwischen Endherstellern und ihren System- und
Komponentenzulieferern in der Automobilindustrie, Franchisenetzwerke, wie
die von McDonalds oder OBI, oder Netzwerke in der Content-Produktion für
das Fernsehen, das Internet bis hin zu Peer-to-Peer-Systemen in der Musik-
produktion und -distribution sowie der verteilten Entwicklung von Portalen
(vgl. Sydow & Windeler 2004). Nicht selten geht Vernetzung mit radikalen
Umbrüchen von Industrien einher: So wurden Fernsehinhalte vor der Einfüh-
rung des Privatfernsehens Mitte der achtziger Jahre in Deutschland senderintern
produziert, heute jedoch werden sie vor allem senderextern von Fernsehprodu-
zenten zusammen mit Autoren, Regisseuren, Kameraleuten sowie weiteren
künstlerischen und technischen Mediendienstleistern, wie etwa Studiodienst-
1 Die Rede von Vernetzung und von Netzwerken ist nicht auf die Sozialwissenschaften
begrenzt. Netzwerkideen finden sich in verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen: Das gilt
für die Physik und Biologie genauso wie für die Linguistik und Anthropologie. Die Sozial-
anthropologie untersucht etwa Personennetzwerke als Entwicklung von Formen modernen
Zusammenlebens von Menschen jenseits tradierter Formen der Verwandtschaft.
348 Arnold Windeler
Sind Netzwerke der neue „one best way“ der Koordination im 21. Jahr-
hundert (vgl. Mayntz 1992; Snow et al. 1992), sind sie die Garanten von Wohl-
fahrtsgewinnen sowie des Abbaus sozialer Ungleichheiten (vgl. Perrow 1992)?
Mehr als Zweifel scheinen angebracht. Netzwerke haben auch ihre Schattensei-
ten, denn strukturell schließen sie nicht nur immer viele aus, selbst Teilnehmer
binden sie in ein durch das Netzwerk geprägtes Handlungs- und Beziehungsge-
flecht mit anderen ein, das ihnen ansonsten offen stehende Chancen verstellt
(vgl. Wirth & Sydow 2004). Zudem kreieren Netzwerke keine „heile Netzwerk-
welt“ (Gaitanides 1998), sondern bilden sich in Spannungsverhältnissen aus:
nicht zuletzt denen von Autonomie und Abhängigkeit und damit von Macht
und Herrschaft (vgl. Sydow et al. 1995). Auch die mit Netzwerken verbunde-
nen Resultate sind weder für die einzelnen Organisationen noch gesellschaft-
lich immer nur positiv (vgl. Teubner 2004). Nicht selten schaffen sie neue Ab-
hängigkeiten, führen zu neuen Formen von Exklusivität und Offenheit der
Zusammenarbeit, die neue Arten der Machtzusammenballung kreieren, zuwei-
len befördern sie auch illegale Aktivitäten (vgl. Baker & Faulkner 1993). Zuge-
spitzt belegt das der aktuelle Diskurs um Terrorismus. So reden Milward &
Raab (2003) im Zusammenhang von Al-Qaida und von Drogen- und Waffen-
handel von „Covert Networks“, und diskutiert Mayntz (2004) die Koordinati-
onsform des Netzwerks als Moment des transnationalen Terrorismus. Aber
klären wir erst einmal, was Netzwerke sind.
a specific set of linkages among a defined set of persons with the additional pro-
perty that the characteristics of these linkages as a whole may be used to inter-
pret the social behaviour of the persons involved.
Verallgemeinert man diese Bestimmung über Personen hinaus – etwa auf Un-
ternehmungen –, so sind Sets von Beziehungen zwischen einer definierten
Gruppe von Händlern, Automobilherstellern, System- und Komponentenzulie-
ferern, die ihre Geschäfte miteinander derart abstimmen, dass das Beziehungs-
geflecht zwischen ihnen für ihre Aktivitäten Bedeutung erlangt, Netzwerke,
genauer: Unternehmungsnetzwerke, da die beteiligten Akteure Unternehmun-
gen sind (vgl. Abbildung 1).
Sodann fragen sie, welche der Theorien über die Bedeutung und Ausprägungen
dauerhafter Lieferbeziehungen zwischen Unternehmungen dem bestimmten
354 Arnold Windeler
EGO EGO
A B A B
“structural hole”
Das habe ich an anderer Stelle ausgeführt (Windeler 2005: 218ff.; Windeler
2001: 237ff.).
Der strukturationstheoretische Begriff des Unternehmungsnetzwerks greift
– und das ist eine zweite Besonderheit – die Bestimmung von Mitchell auf,
spricht im Gegensatz zu dieser aber nur dann von Netzwerken, wenn der Be-
ziehungszusammenhang eine besondere Qualität aufweist. Die Definition lau-
tet:
Unternehmungsnetzwerke sind vornehmlich aus Geschäftsbeziehungen und Ge-
schäftsinteraktionen zusammengesetzt, die (mehr als zwei) Unternehmungen
überwiegend mit Blick auf den zwischen ihnen konstituierten dauerhaften Be-
ziehungszusammenhang reflexiv koordinieren (ebd.: 231f., Hervorhebung im
Original).
Unternehmungen
Märkte
2 Die Pole der X-Achse lauten: Koordination ausschließlich über Marktpreise oder über
einheitliche Leitung. Die Pole der Y-Achse heißen: Koordination zwischen Unternehmun-
gen ausschließlich als diskreter Tausch oder über den dauerhaften Beziehungszusammen-
hang. Einheitliche Leitung bei annähernd diskretem Tausch kennzeichnet sehr flüchtige
Unternehmungen und/oder Unternehmungen mit flüchtigen Beschäftigungsverhältnissen
(Zeitarbeiter, Projektbeschäftigte usw.).
Interorganisationale Netzwerke 359
besonderer Netzwerke nutzen; nur recht unzureichend lässt sich auf ihrer Basis
jedoch ein allgemeiner Netzwerkbegriff formulieren.
Die Geschichte des Governanceansatzes ist nicht so systematisch aufbereitet
wie die des Strukturansatzes (vgl. Sydow 1992: 56ff.). Auch dieser Netzwerkan-
satz ist tief im soziologischen und wirtschaftswissenschaftlichen Denken ver-
ankert. So charakterisiert Max Weber (1976 [1921]) die Koordinationsform von
Märkten und die von Organisationen als Bürokratien im Zusammenhang von
„Wirtschaft und Gesellschaft“, und stellt Ronald Coase (bereits 1937) Märkte
und Organisationen als in Bezug auf Kosten alternative Koordinationsmodi
vor. Der Diskurs um Netzwerkgovernance schreibt diese frühen theoretischen
Überlegungen sowie die in der Organisationssoziologie etablierten Sichtweisen
auf die Koordination von Aktivitäten und Beziehungen fort (vgl. Oliver &
Ebers 1998), ohne jedoch in vielen Fällen selbst die strukturelle Einbettung im
Sinne Granovetters systematisch aufzugreifen. Fast durchgängig wird die For-
derung Max Webers verfehlt, die Bedeutung kultureller Ordnungen und Insti-
tutionen sowie die Bedeutung von Koordinationsformen für die Ausgestaltung
von Herrschaftszusammenhängen zu berücksichtigen – eine der Ausnahmen
bildet die strukturationstheoretische Netzwerkforschung, die Strukturen und
Institutionen im Prozess der Strukturation von Netzwerken integriert (vgl.
Windeler 2001). Trotz der Theoriedefizite des Governanceansatzes gewann
dieser im Netzwerkdiskurs ab Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts
gesellschaftlich hohe Beachtung: Geschuldet ist das vor allem den Diskussio-
nen um die so genannte Japanoffensive.
Weltweite Aufmerksamkeit erfuhr die Netzwerkgovernance durch die Stu-
dien von Piore und Sabel (1985 [1984]) über „Das Ende der Massenprodukti-
on“ und die des Massachusetts Institute of Technology (MIT) zur „Lean Pro-
duction“ (vgl. Womack et al. 1991). Piore und Sabel diagnostizieren, dass die
Industriegesellschaften weltweit vor der Weggabelung stehen, entweder die
bestehende Struktur in Richtung auf einen „multinationalen Keynesianismus“
fortzuschreiten oder den dazu alternativen Weg der „flexiblen Spezialisierung“
mit Netzwerken zwischen kleinen Unternehmungen einzuschlagen. Die „Lean
Studie“ hebt die Vorteile der internen Strukturierung von Produktionsorganisa-
tionen und der Kooperationsformen der Zusammenarbeit in Netzwerken mit
Zulieferern und Abnehmern in Japan hervor (vgl. Ortmann 1995: 291ff.). Gan-
ze Pilgerscharen von Managern und Forschern überschwemmen in der Folge-
zeit die Emilia Romagna im Norden Italiens oder Japan, um die Formen ver-
netzter Produktion genauer zu erkunden. In der Managementforschung liefert
die Transaktionskostentheorie (vgl. Williamson 1990 [1985]) den dominanten
Interorganisationale Netzwerke 361
fen, nach, was in der Gesellschaft als „fortschrittlich“ gilt (vgl. DiMaggio &
Powell 1983).
Projekt des
Produzenten A Sender
Autoren
Produ-
zent A
Regis- techn.
seure MDL
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Sender
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Netzwerkansätze:
Potenziale für die Journalismusforschung
Thorsten Quandt
Hervorzuheben ist hier zweierlei: Zum einen die Konzentration auf Personen-
netzwerke (d.h. die Knoten der Netzwerke sind Menschen), zum anderen der
Verweis auf den Einfluss des Ganzen auf das Verhalten des Einzelnen. Letzt-
genannte Überlegung ist von zentraler Bedeutung für soziale Netzwerke: Ein
Netzwerk besteht nicht nur aus den Einzelelementen, sondern bildet eine spe-
zifische Struktur, die wiederum auf die Elemente selbst rückwirken kann.
Diese Idee findet sich bereits in frühen soziologischen Ausarbeitungen. Als
einer der Ersten hat sich der Berliner Soziologie Georg Simmel Ende des 19.
und Anfang des 20. Jahrhunderts mit sozialen Wechselwirkungen auseinander-
gesetzt. Sein Konzept enthält dabei einige Aspekte, die auch für eine moderne
Netzwerktheorie gelten können, wie Nedelmann (2000: 134) hier ausführt:
Erstens beinhaltet es die Aufforderung, die wechselseitigen Relationen zwischen
Individuen, Gruppen oder anderen analytischen Einheiten zu untersuchen. Zwei-
tens fordert der Begriff der Wechselwirkung zu einer bestimmten Art kausaler
Erklärung auf, die über das übliche Ursache-Folge-Schema hinausgeht und prin-
zipiell auch die Möglichkeit zirkulärer Kausalität in Erwägung zieht. […] Drittens
verweist der Begriff der Wechselwirkung auf ein dynamisches Prinzip. (Hervorhe-
bungen im Original)
376 Thorsten Quandt
stellte bereits vor gut 30 Jahren fest: „this remains a basic idea and nothing
more“ (Barnes 1972: 2), und auch Windeler erkennt in einer solchen Perspekti-
ve lediglich „eine allgemeine Idee für die Untersuchung von Netzwerken bzw.
die sozialer Strukturen“ (Windeler 2001: 37).
Will man eine solche basale Idee für sozialwissenschaftliche Netzwerkan-
sätze oder gar eine journalistische „Netzwerktheorie“ nutzen, sind Konkretisie-
rungen in Hinblick auf gesellschaftliche Phänomene notwendig. Festzulegen
ist, welche Elemente betrachtet werden, welcher Art die Verbindungen sind,
und wie Gesamtstruktur und Netzwerkdynamiken in Bezug zu Beobachtungs-
realitäten stehen. Dadurch wird die vormals „empirisch leere“ Netzwerksicht-
weise mit sozialwissenschaftlich relevanten Phänomenen verknüpft und da-
durch erst fassbar. Solche Netzwerkansätze – die eben nicht mehr nur „rein
perspektivisch“ zu verstehen sind, sondern auch sozialwissenschaftlichen Phä-
nomenbezug haben – gibt es in ganz unterschiedlichen Ausformungen. Im
folgenden Abschnitt soll zunächst überblicksartig besprochen werden, welche
möglichen Anwendungs-Varianten einer Netzwerksichtweise denkbar sind –
und welche Typen von Netzwerkansätzen tatsächlich schon erprobt wurden.
kann eine Gruppe bilden; diese Gruppe kann wieder Teil eines größeren Netz-
werks aus Personengruppen sein usw. Attraktiv wird die Netzwerksichtweise
damit vor allem für sozialwissenschaftliche Fragestellungen, die sich mit dem
Zusammenspiel aus Einzelelementen und Strukturen auseinandersetzen – also
auch für die Frage nach dem „Mikro-Makro-Link“ (vgl. hierzu z.B. Alexander
et al. 1987); der Vorteil der Perspektive liegt vor allem darin begründet, dass für
verschiedenste Extensionsebenen dieselben formalen Grundprinzipien angelegt
werden können.
Ergänzt werden muss an dieser Stelle allerdings, dass die meisten Ansätze
bei den Elementen nicht unterhalb der Personenebene ansetzen, aber auch
nicht über die Mesoebene hinausreichen. Dies ist jedoch keine prinzipielle
Beschränkung: Der Autor dieses Beitrags hat beispielsweise einen Vorschlag
vorgelegt, wie man menschliches Handeln mit Hilfe eines netzwerkperspektivi-
schen Ansatzes analysieren kann (vgl. ausführlicher Abschnitt 4 sowie Quandt
2005a). Mithin wäre auch denkbar, die dahinter liegenden Bedeutungsnetzwer-
ke auf der Ebene mentaler Strukturen zu untersuchen (vgl. hierzu Spitzer
2000), welche untrennbar mit menschlichem Handeln verbunden sind und
dieses erst ermöglichen. Man bewegt sich dann von der Mikrosoziologie schon
auf die Ebene einer (bislang so noch nicht bezeichneten) Nanosoziologie –
oder eben bereits in Bereiche der Psychologie. Wobei auch hier gilt: Im Gegen-
satz zu rein psychologischen Betrachtungen geht ein solcher Nano-Ansatz über
die Ebene individueller mentaler Strukturen hinaus; betrachtet man die entste-
henden Netzwerke in größeren Zusammenhängen, kann man sogar ganze
„Bedeutungscluster“ (oder die im konkreten Handeln sichtbaren „Handlungs-
syteme“; vgl. Quandt 2005a: 147-154) identifizieren, die gesamtgesellschaftliche
Relevanz besitzen und damit eigentlich auch ein Thema für die Makrosoziolo-
gie sind.
Nimmt man die beiden eben beschriebenen Unterscheidungsmerkmale –
Bezugsebene des Ansatzes und Charakterisierung des Netzwerkgedankens – als
Grundlage für eine allgemeine Typologie, so ergibt sich eine Matrix (vgl. Ab-
bildung), die jedoch in der Praxis vor allem auf der Mikro- und Mesoebene
besetzt ist. Elemente auf anderen Ebenen sind denkbar, aber – wie bereits
angesprochen – noch nicht in entsprechenden Ansätzen berücksichtigt wor-
den. Ebenso werden zurzeit formal-strukturelle und phänomenbezogene An-
sätze immer noch vielfach als oppositionell gesehen (siehe oben); eine Synthese
ist jedoch denkbar.
382 Thorsten Quandt
Einige Möglichkeiten zeigt bereits der Beitrag von Windeler auf, und zwar
in Bezug auf Unternehmungsnetzwerke. Mit der Fokussierung der von ihm
genannten Ansätze einerseits auf Strukturen, andererseits auf „Governance“,
sind schon klassische organisationssoziologische Interessengebiete abgesteckt.
Für die Journalismusforschung sind die entsprechenden Erkenntnisse durchaus
spannend: Gerade die unübersichtlichen Einfluss- und Besitzstrukturen sind
für Fragen der Konzentration (und damit verbunden auch: des Pluralismus und
der Meinungsfreiheit) von Bedeutung. Eine Beschreibung formaler Netzwerk-
strukturen des Medienmarktes mit seinen eng miteinander verflochtenen Play-
ern, ausgehend von den Daten zu wechselseitigen Besitzverhältnissen und
Einflussnahmen, könnte hier erhellend sein – ließen sich doch so Cluster und
Schwerpunkte des Beziehungsnetzwerkes identifizieren, aber auch Knoten-
punkte mit strategischer Bedeutung, beispielsweise in exponierter Lage zwi-
schen zwei Firmenclustern (vgl. Kempf, von Pape & Quandt 2006). Ähnliche
Darstellungen sind von anderen Industriebereichen bereits angefertigt worden
(vgl. u.a. die Arbeiten des Netzwerkanalytikers Valdis Krebs, wie z.B. das
Netzwerk der Internetindustrie1), und für die Journalismusforschung liegen
relevante Marktdaten vor (z.B. die Übersichten von Röper, vgl. Fußnote 1).
Allerdings gibt es hier einiges zu bedenken: Hinter einer solchen Analyse
steht zumeist die Überlegung, dass sich damit Machtstrukturen abbilden lassen
– doch die empirischen Indikatoren hierfür sind natürlich nicht nur Besitzver-
hältnisse, sondern auch informelle Beziehungen, (markt-)politische Einfluss-
nahmen und vieles mehr. Insofern müssen empirisch beschreibbare Relationen
unterschiedlicher Art identifiziert und messbar gemacht werden, und damit
sind solche Netzwerke mitnichten „eindimensional“. Untersucht werden könn-
te zudem auch die Entwicklung der Strukturen über längere Zeiträume – hier
ließe sich beispielsweise bestimmen, wie stabil Firmencluster sind, ob die Ver-
dichtungen zunehmen, oder ob auch Auflösungsprozesse zu konstatieren sind.
Allerdings besteht bei den zeitbezogenen Maßen für Netzwerkbeschreibungen
ein Defizit: Diese sind kaum verbreitet und werden in den einschlägigen
Handbüchern nur am Rande oder gar nicht berücksichtigt (vgl. Wasserman &
Faust 1994 sowie Scott 2000); freilich kann dies auch als Herausforderung
verstanden werden, hier produktiv einen Ansatz – und auch entsprechende
Kennwerte – (weiter) zu entwickeln.
1 http://www.orgnet.com/netindustry.html
Netzwerkansätze: Potenziale für die Journalismusforschung 385
Neben den Strukturbeschreibungen haben auch die von Windeler (in die-
sem Band: 361ff.) angesprochenen „Projektnetzwerke“ sowie die von ihm im
Rahmen des „Governance“-Ansatzes diskutierte Erforschung vernetzter Pro-
duktion hohe Relevanz, denn in den Medienhäusern kam es in den letzten
Jahren zu deutlichen Veränderungen in der Arbeitsorganisation und den allge-
meinen Produktionsbedingungen. Flexibilisierung, Auslagerung der Produkti-
on, Arbeiten in projektbezogenen Teams, variable Tätigkeitsprofile – mit die-
sen Schlagworten lassen sich einige Eckpunkte dieses Wandels in der Produk-
tion abstecken (vgl. Altmeppen & Quandt 2002). Nach Windeler (in diesem
Band: 361) bieten z.B. Projektnetzwerke die Möglichkeit „dauerhaftere Zu-
sammenhänge zur Abwicklung zeitlich befristeter Projekte von einer Vielzahl
von Akteuren unterschiedlicher Organisationen zu gewährleisten“. Sie passen
damit gut zu den aktuellen Anforderungen in der Medienindustrie. In diesem
Sinne würde auch eine praxisbezogene Journalismusforschung gut daran tun,
sich mit derlei Konzepten auseinanderzusetzen; kann man doch davon ausge-
hen, dass sie zunehmend an Bedeutung gewinnen und dadurch auch die jour-
nalistischen Produktionsbedingungen – mithin auch das entsprechende Be-
rufsbild – prägen werden. Tatsächlich skizzieren diverse Arbeiten derlei Pro-
zesse des Wandels: Das traditionelle Bild journalistischer Inhalteproduktion ist
demnach nicht mehr überall und vollständig zutreffend (vgl. z.B. Altmeppen &
Quandt 2002; Bardoel & Deuze 2001; Deuze 2004; Engels 2003; Neuberger
2002; Quandt 2005a; Quandt et al. 2006; Singer 2003). Konkret zeigt sich dies
im Online-Journalismus, dessen Angebote zum Teil in völlig neuartigen Ar-
beitszusammenhängen entstehen – u.a. im Rahmen distribuierter Produktion
an unterschiedlichen Orten, synchron oder zeitversetzt (vgl. hierzu Projekte
zum dezentralen, kollaborativen Journalismus wie z.B. www.indymedia.org).
Journalismusbezogene Weblogs und Diskussionsforen, die allerdings meistens
in nicht-professionellen Zusammenhängen entstehen, können ebenfalls in
diesem Zusammenhang diskutiert werden. Bei diesen neuen (Vor-)Formen des
Journalismus könnte man – neben der Denkfigur der Netzwerk-Produktion –
zudem die strukturelle Netzwerkanalyse zum Einsatz bringen, um die empi-
risch beobachtbaren Produktionsstrukturen mittels Graphen und auch mathe-
matisch zu beschreiben sowie in Hinblick auf die Distribution zentraler Infor-
mations- oder Produktionsknoten zu optimieren (wenn z.B. der Informations-
fluss im Netzwerk zu stark von einzelnen Akteuren abhängig ist, könnten diese
überlastet werden, und ihr Ausfall würde den Produktionsprozess nachhaltig
stören).
386 Thorsten Quandt
Mit diesen Analysen hat man bereits den Schritt von den organisationsbe-
zogenen Analysen zu den personengebundenen Netzwerken vollzogen – die
einem umfassenden Wandel unterworfen sind, wie Windelers Ausführungen in
diesem Band verdeutlichen. Netzwerke bieten hier – sowohl als Denkfolie für
die Analyse als auch im Sinne einer Organisationsform – interessante Möglich-
keiten, die sicherlich nicht auf die bereits erwähnten Projektnetzwerke be-
schränkt sind. So kann man beispielsweise die (formellen wie informellen)
Beziehungen innerhalb einer Redaktion mit Hilfe von Netzwerkmodellen dar-
stellen, ebenso wie Informationsnetzwerke, um z.B. zentrale Quellen und be-
sonders einflussreiche Informanten zu identifizieren. Gerade für die personen-
bezogene Sozialstrukturanalyse gibt es in der Soziologie reichlich Vorbildmate-
rial (als frühe Quelle dieser „Soziometrie“ vgl. Moreno 1934), und auch in der
Kommunikationswissenschaft wurden bereits Schritte in dieser Richtung getan
(vgl. Schenk 1995). Hier steht auch ein fortgeschrittenes Analyseinstrumentari-
um (u.a. in Form anwendungsreifer Software, wie z.B. UCINET oder Clemen-
tine) zur Verfügung.
Mit diesen eher klassischen Anwendungen auf der Meso- und Mikroebene
erschöpft sich das Potenzial einer Netzwerksichtweise jedoch nicht. Prinzipiell
ist denkbar, auch bei „kleineren“ Elementen als den Akteuren zu beginnen.
Wie bereits angedeutet, hat beispielsweise der Autor einige Eckpunkte einer
Netzwerktheorie menschlichen Handelns vorgestellt (Quandt 2005a). Ange-
setzt wurde dabei bei grundlegenden, miteinander vernetzten Handlungsele-
menten, welche die Bausteine einer jeden menschlichen Handlung darstellen:
Handlungstyp, Zeit und Ort, Ressourcen, Subjektbezüge und Kontext. Durch
das alltägliche Handeln der Akteure werden spezifische Konstellationen solcher
Elemente reproduziert. Diese Konstellationen in Form von Assoziationen
(Relationen zwischen verschiedenen Handlungen bzw. Elementen) und Se-
quenzen (zeitbezogene Abfolgen von Handlungen bzw. Elementen) werden
von den Handelnden in einem Wissensvorrat abgelegt und bei der Planung
neuer Handlungen als strukturelle Orientierung herangezogen; sie bilden also
die Basis für Handlungsregeln. Es konnte theoretisch begründet und auch
empirisch am Beispiel des Handelns in Online-Redaktionen belegt werden,
dass solche Muster größere Netzwerke bilden, die nicht auf Individuen be-
schränkt sind, sondern von den meisten Personen in bestimmten sozialen Be-
reichen (hier: im Online-Journalismus bzw. in den zugehörigen Redaktionen)
geteilt werden. Damit wirken diese Netzwerke quasi als Orientierungshorizonte
für das Handeln; durch die bestehenden Netze wird das Handeln einerseits
geleitet (wenn auch nicht determiniert), andererseits werden die Netze durch
Netzwerkansätze: Potenziale für die Journalismusforschung 387
Netzwerke darstellen kann; eine solche Sichtweise kann, wie andernorts ge-
zeigt, u.a. im Rahmen des Innovationsmanagements in Medienbetrieben zu
klareren Situationsanalysen führen (vgl. Kempf, von Pape & Quandt 2006).
Anhand dieses kurzen Abrisses sollte deutlich geworden sein: Eine Netz-
werksichtweise kann auf verschiedenen Betrachtungsebenen zur Anwendung
kommen. Sie ist nicht nur auf Unternehmen oder Personen als Grundelement
angewiesen, sondern kann auch anderweitig gewinnbringend genutzt werden.
Allerdings ist wohl ebenso klar hervorgetreten, dass „Netzwerktheorien“ in der
Journalismusforschung bislang nur in Ansätzen existieren – im positiven Sinne
besteht also noch sehr viel Freiraum für kreative Theoriebildung.
sicht in Maletzke 1988) oder der Systemtheorie. Sicherlich richtig ist aber, dass
solche konkreten Netzwerkansätze oder sogar ausgearbeitete Netzwerktheorien
insbesondere in der Kommunikationswissenschaft (und der Journalismusfor-
schung im Speziellen) Mangelware sind. Dies wurde auch im letzten Abschnitt
deutlich: Vorschläge für spezifischere Ansätze sind nur vereinzelt gemacht
worden und harren zumeist einer weiteren Ausarbeitung. Allerdings spricht
dies nicht gegen Netzwerkansätze per se; der Mangel an konkreten Arbeiten
kann auch als Zeichen der aktuellen Dominanz anderer Positionen gedeutet
werden – zu nennen wäre hier beispielsweise die Systemtheorie.
Mit dieser hat die Netzwerksichtweise zumindest eine gewisse Universalität
gemeinsam, denn sie zieht ihre Kraft ebenso aus einigen zentralen Konzepten
und Betrachtungsweisen, die vielfältig übertragbar sind. Im Detail bestehen
natürlich erhebliche Unterschiede, was den Ausarbeitungsgrad und die Diffe-
renziertheit der Aussagen angeht. In Teilen hat dies mit dem bereits angespro-
chenen Mangel an konkreten Spezifikationen in Richtung Netzwerktheorie zu
tun. Freilich müsste sich aber ein Netzwerkansatz schon per se ein gewisses
Maß an Offenheit erhalten: denn Netzwerke sind (im Gegensatz zu Systemen)
als nicht klar abgrenzbar und variabel zu denken. Eine Netzwerksichtweise
entwickelt vor allem dann einen besonderen Charme, wenn die Relationen als
veränderlich angesehen werden: so können (und müssen) Netzwerke als per-
manent zu rekonstruierende Gebilde modelliert werden, die – quasi organisch
– wachsen, sich stabilisieren, verfallen oder sich sogar auflösen können. Wie
bereits erwähnt, liegt in der Dynamisierung allerdings ein zentrales Problem der
Netzwerksichtweise: Die Darstellung als Netz – d.h. als „Struktur“ – verführt
allzu leicht dazu, Phänomene nur statisch zu begreifen. Der Grund mag mitun-
ter auch banaler Natur sein: Denn Wandel und Dynamik von Netzwerken sind
eben nur unter Schwierigkeiten „abbildbar“, d.h. in Schaubilder oder grafische
Modelle zu überführen. So konstatiert auch Doreian:
The nodes of the network can change in two senses: (i) their presence and (ii)
their properties. Actors – be they individuals, organizations or nations – can co-
me to and go from their networks. We tend not to consider this, confining our
attention to those actors present at all of the time points [...] considered. [...] The
implicit notion that we can describe the “structure of the network” as a static
object, one that is in equilibrium form, seems remarkably quaint.. (Doreian 1995;
zitiert nach Windeler 2001: 118)
Die prinzipielle Komplexität der Darstellung mag auch ein Hindernis bei der
Nutzung für „praktische“ journalistische Fragen sein. Schließlich wird vielfach
gegenüber der Journalismusforschung hervorgebracht, dass sie zu abstrakt –
390 Thorsten Quandt
Literatur
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MACHT
Macht: Dimensionen und
Perspektiven eines Phänomens
Peter Imbusch
Nicht zuletzt auf Grund dieses Begriffs- und Verständniswirrwarrs hat Max
Weber (1976: 28f.) seinerzeit den Begriff der Macht als „soziologisch amorph“
bezeichnet und sein Machtverständnis mit großer Wirkung auf den soziologi-
schen und politologischen Diskurs wie folgt definiert: „Macht bedeutet jede
Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen
Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ Er hat
dabei explizit unterstrichen, dass „alle denkbaren Qualitäten eines Menschen
und alle denkbaren Konstellationen [...] jemand in die Lage versetzen [können],
seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen.“
Im Gegensatz dazu hatte Weber Herrschaft an Legitimität zurückgebunden
und von Macht als soziologisch amorpher Kategorie geschieden. Den Herr-
schaftsbegriff präzisierte er wie folgt: „Herrschaft soll heißen die Chance, für
einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu fin-
den.“ (ebd.: 28)
Nicht also jede Chance, „Macht“ und „Einfluss“ auf andere Menschen aus-
zuüben. Herrschaft („Autorität“) in diesem Sinne kann im Einzelfall auf den
verschiedensten Motiven der Fügsamkeit: von dumpfer Gewöhnung angefan-
gen bis zu rein zweckrationalen Erwägungen, beruhen. Ein bestimmtes Mini-
mum an Gehorchenwollen, also: Interesse (äußerem oder innerem) am Gehor-
chen, gehört zu jedem echten Herrschaftsverhältnis (ebd.: 122).
oder gar nicht Mächtigen der neu etablierten Machtordnung zu, weil das die
geringsten Nachteile bei der Wahrnehmung ihrer verbliebenen Lebenschancen
verbürgt (vgl. Abels 2001 I: 249f.). Die reine Möglichkeit zur Machtausübung
wächst sich zur Fähigkeit der Machtausübung aus (potenzielle Stufen), wird
sodann zur latent wirkenden Macht und schließlich zu manifest wirksamer
Macht (aktuelle Stufen) (vgl. Hradil 1980: 34-40).
2.3.1 Machtquellen
Die Machtquellen stellen die unmittelbaren Gründe für die Macht dar, wie sie
sich aus den allgemeineren sozialanthropologischen Grundlagen der Macht
ergeben. Eine erste solche Machtquelle ist zunächst physische Stärke bzw.
psychische Überlegenheit. Körperliche Stärke garantiert zumindest in Konflikt-
situationen im Mikro-Bereich eine Form der Überlegenheit, der sich andere
fraglos beugen werden. Ist man einem „Muskelprotz“ körperlich sichtlich un-
Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens 401
terlegen, wird man es sich gut überlegen, sich auf eine Kraftprobe einzulassen,
bei der man offensichtlich „den Kürzeren zieht“. Macht als körperliche Über-
legenheit schafft ziemlich unhinterfragt Gehorsam, sie wirkt direkt. Auf der
Makro-Ebene lassen sich ähnliche Wirkungen durch die Monopolisierung phy-
sischer Gewaltmittel (Polizei, Militär) beim Staat erzielen.
Beruht die Macht einer Person auf psychischen Besonderheiten, etwa auf
Ausstrahlung, Geist, Intellekt, dann wird sie eher bestimmten Persönlichkeits-
merkmalen eines Menschen zugeschrieben, deren Überlegenheit man neidvoll
oder neidlos anerkennt. Psychische, geistige, rhetorische, moralische oder sons-
tige Eigenschaften können also ebenfalls den Zugang zu Machtmitteln ebnen,
weil sie zur Sinngebung eingesetzt werden können oder Situationsdefinitionen
erfolgreich durchzusetzen vermögen. In vielen Fällen steht die Macht der Per-
sönlichkeit in engem Zusammenhang mit Formen konditionierter Macht, mit
der Fähigkeit also, Überzeugungen oder Motivationen zu schaffen. Von hier
aus ist der Weg zur Ausbildung von Charisma und Autorität nicht weit. Die
Anerkennung der Persönlichkeit anderer bedeutet zugleich immer ein stückweit
Verzicht auf Selbstbestimmung.
Eigentum und Besitz stellen eine weitere wesentliche Quelle von Macht dar.
Macht ergibt sich hier aus der mehr oder weniger exklusiven Verfügung über
die Produktionsmittel und die damit verbundenen property rights, den mit der
Verfügung oder dem Besitz eines Gutes einhergehenden Eigentumsrechten. Sie
kann aber auch Resultat der Monopolisierung bestimmter gesellschaftlich be-
deutsamer Ressourcen (von Rohstoffen und Böden bis hin zu Patenten) sein.
Sie erwächst aus der Reichtums- und Einkommenskonzentration einer Gesell-
schaft, so dass etwa Pierre Bourdieu (1992) das ökonomische Kapital als die
grundlegendste, weil in alle anderen Kapitalarten transformierbare Kapitalie
betrachtet. Ökonomisch tritt sie als Marktmacht im Sinne der Ausbildung mo-
nopolistischer oder oligopolistischer Positionen in Erscheinung, die anderen
Marktteilnehmern bestimmte Tauschbedingungen aufzwingt, ohne die forma-
len Prinzipien der Marktgesellschaft zu verletzen. Auch können Eigentum und
Wohlstand habituell den Eindruck von Autorität und Entschlusskraft vermit-
teln, die dann wieder zu Formen konditionierter Unterwerfung oder kompen-
satorischer Macht führen können.
Schließlich kann in der Organisation eine der wichtigsten Machtquellen
moderner Gesellschaften gesehen werden. Organisationen bilden durch den
zielgerichteten Zusammenschluss und die Bündelung von Kräften Handlungs-
potenziale aus, die individuellen Machtaspirationen durch die Verfügung über
größere und andere Ressourcen weit überlegen sind. Macht entsteht dabei aus
402 Peter Imbusch
2.3.2 Machtmittel
Die Machtmittel stellen dagegen die konkreten Medien der Machtausübung
dar. Mittels ihres Einsatzes wird der Ausgang von Machtkämpfen und Herr-
schaftskonflikten entschieden. An erster Stelle zu nennen wäre hier Kapital,
und zwar Kapital in jenem umfassenden Sinne, wie Bourdieu seine Kapitalarten
gefasst hat, nämlich als ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital (vgl. die
Beiträge von Willems und Hanitzsch in diesem Band). Ökonomisches Kapital
– etwa in Form von Geld – stellt ein universelles Tauschmedium dar, welches
den höchsten Konvertierungsgrad in die anderen Kapitalarten aufweist und
entsprechend kompensatorisch oder konditionierend eingesetzt werden kann.
Soziales Kapital zeigt sich vor allem in einem dauerhaften Netzwerk mehr oder
minder institutionalisierter Beziehungen, mit dem nicht nur Kennen und Aner-
kennen, sondern auch die aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe
resultierenden Ressourcen verbunden sind. Während die Macht des sozialen
Kapitals häufig sehr manifest wirkt, zeigt sich die Wirkung des kulturellen Ka-
pitals eher auf symbolischer Ebene und muss von dort aus seine Macht erst
entfalten. In inkorporiertem Zustand (Bildung, Wissen, Begabung) bildet das
kulturelle Kapital eine dauerhafte, habituell verfestigte Disposition des Orga-
nismus; in objektiviertem Zustand kommt es vor allem in der Produktion kul-
tureller Güter zum Ausdruck; und in institutionalisiertem Zustand hat es sich
etwa in Form von schulischen oder akademischen Titeln objektiviert, die für
„feine Unterschiede“ (Bourdieu 1982) sorgen und Kompetenz und Wissen
garantieren, mit denen dann Autorität und Einfluss verbunden sind.
Körperschaften und Organisationen bilden nicht nur eine bedeutsame
Machtquelle, sondern stellen zugleich ein wichtiges Machtmittel dar. Formale
Institutionen bilden nämlich das machtrelevante institutionelle Gefüge der
Gesellschaft, deren interne Macht über Positionen hierarchisch gegliedert und
mit bestimmten Befugnissen versehen ist, deren externe Macht darin zum Aus-
druck kommt, dass sie strukturell verfestigte, häufig normsetzende Macht ist,
weil in ihnen gesellschaftlich relevante Entscheidungen gefällt und umgesetzt
werden. Insofern kann es sich bei der von Organisationen ausgehenden Macht
sowohl um kompensatorische wie auch konditionierende Macht handeln.
Ein besonderes Machtmittel stellt auch die Sanktionsgewalt eines Amtes
dar, das an öffentliche bürokratische Strukturen gebunden ist. Im Gegensatz zu
Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens 403
höher eine Position in der Sozialstruktur lokalisiert ist. Überzeugung setzt da-
gegen eine sich aus Wissen und Information speisende persönliche Autorität
und geistige Überlegenheit voraus, die Argumente in Auseinandersetzungen
mit anderen vernünftig zu begründen vermag. Einfluss und Überzeugung ver-
anlassen jemanden dazu, etwas zu tun, was er vorher nicht beabsichtigte. Moti-
vation stellt dagegen eine verdeckte Form sozialer Macht dar, der es nicht dar-
um geht, Widerstände überwinden zu müssen, sondern andere dazu zu veran-
lassen, etwas überhaupt erst zu wollen oder auch nicht zu wollen, ein bestimm-
tes Verhalten in Gang zu setzen oder zielorientiertes Handeln auszulösen. Ein-
fluss, Überzeugung und Motivation sind damit genuine Formen kommunikati-
ver Macht. Sie rangieren in bezug auf die mit der Machtausübung verbundenen
Zwänge ganz unten auf der Skala.
Autorität wird grundsätzlich – in der Regel von machtschwächeren Grup-
pen – zugeschrieben, sie beruht auf Anerkennung (Sofsky & Paris 1994: 21-
156; vgl. Sennett 1985). Sie kann in zwei Formen auftreten: Als Amts- und
Befehlsgewalt basiert sie auf der vorgängigen Gewährung von Legitimität sei-
tens der Machtunterworfenen, denn sie ermächtigt einen Akteur, bestimmte
Entscheidungen mit Aussicht auf persönliche Anerkennung und Gehorsams-
bereitschaft zu fällen. Autorität bezeichnet in diesem Sinne den rechtmäßig
anerkannten Einfluss einer sozialen Instanz. Sie gründet v.a. auf legalen Rech-
ten und rationalem Wissen. Mit Autorität kann aber auch persönliche Autorität
gemeint sein, die Macht der Persönlichkeit (Attraktion). Sie entsteht durch eine
Reihe herausragender persönlicher Eigenschaften, langen Erfahrungen oder
besonderen Kenntnissen und steht häufig mit der Existenz von Charisma in
Verbindung, die einer Person eine „natürliche“ Autorität verleiht. Sie kann
jedoch auch auf diffuser Anziehung oder kognitiver Identifikation beruhen.
Diese Form der Autorität ist unabhängig von der Stellung in einer Hierarchie
und kann auch einfach zugeschrieben sein: Jemand hat Autorität, wenn und
weil andere ihn anerkennen. Autorität beruht in diesem Fall auf besonderen
Wissensvorräten, traditionellem Glauben bzw. entsprechenden Werten oder
der anderweitig geschätzten Ausstrahlung einer Person. Verschmelzen Autori-
tät im Sinne von Amts- und Befehlsgewalt und persönliche Autorität miteinan-
der, dann ist in der Regel ein hohes soziales Prestige die Folge. Während Auto-
rität eine relativ stabile Form der Machtausübung begründet, sticht im Falle der
Attraktion der transitorische, flüchtige Charakter von Macht hervor.
Kontrolle ist eine Form der Machtausübung, die sich bereits sehr verschie-
dener Methoden bedienen kann und eine unterschiedliche Reichweite besitzt.
Sie kann sich lediglich auf bestimmte Handlungen und Interaktionsprozesse
Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens 405
beziehen, sie kann aber auch regional oder global angelegt sein – je nachdem
von welcher Form der Macht die Rede ist. Sie kann sich auf Entscheidungssi-
tuationen und damit auf intentional Handelnde, aber auch sog. Nicht-
Entscheidungen beziehen und dadurch bestimmte strategische Weichenstel-
lungen vornehmen. Peter Bachrach und Morton S. Baratz (1962) haben Nicht-
Entscheidungen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen ausgemacht und
sie das „zweite Gesicht der Macht“ genannt.
Zwang liegt dagegen dann vor, wenn auf einen möglichen Adressaten
Druck über das Gewähren bzw. Zurückhalten bestimmter Ressourcen ausge-
übt bzw. damit gedroht wird oder er von bestimmten Handlungen auf Grund
der zwingenden Einflussnahme anderer abgehalten wird. Zwang kann auf recht
verschiedene Weise ausgeübt werden: Bei den sanften Formen des Zwangs
werden demjenigen, auf den Zwang ausgeübt wird, im Falle wunschgemäßen
Verhaltens bestimmte Vorteile gewährt oder in Aussicht gestellt (Nutzenas-
pekt). Im Fall brachialer Zwangsmittel wird mit Gewalt oder Strafen gedroht,
um die eigene Macht gegenüber einem anderen durchzusetzen (Schadensas-
pekt). Dagegen stellt das staatliche Gewaltmonopol einen Spezialfall der
Zwangsausübung dar. Als rationaler anstaltsmäßiger Herrschaftsverband stellt
der Staat schon bei Weber (1976: 822) ein auf das Mittel der legitimen Gewalt-
samkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen dar,
dem sich die beherrschten Menschen kraft seiner Autorität fügen müssen, weil
er bestimmte Grundfunktionen für die Durchführung und Aufrechterhaltung
der Ordnung erfüllt.
Entgegen einer vielfach anzutreffenden Vorstellung muss schließlich auch
die Gewalt als eine Form der Machtausübung, die von der einfachen Macht-
demonstration bis hin zur absoluten Macht reichen kann (Sofsky 1993: 29ff.),
angesehen werden. Sicherlich lässt sich Gewalt auf einem Kontinuum der
Formen möglicher Machtausübung am entgegengesetzten Ende zu den friedli-
chen Formen der Machtausübung (wie Einfluss, Überzeugung und Motivation)
verorten, aber Macht und Gewalt sind keine Gegensätze. Hannah Arendts
(1970: 57) Behauptung, dass es zwischen Macht und Gewalt keinerlei Übergän-
ge gibt und dass Gewalt dort auf den Plan tritt, wo Macht in Gefahr ist, kann
nur soweit zugestimmt werden, als sich Macht und Gewalt als Phänomene
nicht aufeinander reduzieren lassen (vgl. Imbusch 1998: 15f.). Doch gibt es
einen Überschneidungsbereich von Macht und Gewalt, der genau darin be-
steht, dass Gewalt ein sehr effektives Machtmittel sein kann, weil sie unmittel-
bar Gehorsam erzwingt und Widerstand zu überwinden weiß (vgl. Imbusch
2002). In diesem Sinne spricht etwa Popitz von Verletzungsmacht als Gewalt.
406 Peter Imbusch
Dass nicht alle Macht Gewaltcharakter besitzt, dürfte aber ebenso offensicht-
lich sein.
falten ihre Wirkungen häufig auf der Basis von physischen Machtmitteln;
Kompensation und Belohnung bedürfen zur Entfaltung ihrer Wirkung in der
Regel bestimmter ökonomischer Ressourcen; und Manipulation erzielt ihre
Wirkung auf der Basis symbolischer Machtmittel. Diese drei Methoden der
Machtausübung hat John Kenneth Galbraith (1987: 17f.) in seiner Anatomie
der Macht deshalb auch als repressive Macht, als kompensatorische Macht und
als konditionierte Macht bezeichnet.
Repressive Macht erzielt Unterordnung durch die Fähigkeit, die individuellen
oder kollektiven Präferenzen eines einzelnen oder einer Gruppe mit derart un-
angenehmen oder schmerzhaften Gegenmaßnahmen zu belegen, daß die Betrof-
fenen ihre Präferenzen aufgeben. Der Terminus enthält einen Beigeschmack von
Bestrafung [...] Im Gegensatz dazu erzielt kompensatorische Macht Unterwer-
fung durch das Angebot, Wohlverhalten zu belohnen [...] Ein gemeinsames
Merkmal sowohl der repressiven wie der kompensatorischen Macht besteht dar-
in, daß das sich unterordnende Individuum sich seiner Unterordnung – hier er-
zwungen, dort entgolten – bewußt ist. Die Ausübung konditionierter Macht hin-
gegen wird durch eine Änderung des Bewußtseins, der Überzeugungen und des
Glaubens bewirkt [...] Die Unterwerfung entspricht dem selbstgewählten Kurs
und wird nicht als das erkannt, was sie tatsächlich ist.
Für die Wirkungsintensität der Macht sind vor allem die Durchsetzungs-
kraft bzw. -fähigkeit und die Innovationskraft bzw. ein entsprechendes Poten-
zial von Bedeutung. Eine Verstärkung der Wirkungsintensität der Macht kann
in der machtvolleren Durchsetzung des eigenen Willens gesehen werden, der
nun einen größeren Widerstand zu überwinden vermag als zuvor. Die Innova-
tionskraft von Macht würde sich daran zeigen, dass etwa mit Bestehendem
gebrochen werden kann oder Ungewohntes und Neues verbindlich geregelt
wird. Die Intensität würde mit der Größe einer Herausforderung steigen müs-
sen (vgl. Popitz 1992: 234f.).
Institutionalisierung von Macht bildet, ist zugleich ein qualitativ neues Niveau
im Institutionalisierungsprozess erreicht, das sich nicht zuletzt den außeror-
dentlichen Monopolisierungserfolgen einer zentralisierten, territorial ausgerich-
teten Herrschaftsinstanz wie etwa dem modernen Staat schuldet, der zwar
einerseits beträchtliche soziale Zwänge für den Einzelnen heraufbeschwört und
über gravierende Sanktionsmonopole verfügt, andererseits aber lebenswichtige
Ordnungsfunktionen für das Individuum erfüllt.
Mit den einzelnen Stufen der Institutionalisierung von Macht bis hin zur
Verfestigung als Herrschaft nehmen die „Machtvolumina“ (Mann 1991) zu und
die „Machtsteigerungen“ schlagen sich in der „Zunahme der Reichweite“, der
„Erhöhung des Geltungsgrades des Machtwillens“ und einer „Verstärkung der
Wirkungsintensität“ nieder. Mit der Durchsetzung zentralisierter Herrschaft im
Alltag ist zugleich die Endstufe der Institutionalisierung von Macht erreicht, so
dass Michael Mann (1991: 14) in seiner „Geschichte der Macht“ geschrieben
hat: „Gesellschaften bestehen aus vielfältigen, sich überlagernden und über-
schneidenden sozialräumlichen Machtgeflechten.“ Die Analyse von Gesell-
schaftsstrukturen kann nun durch das Inbeziehungsetzen einzelner Dimensio-
nen sozialer Macht geschehen.
auf Grund wertrationalen Glaubens, d.h. der Geltung des als absolut gültig
und richtig Erkannten; sowie
auf Grund positiver Satzung, d.h. dem Glauben an deren Rechtmäßigkeit
und Legitimität (Weber 1976: 19).
Dabei unterscheidet er drei reine Typen der legitimen Herrschaft: Die traditio-
nelle Herrschaft beruht auf der „Heiligkeit überkommener Ordnungen und Her-
rengewalten“. Sie legitimiert sich vor allem über die dauerhafte Anerkennung
ihrer Faktizität, dadurch, dass „es immer schon so war“. Einen zweiten Typus
legitimer Herrschaft sieht Weber in der charismatischen Herrschaft. Sie beruht auf
außeralltäglichen Eigenschaften und als außergewöhnlich anerkannten Qualitä-
ten der Persönlichkeit, kurz dem Charisma einer Person, die Autorität verleiht
und Folgsamkeit verbürgt. Die charismatische Legitimation von Herrschaft ist
deshalb zugleich die risikoreichste Art der Legitimation von Herrschaft (vgl.
Sofsky & Paris 1994: 149ff.). Dagegen betrachtet Weber die legale Herrschaft
mit einem modernen bürokratischen Verwaltungsstab als die rationalste Herr-
schaftsform, weil sie auf einem festgelegten Satz von Regeln und berechenbaren
Verhaltensweisen beruht, die für jedermann einsichtig sind und verlässlich
funktionieren.
manche Ansätze davon aus, dass alle menschlichen Beziehungen und alle Be-
reiche des gesellschaftlichen Lebens quasi kapillarisch von Macht durchdrun-
gen sind, Macht sozusagen ein allgegenwärtiges und ubiquitäres Phänomen ist,
wohingegen andere den Machtbegriff auf bestimmte soziale Tatbestände zu
begrenzen versuchen und ihn eher dosiert zur Anwendung bringen. Eine Mik-
rophysik der Macht, die zwar zur genaueren Thematisierung von verborgenen
Machtphänomenen, aber auch zu einer semantischen Ausdehnung geführt und
einer Inflationierung von Macht Vorschub geleistet hat, stehen hier auf analyti-
sche Genauigkeit abzielende Machtverständnisse gegenüber, die Macht als
konkretes gesellschaftliches Steuerungsmedium verstehen und ihren Geltungs-
bereich einzugrenzen versuchen.
Machttheorien ließen sich des Weiteren danach differenzieren, ob sie eher
einen dezisionistischen bzw. exekutiven Machtbegriff besitzen oder einem
kommunikativen Machtbegriff frönen. Auf der einen Seite stünden dann
Machtverständnisse, die auf die konkrete Überwindung von Widerstand und
die Konfliktivität von Gesellschaften abzielen, die Macht an bestimmte Kräfte-
verhältnisse binden und an sozialstrukturelle Aspekte rückkoppeln; auf der
anderen Seite stünden jene Theorien, die in Macht primär ein Kommunikati-
onsmedium, ein Mittel der Verständigung oder überhaupt die Grundlage für
gemeinschaftliches Handeln sehen. Im letztgenannten Fall hätte Macht immer
auch eine normative Komponente, im erstgenannten Fall nicht. Gewalt würde
so einerseits ein Phänomen der Macht bilden, andererseits wären Macht und
Gewalt strikte Gegensätze.
Schließlich ließen sich Theorien der Macht auch nach den dahinter stehen-
den Gesellschaftsverständnissen differenzieren. So wären etwa handlungstheo-
retische Machtverständnisse von struktur- oder systemtheoretischen zu unter-
scheiden und es ließen sich intermediäre Ansätze erkennen, die in unterschied-
licher Form verschiedene Aspekte der Macht zusammen zu bringen versuchen.
Auch in Bezug auf die Herrschaftsproblematik lässt sich ein ganz unter-
schiedlicher wissenschaftlicher Umgang erkennen. Individualistisch orientierte
Theorien oder rationale Akteursmodelle, die vom Menschen als einem egoisti-
schen Nutzenmaximierer ausgehen, sehen in der Herrschaft mit ihren stabilen
Formen der Über- und Unterordnung einen nützlichen und allseits vorteilhaf-
ten Ordnungs- und Koordinationsmechanismus, mit dessen Hilfe das Handeln
vieler Einzelner koordiniert werden kann. Gehorsam und Anerkennung der
Herrschaft werden hier mit individuellen Vorteilsüberlegungen begründet.
In vielen Gesellschaftstheorien bzw. Sozialtheorien gilt Herrschaft dagegen
als eine allgemeine soziale Regelungs- und Beziehungsform, deren Vor- und
Macht: Dimensionen und Perspektiven eines Phänomens 415
Medien kontrollieren Macht: Neben der überragenden Rolle der Medien in der
Informationsvermittlung kommt den Medien im demokratischen Verfas-
sungsstaat auch eine Rolle als „vierter Gewalt“ und als Kontrollinstanz ge-
genüber den Mächtigen zu. Insbesondere in Selbstbeschreibungen der Me-
dien findet sich diese Funktion der Machteinhegung und der Kontrolle ge-
genüber den sich unter Umständen verselbständigenden Machtgelüsten
von Politik und Wirtschaft, aus der wichtige Legitimationen für sie er-
wachsen. In diesem Sinne können Medien ein ausgleichender Machtfaktor
sein, der die Machtfülle von Mächtigen einschränkt.
Medien bieten ein Forum für Macht: Medien dienen sich aber auch den Mächti-
gen an, sie bedienen die Medienfixierung der Mächtigen im Zeitalter eines
allmächtigen Info- und Politainments (vgl. Bourdieu 1998; Dörner 2001)
und bieten ihnen Möglichkeiten zur Selbstdarstellung, zur Präsentation,
zur Vermittlung von Nachrichten etc. Wer sagt was wo, wer verbreitet als
erster eine Nachricht, wer ist am nächsten dran an der Macht – das sind
einige der Essentials im alltäglichen Konkurrenzkampf um Top-
Nachrichten, Quoten, Absatzmöglichkeiten und Macht.
Medien sind ein Teil des gesellschaftlichen Machtsystems: Medien agieren nicht im
luftleeren Raum, sie sind Instanzen, in denen es zwar um die Ware Infor-
mation, aber nicht immer um wahre Information geht. Als Organisationen,
die mit unterschiedlicher Machtfülle ausgestattet sind, fügen sie sich in an-
dere Machtstrukturen und -hierarchien ein oder konstituieren solche selbst.
Zwar hängen Reichweite und Wirkungsmöglichkeiten vom konkreten Ty-
pus des Mediums ab, Medien strukturieren aber auf jeden Fall den Blick
auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse und können dazu beitragen, solche
durchsichtig zu machen oder zu verschleiern.
Medien sind selbst vermachtete Organisationen: Als solche haben sie zunächst
einmal ein Interesse an der Reproduktion ihrer eigenen Macht. Des Weite-
ren sind sie als hierarchische Institutionen mit verschiedenen Machtebenen
durchzogen, auf denen es unterschiedliche Befugnisse und Autoritätsver-
hältnisse gibt. Den bei ihnen beschäftigten Menschen geht es immer auch
um Macht und Einfluss, insofern finden permanent Machtkämpfe in ihnen
statt. In den Medien wird zudem auf höchst unterschiedliche Weise und
mit verschiedenartigsten Mitteln um Macht gekämpft.
Dies sind nur einige wenige, keineswegs erschöpfende Stichworte zum Thema
Macht und Medien. Es ließen sich noch andere Kontexte denken, innerhalb
derer einschlägige Thematiken bearbeitbar wären. Die Untersuchung von
418 Peter Imbusch
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Journalismus und Macht: Ein
Systematisierungs- und Analyseentwurf
Klaus-Dieter Altmeppen
sehr verschiedene Ebenen machtvoller Medien aufzeigen, als Macht in, durch
und von Medien. Allerdings geht es in diesem Band und so auch in diesem
Beitrag um die Macht des Journalismus. Ist damit automatisch auch die Macht
der Medien eingeschlossen? Und, hinsichtlich der Medien, sind damit Personen
(welche?) gemeint oder Organisationen? Ganz offensichtlich spricht Imbusch
nicht allein von – in der Medien- und Kommunikationswissenschaft – so do-
minanten Konzepten wie der Meinungsmacht oder der Marktmacht. Wer aber
übt die Meinungsmacht aus und worauf beruht Marktmacht? Sind marktmäch-
tige Medien wie die privat-kommerziellen Fernsehsender gleichzeitig auch
meinungsmächtig, obwohl ihre politische Berichterstattung nur einen geringen
Programmanteil ausmacht? Lässt sich Meinungsmacht überhaupt auf politische
Information eingrenzen? Auch Unterhaltungsangebote dürften Einfluss haben
und durchaus auch zu politischer Meinungsmacht beitragen (vielleicht auch nur
als Bestätigung der Abkehr vom Politischen). Unterhaltungsangebote haben
aber auf alle Fälle Einfluss auf Lebensstile und Freizeitverhalten und in Kom-
bination mit der Werbung kann durchaus von Unterhaltungsprogrammen ge-
sprochen werden, die gezielt und geplant, also machtvoll, das Publikumsinte-
resse ansprechen und Bedürfnisse wecken sollen.
Die Dimensionen von Macht und Journalismus provozieren mehr Fragen
(deren Anzahl sich beliebig erweitern ließe) als Antworten parat stehen. Dies
hat zwei Gründe. Erstens ist der Komplex von Macht und Journalismus ein
Desiderat in der Forschung. Machtfragen im Journalismus laufen (so etwa bei
Erhebungen über das Selbstverständnis der Journalisten) gleichsam implizit
mit. Inwieweit Einstellungen Handlungsrelevanz haben, und zwar als gewollt
machtvoll durchgesetzte Dispositionen, bleibt im Dunkeln (vgl. für den Zu-
sammenhang von Einstellungen und Handlungsrelevanz Scholl & Weischen-
berg 1998; für Macht im Zusammenhang mit kulturalistischen Ansätzen zum
Beispiel Lünenborg 2005).
Der zweite Grund liegt in der Dominanz – und gleichzeitigen Reduzierung
– der Machtfragen des Journalismus auf die zwei Faktoren der Meinungs- und
Marktmacht. Damit beschäftigen sich insbesondere die politische Kommunika-
tion und die Medienökonomie. Meinungsmacht richtet sich auf die durch die
Berichterstattung gegebene Möglichkeit, die öffentliche Meinung zu beeinflus-
sen. „Die entscheidende Macht der Massenmedien“, so Gerhards (1991: 58)
„beruht auf der Tatsache, daß sie öffentliche Meinung generieren, die Einfluß
auf die Meinungsbildung und die Ausbildung von Wahlpräferenzen nimmt.“
Bei der Marktmacht stehen die Aspekte von Medienkonzentration und Mono-
polbildung im Vordergrund, beide Machtbegriffe bilden einen engen Zusam-
Journalismus und Macht 423
menhang immer dann, wenn es um die publizistische Vielfalt geht (vgl. Hein-
rich 1999: 231f., Karmasin 1998: 182 ff.).
Wirtschaftliche und publizistische Vielfalt, und damit Macht, bilden einen
engen Zusammenhang (vgl. die Beiträge in Schatz, Jarren & Knaup 1997), der
aus dem dualen Charakter der Medienprodukte als Ware und als Kulturgut
resultiert. Die Verfügungsmacht über die Produktion und Distribution dieser
Güter eröffnet sowohl ökonomische wie publizistische Machtoptionen. Daher
hat die Medienkonzentrationspolitik nicht nur „die Entstehung und den Miss-
brauch von Marktmacht zu verhindern [...], sondern auch die Entstehung und
den Missbrauch von Meinungsmacht.“ (Seufert 1997: 258)
Neben diesen Machtformen verblassen weitere Machtfaktoren und auch bei
diesen beiden Konstrukten werden die Verästelungen von Macht, wie Imbusch
(in diesem Band) sie aufzeigt, nur vereinzelt aufgegriffen. Zudem lässt sich in
den Analysen eine diffuse, keineswegs begrifflich immer eindeutige Koinzidenz
von Medien und Journalismus sowie von Journalismus und Journalisten fest-
stellen. Damit bleibt unklar, wo beispielsweise Machtzentren lokalisiert werden
können. Lässt sich das an einzelnen Journalisten festmachen, an Redaktionen,
an bestimmten Sendungen oder Printtiteln, oder ist das Medienmanagement
ein Machtfaktor?
Für einen ersten Versuch, diesen Komplex zu sortieren, zu systematisieren
und damit zu differenzierteren Analysen zu gelangen, werden im Folgenden,
nach einer Definition des Machtbegriffs als Verfügung und Kontrolle über
Ressourcen und Ereignisse (Abschnitt 2), in einem zweiten Schritt die von
Imbusch aufgezeigten Dimensionen des power to and power over aufgegriffen
(Abschnitt 3). Dies dient zum einen dazu, Macht danach zu unterscheiden, wer
sie ausübt: Beantwortet werden soll die Frage, ob Journalisten oder journalisti-
sche Organisationen oder Medienorganisationen die Machthaber sind. Zur
Machtausübung bedienen sich die Machthaber ferner bestimmter Machtquel-
len, -mittel und -formen, die zum zweiten im Hinblick auf Journalismus kon-
kretisiert werden sollen. Im vierten Schritt werden diese Machtdimensionen
und -formen beispielhaft anhand ihrer Geltung, Intensität und Reichweite im
Journalismus geprüft (Abschnitt 4).
Webers Definition ist seither weiter entwickelt und umgedeutet worden, wobei
vor allem versucht wurde, spezifischere Begriffe zu finden als „alle denkbaren
Qualitäten und Konstellationen“. Insbesondere die Konstellationen sind dazu
konkreter benannt worden. Im Ergebnis wird Macht als eine Beziehungsgröße
zwischen Akteuren/Akteurkonstellationen mit aufeinander bezogenen Hand-
lungen verstanden, wobei die Handelnden Interessen haben, die auf gleiche
Ereignisse und Ressourcen bezogen sind. Eine Machtbeziehung ist demnach
der Bedingungs- und Bedeutungsrahmen, der die Umsetzung der [...] Verhal-
tensbereitschaften in konkretes Handeln, d.h. den konkreten sozialen Austausch
im Sinne eines Austausches oder einer gegenseitigen Übertragung von Kontrolle
über Ressourcen und Ereignisse verständlich bzw. verstehbar macht. (Küpper &
Felsch 2000: 21)
Journalismus und Macht 425
Hier ist der eigene Wille aus Webers Definition erkennbar, reformuliert als
Interesse an der Erreichung von Zielen. Zur Durchsetzung der getroffenen
Entscheidungen können Akteure handelnd Macht gebrauchen, um Ereignisse
oder Ressourcen zu kontrollieren. Den Aspekt der Kontrolle von Ressourcen
hat Giddens mit seiner Strukturationstheorie um den aktiven Aspekt erweitert,
wenn er darauf hinweist, dass die Akteure zur Durchsetzung ihres Willens
Ressourcen mobilisieren können. Ressourcen sind somit nicht nur Faktoren,
die durch Macht beherrscht werden sollen, sondern Ressourcen sind selbst
gleichfalls Machtquellen und Machtmittel, da die Verfügbarkeit und der Einsatz
der Ressourcen über die Stärke der Machtausübung entscheiden. Ein wesentli-
cher weiterer Mechanismus des rekursiven Ressourcenbegriffs von Giddens
liegt darin, dass Ressourcen unterteilt werden: allokative Ressourcen beziehen
sich auf Formen des Vermögens zur Umgestaltung der Herrschaft über Objek-
te, Güter oder materielle Phänomene, autoritative Ressourcen „beziehen sich
auf Typen des Vermögens zur Umgestaltung, die Herrschaft über Personen
oder Akteure generieren.“ (Giddens 1997: 86). Während der Besitz eines Me-
dienunternehmens beispielsweise eine typische allokative Ressource ist, kann
ein Journalist die Reputation der ihn beschäftigenden Zeitung als autoritative
Ressource einsetzen, um Zugang zu Recherchequellen zu erlangen.
Da Machtbeziehungen auf Handlungsakten gründen, bei denen die Han-
delnden (gleichgerichtete oder unterschiedliche) Interessen vertreten, entstehen
quasi automatisch Macht- und Verteilungskonflikte. Auch wenn Macht nicht
automatisch mit Konflikt verbunden ist, wendet ein Akteur Machtausübung
regelmässig an als „Versuch, die anderen Akteure innerhalb der Machtbezie-
hung zu veranlassen, ihre Verhaltensbereitschaften in das von ihm gewünschte
konkrete Verhalten zu überführen.“ (Küpper & Felsch 2000: 21)
Die Machtausübung ist gekoppelt an das Vermögen des Akteurs, seine An-
sprüche und Interessen durchzusetzen. Vermögen bedeutet, dass Machtaus-
übung selbst wiederum daran gebunden ist, dass bestimmte Machtmechanis-
men vorhanden sind. „Ein wesentliches Element von Machtbeziehungen sind
daher die Optionen, über die die beteiligten Akteure verfügen und die es ihnen
ermöglichen, ihr Verhalten ungewiss zu halten.“ (Theis-Berglmair 1997: 27) Je
größer die Optionen sind, je mehr Optionen bestehen, über Machtmittel und -
mechanismen zu verfügen, umso größer ist die Chance der Machtausübung der
Akteure, denn die Wahl zwischen Optionen erhöht den Handlungsspielraum
des Akteurs. Eine Wahl zwischen mehreren Optionen vergrößert die Unsi-
cherheit bei den weiteren Beteiligten der Machtbeziehungen, allerdings nur
dann, wenn die Optionen relevant sind für die Beteiligten (vgl. Crozier &
426 Klaus-Dieter Altmeppen
Friedberg 1979: 43), denn: nur wenn das zu behandelnde Problem oder das
Interesse der Beteiligten gleichgerichtet ist, kommt es zu Machtspielen mit
Zugewinn oder Verlust von Macht. Machtzuwachs bedeutet in solchen Situati-
onen, dass ein Akteur grössere Fähigkeiten der Kontrolle entwickeln kann, ein
Machtverlust bedeutet dementsprechend vor allem, dass die Verfügung über
Ressourcen weniger oder gar nicht mehr aktiviert werden kann und dass die
Kontrolle über die Ereignisse den Akteuren immer mehr entgleitet. Mit der
aktuellen Machtausübung sollen immer Handlungsoptionen vergrößert und
Unsicherheitszonen verringert werden (vgl. Röttger 2000: 158).
Macht ist zusammengefasst eine relationale Größe in sozialen Beziehungen,
bei denen Interessen, die von den Beteiligten gleichermaßen auf Ressourcen
und Ereignisse gerichtet sind, machtvoll durchgesetzt werden. Dies bedeutet,
dass die Beteiligten – Akteure, Akteurkonstellationen und Organisationen –
spezifisches Vermögen (wie etwa die Mobilisierung von Ressourcen) zur
Durchsetzung ihrer Interessen besitzen.
leistungen bezahlen, wobei der Begriff des Zahlens hier als Metapher zu ver-
stehen ist. Die Medienorganisationen bezahlen nämlich, indem sie den journa-
listischen Organisationen Ressourcen zur Verfügung stellen. Dieses Tauschge-
schäft, Informationsprodukte gegen Ressourcen, begründet eine Reihe von
strukturellen und sozialen Machtbeziehungen zwischen journalistischen und
Medienorganisationen.
Die Frage nach den „Machthabern“ ist folglich dreifach zu beantworten
(vgl. Abbildung 1), mit den Journalisten, den journalistischen Organisationen
und den Medienorganisationen. Alle drei potenziellen „Machthaber“ stehen in
komplexen wechselseitigen Machtbeziehungen und in komplexen Machtbezie-
hungen mit ihrer Umwelt.
MACHT
FÜR
Journalistische Medien-
Journalisten
Organisationen organisationen
partner ist sie, weil werbefinanzierte Medien auf gute Beziehungen zur Werbe-
wirtschaft angewiesen sind. Gegner ist die Werbung, weil über Tarife, Preise
und Rabatte in oftmals zähen Verhandlungen entschieden wird, in denen die
Quote oder Auflage ein zentrales und mächtiges (oder im Falle des Misserfolgs
auf dem Rezipientenmarkt ohnmächtiges) Argument ist. Diese Bedeutung der
Quote spricht prinzipiell für eine Macht der Rezipienten, die aber real nicht
vorhanden ist, denn die Rezipienten müssten organisiert sein, um ihre gemein-
samen Interessen zu artikulieren und ihre Medienwahl möglicherweise kollektiv
als Machtmittel einsetzen zu können.
Da die Medienorganisationen für die Werbung der Verhandlungspartner
sind, richten sich auch die (machtvoll vorgetragenen) Beschwerden der Wer-
bewirtschaft über unerwünschte Berichterstattung an die Medienorganisatio-
nen, insbesondere das Medienmanagement. Vermittelt über die Ko-Orientie-
rung erreichen die Beschwerden dann die journalistischen Organisationen,
wobei das Medienmanagement die Ressourcen, mit denen es die journalisti-
schen Organisationen finanziert, als Machtmittel einsetzen kann.
noch eine Rolle spielen, ob und wie diese Ziele durchsetzbar sind. Können
einzelne Journalisten, als Autoritätspersonen, publizistische Ansprüche durch-
setzen? Oder ist dies den journalistischen Organisationen vorbehalten, die als
Ganzes und mit Unterstützung ihres Redaktionsmanagements publizistische
Ziele erreichen können?
MACHT
ÜBER
Ressourcen / Ereignisse
cher Quellen, Mittel und Formen der Machtausübung ergeben sich komplexe
Geflechte asymetrischer und wechselseitiger Beziehungen, die als Machtfigura-
tion bezeichnet werden (vgl. Imbusch 1998: 13). Diese Vielfalt soll im Folgen-
den am Beispiel der journalistischen Organisation durchgespielt werden, denn
Organisation gilt als eine der wichtigsten Machtquellen moderner Gesellschaf-
ten, und zwar in doppelter Weise: als Macht der Organisation wie auch als
Organisation der Macht.
Macht der Organisation, Macht über die Organisation und Organisation der
Macht sind miteinander verknüpfte Faktoren: Die Reputation einer Redaktion,
beispielsweise als besonders investigative Institution, verschafft der Redaktion
Macht in den Umweltbeziehungen gegenüber den Recherchequellen, das Aus-
maß der Reputation hängt aber davon ab, inwieweit das Redaktionsmanage-
ment investigativen Journalismus strukturell (durch Ressourcen und Regeln)
ermöglicht und ob die journalistische Organisation bereit ist, ihren Journalisten
durch Freiräume „den Rücken zu stärken“. Die Macht über die Organisation,
also die Organisation selbst als Machtfaktor behandeln zu können, ermöglicht
somit das organisationale Handeln der Organisation nach außen. Umgekehrt
beschränken die externen Strukturen das Machtpotenzial von Organisationen,
die Macht von Organisationen findet ihre Grenzen in den Umweltstrukturen,
also auch in der Macht anderer Organisationen.
Es geht dabei in der Regel immer um den Versuch, Regelungen und Struk-
turen im Sinne der Eigeninteressen der Organisation durch machtvolles Han-
deln zu erreichen (vgl. Zimmer & Ortmann 1996). „Jede ernst zu nehmende
Analyse kollektiven Handelns muss [...] Macht in das Zentrum ihrer Überle-
gungen stellen, denn kollektives Handeln ist im Grunde nichts anderes als
alltägliche Politik. Macht ist ihr ‚Rohstoff’“ (Crozier & Friedberg 1979: 14).
Die Möglichkeiten machtvoller Handlungen in und durch journalistische
Organisationen beruhen vorrangig darauf, dass es einzelne Akteure oder Ak-
teurkonstellationen sind, die machtvoll und machtbewusst handeln. Als Mit-
glieder bestimmter Organisationen handeln sie sozusagen in deren Auftrag, ihr
Handeln wird dementsprechend von den institutionellen Ordnungen der Or-
ganisation gepägt (allerdings können immer auch sehr individuelle Interessen
eine Rolle spielen), und in erster Linie von den Zielen der journalistischen
Organisationen. Die Macht des Journalismus ist also auch eine Frage der Füh-
rung, die die Ziele der Organisation formuliert, dazu Ressourcen bereitstellt
und Regelwerke (wie die Redaktionsstruktur) etabliert (vgl. Altmeppen 2006:
209 ff.). Gleichzeitig kontrolliert das Redaktionsmanagement die Ressourcen
und Ereignisse, und avanciert gewiss zu einem zentralen und machtvollen Ak-
teur in journalistischen Organisationen, da ihm qua Autorität Entscheidungs-
hoheit zugesprochen wird. Aber das Redaktionsmanagement ist in gleichem
Maße in strukturelle Gegebenheiten und soziale Beziehungen eingebunden wie
alle anderen Organisationsmitglieder, daher unterliegt es ebenso den Spielre-
geln der Macht wie alle anderen Organisationsmitglieder (vgl. den Beitrag „Das
Organisationsdispositiv des Journalismus“ in diesem Band).
Journalismus und Macht 437
der eine ganze Lokalredaktion von einem Tag auf den anderen entlassen wurde
(vgl. Spiegel Online, 24. Januar 2007), da ihr nicht zugetraut werde, den Markt-
anforderungen gerecht zu werden. Mag dies auch ein in seiner Rigidität einma-
liger Vorgang sein, reflektiert er doch die derzeitigen Veränderungsbestrebun-
gen in der Printbranche, die über Re-Strukturierungen den Kostendruck sen-
ken will. Dieser auf breiter Front initiierte Prozess hat nicht allein konkrete
Folgen für einzelne Journalisten (von Gehaltskürzungen bis hin zu Entlassun-
gen), sondern hinterlässt Spuren bei allen Journalisten und journalistischen
Organisationen, die in den Worten von Leidinger (2003) durchaus als markt-
strukturell vermittelte Selbstzensur bezeichnet werden können. Im Gegensatz
zur klassischen staatlichen Zensur umreisst Leidinger mit diesem Begriff
Machtformen, die durch (Mit-)Eigentum funktionieren. Hierzu zählen Repres-
salien, Aufsichts-, Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten, Sinnkontroll-
mechanismen hegemonialer Instanzen, Einschränkung der Arbeitsmöglichkei-
ten, Verbote und Unterbindungsmassnahmen in technischer, organisatorischer,
rechtlicher und personeller Hinsicht (Leidinger 2003: 91):
Diese Zensurformen setzen entweder bei den JournalistInnen an – vor, während
oder nach deren Arbeitsprozess – oder nachgeordnet bei den technischen bzw.
organisatorischen Verbreitungsmöglichkeiten der Publikation. Die Formen be-
ziehen sich entweder auf einzelne Medien (binnenstrukturell) oder auf das ge-
samte Medienangebot (aussenstrukturell). Dabei sind (halb)staatliche, redaktio-
nelle, verlegerische oder unternehmerische sowie andere individuelle oder kollek-
tive Einzelpersonen als Akteure identifizierbar.
4.2 Meinungsmacht
Abschliessend soll vor dem Hintergrund der bisherigen Analyse von Journa-
lismus und Macht eines der meistbenutzten, zugleich aber schwierigsten Kon-
strukte im Kontext von Journalismus und Macht noch einmal aufgegriffen
werden: der Umgang mit der Meinungsmacht. Hilfreich sind dabei zwei Kon-
strukte, die Bruch und Türk (in diesem Band) in die Diskussion einführen: zum
Journalismus und Macht 443
einen das Konstrukt des Medienkapitals, zum zweiten dasjenige der Positions-
güter. Medienkapital wird nicht im Hinblick auf Medienorganisationen ange-
wendet, sondern als ein generelles Konstrukt, um festzustellen, welche Form
von Kapital spezifische Formen von Organisationen „zu hüten und zu mehren
trachten“. Dieses Kapital kann nun aber nicht absolut und uneingeschränkt
machtvoll eingesetzt werden, sondern nur relational zur quantitativen oder
qualitativen Verfügbarkeit dieser Güter bei anderen Organisationen. Diese
Verfügbarkeit macht das so verstandene Medienkapital zu Positionsgütern.
Beim Medienkapital geht es in vorderster Linie um die Kernkompetenzen
von Organisationen, und so wie Versicherungen ihre Kernkompetenz der heu-
tigen Absicherung allfälliger zukünftiger Risiken hüten und mehren wollen, so
sind journalistische Organisationen bestrebt, ihre Kernkompetenz der Produk-
tion aktueller und relevanter News zu hüten. In dieser Kernkompetenz gründet
die Meinungsmacht journalistischer Organisationen, denn sie ist an die Produk-
tion öffentlicher Aussagen gebunden und somit in erster Linie ein Machtfaktor,
den journalistische Organisationen einsetzen können, da sie die Produzenten
informativer und aktueller Berichterstattung sind. Typischerweise wird Mei-
nungsmacht den sogenannten Leitmedien zugeschrieben, Printmedien vor
allem, die eine hohe Koinzidenz von journalistischem Produkt und Medienor-
ganisation aufweisen, da die Berichterstattung ihre Kernressource ist und
Printmedien anders als Fernsehen oder Hörfunk kaum Produktdiversifikation
betreiben können. Meinungsmacht ist in dieser Perspektive zuallererst das
Vermögen einzelner (journalistischer) Organisationen, die öffentliche Mei-
nungsbildung durch Berichterstattung zu initiieren, weiter zu treiben und zu
beeinflussen. Journalistische Organisationen haben somit sui generis, qua öf-
fentlichem Auftrag und öffentlicher Zuschreibung, ein Medienkapital durch
das Monopol der Berichterstattung. Wie andere Machtformen können die
journalistischen Organisationen aber auch dieses Medienkapital nicht uneinge-
schränkt einsetzen. Die Balance of Power sorgt – in demokratischen Systemen –
für eine relative Verfügungsmacht über die öffentliche Meinung.
Allerdings, auch darauf macht eine organisationale Analyse aufmerksam, ist
diese Verfügungsmacht verknüpft mit einer Organisationsmacht. Kapitalstarke
journalistische Organisationen können erheblich mehr Kontrolle über Res-
sourcen und Ereignisse ausüben als weniger kapitalstarke. Sie können mehr in
die Berichterstattung investieren und somit eine potentiell bestehende Mei-
nungsmacht weiter ausbauen. Dies ist sozusagen die publizistische Form der
Anzeigen-Auflagen-Spirale, nach der höhere Auflagen zu mehr Einnahmen
führen, die wiederum in die Stärkung der Marktstellung investiert werden kön-
444 Klaus-Dieter Altmeppen
5 Resümeé
Die Macht hat, auch im Journalismus, viele Gesichter, deren Vielfalt weit über
die in der Regel diskutierte Meinungs- und Marktmacht hinausgeht. Das von
der Machtforschung erarbeitete Arsenal an Begriffen und Konstrukten zur
Macht ist bislang von der Journalismusforschung kaum aufgegriffen worden.
Mögliche Dimensionen der Macht, ihr Geltungsgrad, ihre Wirkungsintensität
und Reichweite sowie die Quellen, Mittel und Formen der Machtausübung
laufen wenn überhaupt dann allenfalls nebenbei als Gegenstand der Forschung
mit. Sie stehen aber nicht im Fokus und werden auch nur am Rande durch
systematische Begriffsarbeit getragen.
Systematischere theoretische, begriffliche und empirische Arbeit zum
Komplex Journalismus und Macht muss bei grundlegenden Fragen und Prob-
lemen ansetzen. Hierzu zählen die Aspekte des power over und power to, die in
Frageform gekleidet bereits erste Aufschlüsse und Einblicke in notwendige
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Journalismus und Macht 445
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logie, Familiensoziologie, Migrationssoziologie, vergleichende Sozialstruktur-
forschung.
Stefan Hradil, Prof. Dr. Dr. h.c., geb. 1946, Lehrstuhl für Soziologie an der
Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Arbeitsgebiete: Sozialstrukturanalyse,
auch im internationalen Vergleich, Soziale Ungleichheit, Soziale Milieus und
Lebensstile, Singles, die künftige demographische und gesellschaftliche Ent-
wicklung Deutschlands.
450 Autorinnen und Autoren
Peter Imbusch, PD Dr., geb. 1960, Privatdozent für Soziologie, vertritt zurzeit
eine Professur am Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg.
Arbeitsgebiete: Politische Soziologie, Sozialstrukturanalyse, Konflikt- und Ge-
waltforschung, soziologische Theorien.
Michael Jäckel, Prof. Dr. phil., geb. 1959, Professur für Soziologie an der Uni-
versität Trier. Arbeitsgebiete: Mediensoziologie, Konsumsoziologie, Neue
Technologien und Arbeitsorganisation, Allgemeine Soziologie.
Christoph Neuberger, Prof. Dr. phil., Dipl.-Journalist, geb. 1964, Professur für
Kommunikationswissenschaft (Schwerpunkt Journalistik) am Institut für
Kommunikationswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Müns-
ter. Arbeitsgebiete: Journalismusforschung, Internetforschung.
Stephan Russ-Mohl, Prof. Dr. rer. soc., geb. 1950, Lehrstuhl für Kommunika-
tionswissenschaft an der Università della Svizzera italiana in Lugano und Leiter
des European Journalism Observatory (www.ejo.ch). Arbeitsgebiete: Journalis-
tische Praxis, Medienmanagement
Uwe Schimank, Prof. Dr. rer. soc., geb. 1955, Lehrstuhl für Soziologie an der
FernUniversität Hagen, Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften. Ar-
beitsgebiete: Soziologische Gesellschaftstheorie, Organisationssoziologie,
Sportsoziologie, Hochschulforschung.
Autorinnen und Autoren 451
Carsten Schlüter, M.A., geb. 1971, Redakteur beim Goodwill Verlag Lünen.
Arbeitsgebiete: Interaktionsforschung, Journalismusforschung, qualitative Me-
thoden.
Klaus Türk, Prof. Dr. rer. pol., geb. 1944, Professur für Soziologie, insbesonde-
re Soziologie der Organisation an der Bergischen Universität Wuppertal. Ar-
beitsgebiete: Organisationssoziologie, Gesellschaftstheorie, Kulturgeschichte
der Arbeit.
Herbert Willems, Prof. Dr. phil., geb. 1956, Prof. für Soziologie mit den
Schwerpunkten Mikrosoziologie und qualitative Sozialforschung am Institut
für Soziologie der Universität Gießen. Arbeitsgebiete: Mikrosoziologie, Mas-
senmedien, Theatralisierungsprozesse.
Arnold Windeler, Prof. Dr. phil., geb. 1956, Lehrstuhl für Soziologie, Fachge-
biet Organisationssoziologie am Institut für Soziologie der Technischen Uni-
versität Berlin. Arbeitsgebiete: Organisations- und Sozialtheorie, Industrieso-
ziologie und interorganisationale Netzwerke.