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Handbuch
Medienwirkungsforschung
Herausgeber
Wolfgang Schweiger Andreas Fahr
TU Ilmenau, Deutschland Universität Erfurt, Deutschland
Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2013
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Teil 1
Kommunikationswissenschaftliche Grundlagen & disziplinäre Zugänge
Wolfgang Schweiger
Grundlagen: Was sind Medienwirkungen ? – Überblick und Systematik . . . 15
Werner Früh
Wissenschaftstheoretische Grundlagen empirischer Forschung . . . . . . . 39
Michael Jäckel
Soziologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Sabine Trepte
Psychologie als Grundlagenfach der Medienwirkungsforschung . . . . . . 89
Jeffrey Wimmer
Kontextualisierung versus Komplexitätsreduktion.
Medienwirkung aus kulturtheoretischer Perspektive . . . . . . . . . . . . 113
Teil 2
Schwerpunkt Informationsverarbeitung, Wissen & Lernen
Hannah Früh
Grundlagen: Informationsverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Christian Schemer
Priming, Framing, Stereotype . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
Constanze Rossmann
Kultivierungsforschung: Idee, Entwicklung und Integration . . . . . . . . . 207
Teil 3
Schwerpunkt Emotionen und Erleben
Werner Wirth
Grundlagen emotionaler Medienwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Matthias R. Hastall
Spannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
Matthias Hofer
Präsenzerleben und Transportation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
Nicola Döring
Wie Medienpersonen Emotionen und Selbstkonzept
der Mediennutzer beeinflussen.
Empathie, sozialer Vergleich, parasoziale Beziehung und Identifikation . . . 295
Teil 4
Schwerpunkt Einstellung & Verhalten
Katharina Sommer
Wirkung von Wirtschaftsberichterstattung – eine Systematisierung . . . . . 369
Katja Friedrich
Wirkungen gewalthaltiger Medienangebote . . . . . . . . . . . . . . . . 401
Nicola Döring
Sexuell explizite Medienangebote:
Produktion, Inhalte, Nutzung und Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . 419
Teil 5
Schwerpunkt Öffentlichkeit & Gesellschaft
Thomas Roessing
Öffentliche Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481
Nicole Zillien
Wissenskluftforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495
Veronika Karnowski
Diffusionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513
Teil 6
Methoden der Medienwirkungsforschung
Marcus Maurer
Grundlagen: Designs und Forschungslogik
in der Medienwirkungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549
Volker Gehrau
Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581
Andreas Fahr
Physiologische Ansätze der Wirkungsmessung . . . . . . . . . . . . . . . 601
Lothar Mikos
Qualitative Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627
Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649
Vorwort
In einem sind sich Medienwirkungsforscher meist schnell einig: Dass die Wirkung
von Medien das relevanteste Forschungsfeld der Kommunikationswissenschaft dar-
stellt – gelegentlich ist auch von der ‚Königsdisziplin‘ die Rede. Ohne über Superlative
streiten zu wollen, kann man ohne Zweifel behaupten, dass sich jede wissenschaftli-
che Beschäftigung mit Massenmedien nur in Hinblick auf potenzielle oder tatsächli-
che Wirkungen begründen lässt. Ohne zumindest eine implizite Wirkungsvermutung
zu haben, bräuchte man keine Journalismus-, PR-, Werbe- oder sonstige Kommunika-
torforschung. Man hätte auch keine überzeugende Rechtfertigung für Inhaltsanalysen,
Rezipientenbefragungen oder Reichweitenuntersuchungen. Denn warum sollte man die
Interaktion zwischen Medien und Publikum untersuchen, wenn sich keine Folgen dar-
aus ergeben würden ? Warum sollte man Inhalt und Struktur von Medienangeboten un-
tersuchen, wenn man nicht davon ausgehen würde, dass diese Angebote zur Informa-
tion, Orientierung oder Unterhaltung genutzt werden und folglich Spuren hinterlassen ?
Selbst in der angewandten Media- und Publikumsforschung geht es um Wirkungen, die
Medieninhalte auf das Publikum ausüben – Selektion, Dauer und Intensität der Zuwen-
dung, Loyalität usw. –, und die letztlich den publizistischen und ökonomischen Erfolg
von Medieninstitutionen ausmachen. Medienwirkungen auf Individuen, Gruppen, Or-
ganisationen und Gesellschaften sind damit die zentrale Relevanzbegründung jeglicher
kommunikationswissenschaftlichen Forschung – sieht man einmal vom reinen Rück-
schluss vom Medieninhalt auf die Intentionen der Kommunikatoren ab. Aber auch hier
gilt: Kommunikatoren handeln beinahe immer intendiert und damit auf Basis impliziter
oder expliziter Wirkungsvermutungen.
Damit ist natürlich noch nichts zur Bedeutung der Wirkungsforschung selbst ge-
sagt. Doch ein Blick auf öffentliche Debatten bestätigt schnell die gesellschaftliche Be-
deutung des Feldes: Jedes neues Medium wird auf alle möglichen Effekte abgeklopft,
und nahezu jedes soziale Phänomen mit Medieneinflüssen in Verbindung gebracht.
Das fing bei Sokrates’ Überlegungen zur gedächtniszersetzenden Wirkung von Schrift
an, setzte sich in medienkritischen Beiträgen zur Zeitungs-, Kino-, Fernseh-, Internet-,
Computerspiel- und zuletzt Social Media-Sucht fort und kulminiert schließlich in De-
batten zu Vereinsamung, Verfettung, Verdummung, Verrohung, Aggression und Ge-
walt. Nahezu jeder ist von Medienwirkungen betroffen und nahezu jeder kann mitreden.
Dabei ist die (medienpolitische) öffentliche Diskussion in aller Regel an negativ-dra-
matischen Einzelfällen ausgerichtet, moralisch stark aufgeladen, wird in der Vorstel-
lung simpler Reiz-Reaktions-Mechanismen und nahezu ausschließlich aus bürgerlich-
intellektueller Perspektive geführt. Insbesondere die jüngere Diskussion um Gewalt-,
10 Vorwort
Talk- und Reality-Formate hat eine Bewertung von Medienwirkungen als Teil von Kultur
und Lebenswelt mitunter mehr erschwert als befruchtet. Neben den zahllosen negativen
Wirkungsdebatten existieren beinahe unbemerkt auch positive Wirkungsvorstellungen,
so z. B. die Annahme, die Internetverbreitung sei ein Indikator für den Entwicklungs-
stand und die Leistungsfähigkeit von Gesellschaften. Unbestritten sind auch Bildungs-
potenzial und Vielfalt von Informationsangeboten – so Rezipienten denn den Willen
und die nötige Medienkompetenz mitbringen, die Angebote für die eigenen Ziele klug
zu nutzen. Unter Kommunikatoren sind ‚positive‘ Medienwirkungen ohnehin unbestrit-
ten. Kein Werbe- oder PR-Praktiker – geschweige denn sein oder ihr Auftraggeber –
geht davon aus, dass ressourcenintensive Medienengagements wirklungslos bleiben.
Das gilt auch für den Journalismus. Wer wollte journalistisch arbeiten, wenn er / sie nicht
zumindest von der Informations- und Unterhaltungsfunktion der Medien überzeugt
wäre, ganz zu schweigen von ihrer Artikulations-, Integrations-, Sozialisations-, Kritik-
und Kontrollfunktion ? Und natürlich erwarten sich auch Rezipienten bei ihrer persön-
lichen Mediennutzung positive Effekte bzw. Gratifikationen wie Information, Spannung,
Unterhaltung oder Themen für ihre Anschlusskommunikation.
Auch in der Kommunikationswissenschaft ist die Wirkungsforschung – gemessen
am Output – eins der größten Felder, das zudem stetig wächst. Hier stehen negative
Wirkungsannahmen und -evidenzen seltener im Mittelpunkt als in den öffentlichen De-
batten. Häufiger geht es um Medienfunktionen, d. h. um intendierte, positive Medien-
effekte wie beispielsweise um Informationsverbreitung, Lernen oder Identitätsbildung.
Natürlich ist auch für die Analyse medialer Dysfunktionen ausreichend Platz. In allen
Fällen liegt der Schwerpunkt nicht auf simplen Kausalvorstellungen von Medienwirkun-
gen – die Forschung setzt sich vielmehr mit den individuellen, situativen und gesell-
schaftlichen Determinanten auseinander, die die Umstände spezifizieren, unter denen
bestimme Medienwirkungen auftreten. Die 33 Beiträge des vorliegenden Bandes de-
monstrieren dabei, dass Medienwirkungen aus wissenschaftlicher Sicht nahezu immer
zwei Seiten haben, die sich meist zu einem ambivalenten Bild zusammenfügen.
Als Teildisziplin einer sozialwissenschaftlichen Kommunikationswissenschaft weist
die Wirkungsforschung eine große Nähe zur Psychologie und zur Soziologie auf. Mit
der Psychologie, dort vor allem der Allgemeinen-, Persönlichkeits- und Sozialpsy-
chologie, hat wohl die Mehrheit der Wirkungsforscher zwei Grundorientierungen ge-
meinsam: eine Präferenz quantitativ-empirischer Methoden und eine Fokussierung auf
Medienwirkungen gegenüber individuellen Mediennutzern (Mikroperspektive). Sozio-
logisch orientierte Wirkungsforscher hingegen – häufig weisen sie auch politik- oder
wirtschaftswissenschaftliche Prägungen auf – betonen eher Medieneinflüsse auf gesell-
schaftliche Gruppen oder Netzwerke (Mesoperspektive) bzw. die Gesellschaft als Gan-
zes (Makroperspektive). Dort wird auch über Medialisierung im Sinne einer Koloniali-
sierung von Gesellschaftsbereichen durch mediale Logiken diskutiert – eine Perspektive,
die schließlich eine Verbindung zur meist qualitativ-empirischen Aneignungsforschung
kulturwissenschaftlicher Herkunft herstellt. Dort ist allerdings so gut wie nie die Rede
Vorwort 11
Wolfgang Schweiger & Andreas Fahr Ilmenau & Erfurt, im Januar 2013
Literatur
Abstract Nach einer Skizze der historischen Entwicklung der Medienwirkungsforschung und ihrer öf-
fentlichen Relevanz bzw. Wahrnehmung stellt der Beitrag eine umfassende Systematik von Wirkungs-
dimensionen vor. Alle Dimensionen werden anhand von praktischen Forschungsbeispielen erläutert
und diskutiert. Besondere Berücksichtigung finden dabei theoretische, methodische und kausalitäts-
logische Überlegungen sowie deren Nachvollziehbarkeit und Relevanz in öffentlichen Debatten zu Me-
dienwirkungen.
Andere Medienwirkungen stehen seltener in der öffentlichen Debatte, sind aber von
so großer gesellschaftlicher Relevanz, dass sie den Ausgangspunkt medienpolitischer
und -rechtlicher Kontrolle und Regulierung bilden: Beispiele sind die hinlänglich be-
kannte Informations-, Bildungs-, Kritik- und Kontrollfunktion der Medien oder ihre
Integrationsfunktion. Letztere bezeichnet die Hoffnung, dass die Massenmedien mit ih-
ren Inhalten und Themen ein wichtiges Bindeglied zwischen ansonsten voneinander
isolierten Bevölkerungsgruppen darstellen, indem sie gemeinsame Themen (Agenda-
Setting), Kenntnisse und Werte schaffen und damit den Zusammenhalt und demokra-
tische Identität stärken. Generell geht es aus gesellschaftlicher Sicht um die Fragen, was
die Bürger mittels Massenmedien und Nachrichten über die gesellschaftliche Realität,
das politische System oder über aktuelle Ereignisse lernen, und welchen Einfluss dies
auf die öffentliche Meinung hat.
Wiederum andere Medienwirkungen interessieren eher Organisationen oder Fach-
öffentlichkeiten: Hier geht es beispielsweise um die Wirksamkeit von Werbe-, PR- oder
Informationskampagnen oder um die optimale Gestaltung von Medienprodukten. Das
größte Interesse an Medienwirkungsforschung haben folgende Akteursgruppen (in An-
lehnung an Bonfadelli 2001: 10 ff.): Medienorganisationen und Medienschaffende, Wer-
bewirtschaft und Werbetreibende, staatliche und politische Akteure sowie Kulturkri-
tiker.
Und wie sieht es in der akademischen Medienwirkungsforschung aus ? Inhaltsana-
lysen von wissenschaftlichen Publikationen und studentischen Abschlussarbeiten in
der Kommunikationswissenschaft zeichnen folgendes Bild: In der englischsprachi-
gen Literatur nimmt die Menge von Wirkungsstudien seit den 1950er-Jahren stetig zu
(Neuman & Guggenheim 2011). In den deutschen Zeitschriften Medien & Kommuni-
kationswissenschaft (früher: Rundfunk und Fernsehen) und Publizistik geriet die Wir-
kungsforschung erst Ende der 1980er-Jahre in den Fokus (inkl. Nutzungsforschung
und Medienpsychologie). Seit diesem Zeitpunkt befasst sich ca. ein Viertel der Studien
mit entsprechenden Themen (vgl. Donsbach et al. 2005: 57). In deutschsprachigen Ab-
schlussarbeiten waren Studien zur Mediennutzung von 1999 bis 2008 gleichermaßen
beliebt (jeweils ca. 15 Prozent aller in Transfer veröffentlichten Arbeiten, vgl. Schweiger
et al. 2009: 541). Wirkungsforschungs-Themen hingegen spielten um 2000 mit fünf Pro-
zent noch kaum eine Rolle, was vermutlich am hohen empirischen Aufwand lag. Seither
ist ihr Anteil aber stetig gestiegen und lag 2008 bei 17 Prozent – vermutlich aufgrund
des Zuwachses qualitativer Studien und der verhältnismäßig einfachen Durchführung
quantitativer Onlinebefragungen. Fasst man Wirkungs- und Nutzungsstudien zusam-
men, beschäftigte sich 2008 fast jede dritte deutschsprachige Abschlussarbeit mit Wir-
kungen der Medien (ebd.).
Die bisherigen Ausführungen vermitteln einen ersten Eindruck der Bedeutung und
Vielfalt von Medienwirkungen. Der folgende Beitrag versucht deshalb, die wichtigsten
Dimensionen zu systematisieren, anhand von Beispielen zu illustrieren und einige me-
thodische Implikationen zu diskutieren.
Grundlagen: Was sind Medienwirkungen ? – Überblick und Systematik 17
Zunächst wollen wir die Ausgangspunkte und groben Entwicklungslinien der Wir-
kungsforschung betrachten, um aktuelle Strömungen besser zu verstehen (vgl. hierzu
auch Jäckel in diesem Band sowie Neuman & Guggenheim 2011). Die wohl erste Aus-
sage zu Medienwirkungen stammt von Platon. In seinem Phaidros-Dialog (4. Jahrhun-
dert v. Chr.) lässt er Sokrates sagen, die Schrift verschlechtere die Erinnerungsfähigkeit
der Lernenden, weil sie im Vertrauen auf Aufzeichnungen ihr Gedächtnis vernachlässi-
gen. Als dann ab dem 17. Jh. die Zeitung populär wurde, ließen kritische Überlegungen
zur Nutzung und Wirkung des neuen Mediums nicht lang auf sich warten: So geißelte
der Jurist und Kirchenlieddichter Ahasver Fritsch die „Zeitungssucht“ als „eitles, un-
nötiges, unzeitiges und daher arbeitsstörendes, mit unersättlicher Begierde getriebenes
Zeitungslesen“ (zit. n. Wilke 2009: 506). Im 20. Jahrhundert kam das Kino. In einer groß
angelegten empirischen Studienreihe, den „Payne Fund Studies“ (1929 bis 1932), wur-
den u. a. kognitive, affektive, einstellungsrelevante und konative Wirkungen des neuen
Mediums auf Kinder untersucht. Die Studie fand in der damaligen US-Öffentlichkeit
große Beachtung und nährte den Glauben an starke, überwiegend negative Medien-
wirkungen (vgl. Lowery & DeFleur 1995: 382). Dieser Glaube wurde durch Orson Wel-
les’ Radio-Hörspiel „War of the Worlds“ von 1938 verstärkt. Welles gelang es, die Live-
Berichterstattung über einen vermeintlichen Angriff der Marsianer auf die USA derart
authentisch zu fingieren, dass viele Zuhörer Angst bekamen. Auch wenn es sich bei ex-
tremen Publikumsreaktionen (z. B. Flucht aus der Stadt) nur um Einzelfälle handelte
(Cantril 1940), entstand in der Öffentlichkeit der Eindruck einer heftigen Medienwir-
kung. Gleichzeitig perfektionierten europäische Diktaturen – allen voran der National-
sozialismus und die kommunistische Sowjetunion – die Beeinflussung der Bevölkerung
durch Agitation und Propaganda in Radio, Film und Presse. In der Propagandaschlacht
des zweiten Weltkriegs waren es wiederum die USA, die die persuasive Kraft ihrer Pro-
pagandainstrumente erstmals mittels empirischer Forschung optimierten. Die Namen
der mit diesen Studien verbundenen Forscher Carl I. Hovland und Harold D. Lasswell
sind noch heute jedem Studierenden der Kommunikationswissenschaft geläufig (vgl.
hierzu z. B. Schulz 2003).
Der Glaube an die suggestiv-persuasive Macht der Medien, die Massen zu manipu-
lieren, zu narkotisieren, zu verführen oder gar zu vergewaltigen – der Titel eines Ban-
des von Chakotin (1940) lautete denn auch „Rape of the Masses“ (vgl. hierzu ausführ-
lich Bussemer 2003: 183 ff.) – speiste sich aus zwei Quellen: Erstens hatten in Psychologie
und Soziologie Theorien Konjunktur, die allesamt eine unmittelbare Beinflussbarkeit
des Individuums durch äußere Stimuli annahmen und theoretisch begründeten. In der
Psychologie waren das Instinkttheorie, Konditionierung und Behaviorismus, in der So-
ziologie die Theorie der Massengesellschaft (vgl. Bussemer 2003: 178). Doch es kam
zweitens hinzu, dass die Massenmedien Radio und Film damals gänzlich neue, faszinie-
rende Phänomene waren, denen man vieles zutraute. Und die Zeiten waren von Krieg,
18 Wolfgang Schweiger
Bedrohung und Diktatur sowie dem Kampf zwischen Ideologien geprägt, so dass die
Frage nach negativen, einstellungsverändernden Wirkungen im Vordergrund stand.
In ihrer Panelstudie ‚The People’s Choice‘ stellten Lazarsfeld, Berelson & Gaudet
(1944) u. a. fest, dass die Massenmedien kaum Meinungen verändern, sondern besten-
falls verstärken können. In späteren Studien wurde der stärkere persuasive Einfluss in-
terpersonaler Kommunikation und ein zweistufiger Kommunikationsfluss beschrieben
(Katz & Lazarsfeld 1955). Die wissenschaftliche Debatte wandte sich von der Persua-
sionsforschung ab und konzentrierte sich stärker auf Lerneffekte (vgl. die Beiträge in
Teil 2 dieses Bandes). In den 1970er-Jahren stellten u. a. Elisabeth Noelle-Neumann und
George Gerbner fest, dass die Massenmedien – allen voran das Fernsehen – einen Ein-
fluss auf die Realitätswahrnehmung und die Einstellungen der Rezipienten haben (siehe
Abschnitt 3.1). Besonders das Fernsehen geriet in den öffentlichen und wissenschaftli-
chen Fokus und zog viel Kritik auf sich (siehe Abschnitt 3.4). Auch im Uses-and-Grati-
fications-Ansatz ging es meist ums Fernsehen.
Aus diesem Rückblick lassen sich mehrere Punkte ableiten: (1) Die Wirkungsfor-
schung hat sich schon immer bevorzugt mit neuen Medien befasst (vgl. Bonfadelli
2001: 13 f.). Häufig wurden Medien isoliert betrachtet, während Einflüsse der gesamten
Medienkonstellation zu kurz kamen – eine Ausnahme bilden die soeben angesprochenen
intermediären Uses-and-Gratifications-Vergleiche. (2) Die Medienwirkungsforschung
beschäftigt sich mit höchst unterschiedlichen Phänomenen, so dass eine einheitliche
Definition des Feldes schwer fällt. (3) Die Öffentlichkeit interessiert sich am meisten für
die ‚unheimlichen‘ und ‚bedrohlichen‘ Seiten von Medien und für menschliche Schick-
sale, also für Manipulation, Suggestion, Sex, Gewalt usw. (vgl. Schulz 1982: 49). Entspre-
chend stehen dort meist negative psychologische Aspekte im Mittelpunkt. Dass Medien-
berichte z. B. auch erhebliche ökonomische oder politische Effekte verursachen können,
fasziniert weniger. (4) Öffentlichkeit und Wissenschaft ist gleichermaßen an starken
Medienwirkungen gelegen: Für die Öffentlichkeit haben schwache Wirkungen nur ge-
ringen Nachrichtenwert. So kommt es, dass seit jeher eine „alltagsweltliche Konzeption
von Medienallmacht“ (Bonfadelli 2001: 12) zu beobachten war. Und empirischen Wir-
kungsforschern kann man getrost unterstellen, dass sie in aufwändigen Studien lieber
über starke Effekte berichten als die Nullhypothese bestätigen und damit Medienwir-
kungen ablehnen müssen.
Wir können zusammenfassen: Die Wirkungsforschung konzentriert sich auf die
„a) intendierte, b) kurzfristige c) Beeinflussung von Meinungen und Einstellungen
von d) Personen durch eine e) persuasive Medienbotschaft“ (Bonfadelli 2001: 15). Da-
bei hat bereits Maletzke (1963: 190) Medienwirkungen weit breiter definiert, und zwar
als „sämtliche Prozesse, die sich in der postkommunikativen Phase als Folge der Mas-
senkommunikation abspielen und zum anderen in der eigentlichen kommunikativen
Phase alle Verhaltensweisen, die aus der Zuwendung des Menschen zu Aussagen der
Massenkommunikation resultieren.“ Die Definition umfasst in ihrem zweiten Teil auch
Wirkungen, die sich beim Rezipienten während der Medienzuwendung ereignen, also
Grundlagen: Was sind Medienwirkungen ? – Überblick und Systematik 19
Tabelle 1 trägt alle Dimensionen zusammen, in denen man – aufbauend auf bisherige
Systematisierungen (z. B. McLeod et al. 1991; Bonfadelli 2001) – Medienwirkungen und
ihre empirische Analyse betrachten kann. Wie bereits angedeutet, sind einige davon
in öffentlichen Debatten nachvollziehbar und präsent. Andere sind fast ausschließlich
empirischen Medienwirkungsforschern bzw. Sozialwissenschaftlern geläufig und Laien
bzw. einer breiten Öffentlichkeit aufgrund der logischen oder methodischen Komple-
xität schwer verständlich zu machen. Die Anordnung der Dimensionen in der Tabelle
soll hiervon lediglich eine groben Eindruck vermitteln; über die konkrete Abfolge lässt
sich streiten.
Beginnen wir mit Medienwirkungen auf Individuen. Sie können sich auf Kognitionen,
Affekte, Einstellungen und das Verhalten niederschlagen. Diese in der Wirkungsfor-
schung am weitesten verbreitete Unterscheidung liegt auch den Teilen 2 bis 4 dieses
Handbuches zugrunde.
Kognitive Effekte betreffen das Wissen bzw. den Erwerb von Wissen (Lernen) als ab-
hängige Variable. Das Feld reicht vom allgemeinen Weltwissen (zunächst als episodi-
sches und später als semantisches, d. h. situationsübergreifendes Wissen) über domä-
nenspezifische Kenntnisse und Kompetenzen (z. B. Gesundheitskommunikation) bis
hin zur politischen Informiertheit. Wichtige Forschungsfelder sind hier neben der an-
gewandten Werbewirkungsforschung das Nachrichten-Lernen (Wie viel verstehen und
lernen Nachrichtenrezipienten bzw. wie viel vergessen sie wieder ?) und Realitätsver-
mittlung (Welche Effekte hat eine verzerrte Realitätsdarstellung in den Medien auf das
Publikum ?). Prominenz erlangte hier George Gerbners Kultivierungsansatz zum Ein-
Grundlagen: Was sind Medienwirkungen ? – Überblick und Systematik 21
fluss des Fernsehens auf Vielseher; neuerdings befassen sich Studien auch mit entspre-
chenden Wirkungen von Computerspielen und virtuellen Umgebungen. Weitere As-
pekte sind persönliche oder wahrgenommene Themenagenden (Agenda Setting: Welche
Themen sind wichtig bzw. lösungsbedürftig ?), Stereotype bzw. Frames als Interpreta-
tionsrahmen von Themen, Ereignissen oder Akteuren, sowie die Annahme, dass Dritte
von negativen Medienwirkungen stärker betroffen sind als man selbst (Third-Person-Ef-
fect). In medienpsychologischen Studien wird nicht nur das bereits erworbene Wissen
von Rezipienten in Abhängigkeit von Medieneinflüssen untersucht, sondern auch die
einzelnen Prozessstufen des Wissenserwerbs. Sie reichen von der Aufmerksamkeitsallo-
kation, also der Zuwendung zu bestimmten Umweltreizen (z. B. Orientierungsreaktion
auf überraschende Umweltreize), über ihre sensorische Wahrnehmung, ihre Informa-
tionsverarbeitung und -speicherung, bis zum Abruf bzw. zur kognitiven Verfügbarkeit
von Wissensbeständen in konkreten Situationen (z. B. im Rahmen vom Entscheidungen
oder Befragungen). In der Uses-and-Gratifications-Forschung gilt das Bedürfnis nach
Wissen schließlich als wesentliches Mediennutzungsmotiv: als Informationsmotiv, aber
auch im Zusammenhang mit Integrations- oder Identitätsmotiven – auch diese erfor-
dern die Suche nach und Aufnahme von Informationen, so z. B. beim sozialen Vergleich
mit anderen Personen oder Gruppen.
Affekte bzw. emotionale Medieneffekte wurden seltener untersucht (vgl. Donsbach
et al. 2005: 59). Hier geht es um die Beeinflussung des individuellen Erregungsniveaus
(Arousal), von Gefühlen bzw. subjektiv wahrgenommenen Gefühlsempfindungen (Ap-
praisal) und längerfristigen Stimmungen. Eminente öffentliche Beachtung findet die
Frage, inwiefern (fiktionale wie reale) Gewaltdarstellungen im Fernsehen und in Com-
puterspielen sowie andere erregende Medieninhalte (vor allem Pornografie) die situa-
tive Erregung der Rezipienten steigern und in der Folge zu aggressivem Verhalten oder
aber zu Habitualisierung und damit Desensibilisierung gegenüber Gewalt und Porno-
grafie führen können. Eine viel beachtete Theorie ist der Excitation-Transfer-Ansatz
von Zillmann (1983). Er besagt, dass die Rezeption erregender Medieninhalte zu einem
erhöhten Erregungsniveau führt, das erst einige Minuten nach der eigentlichen Me-
dienzuwendung absinkt, und deshalb in nachfolgenden Situationen das Verhalten der
Rezipienten beeinflussen kann (meist negativ im Sinne aggressiven Verhaltens). In me-
dienpsychologischen Studien wird auch der Einfluss von Emotionen auf die Informa-
tionsverarbeitung während der Rezeption und damit auf Lerneffekte thematisiert. Diese
gelten – je nach Situation – entweder als lernhemmend, weil der Rezipient von sei-
nen Gefühlen abgelenkt wird, oder als lernfördernd, weil sie Emotionen aktivieren und
motivieren können. Die Uses-and-Gratifications-Forschung begreift Emotionen bzw.
das menschliche Bedürfnis nach Emotionen wiederum als Auslöser von Mediennut-
zung und als Motiv der Medienselektion. Im weiten Feld der Unterhaltungsforschung
ist besonders die Mood-Management-Theorie zu nennen, die das Fernsehen und andere
Bildmedien als unbewusst genutzte Instrumente der Emotions- und Stimmungsregulie-
rung betrachtet (z. B. Zillmann 2000).
22 Wolfgang Schweiger
Medienwirkungen werden entweder vom Urheber – das ist in der Regel der Produzent
des wirksamen Mediums bzw. Medieninhalts – intendiert oder zumindest in Kauf ge-
nommen, oder sie ereignen sich unbeabsichtigt und zufällig (quasi als Kollateralscha-
den). Während wahrscheinlich niemand negative Wirkungen von Mediengewalt beab-
sichtigt – die Medienmacher würden sich damit ja selbst schaden –, sind viele Wissens-,
Einstellungs- und Verhaltensveränderungen intendiert: Nachrichten wollen die Rezi-
pienten informieren und damit ihr Wissen erweitern; Werbung will Konsumenten zum
Kauf bewegen; politische Akteure wollen die Bürger mit Polit-PR, Wahlkampagnen usw.
in ihrer politischen Meinung und in ihrem Wahlverhalten beeinflussen; Gesundheits-,
Umwelt- und Sozialkampagnen zielen natürlich auf Wissen, Einstellungen und Verhal-
ten ab (z. B. Spenden, Energiesparen, Gesundheitsvorsorge).
In der deutschen Kommunikationswissenschaft tobte viele Jahre eine heftige De-
batte über die Frage, ob Journalisten die Meinungen der Bürger bewusst beeinflussen
oder nicht. Die sog. Objektivisten der ‚Mainzer Schule‘ (Wortführer: Elisabeth Noelle-
Neumann, Hans Mathias Kepplinger und Wolfgang Donsbach) favorisieren das ‚finale
Modell‘. Es besagt, dass die überwiegend linksorientierten Journalisten in ihrer Be-
richterstattung Sachverhalte, Meinungen und Akteure überbetonen (‚instrumentell ak-
tualisieren‘), die mit ihren persönlichen Einstellungen konform sind, und damit die po-
litische Meinung ihrer Rezipienten beeinflussen wollen. Auf der anderen Seite standen
die Konstruktivisten der ‚Münsteraner Schule‘ (Wortführer: Klaus Merten und Siegfried
Weischenberg). Sie lehnten die Annahme intendierter Persuasion durch Journalisten ab:
Erstens ist jeder Journalist eingebunden in ein vielschichtiges System mit teilweise un-
Grundlagen: Was sind Medienwirkungen ? – Überblick und Systematik 23
Das öffentliche und wissenschaftliche Interesse an Medienwirkungen lässt sich grob auf
drei Relevanzfelder verteilen: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Politisch relevante Wirkungsforschung befasst sich häufig mit Wahlkämpfen, Wahl-
werbung und der Medienberichterstattung als Einflussfaktoren und den Images von Po-
litikern und Parteien, politischen Präferenzen der Bürger, ihrem Interesse bzw. Des-
interesse an Politik (Politikverdrossenheit) sowie ihrem Wahlverhalten als abhängige
Variable (vgl. Reinemann & Thomas in diesem Band). Häufig anzutreffen sind hier
Kombinationen von Inhaltsanalysen (Wahlwerbung, Berichterstattung usw.) und Bür-
gerbefragungen. In letzter Zeit untersucht eine zunehmende Zahl von Studien politische
Kommunikation auch außerhalb von Wahlkämpfen, z. B. das Verhältnis zwischen poli-
24 Wolfgang Schweiger
tischen Akteuren und den Medien (Stichworte sind Polit-PR, Symbolpolitik, Amerika-
nisierung, Mediatisierung, Video bzw. Media Malaise) und die daraus resultierenden
Wirkungen oder den Einfluss moderner Kommunikationsmittel (Online und zuletzt be-
sonders Social Media) auf die Kommunikation der politischen Akteure und das Infor-
mationsverhalten der Bürger. Vor allem das nachlassende Interesse jüngerer Menschen
an politischen Nachrichten in klassischen Massenmedien (inkl. Nachrichten-Websites)
und ihre Zuwendung zu Social Media gelten als Problem: Die dortigen persönlichen
Empfehlungsmechanismen geben Nutzern zwar einen ständigen Überblick über ihre
speziellen Interessensgebiete und ihr soziales Umfeld, sie liefern aber kaum regelmä-
ßige und einheitlich strukturierte Informationen über das aktuelle politische Geschehen,
wie das Nachrichtenmedien leisten, sondern eher punktuelle Einsichten in bestimmte
Einzelthemen (vgl. hierzu Donsbach 2011; sowie den Überblick von Emmer & Wolling
2010).
Das Relevanzfeld Wirtschaft wird, was die Zahl der Studien betrifft, eindeutig von der
Werbe-, PR- und Marketingforschung dominiert. Im Wesentlichen geht es um die Ent-
wicklung erfolgreicher Werbestrategien hinsichtlich Werbemittelgestaltung, Mediapla-
nung (Werbeträgerauswahl), Kampagnenkonzeption (z. B. Crossmedia) sowie um die
(angewandte) Evaluation konkreter Werbeinstrumente und -strategien. Auf der Wir-
kungsseite stehen kognitive (z. B. Markenbekanntheit), einstellungsbezogene (z. B. Mar-
kenimage, Unternehmensreputation, Vertrauen) und konative Variablen (Kauf, Nut-
zung sowie zunehmend Weiterempfehlung). Ein anderes Forschungsfeld befasst sich
mit der Diffusion von Innovationen (z. B. Medientechniken, neue Inhalte und Genres,
Spiele) in der Gesellschaft bzw. in bestimmten Segmenten. Auch angewandte Usability-
Tests gehören in diesen Bereich. Neben Studien, die der praktischen Optimierung von
Kommunikation dienen – man könnte von betriebswirtschaftlich relevanter Forschung
reden –, gibt es eine kleinere Gruppe mit gesellschaftlich-volkswirtschaftlicher Aus-
richtung. Diese Studien beschäftigen sich z. B. mit dem Einfluss der Wirtschaftsbericht-
erstattung auf Börsenkurse oder das sonstige Marktgeschehen (z. B. Scheufele et al. 2011).
Im Relevanzfeld Gesellschaft finden sich schließlich alle Studien, die gesellschaftli-
che Phänomene oder Entwicklungen in einen Zusammenhang mit Medien, Journalis-
mus oder Kommunikation stellen. In diesem weiten Feld besonders hervorzuheben ist
die Gesundheitskommunikation, die in den letzten Jahren vor allem in den USA erheb-
lich an Bedeutung gewonnen hat. Dort geht es teilweise um funktionale Medieneffekte
wie z. B. gesundheitsfördernde Wirkungen von Gesundheits- / Vorsorgekampagnen (z. B.
Krebsvorsorge, Nichtrauchen, Ernährung). Doch auch hier stehen dysfunktionale Wir-
kungen, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung, im Mittelpunkt. Beispielsweise
geht es um die Frage, ob die Dauerpräsenz superschlanker Models in Unterhaltungs-
medien Essstörungen verursachen kann (vgl. Rossmann in diesem Band). Auch Ge-
waltdarstellungen und Pornografie gelten als Ursachen dysfunktionaler Medienwirkun-
gen. Bei Gewalt liegt der Wirkungsfokus in Forschung und öffentlichen Debatten eher
auf aggressivem oder gewalttätigem Verhalten; bei pornografischen Darstellungen ste-
Grundlagen: Was sind Medienwirkungen ? – Überblick und Systematik 25
Als Auslöser von Medienwirkungen werden entweder die Medien allgemein diskutiert,
konkrete Mediengattungen, Präsentationsformen oder Medieninhalte. Öffentliche De-
batten thematisieren häufig allgemeine Medieneffekte. Wird beispielsweise die Mani-
pulation oder Desinformation der Bürger durch tendenziöse Nachrichtenmedien und
Journalisten, Werbung, PR oder staatliche Propaganda beklagt, erfolgt das meist ohne
explizite Nennung einer Mediengattung. Implizit stehen dabei durchaus konkrete Me-
dien im Fokus. Man kann wohl davon ausgehen, dass jeweils den in ihrer Zeit neues-
ten Medien das größte Wirkungspotenzial unterstellt wird. Nach dem Radio als erstem
echten ‚Massenmedium‘, das die breite Bevölkerung und darunter auch Leseunkundige
über den auditiven Kanal erreichte, kamen Kino und später Fernsehen. Besonders beim
Fernsehen galten und gelten die Lebendigkeit des Bewegtbildes (Vividness), seine Au-
thentizität und vermeintliche Beweiskraft (Film ließ sich im Gegensatz zu Fotos kaum
manipulieren) sowie wiederum die häufig großen Reichweiten als beweiskräftiges Argu-
ment für eine unmittelbare Wirkungsmacht.
Wenig überraschend galt das Fernsehen seit den 1960er-Jahren als mächtigstes und
bedrohlichstes Medium; die mit dem Schulfernsehen und der Sesamstraße als Lehr-
und Lernformat für Kinder aus bildungsfernen Familien verbundenen Hoffnungen (z. B.
Lesser 1974) wurden bald aufgegeben. Stattdessen erzielten populärwissenschaftliche,
fernsehkritische Bücher wie „Wir amüsieren uns zu Tode“ (Postman 1988) oder „Die
Droge im Wohnzimmer“ (Winn 1979) erstaunliche Auflagen. Auch aus der Kommu-
nikationswissenschaft, Medienpsychologie und -pädagogik kamen kritische Töne (z. B.
Patterson & McClure 1976; Gerbner et al. 1980; Maletzke 1988; Sturm 2000).
Seit den 1990er-Jahren stehen überwiegend das Internet und Computerspiele im
Mittelpunkt des Interesses. Während beim Fernsehen meist dysfunktionale Wirkungen
diskutiert wurden, halten sich beim Internet Hoffnungen und Befürchtungen die Waage.
Die Hoffnungen beziehen sich zumeist auf das Internet als schier unendliche multime-
diale Informationsquelle und weltumspannende interaktive Plattform (Social Media),
auf der institutionelle Akteure (Politik, Wirtschaft, NGOs, Verbände usw.) und Bürger
einfach und unmittelbar miteinander kommunizieren können. Die Schlagworte reichen
von Patient-Empowerment (Gesundheitskommunikation) über Bürgerjournalismus
und politische Partizipation bis hin zur sog. Facebook-Revolution in einigen arabischen
26 Wolfgang Schweiger
Ländern. Ferner gilt das Internet als ideale Umgebung für verschiedenste Formen der
Zusammenarbeit (E-Collaboration, E-Learning, E-Economy usw.), für Werbung und PR
(Crossmedia und Targeting, Prosumer, User-generated Content, Fundraising, Crowd-
sourcing usw.) bis hin zum Verkauf (E-Commerce). Auf der Seite der Befürchtungen ste-
hen der Missbrauch persönlicher Daten (Datenschutz), Cyber-Kriminalität und -Kriege,
Kinderpornografie, Extremismus und Terrorismus. Bei Computerspielen kommen ne-
ben Befürchtungen bezüglich Gewaltwirkungen und Vereinsamung bzw. Verwahrlo-
sung durch Spielsucht gelegentlich auch positive Effekte zur Sprache, wie z. B. räumliche
und motorische Trainingseffekte durch Ego-Shooter und dergleichen sowie der didakti-
sche Nutzen von Lernspielen und Simulationen. Für die Wirkungsforschung bietet das
Internet einerseits eine Fülle neuer Fragestellungen und Anwendungsmöglichkeiten be-
stehender Theorien sowie neue methodische Zugänge (Online-Befragungen, Online-In-
haltsanalysen, Logfile-Analysen und sonstige Verhaltensmessungen). Andererseits stellt
die immense Dynamik des Internets das träge Wissenschaftssystem hinsichtlich Theo-
riebildung und empirischer Forschung vor große Herausforderungen. Die wohl größte
Aufgabe für die Kommunikationswissenschaft zurzeit liegt in der Auflösung der Gren-
zen zwischen öffentlichen Massenmedien und interpersonaler bzw. Gruppenkommu-
nikation, die in den Sozialen Medien (Facebook, YouTube, Twitter usw.) einen immer
stärkeren öffentlichen Charakter annimmt.
Die Wirkungen von Zeitungen und Zeitschriften werden in der Öffentlichkeit eher
selten diskutiert, sieht man vom Boulevard- und Kampagnenjournalismus der Bild-
Zeitung ab. In der empirischen Wirkungsforschung spielen sie hingegen durchaus eine
Rolle. Der Grund ist methodischer Natur: Im Gegensatz zu Radio- und Fernsehinhal-
ten lassen sich Printbeiträge leicht dauerhaft archivieren, recherchieren und inhalts-
analytisch erfassen. Damit eignen sie sich für Studien zur politischen Kommunikation
und zur Realitätsvermittlung durch Journalismus (besonders Agenda-Setting), die häu-
fig Medien-Inhaltsanalysen und Publikumsbefragungen kombinieren. Doch auch die-
ser Vorteil wird mittlerweile durch Onlinemedien übertroffen, denn Suchmaschinen
und -funktionen erlauben die einfache, kostengünstige und leistungsfähige (Volltext-
und Index-)Suche in Nachrichten-Websites, Magazinen und Portalen. Es ist wohl eine
Frage der Zeit, bis sich auch hier das Internet endgültig durchsetzt (vgl. Donsbach et al.
2005: 56). Abschließend seien mit Radio und Videotext zwei reichweitenstarke Medien-
gattungen erwähnt, an denen die Wirkungsforschung seit jeher wenig Interesse hat.
analyse zum Einfluss des Spielens gewalthaltiger Videospiele auf aggressives Verhalten
zeigen Anderson et al. (2010) eine durchschnittliche Effektstärke von r = 0,19 (S. 162).
Das ist ein durchaus alarmierender Befund. Doch was heißt das ? Die Effektstärke setzt
sich wie jeder Korrelationskoeffizient aus der Stärke des Zusammenhangs und einem
Bestimmtheitsmaß zusammen. Eine mittlere Effektstärke bedeutet also entweder, dass
viele Menschen von einer schwachen Medienwirkung oder wenige Menschen von ei-
ner starken Medienwirkung betroffen sind. Bei der Reichweite von Medieneffekten ist
zu unterscheiden, ob sie nur Einzelpersonen betreffen, Personen aus einem sozialen
Segment (z. B. Schüler, Computerspieler, Zeitungsleser, Politiker, Aktionäre / Investoren,
Journalisten) oder – direkt bzw. indirekt – die gesamte Gesellschaft. Im Fall von Medien-
gewalt ist ein Amoklauf an einer Schule zweifellos die extremste Wirkung, zumal hier
zum direkten Medieneffekt auf den Täter ein indirekter Effekt auf dessen Opfer hinzu-
kommt. Derart schreckliche Wirkungen ereignen sich aber äußert selten und nur unter
bestimmten Bedingungen. Andere Folgen wie Schulhofschlägereien sind weniger dra-
matisch, treten aber häufiger auf. Wiederum andere Effekte wie das passive Akzeptie-
ren von Gewalt oder unausgelebte Gewaltphantasien treten wohl ständig auf, sind aber
weit weniger spektakulär. Allerdings können vermeintlich harmlose Effekte wegen ihrer
großen Reichweite gesellschaftlich größere Probleme verursachen als dramatische Ein-
zelfälle. Ein Beispiel ist der mögliche Einfluss von Pornografie im Internet auf die sexu-
elle Sozialisation. Ein weiteres Beispiel liefert die Kultivierungsthese: Wenn die vielen
TV-Vielseher tatsächlich fast alle ein bisschen mehr Angst vor einer gewalthaltigen Welt
haben, können sich daraus gesamtgesellschaftlich problematische Einstellungsverände-
rungen bzw. Werteverschiebungen ergeben. Diese ziehen vielleicht gravierendere (indi-
rekte) Folgen nach sich, wie die Weigerung, anderen Menschen in einer Gefahrensitua-
tion zu helfen.
In der öffentlichen Vermittlung der genannten Medieneffekte steht die Forschung
vor mehreren Problemen: Erstens sind sie in der Regel sehr schwach und empirisch
schwer bis nicht nachzuweisen. Zweitens handelt es sich meist eben nicht um mono-
kausale Zusammenhänge, sondern um Felder komplexer (Wechsel-)Wirkungen (siehe
Abschnitt 3.8). Und drittens sind solche Befunde sowie ihre Relevanz der Öffentlichkeit
kaum zu vermitteln, (a) eben weil sie zu komplex sind und (b) weil sie kaum journalis-
tische Nachrichtenfaktoren (z. B. Konflikt, Personalisierung, schreckliche Bilder) auf-
weisen.
Schließlich ist in diesem Zusammenhang auf einen wichtigen Punkt hinzuweisen:
Medien können Veränderungen auch verhindern, die ohne sie durchaus stattgefunden
hätten. Eine solche Stabilisierung oder gar Verstärkung bestehender Verhältnisse ist em-
pirisch kaum nachzuweisen, es sei denn, man kontrolliert alle relevanten Variablen mit
multivariaten Verfahren. Die empirische Kommunikationswissenschaft hat zwar die
von Klapper (1960) formulierte Verstärkerthese im engeren fachhistorischen Kanon;
in der praktischen Forschung werden Nicht-Veränderungen allerdings fast immer als
Hinweis auf fehlende Medienwirkungen interpretiert. Eine maßgebliche Rolle nimmt
28 Wolfgang Schweiger
die Stabilisierung durch Medien hingegen in den Cultural Studies ein. Dort gelten die
Mainstream-Medien für manche Autoren als Instrument der hegemonialen Machterhal-
tung durch kapitalistische Eliten, die eine gesellschaftliche Weiterentwicklung verhin-
dern (vgl. Wimmer in diesem Band).
Medien wirken auf unterschiedlichen Ebenen: auf der Individualebene (Mikro), der
Ebene von Gruppen und Organisationen (Meso) sowie der Gesellschaftsebene (Makro).
Bisher war ausschließlich von Wirkungen auf der Mikroebene die Rede. Doch die For-
schung interessiert sich nicht nur für Effekte auf Individuen, sondern auch und beson-
ders für strukturelle Zusammenhänge auf der Makroebene. Ein Beispiel ist das Konzept
der Mediatisierung2, mit dem Kepplinger (2008: 327) „die Anpassung der Akteure in Po-
litik, Wirtschaft, Wissenschaft und zahlreichen anderen gesellschaftlichen Subsystemen
an die Erfolgsbedingungen der Medien“ bezeichnet. Es geht also um die Frage, wie sich
Gesellschaftssysteme gegenseitig beeinflussen.
Folgt man Hartmut Esser (1999), lassen sich Zusammenhänge auf der Makroebene,
also zwischen gesellschaftlichen Systemen und Strukturen, nur unter Rückgriff auf indi-
viduelles Handeln auf der Mikroebene erklären. Das sog. Wannenmodell kann man am
Beispiel der Mediatisierungsthese gut veranschaulichen: Passt ein Politiker sein politi-
sches und kommunikatives Verhalten aufgrund bestimmter Erfahrungen mit Journalis-
ten und Medien an mediale Gegebenheiten an, mag dies auf der Mikroebene (bei Esser
dem ‚Wannenboden‘) unspektakulär erscheinen. Wenn es aber alle Politiker so machen,
führt das zu dramatischen Veränderungen des politischen Systems (Makroebene). Ein
weiteres Beispiel liefert die PR-Forschung zum Verhältnis zwischen PR und Journalis-
mus. Dort beschreibt das Intereffikationsmodell von Bentele et al. Induktionen (Wirkun-
gen) und Adaptionen (Anpassungen) zwischen beiden Systemen (vgl. zuletzt Bentele &
Nothhaft 2004). Manche Wirkungen lassen sich erst auf einer höheren Analyseebene,
d. h. im Aggregat, empirisch erfassen. Ein gutes Beispiel sind Aktienkurse. Um den Ein-
fluss der Wirtschaftsberichterstattung auf das Anlageverhalten zu untersuchen, kann
man einzelne Aktionäre befragen oder ihr Verhalten beobachten. Wesentlich einfacher
ist es aber, die Aktienkurse als das natürliche Aggregat individueller Anlageentschei-
dungen auf der Makroebene zu verfolgen und mit aggregierten Wirtschaftsmeldungen
im vorhergehenden Zeitraum zu vergleichen (z. B. Scheufele et al. 2011).
Die Unterschiede zwischen der Messung von Medieneffekten auf der Individual-
und Aggregatebene wurden am meisten in der Forschung zur politischen Kommunika-
tion diskutiert und dort besonders beim Agenda Setting. In ihrer Pionierstudie vergli-
chen McCombs & Shaw (1972) die Medien- und Bevölkerungsagenda mittels einfacher
(vgl. Hannah Früh in diesem Band). In der Meinungsforschung dient die Antwortlatenz
als Einstellungsstärkemaß und zur Identifizierung von Personen ohne dezidierte Mei-
nung zu einem Befragungsthema (Nonattitudes, vgl. Mayerl 2003). Auch die situative,
d. h. augenblickliche Bedürfnisbefriedigung durch Mediennutzung (Uses and Gratifi-
cations- und Mood-Management-Ansatz) ist eine Medienwirkung mit minimaler La-
tenz, denn sie setzt unmittelbar während der Medienzuwendung ein (z. B. als Unterhal-
tungserleben). Ein anderes Beispiel für geringe Latenzen sind Studien zur unmittelbaren
Wirkung von Kanzlerduellen auf das Publikum: Mittels Real-Time-Response-Messung
bewerten die Rezipienten jede Aussage, Mimik und Geste der Kanzlerkandidaten in
Echtzeit (vgl. z. B. Maurer et al. 2006).
Die Kontaktdosis bezeichnet die Anzahl von Kontakten zwischen einem Mediensti-
mulus und einem Individuum, die nötig ist, bis ein messbarer Effekt eintritt. Besondere
Beachtung findet die Kontaktdosis in der Werbung. Denn dort ist allgemein bekannt,
dass Werbemittel erst nach mehrmaligem Kontakt wirken (vgl. z. B. SevenOneMedia
2006). Auch in der politischen Kommunikation, etwa beim Nachrichtenlernen oder im
Agenda-Setting, stellt sich die Frage, wie viele Kontakte beispielsweise ein Rezipient mit
einem Thema haben muss, um sich (a) das Thema zu merken und es (b) für persönlich
oder gesellschaftlich relevant zu halten (vgl. Bulkow & Schweiger in diesem Band). Im-
plizit spielt die Kontaktdosis auch bei Noelle-Neumann (1973) eine Rolle, die das an-
genommene persuasive Potenzial von Nachrichtenmedien auf deren konsonante und
kumulative, d. h. ständig wiederholte, Berichterstattung über politische Themen zurück-
führt, getreu dem Motto „Steter Tropfen höhlt den Stein“. In dieselbe Richtung bewegt
sich auch die Argumentation des Kultivierungsansatzes. Hier geht es um die langfristige
Veränderung von Weltbildern unter TV-Vielsehern, also unter Menschen mit ständi-
gem Kontakt zum konsonanten TV-Unterhaltungsprogramm. Gerbner hat bewusst den
Begriff der Kultivierung (cultivation) gewählt, um den langfristigen und schleichenden
Prozess dieser Medienwirkung zu betonen. Bislang wurde der Einfluss der Kontaktdosis
auf Medienwirkungen kaum konkret untersucht, was wohl an der schwierigen und auf-
wändigen empirischen Umsetzung liegt.
Die dritte Dimension ist die Wirkungsdauer, d. h. der Zeitraum zwischen dem Einset-
zen einer Medienwirkung und ihrem Verschwinden. Ein Beispiel hierfür sind Lern- bzw.
Vergessenseffekte, wie sie bereits der Begründer der experimentellen Gedächtnisfor-
schung, Hermann Ebbinghaus, introspektiv erforscht hat (‚Ebbinghaus’sche Vergessens-
kurve‘). Ein anderes Beispiel ist das bereits erwähnte Excitation-Transfer-Modell von
Zillmann.
3.8 Kausalitätslogik
Die folgenden Dimensionen, die wir unter dem Begriff Kausalitätslogik zusammenfas-
sen wollen, sind die ‚Problemzone‘ der Medienwirkungsforschung: Für Laien, die meis-
Grundlagen: Was sind Medienwirkungen ? – Überblick und Systematik 31
ten politischen Entscheider und damit für öffentliche Debatten sind sie häufig zu kom-
plex. Andererseits hängt die Beurteilung empirischer Studien und der Validität ihrer
Befunde maßgeblich von diesen Dimensionen ab. So ist es nicht verwunderlich, dass in
der (Medien-)Öffentlichkeit häufig kausalitätslogisch schwache bis unsinnige Studien
gerade deshalb auf große Resonanz stoßen, weil sie einfache und plakative Befunde
liefern.
Die erste Dimension ist die Kausalitätsrichtung: Der Anspruch der allermeisten Wir-
kungsstudien besteht im Nachweis einer einseitigen Wirkung. Studien zur Wirkung von
TV-Gewalt befassen sich beispielsweise mit der Frage, ob die Rezeption medialer Ge-
waltdarstellungen (unabhängige Variable) die Gewaltbereitschaft der Rezipienten (ab-
hängige Variable) verändert. Doch der umgekehrte Effekt ist genauso plausibel, nämlich
dass gewaltbereite Personen (unabhängige Variable) bevorzugt Gewaltdarstellungen re-
zipieren (abhängige Variable). Viele Studien sind Querschnittbefragungen, die zu einem
einzigen Messzeitpunkt beide Variablen / Konstrukte erheben und deren Korrelation er-
mitteln. Damit kann man aber keine Aussage zur Wirkungsrichtung treffen. Hierfür
sind entweder (Labor-)Experimente nötig, bei denen die unabhängige Variable (hier:
die Rezeption von Mediengewalt) eigens manipuliert wird, oder Längsschnittstudien,
die beide Variablen zu mehreren Messzeitpunkten erfassen. Da eine Ursache einer Wir-
kung zeitlich voraus gehen muss, ist der Nachweis einer einseitigen Wirkung erbracht,
wenn die Befragten beispielsweise zunächst angeben, mehr Mediengewalt zu rezipieren,
und erst in einer späteren Befragungswelle eine gestiegene Gewaltbereitschaft erken-
nen lassen (Kreuzkorrelation oder Cross-Lagged Correlation). Das heißt: Zahllose Wir-
kungsstudien behaupten einseitige Effekte, obwohl nur Korrelationen erfasst wurden.
Nicht selten hängen Konstrukte zusammen, ohne dass eine Wirkungsrichtung er-
kennbar ist. In diesem Fall korrelieren die Variablen in einer Längsschnittstudie nicht
zeitverzögert, sondern gleichzeitig. Dafür sind drei Gründe möglich. Erstens: Es gibt
zwar eine einseitige Kausalität, die Messintervalle sind jedoch nicht fein genug, um die
Zeitverzögerung zu erfassen – ein in der Agenda-Setting-Forschung viel diskutiertes
Problem. Zweitens: Es liegt eine Scheinkorrelation vor (dazu gleich mehr). Drittens: Die
Konstrukte beeinflussen einander wirklich wechselseitig und verändern sich entspre-
chend zeitgleich. Früh und Schönbach haben dafür das Konzept der ‚Transaktion‘ ent-
wickelt, das Früh (2009: 47) als „komplexes und hoch frequentes, d. h. nicht mehr wahr-
nehmbares Wechselspiel von Ursache und Wirkung (‚oszillatorisches Wechselspiel‘)
oder aber [als] ein simultanes Ineinandergreifen, ja geradezu ‚Verschmelzen‘ diverser
Einflussgrößen“ beschrieben hat. Ein kurioses Beispiel liefert eine Studie zu Verhaltens-
weisen und sozialen Codes der Mafia. Gambetta (2009) konnte zeigen, dass die Codes
nicht nur in Filmen über die Mafia abgebildet werden, sondern dass die Filmdarstellung
umgekehrt auch von Mafia-Mitgliedern zur Bildung und Erweiterung ihres Verhaltens-
repertoires genutzt wird. Mediendarstellung und Realität transagieren somit.
Während in öffentlichen Debatten meist nach einer einzelnen Ursache für ein Phä-
nomen oder einen Missstand gesucht wird, ist die soziale Realität komplexer, weil jede
32 Wolfgang Schweiger
Variable mit beliebig vielen anderen Variablen in Beziehung steht. Wir haben es also
fast immer mit multikausalen Wirkungszusammenhängen zu tun, wie am Beispiel Me-
diengewalt besonders deutlich wird: Gewaltdarstellungen im Fernsehen und in Com-
puterspielen haben sicherlich eine Wirkung auf Jugendliche, aber sie allein reichen
nicht aus, um extreme Reaktionen zu erklären. Zu monokausalen und damit öffent-
lichkeitswirksamen Befunden kann man nur mit Hilfe von Unsinns-Analysen kom-
men, wie sie z. B. Werner Glogauer in der Süddeutschen Zeitung (27. 08. 2003) anstellte:
„Nach den Morden und Amokläufen von Kindern und Jugendlichen in den USA und
bei uns stellte sich heraus, dass alle Täter die gewalthaltigsten aller Computerspiele, die
so genannten Ego-Shooter oder Mordsimulationsspiele intensiv genutzt hatten, und
zwar jeweils die gleichen.“ Unsinnig ist an dieser Analyse, dass nur Täter betrachtet
werden; die abhängige Variable ist damit eine Konstante, die mit einer anderen Kon-
stante – alle nutzten Ego-Shooter – erklärt wird. Gelegentlich ist eine einzige Ursache
so viel wirkungsmächtiger als alle anderen Variablen, dass eine monokausale Erklärung
praktisch ausreicht (d. h. ausreichend Varianz der abhängigen Variablen erklärt). Misst
man z. B. die Pulsfrequenz einer Person während einer Fußballübertragung, und diese
steigt während einer dramatischen Torszene an, ist eine monokausale Erklärung durch-
aus plausibel.
Vermeintlich monokausale Effekte können auf einer Scheinkorrelation beruhen. In
diesem Fall sind zwei unabhängige Variablen konfundiert, d. h. sie korrelieren stark un-
tereinander. Misst man nur eine davon als unabhängige Variable, kann sich dabei eine
Korrelation mit der abhängigen Variablen ergeben, obwohl eigentlich die andere (nicht
gemessene) Variable wirkt. Popper hat hierfür das historische Beispiel zum Scheinzu-
sammenhang zwischen Storchenpopulation und Geburtenrate angeführt. Die tatsäch-
lich wirksame Variable auf das erhöhte Aufkommen von Störchen war jedoch die Bo-
denbeschaffenheit: Störche bevorzugen Regionen mit schweren Böden (wegen der vielen
Frösche). Da schwere Böden besonders fruchtbar sind, lebten dort wohlhabendere Bau-
ern, die wiederum mehr Kinder bekamen – was wiederum die hohen Geburtenraten er-
klärt (vgl. z. B. Keuth 2011: 64). Auch im obigen Fußballbeispiel ist eine Scheinkorrela-
tion denkbar, wenn der Zuschauer bei jeder Torszene aufspringt, und sein Puls wegen
dieser körperlichen Anstrengung steigt.
Multikausale Einflüsse treten entweder additiv auf (mehrere Ursachen führen un-
abhängig voneinander zu einem Effekt und verstärken sich additiv) oder in Interaktion,
d. h. sie wirken zusammen anders, als sie allein wirken würden. Ein praktisches Beispiel
aus der Wissenskluftforschung: Akademiker erhöhen ihr politisches Wissen durch die
Rezeption der ‚Zeit‘ mehr als durch die Bild-Zeitung. Leser mit unterdurchschnittlicher
Bildung sind von der ‚Zeit‘ hingegen überfordert, sie lernen mit der Bild-Zeitung wohl
mehr. Die Variable ‚genutztes Medium‘ (Boulevardzeitung vs. Qualitätszeitung) wirkt
also in Interaktion mit der Variable ‚Bildung‘ unterschiedlich auf den Wissenszuwachs.
Ein Problem stellen Mehrfach-Interaktionen dar. Während das genannte Beispiel als
Zweifach-Interaktion noch einfach zu verstehen ist, sind Interaktionen zwischen drei
Grundlagen: Was sind Medienwirkungen ? – Überblick und Systematik 33
4 Eine lesenswerte Typologie von Wirkungsverläufen beim Agenda-Setting legten Kepplinger, Gotto,
Brosius & Haak (1989) vor.
34 Wolfgang Schweiger
4 Ausblick
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Grundlagen: Was sind Medienwirkungen ? – Überblick und Systematik 37
Abstract Wissenschaftstheorie gilt als Leitwissenschaft für die Einzelwissenschaften. Deshalb sollten
ihre Erkenntnisse als verbindliche Orientierungen für die Forschungspraxis dienen. Es zeigt sich jedoch,
dass bereits auf wissenschaftstheoretischer Ebene die logisch begründeten Anforderungen nicht voll-
ständig erfüllbar sind. Diverse Optimierungsvorschläge führen dann zu unterschiedlichen Konzepten in
der empirischen Forschung. Dies schließt auch die radikale Frage ein, ob die Wissenschaftstheorie als
Leitwissenschaft obsolet geworden sei und pragmatische Konzepte gegebenenfalls eher geeignet sei-
en. Eine eindeutige, alle Aspekte umfassende Antwort kann es nicht geben, weil ein Versagen logischer
Prinzipien in einigen Problemstellungen nicht ihre generelle wissenschaftliche Untauglichkeit belegt.
Dies wird im Beitrag anhand der Themen ‚kausale Erklärungen‘, ‚Theorien und Modelle‘ sowie ‚sozialwis-
senschaftliche Erklärungen‘ exemplarisch gezeigt.
1 Einleitung
Die Wissenschaften verfolgen das Ziel, die Phänomene der Welt zu erklären. In den letz-
ten Jahrhunderten setzte sich die Überzeugung durch, Logik und empirische Forschung
seien dafür die probaten Mittel. Die Wissenschaftstheorie wendet diese Kriterien auf
einzelwissenschaftliche Problemstellungen strikt an. Pragmatische Relativierungen wie
Unwahrscheinlichkeit, fehlende Realisierbarkeit und Plausibilität etc. gelten dabei als ir-
relevant. Doch die Erwartungen erfüllten sich nur zum Teil. Logik und Empirie stießen
beide an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit, sodass heute unterschiedliche Auffassun-
gen konkurrieren, wie mit elementaren Erkenntnisproblemen umzugehen sei.
2 Kausale Erklärungen
Medienwirkungen stellen Kausalbeziehungen dar. Formal wird eine Antwort auf die
Frage gesucht, ob und auf welche Art Y durch X hervorgebracht wurde. Dies gilt auch
für funktionale Zusammenhänge: Auf die Frage, warum P regelmäßig die Tagesschau
zu Informationszwecken nutzt, kann es mindestens zwei Antworten geben: (a) Das In-
formationsbedürfnis von P und seine Erwartung, die Tagesschau könne es befriedigen,
motiviert (verursacht) die Tagesschaunutzung. (b) Die Inhalte der Tagesschau verursa-
chen eine Befriedigung des Informationsbedürfnisses. Wenn sicher ist, dass die jeweils
behauptete Ursache die Wirkung hervorbrachte, kann von einer Erklärung gesprochen
werden: Das Bedürfnis erklärt die Nutzung, und die rezipierten Inhalte den zufrieden-
stellenden Informationsgewinn bei P. Verallgemeinernd kann also gesagt werden, dass
Erklärungen die Frage beantworten, ob bzw. wie Y durch X hervorgebracht wurde. Kau-
sal erklärt werden können einzelne Ereignisse oder Mengen gleicher Ereignisse bzw. Zu-
stände. Zustände lassen sich dabei als Resultat vergangener Ereignisse und / oder als Re-
likt infolge des Nichteintretens bestimmter Ereignisse fassen.
Nach ihrem Bestimmtheitsgrad lassen sich drei Erklärungsarten unterscheiden:
Das Gesetz verhilft der Erklärung zu allgemeiner Gültigkeit. Alle Phänomene dieser Art,
die zu einem gegebenen Zeitpunkt irgendwo auftreten, jemals aufgetreten sind, in Zu-
kunft auftreten werden oder auftreten könnten, sind auf diese Art und Weise erklärbar.
Damit werden also Generalisierungsmöglichkeiten geschaffen, die retrospektive Rekon-
struktionen ebenso zulassen wie Prognosen und die Lösung hypothetischer Gedanken-
experimente („Was würde geschehen, wenn … ?“). Normalerweise verlangt die Logik
eine vollständige Rechtfertigung von Erklärungen. Dies ist aber insofern unmöglich, als
jede Erklärung als Argument Sachverhalte verwendet, die selbst wieder erklärungs- bzw.
Wissenschaftstheoretische Grundlagen empirischer Forschung 41
Vorausgesetzt es ist wahr, dass P nach der Rezeption von Filmen aggressiv war, wäre hier
zu rechtfertigen, wieso das Betrachten von Filmen aggressives Verhalten verursachen
kann. Üblicherweise würde man das auf empirische Weise experimentell nachweisen.
Doch lässt sich auf diesem Weg nur ein systematischer Zusammenhang belegen, welcher
nichts darüber aussagt, weshalb er besteht. Es ist nicht evident, weshalb symbolisches
Material, welches Situationen abbildet, mit denen P real nicht konfrontiert ist, dennoch
reale Handlungen auslösen kann. Würde man auf psychologischer Ebene bestimmte
Persönlichkeitsmerkmale als Gründe anführen, wäre zu rechtfertigen, inwiefern die Zu-
schreibung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale zutrifft und diese genau den fraglichen
Effekt erzeugen usf. Das Beispiel 1 geht jedoch bereits von einer Wissenssituation aus,
in der nur noch das Vorliegen des spezifischen Sachverhalts gerechtfertigt werden muss
und das Gesetz als nicht hinterfragbare Tatsache aufgefasst wird. Im Prinzip sind jedoch
alle Teile einer DN-Erklärung, einschließlich des Gesetzes, begründungsbedürftig.
Beispiel 2: Ein 25-jähriger Mann (P) gibt in einer Befragung an, sich bevorzugt und regelmä-
ßig über Medien zu informieren (spezifischer Sachverhalt). Erklärt wird dies unter Rückgriff
auf den „Uses-and-Gratifications-Approach“ mit der gesetzesartigen These: Menschen tun re-
gelmäßig und ohne Zwang immer nur das, was bei ihnen ein Bedürfnis befriedigt (Gesetz).
Entsprechend befriedigt P also ein Bedürfnis, welches als Informationsbedürfnis spezifiziert
werden kann, weil er angibt, sich zu informieren (Konklusion).
Zunächst wäre hier zu rechtfertigen, ob die Aussagen des Befragten zutreffen, und zu
präzisieren, wie die Aussage ‚informieren‘ gemeint ist. P könnte sein wahres Verhal-
ten gegebenenfalls beschönigen. Wichtiger noch ist aber die Rechtfertigung des Geset-
zes: Wieso kann behauptet werden, P habe ein Bedürfnis befriedigt, weil er regelmäßig
Informationsangebote nutzt ? In Beispiel 2 wird dieser Zusammenhang als Gesetz be-
nutzt, welches der Uses-and-Gratifications-Approach als Grundpostulat vorgibt. Aber
auch Gesetze müssen gerechtfertigt werden. Ein Gesetz als bloße definitorische Set-
zung zu etablieren, käme der Dogmatisierung gleich, weil eine Definition lediglich fest-
setzt, aber nichts rechtfertigt und somit auch nicht widerlegbar ist. Interpretiert man
das Gesetz also nicht als definitorische Setzung, dann muss es als deterministischer
empirischer Zusammenhang aufgefasst werden. Im Beispiel 2 wären regelmäßige frei-
willige Handlungen also als Bedürfnisbefriedigung festgelegt. Da aber eine Bedürfnis-
befriedigung als Zusammenhang zweier unabhängiger Größen (häufige Nutzung und
Bedürfnisbefriedigung) empirisch nicht festgestellt wird, handelt es sich um eine in
der Theorie verankerte, logisch nicht gerechtfertigte Prämisse, welche als Gesetz ver-
42 Werner Früh
wendet wird. Selbst wenn sich ein solcher Zusammenhang als statistisch signifikant er-
weisen würde, wäre er als Gesetz untauglich, weil er semantisch nicht exklusiv ist: Die
Person aus Beispiel 2 mag zwar immer, wenn sie ein Informationsbedürfnis verspürt,
Informationsangebote nutzen, aber sie kann dies auch aus Routine, beruflichen Grün-
den oder zur Anpassung an soziale Verhältnisse tun (wenn die Familie die Tagesschau
sieht, schließt sich P an). Darüber hinaus erklären statistisch gerechtfertigte Gesetze
per Induktionsschluss immer nur einen Teil der fraglichen Zusammenhänge. Bereits
Hume hat aber dargelegt, dass auch eine noch so große Zahl gleicher Beobachtungen
keinen sicheren Induktionsschluss auf nicht Beobachtetes ermöglicht. Selbst wenn es
also zuträfe, dass regelmäßiger Informationsnutzung häufig ein Informationsbedürf-
nis zugrunde liegt, müsste dieses gesondert und mit Bezug auf die Nutzung festgestellt
werden. Eine in der Theorie (Uses-and-Gratifications-Ansatz) verankerte Prämisse ist
als Gesetz untauglich.
Generell lassen sich die gesetzesartig behaupteten Zusammenhänge nur punktuell
empirisch überprüfen. In den Sozialwissenschaften wird aber oft bereits eine mehr als
einmal bestätigte Hypothese in Folgestudien als Gesetz unterstellt und als gegebener,
nicht weiter prüfungsbedürftiger Zusammenhang zur Erklärung von Folgehypothe-
sen eingesetzt. Auf diese fragwürdige Weise ist ein kumulativer Wissensfortschritt mit
der gebotenen Evidenz kaum möglich. Erklärungen, die dem DN-Schema folgen und
Gesetze verwenden, deren Gültigkeit ungewiss ist, laufen Gefahr, Pseudoerklärungen
zu generieren, weil dem Erklärungsargument die ‚wahrheitsstiftende‘ Rechtfertigung
fehlt. Gesetze sind Bestandteile des logischen Beweisinstrumentariums, welche als Kon-
stante verwendet werden. Sind sie selbst revisionsgefährdet, kann die Falsifizierung ei-
ner Hypothese (a) auf den überprüften Gegenstand, (b) die empirischen Methoden und
(c) auf die Ungültigkeit der unterstellten Gesetze zurückgeführt werden. Die bekannte
‚ceteris paribus-Klausel‘ müsste also analog übertragen werden auf ‚ansonsten wahre
bzw. gültige Bedingungen‘. Aber selbst wenn es eine sichere Induktion gäbe, gälte diese
nur für gleichartige Phänomene. Gerade in den Sozialwissenschaften ist es aber außer-
ordentlich schwierig, die Gleichartigkeit von Phänomenen und Ereignissen festzustel-
len; meist werden Klassen mehr oder weniger ähnlicher Phänomene zusammengefasst,
so dass darin ein relativ weiter, vager Interpretationsspielraum enthalten ist.
Die zur Erklärung verwendeten erklärungsrelevanten Tatsachen können aber noch
aus einem anderen Grund allenfalls als plausible pragmatische Heuristiken bezeichnet
werden. Jeder benannten Ursache lassen sich weitere Bedingungen hinzufügen, welche
entweder für sich allein (Kodetermination) oder ergänzend zur postulierten ‚Ursache‘
die Wirkung hervorbringen (sog. Hintergrundbedingungen). Die im DN-Schema an-
geführten erklärungsrelevanten Faktoren, welche durch das verwendete Gesetz vorbe-
stimmt sein sollen, lassen sich vielfach je nach Perspektive ganz unterschiedlich anset-
zen: Im Uses-and-Gratifications-Beispiel 2 mag ein Informationsbedürfnis die Ursache
für das Mediennutzungsverhalten von P sein; man könnte die Ursache aber auch in der
Relevanz und Attraktivität des Internet-Informationsangebots sehen, und eine weitere
Wissenschaftstheoretische Grundlagen empirischer Forschung 43
alternative Erklärung könnte sich auf die Kontextbedingungen berufen: P zeigt das frag-
liche Nutzungsverhalten, weil er das Internet routinemäßig nutzt, weil ihm genügend
Zeit zur Rezeption zur Verfügung steht und weil seine Lebensumstände eine regelmä-
ßige Nutzung zulassen etc. Bei genauer Betrachtung ist keine der genannten Ursachen
für sich allein hinreichend, aber jede ist notwendig, um das Informationsverhalten her-
vorzurufen bzw. kausal zu erklären. Wenn von verschiedener Seite jeweils nur eine Er-
klärungsmöglichkeit genannt wird, sagt man, das kausale Feld (d. h. die zur Erklärung
bevorzugt herangezogenen Faktoren) werde unterschiedlich angesetzt (Mackie 1974).
Interessant ist nun, weshalb wir das meiste, was zum kausalen Feld gehört, gar nicht
als mögliche Ursache in Erwägung ziehen, sondern je nach Erkenntnisinteresse eine der
möglichen Ursachen herausgreifen und die anderen als latente Bedingungen auffassen
und ausblenden. Solche Konstellationen nannte Mackie (1974) „an insufficient but nec-
essary part of an unnecessary but sufficient condition“ (abgekürzt: INUS-Bedingung).
Diese selektive Forschungspraxis führt zu Irritationen, weil die verschiedenen Befunde
gegeneinander ausgespielt werden können, obwohl sie letztlich nur verschiedene Per-
spektiven auf denselben Sachverhalt darstellen. Im Grunde ergänzen sich die Befunde
gegenseitig, aber die verschiedenen Perspektiven versperren dafür den Blick. Das ‚klas-
sische‘ Beispiel aus der Medienwirkungsforschung ist die kommunikator- und rezipien-
tenzentrierte Perspektive.
Zur Vereinfachung schlug Früh (2002, S. 142 ff.) im Rahmen des dynamisch-trans-
aktionalen Ansatzes vor, für Medienwirkungen stets eine triadische Konstellation not-
wendiger Bedingungen anzusetzen: Medium, Rezipient und Kontext (situativ und ge-
sellschaftlich). Je nach spezifischem Erkenntnisinteresse kann dabei gegebenenfalls
jeweils ein Faktor fokussiert, aber keiner ganz ignoriert werden. Die daraus resultieren-
den Erklärungen sind dann zwar verschieden, weil, um es mit Mackies Terminologie
auszudrücken, das kausale Feld als Fokus unterschiedlich angesetzt wurde, aber sie sind
integriert. Dies erscheint zweckdienlich, weil jede perspektivische Teilerklärung not-
wendig ist, aber erst alle zusammen hinreichend sind.
Die DN-Erklärung löst also nur scheinbar das Problem des unendlichen Begründungs-
regresses, weil Gesetze sich letztlich doch nicht als die absoluten, nicht weiter hinter-
fragbaren Instanzen entpuppen, so dass sie nicht als ‚Regressstopper‘ und ‚Wahrma-
cher‘ verwendet werden können. Doch wenn es damit auch keine Lösung des infiniten
Begründungsregresses gibt, dann stellt sich die Frage, wie Wissenschaft überhaupt zu
Wissensfortschritt führen kann. Popper und andere Vertreter des Kritischen Rationalis-
mus analysierten die Art der Beweisführung in Empirismus und Rationalismus und ent-
deckten trotz inhaltlich nahezu konträrer Ansichten eine interessante Gemeinsamkeit:
Beide Paradigmen verwendeten eine ähnliche Methode. Durch schrittweise Beseitigung
44 Werner Früh
diverser Störgrößen wird versucht, schließlich zur reinen, unverfälschten Quelle der Er-
kenntnis vorzustoßen. Für die Empiristen wie Berkeley, Locke oder Hume war dies die
reine Sinneswahrnehmung, für Descartes als Rationalist die pure Ratio. Sie suchten alle
nach einem sicheren, unverfälschten ‚Fundament‘, auf dem Erkenntnis gründen kann
und das den infiniten Begründungsregress stoppt, weil es aus letztgültigen, nicht weiter
hinterfragbaren Einsichten besteht.
Popper (2005, S. 3 ff.) kritisierte daran, dass mit dieser Axiomatisierung ein Grund-
prinzip der Wissenschaft außer Kraft gesetzt würde, die prinzipielle Hinterfragbarkeit
jeder Behauptung. Wie lässt sich rechtfertigen, dass bestimmte Behauptungen nicht
mehr hinterfragt und kritisiert werden können bzw. dürfen ? Albert (1991) kann in sei-
nem „Traktat über kritische Vernunft“ darlegen, dass im Grunde jede beliebige Behaup-
tung axiomatisiert und somit gegen Kritik immunisiert werden könne; dies sei keine
Frage der Wahrheit, sondern eine der Macht. Setzt man jedoch das Begründungsprinzip
nicht außer Kraft, dann führt das zu einem Problem:
„Wenn man für alles eine Begründung verlangt, muß man auch für die Erkenntnisse, auf die
man jeweils die zu begründende Auffassung (…) zurückgeführt hat, wieder eine Begründung
verlangen. Das führt zu einer Situation mit drei Alternativen, die alle drei unakzeptabel er-
scheinen, also: zu einem Trilemma, das ich angesichts der Analogie (…) das Münchhausen-
Trilemma nennen möchte. Man hat hier offenbar nämlich nur die Wahl zwischen:
1. einem infiniten Regreß, der durch die Notwendigkeit gegeben erscheint, in der Suche
nach Gründen immer weiter zurückzugehen, der aber praktisch nicht durchzuführen ist
(…);
2. einem logischen Zirkel in der Deduktion, der dadurch entsteht, dass man im Begrün-
dungsverfahren auf Aussagen zurückgreift, die vorher schon als begründungsbedürftig
aufgetreten waren (…);
3. einem Abbruch des Verfahrens an einem bestimmten Punkt, der zwar prinzipiell durch-
führbar erscheint, aber eine willkürliche Suspendierung des Prinzips der zureichenden
Begründung involvieren würde.
Da sowohl ein infiniter Regreß als auch ein logischer Zirkel offensichtlich unakzeptabel zu
sein scheint, besteht die Neigung, die dritte Möglichkeit, den Abbruch des Verfahrens, schon
deshalb zu akzeptieren, weil ein anderer Ausweg aus dieser Situation für unmöglich gehal-
ten wird. Man pflegt (…), von Selbstevidenz, Selbstbegründung, Fundierung in unmittelba-
rer Erkenntnis – in Intuition, Erlebnis oder Erfahrung – zu sprechen“ (Albert 1991, S. 15 f.).
Jeder Abbruch des Verfahrens endet also mit einer Behauptung, die nicht weiter be-
zweifelt werden darf und somit einem Dogma gleichkommt, d. h. die wissenschaftliche
Begründung wird dogmatisiert. Wie soll die Wissenschaft aber vorgehen, um tatsäch-
lich Wissen zu vermehren ? Mit ‚Wissen‘ ist hier immer Wissen über die ‚real existie-
Wissenschaftstheoretische Grundlagen empirischer Forschung 45
rende‘ Welt gemeint, nicht formales Wissen wie etwa die Multiplikationsregeln der Ma-
thematik. Um den unendlichen Begründungs- bzw. Rechtfertigungsregress zu stoppen,
scheint es also zwingend, einen der drei Fehler zu begehen, die Albert als „Münchhau-
sen-Trilemma“ beschreibt: Erstens, man nimmt einen der Fehler in Kauf, zweitens, man
findet doch noch einen vierten Weg, welcher den unendlichen Regress vermeidet, oder
aber drittens, man gibt den Anspruch auf, sicheres Wissen über die Realität zu erlan-
gen. Der erste Weg wird häufig in der „Normalwissenschaft“ begangen, wo man diese
erkenntnistheoretischen und logischen Grundsatzfragen ausblendet und pragmatisch
das unter den gegebenen Bedingungen Bestmögliche aus der jeweiligen Forschungs-
situation macht. Der zweite Weg ist mit neueren wissenschaftstheoretischen Ansätzen
wie etwa dem Kohärentismus und dem Kontextualismus verbunden. Der dritte Ansatz
bezeichnet schließlich den maßgeblich durch Popper geprägten Fallibilismus, den dieser
mit seinem Kritischen Rationalismus beantwortet.
Popper (2005, S. 3 ff.; 69 ff.) ist der Auffassung, die Suche nach der Wahrheit sei zwar
in der Form, wie sie bisher betrieben wurde, nicht durchführbar, aber dennoch müsse
man sie nicht grundsätzlich aufgeben. Um dies zu erkennen, müsse man einerseits zwi-
schen der Wahrheit als inhaltlicher Relation zwischen Realität und Überzeugung und
andererseits dem Grad der Gewissheit einer Überzeugung unterscheiden. Wenn logisch
und praktisch nachgewiesen werden kann, dass unsere Überzeugungen häufig nicht
ganz zutreffen und revidiert werden müssen, dann kann daraus nicht logisch geschlos-
sen werden, dass alle unsere Vorstellungen über die Realität falsch seien. Vielmehr kön-
nen sie wahr oder falsch sein, aber wir können dies nicht mit letzter Gewissheit behaup-
ten. Wer nach absoluter Gewissheit strebt, muss zwangsläufig scheitern, denn erstens
sind unsere Wahrnehmungsmechanismen spezifisch menschlich vorgeprägt, niemals
vor Irrtümern sicher und v. a.: die Realität kann sich ändern, so dass jede Erkenntnis
auch relativ zur Zeit ist. Auch wenn wir uns also niemals der Wahrheit unserer Über-
zeugungen ganz sicher sein können, so können wir aber doch die Realität zunehmend
besser erkennen. Man kann ergänzen: Selbst wenn es uns tatsächlich gelänge, zutref-
fende – also wahre – Vorstellungen bzw. Überzeugungen über die Realität zu entwickeln,
könnten wir nicht wirklich wissen, dass bzw. ob dies zutrifft. In diesem (konstruierten)
Extremfall hätten wir also, ohne dies sicher zu wissen, die Wahrheit erkannt.
Nun behauptet Popper aber, die Wissenschaft könne zumindest der Wahrheit näher
kommen. Damit stellt sich die Frage, wie dieser Zuwachs an Gewissheit festgestellt wer-
den kann, wenn der Zielzustand niemals sicher identifizierbar ist. Darüber wird heftig
gestritten. Vor allem die Behauptung Poppers, eine Theorie, welche häufig strengen Fal-
sifikationsversuchen widerstand, könne als vorläufig bestätigte, derzeit beste Theorie
gelten, wird massiv kritisiert. Wenn Popper das Induktionsprinzip vehement ablehne,
so das Argument, dann könne er sich nicht auf die Häufigkeit zurückgewiesener Falsifi-
kationsversuche berufen, um wissenschaftlichen Fortschritt festzustellen. Auch dies sei
eine Anwendung des Induktionsprinzips, nur werde es nunmehr auf Falsifikations- statt
auf Verifikationshäufigkeiten bezogen.
46 Werner Früh
Die Tatsache, dass Körper in der Nähe der Erdoberfläche in gerader Linie nach un-
ten fallen, rechtfertigt logisch nicht den Schluss, dass auch die nächsten Körper nach
unten fallen werden und schon gar nicht die Behauptung, alle Körper seien zu allen Zei-
ten nach unten gefallen. Das erkennt man leicht daran, dass z. B. das Blatt eines Baumes
im Herbstwind nicht in gerader Linie nach unten fällt. Bei Unwettern fliegen sogar Dä-
cher und Mülltonnen durch die Luft. Wir wissen, dass hier Luftbewegungen einen inter-
venierenden Einfluss auf die Effekte der Schwerkraft ausüben. Da diese Effekte nicht nur
möglich sind, sondern sogar häufig vorkommen, folgt daraus, dass erstens diese Bedin-
gungen als zusätzliche Erklärungsparameter in die Schlussfolgerung einbezogen werden
müssen, und zweitens, dass eine konstante Konklusion (als Allaussage oder Prognose)
stets nur unter einer bestimmten Ausprägung dieser Bedingungen gilt. Körper fallen
in gerader Linie nach unten, wenn die Gravitationskraft der Erde nicht durch andere
Kräfte, wie z. B. Luftbewegungen, die Gravitation des Mondes (siehe Meeresgezeiten)
oder starke lokale Magnetfelder, gestört wird. Die Notwendigkeit unterstellter konstan-
ter Bedingungen wird als ‚ceteris paribus-Klausel‘ bezeichnet (siehe oben).
Ist ihre Berücksichtigung nun hinreichend, um deduktive Schlüsse logisch rechtfer-
tigten zu können ? Darauf kann man sowohl mit ‚Ja‘, als auch mit ‚Nein‘ antworten. ‚Ja‘
ist die Antwort, wenn man konstante Bedingungen einfach als gegeben unterstellt. ‚Nein‘
ist die Antwort, weil man solche konstanten Bedingungen allenfalls im Laborversuch
künstlich simulieren kann. Sollen diese Ergebnisse dann aber auf alle ähnlichen Fälle
außerhalb des Laborversuchs generalisiert werden, dann hat uns das Ausgangsproblem
wieder eingeholt: Es ist nicht nachweisbar und zudem i. d. R. höchst unwahrscheinlich,
dass diese Bedingungen bei allen Ereignissen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
gleich waren (Wie sollten wir darüber verlässliche Informationen haben ?), gleich sind
oder in Zukunft gleich sein werden. Dieses Problem ist logisch grundsätzlich nicht lös-
bar. Dennoch sagt uns in vielen Fällen unsere Erfahrung, dass es viele Regelmäßigkeiten
auf dieser Welt gibt. Manche sind sehr stabil, andere so sensibel, dass man sich kaum
darauf verlassen möchte. Deshalb liegt es nahe, induktive Schlüsse pragmatisch zu inter-
pretieren: Nach unserer Erfahrung glauben wir davon ausgehen zu können, dass beob-
achtete Regelmäßigkeiten mit einiger Wahrscheinlichkeit auch auf gleichzeitige, jedoch
nicht beobachtete Fälle bzw. auf Fälle in der Vergangenheit und Zukunft übertragbar
sind. Je nachdem, wie viele Ausnahmen bei den erwartbaren Regelmäßigkeiten zu beob-
achten sind, wird uns die Generalisierung mehr oder weniger sicher und gerechtfertigt
erscheinen. Der Induktionsschluss wird damit graduierbar: Er ist mit mehr oder weni-
ger großer Wahrscheinlichkeit wahr. Da eine statistisch gestützte Induktion aber immer
sowohl das Eintreffen als auch das Nichteintreffen eines Ereignisses rechtfertigt, ist aus
logischer Sicht nichts gewonnen.
Popper umgeht dieses Problem, indem er den unendlichen Erklärungsregress nicht
als lösungsbedürftiges Problem, sondern als unerreichbar sieht. Auf der Realitätsebene
konstatiert er, dass ein einmal festgestellter Kausalzusammenhang nur temporäre Gül-
tigkeit besitzt, weil sich, wie oben erwähnt, nicht nur unsere Erkenntnismöglichkeiten
Wissenschaftstheoretische Grundlagen empirischer Forschung 47
verbessern, sondern auch die Realität selbst sich verändern kann. Poppers häufig und
kontrovers diskutiertes Konzept einer „Annäherung an die Wahrheit“ löst das oben ge-
nannte Problem des unendlichen Begründungs- bzw. Rechtfertigungsregresses auf eine
logisch verträgliche, aber dennoch nicht voll befriedigende Art, weil die definitive Fest-
stellung eines Erkenntnisfortschrittes vage bleibt.
Um die Problematik konzentrierter diskutieren und nach Lösungen suchen zu kön-
nen, trennt Popper in seiner Logik der Forschung zunächst einmal zwischen den beiden
Teilproblemen der Hypothesenfindung und der Hypothesenprüfung. Darauf geht die
heute geläufige Unterscheidung von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang
zurück. Für Popper gehört erstere in den Zuständigkeitsbereich der Psychologie, da die
Findung von Hypothesen von klugen Einfällen, also Intuition und Kreativität abhängen.
Zudem sei es wissenschaftlich gesehen belanglos, wie ein Forscher zu seinen Hypothe-
sen komme. Gegenstand der Wissenschaft sei allein der Begründungszusammenhang,
der sich mit der Prüfung der Hypothesen beschäftigt. Dies betrifft sowohl erkenntnis-
logische als auch methodische Fragen. Auch hier scheint eine gewisse Inkonsistenz vor-
zuliegen: Nur bei der „Geburt“ eines Problems ist der Entdeckungszusammenhang völ-
lig voraussetzungsfrei. Ist eine Theorie jedoch bereits etabliert, müssen nachfolgende
Entdeckungs- und Begründungszusammenhänge sich daran orientieren. Die Freiheit
des Entdeckungszusammenhangs reduziert sich dann auf Präzisierungen, Erweiterun-
gen oder Modifizierungen des Vorliegenden.
In der empirischen Forschung der sog. Normalwissenschaft wird der festgestellte
Kausalzusammenhang i. d. R. nur mit Verweis auf die Zweckdienlichkeit der verwende-
ten Methoden gerechtfertigt, wobei auf etablierte Methodenstandards Bezug genommen
wird. Die ceteris paribus- und die Induktionsproblematik werden selten als rechtferti-
gungsbedürftig erachtet. Doch selbst unter der Voraussetzung, die genannten Anforde-
rungen könnten erfüllt werden, wären nicht alle Schwierigkeiten im Rahmen einer DN-
Erklärung beseitigt. Wenn die erklärungsrelevanten Merkmale identifiziert und sowohl
sachlich zutreffend als auch logisch korrekt mit dem Gesetz verbunden sind, dann wird
die Eigenschaft, wahr zu sein, zwar notwendigerweise auf das Explanandum übertragen
(siehe Beispiel 2), damit könnten aber nur bekannte Phänomene mit bekannten Mitteln
erklärt werden. Wissenschaft will jedoch neue Erkenntnisse gewinnen, sodass ein le-
diglich wahrheitserhaltendes Argumentationsverfahren wie die DN-Erklärung nur be-
grenzt weiterhilft. Eine wissenschaftliche Erklärung muss zusätzlich auch erklären, wie
Neues erkannt und belegt werden kann, einschließlich neuer Gesetze. Insgesamt ent-
steht also bereits auf logischer Ebene ein ganzer Komplex diverser Unschärfen, mit de-
nen wissenschaftstheoretisch unterschiedlich umgegangen wird.
48 Werner Früh
Die DN-Erklärung ist für singuläre Ereignisse konzipiert. Oft sollen aber Ereignismen-
gen erklärt werden: Warum sinkt die Wahlbeteiligung in den europäischen Ländern ?
Warum nutzen Jugendliche das Internet häufiger zur Information als Ältere ? Warum
interpretieren Menschen Informationen aus interaktiven Medien als Tatsachen, obwohl
sie von deren unsicherem Wahrheitsgehalt überzeugt sind ? Menschen verhalten sich
nicht strikt regelhaft, d. h. es bestehen Freiheitsgrade im Denken und Verhalten, so-
dass Prognosen und Gesetze nur mit großen Unsicherheiten formulierbar sind. Zudem
beziehen sich diese auf Merkmale, welche für alle Einheiten der betreffenden Menge
(i. d. R. Personen) zutreffen müssen. Jedoch sind reale Mengen durchaus heterogen zu-
sammengesetzt, sodass das zur Erklärung bzw. Prognose verwendete Merkmal nicht al-
len zukommt. Dies führt zu unsicheren Erklärungen.
Hempels DN-Erklärung stellt im Vergleich dazu eine Art der deterministischen sin-
gulären Erklärung dar. Sie folgt dem Muster: Immer dann, wenn A, folgt darauf B. Die
probabilistische (meist als statistisch bezeichnete) Erklärung folgt dem Muster: Immer
dann, wenn A, folgt darauf B oder C bzw. B oder Nicht-B mit der Wahrscheinlichkeit p.
Bei der deterministischen Erklärung wird der behauptete Zusammenhang festgestellt
und mittels kontrafaktischer Analyse geprüft. Die probabilistische Erklärung stellt eben-
falls einen Zusammenhang zweier Ereignismengen fest, eine kontrafaktische Prüfung
ist aber nur bedingt möglich, weil nur eine Schar möglicher Folgeereignisse bestimmt
wird, nicht aber, welches davon im Einzelfall eintreten sollte. Die induktive Vorgehens-
weise ermöglicht lediglich, Erwartungswerte für die verschiedenen Folgeereignisse an-
zugeben, die durch viele Versuche als relative Häufigkeiten ermittelt wurden. Dies ist ein
entscheidender Unterschied zur DN-Erklärung: Der statistische Zusammenhang liefert
kein Argument, warum es A möglich war, B hervorzubringen. Es fehlt also der „Wirk-
impuls“. Wenn A auftritt, ‚erklärt‘ es sowohl das Auftreten als auch das Nicht-Eintreten
von B (und C usf.).
Dies ist nun keine Widerlegung des statistischen Befunds, da dieser das Verhalten aller
erklärt, also auch das der 20 Prozent, die regelmäßig ZDF sehen, aber keine CDU-Wäh-
ler sind. Hätte man dagegen eine repräsentative Personenstichprobe untersucht, dann
wäre zu erwarten gewesen, dass von den ZDF-Nutzern ca. 80 Prozent CDU wählen und
20 Prozent dies nicht tun. Bei solchen kollektiven statistischen Erklärungen ist auch in
begrenztem Umfang eine kontrafaktische Prüfung möglich. Verändert sich die Ursa-
che auf bestimmte Weise, dann sollten sich auch die Wirkungen und deren relative An-
Wissenschaftstheoretische Grundlagen empirischer Forschung 49
teile in diese Richtung verändern. Im Beispiel 3 sollte etwa das Zuschauerprofil des ZDF
wechseln, wenn sich die Programminhalte stark verändern.
Statistische Zusammenhänge sind also relativ informationsarm. Bei Kenntnis der
statistischen Proportionen im Kollektiv ist allenfalls eine Prognose möglich, mit welcher
Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Person das betreffende Merkmal besitzt oder nicht
besitzt. Das Explanandum kann also mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten
oder nicht eintreten. Deshalb lässt sich damit nicht beweisen, ob A und B kausal zu-
sammenhängen, sondern es wird festgestellt, dass A und B mit der Wahrscheinlichkeit
p1 gemeinsam (auch zeitversetzt) auftreten und mit der Wahrscheinlichkeit 1 − p1 dies
nicht der Fall ist; beides sind gleichwertige positive Befunde. Erklärbar sind singuläre
und kollektive Ereignisse. Im Unterschied zur DN-Erklärung wird die Schlussfolgerung
einer singulären statistischen Erklärung aber nicht auf eine einzige reduziert, sondern in
Teilerklärungen unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit aufgeteilt. Zudem handelt es sich
nicht um eine kausale Erklärung, die einen inhaltlich bestimmbaren „Wirkimpuls“ ent-
hält. Vielmehr werden regelmäßige, über Häufigkeiten ermittelte Zusammenhänge, also
Strukturwiederholungen, festgestellt. Auch bei sehr ausgeprägten und relativ stabilen
statistischen Zusammenhängen dieser Art handelt es sich nicht um kausale Erklärun-
gen, sondern vielmehr um Assoziationsgesetze. Sie behaupten keine Ursache-Wirkungs-
beziehungen, sondern beschreiben lediglich relativ regelmäßige bzw. häufige (korre-
lative) Zusammenhänge zwischen Variablen. Sie können z. B. Unterschiede zwischen
Eigenschaften von Personengruppen betreffen. Im Beispiel 3 würde der Zusammenhang
von Medienselektion und Parteipräferenz ein solches Assoziationsgesetz darstellen, so-
fern es deutlich ausgeprägt ist. ‚Deutlich‘ meint, dass per Konvention ein hinreichend
häufiger Zusammenhang als hinreichendes Indiz für einen gültigen (signifikanten) Zu-
sammenhang gewertet wird. Dennoch lassen sich auch per se „sinnleere“ statistische
Zusammenhänge inhaltlich interpretieren, wenn zuvor eine hinreichend gehaltvolle
Theorie formuliert wurde. Wirkungen zeigen sich dann z. B. im Rahmen experimentel-
ler oder quasi-experimenteller Untersuchungsdesigns als signifikante Differenzen von
theoretisch erwartbaren Ereignis- bzw. Merkmalshäufigkeiten.
Hempel (1977, S. 55 ff.) wollte auf die kausale Aussagekraft und Spezifität einer deter-
ministischen Erklärung nicht ganz verzichten und konzipierte die induktiv-statistische
IS-Erklärung nach dem Vorbild seiner DN-Erklärung (siehe oben). Dies zeigt sich ers-
tens daran, dass in der IS-Erklärung – bei sonst gleicher Konstruktion – nur das Gesetz
durch eine etwas weniger strikte nomische Regularität ersetzt wird. Zweitens zeigt es sich
in seiner anfangs vertretenen Forderung, dass die statistische Wahrscheinlichkeit des
IS-Zusammenhangs nahe eins liegen müsse, d. h. dem deterministischen Ideal ‚DN-Er-
klärung‘ möglichst nahekommen soll. IS-Erklärungen stellen nach Hempels Auffassung
also lediglich defizitäre DN-Erklärungen dar. Die Forderung nach größtmöglicher Annä-
herung sollte eine grundlegende Eigenschaft statistischer Erklärungen weitgehend neu-
tralisieren: Sie erklären nicht nur das Eintreten, sondern auch das Nicht-Eintreten eines
50 Werner Früh
Ereignisses. Ist deren Verhältnis asymmetrisch, indem eine der beiden Alternativen sehr
stark dominiert, wäre die Alternativerklärung wenigstens weitgehend ausgeschlossen.
Allerdings wiesen Kritiker wie Suppes (1961) darauf hin, dass dies inakzeptable Fol-
gen hätte. Im Allgemeinen akzeptieren wir z. B. die Behauptung, ein starker Raucher
sei infolge seines Rauchens an Lungenkrebs gestorben, obwohl statistisch gesehen nur
60 Prozent aller starken Raucher an Lungenkrebs erkranken. Auch würden wir es ak-
zeptieren und ebenfalls mit dem statistischen Zusammenhang von Lungenkrebs und
Rauchen erklären, wenn ein anderer Raucher bis zum Lebensende nicht an Lungen-
krebs erkrankte, denn 40 Prozent aller Raucher erkranken nicht an Lungenkrebs. Sup-
pes schlägt vor, Hempels ‚high probability‘-Kriterium durch ein Kriterium der positi-
ven statistischen Relevanz (PR-Kriterium) zu ersetzen. Ein Ereignis A solle schon dann
eine Ursache für B sein, wenn A zeitlich B vorausgeht und ohne A mit geringerer Wahr-
scheinlichkeit eingetreten wäre. Hempel (1977, S. 100 f.) schließt sich später dieser Auf-
fassung weitgehend an, ersetzt die Bedingung ‚geringere‘ aber durch ‚deutliche (signifi-
kante) Veränderung‘ der Wahrscheinlichkeit nach beiden Seiten.
Die Diskussion nahm aber bald eine Wende insofern, als bezweifelt wurde, ob die
DN-Erklärung überhaupt der Maßstab sein könne, an dem die statistische Erklärung
gemessen werden solle oder ob sie eine völlig anders geartete Form der Erklärung dar-
stelle. Stegmüller systematisiert die verschiedenen Auffassungen statistischer Erklärun-
gen und identifiziert drei verschiedene Typen: (in teilweiser Anlehnung an Stegmüller
1983, S. 792 f.):
Typus 1 – Vagheitsinterpretation: Sie argumentiert, dass bei der Anwendung präziser
formaler Modelle wie Logik oder Mathematik auf reale Sachverhalte gewisse Vagheiten
in Kauf genommen werden, weil wir die Realität nicht hinreichend präzise erkennen.
Real existiert ein Zufallsprinzip als ideelles ‚ontisches Muster‘, welches sich aber nur
über Ereignisverteilungen und Wiederholung manifestiert: Würde man einen Würfel
unendlich oft werfen, entstünde eine exakte Gleichverteilung der Zahlenereignisse. We-
niger Würfe erzielen somit nur eine Annäherung, wobei als Argument Häufigkeitsver-
teilungen durch Wiederholung benutzt werden. Eine Wirkung von X ist gegeben, wenn
die Häufigkeitsverteilungen mit und ohne die vermutete Wirkursache (z. B. im Experi-
ment) deutlich voneinander abweichen. Aussagekräftige Abweichungsmargen werden
durch Konvention bestimmt (Signifikanzen). Innerhalb dieser Grenzen gelten die Dif-
ferenzen als Nachweis der Wirksamkeit von X. Vertreter dieser Vagheitsinterpretation
statistischer Erklärungen sind G. Hempel und der Mathematiker H. Cramér.
Typus 2 – Wahrscheinlichkeit als operationalistische Setzung: Vertreter sind u. a. R. von
Mises und H. Reichenbach. Zwischen dem mathematisch-statistischen Formalmodell
und seiner empirischen Umsetzung besteht keine semantische Beziehung. Die Vorstel-
lung einer strengen Kausalität ist nichts weiter als eine Idealisierung der Regelmäßigkeit
unserer makroskopischen Umwelt. Sie benutzt eine Vereinfachung, so dass wir strenge
Gesetze annehmen, wo in Wirklichkeit nur statistische Gesetze am Werke sind. Die ma-
thematisch-statistische Wahrscheinlichkeitsbehauptung wird per Setzung als gleichwer-
Wissenschaftstheoretische Grundlagen empirischer Forschung 51
tig mit realen relativen Häufigkeiten oder Proportionen betrachtet. „Eine Setzung ist ein
Satz, den wir als wahr ansehen, obgleich wir nicht wissen, ob er es ist. Wir versuchen,
unsere Setzungen so zu wählen, dass sie so oft wie möglich wahr sind. Der Grad der
Wahrscheinlichkeit gibt uns eine Bewertung der Setzung; er sagt uns, wie gut die Set-
zung ist, und das ist die einzige Funktion einer Wahrscheinlichkeit“ (Reichenbach 1947,
S. 271). Die Wahrscheinlichkeitstheorie prognostiziert Ereignisse auf der Grundlage zu-
vor festgestellter Häufigkeiten. Sie trifft also eine Aussage über Zukünftiges, sodass des-
sen Eintreten prüfbar ist. Die dabei verwendete synthetische Regel ist ‚Induktion durch
Aufzählung‘. Sie erlaubt es nicht, eine Aussage über das prognostizierte Ereignis als wahr
zu bezeichnen – nicht einmal im Sinne einer Wahrheitsvermutung: „Was die Logik be-
weisen kann, ist nur, daß es ratsam ist, von dem Prinzip Gebrauch zu machen, wenn
man ein bestimmtes Ziel im Auge hat“ (Reichenbach 1947, S. 461). Auch wenn die Pro-
gnose bestätigt wird, kann dies nicht als Kausalität interpretiert werden, da die moderne
Physik gezeigt habe, dass Kausalität prinzipiell durch den Primat der Wahrscheinlichkeit
ersetzt wurde. Statistische Zusammenhänge bedeuten nicht mehr als ein auf lange Sicht
wiederholbares gemeinsames oder zeitversetztes Vorkommen von Ereignissen. Reichen-
bach argumentiert somit in drei Schritten: (1) Um einen Sachverhalt zu erklären, muss
man auf differenziertere Sachverhalte zurückgreifen (Reduktion); dies führt irgendwann
zu einer Erklärung auf molekularer bzw. atomarer Ebene. (2) Dort konnte die Wissen-
schaft aber zeigen, dass die Realität nicht deterministisch ist, sondern durch Zufallspro-
zesse konstituiert wird. (3) Also würde eine deterministische kausale Erklärung, selbst
wenn wir kein defizitäres Wissen hätten, keine wahre Erklärung liefern. Vielmehr sei die
probabilistische Erklärung die universell angemessene (S. 260 – 280).
Typus 3 – Wahrscheinlichkeit als dispositionales Konstrukt: Die dritte Position inter-
pretiert Wahrscheinlichkeit als abstrakten theoretischen Begriff bzw. als Konstrukt.
Konstrukte leisten die theoretische Interpretation der statistischen Wahrscheinlichkeit.
Diese Denkweise wird z. B. von R. Carnap, K. Popper und I. Hacking vertreten. Nach
Carnap „ist eine statistische Hypothese über einen Würfel ein Satz, der einem System,
in dem dieser Würfel als Teilsystem vorkommt (…), eine bestimmte Disposition zu-
schreibt“ (Stegmüller 1983, S. 793). Aufgrund seines Zustands ist er stets in der Lage,
eine spezifische Wahrscheinlichkeitsverteilung hervorzubringen. Die Realisierung der
probabilistischen Disposition erfolgt mittels Häufigkeitsverteilung.
Popper konzipierte statistische Erklärungen als eine Art ‚dispositionaler Kausalität‘,
die er Propensität (Verwirklichungstendenz) nannte. Bestimmte Entitäten X besitzen
das Vermögen, Y hervorzurufen, realisieren diese Option aber nicht stetig, sondern nur
auf lange Sicht mit Variationen der einzelnen Ereignisse, also als eine auf einen Grenz-
wert gerichtete Tendenz (z. B. Popper 2005, S. 191 ff.). Im Unterschied zu Reichenbach
erklärt Popper Kausalität nicht für obsolet; Wahrscheinlichkeit ist für ihn aber ein eher
sperriger Begriff.
Es scheint so, als habe jede der drei Positionen etwas Überzeugendes, doch auf kon-
krete Kausalbeziehungen angewendet befriedigt keine vollständig, weil der Nachweis
52 Werner Früh
nur auf formaler Ebene geführt wird. Solange die Wissenschaft den Anspruch nicht auf-
gibt, zumindest indirekt etwas über die Welt zu erfahren, reicht der Nachweis eines mit-
tels Häufigkeiten festgestellten Zusammenhangs zweier Ereignismengen nicht aus, viel-
mehr müssen die Inhalte der Häufigkeiten einbezogen werden. Wesentlich ist also zu
erfahren, was diesen Zusammenhang bewirkt und weshalb er relativ stabil wiederhol-
bar ist. Allerdings warnt Stegmüller (1983, S. 786 f.) davor, diesen Anspruch zu einem
Dogma zu erheben. Es mag sein, dass statistische Erklärungen in einigen Fällen tatsäch-
lich nur primitive Vorstufen ‚echter‘ Kausalerklärungen sind, in anderen Fällen kann es
sich aber auch um ein eigenständiges Strukturphänomen handeln, das mit Kausalität
gar nichts zu tun hat.
Emergente Phänomene werden von Reduktionisten gerne kaschiert. Statt von Kau-
salität wird von Funktionszusammenhängen gesprochen. Das eigentliche Problem, das
‚Hervorbringen‘ einer qualitativ anderen Entität, wird damit umgangen. Die Verwen-
dung des Transaktionsbegriffs könnte das beschriebene substanzielle Erklärungspro-
blem zwar nicht lösen, aber einen „integrativen“ konzeptuellen Rahmen liefern, der ge-
genüber reduktiven und emergenten Erklärungen indifferent bleibt, indem Kausalität
durch Transaktion ergänzt wird (Früh 2009).
Beispiel 4: Es wurde häufig beobachtet, dass Menschen, die regelmäßig die Nachrichtensen-
dungen von ARD und ZDF nutzen, politisch gut informiert sind. SBE: Die Nachrichtensen-
dungen öffentlich rechtlicher TV-Sender haben eine bedeutende Informationsfunktion.
Beispiel 5: Im Interview wird eine Person P gefragt, ob sie politisch interessiert sei. Sie antwor-
tet mit Nein. SBE: Sachverhalt „politisches Interesse“ trifft auf Person P nicht zu.
Beispiel 6: Person P tötet in einem Amoklauf 20 Schüler und vier Lehrer in seiner Schule.
Person P sieht regelmäßig Gewaltvideos. SBE: Die Rezeption der Gewaltvideos hat P zu dem
Amoklauf veranlasst.
In allen Beispielen sind auch andere Erklärungen denkbar. Allerdings ist die verwendete
Erklärung nur in Beispiel 4 und unter bestimmten Bedingungen in Beispiel 5 tatsächlich
von allen denkbaren Erklärungen die plausibelste. In Beispiel 5 unter der Bedingung,
dass P nach einem ‚unsensiblen‘ Thema befragt worden wäre, wie z. B. nach der Nut-
zung bestimmter Fernsehgenres (Sport, Dokus, Krimis etc.). Hätte die Frage dagegen
gelautet: „Haben Sie noch nie Steuern hinterzogen“ (oder die Geschwindigkeitsbegren-
zung in Ortschaften übertreten etc.), dann wäre ein ‚Nein‘ als Antwort sicher nicht der
Schluss auf die beste Erklärung. Mit anderen Worten: Der Schluss auf die beste Erklä-
rung verlangt, dass zumindest andere Erklärungen als weniger plausibel ausgeschlossen
54 Werner Früh
werden können. SBS ist also eine komparative Erklärungsform. Liegt dieser kompara-
tive Aspekt nicht vor, handelt es sich nur um einen Schluss auf eine plausible Erklärung
neben anderen plausiblen Erklärungen (SPE). Dies trifft für Beispiel 6 zu: Die Nutzung
von Gewaltvideos könnte zwar ein auslösender Anlass für den Amoklauf gewesen sein,
aber die Erklärung ist nicht sehr plausibel und es fehlt der Vergleich zu anderen plau-
siblen Erklärungen. Millionen anderer Jugendlicher rezipieren ebenfalls Gewaltvideos,
töten deshalb aber keine Menschen. Der Schluss auf eine plausible Erklärung (SPE) for-
dert also, dass das Explanans mindestens im Sinne einer möglichen Teilursache mit dem
Explanandum verbunden ist (was im Beispiel 6 zutrifft) und dies mehr als zufällig oder
sogar häufig der Fall ist.
Es handelt sich bei der Abduktion also um einen teils erfahrungsbasierten, teils krea-
tiven induktiven Schluss mit Korrekturoption, der insofern riskant ist, als er einfach
nur der subjektiv und aktuell erfolgversprechendsten Spur folgt. Kritisierbar ist dabei
erstens, dass möglicherweise viele andere Einflussfaktoren ausgeblendet bleiben, weil
sie dem Forscher nicht plausibel erschienen und zweitens weil diese spezifische Theo-
rie-Realisierung als Theoriestandard verallgemeinert wird. Abduktion bestätigt nur,
dass eine bestimmte Theoriekonzeption zu einem bestimmten Prüfresultat führt, aber
nicht, warum dies so ist. Dieser erklärende Schritt müsste also anschließend interpre-
tativ ergänzt werden. Außerdem werden Alternativerklärungen nicht systematisch aus-
geschlossen. Es wäre also zu belegen, ob nur die abduktiv benannte Merkmalskonstel-
lation zu dem festgestellten Ergebnis führte oder auch gleichwertige konkurrierende
Theorien möglich wären (Pluralität kausaler Pfade). Sind die anderen Erklärungsmög-
lichkeiten auch mit anderen Erkenntnisinteressen verbunden (die Kommunikationswis-
senschaft erklärt Medieneffekte teilweise anhand anderer Merkmale als die Psychologie
oder Soziologie), besteht gegebenenfalls auch die Notwendigkeit, den Geltungsbereich
der Theorie einzuschränken.
Abduktive Schlüsse sind meist mit wissenschaftstheoretischem Pragmatismus ver-
bunden. Vertreter dieser Richtung, wie Ch. S. Pierce (1934) oder W. James (1999), vertre-
ten die Ansicht, dass nur das wahr sei, was praktische (Handlungs-)Konsequenzen hat.
James zitiert den Physiker Ostwald: „Ich pflege in meinen Vorlesungen die Frage zu stel-
len: In welcher Beziehung wäre die Welt anders, wenn diese oder jene Alternative wahr
wäre ? Wenn ich nichts finden kann, das anders würde, dann hat die Alternative keinen
Sinn“ (zit. nach Gadenne & Visintin 1999, S. 64). Pragmatismus setzt Realismus voraus.
Hacking kritisiert, dass die anti-realistischen Empiriker zu großen Wert auf die Beob-
achtbarkeit der Gegenstände legen, aber die Frage vernachlässigen, was in der Wissen-
schaft praktisch beeinflusst werden könne. Er ist der Auffassung, dass wissenschaftliche
Gegenstände genau dann als real gelten sollen, wenn sie kontrolliert manipulierbar sind
und erkennbare Wirkungen erzeugen (Hacking 1996, zit. nach Chalmers 2007, S. 191).
Damit wäre ein großer Teil der ‚klassischen‘ Wissenschaftstheorie obsolet.
b) Erschlossene Kausalität und Transaktion: Zum Nachweis einer kausalen Wir-
kung gehört neben dem Beleg für den Wirkimpuls als zweites wichtiges Kriterium die
Wissenschaftstheoretische Grundlagen empirischer Forschung 55
Asymmetrie von Ursache und Wirkung. Schon Kant wies darauf hin, dass die Ursache
der Wirkung mit einer unbestimmt großen Zeitdifferenz vorausgehen muss, weil sie
die Wirkung ja erst hervorbringen soll. Schwierig wird die Angelegenheit dann, wenn
der Prozess des ‚Hervorbringens‘ nicht direkt beobachtbar ist. Kant (1787) benutzte das
Beispiel einer Kugel, die auf einem eingedrückten Kissen liegt. Hier koexistieren für
den Betrachter Ursache und Wirkung, aber aufgrund seines Vorwissens kann erschlos-
sen werden, dass die schwere Kugel die zeitlich vorangehende Ursache für die Kissen-
delle sein muss. In der Medienwirkungsforschung fehlt häufig der Nachweis einer Vor-
zeitigkeit der Ursache, da v. a. in der Feldforschung mit Querschnittsstudien gearbeitet
wird. Aus der Tatsache, dass P häufig Zeitung X liest, wird geschlossen, dass die Me-
dieninhalte die in ihrer Meinungstendenz gleichen (also ‚passenden‘) Meinungen des
Publikums beeinflussten. Als Rechfertigung kann aber lediglich die mehr oder weniger
plausible Überlegung angeführt werden, dass Medien die Meinungen des Publikums be-
einflussen und nicht umgekehrt die Meinungen des Publikums die Inhalte der Medien
bestimmen. Dies ist aber keineswegs überzeugend. Wir wissen, dass bei der Rezeption
von Medieninhalten das Vor- und Hintergrundwissen der Rezipienten eingebracht wird,
sodass dieses zumindest ein Teil der kausalen Ursache ist, welche die Vorstellungen er-
zeugt (vgl. z. B. Früh 1991, S. 123 ff.; Früh 2002, S. 141). Die Koexistenz von Ursache und
Wirkung kann bei Medienwirkungen also nur selten überzeugend kausal erklärt werden,
sodass in vielen Fällen das Transaktionskonzept geeigneter ist. Damit sind Wirkungs-
zusammenhänge angesprochen, bei denen es keine einseitige kausale Wirkungsrichtung
gibt. Früh und Schönbach führten dafür mit der Transaktion einen weiteren Relations-
typus ein, welcher in bisheriger Terminologie als reziproke Kausalität erscheint. Tat-
sächlich ist der Kausalitätsbegriff hier aber unbrauchbar, da Effekt und Rückwirkung
‚verschmelzen‘ (Früh & Schönbach 1983; Früh 1999; Früh 2009).
Beispiel 7: Ein Zeitungsleser wählt Zeitungstexte souverän auf der Grundlage seiner Inter-
essen und Bedürfnisse aus und interpretiert sie nach seinen Kenntnissen und Überzeugun-
gen, sodass das Resultat ‚Informationsaufnahme‘ wesentlich von ihm selbst ‚verursacht‘ wird.
Kann er jedoch nur aus einem Angebot auswählen, das ihm der Kommunikator (die Pres-
se) zur Verfügung stellt, wird das Resultat auch vom Kommunikator mitgeprägt. Beides ge-
schieht simultan, d. h. Interventionsmöglichkeiten gibt es nicht. Bedenkt man zudem, dass
Rezeption ein Prozess ist, bei dem sich die Einflusspotenziale von beiden Seiten progressiv
verändern, sind letztlich ‚gleitende multiple Ursachen‘ wirksam (dynamische Transaktion).
jedoch deren wahre Ausprägung meist unbekannt ist, kann ihre Invarianz nur unter-
stellt werden (siehe oben: ceteris paribus-Erklärungen). Manchmal befinden sich unter
den bekannten Hintergrund- und Randbedingungen aber auch solche, die selbst geeig-
net wären, die Wirkung allein hervorzubringen. Dann entsteht Unsicherheit darüber, ob
die gerade beachtete Ursache oder aber eine der vorliegenden, alternativ möglichen Ur-
sachen wirksam war (Überdetermination).
d) Kausalketten: Wenn Kausalzusammenhänge in einem mehrstufigen Prozess ent-
stehen, ist oft strittig, was die ‚wahre‘ Ursache ist.
In der Regel besteht eine nicht wirklich erklärbare Neigung, jeweils nur eine Ursache als
„wahre Ursache“ aufzufassen und Ereignisse gegenüber Zuständen zu präferieren, ob-
wohl diese ebenfalls als Ursachen wirksam sein können. (Haussmann 1991, S. 30 f.) Die
Auswahl der Ursache folgt dabei oft der individuellen Erklärungsintention (kausales
Feld; vgl. Mackie 1974). Je nach Forschungsinteresse kann jede Erklärungsstufe mit einer
der folgenden Stufen kausal verbunden werden – alles andere entfällt. Dabei ist evident,
dass die Wirkung ohne die Zwischenstufen nicht hätte entstehen können. Allerdings ist
es häufig so, dass auf jeder Stufe weitere erklärungsrelevante Einflüsse wirksam sind, so-
dass der Wirkimpuls des auslösenden Ereignisses zunehmend verwässert wird. Ob die
im Beispiel 8 genannte Handlung tatsächlich ausschließlich oder nur teilweise durch das
Surfen im Internet verursacht wurde, bleibt ungewiss.
e) Hilfshypothesen und die ‚Tiefe der Erklärung‘: In einer Erklärung wird ein Expla-
nandum durch ein Explanans erklärt. Wird Letzteres selbst wieder erklärt, entsteht eine
‚tiefere Erklärung‘ – ad infinitum. Der damit schnell anwachsende Aufwand wird redu-
ziert, indem Selbstverständliches oft stillschweigend als sog. Hilfsannahme unterstellt
wird. Gadenne (1984, S. 49) schließt daraus, dass infolge dieser Hilfsannahmen stets lü-
ckenhafte Kausalketten erzeugt würden. Dies sollte man jedoch differenzieren: Lücken
in der Kausalkette mögen dadurch auftreten, dass die Gültigkeit diverser Hilfshypothe-
sen ungeprüft unterstellt wird.
Beispiel 9: Man nimmt in einer Befragung an, dass die Probanden die Fragen verstehen und
weitgehend aufrichtig antworten.
Beispiel 10: Man unterstellt, dass für ein situativ vorliegendes Erkenntnisinteresse eine Erklä-
rung auf einer relativ hohen Allgemeinheitsebene ausreicht: P wird von Freunden als pflicht-
bewusst gelobt, weil er sich stundenlang Filme ansieht. (Hintergrund: Am nächsten Tag
werden im Seminar geeignete Filme für ein Forschungsprojekt benötigt.)
Wissenschaftstheoretische Grundlagen empirischer Forschung 57
Beispiel 8 (siehe oben) impliziert, dass jeder der Erklärungsschritte selbst wieder die
Summe vieler Detailerklärungen darstellt. Die Hilfshypothesen des Beispiels 9 tangieren
die Vollständigkeit der Erklärung, indem notwendige Merkmale der benutzten Befra-
gungsmethode möglicherweise nicht vorliegen; die unterschlagenen Detailerklärungen
im Beispiel 10 erzeugen definitiv logische Erklärungslücken. Allerdings ist fraglich, ob
diese Lücken immer als Defizit bezeichnet werden können. Gemäß pragmatischer Er-
klärungstheorien (van Fraassen 1990) orientieren sich Erklärungsumfang und -spezifi-
zierung an den situativen Erklärungserwartungen. Insofern wäre die in Beispiel 10 ge-
gebene Erklärung vermutlich hinreichend, weil der Erklärungskontext (in Klammern)
bekannt ist. Solche Kontexte werden in medialen Darstellungen jedoch selten verlässlich
mitgeteilt, sodass pragmatische Erklärungen nicht möglich bzw. unvollständig sind. Da
aber einerseits jede spezifischere Erklärung wiederum auf noch spezifischere (tiefere)
Erklärungen reduziert werden kann und andererseits auch die Identifizierbarkeit rele-
vanter Erklärungskontexte problematisch ist, stellt diese Art der Lückenhaftigkeit ein
offenbar nie ganz eliminierbares Erklärungsmerkmal dar.
3.1 Theoriearten
Im allgemeinsten Sinne sind Theorien Vorstellungen von ‚etwas‘. Theorie setzt also nur
eine Subjekt-Objekt-Differenzierung voraus. Theorie ist dann alles, was mental in zu-
mindest minimal strukturierter Form repräsentiert wird. Theorie ist somit ein Oberbe-
griff für eine Vielzahl mentaler Rekonstruktionen, Repräsentationen oder Konstruktio-
nen, welche uns unter ganz verschiedenen Begriffen bereits bekannt sind: Klassifikation,
Beschreibung, Erklärung, Definition, Hypothese etc. – dies alles sind bereits einfa-
che Theorien. In der Regel werden wir jedoch komplexere Theorien vorfinden, welche
mehrere solcher ‚Minitheorien‘ miteinander verbinden. Eine Theorie bezieht sich im-
mer auf eine bestimmte Intention des Erkennens, welche entweder beschreibend oder
erklärend ist. Von wissenschaftlichen Theorien wird erwartet, dass sie einen Sachver-
halt zutreffend bzw. gültig und vollständig beschreiben oder erklären. Bei komplexen
Theorien wird zusätzlich interne Widerspruchsfreiheit (Konsistenz) und größtmögliche
Einfachheit (bei konstantem Gehalt) gefordert. Somit kann eine Theorie als geordnete
und kohärente semantische Struktur bezeichnet werden. Nach Allgemeinheitsgrad und
spezifischer (eigenständiger) Funktion im Erklärungsprozess lassen sich fünf Klassen
unterscheiden:
2. Rahmentheorien: Sie sind exklusiv für eine bestimmte Klasse von Fragstellungen und
die Perspektive einer Fachdisziplin. Beispiele: Mikrofundierung (Coleman 1990; Opp
2005; Esser 1999), Symbolischer Interaktionismus (Blumer 1969) oder dynamisch-
transaktionaler Ansatz (DTA; Früh & Schönbach 1982). Der DTA verbindet z. B. in
systematischer Weise Kommunikator- und Rezipientenperspektive, etabliert mit der
Transaktion einen neuen, universellen Beziehungstypus und betont die prozessbezo-
gene Perspektive bei der Erklärung von Medienwirkungen. Rahmentheorien lassen
sich aber auch für einzelne Themenbereiche formulieren, wie z. B. Wissensvermitt-
lung oder Unterhaltung. Allen gemeinsam ist, dass sie nur ein bestimmtes Grund-
modell formulieren. Es besteht der Anspruch, dass sich in dieses nahezu alle kon-
kreten Forschungsfragen innerhalb des spezifizierten Bereichs einordnen lassen und
die obligatorischen Bestandteile des Explanans bestimmt werden (z. B. dynamisches,
triadisches Fitting im Rahmen des DTA; Früh 2002, S. 140 ff.). Rahmentheorien
grenzen auch die fachspezifische Perspektive ab. Im genannten Beispiel triadisches
Fitting wird erstens festgelegt, dass es sich um einen kommunikationswissenschaft-
lichen Zugang handelt und zweitens wird der Gegenstandsbereich auf Medienwir-
kungen eingegrenzt.
3. Spezifische Theorien als Theoriestandard (Standardtheorie): Sie beziehen sich auf den
durch eine spezifische Forschungsfrage markierten Teil des von der Rahmentheo-
rie abgegrenzten Gegenstandsbereichs. Die spezifische Theorie besteht aus (a) dem
Theoriekern und (b) allen zum derzeitigen Zeitpunkt bekannten, für alle Anwendun-
gen gültigen und als gesichert geltenden erklärenden Faktoren sowie (c) den gene-
rellen Randbedingungen. Insofern ist sie auf dem gegebenen Entwicklungsstand
vollständig und kann als Theoriestandard bezeichnet werden. Bestandteile sind im
Einzelnen: (a) Theoriekern: Er umfasst die Grundannahmen der Theorie ohne jede
Spezifizierung. Dieses Kernarsenal zeichnet sich dadurch aus, dass keines seiner Ele-
mente entfernt werden kann, ohne die Theorie grundlegend zu verändern. Bei einer
erklärenden Theorie gehören dazu (a1) der zu erklärende Sachverhalt als Feststellung,
(a2) die Kausalfaktoren und (a3) der behauptete (hypothetische) „Wirkmodus“. Bei-
spiel Agenda Setting: Durch ihre Themenauswahl beeinflussen die Medien die vom
Publikum als relevant erachtete Themenmenge); (b) erklärende Faktoren: Alle (im
jeweiligen Entwicklungsstadium bekannten) notwendigen generellen Bedingungen;
(c) moderierende Faktoren und Randbedingungen, unter der die Theorie gilt.
4. Theorievarianten: Sie bezeichnen einen Theoriestandard, der durch einige (typi-
sche) anwendungsspezifische Ergänzungen (Theorieperipherie) angereichert ist. Zur
Theorieperipherie gehören somit erstens alle Elemente und Relationen, welche nur
in spezifischen Anwendungskontexten relevant werden. Sie können entweder als dis-
ponible optionale Ergänzungen oder als notwendige Theoriebestandteile auftreten,
welche jedoch nur unter gegebenen Anwendungsbedingungen erforderlich sind (z. B.
Anwendung der triadisch-dynamischen Unterhaltungstheorie von Früh (2002) auf
Print-, TV- oder Computergame-Nutzung). Es bestehen somit ebenso viele Theo-
Wissenschaftstheoretische Grundlagen empirischer Forschung 59
Theorie als unzutreffend verworfen wird. Allerdings muss dabei sichergestellt sein, dass
die Prüfungen streng genug sowie in der Beweisführung logisch schlüssig sind und me-
thodisch korrekt durchgeführt werden. Diese Theorieauffassung wird als Aussagenkon-
zeption bezeichnet.
Die auf der Grundlage des logischen Empirismus entwickelte strukturalistische Theo-
rieauffassung (non-statement view: Sneed 1971) unterscheidet sich von der Aussagen-
konzeption fundamental. Ausgangspunkt ist die Kritik des Falsifikationskriteriums:
Für jede Theorie muss mindestens eine Beobachtungsaussage möglich sein, aus der die
Falschheit der Theorie folgen würde. Dies sei jedoch schwierig festzustellen, weil erstens
alle Beobachtungsaussagen falsch sein könnten, Zusatzannahmen zur Theorieoperatio-
nalisierung erforderlich und die zur Beweisführung verwendeten Schlüsse oft statisti-
scher Natur seien, also in gewissem Umfang stets auch die Komplementärhypothese
stützten. Diese Überlegungen führen zu dem Ergebnis, dass Falsifizierbarkeit keine lo-
gisch eindeutig feststellbare, sondern durch Konvention zugeschriebene Eigenschaft ei-
ner Theorie sei. Damit sei die Aussagenkonzeption nicht mehr haltbar.
Daraus wird die Konsequenz gezogen, dass nicht Theorien, sondern nur deren An-
wendungen überprüfbar seien. Eine Theorie sei nichts weiter als ein (formal-)sprach-
liches Konstrukt, welches zwar auf Erfahrungen gründen könne, was aber unwesent-
lich sei. Als Bausteine werden formale, mengentheoretische Funktionen verwendet (ist
Folge von…; ist Voraussetzung für…; schließt x ein…; ist Summe von… etc.). Aus die-
sem ‚Baukasten‘ lassen sich mehr oder weniger komplexe Strukturen komponieren. In
empirischer Hinsicht behaupten diese Formalstrukturen nichts. Mentale Theoriekon-
zepte, die einer dieser Formalstrukturen entsprechen, gelten lediglich als Anwendungs-
fall der Formalstruktur. Empirische Überprüfungen können diese Zuordnung bestä-
tigen oder falsifizieren. In letzterem Fall wird lediglich bestätigt, dass die empirisch
ermittelten Sachverhalte eben kein Anwendungsfall der Formalstruktur seien. Analoge
Beispiele kennen wir von statistischen Auswertungsverfahren: Eine Regression stellt ei-
nen bestimmten, abstrakten Zusammenhang zweier Variablen(gruppen) dar, der in ei-
ner Formel repräsentiert ist. Es wird nun geprüft, inwieweit die erhobenen Daten auf
dieses „formale Idealmodell“ passen. Passen sie nicht, so ist aber keineswegs die Regres-
sion als „Theorie einer bestimmten Zusammenhangsart“ falsifiziert, sondern die Daten
passen nur nicht. Wenn eine inhaltlich gehaltvolle Theorie geprüft werden soll, muss
somit implizit immer unterstellt werden, dass das Kalkül der formalen „Analysetheo-
rie“ dem Gegenstand adäquat ist, dort also solche Zusammenhangsmuster real zu er-
warten sind.
Nach diesem non-statement view (der sich nicht nur auf Analyseverfahren bezieht)
lassen sich durch kritische empirische Forschung also keine Theorien falsifizieren, son-
dern nur Anwendungsfälle zuordnen. Theorien sind so etwas wie eine logisch konstru-
ierte Schablone, die auf die empirischen Befunde gelegt wird. Sind sie nicht kompati-
bel, muss nach geeigneteren Anwendungsfällen gesucht werden. Eine Theorie ist somit
keine semantisch gehaltvolle Aussage über die Realität, die wahr oder falsch sein kann,
Wissenschaftstheoretische Grundlagen empirischer Forschung 61
sondern eine Formalstruktur, die ideale Strukturen repräsentiert. Kritisiert wird daran
hauptsächlich die Richtung der Beweisführung: Nicht Theorien werden überprüft, um
sie zu verbessern, sondern geeignete Anwendungsfälle für vordefinierte Funktionskom-
plexe werden gesucht. Die Möglichkeit, Neues zu entdecken, wird so zwar nicht aufge-
geben, aber stark reduziert, da sie nicht mehr im Fokus des Interesses steht. Vereinfacht
gesagt wird beim non-statement view geprüft, ob etwas Erwartetes eintritt. Ist dies nicht
der Fall, so hat der Forscher an der falschen Stelle gesucht. Die Theorie wird damit im-
munisiert, bestenfalls marginalisiert. Vor allem dürfte es Forschern aber kontraintuitiv
erscheinen, dass ihre Theorien keine prüfbaren Aussagen über die physikalische oder
soziale Wirklichkeit darstellen sollen.
In der empirischen Forschung geht es um die Frage, wie aus Beobachtungsdaten
Schlüsse auf die Angemessenheit der Theorie gezogen werden können. Da gemäß dem
Hume’schen Induktionsproblem alle induktiven Schlüsse stets gehaltserweiternd und
damit logisch nicht gerechtfertigt sind, will der Logische Empirismus dieses Risiko of-
fenbar dadurch minimieren, dass er anhand einer strengen Formalisierung aller Be-
standteile und deren Relationen versucht, die Schlussfolgerung zunächst zu präzisieren,
um sie dann mittels logischer Schlussverfahren fehlerfrei zu realisieren. Diese logische
Formalisierung induktiver Schlussregeln ist also keine Rechtfertigung für die ‚Wahrheit‘
der damit verbundenen inhaltlichen Schlüsse, die Formalisierung soll das Schlussver-
fahren nur präziser und transparenter machen. Im Unterschied zu dieser logisch-for-
malen Wahrheit folgt die inhaltliche Wahrheit (oder Falschheit) der Konklusion, jedoch
notwendig aus der inhaltlichen Wahrheit (oder Falschheit) der Prämisse. Diese ist aber
Bestandteil der Theorie, die inhaltlich nicht geprüft wird.
Somit sind bei empirischen Beweisführungen immer zwei Rechtfertigungen erfor-
derlich: Die Rechtfertigung der Prämissen und jene der Konklusion. Dagegen scheint es,
als sei das Konklusionsproblem bei den ‚klassischen‘ deduktiv-nomologischen Schlüs-
sen unproblematisch, da hier sowohl die Wahrheit der Beobachtungsaussagen als auch
die der logischen Schlussfolgerung gerechtfertigt werden – allerdings mit dem Vorbe-
halt des möglichen Irrtums. Zunächst wird nach dem Prinzip verfahren: Wenn die Be-
obachtungsaussagen nach dem bisherigen Kenntnisstand wahr und auch die Schlussfol-
gerung logisch schlüssig sind, dann muss auch die Konklusion (bis auf Weiteres) wahr
sein. Dies trifft jedoch nur bedingt zu. Die Konklusion stützt sich auf ein Gesetz, das die
induktive Generalisierung ermöglicht. Hält man dies aufgrund des Hume’schen Induk-
tionsproblems für fraglich, dann ist auch die deduktiv-nomologische Beweisführung
trotz formallogischer Korrektheit fraglich, da mindestens eine der beiden Prämissen
nicht gerechtfertigt werden kann. Obwohl Popper dieses Erklärungsdefizit durch den
Irrtumsvorbehalt auf lange Sicht neutralisiert, muss aktuelle Forschung dies doch im
Anwendungsfall zunächst ignorieren. Daran zeigt sich, dass die Rechtfertigung indukti-
ver Schlüsse auch in deduktiven empirischen Beweisführungen eine Schlüsselfunktion
innehat, selbst wenn sie – wie in Poppers Falsifikationismus – unter einem Generalvor-
behalt stehen.
62 Werner Früh
4 Fazit
Literaturtipps
Literatur
Albert, H. (1991). Traktat über kritische Vernunft. 5. Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck.
Bartelborth, T. (2007). Erklären. Berlin: Gruyter.
Blumer, H. (1969). Der methodologische Standort des Symbolischen Interaktionismus. In Ar-
beitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.). (1973). Alltagswissen, Interaktion und gesell-
schaftliche Wirklichkeit. Band I. Opladen: Westdeutscher.
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Suppes, P. (1961). The Philosophical Relevance of Decision Theory. The Journal of Philosophy,
58, 605 – 614.
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In G. Schurz (Hrsg.), Erklären und Verstehen in der Wissenschaft (S. 31 – 89). München:
Oldenbourg.
Soziologische Grundlagen
Michael Jäckel
Abstract Der Beitrag erläutert die soziologischen Wurzeln der Medienwirkungsforschung unter Be-
rücksichtigung eines Modells, das Neuman und Guggenheim aus einer umfangreichen Zitationsanalyse
US-amerikanischer Fachzeitschriften abgeleitet haben. Die Fragestellungen der Mediensoziologie wer-
den auf diese Weise herausgearbeitet und durch Beispiele ergänzt. Die Lenkkraft der Medien wird dabei
ebenso thematisiert wie die Einflussmöglichkeiten des Publikums. Wirkung von etwas auf etwas erweist
sich dabei selten als einseitiger Vorgang. Prozesse der Aufmerksamkeitserzeugung verlaufen häufig ähn-
lich turbulent wie Versuche, in einem stimmenreichen Meer an Informationen Orientierung zu finden.
Die Wirklichkeit der Medien erweist sich als zunehmend unausweichlich wie herausfordernd, als selt-
same Mischung aus Anregendem und Abweisendem, als etwas, das man sich anders wünscht, ohne es
deshalb zu meiden.
Der vorliegende Beitrag stellt den Stellenwert der Soziologie für die Entwicklung der
Medienwirkungsforschung in den Mittelpunkt. Naheliegend ist in diesem Zusammen-
hang die folgende Ausgangsfrage: Wann beginnt die Mediengesellschaft ? Wenn so for-
muliert wird, ist auch an die Anfänge der Medienwirkungsforschung gedacht. Würde
man die Antwort an der Etablierung der wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit
Fragen der Medienwirkung auseinandersetzen, orientieren, müsste man den Beginn im
20. Jahrhundert suchen. Wer dagegen den Blick in die Mediengeschichte lenkt, wird
nicht umhinkommen festzustellen, dass die Frage, wie Medien die Verfasstheit einer
Gesellschaft verändert haben, eine sehr lange Tradition hat. Hans Joas hat die Aufgabe
der Soziologie darin gesehen, die „Arten und Weisen, wie das menschliche Leben sozial
organisiert wird“ (2007, S. 14), zu untersuchen. Eine Mediensoziologie betont daher in
besonderer Weise den Blick auf Phänomene, die ohne die Existenz von (Verbreitungs-)
Medien entweder nicht vorstellbar waren oder zumindest in der Wahrnehmung ihrer
Bedeutung durch eine Vielzahl weiterer Kanäle verstärkt wurden. Mit Medien sind all-
gemein Artefakte, die Vermittlungsleistungen übernehmen, gemeint: Bilder, Texte, aber
z. B. auch Münzen. Beobachtungen, die sich auf die Wirkung von Medien im weitesten
Sinne beziehen, waren bereits vor dem Aufkommen einer akademischen Disziplin, die
sich Kommunikationswissenschaft oder Publizistikwissenschaft nannte, weit verbreitet.
Aber die Pluralität der Auffassungen ist ohne Zweifel auch das Ergebnis einer funk-
tionalen Differenzierung moderner Gesellschaften, in denen eben nicht nur Wissen-
schaftler (Medienwissenschaftler, Kommunikationsforscher, Wirkungsforscher, Sozio-
logen) den Blick auf ein kontinuierlich expandierendes Wort- und Bildmaterial lenken,
sondern die Medien selbst eben diese Funktion übernehmen: Sie werden nicht nur als
gesellschaftliche Einrichtung analysiert, sondern liefern quasi täglich selbst Beschrei-
bungen von Gesellschaft, die mit sozialwissenschaftlichen Diagnosen konkurrieren
können. Damit engt sich auch die Bedeutung des (Massen-)Medien-Begriffs ein: Statt
der Realität der Massenmedien als Realität der Organisationen, der Druckerpressen,
Funktürme und Serverräume steht hier die „Realität der Massenmedien als die in ihnen
ablaufenden, sie durchlaufenden Kommunikationen“ (Luhmann 1996, S. 13) im Vorder-
grund, deren Aufgabe es ist, Beschreibungen und Selbstbeschreibungen der Gesellschaft
anzubieten. Die Sozialwissenschaften wären ärmer, wenn sie diese Beobachtungen nicht
hätten, sie müssen aufgrund ihrer eigenen Ergebnisse aber auch zu der selbstkritischen
Auffassung gelangen, dass die Welt anders aussehen könnte, weil sie stets ein Werk von
Beschreibungen ist. Niklas Maak stellte in einem Beitrag fest: „Das Bewusstsein einer
Gesellschaft entsteht in den Geschichten, die sie sich erzählt, und in den Formen, die sie
für ihre Zeit erfindet.“ (2011, S. 17). An diese Beobachtung ließe sich eine Vielzahl von
Forschungsfragen, die die Medienwirkungsforschung heute, aber auch in der Vergan-
genheit beschäftigt haben, anschließen. Ein Erzähler mag für sich allein seine rhetori-
schen Fähigkeiten in gekonnter Weise gegenüber seinem Publikum zur Geltung bringen.
Sein Wirkungsradius ist im mündlichen Zeitalter, das noch keine effizienten Medien für
die Überwindung von Raum und Zeit kennt, sehr begrenzt. Dieselben rhetorischen Fä-
higkeiten können in einem Massenmedium, das ein disperses Publikum (vgl. Maletzke
1963) erreichen kann, ein Einflusspotenzial entfalten, das die Gesellschaft selbst und
eben auch ihre Beobachter in Unruhe versetzt.
Es liegt in der Natur von Gesellschaften, dass sie die Konsequenzen von Innovatio-
nen v. a. kritisch reflektieren. Der soziologische Blick auf eine Gesellschaft, die Antwor-
ten auf die diffuse Frage „Was machen die Medien mit den Menschen ?“ sucht, ist so-
mit nicht durch Detailbeschreibungen technischer Artefakte bestimmt, sondern durch
die Folgen, die die jeweilige Innovation für das Erfahrungsspektrum der Menschen ha-
ben kann. Dass dabei häufig ein medienkritischer Fokus dominierte und die wertfreie
Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Phänomen zu Gunsten einer moralischen Be-
urteilung vernachlässigt wurde, liegt sowohl an der unterschiedlichen Wertschätzung
gesellschaftlicher Traditionen als auch an Mutmaßungen über den möglichen Verlust
gesellschaftlicher Kontrollmechanismen. Wenn die Innovationsforschung von Pfad-
abhängigkeit spricht, meint sie damit die langfristigen Konsequenzen einer Entschei-
dung, die für eine Vielzahl von Menschen verbindlich sind. Generell lässt sich sagen:
Ein Update ist wahrscheinlicher als ein nachhaltiger Wechsel. Wenn es sich zusätzlich
Soziologische Grundlagen 69
um verordnete und kontrollierte Innovationen handelt, sind dem sozialen Wandel noch
engere Grenzen gesetzt. Das Beispiel antiker Sprachen, die auf Hieroglyphen beruh-
ten, ist ein gutes Beispiel für Herrschaft durch Kommunikationsregeln, da hier immer
nur eine Minderheit in der Lage war, die Zeichen zu lesen und zu deuten (vgl. hierzu
Neuman 2010, S. 10). Klaus Merten (1994) hat in einem anderen Zusammenhang fest-
gestellt: „Die Evolution von Kommunikation ist notwendige Voraussetzung für die Evo-
lution von Gesellschaften.“ (S. 141). Die Statik eines sprachlichen Codes bremst die so-
ziale Dynamik. Der Zusammenhang von Medien und Gesellschaft ist daher ein Topos,
der sich zwischen Macht und Freiheit, zwischen Kontrolle und Entfaltung bewegt. Ein
gutes Beispiel für den Evolutionsgedanken liefert Lore Benz (2010) in ihrer Analyse des
antiken Theaters als eines der frühen Massenmedien des europäischen Kulturraumes.
Begriffe, die heute im Zuge einer Diskussion von Mitmach-Medien (den sog. Social
Media) wieder häufiger auftauchen, spielen auch für die Interaktionen zwischen dem
Sender und den Adressaten im Theater eine wichtige Rolle. Das Bühnenspiel wird als
Massenmedium vor dem Buchdruckzeitalter eingeführt und bezüglich des Publikums
kann man erfahren, „dass die Zuschauer (…) während des Mimenspiels mit den Schau-
spielern interagierten“ oder „nach dem Erlernen der Mimentechniken gleich selbst die
Mimenbühnen bestiegen“ (S. 25). Heute würde man darin vielleicht ein Muster für Cas-
ting-Shows erkennen. Evolution heißt also nicht nur Fortschritt, sondern unter Um-
ständen auch Wiederkehr bestimmter Phänomene unter anderen historisch-kulturellen
Bedingungen.
Dennoch ist unbestritten, dass das Thema ‚Medienwirkungen‘ v. a. in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts an Fahrt aufnimmt. Ebenso waren die Fragen, die an den be-
obachtbaren Wandel einer Gesellschaft, die sich dann Industriegesellschaft nannte, ge-
stellt wurden, von unterschiedlicher Tragweite und Präzision. Diese Formen von (Un-)
Differenziertheit äußerten sich beispielsweise darin, dass die einen nur von der Zeitung
sprachen und die Artikel und Kommentare als homogene Masse betrachteten, andere
darin eine Fortsetzung des politischen Ideenspektrums auf Papier sahen. Im Falle des
Kinos gab es allgemeine Sorgenkataloge ebenso wie detaillierte Analysen, die die Zu-
nahme fiktionaler Themen erklären wollten. Moderne Kontroversen über den adäqua-
ten theoretischen Zugang haben zu einer Zeit, als Medienwirkung häufig noch Teil all-
gemeiner philosophischer Erörterungen war, durchaus bereits ihren Platz gehabt. Die
Botschaft, die von Medien ausging, wurde mal mehr, mal weniger auf die Wirkung des
Inhalts begrenzt. Die ‚Inhaltilisten‘, wie Claus Pias (2011, S. 24) in einem Beitrag anläss-
lich des 100. Geburtstags von Marshall McLuhan schrieb, blicken v. a. auf die Medien-
produkte und ihre Inhalte, die ‚Medialisten‘, ein Begriff, der hier zum Zwecke des Kon-
trastierens eingeführt wird, fragen nach der Wirkung des Mediums an sich, und zwar
unabhängig vom konkreten Inhalt. Es kommt also beispielsweise nicht darauf an, was
auf einer Schreibmaschine getippt wird, sondern wie sie das Büroleben verändert.
Neuman und Guggenheim (2011) haben in ihrem Beitrag „The Evolution of Me-
dia Effects Theory: Fifty Years of Cumulative Research“ festgestellt: „Some trace the in-
70 Michael Jäckel
veränderter Umgang der Menschen nicht zuletzt auf die veränderten Formen der Kom-
munikation zurückzuführen ist:
„The changes that have taken place since the beginning of the nineteenth century are such as
to constitute a new epoch in communication, and in the whole system of society. They de-
serve, therefore, careful consideration, not so much in their mechanical aspect, which is fa-
miliar to every one, as in their operation upon the larger mind.“ (Cooley 1962, S. 80).
Der Einfluss der Medien auf das kooperative Bewusstsein, welches Cooley als ‚larger
mind‘ umschreibt, führt er auf vier Eigenschaften der modernen Massenkommunika-
tion zurück: (1) Expressiveness, (2) Permanence, (3) Swiftness und (4) Diffusion. Mit
der ersten ist die Vielfalt der Inhalte und Emotionen gemeint, die transportiert werden
können. Permanence drückt die Überbrückung von Zeit, Swiftness die Überwindung
von Raum und Diffusion den Zugang zu den unterschiedlichsten Gruppen von Men-
schen aus (vgl. ebd.). Den wesentlichen Charakter des gesellschaftlichen Wandels, der
von den Medien mitgetragen wird, beschreibt er als ‚enlargement‘. Zum einen kommen
die Menschen mit anderen in Kontakt, die sie zuvor nicht kannten. Es wird um eini-
ges einfacher, andere Menschen mit ähnlichen Vorlieben zu finden, Interessensgemein-
schaften zu bilden und sich selbst zu entfalten. Zum anderen führt die Ausweitung der
Kommunikation nach Cooley aber auch zum Verlust von Vielfältigkeit: „Each local-
ity (…) had formerly its peculiar accent and mode of dress; while now dialects are disap-
pearing and almost the same fashions prevail throughout the civilized world.“ (S. 92 f.).
Als Folge dieser Öffnung etabliert sich eine Oberflächlichkeit und Gleichförmigkeit „in
every sphere of thought and feeling“ (S. 85). Nach Cooley verstärkt diese Oberflächlich-
keit individuelle und gesellschaftliche Probleme, wie z. B. Drogenkonsum, psychische
Störungen oder Selbstmord, die seiner Ansicht nach v. a. in Räumen mit verdichteter
Kommunikation, z. B. in städtischen Zentren, auftreten.
Bevor das Modell von Neuman und Guggenheim zur Anwendung kommt, müssen seine
Entstehung und die Kernaussagen kurz erläutert werden. Es handelt sich um eine Zita-
tionsanalyse, die führende US-amerikanische Fachzeitschriften aus dem Feld der Kom-
munikationswissenschaft im Hinblick auf ‚Leuchttürme‘ und Querverweise prüft. Das
Ergebnis macht deutlich, was ohnehin zu erwarten ist: Bestimmte Theorien haben ihre
Hochphase und ihre herausragenden Beiträge, die ganz im Sinne des Matthäus-Effekts
(vgl. Merton 1985) zu interpretieren sind. Negativ formuliert: Ca. 60 Prozent der Bei-
träge werden niemals von anderen Autoren zitiert, der Beitrag von McCombs und Shaw
(1972) zur Agenda Setting-Hypothese dagegen 560-mal. Die Theorietraditionen ver-
schwinden aber nicht völlig, sondern erfahren im Kontext der Zunahme von Theorien
72 Michael Jäckel
2.1 Persuasion
Im Hinblick auf „Persuasion Models“ wird ausgeführt, dass es sich um direkte und un-
gefilterte Effekte handelt, die als Ergebnis von spezifischen Medienangeboten registriert
werden konnten. Die Lasswell-Formel wird ebenso erwähnt wie die Informationstheorie
von Shannon. Die Stärke des Effekts kann dabei variieren. Persuasion kann daher in die-
sem Zusammenhang vieles meinen: Überzeugung, Überredung, Manipulation. Bis heute
darf festgestellt werden, dass spektakuläre Medienwirkungen auch deshalb so spektaku-
lär sind, weil sie spektakulär behandelt werden. Als in der Anfangsphase einer systema-
tischen Medienwirkungsforschung die Wirkung des Kinos auf das Publikum analysiert
werden sollte, wurde dieses eher als Masse und nicht als kritische Öffentlichkeit betrach-
tet. Herbert Blumer, einer der Pioniere der amerikanischen Soziologie, bezog sich in
seinen Analysen auch auf Gustave Le Bon, der von emotionalen Ansteckungsprozessen
ausging und der Masse die Fähigkeit zur kritischen Reflexion absprach. Blumer schloss
aus den autobiographischen Interviews, die er mit Kinobesuchern führte, auf nachhal-
tige Beeinflussungseffekte, sei es die bevorzugte Kleidung, die Haartracht, die Art und
Weise, wie man sich unterhält, Schönheitsideale, Manieren usw. (vgl. die Zusammenfas-
sung bei Lowery & DeFleur 1995, S. 28).
Auch Gabriel Tarde hat in seiner Analyse von Nachahmungsprozessen auf zwei so-
ziale Ursachen hingewiesen, die dafür verantwortlich gemacht werden können, dass
Neuerungen sich ausbreiten. Die eine betrachtete er als logische Ursache und sah sie
dann gegeben, wenn Akteure etwas übernehmen, weil es für sie nützlicher und über-
zeugender ist als das, was sie bislang kannten. Die zweite Ursache fasst er unter nicht-lo-
gischen Einflüssen zusammen und meint damit insbesondere die Orientierung an Vor-
bildern, die gut oder schlecht sein können. Letzteres schlägt wiederum die Brücke zu
den theoretischen Annahmen, die bei Herbert Blumer Pate standen (vgl. Tarde 2009,
S. 160 f.). Butsch (2008) betont in seiner Analyse „The Citizen Audience“, dass Blumer
keineswegs das Kinopublikum mit der Le Bon’schen Kategorie der Masse (im engli-
Soziologische Grundlagen 73
schen: crowd) gleichsetzte. Dennoch ging er von entfremdeten Individuen aus, die in ei-
ner neuen, häufig städtisch geprägten Umgebung ihre lokalen Traditionen und Einbin-
dungen in Kleingruppen hinter sich ließen und nun als Teil einer großen Gesellschaft
mit unvertrauten und neuen Geschichten konfrontiert werden (S. 46). Butsch referiert
aber zugleich Studien, die diesen Entfremdungsgedanken zumindest relativieren. Die
Kinopublika der großen Städte waren durchaus mehr als „crowd or mass“ (S. 47). Die
Orte, an denen man sich traf, waren zugleich auch Möglichkeiten der sozialen Interak-
tion, also Orte des Austauschs (ebd.). Das schließt Prozesse der Nachahmung nicht aus,
erweitert den Persuasions-Gedanken aber auf potenziell mehr Beteiligte.
Nicht jede Stimme hat in solchen Moderationsprozessen das gleiche Gewicht. Bis
heute wird in Kommunikationskampagnen unterschiedlichster Art auf Celebrities ge-
setzt, weil Erfolg Aufmerksamkeit garantiert und man lieber dem eigentlich unbekann-
ten Star als Meinungsführer denn dem vertrauten Nachbarn folgt. Als Oprah Winfrey
in ihrer Talkshow den Roman „Anna Karenina“ dem amerikanischen Fernsehpubli-
kum als Sommerlektüre empfahl, stieg die Nachfrage nach diesem nicht gerade leichten
Lesestoff drastisch an. In einem interaktiven Buchclub verständigte man sich zudem auf
Leserhythmen und sorgte damit für das Gefühl eines kollektiven Leseerlebnisses (vgl.
hierzu Jäckel 2005, S. 76). Phänomene dieser Art treten immer wieder auf und dienen
v. a. einer pragmatischen Bestätigung von Medienwirkungen. Dabei wird selten genauer
geprüft, ob ein bestimmter Schwellenwert überschritten wurde, wo also überhaupt die
kritische Größe anzusetzen ist, die von einer starken oder weniger starken Medienwir-
kung zu sprechen erlaubt. Gefragt, ob man für diese Nachahmungskaskaden eine Erklä-
rung hat, antwortet der Einzelne häufig mit dem Hinweis auf die Beeinflussbarkeit der
Anderen. Den Durchschnitt der Umwelt beschreibt man als anfällig für Manipulatio-
nen und zählt sich selber ungern dazu. Die Sozialpsychologie hat dafür auch den Begriff
„better-than-average-Effekt“ (Alicke et al. 1995) geprägt. Wer von Persuasion spricht,
muss also neben den Intentionen des Kommunikators auch dem Empfänger Tribut zol-
len, der sich nicht immer im Sinne der Botschaft verhält.
Überhaupt unterstellt diese Eindeutigkeit eine Vorstellung von Intentionalität, die
weder auf Seiten des Senders noch auf Seiten des Empfängers gegeben sein muss. Gelin-
gende Kommunikation setzt als Minimalkonsens einen gemeinsam geteilten Zeichen-
vorrat voraus, aber Information ist eben nicht gleich Verstehen. Krotz hat die Populari-
tät des mathematischen Kommunikationsmodells von Shannon und Weaver auf seine
Plausibilität zurückgeführt, weil ja eine Informationsübertragung stattfindet (vgl. Krotz
2008, S. 1048 f.). Ob der Bote gute oder schlechte Absichten hat, steht zunächst einmal
nicht im Vordergrund, ebenso wenig die Frage, was den Rezipienten in einer bestimm-
ten Situation umtreiben mag. Bei Marcel Proust (2000) kann man lesen: „Wir stellen
uns beim Reden stets vor, dass unsere Ohren und unser Geist das Gesagte vernehmen.
(…) Die Wahrheit, die man in Worte kleidet, bahnt sich nicht unmittelbar ihren Weg
und ist kein unbestreitbares, augenfälliges Phänomen. Es braucht eine ganze Weile
Zeit, bis eine Wahrheit gleicher Ordnung sich im anderen formen kann.“ (S. 804 f.).
74 Michael Jäckel
2.2 Publikumsaktivität
Mit „Active Audience Models“ wird insbesondere der motivationalen Perspektive des
Publikums Rechnung getragen. „Um die Welt zu durchwandern, müssen die Menschen
Karten von dieser Welt haben“, schrieb Walter Lippmann (1990, S. 18). Womit diese Kar-
ten übereinstimmen, wie und von wem sie gezeichnet werden, sollte man nicht aus den
Augen verlieren. Was Lippmann 1922 in „Public Opinion“ schrieb, dürfte heute von
noch wesentlich größerer Bedeutung sein als vor gut 90 Jahren: „die reale Umgebung ist
(…) zu groß, zu komplex und auch zu fließend, um direkt erfasst zu werden. (…) Ob-
gleich wir in dieser Welt handeln müssen, müssen wir sie erst in einfacherem Modell re-
konstruieren, ehe wir damit umgehen können.“ (S. 18).
Massenmedien erfüllen die gesellschaftliche Funktion der Selbstbeobachtung. Will
das Publikum über seine Funktion als „Gottesgericht der Einschaltquote“ (Bourdieu
1998, S. 36) hinaus auf das Angebot reagieren – mit Lob, Kritik oder kollektiver Verwei-
gerung – kann es sich Bilder von der Meinung der anderen machen, wobei die Möglich-
keiten zur Selbstbeobachtung des Publikums wiederum überwiegend über Massenme-
dien gegeben sind, sei es die Filmbesprechung im Feuilleton, der Leserbrief im Lokalteil
oder Kulturmagazine im Fernsehen. Mit dem Internet ist die Nutzung von Partizipa-
Soziologische Grundlagen 75
• Das disperse Publikum, das an unterschiedlichen Orten die Angebote der (Massen-)
Medien wahrnimmt, verfügt in der Regel nicht über eine dauerhafte Organisations-
struktur. Es besitzt damit zwar eine gewisse Kontinuität, aber eben nicht die Kon-
tinuität einer Gruppe, die sich aufgrund regelmäßiger Interaktionen arbeitsteilig
aufstellt.
• Das Publikum als (Bezugs-)Gruppe bringt sich über den pragmatischen Austausch
des Gesehenen, Gelesenen, Gehörten usw. ein, wobei dies wiederum selten kontinu-
ierlich und mit hohem Engagement erfolgt. Häufig werden diese Diskussionen auch
nicht gezielt gesucht, sondern sind das Ergebnis von Alltagsgesprächen, in denen
Medienthemen nun einmal häufig Gegenstand der Debatte sind (siehe hierzu auch
Keppler 1994).
• Das Publikum als Markt und damit als eine Größe, die, ob gewollt oder ungewollt,
steuernd in den Prozess von Angebot und Nachfrage eingreift, wird eher im Sinne
eines Resonanzbodens instrumentalisiert, und zwar vor (als Testpersonen) und nach
dem Endprodukt (als Rezipienten).
• Das vernetzte Publikum, das nun verstärkt im Internet Informationen untereinan-
der austauscht und dessen Beteiligung häufig in Form von Netzwerk- und Kaska-
deneffekten stattfindet, das dafür jedoch anfällig ist für Partizipationsillusionen und
Flaschenhalsprobleme – und klassische Meinungsführerschaften nicht überwindet,
sondern allenfalls verdeckt.
• Loyalty bedeutet Zustimmung, und zwar in qualitativer und / oder quantitativer Hin-
sicht. Es können verschiedene Formen von ‚Medientreue‘ unterschieden werden,
die sich i. d. R. aus einer hohen Kontinuität des Zuspruchs zu bestimmten Medien-
angeboten ableiten lassen. Dies kann durchaus auch in Verbindung mit einer aktiven
Beteiligung an den jeweiligen Medienangeboten geschehen, wobei sich die Einbin-
dung des Publikums durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien
heute anders und vielfältiger darstellt als zu Zeiten, in denen sich aus heutiger Sicht
ökologisch bedenkliche Abstimmungsformen (Licht einschalten oder Wasserspü-
lung betätigen als Ausdruck der Zustimmung) beobachten ließen. Die niedrigere
Beteiligungsschwelle lädt zu vielfältiger, zugleich aber auch diskontinuierlicher Teil-
nahme ein.
• Voice kann verschiedene Formen des Protests zusammenfassen, die i. d. R. in der Ab-
sicht vollzogen werden, einen vorhandenen Zustand in einen besseren zu verändern.
Man kann also vorübergehend eine Mediennutzung abbrechen, weil das Dargebo-
tene schlicht missfällt, man kann den Anbieter oder auch das Medium wechseln,
Leserbriefe oder Kommentare schreiben sowie sich an diversen Formen von Wider-
spenstigkeit, die über den privaten Protest hinausgehen, beteiligen. In sozialen Netz-
werken führt dies oft zu intensiven, aber kurzlebigen Aufmerksamkeitsbündelungen.
• Exit wiederum wäre beispielsweise der dauerhafte Verzicht auf bestimmte Angebote.
Diese Reaktionsform wird in einer Welt, in der Medien omnipräsent sind, zuneh-
mend schwierig und stellt somit wohl auch in Zukunft eher den Ausnahmefall dar.
Trotz des von Jürgen Gerhards erwarteten Publikumsaufstands ist die konsequente
Nicht-Beteiligung an den Diskursen der Mediengesellschaft ein schwieriges Unter-
fangen.
Das dritte Cluster bezeichnen Neuman und Guggenheim mit „social context models“.
Gerade hier ist die Soziologie in besonderer Weise beheimatet. Denn den Kern dieses
Clusters bilden Themen wie die Meinungsführer- und Diffusionsforschung, die Theorie
der wachsenden Wissenskluft, Netzwerktheorien und schließlich auch Theorien, die ei-
nen Beitrag zur Entstehung öffentlicher Meinung leisten (z. B. die Theorie der Schweige-
spirale oder die Third-Person-Theorie). Die Mitglieder der Columbia School (vgl. hierzu
ausführlich Jäckel 2011, S. 125 ff.) sprachen bereits über das Phänomen „embeddedness“,
bevor es v. a. durch den Beitrag von Mark Granovetter im „American Journal of Socio-
logy“ (1985) populär wurde. Katz und Lazarsfeld schrieben 1962 über die Zielsetzung
ihrer Forschung: „Wir haben versucht, zu zeigen, dass auch die anscheinend persön-
lichen Meinungen und Einstellungen eines Menschen Nebenprodukte der zwischen-
menschlichen Beziehungen sein können, (…) dass Meinungen und Einstellungen oft in
Verbindung mit anderen Personen aufrecht erhalten, manchmal gebildet und manch-
Soziologische Grundlagen 77
mal nur verstärkt werden. Kurz, wir haben versucht, Beweise für unsere Auffassung an-
zuführen, dass der individuelle Ausdruck der Meinungen und Einstellungen, kritisch
betrachtet, keine rein individuelle Angelegenheit ist.“ (S. 78). Aus der News Diffusion-
Forschung ist wiederum bekannt, dass es die Massenmedien sind, die den Gesprächs-
stoff liefern, die, um mit Hegel zu sprechen, tagtäglich für einen „realistischen Morgen-
segen“ (zit. nach Löwith 1986, S. 60) sorgen. Im Kontext der Medienwirkungsforschung
ist daher immer auch diskutiert worden, ob Verbreitungsmedien und interpersonale
Kommunikation hinsichtlich ihrer Wirkung als funktional äquivalent betrachtet werden
können. Katz hatte die berühmten drei Ws formuliert, um damit Wege des Einflusses
und Grundlagen des Erfolgs zu bestimmen. Sie lauten:
Die Einwände gegen die Annahme einer funktionalen Äquivalenz lassen sich un-
ter Bezugnahme auf Überlegungen, die der amerikanische Soziologe Talcott Parsons
(1902 – 1979) in seinem Beitrag „On the Concept of Influence“ illustriert hat, präzisieren.
Parsons nimmt dort explizit auf die berühmte Voting-Studie der Columbia School Bezug
und sieht in der Praxis des politischen Wahlverhaltens eine Bestätigung für ein „diffuse
kind of belonging-togetherness“ (Parsons 1969, S. 418). Wahlentscheidungen erschei-
nen hier als das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit „my kind of people“ (S. 419).
Diesem Homogenitätsargument hält Parsons die Möglichkeit eines Anstiegs von „cross-
pressuring“ (ebd.) entgegen. Er lenkt damit den Blick auf die Zunahme sozialer Diffe-
renzierung und die Zunahme der Wahrscheinlichkeit, dass unterschiedlichste Formen
des Einflusses auf Akteure einwirken, die sich dann eben nicht mehr dem Kriterium
der a priori vorhandenen gegenseitigen Solidarität fügen. Wer nur den Mikrokosmos
der sozialen Beziehungen beachte, unterschätze, so die Kritik von Todd Gitlin, das un-
terschiedliche Einflusspotenzial von Medienanbietern und Einzelpersonen. In diesem
Zusammenhang wird auch von einer „behaviorization of power“ (zit. nach Weimann
1994, S. 240) gesprochen. Die Identifizierung von Meinungsführern kann daher in die-
sem Zusammenhang auch nicht bedeuten, dass deren Resistenz gegenüber Beeinflus-
sung aufgrund ihrer Persönlichkeit auf jene, die sich an ihnen orientieren, übertragen
werden kann. Die sozialwissenschaftliche Diffusionsforschung unterstreicht in diesem
Zusammenhang immer wieder, dass es Menschen gibt, die Dinge möglich machen und
solche, die sich darüber wundern. Diese Ungleichverteilung von Einfluss ist ohne Ka-
pital, das sich aus Informationen speist, kaum vorstellbar. Die Zahl der vernehmbaren
Meinungen und Fakten ist vielzähliger und vielfältiger geworden. „Die Menschen“, so
Richard Münch (1995), „die in der Moderne leben, werden sich niemals von der Entsor-
gung ihrer paradoxen Folgen befreien können“ (S. 34). Daten und Informationen schei-
nen immer entweder in zu geringer oder in zu großer Zahl verfügbar zu sein – niemals
78 Michael Jäckel
jedoch in der richtigen Dosis. Diese Klage ist nicht neu. Sie findet sich beispielsweise
auch schon in Georg Simmels (1983) Beschreibungen der „Tragödie der Kultur“. Diese
Tragödie bestand für Simmel darin, dass sich mit fortschreitender Entwicklung der Ge-
sellschaft der Widerspruch zwischen „objektiver Kultur“ – der Gesamtheit der durch
Menschen geschaffenen materiellen und geistigen Dinge – und „subjektiver Kultur“ –
dem Bedürfnis und der Bereitschaft des Menschen, diese Bestandteile der objektiven
Kultur aufzunehmen – verschärft, und die Individuen so immer weniger in der Lage
sind, sich die Produkte der Kultur anzueignen und als Mittel der Selbstverwirklichung
auszuschöpfen.
Daniel Bell (1976, S. 352 ff.) hat in seiner Analyse der postindustriellen Gesellschaft
die anschauliche Unterscheidung zwischen einem Spiel gegen die Natur, das die Gü-
ter produzierende Gesellschaft gekennzeichnet hat, und einem Spiel zwischen Personen,
das die Informationsgesellschaft kennzeichnet, verwandt. Der Anstieg des Informa-
tionspegels hat nicht zu einer Rationalitätssteigerung geführt, sondern, so Robert King
Merton (1939), zu mehr Skeptizismus: „Most institutions demand unqualified faith; but
the institution of science makes skepticism a virtue.“ (S. 334). ‚Social context‘ heißt in
diesem Zusammenhang aus soziologischer Sicht also, dass das Handeln der Menschen
nicht ihrem voluntaristischen Belieben überlassen werden kann, sondern sich in ihren
Meinungen, Einstellungen und Entscheidungen logische und nicht-logische Elemente
im Sinne Tardes (siehe oben) vermischen. Schimanks Beobachtung und Fragen: „Immer
mehr Gesellschaftsmitglieder schlagen sich mit immer beschränkteren ‚Tunnelblicken‘
durchs Leben; und wer hat dann eigentlich noch den Überblick über die Ordnung des
gesellschaftlichen Ganzen ?“ (2000, S. 11) hat daher ihre Berechtigung und begründet
gleichsam auch das große Interesse an der Frage, wie aus dem bunten Konzert von ge-
äußerten und nicht geäußerten Meinungen ein Phänomen entstehen kann, vor dem
man sich in Acht nehmen muss: die öffentliche Meinung. Den Einfluss dieses unsicht-
baren Dritten hat Hegel einmal wie folgt beschrieben: „(…) und wer die öffentliche Mei-
nung, wie er sie hier und da hört, nicht zu verachten versteht, wird es nie zu Großem
bringen.“ (zit. nach Noelle-Neumann 1996, S. 256).
Das vierte Cluster, bezeichnet mit „Societal and Media Models“, ist das am wenigsten
konsistente Cluster aus Neuman und Guggenheims Zitationsanalyse. Es vereint kriti-
sche Medientheorien ebenso wie die eingangs erwähnte Perspektive, die sich an den
Arbeiten von Marshall McLuhan orientiert, aber auch die Kultivierungsanalyse, die ins-
besondere mit den Arbeiten von George Gerbner in Verbindung gebracht wird. Die ver-
bindende Klammer ist aber aus soziologischer Perspektive durchaus identifizierbar: Die
Formulierung „Societal and Media Models“ lenkt den Blick nicht nur auf die Spiegel-
bild-Funktion von Medien für gesellschaftliche Akteure, sondern auch auf Interpene-
Soziologische Grundlagen 79
trationsphänomene, die einen selektiven Zugriff auf beiden Seiten der Kommunika-
tionskette, also auf Sender- und Empfängerseite, erwarten lassen.
Die frühen Arbeiten einer kritischen Medientheorie hielten wenig von einer Idea-
lisierung des Publikums und seiner Rolle in (Massen-)Kommunikationsprozessen.
Her vorgehoben wurde eher der Effekt sozialer Entfremdung, der durch die Industria-
lisierung des Kulturbetriebs und die Institutionalisierung eines undifferenzierten
Massengeschmacks verstärkt wurde; das Publikum wurde eher in einer manipulierten
Situation verortet. Theodor W. Adorno (1986) hatte in seinem Essay „Kann das Publi-
kum wollen ?“ dieser negativen Rahmung wie folgt Ausdruck gegeben: „Lassen Sie mich
mit dem Geständnis beginnen, daß ich den formalen Aspekt der Frage ‚Kann das Pu-
blikum wollen ?‘, Fernsehen überhaupt beeinflussen, für einigermaßen gleichgültig halte.
Auf die sog. Einbahnstruktur der Massenmedien ist immer wieder hingewiesen worden;
man weiß auch, daß das Publikum allerhand Möglichkeiten hat, ihr entgegenzuwirken:
Briefe zu schreiben, zu telefonieren, wohl auch selber, mehr oder minder symbolisch, an
Sendungen aktiv sich zu beteiligen. All das hält sich in engen Grenzen.“ (S. 342). Einer
Emanzipation aus diesen Schranken der Kultur hält er entgegen: „Je dichter das Netz der
Vergesellschaftung geflochten und womöglich ihnen über den Kopf geworfen ist, desto
weniger vermögen ihre Wünsche, Intentionen, Urteile ihm zu entschlüpfen. Gefahr ist,
daß das Publikum, wenn man es animiert, seinen Willen kundzutun, womöglich noch
mehr das will, was ihm ohnehin aufgezwungen wird.“ (S. 343).
Der bestimmende Einfluss der Medienproduzenten ergibt sich daher aus ihrer (his-
torischen) Vorreiterrolle, Angebote zu schaffen, von denen man nicht notwendigerweise
wusste, ob sie tatsächlich auf Akzeptanz stoßen würden. Jedenfalls waren die Pioniere
des Kinos durchaus überrascht, wie ausgeprägt das Interesse an fiktionalen Themen sein
konnte (vgl. Kluge 2007, S. 39, auch Prokop 1995, S. 37 f.). Aber indem man den Gefallen
daran entdeckte, minderte sich gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit, andere Bedürfnisse
zu artikulieren. Das Sprichwort „Der Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem
Angler.“ findet hier seine Bestätigung. Medien kann daher eine ‚Lenkkraft‘ von Entwick-
lungen zugeschrieben werden. Ihre Lenkkraft resultiert aber auch aus der historisch ge-
wachsenen Normalität von Dauerbeobachtung. Indem Neugier zu einem konstanten
Phänomen wurde, musste auch Beobachtung auf Dauer gestellt werden. Der Zwang der
Publizität mischt sich mit den Freiheitsgraden der Themenauswahl. Wird diese Dauer-
beobachtung als Ungleichverteilung des Einflusses auf die Spielregeln in bestimmten
Handlungsfeldern wahrgenommen, sind Gegenbewegungen nicht ausgeschlossen. So
kann Medienmacht im Mediensystem selbst für Unruhe sorgen, die Politik auf den Plan
rufen und das Publikum sensibilisieren. Zugleich schützt man aus guten Gründen das
sensible Gut der Pressefreiheit. Alexis de Tocqueville (1976) hat sich in dem zum Klas-
siker der politischen Theorie gewordenen Erfahrungsbericht „Über die Demokratie in
Amerika“ zur Pressefreiheit u. a. wie folgt geäußert: „Ich gestehe, für die Pressefreiheit
keineswegs die uneingeschränkte und unwillkürliche Liebe zu empfinden, die man für
Dinge hegt, die ihrem Wesen nach unbestreitbar gut sind. Ich schätze sie weit mehr in
80 Michael Jäckel
Erwägung der Übel, die sie verhindert, als wegen des Guten, das sie leistet.“ (S. 206).
Dieses Schwanken zwischen „unschätzbaren Wohltaten“ und „unvermeidliche[m] Übel“
(S. 209 f.) gehört auch in modernen Mediensystemen im Rahmen einer freiheitlichen
Grundordnung zum Alltag. Wenn sich die „Stimmen der Medien“ widersprechen, wer-
den dominierende Einflüsse kaum antizipiert. Anders dagegen im Falle eines „Gleich-
klangs“: „Gelingt es einer großen Zahl von Presseorganen, in gleicher Richtung zu ge-
hen, wird ihr Einfluß auf die Dauer fast unwiderstehlich und die öffentliche Meinung,
auf die immer an der gleichen Stelle eingehämmert wird, gibt schließlich ihren Schlä-
gen nach.“ (S. 213). In solchen Fällen wird evident, dass Macht asymmetrisch verteilt ist.
Nicht immer sind es Schläge, denen man nachgibt, sondern schlicht Wiederholun-
gen, die sich aufgrund ihrer Penetranz an die erste Stelle rücken. Besonders deutlich hat
dies Gerbner in seinen Kultivierungsanalysen gezeigt, indem er v. a. den Vielsehern eine
Weltsicht attestierte, die mit der Medienwelt übereinstimmte. Kein Wunder also, dass
Meldungen wie „Telenovelas senken die Geburtenrate“1 Aufmerksamkeit erfahren. Auf
den ersten Blick beeindruckt diese Korrelation, wonach fiktive Lebensformen zu wirk-
lichen werden. Auf den zweiten Blick könnten Telenovelas nur ein Puzzleteil in einem
Wirkungsbündel ganz unterschiedlicher Stimuli gewesen sein, zu denen auch das gestie-
gene Bildungsniveau gehören kann, das wiederum mit geringerer Fernsehnutzung ein-
hergeht. Es könnte sich also um eine Mischung aus Verstärkungseffekten, persönlicher
und sozial vermittelter Zustimmungsbereitschaft handeln. Im Hinblick auf die Wirkung
der Massenmedien hat Gerhard Schulze (1995) einmal geschrieben: „Die Massenmedien
wären nicht so, wie sie sind, ja sie existierten nicht einmal, hätten sie nicht die Billigung
des Publikums. Zur Verführung gehören immer zwei, und oft genug hat es das sog. Op-
fer faustdick hinter den Ohren.“ (S. 364).
Dieses Geben und Nehmen scheint ein ubiquitäres Phänomen zu sein, das nicht nur
für die Dramaturgie von Seifenopern oder die Gestaltung von Spielshows gilt, sondern
auch für den symbolischen Reichtum gefährlicher Terrains. Diego Gambetta hat die
Codes der Unterwelt analysiert und in anschaulicher Weise zeigen können, dass Filme
über die Mafia nicht nur ein bestimmtes Bild dieser Organisation zeichnen, sondern der
Mafia selbst ein reichhaltiges Reservoir leicht decodierbarer Symbole verschafft hat (vgl.
Gambetta 2009). Kaube (2010) schrieb hierzu: „Als Carmelo di Caro, ein Hafenarbei-
ter in Palermo, im Mai 2001 einen Pferdekopf in seinem Auto fand, hatte er kein Deu-
tungsproblem.“ (S. 30). Generell gilt: Wer gut lesen kann, ist im Vorteil. Lesen ist hier im
Sinne eines ‚Codeknackens‘ gemeint (vgl. Jäckel & Peter 1997, S. 50 ff.). Der oberflächli-
che und leichtgläubige Umgang mit den Botschaften der Medien ist daher auch ein In-
dikator für soziale Ungleichheit. Diese spiegelt sich nicht nur in dem selektiven Umgang
mit einem weiter wachsenden Informations- und Unterhaltungsangebot wider, sondern
auch darin Stereotypen zuzustimmen und entlang dieses verzerrten Radars das eigene
Leben zu gestalten.
2.5 Strukturierung
Das Stereotyp wiederum galt Walter Lippmann als „Verkehrsmittel der öffentlichen Mei-
nung“ (Noelle-Neumann 1996, S. 206). Lippmanns Analyse gilt aber auch als Vorläufer
der Agenda Setting-Forschung, die von Neuman und Guggenheim im fünften Cluster
„Interpretive Effects Models“ platziert wird. Hier geht es v. a. um Theorien, die die Struk-
turierungsleistung der Medien für die Wahrnehmung unserer Umwelt thematisieren.
Der kognitive Aufwand, den Leser, Hörer, Zuschauer oder Internetnutzer an den Tag
legen, ist ungleich verteilt. Von sich selbst sagen zu können, einigermaßen gut informiert
zu sein, war immer auch eine Frage des persönlichen Anspruchs. Der „gut informierte
Bürger“ im Sinne von Alfred Schütz (1972) strebt nach gut begründeten Meinungen auch
in Gebieten, die ihm nicht unmittelbar von Nutzen sind, während der ‚Mann auf der
Straße‘ sich in vielen Bereichen mit vagen Einsichten begnügt. Diese unterschiedlichen
Aufmerksamkeitsregeln sind mit ein Grund dafür, dass die öffentliche Meinung selten
als berechenbar galt. Für den Historiker James Bryce (1888, S. 212) war die Presse als Or-
gan der öffentlichen Meinung Erzähler, Anwalt und Wetterhahn zugleich
Trotz dieser Differenzen und Unwägbarkeiten konnte die Agenda Setting-Forschung
(vgl. auch den Beitrag von Bulkow und Schweiger in diesem Band) mit der Behaup-
tung, dass Massenmedien nicht so sehr bestimmen, was wir denken, sondern worüber
wir nachdenken, Aufmerksamkeit erzeugen. Es klingt wie eine Neutralisierung des Me-
dieneffekts, wenn der Einfluss der Berichterstattung auf eine weitgehende Übereinstim-
mung von Medienagenda und Publikumsagenda reduziert wird. Die Themen werden
sozusagen vorgegeben, aber nach eigenen Regeln verarbeitet. Grundsätzlich kann dem
kaum widersprochen werden. Aber jenseits dieser Autonomie gibt es bestimmte wieder-
kehrende Muster, die die Themenwahrnehmung und die Themenkarrieren kennzeich-
nen:
• Sog. „issue attention cycles“ beschreiben das Kommen und Gehen von Themen.
Wenn Insider bereits um die Bedeutung wissen, aber die Öffentlichkeit noch nicht,
bedarf es unter Umständen mutiger Leute, die in der Lage sind, ein Thema zu setzen.
Der Phase der Popularität folgt dann die allmähliche Ermüdung, die Aufmerksam-
keit schwindet.
• Dort, wo es regelmäßig zu Reaktualisierungen von Themen kommt, ist die Wahr-
scheinlichkeit der Verankerung im öffentlichen Bewusstsein relativ groß. Solche
Themen sind dann nicht an ganz bestimmte Einzelereignisse gekoppelt, sondern
repräsentieren Gebiete, die in vielfacher Hinsicht Anschlusskommunikation garan-
tieren: Wie dramatisch ist der Klimawandel ? Wie sicher sind die Renten ? Ist unser
Wohlstand bedroht ?
• Angesichts einer zunehmenden Konkurrenz um attraktive Themen beobachten die
Medien ihre Entscheidungen gegenseitig. Ausstrahlungseffekte treten dabei in unter-
schiedlicher Form auf. Wenn es einem Meinungsführermedium gelingt, ein Thema
zu besetzen, können Nachahmungs-‚Täter‘ beobachtet werden. Man hofft, dass die
Popularität des Themas weiter trägt und man von dieser Aufmerksamkeit noch pro-
fitieren kann. Das Thema wird durchgereicht, bis auch in den Redaktionen und bei
den Empfängern dieser Nachrichten die Frage „Gibt es denn nichts anderes mehr
auf dieser Welt ?“ die Oberhand gewinnt. Eine andere Variante dieser selektiven Auf-
merksamkeit ist, dass ein Ereignis die Suche nach ähnlichen Ereignissen verstärkt.
• Schließlich kann die Art und Weise, wie ein Thema behandelt und ‚gerahmt‘ wird,
die Entscheidungen in anderen Systemen beeinflussen. Was wird besonders hervor-
gehoben, was unter Umständen vernachlässigt oder unerwähnt gelassen ? Wenn sich
auch im Falle der Medienberichterstattung eine Anfälligkeit für bestimmte Medien-
meinungen durchzusetzen beginnt, fällt es schwerer, das Feld der relevanten Optio-
nen (z. B. „Welche Art von Forschung ist wichtig ?“) noch gleichrangig zu beurteilen.
Dass Themen durchgereicht werden und damit an Bekanntheit gewinnen, hebt nicht nur
die Vermittlungsleistung von Massenmedien hervor, sondern auch die Tatsache, dass
Menschen zu Medien werden. Nicht im Sinne einer Metamorphose, sondern als Boten
in einer Angelegenheit, die sie zu ihrer eigenen gemacht haben. In der Konkurrenz um
bedeutsame Ereignisse gibt es dabei immer Gewinner und Verlierer; ein Thema kann
noch so bedeutsam sein – es wird irgendwann zur Nebensache, obwohl es eigentlich
nach wie vor eine Hauptsache sein müsste2. Die Zeitperspektive im Kontext von Agenda
Setting ist also i. d. R. kurz, in anderen Bereichen, beispielsweise im Feld der Prominenz
im Kulturbetrieb, ist Bekanntheit bereits ein kumulativer Effekt. Georg Franck (2011)
schrieb hierzu: „Die Bezeichnung Celebrity gibt der Produktivität der Medien im Her-
ausbringen von Prominenten Ausdruck. Die Medien, allen voran das Fernsehen, sind
2 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Mai 2011, S. 1 hat unter der Überschrift „Hauptsache Ne-
bensache“ das allmähliche Verschwinden der Reaktorkatastrophe in Fukushima auf den Punkt gebracht.
Soziologische Grundlagen 83
unermüdlich im Rekrutieren und Aufbauen von Talenten, die geeignet erscheinen für
den Dienst der Attraktion.“ (S. 310). Zugleich weist er mit der These „Der Adel der Me-
diengesellschaft ist die Prominenz“ (ebd.) auf den „blühenden Populismus“ (ebd.) der
Moderne hin. Der Adel konnte, weil er mit dem aristokratischen Lebensstil nicht mehr
Schritt halten konnte, verarmen, der Medienstar des 21. Jahrhunderts weiß, dass ihn
Moden und Launen nach oben bringen und dieselben Mechanismen für sein Verblassen
oder Verschwinden sorgen. Der Fahrstuhl, der nach oben führt, ist meistens auch der
Fahrstuhl, der einen wieder nach unten bringt. Aber daneben gibt es die Aura des Blei-
benden, also Persönlichkeiten oder Kulturgüter, denen bis heute eine hohe Beachtung
zukommt. Wer in die Geschichte eingeht, profitiert offenbar von einem Prozess, den der
amerikanische Soziologe Duncan J. Watts (2011, S. 54 ff.) in seinem Buch „Everything Is
Obvious Once You Know the Answer“ am Beispiel des Ruhms der Mona Lisa sehr an-
schaulich erklärt hat. Die Betrachter dieses Gemäldes glauben, dass der Ruhm doch der
Qualität des Bildes geschuldet ist. Aber wäre es nicht berühmt, wäre der Blick auf das
Gemälde unter Umständen ein anderer. Daher ist die Mona Lisa nur ein Fall unter vie-
len, der den bekannten Satz unter Beweis stellt: „Popularity causes Loyalty“. Es gibt, so
Jürgen Kaube in seinem Beitrag „Wie viele Mona Lisas ?“ also durchaus die Chance auf
weitere Phänomene dieser Art. Wer oder was, das wird die Zukunft zeigen. Ohne die
Bereitschaft, den Urteilen anderer zu folgen, dürfte die Chance aber gering sein (vgl.
Kaube 2011, S. 54).
2.6 Medienzukunft
Das sechste Cluster, das Neuman und Guggenheim „New Media Models“ nennen, dient
ihnen als „a placeholder for things to come“ (ebd.: S. 178). Daher kann dieses Cluster
auch im Sinne der Formulierung eines Ausblicks verwandt werden. Obwohl das Den-
ken in Ursache-Wirkungsdimensionen menschlich und daher auch weit verbreitet ist,
führt die Gegenwart immer häufiger vor Augen, dass mit einem schnellen Wechsel von
Ursachen und Wirkungen zu rechnen ist. Weiterhin dürfte aber zutreffend sein, dass
die „Massenmedien (…) sich in diesem turbulenten Feld des Themen-, Tonfall- und
Meinungswechsels [bewegen]. Sie tun es nach eigenen Kriterien, sie tun es unter schar-
fer Beobachtung ihrer eigenen Marktseite, d. h. ihrer Konkurrenten im selben Medium
und in Nachbarmedien, (…) und sie tun es mit einer ständig hochgradig irritierbaren
Aufmerksamkeit für das, was die schweigenden Mehrheiten für interessant halten und
was nicht“ (Baecker 2004, S. 9). Ob dieses Medienspiel durch neue technische und or-
ganisatorische Möglichkeiten die Grenzen der Partizipation an Medienkommunikation
verändert, ist für die Mediensoziologie kein neues Thema (vgl. Butsch 2008), aber nun-
mehr eines von wesentlich höherer Aktualität (vgl. hierzu Jäckel 2011, S. 349 ff.). Die Me-
dienzukunft wird dabei immer in der Gegenwart erlebt. Die Soziologie wird, wenn sie
sich mit Medienwirkungen beschäftigt, in zeitlicher Hinsicht immer den Effekt auf die
84 Michael Jäckel
Wahrnehmung der Vergangenheit (Was war ?), die Gegenwart (Was ist ?) und die Zu-
kunft (Was wird kommen ?) im Auge haben; in sachlicher Hinsicht wird sie der thema-
tischen und prozessualen Lenkkraft Beachtung schenken, in sozialer Hinsicht der Ziel-
gruppenauswahl und -ansprache und der Mediennutzung, in räumlicher Hinsicht die
Konsequenzen der Erweiterung des Erfahrungshorizonts für Formen sozialer Organi-
sation. Amos Oz (2008, S. 30) beschreibt in seinem Roman „Eine Geschichte von Liebe
und Finsternis“, wie er sich in jungen Jahren anhand eines Briefmarkenalbums ein Bild
von der Welt verschaffte. Die Briefmarken waren gleichwohl nicht konkurrenzlos, denn
schon zur damaligen Zeit konnte man im Kino erfahren, dass Menschen, die gut schie-
ßen können, anschließend die schönen Mädchen bekommen. Es hätte auch anders sein
können, aber so waren die Karten von dieser Welt nun einmal beschaffen.
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Psychologie als Grundlagenfach
der Medienwirkungsforschung
Sabine Trepte
Abstract Viele Modelle und Studien, die Einfluss auf das Verständnis von Medienwirkungen und auf
die kommunikationswissenschaftliche Forschung im Bereich der Medienwirkungen haben, sind in Al-
lianz mit psychologischer Forschung entstanden. Legendär sind die frühen Studien zur „Psychologie des
Radios“ von Cantril und Allport (1935) oder die Radiostudien von Paul F. Lazarsfeld, der gemeinsam mit
seiner damaligen Ehefrau Herta Herzog am Psychologischen Institut in Wien die Wirkung von Radiostim-
men auf die Hörer untersuchte (Herzog 1933). In diesem Beitrag soll näher betrachtet werden, wie diese
ersten Schritte und weitere Strömungen der Psychologie die Medienwirkungsforschung bis heute be-
einflusst haben. Es wird diskutiert, welche Perspektiven aus der Zusammenarbeit von Psychologie und
Medienwirkungsforschung resultieren und mit welchen Szenarien wissenschaftlicher Kooperation sie
optimiert werden könnten.
1 Einführung
Medienwirkungsforschung betrachtet den Einfluss von Medien auf das Verhalten, das
Erleben, das Wissen und die Einstellungen von Menschen (Bryant & Oliver 2008; Jäckel
2002; McQuail 2000; Merten 1999; Schenk 2007). Die Problemstellungen der Medien-
wirkungsforschung folgen zumeist einem Unterschieds- bzw. einem Veränderungs-
paradigma. Es geht darum, Medieneinflüsse zu determinieren, von anderen Einflüssen
zu unterscheiden und gegebenenfalls ihre Wechselwirkung mit weiteren, z. B. perso-
nenbezogenen Aspekten herauszufinden. Die grundlegenden Fragen lauten: Ist ein Me-
dieneinfluss nachweisbar und welche anderen, determinierenden Faktoren spielen eine
Rolle ? Dabei gelten i. d. R. Medienangebote und -inhalte als einflussnehmende, unab-
hängige Variablen, die eine Veränderung bewirken. Als abhängige Variablen fokussieren
Medienwirkungsstudien vorrangig Emotion, Kognition und Verhalten der Rezipientin-
nen und Rezipienten (Kepplinger & Noelle-Neumann 2009). Die erfassten Veränderun-
Hans-Bernd Brosius, Peter Vorderer oder Uwe Hasebrink studierten und arbeiteten zu-
nächst an psychologischen Instituten und machten dann in der Kommunikationswis-
senschaft – meistens mit dem Schwerpunkt der Medienwirkungsforschung – Karriere.
Im Jahr 1951 arbeitete man auch im Nachkriegsdeutschland mit der Wiedereröffnung
des Frankfurter Instituts für Sozialforschung an einer Weiterentwicklung sozialwissen-
schaftlicher Methoden. Bei der Wiedereröffnung stellte Max Horkheimer fest, dass es
darauf ankomme „auf Grund aktueller philosophischer Fragestellungen Untersuchun-
gen zu organisieren, zu denen Philosophen, Soziologen, Nationalökonomen, Historiker,
Psychologen in dauernder Arbeitsgemeinschaft sich vereinigen“ (Frankfurter Institut für
Sozialforschung 2011). Bemerkenswert ist hier, dass die Psychologie als Disziplin eine
wichtige Rolle spielte, jedoch kein Bezug zur Zeitungswissenschaft oder gar Publizistik
(über deren formale Benennung allerdings auch erst mit dem Erscheinen des Fachorgans
„Publizistik“ im Jahr 1956 weitgehend Konsens herrschte (Averbeck & Kutsch 2002))
hergestellt wird. Anders als erwartet, sollten die wissenschaftstheoretischen Auseinan-
dersetzungen des Instituts wenig später großen Einfluss auf die Medienwirkungsfor-
schung haben. Im Gegensatz dazu blieb die psychologische Methodenforschung bei den
Debatten zu Wissenschaftstheorie und Methode weitgehend außen vor (vgl. ausführlich
dazu Abschnitt 3.4). Ebenfalls in dieser Zeit (1950) wurde das Hans-Bredow-Institut ge-
gründet. Der Einfluss psychologischer Forschung ist auch hier anhand einer Personalie
deutlich: Gerhard Maletzke wechselte von seiner Tätigkeit als Assistent am Psycholo-
gischen Institut in Hamburg an das Hans-Bredow-Institut und bereicherte gemeinsam
mit Soziologen, Historikern, Juristen und Politologen die interdisziplinäre Arbeit des
Instituts. Bemerkenswert erscheint dieser Wechsel m. E. hier v. a., weil gerade in dieser
Zeit eine deutliche disziplinäre Trennung zwischen Kommunikationswissenschaft und
Psychologie vollzogen wird. Maletzke (1997) selbst beschreibt diese Zeit sehr treffend als
eine Zeit, in der er „ohne es zu merken Kommunikationswissenschaftler wurde“ (S. 110).
Und ebenfalls in Deutschland etablierten sich zunehmend publizistikwissenschaftliche
Institute ab den 1960er-Jahren (Schulz 2006), die zu dieser Zeit insbesondere an Wir-
kungsfragen interessiert waren und damit die deutsche Wirkungsforschung weiter kon-
solidierten (Kepplinger & Noelle-Neumann 2009). Die Wirkungsforschung ist ab den
1960er-Jahren deutlich als eigene Disziplin der Kommunikationswissenschaft identifi-
zierbar (Meyen 2007). Auch haben ab dieser Zeit viele Strömungen aus der Psychologie
das Fach geprägt. Dementsprechend setzt der folgende Abschnitt in den 1960er-Jahren
an, reflektiert die Strömungen der Psychologie und welche Grundlagen besonderen Ein-
fluss auf die Wirkungsforschung genommen haben.
94 Sabine Trepte
rung mehr als nachvollziehbar. Allzu einfach sind die Annahmen des Ansatzes als dass
man sie hätte in die frühe Wirkungsforschung übernehmen können. Und wenn auch
einzelne Arbeiten zur Propagandaforschung explizit Bezug auf den Behaviorismus neh-
men (Bussemer 2003), so sind diese eher Ausnahmen.
Während nun der Behaviorismus – außer als Heuristik für die Ursache-Wirkungs-
Beziehung von Medien und ihrem Einfluss auf Menschen – so gut wie keine Spuren in
der Wirkungsforschung hinterlassen hat, so findet man bis heute starke Einflüsse des
Neobehaviorismus, zu dem auch lerntheoretische und motivationale Ansätze gezählt
werden. Die v. a. von Albert Bandura begründete Lerntheorie beinhaltete, dass nicht nur
Belohnung und Bestrafung, sondern weitaus komplexere Prozesse in Reiz-Reaktions-
Schemata eine Rolle spielen (Bandura 1965). Beispielsweise zeigte er anhand des Mo-
delllernens, dass die Beobachtung anderer Personen einen Einfluss darauf hat, ob und
wie gelernt wird.
Kepplinger und Noelle-Neumann (2009) systematisieren in ihrem Überblick zur
Wirkungsforschung unter den lerntheoretischen Ansätzen die Erforschung von „fünf
Einflüssen“: Den Einfluss der Medien und Medienrezeption auf Relevanzvorstellun-
gen (z. B. Agenda Setting), Gefahreneinschätzungen, Mehrheitsvorstellungen (z. B. For-
schung zu Fallbeispielen), Wirkungsvermutungen (z. B. Third-Person-Effekt) und auf
die Verteilung des Wissens in einer Gesellschaft (z. B. Wissenskluftthese). An dieser
Zusammenstellung wird deutlich, dass die Bandbreite des Einflusses lerntheoretischer
Überlegungen sehr groß ist. In einigen Fällen wurden lerntheoretische Annahmen oder
Modelle adaptiert. Der Third-Person-Effekt beschreibt beispielsweise einen Urteilsfeh-
ler und wurde zuerst von W. Phillips Davison, einem Sozialpsychologen, beschrieben
(Davison 1983). Demnach glauben Menschen, dass andere stärker von Massenmedien
beeinflusst werden als sie selbst. In anderen Fällen standen die lerntheoretischen Über-
legungen als Paradigma Pate, ein direkter Einfluss psychologischer Theorien ist jedoch
nicht feststellbar.
In der Psychologie hat die größte Revolution als „kognitive Wende“ in den 1950er-Jah-
ren begonnen (Hogg & Abrams 1999; Lück 2011). In dieser Zeit ergänzten wissenschaft-
lich arbeitende Psychologinnen und Psychologen zunehmend die positivistische Per-
spektive des Behaviorismus mit Überlegungen dazu, was eigentlich in der ‚Black Box‘
zwischen Stimulus und Response abläuft. Das menschliche Denken und seine Wirkung
auf Kognition, Emotionen und Verhalten rückte als Forschungsgegenstand in den Fo-
kus (Shiraev 2011). Inspiriert wurden die ersten Kognitionspsychologen wie George A.
Miller, Eugene Galanter und Karl H. Pribram von Entwicklungen im Bereich der ar-
tifiziellen Intelligenz, der Forschung zu Robotern und der Informationstechnologie
(Greenwood 2009). Die ersten Modelle und Theorien sind im weitesten Sinne Kom-
Psychologie als Grundlagenfach der Medienwirkungsforschung 97
Der Weg ‚zurück‘ zur Ausgangstheorie ist versperrt: Die durch viele Theorien angerei-
cherten Erklärungsansätze gewinnen eine Komplexität, die dem Status ‚Theorie‘ nicht
mehr gerecht werden können. Nicht die einzelnen Aspekte oder Variablen einer Theo-
rie werden geprüft, sondern sie werden angewandt und um andere theoretische Aspekte
erweitert. Dieses zunächst als theoretische Weiterentwicklung anmutende Vorgehen ist
jedoch keine Theorieentwicklung im engeren Sinne, weil die Ausgangsannahmen und
die Erweiterung so gut wie nie ‚gegeneinander‘ getestet werden.
Es bleibt abzuwarten, ob und wie gegenwärtige neurokognitive Strömungen in der
Medienwirkungsforschung aufgegriffen werden. Dieses aussichtsreiche Forschungsfeld
betrachtet, wie Kognition im Gehirn entsteht, verläuft und wie verschiedene kognitive
Leistungen voneinander abgrenzbar sind. Erste Schritte zu diesen Fragen wurden in der
Wirkungsforschung bereits gegangen (Weber et al. 2006); es ist zu hoffen, dass hier wei-
tere Forschungsbemühungen folgen.
Emotionspsychologie bzw. die Psychologie der Emotionen bzw. des Affekts spielten als
Teil der Wahrnehmungspsychologie bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine
Rolle (Lück 2011). Die ersten Studien, die William James 1884 im Psychological Review
publizierte, befassten sich mit den physischen Gegebenheiten von Emotionen und ver-
suchten sie mit der Wahrnehmung eines emotionserregenden Ereignisses in Verbin-
dung zu bringen (Greenwood 2009). Diese Überlegungen wurden in den 1960er-Jahren
weitergeführt von Stanley Schachter und Jerome E. Singer und mündeten schließlich in
die heutigen Appraisal-Theorien (vgl. den Beitrag von Wirth in diesem Band; Lewis &
Haviland 2000; Scherer 1988). Bis heute ist die Erforschung von Emotionen und Gefüh-
len ein bedeutsames Forschungsfeld der Psychologie.
Neben den im engeren Sinne emotionspsychologischen Arbeiten wurden in den
1980er-Jahren zunehmend Motive und Emotionen in sozial-kognitive Betrachtungen
integriert (Hogg & Abrams 1999). Mit dem sog. ‚Warm look‘ wurden die bis dahin v. a.
sozial-kognitiv geprägte Sozialpsychologie um emotionale Perspektiven bereichert. Bei-
spielsweise Theorien zum Selbst und zur Identität ‚durften‘ ab den 1980er-Jahren auch
motivationale und emotionale Komponenten beinhalten (Dauenheimer 1995; Stahlberg
et al. 1996). Selbstwert- und Konsistenztheorien werden seitdem als nebeneinander ste-
hend und gleichbedeutend akzeptiert, wenn es um die Erklärung des Phänomens geht,
welche Informationen Individuen suchen, um ihr Selbstkonzept zu validieren.
Die Emotion als eines der drei Konstrukte der psychologischen Trias ‚Kognition,
Emotion, Verhalten‘ spielte in der Wirkungsforschung v. a. ab den 1980er-Jahren eine
zunehmende Rolle. Ebenso wie in der Psychologie ist hier eine Zweiteilung beobachtbar:
Auf der einen Seite widmeten sich Emotionspsychologen wie Dolf Zillmann und seine
Schüler Wirkungsfragen (Bryant et al. 2003), auf der anderen Seite wurden Emotion
Psychologie als Grundlagenfach der Medienwirkungsforschung 99
und Affekt ab dieser Zeit zunehmend in kognitive (Lang et al. 1999; Lang et al. 1995) und
sozial-kognitive Modelle der Medienwirkung integriert (Vorderer & Hartmann 2008).
Dolf Zillmann hat mit der Affective Disposition Theory und dem Konzept des Ex-
citation Transfer ganz wesentlich zu einem tieferen Verständnis von Medienwirkungen
beigetragen (Zillmann & Bryant 1985). In den 1990er-Jahren wurden andere Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler ebenfalls präsent. Annie Lang arbeitete beispiels-
weise am Konzept des Affekts (Lang et al. 1999; Lang et al. 1995) und Niklas Ravaja (Ra-
vaja 2004; Ravaja et al. 2006) trug durch seine Beiträge zu einem besseren Verständnis
der psycho-physiologischen Methoden bei der Erforschung emotionaler Prozesse bei. In
Österreich und Deutschland haben zunächst die Psychologen Peter Vitouch und Gary
Bente diese Entwicklungen vorangetrieben. Ihre grundlegenden Publikationen zum
Verständnis und zur Messung emotionaler und psycho-physiologischer Prozesse die-
nen bis heute als Grundlagenliteratur (Bente et al. 1992; Bente & Vorderer 1997; Vitouch
1997). Derzeit gibt es eine neue Bewegung, die wieder ganz deutlich auch von deutschen
Wirkungsforschern vorangetrieben wird mit dem Ziel, emotionale Prozesse besser zu
verstehen (Bartsch et al. 2008; Nabi & Wirth 2008; Wirth & Schramm 2005). Mit einer
Theorie der Meta-Emotionen wird postuliert, dass während der Rezeption nicht nur die
vordergründig über die Medieninhalte vermittelten Emotionen nachempfunden wer-
den, sondern gleichzeitig sog. Meta-Emotionen. Hier ist auch die Unterhaltungstheorie
von Früh (2002) einzuordnen.
Mit dem Prinzip der Meta-Emotionen wird versucht zu erklären, warum Menschen
gern traurige Medienangebote rezipieren. Der Ansatz der Meta-Emotionen unterstellt,
dass Menschen während der Mediennutzung ihre Emotionen in einem Bewertungs-
prozess, der als Appraisal bezeichnet wird, wahrnehmen und überprüfen (Schramm &
Oliver, im Druck; Schramm & Wirth 2010). Dieses Appraisal kann so intuitiv wie pri-
märe Emotionen erlebt werden (Bartsch et al. 2008). Während der Rezeption von
Horrofilmen, Tragödien, Dramen oder anderen primär aversiven Inhalten können Re-
zipientinnen oder Rezipienten gleichzeitig negative Stimmungen im Hinblick auf die
Inhalte, und positive Meta-Emotionen empfinden. Diese positiven Meta-Emotionen
entstehen beispielsweise, weil die Rezipienten ein Interesse haben, neue oder fremd-
artige Emotionen zu erfahren oder weil sie die Inhalte und die empfundenen Emotio-
nen als besonders bedeutungsvoll empfinden (Schramm & Oliver, im Druck). Sehr
international und sehr übergreifend im Hinblick auf die Universitäten und Forschungs-
schwerpunkte wird versucht, Emotionen genauer zu fassen. Dabei erhalten derzeit
– ebenso wie in der Psychologie – appraisaltheoretische Ansätze den größten Zuspruch.
Emotionstheoretische Überlegungen werden darüber hinaus in vielen Studien als Kon-
textvariablen verwendet.
Besondere Bedeutung hat im Hinblick auf die Betrachtung emotionaler Prozesse
auch die Wirkungsforschung zur Aggression. Relevant sind hier die grundlegenden
Arbeiten von Albert Bandura zur Bobo-Doll, die eigentlich zunächst weniger als Wir-
kungsstudien und mehr als Studien zum Modelllernen geplant waren (Bandura 1965).
100 Sabine Trepte
Und als Grundlage dient bis heute das psychologische General Affective Aggression Mo-
del, das in vielen Studien zu Gewaltwirkungen als theoretische Grundlage verwendet
wird (Anderson & Bushman 2002; Bushman & Anderson 2002).
Als übergreifendes Muster bei der Erforschung von Emotionen soll abschließend
festgehalten werden, dass sich psychologische Arbeiten und kommunikationswissen-
schaftliche Wirkungsstudien v. a. durch ihr methodisches Herangehen und ihr Erkennt-
nisinteresse unterscheiden. Während erstere streng experimentallogisch vorgehen und
nach ‚kleinen‘ Effekten suchen, so geht es bei letzteren eher um größere Zusammen-
hänge und die Erklärung komplexerer Modelle, die häufig mit Fragebogenstudien oder
Quasi-Experimenten realisiert werden (Anderson et al. 2010).
Die humanistische Psychologie wird neben Psychoanalyse und Behaviorismus oft als
‚dritte Kraft‘ bezeichnet (Lück 2011). Ihre namhaften Vertreter wie Abraham Maslow,
Charlotte Bühler, Noam Chomsky oder Carl Rogers kritisierten den Behaviorismus und
proklamierten eine Abwendung von der Vorstellung, der Mensch sei nur eine Labor-
ratte, der bei richtiggehender Manipulation die entsprechenden Reaktionen entlockt
werden konnte (Greenwood 2009; Shiraev 2011). Die Modelle des Sozial-Kognitivismus
vernachlässigten dieser Ansicht nach den wesentlichen Teil des menschlichen Lebens,
nämlich die Wahlfreiheit eines jeden Menschen, seine intellektuelle Freiheit, das Streben
nach Anerkennung, nach Selbstverwirklichung und einem erfüllten Leben (Lück 2011).
Grundideen der humanistischen Psychologie lassen sich bei Csikszentmihalyis
(1988) Flow-Konzept finden, das in der Medienwirkungsforschung sehr große Resonanz
gefunden hat (Sherry 2004; Weber et al. 2009). Obwohl der Flow im Rezeptionsprozess
angesiedelt wird, messen ihn Wirkungsforscherinnen und -forscher i. d. R. ex-post, und
in einigen Studien wird Flow auch schlicht als Ergänzung zur Operationalisierung des
Unterhaltungserlebens und des Involvements verwendet, um Medienwirkungen zu ska-
lieren (Klimmt et al. 2009; Weibel et al. 2008).
Auch die Ideen der „Positive Psychology“, ein psychologisches Forschungsfeld, das
sich den menschlichen Ressourcen, dem persönlichen Glück, dem individuellen Wohl-
befinden, der Lebenszufriedenheit und dem positiven Affekt widmet (Kahneman et al.
1999), finden Zuspruch in der Wirkungsforschung, der sich vermutlich noch verstärken
wird. Insbesondere das Konzept des Well-Being wird als abhängige Wirkungsvariable
geradezu inflationär verwendet (Huang 2010). Beide Konzepte, Flow und Well-Being
gelten als etablierte Effekte, blicken auf eine eigene Forschungstradition in der Wir-
kungsforschung zurück und es formierte sich in den letzten Jahren eine entsprechende
Scientific Community.
Neben den aus der Psychologie entlehnten Konzepten wie Well-Being oder Flow fin-
det man in der Medienwirkungsforschung insbesondere seit den 1990er-Jahren deut-
Psychologie als Grundlagenfach der Medienwirkungsforschung 101
gen Abschnitt 3.3 als zunehmend bedeutsame Perspektive der Wirkungsforschung vor-
gestellt wurden.
Verbindendes Element dieser Ansätze der Unterhaltungsforschung und maßgeben-
des Menschenbild ist die in der humanistischen Psychologie begründete Haltung, so-
wohl Genuss und Freude als auch die individuelle Weiterentwicklung in Auseinander-
setzung mit sich selbst und anderen Menschen zu betrachten. Darüber hinaus haben
die Ideen der humanistischen und positiven Psychologie sowie die aktuelle Medien-
wirkungsforschung gemeinsam, dass sie das individuelle Erleben fokussieren. Ganz
explizit heben die Vertreter der Unterhaltungsforschung hervor, dass das individuelle
Unterhaltungserleben, der persönliche Eindruck, zu profitieren, zufrieden zu sein und
gelernt zu haben, im Vordergrund stehen. Dementsprechend sind auch die Operatio-
nalisierungen der Unterhaltungsforschung stets am individuellen Erleben ausgerichtet
(Trepte 2005).
wurde bereits für die Jungtürken der 1960er-Jahre (Meyen 2007) und für die nachfol-
gende Generation der 1980er- und 1990er-Jahre festgestellt (Donsbach 2009) und zeigt
sich heute ebenso.
Die hier beschriebenen Einflüsse weisen exemplarisch bereits darauf hin, dass im
Bereich der Methoden kein eindeutiger Flow von der Psychologie in die Wirkungs-
forschung stattfindet, sondern dass verschiedene Disziplinen involviert sind und sich
gegenseitig beeinflussen. Ein echter Backflow von der Wirkungsforschung in die Psy-
chologie hat ebenfalls nur selten stattgefunden. Warum in der Psychologie die methodi-
schen, aber auch andere Entwicklungen der Wirkungsforschung kaum wahrgenommen
werden, wird im folgenden Abschnitt abschließend diskutiert.
Wie gehen wir nun mit diesen Beobachtung um ? Sollten sie uns Wirkungsforsche-
rinnen und -forscher überhaupt kümmern ? Was bedeuten sie für die zukünftige Zusam-
menarbeit ? Drei Szenarien sind hier denkbar, die eine Zusammenarbeit von Psycholo-
gie und Wirkungsforschung skizzieren.
Erstens ein Szenario der Arbeitsteilung, in dem sich die Psychologie um die Prozesse
kümmert und die Kommunikations- bzw. Wirkungsforschung Expertise für die Medien
beisteuert. Donsbach (2007) schlägt dieses Szenario der Arbeitsteilung vor einem um-
fassenden Erfahrungshintergrund vor: Er hat für die Dissonanztheorie den Anspruch
vertreten, den gesamten Umfang der Theorie zu rezipieren und die Simplifizierungspro-
zesse bei der Verwendung der Dissonanztheorie in der Kommunikationswissenschaft in
seinen Arbeiten aufzuzeigen (Donsbach 2009).
Zweitens ist ein Szenario der Elaboration und Kooperation denkbar. Obwohl die schier
erschlagende Masse von Studien und mikro-feinen Weiterentwicklungen der psycholo-
gischen Grundlagen dem sozialwissenschaftlichen Arbeiten der Wirkungsforscherinnen
und -forscher nicht entgegenkommt, so scheint doch ihre Berücksichtigung ein sinn-
voller Weg, um die Verbindung von Psychologie und Wirkungsforschung nachhaltig zu
nutzen. Dies würde im Einzelnen bedeuten, dass die Arbeit der Wirkungsforscherinnen
und -forscher – ähnlich wie in der Psychologie – mehr auf einzelne Theorien ausgerich-
tet wäre und sich ganze Forscherleben einer Theorie verschreiben müssten. Ob dies hin-
sichtlich der eher kleinen kommunikationswissenschaftlichen Institute, die gewisserma-
ßen ein Generalistentum strukturell erfordern, wünschenswert ist, ist die Frage.
Drittens ist ein Szenario der Unabhängigkeit vorstellbar. In diesem würde es zuneh-
mend darum gehen, psychologische Theorien in der Wirkungsforschung zu entwickeln.
Damit würden sich Wirkungsforscherinnen und -forscher an die psychologische Tra-
dition anschließen, selbst theoriebildend zu arbeiten. Es würden neue psychologische
Theorien entstehen, die möglicherweise immer noch einen Bezug zu den Strömungen
der Psychologie hätten, aber noch besser auf die Prozesse der Medienwirkung zuge-
schnitten sind, Medien als unabhängige Variablen explizit einbeziehen und sie nicht nur
als ‚Stimulus‘ oder ‚situative Variable‘ berücksichtigen.
Letztlich können alle drei Szenarien gelebt werden und würden uns voranbringen.
Eine gesunde Mischung wäre vermutlich der richtige Weg. Insofern soll dieser Beitrag
dann am Ende nur eine letzte Randbemerkung beinhalten: Wie immer wir mit den psy-
chologischen Strömungen arbeiten, sollten wir Wirkungsforscherinnnen und -forscher
nicht für jedes neue Medium und jede neue Informationstechnologie bei den Anfän-
gen der psychologischen Betrachtung beginnen. Es scheint ein geradezu standardisier-
tes Vorgehen zu sein, bei neuen Medienangeboten zunächst die einfachsten psycholo-
gischen Zugänge zu wählen, dann die theoretische Komplexität zu erhöhen und dann
erst im Hinblick auf die Elaborationstiefe in der heutigen Zeit anzukommen. Zunächst
werden Nutzungsmotive erfasst, dann schauen wir uns an, mit welchen Persönlichkeits-
variablen die Nutzung korreliert, um dann erst im dritten und vierten Schritt wirklich
theoretisch zu denken und Modelle zu kognitiven und emotionalen Wirkungen zu ent-
106 Sabine Trepte
falten. Es scheint, als würden wir für jede Medienentwicklung die Evolution der psycho-
logischen Grundlagen nachzeichnen. Das ist in Anbetracht der großen psychologischen
Expertise in der Wirkungsforschung nicht erforderlich und raubt Zeit für die wesent-
lichen Betrachtungsweisen. Auch scheint mir eine solche Vereinfachung mit Blick auf
die wirklich beeindruckenden Befunde und Erfolge der Wirkungsforschung überholt.
Wünschenswert erscheint mir zukünftig v. a. die Akzeptanz theoretischer und methodi-
scher Komplexität bei der Verankerung psychologischer Grundlagen in der Wirkungs-
forschung.
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Kontextualisierung versus Komplexitätsreduktion
Medienwirkung aus kulturtheoretischer Perspektive
Jeffrey Wimmer
Abstract Medienwirkung wird hier als kulturelles Phänomen begriffen. Das kulturtheoretische Ver-
ständnis verdeutlicht in kritischer Wendung gegen vereinfachende Modelle der Medienwirkungsfor-
schung, die auf Annahmen linearer Ereignisfolgen und isoliert zu betrachtenden Individuen basieren,
die Komplexität und die vielfältigen Kontexte von Kommunikationsprozessen. Der Beitrag skizziert in
einem ersten Schritt zentrale Grundzüge der Cultural Studies und einer kulturtheoretischen Mediati-
sierungsforschung und ihrem Verständnis von einem Individuum als symbolischem Wesen. Unter dem
Eindruck der Allgegenwärtigkeit von Medien zeigt sich, wie mit dem Konzept der Kontextualität die
in sozialen Kommunikationsprozessen realisierten Bedeutungsprozesse und damit auch die Komple-
xität medialer Wirkungsprozesse übergreifender untersucht und verstanden werden können. In einem
zweiten Schritt wird durch die Diskussion des Zusammenhangs von Medien- und Gesellschaftswan-
del aufgezeigt, wie die ‚klassische‘ Annahme stabiler Medienwirkungen der sich rasch verändernen All-
tagswelt der Menschen nicht gerecht wird. Die erkenntnisfördernde Berücksichtigung der Kontexte bei
Wirkungsfragen wird abschließend exemplarisch an der Debatte um gewalthaltige Computerspielen
verdeutlicht.
1 Einführung
ming benannt. So fokussierte der Mainstream der Wirkungsforschung lange Zeit eher
personale Medienwirkungen als Einflüsse auch einer gesellschaftlichen Ebene, was
Kepplinger (2008, S. 333) mit der psychologischen Grundlegung der Medienwirkungs-
forschung rechtfertigt:
„Ein Grund hierfür besteht darin, dass die Lerntheorie nach wie vor die unausgesproche-
ne Grundlage der meisten Ansätze der Medienwirkungsforschung ist. Auf ihr beruhen die
Agenda Setting-These, die Wissenskluftthese, die Kultivierungsthese, die Diffusionsfor-
schung usw. Von den Annahmen der Lerntheorie ausgehend liefert die Medienwirkungsfor-
schung kausale Erklärungen der Wirkung der Massenmedien. Eine Bedingung für kausale
Erklärungen ist die zeitliche Reihenfolge von Ursache und Wirkung: Die Ursache muss der
Wirkung vorausgehen.“
Dieser Perspektive inhärent sind folglich sowohl die Annahme linearer Ereignisfolgen
und als auch die Vorstellung eines von seiner kontextuellen Einbettung als isoliert zu be-
trachtenden Individuums.
Schulz (2009) verweist allerdings auch auf die „Metamorphosen des Wirkungskon-
zepts“ und eine damit einhergende Expansion und Entgrenzung traditioneller Wir-
kungsforschung. Diesen Gedanken implizit aufgreifend postuliert Bonfadelli (2008,
S. 844) die aktuelle Allgegenwärtigkeit und Alltäglichkeit von Medienwirkungen, die in
einem internationalen Kontext oft auch als „mediation of everything“ oder „media sa-
turation“ gesellschaftlicher Zusammenhänge verhandelt wird:
„Oft wird die scheinbar banale Tatsache übersehen, dass die wichtigste Medienwirkung darin
besteht, dass die Medien zu einem alltäglichen Bestandteil des Lebens der meisten Menschen
geworden sind, einen unverzichtbaren Stellenwert im Tagesablauf haben und diesen in Form
von Ritualen auch mehr oder weniger strukturieren.“
Unser Alltag hat sich mittlerweile zu einem Medienalltag gewandelt. So ist der ‚mobile‘
Mensch von heute zum großen Teil online – u. a. zum Kommunizieren, um sich zu in-
formieren, um soziale Beziehungen aufrecht zu erhalten, zum Arbeiten oder auch ein-
fach um Unterhaltung und Spaß zu finden. Wie selbstverständlich erscheint uns daher
der intensive Gebrauch der verschiedenen (digitalen) Kommunikationsmedien wie In-
ternet, Mobiltelefone oder Computerspiele, aber auch traditioneller Massenmedien wie
Zeitung, Radio und Fernsehen. Ebenso selbstverständlich – so die plausible Annahme
der Wirkungsforschung – sei auch die durchdringende Wirkkraft der Medien und der
öffentlichen Kommunikation.
Auch aus einer kulturtheoretischen Perspektive wird die Diagnose der zunehmenden
Verbreitung von Medien im Alltag als eine Mediatisierung gesellschaftlicher Zusammen-
hänge gefasst (vgl. die Beiträge in Krotz & Hepp 2012). Im Unterschied zu dem skizzier-
ten engeren Wirkungsverständnis wird Mediatisierung hier allerdings in einem Bezug
Kontextualisierung versus Komplexitätsreduktion 115
schung ein (Abschnitt 2). Darauf aufbauend wird durch die Diskussion der These, dass
Medien(technologien) auf Gesellschaft und Kultur ‚wirken‘, verdeutlicht, dass die An-
nahme stabiler Medienwirkungen der sich rasch verändernen Alltagswelt der Menschen
nicht gerecht wird (Abschnitt 3). Die erkenntnisfördernde Berücksichtigung der Kon-
texte von Medienkommunikation wird danach am Fallbeispiel der Debatte um die Wir-
kung von Computerspielen konkretisiert (Abschnitt 4). Ein Fazit beschließt den Beitrag
(Abschnitt 5).
Der Ansatz der Cultural Studies stellt sich als ein auf soziale Veränderung zielendes
Projekt dar, das Medien und Mediennutzung als kulturelle Alltagsphänomene kri-
tisch betrachtet. Er hat sich ausgehend von der Gründung des Centre for Contempo-
rary Cultural Studies in Birmingham 1964 zu einem inter- und transdisziplinären For-
schungsansatz entwickelt. Einem emanzipatorischen Bildungsideal verpflichtet, übten
die ersten Vertreter Kritik am politischen und kulturellen Selbstverständnis der dama-
ligen britischen Gesellschaft und führten das Populäre als Kategorie in die Debatte um
die Zusammenhänge von Kultur, Klasse und Macht ein. Kultur wird als Summe der ver-
schiedenen Klassifikationssysteme und diskursiven Formationen verstanden, auf die im
Alltagshandeln (kommunikativ) Bezug genommen wird, um Dingen eine Bedeutung
zu geben (Hall 2002, S. 108). Die Cultural Studies fokussieren kulturelle Praktiken im
Sinne des „whole way of life“ (Williams 1958) und damit insbesondere jene Kulturberei-
che, die bis zu diesem Zeitpunkt in wissenschaftlicher Analyse ausgespart blieben: Un-
terhaltung, Freizeitgestaltung, Konsumverhalten etc. Sie zeigen in ihren Analysen, dass
die stark von Medien geprägte Alltagskultur ein umkämpfter Bereich widersprüchli-
cher und konfligierender Wirklichkeitsdefinitionen darstellt, die als solche stets macht-
geprägt sind.
Durch die basale Verknüpfung von Kommunikation, Medien und Kultur und dem
Verständnis von (Medien-)Kultur als alltäglich vollzogene (Medien-)Praxis, ergibt sich
der Anschluss an die Kommunikationswissenschaft und die in diesem Beitrag aufgegrif-
fene Diskussion des Wirkungsbegriffs. Die Analyse von Mediengebrauch vollzieht sich
dabei sowohl unter Bezugnahme auf den jeweiligen Mikrokontext und dessen kulturelle
Praktiken – wie beispielsweise beim Domestizierungsansatz die häusliche Rezeptions-
situation – als auch auf die Makroebene kultureller Kontexte und damit verbundener
politischer, ökonomischer und sozialer Zusammenhänge. Dieses Prinzip der radikalen
Kontextualität gilt neben der konkret-praktischen Offenheit der Theoriebildung, dem
interventionistischen Charakter, der Interdisziplinarität und der selbstreflexiven Heran-
gehensweise als das zentrale Merkmal der Cultural Studies (Hepp et al. 2009). Im Kon-
text der hier diskutierten Wirkungsfrage spezifiziert Hepp (2010, S. 227 f.) diesen Ansatz
Kontextualisierung versus Komplexitätsreduktion 117
der Kontextualisierung als einen „spezifischen Anti-Essentialismus, der sich in dem Ver-
ständnis manifestiert, dass kein kulturelles Produkt und keine kulturelle Praxis außer-
halb des kontextuellen Zusammenhangs fassbar sind, in dem sie stehen“ und als einen
„Einbezug der verschiedenen in diesem Zusammenhang relevanten ‚Kräfte‘ und ‚Interes-
sen‘, ohne dass eine davon monokausal als die ‚eigentlich relevante‘ apostrophiert wird.“
Die stete analytische Berücksichtigung der Kontexte, die sich aber nicht nur auf die
Ausgestaltung des empirischen Vorgehens bezieht, sondern selbstreflexiv auch auf die
theoretische Grundlegung und Zielsetzung einer Studie, stellt wohl den grundlegen-
den Unterschied zu einer aus Sicht der Cultural Studies als ‚unkritisch‘ empfundenen
Wirkungsforschung dar. Konkret wird Kritik an einer als mechanistisch empfunde-
nen Ursache-Folgen-Relation und damit an einem an naturwissenschaftlichem Denken
orientierten Wirkungsbegriff geübt. Denn aus Sicht einer kulturorientierten Kommu-
nikationswissenschaft blendet diese Perspektive die in Kommunikationsprozessen rea-
lisierten und zum Teil recht widersprüchlichen Deutungsleistungen und Interaktionen
der Subjekte schlichtweg aus. Durch diese Form von Komplexitätsreduktion ermöglicht
sie überhaupt erst eine eindeutige Rückführbarkeit von Wirkungen auf vorausgegan-
gene Ereignisse bzw. konstruiert somit die Eindeutigkeit von Wirkungen. Am promi-
nentesten führt Ang (1999, S. 318) diese Kritik aus:
„Im Mainstream der Kommunikationsforschung, der ‚objektives‘ Wissen durch die Überprü-
fung generalisierbarer Hypothesen mit Hilfe von konventionellen sozialwissenschaftlichen
Methoden anhäuft, wird ‚Kultur‘ vorwiegend im behavioristischen Sinne aufgefasst. (…) Ihr
positivistisches Interesse an der Medienkultur ist jedoch in vielerlei Hinsicht nicht mit dem
Anliegen der Cultural Studies vereinbar. Letztere behandeln ‚Kultur‘ nicht einfach als einen
isolierten Gegenstand der Kommunikationsforschung. Ihnen geht es um die widersprüch-
lichen und sich kontinuierlich vollziehenden sozialen Prozesse von kultureller Produktion,
Zirkulation und Konsum und nicht um ‚Kultur‘ als ein mehr oder weniger statisches und
objektiviertes Gebäude von Ideen, Überzeugungen und Verhaltensweisen. Die Cultural Stu-
dies arbeiten deshalb auf der Grundlage völlig anderer Prinzipien: Sie befassen sich mit den
historisch entstandenen und spezifischen Bedeutungen und weniger mit allgemeinen Ver-
haltenstypologien, sind eher prozess- als ergebnisorientiert und verfahren interpretativ statt
erklärend.“
Ein zentraler Zugang zur kontextualisierenden Analyse von Kommunikations- und Re-
zeptionsprozessen erfolgt nach Krotz (1995) unter dem Aspekt sog. Codes, welche die
jeweiligen ‚Autoren‘ (Kommunikatoren) und ‚Leser‘ (Rezipienten) verbinden. Ein Code
ist ein Regelsystem, dessen Verwendungskonventionen kulturell geteilt sind (Fiske 1987).
Neben der Grundannahme, dass durch Sprache und ‚Text‘ (Medieninhalt) Realität kon-
struiert wird, spielt die Frage nach der bedeutungsgenerierenden Macht eine zentrale
Rolle, denn es besteht keine zwangsläufige Korrespondenz zwischen Encodierung und
Decodierung eines Textes. Aus gesellschaftlicher Perspektive ist Decodierung ideal-
118 Jeffrey Wimmer
typisch aus drei Positionen denkbar: innerhalb eines dominanten bzw. hegemonialen,
eines ausgehandelten oder eines oppositionellen Codes (Hall 1999). Cultural Studies
betonen dabei die Aktivität des Rezipienten, dessen interpretative Freiheit und die mit-
unter kreativen Sinnkonstruktionen im Rahmen von Kommunikationsprozessen (z. B.
Reader-as-Writer-Position). Medienkommunikation kann somit kontext- und rezipien-
tenspezifisch gleichzeitig sowohl emanzipierend als auch hegemonial ‚wirken‘.
Auf dieser Erkenntnis aufbauende Fallstudien können dabei nicht nur die Vorstel-
lung eines aus passiven Reizempfängern bestehenden Publikums, sondern auch eines
als monolithisch gedachten Publikumsbegriffs dekonstruieren, so führt Morley (1986,
S. 10) aus:
„We are all in our heads, several different audiences at once, and can be constituted as such by
different programmes. We have the capacity to deploy different levels and models of attention,
to mobilize different competences in our viewing. At different time of the day, for different fa-
mily members, different patterns of viewing have different ‚saliences‘.“
Zwei Aspekte sind hier ausschlaggebend: Durch die Polysemie (Mehrdeutigkeit) eines
Textes besitzen Medieninhalte auf der einen Seite jeweils mehrere individuelle Lesarten
(Fiske 1986). Der Rezipient wird auf der anderen Seite als ein „symbolisches Wesen (ver-
standen) (…), das in Begriffen und Konzepten erlebt, handelt, denkt, kommuniziert“
(Krotz 2011, S. 29). Postulierte Wirkungszusammenhänge wie z. B. in der politischen
Kommunikationsforschung, dass die Berichterstattung von Leitmedien unter bestimm-
ten Bedingungen eine Integrationsleistung z. B. für Europa vollbringen würde, würden
daher in diesem Zusammenhang ohne eine Analyse der Bedeutungskonstruktionen
durch deren Publikum als rein normativ zurückgewiesen werden.
Diesen knapp skizzierten Grundannahmen der Cultural Studies folgend beschreibt
eine kulturorientierte Mediatisierungstheorie einen komplexen Metaprozess des sozia-
len Wandels, der in den medialen Kommunikationspraktiken der Menschen angesiedelt
ist und auch dort entspringt (Krotz 2007). Medien prägen die alltägliche Lebenswelt
nicht nur im Moment ihrer Nutzung, sondern auch in längerfristiger Hinsicht durch
ihre Kommunikationsprozesse und -inhalte, die wiederum die Auffassung der Lebens-
welt verändern. Aus personaler Perspektive stellen sie Sozialisierungs- und Identitäts-
angebote dar und prägen das kommunikative Handeln der Menschen jenseits direkter,
körperlich erfahrbarer Kontakte insgesamt (Krotz 1998, S. 112 f.), so dass Alltag und Me-
dienalltag bzw. Sozialisation und Mediensozialisation analytisch kaum mehr trennbar
sind. Thomas und Krotz (2008, S. 28) verdeutlichen, dass sich Fragen der Mediennut-
zung und Medienwirkung nur im Kontext der damit verbundenen alltagskulturellen
(Deutungs-)Praktiken in ganzheitlicher Weise erfassen lässt:
„Medien sind von daher als soziale und kulturell gerichtete Institutionen, als Inszenierungs-
maschinen und Erlebnisräume immer technisch entwickelte Angebote, die von den Menschen
Kontextualisierung versus Komplexitätsreduktion 119
„Der ursprüngliche Impuls der Medienethnographie galt der Kritik und Korrektur einer Me-
dienforschung, die ausschließlich formale und inhaltliche Aspekte von Medienprodukten in
den Blick nimmt und die Praktiken der Produktion, Rezeption und Nutzung von Medien
weitgehend außer Acht lässt oder auf einfache Wirkungsrelationen reduziert. Mit der zuneh-
menden Medialisierung der Gesellschaft werden aber die Weisen des Gebrauchs von Medien
immer wichtiger, also genau das Thema, das die Medienethnographie zu ihrem primären Un-
tersuchungsgegenstand gemacht hat.“
Dem Prinzip der Kontextualität folgend sind die Untersuchungsdesigns v. a. aus zwei
Beweggründen interpretativ und sinnverstehend angelegt: (1) Die Beschreibung von All-
tagskultur kann immer nur eine Beschreibung einer konkreten Form vieler möglicher
und verschiedener Formen von Alltagskulturen sein. (2) Die beobachtbaren kulturellen
Bedeutungen gelten nicht für alle Teilnehmer eines bestimmten Geschehens in gleicher
Weise.
120 Jeffrey Wimmer
Wie eingangs skizziert, ist es gerade für die Kommunikationswissenschaft mit ihrer im-
mensen Fülle an empirischen Studien verblüffend, dass die vermuteten Wirkungsannah-
men zwischen Medien- und Technologiewandel auf der einen Seite sowie Sozial- und
Kulturwandel auf der anderen Seite lange Zeit bemerkenswert theoretisch wie empirisch
unausgefüllt blieben (vgl. Behmer et al. 2003). Die komplexe kommunikative Einbettung
von Medientechnologien und Kommunikationsmedien in die Gesellschaft verdeutlicht
sehr anschaulich Marvin (1998) am Beispiel der Institutionalisierung der Telefonie. Sie
zeigt exemplarisch auf, dass in unserer technologisch geprägten Zeit permanent ‚neue
Medien‘ entstehen und in einem zunehmend schneller werdenden Prozess der Substi-
tution zu ‚alten Medien‘ werden. Dieser stete Medienwandel beeinflusst natürlich nicht
nur die medialen Strukturen und Angebote, sondern genauso auch Kommunikations-
inhalte – so war das Telefon anfangs zur Vermittlung von standardisierten Nachrichten
gedacht, bevor es vom Publikum rasch zur interpersonalen Kommunikation und damit
zur Alltagskommunikation angeeignet wurde. Dieser schöpferische Prozess des Medien-
wandels ist in unserer digitalen Gegenwart mehr und rascher denn je zu beobachten
(vgl. die Beiträge in Schweiger & Beck 2010). Die einzelnen gesellschaftlichen Systembe-
reiche (Öffentlichkeit, Politik, Wirtschaft etc.) sind von ‚neuen Medien‘ im Sinne digita-
ler Medientechnologien und Kommunikationstechniken geprägt, die die ‚alten Medien‘
bzw. analogen Medientechnologien rasch und auf breiter Front abgelöst haben.
Winkler (1999) weist nun im Kontext der Wirkungsfrage grundsätzlich darauf hin,
dass Medientechnologien keineswegs nur als ‚Werkzeug‘ oder ‚Voraussetzung‘ kommu-
nikativer Prozesse anzusehen sind. Überspitzt als ‚Henne-Ei-Problem‘ tituliert, differen-
ziert er einerseits technikdeterministische ‚Henne-Positionen‘ von anthropologischen
‚Ei-Positionen‘, die jeweils die Rolle der Technik im Kommunikationsprozess aufgrund
ihrer Prämissen über- bzw. unterschätzen. Ein Großteil der Forschung erscheint auch
lange Zeit von diesen Dichotomien geprägt, die sich aber bei näherem Hinsehen als Chi-
mären entpuppen. Denn es handelt sich – so führt Winkler weiter aus – um zwei theo-
retische Paradigmen, die streng genommen nur jeweils eine Seite der Medaille fokussie-
ren und vielmehr in wechselseitiger Ergänzung gedacht werden müssen. Im Kontext der
von Manuel Castells inspirierten Debatten um die zunehmende Durchdringung gesell-
schaftlicher Bereiche durch digitale Informations- und Kommunikationstechnologien
und das Aufkommen einer Netzwerk- und Informationsgesellschaft in den Debatten
um das Entstehen einer transmedialen Konvergenzkultur und um die Mediatisierung
der alltäglichen Lebenswelt erscheint der oft gepflegte Dualismus zwischen Technologie
und Kultur überwunden. Medienwandel konkretisiert sich im Alltag über Kommunika-
tionswandel (Krotz 1998); Gesellschaft und ihre Technologien greifen also auf komplexe
Weise ineinander. Es erscheint der sozialen Realität also angemessener, von einem kom-
plexen Gefüge (medien)technologischen, kommunikativen und soziokulturellen Wan-
dels auszugehen. Ähnliches gilt für die Medienpraxis, da die mit den digitalen Netz-
Kontextualisierung versus Komplexitätsreduktion 121
Aus Forschungsperspektive kann man inzwischen nicht mehr von einem Hype spre-
chen, sondern vielmehr von einer Normalisierung, d. h. der Berücksichtigung der tech-
nologischen Kontexte, aber auch deren Einfluss auf Medienkommunikation (vgl. die
Beiträge in Hartmann & Wimmer 2011). Medientechnologien sind auf alltagsweltlicher
Ebene konstitutiv für das Aufrechterhalten nicht nur für kommunikative, sondern auch
für kulturelle wie soziale Belange geworden. Ein Beispiel für die heutzutage untrenn-
bare Verknüpfung von Kultur und Technologie, von Mensch und Maschine zeigt sich
auch auf der Ebene zwischenmenschlicher Kommunikation via digitaler Medientech-
nologien und Kommunikationsmedien z. B. im Rahmen von Online-Spielwelten, wenn
man menschliche Avatare von computergesteuerten nur schwerlich unterschieden kann.
Diese Entwicklung kann man van den Boomen et al. (2009, S. 7) folgend plastisch
an der alljährlichen Wahl des Time Magazins zur ‚Person des Jahres‘ veranschaulichen.
Zum ersten Mal in der Geschichte dieses traditionellen Preises wurde der Computer zur
„Machine of the Year 1982“ gewählt. Auf dem Cover der Ausgabe sieht man einen PC auf
einen Tisch und daneben – relativ passiv – einen sitzenden Mann, der etwas verdutzt
dreinschaut. 2006 fiel die Wahl der Redaktion auf die interaktiven Nutzer des Inter-
net – visualisiert durch einen Bildschirm mit integriertem Spiegel, auf dem steht: „YOU.
Yes, you. You control the Information Age. Welcome to your world.“ Innerhalb von nur
zwei Jahrzehnten sind die neuen Medientechnologien, denen wie oben skizziert utopi-
sche oder dystopische Charakteristika zugerechnet wurden, zu alltäglichen Artefakten
geworden, auch wenn wir sie heute noch oft ‚neue Medien‘ nennen, die – glaubt man
dem Titelbild des Time Magazine – einen Spiegel darstellen, der uns und unsere Prak-
tiken reflektiert. Allerdings verkennt diese journalistische Einschätzung, dass wir nicht
mehr die Menschen darstellen wie vor knapp über 25 Jahren, und auch die Bedeutungs-
konstruktion in unserer Alltagskultur eine andere sein kann (aber nicht immer muss).
So schließt aktuell die Anthropologin Amber Case in ihrer TED-Rede den Kreis, wenn
sie die früheren Diskurse um Cyberspace und Cyborgs wiederbelebt, indem sie postu-
liert, dass wir uns immer mehr auf digitale Medientechnologien und Kommunikations-
medien im Alltag verlassen und diese für uns – vom Großteil der Bevölkerung unre-
flektiert – den Stellenwert von ‚external brains‘ annehmen, d. h. wir sie nicht nur zur
Kommunikation, sondern auch zum Speichern von Kontaktdaten oder auch zum (Me-
dien-)Leben generell nutzen.2 Diese gesellschaftliche und kulturelle Realität steht klar
im Gegensatz zu reduktionistischen Annahmen, die Medienwirkungen als relativ sta-
bil und unbeeinflusst von der sich rasch verändernen Alltagswelt der Menschen sehen.
liebte und mit gutem Recht auch als First-Person-Shooter zu bezeichnende Moorhuhn.
Zu unterscheiden sind diese Darstellungen von den mittlerweile fotorealistischen Spie-
len, die kriegerische oder andere Gewaltakte nachstellen, und an sich als Erwachsenen-
spiele bzw. Computerkriegsspiele zu bezeichnen sind (z. B. Call of Duty, Medal of Ho-
nor). Von einer funktionierenden gesellschaftlichen Distributionskontrolle gerade des
letztgenannten Spielgenres ist nicht zu reden. Ganz im Gegenteil: Ein großer Teil der
Verkaufsschlager unter den Computerspielen kommt ohne explizite Darstellung von Ge-
walt und ihren diversen Manifestationen (Schießen, Leid, Opfer etc.) nicht mehr aus.
Darüber hinaus hat die Ästhetik von Computerspielen – oftmals verbunden mit ho-
hem Aggressionspotenzial – seit langem Einzug in die Mainstream-Medienkultur (wie
z. B. in Hollywood-Filmen oder Spielshows) gehalten. Hierzu kommt verschärfend, dass
trotz einer gesellschaftlichen Ächtung von Gewalt Gewaltdarstellungen grundsätzlich
in vielen Formaten der Unterhaltungskultur vorzufinden sind und sich seit jeher einer
ausgeprägten Beliebtheit erfreuen. Diese alltägliche medienkulturelle Einbettung von
(gewalthaltigen) Computerspielen zeigt sich auch daran, dass diese für immer breitere
Zielgruppen entwickelt werden. Die postulierte negative Wirkung von gewalthaltigen
Computerspielen ist damit nicht nur eine medienpädagogische oder juristische Frage-
stellung, sondern auch eine kulturelle und moralische Problematik, denn Computer-
spiele wiederum sind ein Abbild gesellschaftlicher Normen und Werte.
(2) Komplexer Interaktionsprozess: Einleuchtend ist die Beschreibung der Wirkung
von Computerspielen als eine Art Transfer zwischen der virtuellen Welt der Compu-
terspiele und der realen Welt der Spieler (vgl. Fritz 2011). Fritz betrachtet die Wirkung
von digitalen Spielen im Zusammenhang mit der individuellen Sozialisation und Le-
benslage des Nutzers sowie dem Anregungspotenzial des Mediums. Mit der Vorstel-
lung einer strukturellen Kopplung wird beschrieben, wie der Nutzer die medialen An-
gebote mit seinen Erwartungen abgleicht, die vom jeweiligen Lebenskontext abhängen.
Präferenzen, Persönlichkeitsmerkmale sowie konkrete Lebenssituationen können einen
Bezug zu bestimmten Computerspielen bieten wie z. B. eine Vorliebe für Fußball auch
zur Nutzung einer Fußball-Simulation. Schütz und Luckmann folgend bildet das um-
fassende Konzept der Lebenswelt den theoretischen Rahmen für die Analyse der Bewe-
gungsprozesse zwischen unterschiedlichen Lebensarealen, die wechselseitig aufeinander
bezogen sind. Mit sog. Transferprozessen charakterisiert Fritz (2011, S. 97 ff.) Verlage-
rungen zwischen zwei Kontexten (Arealen), die stets Transformationen von Sinnes- und
Reizeindrücken miteinschließen. In der einen Welt ausgebildete Schemata können so
auch einem anderen Lebensareal zugeordnet werden. Eines dieser Areale ist die virtuelle
Spielwelt, die Teil der alltäglichen Lebenswelt ist, sich aber als eine andere soziotechni-
sche Umgebung von der Realität unterscheidet, da sie eine weitere Handlungsumgebung
offeriert. Spuren aus der virtuellen Welt in der Realität können Emotionen oder auch
Sachinformationen sein, die in einem Gespräch angewandt werden, möglicherweise
auch Handlungsmuster. Entscheidend ist, dass die Transfers durch die Rahmungskom-
petenz des Nutzers auf ihre Angemessenheit geprüft werden. Fritz (2011, S. 95) folgert
Kontextualisierung versus Komplexitätsreduktion 125
eine relevante Fragestellung ist, inwieweit sich ein Medium in alltägliche Routinen ein-
schreibt und auf welchen Ebenen dieser Prozess erfolgt. Die virtuellen Erlebniswelten
der Computerspiele sind als Bestandteile der alltäglichen Lebenswelt zu verstehen. Die
Nutzung und damit die Prägkräfte der Computerspiele beziehen sich somit auf die zum
Teil höchst differenzierten Praktiken des täglichen Umgangs, die damit zusammenhän-
genden jeweils recht unterschiedlichen, individuellen Erfahrungen wie auch auf deren
Einbettung in die Alltagswelt der Spieler, die vor dem Hintergrund der Mediatisierung
zu rekonstruieren ist. Mit der Bezugnahme auf das Transfermodell können diese Inter-
aktions- und Transformationsprozesse im Rahmen des Spielerlebens detaillierter aus-
gelotet werden. Die dadurch differenziertere Analyseperspektive macht implizit das Po-
tenzial einer kultursensitiven Kommunikationswissenschaft deutlich.
5 Schlussfolgerungen
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Kontextualisierung versus Komplexitätsreduktion 129
Abstract Der Begriff der Informationsverarbeitung wird in vielfältiger Weise in der Kommunikations-
wissenschaft gebraucht. Meist bezeichnet er die Selektion bedeutsamer Reize – Informationen – in
ihrem Zeitverlauf über verschiedene Stadien hinweg. Dieser Beitrag behandelt exemplarisch die psycho-
logische Informationsverarbeitung im Kontext der Rezeption von Medieninhalten. Es werden zunächst
die psychologischen Grundlagen betrachtet, um diese anschließend auf die Rezeption von Medien-
inhalten zu übertragen. Darüber hinaus wird die Messung von Informationsverarbeitungsprozessen
thematisiert. Als Ausblick werden einzelne kommunikationswissenschaftliche Konzepte vorgestellt, in
denen die Informationsverarbeitung als Prozess eine Rolle spielt oder aber das Ergebnis von Informa-
tionsverarbeitungsprozessen bedeutsam ist.
1 Einführung
1 Gelegentlich werden Kognitionen, die der optimalen Anpassung an die natürliche oder soziale Umwelt
eines Menschen dienen, auch als embodied cognition bezeichnet (vgl. Bradley 2007). Im Bereich der
Nachrichtenrezeption wird eine derartige Sichtweise beispielsweise von Shoemaker (1996) im Rahmen
der (amerikanischen) Nachrichtenwerttheorie vertreten.
Grundlagen: Informationsverarbeitung 135
matic Model (Eagly & Chaiken 1993), die verschiedene Verarbeitungstiefen bei der Re-
zeption von Medieninhalten untersuchen.
Im Folgenden werden exemplarisch psychologische Informationsverarbeitungs-
prozesse veranschaulicht. In der Kommunikationswissenschaft spielen sie u. a. bei der
Nachrichtenrezeption, dem Unterhaltungserleben, dem Wissenserwerb, aber auch
(mehr oder weniger indirekt) bei der Nachrichtenselektion durch Journalisten eine
Rolle – also immer dann, wenn Menschen sich mit Medieninhalten auseinandersetzen.
Das Ergebnis der Informationsverarbeitung kann – je nach Theorie – unterschiedlich
sein, z. B. Wissen, Meinungen, Einstellungen oder das Räsonieren und Elaborieren, um
z. B. zu einer Einsicht zu gelangen. Zunächst werden in diesem Beitrag die psychologi-
schen Grundlagen beleuchtet, um darauf aufbauend anschließend ein allgemeines Mo-
dell der Informationsverarbeitung bei der Medienrezeption vorzustellen und dies an-
hand von Anwendungsbeispielen zu illustrieren.
2 Psychologische Grundlagen
sen, Ziele, Motivationen, aktuelle andere Wahrnehmungen sowie die Situation wider-
spiegeln (vgl. Lang 2000). Demzufolge ist bereits die Bildung mentaler Repräsentatio-
nen eine (konstruktive) Informationsverarbeitung. Durch die Verarbeitung und damit
auch Integration von Informationen im Gedächtnis entsteht letztlich Wissen in Form
von organisierten Gedächtnisstrukturen (vgl. Eysenck & Keane 1990, S. 248; zum Über-
blick über verschiedene Wissensklassifikationen, die auch in der Kommunikations-
wissenschaft verwendet werden, vgl. Wirth 1997, S. 94 ff.).
Mit Hilfe dieser Begriffsklärungen lässt sich der Prozess der Informationsverarbei-
tung nun beschreiben. Zunächst geht es dabei um basale Modelle der kognitiven Infor-
mationsverarbeitung. Diese Modelle helfen, bestimmte Funktionsweisen zu beschrei-
ben, dürfen jedoch nicht als schematisches Abbild bestimmter (organischer) Strukturen
missverstanden werden. Demzufolge werden verschiedene Modelle vorgestellt, die sich
gegenseitig ergänzen können: Wie u. a. Shiffrin (2003) bemerkt, besitzen die meisten
Modelle nach wie vor ihre Daseinsberechtigung, da sie jeweils auf unterschiedliche As-
pekte bei der Beschreibung der menschlichen Informationsverarbeitung hinweisen.
Im Folgenden werden zwei Grundtypen von Informationsverarbeitungsmodellen
vorgestellt, nämlich Speichermodelle sowie Netzwerkmodelle. Erstere eignen sich gut, um
die Prinzipien der Selektion und der Kapazitätsbegrenzung bei der Informationsverar-
beitung zu verdeutlichen, letztere veranschaulichen Gedächtnisstrukturen und die Ver-
netzung von Informationen, Schemata etc. zu Wissen.
Eines der bedeutsamsten Multispeichermodelle, das zwar mittlerweile nicht mehr in
allen Details vertreten wird, jedoch auch heute noch in etlichen Theorien mit seinen
Grundgedanken auftaucht (vgl. Anderson 2007, S. 210), ist das Multispeichermodell
von Atkinson und Shiffrin (1968). In der Tradition der Anfang der 1960er-Jahre vor-
herrschenden Computeranalogien bedient sich dieses Modell technischer Termini, um
Gedächtnis (Speicher), Wahrnehmung und Verarbeitung (Encodieren, Speichern) so-
wie Abrufen von Informationen aus dem Gedächtnis (Decodieren) zu bezeichnen. Dem
Modell zufolge gelangen Umweltreize zunächst über die Sinnesorgane in den sensori-
schen Speicher. Dessen Kapazität sehen sie als stark limitiert an, d. h., nur sehr wenige
Informationen werden für einige Millisekunden behalten, bevor sie wieder vergessen
werden. Atkinson und Shiffrin (1968) nehmen an, dass dieses Vergessen nach dem Prin-
zip des Spurenzerfalls geschieht: Ähnlich den Spuren im Sand am Meer verwischen sich
diese nach kurzer Zeit wieder. Manche der im sensorischen Speicher abgelegten Infor-
mationen erregen die Aufmerksamkeit eines Menschen, wodurch sie in den Kurzzeit-
speicher überführt werden. Dieser Prozess wird auch als Encodierung bezeichnet. Die
Kriterien, nach denen Informationen Aufmerksamkeit erregen (Bottom-Up-Prozesse)
bzw. mit solcher bedacht werden (Top-Down-Prozesse), sind vielfältig: Es gibt Informa-
tionen, die beispielsweise evolutionsbedingt bedeutsam sind und daher die Aufmerk-
samkeit unwillkürlich auf sich ziehen (z. B. Schlüsselreize, vgl. Tinbergen 1951, die eine
Orientierungsreaktion auslösen, vgl. Sokolov 1975); andere Reize werden als bedeutsam
eingestuft, weil sie zu bestimmten Schemata, die bereits im Gedächtnis gespeichert sind,
Grundlagen: Informationsverarbeitung 137
passen (Fitting, Scheufele 2003, S. 28). Ein Beispiel hierfür ist der Selbstbezugseffekt (Sy-
mons & Johnson 1997), wonach Informationen, die uns persönlich wichtig erscheinen,
bevorzugt behandelt werden. Dabei zeigen sich Bezüge zum Ego-Involvement (vgl. She-
rif & Cantril 1947), das in der Kommunikationswissenschaft hauptsächlich im Kontext
der Persuasionsforschung unter dem Aspekt der Informationsverarbeitung behandelt
wurde (vgl. Schenk 2000).
Auch das Kurzzeitgedächtnis, in das die selektierten Informationen aus dem sensori-
schen Speicher dem Modell von Atkinson und Shiffrin (1968) zufolge per Encodierung
überführt werden, hat beschränkte Kapazitäten. Für wenige Sekunden ist es hier möglich,
ein paar Informationseinheiten zu behalten. Mit Einheiten können sowohl einzelne In-
formationen gemeint sein als auch zu sog. Chunks zusammengefasste Informationspäck-
chen. Manche Informationen gelangen danach wiederum per Encodierung ins Langzeit-
gedächtnis, die anderen werden vergessen (entweder aufgrund von Spurenzerfall oder
über Interferenzen, wenn gespeicherte Informationen durch neue überschrieben wer-
den). Im Gegensatz zu den anderen Speichern ist das Langzeitgedächtnis in seiner Ka-
pazität nicht beschränkt. Streng genommen vergessen Menschen i. d. R. also nichts, sie
können höchstens eine Information nicht mehr aus ihrem Gedächtnis abrufen.
Atkinson und Shiffrin (1968) unterscheiden verschiedene Speicher, die sie nachein-
ander anordnen. Aus vielfachen Gründen wurde dieses Modell kritisiert, weshalb als
Alternative Modelle des Arbeitsgedächtnisses vorgeschlagen wurden. Baddeley (1999,
S. 45 ff.) beispielsweise fasst in seinem Konzept den sensorischen Speicher und das
Kurzzeitgedächtnis zu einem Speicher (dem sog. Arbeitsgedächtnis) zusammen, beste-
hend aus einem visuell-räumlichen Notizblock, der phonologischen Schleife, dem episodi-
schen Puffer sowie der zentralen Exekutive als Steuerungsinstanz mit Verbindung zum
Langzeitgedächtnis. Durch diese spezifische Anordnung kann das Modell u. a. erklären,
wieso ganz unterschiedliche Informationsarten (z. B. akustisch oder visuell) gleichzei-
tig verarbeitet werden können. Im Unterschied zu den oben erwähnten Multispeicher-
modellen fokussieren Modelle des Arbeitsgedächtnisses also weniger auf strukturelle
Erklärungen bei der Informationsverarbeitung, sondern sie stellen verschiedene Funk-
tionsmuster – etwa eine parallele Verarbeitung unterschiedlich codierter Informationen
oder aber variierende Verarbeitungstiefen – in den Vordergrund.
Als weitere Variante neben diesen Speichermodellen sind Netzwerkmodelle zu er-
wähnen. Wie der Name bereits nahelegt, beschreiben sie, wie Wissenseinheiten im Ge-
dächtnis vernetzt sind. Häufig werden hier propositionale (vgl. Anderson 2007, S. 175 ff.),
semantische (vgl. Anderson 2007, S. 183 ff.) und konnektionistische (vgl. Stoffer 1990;
Rumelhart 2000) Netzwerke differenziert. Die einzelnen gespeicherten Informationen
kann man sich dabei als Knoten vorstellen, die untereinander verbunden sind und sich
so zu einem Netz zusammenfügen. Dieses strukturierte Netz aus miteinander assoziier-
ten und organisierten Knoten könnte man auch als das Wissen eines Menschen bezeich-
nen (vgl. Eysenck & Keane 1990, S. 248). Manche Knoten liegen näher beieinander und
sind somit direkter verbunden, andere liegen weiter entfernt. Die Knoten können ganz
138 Hannah Früh
unterschiedlicher Art sein, also beispielsweise Inhalte, Kontexte, Stimmungen oder kör-
perliche Zustände sein.
Als herausragendes Merkmal dieser Modelle ist das Prinzip der Aktivationsausbrei-
tung (spreading activation) zu erwähnen (Collins & Loftus 1975): Je nachdem, welcher
Gedächtnisteil gerade aktiviert ist, sind dieser und damit assoziierte Informationen und
Wissenseinheiten aktiv; näher an der aktivierten Stelle liegende Knoten und Informa-
tionen sind davon stärker betroffen als weiter entfernte. Folglich sind alle miteinan-
der assoziierten Informationen oder Wissensaspekte bei der Aktivierung einer Stelle
im Netz mehr oder weniger verfügbar. Dadurch lassen sich beispielsweise Verfügbar-
keitsheuristiken begründen, die u. a. beim Framing-Ansatz oder im Kultivierungsansatz
eine Rolle spielen. Auch Priming als eine Form der Zugänglichkeitsbahnung bestimmter
Gedächtnisinhalte kann hierdurch erklärt werden: Ein Prime (als gezielt gesetzter Sti-
mulus) aktiviert demzufolge einen bestimmten Knoten und gleichzeitig auch alle da-
mit verbundenen anderen; derartig aktiviertes Wissen ist somit verfügbarer als anderes,
nicht aktiviertes Wissen (vgl. Anderson 2007, S. 223 f.).
Mit Hilfe der gerade beschriebenen Grundmodelle lassen sich Funktionsweisen der
Informationsverarbeitung aus einer eher technischen Perspektive beschreiben. Diese
Beschreibung klammert aus, wie Menschen mit Hilfe ihrer Möglichkeiten zur Informa-
tionsverarbeitung Probleme lösen, d. h. Entscheidungen in konkreten Situationen tref-
fen bzw. denken. Sehr allgemein unterscheidet man zwei Arten von Problemlösungsstra-
tegien, nämlich Algorithmen und Heuristiken: Ein Algorithmus ist im weitesten Sinne
eine mathematisch-logische Regel, während eine Heuristik eine Art Daumenregel be-
schreibt (vgl. Myers 2005, S. 418). Das Verhältnis beider Problemlösungsstrategien zu-
einander bzw. ihre normative Bewertung hängen eng mit dem zusammen, was man als
rational betrachtet. Auffassungen hierüber haben sich im Laufe der Zeit stark gewandelt:
Viele Disziplinen haben sich mit Rationalität beschäftigt, weshalb die hier folgenden
Ausführungen nur sehr kursorisch ausfallen können (vgl. hierzu ausführlich Gigeren-
zer & Selten 2001, S. 1 ff.). Rationalität wurde ursprünglich (z. B. Aristoteles) v. a. un-
ter dem Aspekt der Vernunft betrachtet, wobei man versuchte, die Vernunft einer ma-
thematischen Beschreibung zu unterziehen. Dies widersprach der Beobachtung, dass
Menschen sich in der Realität oft nicht vernünftig – d. h. gemäß einer mathematischen
Berechnung – verhielten (siehe hierzu auch eine Reihe von Paradoxons, z. B. das St. Pe-
tersburg-, das Allais- oder das Ellsberg-Paradoxon). In den 1950er- und 60er-Jahren
wurden diese Überlegungen wieder aufgegriffen und neu interpretiert, zu einer Prozess-
perspektive auf Rationalität (d. h. rationales Verhalten beruht auf dem Prozess mathe-
matisch-logischen Denkens) trat eine Ergebnisperspektive hinzu: Fortan wurde auch
ein auf subjektiven Wahrscheinlichkeitsberechnungen und Schemata beruhendes situa-
tionsspezifisches Entscheidungsverhalten als rational betrachtet, wenn es letztlich in
einer spezifischen Situation effektiv war. Insofern können auch Heuristiken unter be-
stimmten Bedingungen rational sein. Unabhängig von der Beobachtung, dass Men-
schen häufig Heuristiken anwenden, und losgelöst von der Auffassung, dass dies in ei-
Grundlagen: Informationsverarbeitung 139
nem bestimmten Sinne Ausdruck rationalen Handelns sein kann, ist ihre Bewertung
insgesamt strittig: Entweder betrachtet man dies als notwendiges Übel bzw. Defizit und
bewertet Heuristiken als fallacy (z. B. Tversky & Kahneman 1974) oder man betrachtet
dies weitgehend wertneutral als Gegebenheit, die eine aus evolutionärer Sicht optimale
Anpassung an Umweltgegebenheiten und kognitive Möglichkeiten ist. Abweichungen
der heuristischen Lösung von der algorithmischen sind somit nicht als Fehler zu inter-
pretieren, sondern als situativ und individuell angepasste Differenz (Gigerenzer & Sel-
ten 2001, S. 3 f.).
In der ersten Tradition stehen die Arbeiten von Tversky und Kahneman (1974), die
Heuristiken erstmals systematisch untersucht haben. Sie gehen von der Beobachtung
aus, dass Menschen in unsicheren Entscheidungssituationen basale Regeln der Wahr-
scheinlichkeitstheorie (z. B. Zufall, Regression oder Stichprobengröße) missachten und
systematisch nach anderen Regeln ihre Entscheidung treffen. Dies betrachten sie als
menschliche Grundeigenschaft, da sowohl Laien als auch Experten auf Heuristiken
bei der Entscheidungsfindung zurückgreifen. Sie unterscheiden drei basale Heuristi-
ken, die Menschen in unsicheren Entscheidungssituationen anwenden: Ähnlichkeit (re-
presentativeness), Verfügbarkeit (availability) und Anker (adjustment from an anchor).
Ähnlichkeitsheuristiken werden dann angewendet, wenn Menschen abschätzen, ob ein
Objekt eher zu A oder zu B gehört. Typisches wird dementsprechend entgegen der ma-
thematischen Wahrscheinlichkeitstheorie eher gewählt als Untypisches. Die Verfügbar-
keitsheuristik beschreibt, dass Menschen bei ihrer Entscheidungsfindung eher auf In-
formationen zurückgreifen, die in der betreffenden Situation kognitiv verfügbar sind,
als auf andere Informationen: Wenn jemand das Risiko eines Herzinfarktes abschätzen
soll, überschätzt derjenige das Risiko, der einen Betroffenen kennt, weil er sich mit den
Gefahren bereits intensiv beschäftigt hat und ihm dieses Wissen dadurch besonders
präsent ist. Die Ankerheuristik verweist auf die Bedeutung, die der (kognitive) Aus-
gangspunkt für eine Entscheidung hat: Wer vom Problem aus denkt, wird somit zu ei-
ner anderen Entscheidung gelangen als jemand, der vom Ziel bzw. von der Lösung her
denkt. Ausführlich diskutieren sie dabei die Verzerrungen und Fehlurteile, die heuris-
tische Entscheidungen provozieren. Folglich betrachten Tversky und Kahneman (1974)
Heuristiken als Fehlerquelle, die eine rationale Urteilsfindung behindern, dafür jedoch
andere Vorteile besitzen (z. B. Schnelligkeit). Heuristiken beschreiben sie gegenüber Al-
gorithmen somit als minderwertige, aber im weitesten Sinne praktische Alternative (Gi-
gerenzer & Selten 2001).
In einer derartigen Tradition stehen auch viele Dual Processing-Modelle, die häufig in
der Kommunikationswissenschaft angewendet wurden, beispielsweise das Elaboration
Likelihood-Modell (ELM, Petty & Cacioppo 1986; Schweiger 2007, S. 187 ff.). Dieses Mo-
dell beschreibt die Verarbeitung persuasiver Botschaften, indem es zwei Möglichkeiten
bzw. Routen der Informationsverarbeitung unterscheidet: In Abhängigkeit vom Stimu-
lus sowie Rezipienteneigenschaften (Involvement, ursprüngliche Einstellung) verarbei-
tet der Rezipient persuasive Botschaften entweder zentral, d. h. bewusst, „rational“, oder
140 Hannah Früh
er verarbeitet sie peripher, d. h. eher heuristisch und somit beiläufig und oberflächlich.
Diese Argumentation legt nahe, dass Menschen, die eine Botschaft heuristisch verar-
beiten, stärker durch diese beeinflusst werden können als Menschen, die eine Botschaft
nicht heuristisch verarbeiten2.
Somit scheint die heuristische Informationsverarbeitung im ELM (verglichen mit
der algorithmischen) als defizitäre Strategie betrachtet zu werden (vgl. auch Morris
et al. 2005). Dies muss nicht zwangsläufig so sein, wenn man Heuristiken nicht nur als
Ausgleichsmöglichkeit für den Umgang mit kognitiven Begrenzungen sieht, sondern
wenn man ihre Funktionsweise auch vor dem Hintergrund der spezifischen Umwelt-
bedingungen und der konkreten Entscheidungssituation betrachtet (Simon 1956, S. 129).
Beide – nämlich kognitive Begrenzungen und Umweltstrukturen (Situation, Informatio-
nen) – führen dazu, dass die Rationalität menschlicher Entscheidungen begrenzt sein
muss; somit sind rationale Entscheidungen solche, die allen Begrenzungen am besten
Rechnung tragen. Dies entspricht im Wesentlichen dem Grundgedanken der Bounded
Rationality (Simon 1956; 2000). Es handelt sich hierbei um eine Klasse von Theorien, die
ein bestimmtes Menschenbild vertreten, bei dem die optimale menschliche Entschei-
dungsfindung unter kognitiven und strukturellen Beschränkungen betrachtet wird (Gi-
gerenzer & Selten 2001, S. 5).
Heuristiken werden im Rahmen der Bounded Rationality meist als Informations-
verarbeitungsstrategien bzw. Prozesse gesehen, die sich wiederum aus verschiedenen
Grundelementen zusammensetzen lassen (Gigerenzer & Selten 2001, S. 8). Sie bieten
in dieser Sicht einen adaptiven Vorteil und sind somit eine kluge Alternative zu Al-
gorithmen, denn sie erlauben dem Menschen, schnell und ohne viel Aufwand zu ei-
ner adäquaten Entscheidung zu kommen. Todd (2001, S. 55 ff.) beschreibt verschiedene
Grundtypen von Heuristiken, die dem Grundgedanken der Bounded Rationality fol-
gen: Die Wiedererkennensheuristik (die mit dem Ignorieren eines Großteils prinzipiell
zur Verfügung stehender Informationen einhergeht) wird v. a. dann zur Entscheidungs-
findung herangezogen, wenn die einzige bedeutsame Information, die man zur Ent-
scheidungsfindung hat, die Bekanntheit einer Information ist; Menschen wählen dann
eher das Bekannte als das Unbekannte. Man könnte vermuten, dass diese Heuristik nur
eine Notlösung für Situationen mit sehr wenigen (bedeutsamen) Informationen dar-
stellt. Jedoch zeigt eine Reihe von Experimenten, dass Menschen oft zu einer besseren
Entscheidung gelangen, wenn sie nur diese Heuristik anwenden, anstatt zu versuchen,
noch mehr Informationen zu verwerten; ein Informationszufluss behindert dann somit
eher eine optimale Entscheidungsfindung, als dass er dieser dienlich wäre. Darüber hi-
naus gibt es Heuristiken, die auf der subjektiven Relevanz einzelner Hinweisreize be-
ruhen. Sie werden dann angewandt, wenn es mehrere Dimensionen gibt, die man zur
2 Zu beachten ist hierbei allerdings, dass es sich beim ELM nicht um ein allgemeines Informationsverar-
beitungsmodell handelt, sondern ein Modell, das beschreibt, wie Menschen durch persuasive Botschaf-
ten beeinflusst werden können.
Grundlagen: Informationsverarbeitung 141
Entscheidungsfindung heranziehen kann; in diesem Falle wählt man eine subjektiv re-
levante Dimension aus, nach der verschiedene Alternativen bewertet werden können.
Darüber hinaus existieren Heuristiken, die bei einer Vielzahl an Entscheidungsmöglich-
keiten die Suche nach einer optimalen Entscheidung beenden, indem beispielsweise die
erstbeste Alternative gewählt wird. Sie werden dann angewendet, wenn die Suche nach
Alternativen zu mühevoll erscheint (z. B. beim Einkaufen) oder wenn eine Alternative,
die zunächst zurückgestellt würde, danach nicht mehr existiert (z. B. die Wahl des Le-
benspartners).
Eingangs wurde bemerkt, dass Theorien und Modelle, die dem Grundgedanken der
Bounded Rationality folgen, Heuristiken im Vergleich zu Algorithmen nicht als defizi-
täre Strategie sehen, die lediglich aus pragmatischen Gründen häufig im Alltag verwen-
det werden. Einzelne empirische Studien belegen, dass in manchen Situationen Heuris-
tiken gerade wegen unvollständigen Wissens, mangelndem Überblick und strukturellen
Beeinträchtigungen besonders effektiv und wenig fehleranfällig sind (ausführlicher
Martignon 2001). Betrachtet man somit nicht nur die kognitiven Kapazitäten von Men-
schen, sondern berücksichtigt man auch die zur Verfügung stehenden Informationen
und die aktuelle Situation, so zeigt sich, dass Heuristiken oft Algorithmen sogar über-
legen sind, selbst wenn man den Zeitaspekt unberücksichtigt lässt (Todd 2001, S. 52 f.).
Mit Hilfe ihrer Sinnesorgane nehmen Menschen aus ihrer Umwelt relevante Informatio-
nen wahr und verarbeiten sie weiter; dabei reagieren sie auf mediale Stimuli genauso
wie auf nicht-mediale (vgl. Reeves & Nass 1996). Die Eigenheit der Umwelt, sich perma-
nent zu ändern, macht eine dynamische Wahrnehmung und Informationsverarbeitung
notwendig. Mediendarstellungen (als Teil der Umwelt) bilden keine Ausnahme: Auch
hier besteht ein großes, dynamisches Informationsangebot, aus dem der Rezipient die
für ihn relevanten Informationen permanent herausfiltern muss. Dennoch gibt es einige
Besonderheiten medialer Stimuli, die zu berücksichtigen sind, wenn man ein psycholo-
gisches Modell zur Verarbeitung medialer Stimuli entwickeln möchte.
Mediale Stimuli sind aus wahrnehmungs- und kognitionspsychologischer Sicht be-
sonders komplex, insbesondere wenn es sich um audiovisuelle Medieninhalte handelt
(vgl. Lang 2000; Bradley 2007). Psychologisch betrachtet handelt es sich meist um red-
undante Reize: Sie bestehen sowohl aus akustisch als auch aus visuell wahrnehmba-
ren Elementen. Diese haben strukturelle (Schnitte, Licht, Kameraperspektiven, Bildaus-
schnitte) und inhaltliche (semantische) Aspekte (vgl. Lang 2000). Redundanz bedeutet
in diesem Fall, dass dem Rezipienten visuell und akustisch dieselben Informationen
angeboten werden, die er multisensorisch wahrnehmen kann. Das kann dazu führen,
dass er Informationen besser verarbeitet, jedoch kann es auch zu einer Überforderung
seiner kognitiven Verarbeitungskapazität kommen, was eine schlechtere Informations-
142 Hannah Früh
verarbeitung zur Folge hat. Auch der umgekehrte Fall ist möglich, nämlich ein diver-
gentes Informationsangebot, wenn akustisch nicht dieselben Informationen wie visuell
geboten werden (die sog. Text-Bild-Schere); divergente Informationen also können so-
wohl eine bessere als auch eine schlechtere Informationsverarbeitung bewirken. Hinzu
kommt, dass gerade mediale Stimuli sich häufig durch eine besondere Dynamik aus-
zeichnen, beispielsweise erzeugt durch eine hohe Schrittfrequenz.
Nicht-mediale Stimuli können ebenfalls sehr komplex sein, weshalb dies streng-
genommen noch kein Charakteristikum medialer Reize sein kann. Ein wesentlicher Un-
terschied ist jedoch, dass bei medial vermittelten Informationen der Ort des Gesche-
hens und der Ort der Wahrnehmung dissoziiert sind (vgl. Bradley 2007): Berücksichtigt
man den Umstand, dass bei der Verarbeitung von Informationen auch der Kontext, in
dem diese Verarbeitung stattfindet, großen Einfluss auf die Encodierung und Speiche-
rung von Informationen hat (vgl. Shiffrin 2003), bedeutet dies, dass der Rezipient von
der Darstellung auf ein reales Ereignis abstrahieren muss. Dies kann verschiedene Aus-
wirkungen haben: Möglicherweise nimmt der Rezipient einzelne dargebotene Informa-
tionen nicht als solche wahr, weil er sie, bedingt durch die Distanz zum Ereignisort, als
nicht so bedeutsam einschätzt. Eine andere Konsequenz kann sein, dass der Rezipient
Probleme hat, sich später an die Informationen richtig zu erinnern, wenn der entspre-
chende Abrufreiz (z. B. die Rezeptionssituation als Kontext) fehlt.
Ein Modell der Informationsverarbeitung medialer Stimuli muss also auf sehr kom-
plexe, dynamische Stimuli anwendbar sein und auch die Verarbeitung von abstrakten
Informationen erklären können. Ein derartiges Modell ist das Limited Capacity Model
of Processing Mediated Stimuli (LCM) von Lang (2000). Die Autorin wählt bewusst ein
allgemeines Modell, um es für verschiedene kommunikationswissenschaftliche For-
schungsfelder fruchtbar zu machen. Das LCM baut im Wesentlichen auf den oben er-
wähnten kognitionspsychologischen Speichermodellen auf, auch wenn es Elemente von
Netzwerkmodellen enthält. Ergänzt wurden diese psychologischen Grundlagen um Ein-
zelbefunde aus dem Bereich der Medienwirkungsforschung. Lang (2006) nennt insge-
samt fünf Annahmen ihres Modells, die sie aus den eben genannten Bereichen ableitet:
4. Menschliches Verhalten ist ein Prozess, d. h. die zeitliche Komponente spielt hier
eine große Rolle. Handeln und damit auch Denken sind Prozesse, die im Lauf der
Zeit unterschiedliche Formen annehmen.
5. Kommunikation ist definiert als ein Prozess der Interaktion zwischen dem menschli-
chen Informationsverarbeitungssystem und Medieninhalten. „In other words, com-
munication is a continuous, interactive, dynamic, embodied process all of which
must be taken“ (Lang 2006, S. 59). Demzufolge kann die Informationsverarbeitung
nicht losgelöst von Medienwirkungen sein. Hierbei zeigen sich auch Bezüge zu Me-
dienwirkungsmodellen wie dem Dynamisch-Transaktionalen-Ansatz (W. Früh &
Schönbach 2005; Früh 1994, S. 68 ff.).
Ursprünglich entwickelt wurde das Modell für die Fernsehrezeption, allerdings handelt
es sich um ein eher allgemeines Modell, das sich grundsätzlich auf verschiedene Me-
dieninhalte anwenden lässt. Informationsverarbeitung definiert Lang als „(…) group of
simultaneously occurring component processes (or subprocesses) that people perform
on stimuli and on the mental representation of stimuli that they construct“ (Lang 2000,
S. 47). Damit bezieht sie sich sowohl auf automatische als auch auf kontrollierte Infor-
mationsverarbeitungsprozesse. Im Einzelnen unterscheidet sie drei Subprozesse: Enco-
dierung, Speicherung und Abruf. Diese laufen permanent und simultan im menschli-
chen Gehirn ab (vgl. Lang 2000, S. 47 ff.).
Das Encodieren beschreibt, wie Informationen ins Gehirn gelangen. Wahrgenom-
mene Reize erreichen zunächst den sensorischen Speicher; die mentalen Repräsenta-
tionen selektierter Reize bzw. Informationen aktivieren dann bereits bestehende Ge-
dächtnisstrukturen. Beim Encodieren wird insgesamt nur ein sehr kleiner Teil aller
möglichen Reize und Informationen weiterverarbeitet, d. h., es findet wiederum eine
Selektion bedeutsamer Informationen statt.
Die Speicherung betrifft das Verankern neuer Informationen im (Langzeit-)Gedächt-
nis von Menschen und damit letztlich die Wissensbildung. Hierbei werden neue In-
formationen mit alten verknüpft. Dies kann einerseits schemaergänzend, andererseits
schemaverstärkend geschehen; es können aber auch Interferenzen eintreten, wenn neue
Informationen alte überschreiben bzw. verändern.
Als dritten Subprozess nennt das LCM den Abruf bestehender Gedächtnisinhalte.
Letztlich wird hierbei das Gedächtnis nach bestimmten gespeicherten Informationen
abgesucht; je mehr Verbindungen im Gedächtnis bestehen, desto verfügbarer ist die be-
treffende Information. Gleichzeitig kann man feststellen, dass der Abruf länger dauert,
wenn es sich um besonders detailliertes Wissen handelt. Wie bereits bei der Speicherung
angemerkt, geschieht der Abruf bestehender Gedächtnisinhalte nicht nur im Anschluss
an die Speicherung, sondern auch währenddessen, um letztlich neue Informationen zu
verstehen und dabei zu vernetzen.
Das LCM verwendet zwar Begriffe wie sensorischer Speicher, Kurzzeitspeicher, Ar-
beitsgedächtnis oder auch Langzeitgedächtnis, allerdings nimmt es keine strikte Tren-
144 Hannah Früh
nung zwischen diesen Speichern an. Es teilt die Grundannahme über die assoziative
Netzwerkstruktur des Gedächtnisses. Demzufolge sind das Arbeitsgedächtnis oder das
Kurzzeitgedächtnis und der sensorische Speicher lediglich als gerade aktiver Teil des
Langzeitgedächtnisses anzusehen. Während ein Teil des Netzwerks aktiviert ist, bilden
sich neue Strukturen heraus; je mehr Verbindungen zu bestehenden Teilen aufgebaut
werden können, desto besser ist eine Information gespeichert (Lang 2000, S. 50).
Wie bereits eingangs erwähnt, laufen die drei Subprozesse des Encodierens, Spei-
cherns und Abrufens im LCM permanent ab. Sie konkurrieren dabei untereinander um
kognitive Kapazitäten. Wie automatisch oder kontrolliert dies geschieht, hängt im We-
sentlichen von zwei Faktoren ab: Erstens, wie viel kognitive Kapazität ein Rezipient op-
fern kann oder möchte und zweitens, wie anspruchsvoll ein Stimulus für die Verarbei-
tung ist. Gerade die Komplexität vieler audiovisueller Stimuli provoziert beispielsweise
automatisch Orientierungsreaktionen beim Rezipienten, etwa durch hohe Schnittfolgen
oder Perspektivwechsel in der Kameraführung, die aus kognitionspsychologischer Sicht
als etwas Neues registriert werden. Diese Orientierungsreaktion bindet Kapazitäten des
Rezipienten, indem sie seine Aufmerksamkeit auf bestimmte (Schlüsselreize) lenkt und
deren Verarbeitung begünstigt. Dies führt dazu, dass derartige Informationen besser
verarbeitet und gespeichert werden als andere. Dazu gehören z. B. auch emotionalisie-
rende Stimuli (vgl. Lang et al. 1995; Lang 2000).
Eine Erweiterung des Modells von Lang (2000) stellt Bradley (2007) mit seinem
konnektionistischen Modell (Modell der Dynamic, Embodied, Limited-Capacity Atten-
tion and Memory, DELCAM) vor, das einen Lernalgorithmus verwendet, um die Spei-
cherung neuer Informationen (und deren Abruf) zu simulieren. Aufbauend auf Lang
(2000), Shiffrin (2003) sowie konnektionistischen Netzwerkmodellen, betont er u. a.
drei besonders bedeutsame Aspekte für sein Modell, nämlich (a) die Dynamik des In-
formationsverarbeitungsprozesses, (b) die Konzeption einer u. a. evolutionär beding-
ten, der Adaption dienenden Wahrnehmung (embodied cognition); hierin sieht er auch
eine besondere Bedeutung von Emotionen; (c) die Rolle des Rezeptionskontextes bei der
Verarbeitung medialer Stimuli. Insgesamt integriert das DELCAM von Bradley (2007)
somit kognitionspsychologische Modelle, emotionspsychologische (appraisaltheoreti-
sche) und motivationspsychologische Ansätze und Annahmen zur medienspezifischen
Informationsverarbeitung.
sich, muss zuerst ein Anfangspunkt bestimmt werden. Dies kann etwa der Beginn ei-
nes Spielfilmes sein, bei dem man das Unterhaltungserleben von Rezipienten messen
möchte. Darüber hinaus empfiehlt es sich, einzelne (theoretisch begründete) markante
Punkte zu bestimmen, von denen man vermutet, dass sie den Informationsverarbei-
tungsprozess beeinflussen, etwa einzelne Nachrichtenfaktoren in einer Meldung oder
auch formale Merkmale wie Schnitte oder Wechsel in der Kameraperspektive. Durch
die Bestimmung eines Anfangspunktes sowie einzelner markanter Punkte ist eine syste-
matische Untersuchung der Informationsverarbeitung unter kausalen Gesichtspunkten
möglich, denn im Prinzip werden permanent Informationen verarbeitet, was die Iden-
tifikation einer spezifischen Reaktion erschwert.
Auch Teilprozesse lassen sich betrachten: Das LCM legt hier einen Ansatz an den
drei Subprozessen Encodierung, Speicherung und Abruf nahe; etwas spezifischer kann
man auch auf einzelne Informationsverarbeitungsprozesse fokussieren, z. B. auf Emo-
tionen3. Zudem stellt sich die Frage nach der Wahl der Methode. Übliche Verfahren
sind hier beispielsweise die Reaktionszeitmethode oder psychophysiologische Messun-
gen (siehe den Beitrag von Fahr in diesem Band):
Die Reaktionszeitmethode setzt an den (begrenzten) Verarbeitungskapazitäten des
Menschen an. Ausgehend von den Annahmen, dass der Mensch nur über begrenzte
Verarbeitungskapazitäten verfügt und – je nach Informationsart und Verarbeitungs-
tiefe – ein unterschiedliches Maß an Kapazität zur Verarbeitung notwendig ist, geht die
Reaktionszeitmethode davon aus, dass jemand, der bereits beschäftigt ist, eine zweite
Aufgabe, die nichts mit der ursprünglichen zu tun hat, schlechter ausführen kann (vgl.
Basil 1994). Da im Grunde die Reaktionszeit bei der zweiten Aufgabe gemessen wird,
heißt diese Methode auch Sekundäre Reaktionszeitmessung. Insgesamt hat sich gezeigt,
dass sie sich besonders gut dazu eignet, das Aufbringen kognitiver Ressourcen bei der
Encodierung von Informationen (z. B. Aufmerksamkeit) zu messen (vgl. Lang 2000).
Nachteil dieser Methode ist jedoch ihre vergleichsweise starke Reaktivität, die bei den
meisten psychophysiologischen Messungen geringer ist.
Psychophysiologische Methoden (oder weitergehend: rezeptionsbegleitende Metho-
den) setzen an verschiedenen organismischen Subsystemen an, um (psychophysiolo-
gische) Reaktionen auf mediale Stimuli zu ermitteln. Beispiele hierfür sind etwa die
Messung der Hautleitfähigkeit oder des Herzschlages. Aktivitäten in beiden Systemen
können auf Aufmerksamkeitsprozesse hindeuten, z. B. Orientierungsreaktionen. Diese
können als Reaktion auf die Darbietung von negativen oder aus anderen Gründen emo-
3 Einige kognitive Appraisal-Theorien der Emotion (z. B. Scherer 2001) gehen davon aus, dass Emotio-
nen Prozesse sind, bei denen interne oder externe Informationen nach bestimmten Kriterien kognitiv
verarbeitet werden, wodurch wiederum verschiedene organismische Subsysteme synchronisiert werden.
Zum Schluss ergibt sich hieraus eine Handlungsbereitschaft. Im Sinne der Bounded Rationality können
Emotionen dabei Heuristiken sein. Dieses Emotionsverständnis lässt sich auch mit dem LCM und dem
DECALM verbinden, widerspricht jedoch Annahmen vieler früherer Dual Processing-Modelle, z. B.
dem ELM und dem HSM (vgl. auch Morris et al. 2005).
146 Hannah Früh
tionalisierenden Nachrichten im Fernsehen resultieren (vgl. Lang 2000). Häufig sind sie
mit anderen rezeptionsbegleitenden Methoden, etwa Continuous Response Messungen
(auch als Real-Time-Response-Messung bezeichnet) kombiniert, mit Hilfe derer sich
permanent kognitive Einschätzungen erheben lassen.
Steht nicht der Prozess an sich im Fokus, sondern das Ergebnis dieses Prozesses (z. B.
die Gedächtnisleistung oder einzelne Handlungen), sind andere Methoden vorzuziehen.
In der Kognitionspsychologie wird dabei meist die Fehlerquote beim Abruf bestimmter
Informationen aus dem Gedächtnis als Maß für die Güte der Erinnerung gemessen (vgl.
Anderson 2007, S. 247 ff.). Hier bestehen verschiedene Möglichkeiten: entweder die freie
Erinnerung (free recall), bei der der Proband gebeten wird, bestimmte Informationen
zu reproduzieren (z. B. die Reproduktion von Wortlisten, die er zuvor gehört hat), oder
aber die gestützte Erinnerung (aided recall), bei der dem Probanden zur Erinnerung be-
stimmte Hinweisreize geboten werden. In der Regel ist Letzteres leichter, da durch den
Hinweisreiz bereits bestimmte Knoten im assoziativen Netzwerk aktiviert werden, und
somit der Weg zu damit verbundenen Informationen bereits gebahnt ist. Neben diesen
beiden Möglichkeiten gibt es außerdem das Messen der Wiedererkennensleistung be-
stimmter Informationen (recognition); hierbei muss der Proband lediglich bestimmen,
ob er eine betreffende Information bereits gesehen hat oder nicht. Auf den ersten Blick
erscheint dies besonders leicht, da der Proband keine Hinweisreize für eine betreffende
Information benötigt, sondern im Prinzip die Information bereits der Hinweisreiz ist
und er nur nach seinem mentalen Modell suchen muss. Allerdings kann es auch hier zu
Fehlleistungen kommen, wenn ein Objekt dem eigentlichen Zielobjekt sehr ähnlich ist.
Geht man davon aus, dass Informationen nicht nur bewusst, sondern auch impli-
zit verarbeitet werden, kann man auch implizites Wissen erfragen (vgl. Anderson 2007,
S. 278 ff.). Dementsprechend ist das Zielobjekt, nach dem gefragt wird, keine konkrete
Information, sondern beispielsweise eine Handlungsbereitschaft. Diese lässt sich wie-
derum mit Hilfe von Befragungen ermitteln. Allerdings darf man eine Handlungsbereit-
schaft nicht mit einer Handlung verwechseln. Letztere lässt sich meist nur über Beob-
achtungen erfassen (etwa das Spenden oder aber auch Anschlusskommunikation).
5 Ausgewählte Anwendungsfelder
Die oben vorgestellten Modelle von Lang (2000) und Bradley (2007) sind allgemeine,
integrative Modelle. Sie ermöglichen daher, verschiedene Befunde, etwa aus dem Be-
reich der Nachrichtenrezeption zu erklären. Außerdem lassen sie sich mit spezifisch
kommunikationswissenschaftlichen Ansätzen verbinden, beispielsweise dem Framing
und der Wissensklufthypothese.
Zwei der basalen Annahmen bei Lang (2000) sind die der beschränkten Kapazitäten
sowie die der Möglichkeit von Menschen, die Menge an Ressourcen zur Informations-
verarbeitung teilweise selbst bestimmen zu können. Setzt man etwa an der motivierten
Grundlagen: Informationsverarbeitung 147
Kapazitätsfreigabe an, so lässt sich erklären, weshalb diejenigen, die Nachrichten sehen,
um sich zu informieren, mehr Details erinnern als andere, die sich nur unterhalten wollen
(vgl. Gantz 1978) und daher Nachrichten nur beiläufig – und damit unmotiviert – verfol-
gen. Ein weiteres Beispiel ist die wahrgenommene subjektive Relevanz einer Nachricht
(vgl. Katz et al. 1977), wodurch die Motivation, mehr kognitive Ressourcen für die Ver-
arbeitung zu opfern, steigt und letztlich auch die Erinnerung detailreicher ist. Alternativ
lässt sich das letztgenannte Beispiel auch mit den Dual Processing-Modellen erklären.
Das Elaboration Likelihood Model (Petty & Cacioppo 1986) oder das Heuristic Syste-
matic Model (Eagly & Chaiken 1993) etwa modellieren jeweils einen systematischen und
einen peripheren / heuristischen Weg der Informationsverarbeitung. Ist jemand stark in
eine Botschaft involviert, so verarbeitet er die betreffenden Informationen systemati-
scher (d. h. in diesem Falle tiefergehender) als jemand, der nicht so stark involviert ist.
Die Verarbeitungskapazität wird – wie oben beschrieben – nicht nur motivational
gesteuert, sondern kann auch unwillkürlich beansprucht werden, etwa wenn es sich
(a) um Schlüsselreize (z. B. Negatives oder Erotisches) handelt oder um (b) formale
Merkmale, die eine Orientierungsreaktion auslösen (etwa schnelle Schnitte). Beide Ar-
ten von Reizen lenken unwillkürlich die Aufmerksamkeit auf sich, was dazu führen
kann, dass unter Umständen die kognitiven Kapazitäten überlastet sind mit der Folge,
dass trotz großer Aufmerksamkeit die Detailerinnerung schlecht ist (vgl. Grabe et al.
2003). Dass derartige Reize unwillkürlich die Aufmerksamkeit auf sich lenken, ist keine
Fehlfunktion, sondern lässt sich evolutionär mit den möglicherweise schädlichen Folgen
von Neuem oder Negativem begründen. Im letzteren Falle spricht man daher auch von
einem Negativismus-Bias (vgl. u. a. Shoemaker 1996). Derartige Informationen drängen
sich dem Betrachter daher nicht nur in Konkurrenz mit anderen Umweltreizen regel-
recht auf, sondern werden auch bevorzugt verarbeitet und gespeichert. Im Langzeit-
gedächtnis kann es dann zu einer retrograden Hemmung kommen (vgl. Lang et al. 1996;
Bradley 2007). Ähnliches gilt auch für emotionalisierende Nachrichten, die insgesamt
besser erinnert werden als nicht-emotionalisierende (vgl. Lang et al. 1996); dies beginnt
bereits bei der Aufmerksamkeit: Menschen widmen emotionalisierenden Nachrichten
größere Aufmerksamkeit als nicht-emotionalisierenden (vgl. Lang 2000).
Die Modelle von Lang (2000) und Bradley (2007) eignen sich nicht nur dazu, ver-
schiedene Einzelbefunde vor dem Hintergrund eines integrativen Ansatzes zu interpre-
tieren, sondern ermöglichen umgekehrt auch das Konzipieren spezifischer Botschaften
im Rahmen der strategischen Kommunikation, etwa zur Entwicklung einer Krebsvor-
sorge-Kampagne (vgl. Lang 2006).
Abschließend wird im Sinne eines Ausblicks gezeigt, welche Rolle die Informations-
verarbeitung in einzelnen kommunikationswissenschaftlichen Feldern spielt. Exempla-
risch dienen hier der Framing-Ansatz sowie die Wissensklufthypothese.
Zugespitzt formuliert konstatiert die Wissenskluftforschung, dass Menschen, die ohne-
hin schon mehr wissen (z. B. weil sie sich aufgrund ihres sozioökonomischen Status
mehr Bildung leisten können), mehr aus den Massenmedien lernen als Menschen mit
148 Hannah Früh
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Priming, Framing, Stereotype
Christian Schemer
Abstract Der Beitrag gibt einen Überblick über die Forschung zu Medien-Priming und Medien-Fra-
ming-Effekten. Diese Effekte standen gerade in den letzten beiden Jahrzehnten im Zentrum der Me-
dienwirkungsforschung. Durch Priming und Framing kann eine Reihe von Phänomenen erklärt werden,
z. B. die Aktivierung von Ausländerstereotypen, die Wirkung von Nachrichtenbeiträgen auf die Krite-
rien zur Bewertung politischer Kandidaten, aber auch die Aktivierung von emotionalen Reaktionen als
Folge der Medienrezeption. Trotz aller bisherigen Erkenntnisfortschritte weist die Priming- und Framing-
Forschung einige Ungereimtheiten bzw. Lücken auf. Dabei geht es erstens um die Frage der Kontext-
bedingungen, unter denen die Effekte auftreten. Zweitens und eng damit verbunden ist die Frage, wie
man sich die Entwicklung von Priming- und Framing-Effekten über längere Zeiträume vorstellen kann.
Schließlich ist für die Forschung relevant, wie sich Framing- und Priming-Effekte voneinander abgren-
zen lassen bzw. wie sich beide Erklärungsansätze von anderen Theorien unterscheiden. Diese Frage lässt
sich in letzter Konsequenz nur über die Identifikation der Wirkungsprozesse beantworten, die den je-
weiligen Effekten zugrunde liegen. Gerade in diesem Punkt besteht wohl der größte Klärungsbedarf für
die zukünftige Forschung.
1 Einführung
In den letzten Jahrzehnten haben Priming und Framing als Erklärungsansätze für die
Wirkung von Mediendarstellungen auf das Publikum einen Zuwachs an Aufmerksam-
keit in der Forschung erfahren (Bryant & Miron 2004, S. 693; Roskos-Ewoldsen et al.
2007, S. 74).1 Ein Großteil dieser Forschung erfolgte am Beispiel der Wirkung der Be-
richterstattung über ethnische Minderheiten und der dadurch aktivierten Stereotype.2
1 Im weiteren Verlauf wird der Einfachheit halber allgemein von Priming- und Framing-Effekten gespro-
chen und vorausgesetzt, dass es sich dabei um Wirkungen von Medienangeboten handelt.
2 Stereotype stellen pauschale oder kategoriale Überzeugungen über soziale Gruppen und deren Mitglie-
der dar. Die Überzeugung, Ausländer stellten eine Belastung für das soziale Netz von Wohlfahrtsstaaten
dar, ist beispielsweise eine stereotype Überzeugung, weil dadurch allen Ausländern ohne Unterschied
ein Missbrauch von Wohlfahrtsleistungen unterstellt wird.
Daher beschäftigen sich die Beispiele zur Veranschaulichung von Priming- und Fra-
ming-Effekten in diesem Beitrag u. a. mit diesem Thema.
Um die Entstehung dieser Wirkungen zu verstehen, erfolgt zunächst eine Darstel-
lung von Netzwerkmodellen der menschlichen Informationsverarbeitung, die die theo-
retische Grundlage der meisten Framing- und Priming-Studien darstellen. Darauf auf-
bauend wird gezeigt, wie sich Priming- und Framing-Effekte vor diesem theoretischen
Hintergrund erklären lassen. Dabei wird stets ein Beispiel gegeben, das den Wirkungs-
mechanismus plausibler macht. Im dritten Teil werden drei wichtige Diskussionslinien
der aktuellen Forschung aufgegriffen, die sich auf die Universalität von Priming- und
Framing-Effekten beziehen, auf deren Stabilität über die Zeit sowie auf deren Validität.
Im Ausblick wird auf mögliche Wege für die zukünftige Forschung verwiesen.
Die Kenntnis der theoretischen Grundlagen erlaubt zum einen ein besseres Verständ-
nis für die Prozesse, die diesen Medienwirkungen zugrunde liegen. Auf diese Weise
dürfte sich zum anderen auch die Sensibilität für die daraus folgenden Probleme der
Forschung erhöhen, die im dritten Abschnitt dieses Beitrags behandelt werden.
Priming und Framing stellen Effekte dar, deren Verständnis sich erst erschließt, wenn
man sich die zugrunde liegenden Prozesse der Informationsverarbeitung vergegenwär-
tigt. Diese basieren auf einer Modellvorstellung des menschlichen Informationsverar-
beitungsapparats als kognitiver Netzwerkarchitektur (z. B. Collins & Loftus 1975). Price
und Tewksbury (1997) haben diese Ideen für die Wirkung von Medien-Primes und
-Frames aufgearbeitet. In dieser Perspektive stellt man sich den menschlichen Informa-
tionsverarbeitungsapparat als ein Netzwerk miteinander verbundener Knoten vor. Die
Knoten im Netzwerk können Kognitionen (z. B. Vorstellungen oder Überzeugungen)
oder Emotionen (z. B. überdauernde Emotionen oder affektive Prädispositionen) sein.
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Wenn ein Rezipient mit Medienbeiträgen über
ethnische Minderheiten konfrontiert ist, dann hat sie oder er unter Umständen bereits
einige Vorstellungen von Minderheiten (z. B. „belasten das soziale Netz“, „machen die
Arbeit, die sonst keiner erledigt“), empfindet spezifische Emotionen gegenüber dieser
Gruppe (z. B. „Angst“) und verfügt eventuell über Einstellungsurteile in diesem Zusam-
menhang (z. B. „Präferenz für eine restriktive Migrationspolitik“). Diese Überzeugun-
gen, Emotionen und Einstellungsurteile stellen Knoten oder Bausteine im kognitiven
Netzwerk einer Person dar. Diese Knoten können mehr oder weniger stark miteinan-
der verbunden sein. Gleichzeitig haben unterschiedliche Knoten eine unterschiedliche
Priming, Framing, Stereotype 155
2.2 Medien-Priming-Effekte
Bei Priming handelt es sich zunächst einmal um eine experimentelle Prozedur, um be-
stimmte Kognitionen, Motivationen oder Emotionen im kognitiven Netzwerk von Indi-
viduen in ihrer Salienz zu erhöhen (Roskos-Ewoldsen et al. 2007, S. 75). Das Ziel dieser
Prozedur ist es nachzuweisen, dass Konstrukte mit erhöhter Salienz für eine nachfol-
gende Aufgabe bedeutsamer oder wirkungsvoller sind. Auf diese Weise hat die For-
schung eine Vielzahl an Erkenntnissen über die Funktionsweise der menschlichen In-
formationsverarbeitung erlangt. Für die Medienwirkungsforschung ist das Phänomen
Salienzerhöhung an sich sehr bedeutsam. Denn Priming bedeutet hier, dass bestimmte
Informationen in der Medienberichterstattung bestimmte Kognitionen im kognitiven
Netzwerk eines Rezipienten aktivieren, die dann eher für die Urteilsbildung zur Ver-
fügung stehen als nicht aktivierte Konzepte. Studien zu Priming-Effekten der Medien
wurden im Zusammenhang mit unterschiedlichen Themen behandelt, z. B. im Kontext
von Immigration, Einstellung zu politischen Kandidaten oder gewalthaltigen Themen
(Roskos-Ewoldsen et al. 2007).
Eine klassische Studie stammt von Iyengar et al. (1982) aus dem Bereich der Politik-
berichterstattung. In ihren Experimenten zeigten sie mehreren Experimentalgruppen
Beiträge über die US-Verteidigungspolitik, eine Kontrollgruppe erhielt andere Medien-
informationen. Die Konfrontation mit diesen Beiträgen führte zu einem Agenda Set-
ting-Effekt: Versuchspersonen, die die Beiträge zur Verteidigungspolitik sahen, schätz-
ten Verteidigungspolitik in der Folge auch als bedeutsamer ein als andere politische
Themen bzw. bewerteten das Experimentalthema als wichtiger als die Kontrollgruppe.
Das Argument der Autoren ging jedoch weiter: Wenn ein Thema erst in seiner Wich-
tigkeit durch häufige Berichterstattung steigt – so die Annahme –, dann dürfte dadurch
auch die Urteilsbildung beeinflusst sein. Aufgrund seiner durch die Medienbericht-
erstattung erhöhten Salienz ist ein Thema auch im kognitiven Netzwerk besonders stark
aktiviert und daher für die Urteilsbildung eher verfügbar. In dem Maße, in dem sol-
che Vorstellungen auch auf ein Urteil, z. B. über einen politischen Kandidaten, anwend-
bar sind, dürften diese häufig aktivierten Aspekte auch die Urteilsbildung beeinflussen.
Genau dies zeigte sich auch: Für Personen, die den Beitrag über Verteidigungspolitik
anschauten, waren die Leistungen des Kandidaten in der Verteidigungspolitik wichti-
gere Kriterien zu ihrer globalen Beurteilung des Kandidaten als in der Kontrollgruppe.
Die durch die Berichterstattung erhöhte Salienz des Themas Verteidigungspolitik führte
somit dazu, dass Verteidigungspolitik zu einem bedeutsamen Urteilskriterium für den
Präsidentschaftskandidaten wurde.
Im Zusammenhang mit dem Thema Ausländerkriminalität konnten Gilliam und
Iyengar (2000) einen ähnlichen Effekt nachweisen. Die Versuchspersonen im Experi-
ment schauten einen Beitrag über Kriminalität an, in dem der mutmaßliche Täter ent-
weder ein Weißer, ein Schwarzer oder nicht identifiziert war. Eine Kontrollgruppe sah
den Beitrag ohne Verdächtige. Die Präsenz des dunkelhäutigen Täters aktivierte ste-
Priming, Framing, Stereotype 157
reotype Überzeugungen bei den Versuchsteilnehmern und verstärkte dadurch die Prä-
ferenz für eine härtere Gangart im Strafvollzug. Diese Ergebnisse wurden durch eine
Vielzahl von Befragungsstudien im Feld erweitert, und die meisten bestätigen die expe-
rimentellen Befunde (Roskos-Ewoldsen et al. 2007, S. 78).
Eine wichtige Implikation dieser Studien ist, dass es sich bei den gefundenen Wir-
kungen um automatische Priming-Effekte handelt. Mit anderen Worten, Rezipienten
haben sich nicht willentlich dafür entschieden, eine bestimmte Leistung eines Kandida-
ten in einem Themenbereich zur Urteilsbildung heranzuziehen, sondern der Urteilsein-
fluss wird durch die medial induzierte erhöhte Verfügbarkeit automatisch determiniert
(Iyengar et al. 1982; Krosnick & Kinder 1990). In dieser Hinsicht sind Rezipienten – et-
was überspitzt formuliert – passive Opfer der dominanten Berichterstattung über einen
bestimmten Sachverhalt.
2.3 Medien-Framing-Effekte
Bevor man sich dem Verständnis von Framing-Effekten nähert, ist die Frage sinnvoll,
was man unter Frames in den Medien genau verstehen kann. Hierzu liegt eine Vielzahl
von unterschiedlichen Begriffsverständnissen vor, auf die in der Kürze des Beitrages
nicht eingegangen werden kann (vgl. hierzu Matthes 2009; Scheufele 2004). Die wohl
bekannteste und am meisten verwendete Definition von Frames in den Medien stammt
von Entman (1993, S. 52): „To frame is to select some aspects of a perceived reality and
make them more salient in a communicating text, in such a way as to promote a partic-
ular problem definition, causal interpretation, moral evaluation, and / or treatment rec-
ommendation for the item described“.
Framing stellt demnach eine journalistische Selektion und Betonung bestimm-
ter thematischer Aspekte der Realität auf Kosten anderer dar. Frames kann man auch
als Sinnhorizonte verstehen, die einen Interpretationsrahmen für das Publikum bieten
(Entman et al. 2009). So kann etwa das Thema Immigration einerseits vor dem Hinter-
grund der Kosten für den Wohlfahrtsstaat gerahmt werden. Diese Sichtweise legt nahe,
dass Immigration primär ein finanzielles Problem ist. Andererseits könnte Immigration
im Rahmen von Problemen der inneren Sicherheit und des Terrorismus thematisiert
werden. In dieser Hinsicht handelt es sich bei Immigration nicht mehr um ein finanziel-
les, sondern um ein Sicherheitsproblem. Aus unterschiedlichen medialen Darstellungen
von Themen resultiert eine entsprechend unterschiedliche Wahrnehmung und Wirkung
des medial dargestellten Sachverhaltes im Publikum.
Neben diesen themenspezifischen Framing-Vorstellungen finden sich aber auch an-
dere Bedeutungen von Medien-Framing. Diese Vorstellungen sind themenunspezifisch
oder generisch und lassen sich auf unterschiedliche Themen anwenden. Iyengar (1991,
S. 2) unterscheidet etwa zwischen episodischem und thematischem Framing. Episodisch
meint dabei eine dramatische mediale Darstellungen eines Sachverhalts mit Verwen-
158 Christian Schemer
3 Auch andere Autoren gehen von themenunspezifischen Medien-Frames aus, z. B. Konflikt-Frames oder
Human-Interest-Frames, die sich ebenfalls auf das Publikum auswirken können (z. B. Cappella & Ja-
mieson 1997; Valkenburg et al. 1999). Hierzu liegen jedoch weit weniger Studien vor, und es ist nicht
klar, ob es sich bei diesen Wirkungen zweifelsfrei um Framing-Effekte handelt, oder nicht vielmehr um
die Wirkung journalistischer Darstellungsformen oder Nachrichtenfaktoren (Matthes 2007; Scheufele
2004).
Priming, Framing, Stereotype 159
sollten die Versuchspersonen einen Beitrag über Immigranten in Spanien lesen (Igar-
tua & Cheng 2009). Eine Version des Beitrags thematisierte Immigration unter dem Ge-
sichtspunkt wachsender Kriminalität. In der anderen Version lasen sie, dass Immigran-
ten einen wichtigen volkswirtschaftlichen Beitrag leisteten. Die Rezeption im Kontext
von Kriminalität (im Unterschied zum Beitrag, der ökonomische Vorteile der Immi-
gration behandelte) führte zu negativeren Einstellungen gegenüber Immigration (Igar-
tua & Cheng 2009, S. 738). Vergleichbare Medien-Framing-Effekte zeigten sich in weite-
ren Experimenten (Borah 2011) und auch in Befragungsstudien im Feld (Matthes 2007;
Schemer 2012; Schemer et al. 2012).
Trotz der Vielfalt von wichtigen Resultaten der bisherigen Priming- und Framing-For-
schung bestehen immer noch ungelöste Probleme und Fragen, die weiterer Studien be-
dürfen. Erstens stellt sich die Frage der Universalität: Es ist nicht klar, ob Framing- oder
Priming-Effekte bei allen Rezipienten gleichermaßen auftreten, oder ob es bestimmte
Eigenschaften gibt, die Rezipienten anfälliger für solche Medienwirkungen machen.
Zweitens stellt sich die Frage nach der Stabilität von Priming- und Framing-Effekten.
Dieses Problem ist bei Framing-Studien virulenter, zumal es sich bei den meisten Stu-
dien um Experimente handelt, bei denen Rezipienten einem einzigen Medienbeitrag
ausgesetzt sind. Drittens fragt sich, welche konkreten Prozesse den jeweiligen Effekten
zugrunde liegen. Dabei geht es v. a. um die Frage, wie sich die Wirkungsprozesse isolie-
ren lassen, die zu Priming- bzw. Framing-Effekten führen.
In der Priming-Forschung liegt bislang eine Vielzahl an Experimenten wie auch Befra-
gungsstudien mit Längsschnittdesigns im Feld vor. In Anbetracht dieser empirischen
Basis für Priming-Effekte gibt es an der Validität dieses Effekts wenig Zweifel. Im Ge-
gensatz dazu basiert die Forschung zu Framing-Effekten verstärkt auf Experimenten. An
diesen Studien wurde in jüngster Zeit kritisiert, dass sie vielfach keine Aussage über die
Priming, Framing, Stereotype 161
zeitliche Stabilität erlaubten (z. B. Druckman 2004; Kinder 2007). Im Hinblick darauf le-
gen Feldstudien zwar nahe, dass Framing-Effekte eine gewisse Halbwertszeit aufweisen
müssen, ansonsten wären die Effekte nicht nachweisbar (Schemer et al. 2012; Matthes
2008). Allerdings erfassen diese Studien die zeitliche Variabilität der Effekte nicht syste-
matisch. Einige Experimente haben die Halbwertszeit von Framing-Effekten untersucht,
mit gemischten Ergebnissen. Während etwa bei Druckman und Nelson (2003) Framing-
Effekte nach zehn Tagen nicht mehr nachweisbar waren (vgl. auch de Vreese 2004), fan-
den andere Studien längerfristige, wenn auch abgeschwächte Effekte nach zwei (Leche-
ler & de Vreese 2011) bzw. drei Wochen (Tewksbury et al. 2000).
Lecheler und de Vreese (2011) zeigen in einem Feldexperiment, dass ein Nachrichten-
beitrag über die Vorteile des EU-Beitritts von Rumänien und Bulgarien auch nach zwei
Wochen noch einen Einfluss auf die Einstellungen von Befragten hat. Allerdings wird
dieser Effekt über die Zeit schwächer. Darüber hinaus belegen sie, dass Framing-Effekte
insbesondere bei Personen mit moderatem Wissen über die Zeit bestehen bleiben, bei
Rezipienten mit geringem oder hohem Wissen jedoch verschwinden. Begründen lässt
sich dieses Ergebnisse damit, dass Rezipienten mit niedrigem Wissen Medieninhalte
nicht dauerhaft in ihren Wissensschatz integrieren können. Bei Rezipienten mit hohem
Wissen liegt bereits ein stabiler Wissensvorrat vor, der über die Zeit als Schutzschild ge-
genüber Framing-Einflüssen fungiert. Bei mittlerem Wissen liegen offensichtlich die
idealen Bedingungen vor, die Rezipienten anfällig für Framing-Effekte machen. Sie wis-
sen noch nicht zu viel und wehren daher Framing-Einflüsse nicht einfach ab, anderer-
seits wissen sie offensichtlich genug und verfügen über die Fähigkeit, neue Aspekte, die
mediale Frames transportieren, zu übernehmen. Trotz dieser Fortschritte der Forschung
bleiben einige Fragen offen, etwa wie sich die mehrfache Darbietung von Medien-Fra-
mes über mehr als zwei Zeitpunkte auf Rezipienten auswirkt (z. B. im Verlauf von Kam-
pagnen, vgl. hierzu auch Baden & Lecheler 2012).
Eine Reihe von theoretischen wie auch empirischen Studien hat in der Vergangenheit
versucht, Priming- und Framing-Effekte voneinander abzugrenzen (Scheufele 2004;
Scheufele & Tewksbury 2007). Priming wird als relativ automatischer Prozess verstan-
den, der rein auf der Zugänglichkeit medial häufig oder kürzlich aktivierter Konzepte
beruht. Dabei kann es sich bei Medien-Primes auch um relativ subtile Reize handeln,
z. B. die kurze bildliche Präsentation eines Verdächtigen anderer Hautfarbe. Im Gegen-
satz dazu vermuten manche Autoren, dass Framing eher auf einem Anwendbarkeits-
effekt beruht (Scheufele & Tewksbury 2007; Price & Tewksbury 1997; Nelson & Oxley
1999). In den meisten Studien ist das jeweilige mediale Framing eine mit einem Thema
in Verbindung stehende Perspektive, die Rezipienten auf die Interpretation oder Bewer-
tung des Themas anwenden können. Demnach handelt es sich bei Framing-Effekten we-
162 Christian Schemer
4 Wenn man Individuen etwa einen Medienbeitrag über Verteidigungspolitik zeigt, einer Kontrollgruppe
einen anderen Beitrag, der nichts mit diesem Thema zu tun hat, dann dürften nachher abgefragte Be-
wertungen zur Verteidigungspolitik in der Experimentalgruppe eine bessere Vorhersage für das Urteil
über Politiker liefern als in der Kontrollgruppe. Der Regressionskoeffizient, der die Stärke des Effekts
der Bewertungen zur Verteidigungspolitik anzeigt, sollte also in der Experimentalgruppe größer sein
als in der Kontrollgruppe.
164 Christian Schemer
5 Zu einem ähnlichen Fazit kommt die aktuelle Agenda Setting-Forschung (vgl. Bulkow & Schweiger in
diesem Band).
Priming, Framing, Stereotype 165
4 Ausblick
verarbeitung bzw. Urteilsbildung besser vorhersagen als allein auf Basis von kognitiven
Überzeugungen. Diese Forschung steckt jedoch noch weitgehend in den Kinderschuhen.
Daher erscheint in Zukunft insbesondere auch die Erforschung des Zusammenspiels
kognitiver und affektiver Prozesse sowie emotionsspezifischer Einflüsse als ertragreich.
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Agenda Setting – zwischen gesellschaftlichem
Phänomen und individuellem Prozess
Kristin Bulkow & Wolfgang Schweiger
Abstract Die Thematisierungsfunktion ist eine der wichtigsten Funktionen der Massenmedien in
demokratischen Gesellschaften. Medien stellen jedoch nicht nur Themen für die öffentliche Kommuni-
kation bereit, sondern vermitteln über die unterschiedliche Betonung in der Berichterstattung auch, wie
wichtig diese Themen sind, und bestimmen dadurch die Tagesordnung der Öffentlichkeit mit. Kaum ein
Ansatz der Medienwirkungsforschung hat so viele Publikationen hervorgebracht wie die diesem Phä-
nomen zugrunde liegende Agenda Setting-Hypothese. Dennoch steht ihre generelle Einbindung und
die Einbindung der empirischen Befunde in ein tragfähiges Theoriegerüst noch immer aus. Entspre-
chend fragmentiert präsentiert sich der Ansatz, und entsprechend gering ist der Erkenntnisfortschritt,
der aus der inzwischen 40-jährigen Forschungsgeschichte resultiert. Gut belegt sind die Annahmen des
Ansatzes einzig für das Aggregatniveau. Da die zentrale Zielgröße des Agenda Setting jedoch individu-
elle Kognitionen sind, erweist sich die Tatsache, dass auf Individualniveau meist nur schwache und un-
einheitliche Befunde nachweisbar sind, als problematisch für den gesamten Ansatz. Der vorliegende
Beitrag gibt einen Überblick über die zentralen Konstrukte, Modelle und Forschungsperspektiven des
Agenda Setting-Ansatzes. Dabei wird dem Spannungsfeld zwischen Agenda Setting als gesellschaftli-
chem Phänomen und Agenda Setting als individuellem Prozess besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
1 Ausgangspunkte
Nahezu alle Medienfunktionen, die in der Literatur aus normativer Sicht diskutiert wer-
den – Information, Kritik, Kontrolle und Integration – basieren auf einer grundlegenden
Annahme: nämlich dass Medien Schwerpunkte öffentlicher Meinungsbildung hervorhe-
ben. Nur wenn es einen Mechanismus gibt, der bestimmt, welche gesellschaftlichen The-
men und Probleme diskussions- und lösungswürdig sind, können öffentliche Diskurse
geführt werden (Luhmann 1975). Ohne eine solche Scheinwerferfunktion würde sich
die Gesamtheit der Diskurse in einer unendlichen Themenvielfalt verirren – die wirk-
lich drängenden Probleme würden nicht genügend Beachtung erhalten. Neben dieser
zeitlosen theoretisch-praktischen Begründung ist die Popularität des Agenda Setting-
2 Zentrale Konstrukte
Bereits der Dissens darüber, ob Agenda Setting als Theorie (McCombs 2004, S. xiii),
Hypothese (Lang & Lang 1981, S. 7) oder nur als Metapher (Iyengar & Kinder 1987, S. 3)
zu bezeichnen sei, deutet konzeptionelle und terminologische Schwierigkeiten an. Die
begriff lichen Unklarheiten beziehen sich allerdings nicht nur auf Verständnis und
Reichweite des Ansatzes selbst, sie setzen sich auch bei den zentralen Konstrukten des
Konzepts fort.
Agenda Setting – zwischen gesellschaftlichem Phänomen und individuellem Prozess 173
Insbesondere die unscharfe Definition von Themen bzw. Issues ist mit Verweis auf ihre
zentrale Bedeutung für den Ansatz häufig kritisiert worden (vgl. zur Debatte Dearing &
Rogers 1996, S. 1 – 4). Grundsätzlich kann man Themen als quasi-hierarchische Netz-
werke betrachten, die aus Themen verschiedener Hierarchiestufen bestehen (Eichhorn
1996. S. 8 f.). Dabei ist einem ereignishaften Thema (z. B. Errichtung einer Bad Bank) je-
weils mindestens ein übergeordnetes Thema (z. B. Bankenkrise) in einem Themenfeld
(Wirtschafts- bzw. Finanzpolitik) zuzuordnen. Eine Einigung auf eine einheitliche Is-
sue-Definition wird in der empirischen Forschung auch dadurch erschwert, dass die
fokussierte Themen-Hierarchiestufe davon abhängig ist, ob man Agenda Setting als ge-
sellschaftliches Phänomen oder als individuellen Prozess betrachtet (vgl. Abschnitt 4
und 5). Soll etwa untersucht werden, wie sich bei Rezipienten individuelle Salienzen
zu einem Thema herausbilden (vgl. Bulkow & Schweiger 2012, im Druck), bietet sich
eine niedrige Hierarchieebene, d. h. ein ereignishaftes Thema an, um Effekte einzel-
ner Medienberichte möglichst isoliert betrachten zu können. Geht es dagegen um die
Homogenisierung der öffentlichen Meinung, kann sich das Zusammenfassen einzel-
ner Ereignisse oder Themen (z. B. Schwierigkeiten mehrerer Landesbanken) zu einem
übergeordneten Thema (z. B. Bankenkrise) oder einer Themenkategorie (Finanzpolitik)
als sinnvoll erweisen. Das Zusammenfassen von Themen zu Themenfeldern wie etwa
Außenpolitik (z. B. McCombs & Shaw 1972) lässt allerdings kaum noch Aussagen über
spezifische Medienwirkungen zu – gleich auf welcher Analyseebene. Einen weiteren
Streitpunkt stellt die Frage dar, ob die Konflikthaltigkeit als zentrales Charakteristikum
Eingang in die Begriffsbestimmung von Themen finden sollte oder nicht. Dieses Defini-
tionskriterium ist dann von Bedeutung, wenn man die Relevanz der Thematisierungs-
funktion der Medien darin sieht, dass sie in der Gesellschaft einen Konsens über die ak-
tuell von der Politik am dringendsten zu lösenden Probleme herstellt (siehe oben). Da
im demokratischen politischen Prozess unterschiedliche Standpunkte vorgebracht, dis-
kutiert und vermittelt werden, scheint eine Konflikthaltigkeit von Themen augenschein-
lich, wenn auch nicht zwingend. Auch hier ist die betrachtete Themen-Hierarchieebene
zu berücksichtigen, Themenfelder wie Außenpolitik sind nicht per se konflikthaltig.
Nach den genannten Einschränkungen erscheint uns die Definition von Dearing und
Rogers (1996, S. 3) von Issues als „social problem, often conflictual, that has received
mass media coverage“ als Minimalkonsens.
Auch über die Operationalisierung des zweiten Kernkonstrukts Salience besteht kei-
nesfalls Einigkeit. Weit verbreitet ist die synonyme Bezeichnung als Wichtigkeit: „Sa-
lience is the degree to which an issue on the agenda is perceived as relatively important“
174 Kristin Bulkow & Wolfgang Schweiger
(Dearing & Rogers 1996, S. 8). Salience kann zunächst also als eine (zugeschriebene) Ei-
genschaft eines Themas verstanden werden. Im Agenda Setting-Konzept ist die Wich-
tigkeit eines Themas zunächst auf zwei Seiten bedeutend: (1) Die Wichtigkeit, die Me-
dien einem Thema beimessen, und (2) die Wichtigkeit, die das Publikum dem Thema
zuschreibt. Auf der Medienseite wird die Wichtigkeit häufig über die Häufigkeit der Be-
richterstattung über ein Thema sowie Umfang, Aufmachung, Platzierung von Beiträgen
(gemeinsam als Beachtungsgrad bezeichnet) oder Kombinationen aus diesen Merkmalen
operationalisiert. In diesem Zusammenhang scheint die Übersetzung mit ‚Salienz‘ im
Sinne von ‚hervorstechend‘ angemessen. Auf der Publikumsseite unterscheiden manche
Forscher zwischen Salienz und Importanz (Eichhorn 1996, S. 11; Takeshita 2005). The-
men, die salient im Sinne von ‚kognitiv verfügbar‘ sind, erhält man in Befragungen als
spontane Antwort auf die klassische offene Agenda Setting-Frage „What are the most
important problems facing the USA today ?“. Die Einschätzung der Themenbedeutung
mittels vorgegebener Themenliste und Likert-Skala misst dagegen deren Importanz als
affektiv geprägte Einschätzung (Trommsdorf & Schuster 1981, S. 737). Darüber hinaus
lassen sich auf Rezipientenseite verschiedene Dimensionen der Themenwichtigkeit un-
terscheiden. Atwater et al. (1985) differenzieren vier Zielgrößen:
1. Perceived media salience bezeichnet die Wahrnehmung der Wichtigkeit, die einem
Thema in den Medien zukommt.
2. Interpersonal issue salience steht für das Ausmaß, in dem in der Alltagskommunika-
tion über ein Thema geredet wird.
3. Perceived issue salience bezieht sich auf die wahrgenommene Wichtigkeit eines The-
mas in der bzw. für die Öffentlichkeit.
4. Intrapersonal issue salience ist die individuelle Relevanz eines Themas für den einzel-
nen Rezipienten.
2.3 Agenda
Eine Agenda konstituiert sich aus den beiden zuvor erläuterten Konzepten, den Themen
und ihrer Wichtigkeit: „An agenda is a set of issues that are communicated in a hierar-
chy of importance at a point in time“ (Dearing & Rogers 1996, S. 2). Prinzipiell werden
drei verschiedenen Agenden unterschieden (S. 5 f.):
1. Die Media Agenda (Tagesordnung der Medien bzw. Medienagenda) bezeichnet die
Rangordnung der von den Massenmedien als wichtig erachteten Themen; sie wird
zumeist über quantitative Inhaltsanalysen erhoben.
Agenda Setting – zwischen gesellschaftlichem Phänomen und individuellem Prozess 175
Der Begriff der Tagesordnung verweist dabei bereits implizit auf den dynamischen Cha-
rakter einer Agenda. Ganz allgemein kann man davon ausgehen, dass die drei Agenden
verschiedene Halbwertszeiten besitzen. Am größten dürfte der Kontrast zwischen Me-
dienagenda und politischer Agenda sein, der mit Meyer (2002, S. 8) auf dem zentralen
Unterschied zwischen politischer Prozesslogik und der medialen Selektions- und Dar-
stellungslogik beruht. Die langsame politische Prozesszeit einerseits und die schnelle
Reaktionszeit der Massenmedien andererseits lassen dabei auch Rückschlüsse auf die
Trägheit der jeweiligen Agenden zu. Während Themen relativ lange auf der politischen
Agenda stehen können, selektieren Medien ihre Inhalte tagesaktuell und können heute
quasi in Echtzeit berichten. Die Medienagenda ist dadurch wesentlich schnelllebiger
und volatiler. Hier stehen Themen im direkten Wettbewerb um die begrenzte Aufmerk-
samkeitskapazität der Medien (vgl. Brosius & Kepplinger 1995). Auch die Kapazität der
Publikumsagenda ist limitiert – und je nach empirischem Zugriff (z. B. offene Nennung
vs. Rating einer Themenliste) unterschiedlich groß. Daraus resultiert auch hier ein Wett-
bewerb unterschiedlicher Themen um die Aufmerksamkeit des Publikums (ebd.). Die
drei vorgestellten Agenden sind nicht nur in sich dynamisch, sie interagieren auch un-
tereinander (vgl. Abbildung 1).
Jeder der drei Agenden kann eine Forschungstradition zugeordnet werden (Dea-
ring & Rogers 1996: 5 f.).
1. Die zentrale abhängige Variable des Media Agenda Setting (auch Agenda Building,
Lang & Lang 1981) ist die Wichtigkeit von Themen auf der Medienagenda. In dieser
Forschungstradition geht es in erster Linie um die Frage, wie gesellschaftliche Ak-
teure mit Eigeninteressen (Politik, Wirtschaft, Institutionen usw.) die Medienagenda
mit Hilfe von PR-Aktivitäten beeinflussen können; in der PR-Praxis ist auch von Is-
sues Management die Rede.
2. Das Public Agenda Setting entspricht dem klassischen Agenda Setting und fokussiert
die Wichtigkeit von Themen für die Öffentlichkeit bzw. die Bürger. Als wesentliche
Einflussfaktoren gelten neben den Medien die unmittelbar wahrnehmbare Realität
(z. B. Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörungen) und die politische Agenda.
176 Kristin Bulkow & Wolfgang Schweiger
Eigene Darstellung in Anlehnung an Dearing & Rogers (1996, S. 5) und Rössler (1997, S. 82).
3. Im Policy Agenda Setting geht es darum, welche Faktoren die politische Agenda
determinieren; zentrale Einflussfaktoren sind Realität, Medienagenda und Publi-
kumsagenda.
1. Die wahrgenommene Medienagenda steht für die vom Publikum erkannte Themen-
rangliste der Medienberichterstattung.
2. Die interpersonale Agenda umfasst Themen, die in der interpersonalen Kommuni-
kation dominieren.
3. Die wahrgenommene Gesellschaftsagenda bezieht sich auf die von Bürgern angenom-
mene Wichtigkeit von Themen in der bzw. für die Öffentlichkeit.
4. Die intrapersonale Agenda bezeichnet die persönliche Gewichtung der Themen ent-
sprechend der jeweils individuellen Bedeutung.
Agenda Setting – zwischen gesellschaftlichem Phänomen und individuellem Prozess 177
Der Agenda Setting-Ansatz geht von einem „transfer of salience from the news media
to the public“ (McCombs 2004, S. 143) aus und ist somit zunächst als relativ einfaches
Kausal-Modell konzipiert (Uekermann & Weiß 1983, S. 70). McCombs (1977) differen-
ziert drei bekannte Wirkungsmodelle zur Untersuchung des Zusammenhangs zwischen
Medien- und Publikumsagenda, welche die Wirkungsdimensionen näher benennen.
Das Awareness-Modell wird zuweilen als relativ simpel bewertet (McCombs 1977, S. 10).
Allerdings sind menschliche Aufmerksamkeitsprozesse voraussetzungsvoll und stark in-
dividuell geprägt (vgl. Hannah Früh in diesem Band), weshalb nicht jedes berichtete
Thema die Aufmerksamkeit der Rezipienten gleichermaßen auf sich zieht (Eichhorn
1996, S. 15). Obwohl im Salience-Modell prinzipiell einzelne Themen fokussiert werden,
lassen sich auch Themenkonkurrenzsituationen beschreiben. In der Medienbericht-
erstattung stärker betonte Themen sollten etwa wichtiger eingeschätzt werden als weni-
ger stark hervorgehobene Themen. Deshalb kann man beim Salience-Modell bereits von
Themenstrukturierung sprechen (Uekermann & Weiß 1983, S. 71), auch wenn das Mo-
dell die Konkurrenz zwischen Themen nicht explizit thematisiert. Konkreter erfolgt dies
im Priorities-Modell. Der Vergleich von Themenagenden mag auf aggregiertem Daten-
niveau sinnvoll sein. Für Agenda Setting auf Individualniveau ist die Angemessenheit
des Wirkungsmodells, das von einer weitgehenden Anpassung der Publikumsagenda
an die Medienagenda ausgeht, allerdings fraglich (Erbring et al. 1980, S. 18). Eichhorn
(1996, S. 16) führt dazu an, dass die Kognitionspsychologie keine Hinweise darauf fin-
den konnte, dass Menschen über kognitive Strukturen in Form solcher Themenrang-
listen verfügen, weshalb die Validität solchen Erhebungen zumindest zu diskutieren ist.
178 Kristin Bulkow & Wolfgang Schweiger
3.2.1 Medieneigenschaften
3.2.2 Themeneigenschaften
Im Zusammenhang mit Agenda Setting sind zunächst die formalen Eigenschaften von
Themen bzw. ihrer Mediendarstellung als zentrale unabhängige Variablen von Interesse.
Insbesondere prominent platzierte und mit visuellen Gestaltungsmitteln berichtete The-
Agenda Setting – zwischen gesellschaftlichem Phänomen und individuellem Prozess 179
1. Krisen betreffen fundamentale Interessen eines Landes und / oder seiner Bevölkerung
und sind zeitlich begrenzt. Verlaufsphasen wie Beginn, Mitte und Ende lassen sich
klar abgrenzen.
2. Bei symbolischen Krisen ist das nicht der Fall. Es handelt sich hier um bereits länger
eingeführte Probleme, für die in naher Zukunft auch keine Lösung abzusehen ist.
Durch eine Kombination von Ereignissen und den Reaktionen der Regierung, der
Bevölkerung und der Medien können sie zeitweise Krisenstatus erlangen.
3. Probleme sind ebenfalls längerfristiger Natur und können im Zeitverlauf, gelegent-
lich auf dramatische Weise, ihre Bedeutung verändern. Die Besorgnis der Öffentlich-
keit ist hier besonders groß.
4. Bei Nicht-Problemen handelt es sich ebenfalls um längerfristige soziale Probleme, die
sich auch in der Medienberichterstattung wiederfinden, jedoch nur auf geringes öf-
fentliches Interesse stoßen.
eine pauschale Dichotomie ‚aufdringlich‘ vs. ‚unaufdringlich‘ unzureichend ist. Die Auf-
dringlichkeit beschreibt weniger eine eigenständige Eigenschaft eines Themas als viel-
mehr die Beziehung zwischen individuellen Rezipienten und einem Thema. Die dispa-
raten Befunde zu beiden Wirkungsmodellen resultieren demnach möglicherweise aus
einer mangelnden Einbeziehung von Rezipienteneigenschaften.
3.2.3 Rezipienteneigenschaften
Als Voraussetzung für den Nachweis von individuellem Agenda Setting gilt – wie für alle
anderen Medienwirkungen auch – der Kontakt einer Person mit Medienthemen. Die
Mediennutzung des Individuums rückt somit zunächst in den Mittelpunkt des Interes-
ses, steigt doch mit zunehmender Mediennutzung die Wahrscheinlichkeit, mit medial
vermittelten Themen in Kontakt zu kommen (Erbring et al. 1980). Allerdings hat sich ge-
zeigt, dass das bloße Ausmaß der Mediennutzung wenig Erklärungskraft hat (Hill 1985,
S. 349), und auch ein indirekter Kontakt mit Medienthemen, etwa über persönliche Ge-
spräche, zu Agenda Setting-Effekten führen kann (Krause & Gehrau 2007). Im Allge-
meinen stellt die interpersonale Kommunikation eine der wichtigsten Einflussvariablen
dar. Allerdings ist der konkrete Themenbezug zu berücksichtigen. Studien, die die In-
halte persönlicher Gespräche ausblenden, indem sie beispielweise nach der allgemeinen
Kommunikation über Politik fragen, führen oft zu widersprüchlichen Ergebnissen. Bei
der Berücksichtigung des konkreten Themenbezugs zeigt sich dagegen, dass Rezipien-
ten ein Thema umso wichtiger erachten, je mehr sie über dieses Thema sprechen, und
umgekehrt (z. B. Rössler 1997, S. 294).
Wie bereits angedeutet, spielt auch die persönliche Beziehung eines Rezipienten zu
einem Thema eine bedeutende Rolle. Diese Beziehung wird über verschiedene Kon-
strukte etwa des ‚Involvements‘, der ‚Betroffenheit‘ (ebd.: S. 170) oder auch der ‚issue
sensitivity‘ (Erbring et al. 1980, S. 32 f.) modelliert. Alle diese Konstrukte erfassen, inwie-
fern ein Thema die Lebenswelt der Rezipienten potenziell oder tatsächlich berührt. Be-
steht eine persönliche Beziehung zwischen Rezipient und Thema, sind stärkere Agenda
Setting-Effekte zu erwarten. Die in der Agenda Setting-Forschung am häufigsten unter-
suchte Rezipienteneigenschaft, das Orientierungsbedürfnis (Weaver 1977), ist ein zwei-
dimensionales Konstrukt, das die persönliche Relevanz und die Unsicherheit eines Re-
zipienten bezüglich eines Themas kombiniert. Hier wird gemeinhin ein eher indirekter
Effekt erwartet, der aus einer verstärkten Mediennutzung bei hohem Orientierungs-
bedürfnis resultiert (ebd.).
Auch das Vorwissen von Rezipienten zu einem Thema ist eine relevante Einfluss-
größe. Hierzu gibt es in der Forschungsliteratur wiederum zwei widersprüchliche An-
nahmen. Die erste Annahme geht davon aus, dass umfangreicheres Wissen und bessere
kognitive Fähigkeiten Rezipienten resistenter gegen Medienwirkungen und damit auch
gegen Agenda Setting machen. Die zweite Annahme argumentiert, dass Menschen mit
größerem Vorwissen und umfassenderen kognitive Strukturen Informationen leichter
Agenda Setting – zwischen gesellschaftlichem Phänomen und individuellem Prozess 181
3.2.4 Umweltfaktoren
Die bisherige Agenda Setting-Forschung lässt sich anhand von zentralen Eigenschaften
der Studien strukturieren. McCombs (2004, S. 30 – 35) berücksichtigt das Aggregations-
niveau der Daten (Aggregat- vs. Individualdaten) und die Anzahl der untersuchten The-
men (Einzelthema vs. Themenagenda). Je nach Merkmal ergeben sich dabei generelle
Einschränkungen zur Reichweite der Ergebnisse.
Zum Aggregationsniveau: Aggregatstudien prüfen Agenda Setting als gesellschaftli-
che Medienfunktion. Nach Weaver (1984. S. 683) lässt sich Agenda Setting damit jedoch
182 Kristin Bulkow & Wolfgang Schweiger
lediglich abbilden, aber nicht erklären. Denn Aggregatstudien erlauben keine Schlüsse
auf die Medienkontakte und Kognitionen des einzelnen Individuums (ökologischer
Fehlschluss, Rössler 1997, S. 96 f.), die für eine Erklärung nötig wären. Allerdings ba-
siert nur ein Viertel aller Agenda Setting-Studien (Huck 2009, S. 32) auf Individual-
daten. Während Aggregatstudien häufig deutliche Zusammenhänge zwischen Medien-
und Publikumsagenda nachweisen, fanden Individualstudien bislang keine oder nur
schwache Belege. Auch auf der Medienseite ist das Aggregationsniveau der Daten kri-
tisch zu hinterfragen. Insbesondere gilt dies dann, wenn Studien eine „supramediale
Agenda“ (Rössler 1997, S. 98) konstruieren, da naturgemäß nicht jeder Studienteilneh-
mer alle darin enthaltenen Medien gleichermaßen nutzt. Dies verweist wiederum auf
die Rolle von Dritt- und Störvariablen, die in Aggregatstudien kaum berücksichtigt wer-
den können (Brosius 1994, S. 276).
Zur Themenanzahl: Studien, die ein ganzes Spektrum an Themen untersuchen, he-
ben auf die unterschiedliche Bedeutung der Themen im Vergleich zueinander ab. Für
die Betrachtung ganzer Themenagenden bzw. mehrerer Themen spricht die Tatsache,
dass nur so der Wettbewerb zwischen Themen auf der Medien- und Rezipientenseite be-
trachtet werden kann (z. B. Brosius & Kepplinger 1995). Bei der Analyse einzelner The-
men kann dagegen den jeweiligen Issue-Eigenschaften besser Rechnung getragen wer-
den (so bereits Winter et al. 1982).
Kombiniert man die beiden soeben besprochenen Studienmerkmale, ergibt sich die
Acapulco-Typologie, die McCombs erstmals auf der ICA-Tagung im gleichnamigen Ort
2000 vorgestellt hat.
Single issue Perspective III: Natural history Perspective IV: Cognitive portrait
Die Wettbewerbs-Perspektive (I) konzentriert sich auf den Vergleich von kompletten
Themenagenden auf aggregiertem Datenniveau und entspricht der Untersuchungs-
anlage der Pionierstudie von McCombs und Shaw (1972). Themenranglisten des Publi-
kums, ermittelt als der Durchschnitt aller Befragungsteilnehmer, werden mit der The-
menrangliste aller untersuchten Medien verglichen. Hier finden sich teilweise extrem
starke Zusammenhänge; McCombs und Shaw (1972) selbst ermittelten zwischen den
Themen-Top-10 auf der Publikums- und Medienseite Rangkorrelationen nahe eins. Die
Agenda Setting – zwischen gesellschaftlichem Phänomen und individuellem Prozess 183
Bezeichnung ‚Competition‘ zielt auf den Wettbewerb der Themen um einen Platz auf der
Agenda ab (McCombs & Reynolds 2009, S. 5).
Die Automaten-Perspektive (II) stellt der Medienagenda die Agenden individuel-
ler Rezipienten gegenüber (siehe dazu auch Abschnitt 3.1). Als ‚Automaton‘ wird diese
Sichtweise „aufgrund ihrer wenig schmeichelhaften Perspektive auf das menschliche
Verhalten“ (McCombs & Reynolds 2009, S. 5) bezeichnet. Eichhorn (1996, S. 16) hat dar-
auf hingewiesen, dass bezweifelt werden muss, dass Rezipienten ihr Denken über Me-
dienthemen in Form kompletter Agenden organisieren. Die Validität solcher Studien
sollte daher kritisch hinterfragt werden.
Die Naturgeschichts-Perspektive (III) und Perspektive des kognitiven Portraits (IV)
konzentrieren sich auf Einzelthemen und deren Karrieren im Zeitverlauf. Die Pionier-
studie für Perspektive III ist Funkhousers (1973) Analyse der „Issues of the Sixties“, die
über sieben Jahre einzelne Medienthemen (erstmals erhoben mittels computergestütz-
ter Inhaltsanalyse) mit Gallup-Umfragen zur Publikumsagenda verglich (vgl. die Nach-
folgestudien von Schönbach 1982 und Brosius & Kepplinger 1995). In Perspektive IV
geht es um die Wichtigkeitseinschätzung eines Themas durch Rezipienten vor und nach
der Mediennutzung (McCombs & Reynolds 2009, S. 5), wozu sich Experimentaldesigns
anbieten (z. B. Iyengar & Kinder 1987; Bulkow & Schweiger 2012, dazu gleich mehr).
Auch wenn in den letzten beiden Perspektiven bereits eine dynamische Komponente
enthalten ist, kann prinzipiell jede der vier Perspektiven zusätzlich danach differenziert
werden, ob den Studien ein Längs- oder Querschnittsdesign zugrunde liegt (Huck 2009,
S. 32). Querschnittsstudien liefern lediglich Momentaufnahmen und werden dem dyna-
mischen Charakter des Agenda Settings (vgl. Abschnitt 2.3) damit nur begrenzt gerecht.
Auch sind kausale Aussagen über die Wirkungsrichtung lediglich in Längsschnittstu-
dien möglich.
Trotz der Fülle von Arbeiten sind die dem Agenda Setting zugrunde liegenden individu-
ellen Informationsverarbeitungsprozesse weitgehend ungeklärt. Nur acht Prozent aller
Agenda Setting-Studien nutzen Individualdaten im Längsschnittdesign und beleuchten
damit tatsächlich die individuelle Informationsverarbeitung (Huck 2009, S. 33). Auch
die theoretische Auseinandersetzung endet meist mit der lapidaren Feststellung, dass
Agenda Setting auf einem Lernprozess basiert. Mit Blick auf die Zielgröße des Ansat-
zes erscheint eine Anbindung an kognitive Lerntheorien unerlässlich (vgl. Bulkow &
Schweiger 2010 sowie im Überblick Hannah Früh in diesem Band).
Bemühungen in diese Richtung erfolgten spät (Iyengar 1990) und erst in Zusam-
menhang mit dem verwandten Priming-Konzept. Häufige und stark betonte Bericht-
erstattung über ein Thema führt demnach dazu, dass zugehörige Schemata bei den Re-
zipienten aktiviert werden und kognitiv leichter verfügbar sind. Bei der Frage nach den
184 Kristin Bulkow & Wolfgang Schweiger
wichtigsten Themen nennen Befragte dann auch solche, die „top of the head“ (Taylor &
Fiske 1978, S. 252), also leicht zugänglich sind (vgl. auch Kim et al. 2002). Bei dem Vor-
gang handelt es sich um einen relativ unbewusst ablaufenden Prozess. Kritisiert wird an
dieser Sichtweise, dass lediglich die Salienz, nicht jedoch die Wichtigkeit im Sinne von
Importanz gemessen wird (siehe Abschnitt 2.2). Nicht alle Themen, die Befragte ad hoc
reproduzieren, müssen sie für sich persönlich oder für die Allgemeinheit für wichtig
halten (vgl. Takeshita 2005).
Eine andere Perspektive bedient sich der Dual Processing-Theorien der Informa-
tionsverarbeitung (Bulkow et al. 2012; Bulkow & Schweiger 2012, im Druck). Deren Aus-
gangspunkt ist bekanntlich die Annahme, dass Rezipienten abhängig vom persönlichen
Themeninvolvement die Berichterstattung zu einem Thema unterschiedlich selektie-
ren und mit unterschiedlicher Gründlichkeit aufnehmen bzw. verarbeiten (vgl. als pro-
minentestes Beispiel das Elaboration Likelihood-Modell, ELM, von Petty & Cacioppo
1986). Legt man diese Überlegungen zugrunde, gelangt man zumindest für textbasierte
Nachrichten (Print oder Online) zu plausiblen Annahmen (siehe den idealtypischen
Ablauf in Abbildung 2):
großteils auf das Scannen der Beitrags-Teaser auf der Startseite und klicken gele-
gentlich die Beiträge selbst an, um die dortigen Inhalte zu scannen. Auf diese Weise
treffen die Rezipienten ein heuristisches Urteil über die Wichtigkeit der jeweiligen
Themen. Die periphere Route der Informationsverarbeitung wird bestimmt von
Cues1 wie der Häufigkeit der Berichterstattung über ein Thema, der Beitragsplatzie-
rung und -aufmachung sowie dem Umfang der Artikel. Auf diese Weise kann ein
anfangs eher desinteressierter Rezipient ein Thema, über das die Medien besonders
häufig und aufmerksamkeitsstark berichten, im Lauf der Zeit für immer wichtiger
halten oder zumindest in einer Befragung spontan als wichtig beurteilen – auch
wenn er / sie sich kaum mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Es ist allerdings zu
vermuten, dass dieser Salienz-Lerneffekt wieder recht schnell verschwindet, wenn
die anfangs intensive Berichterstattung (Phase 2) wieder abebbt (Phase 3).
• Bei hohem Themeninvolvement lesen Rezipienten entsprechende Beiträge häufiger,
verarbeiten sie kognitiv aufwändiger, indem sie die Inhalte mit eigenen Wissens-
beständen und Erfahrungen abgleichen (zentrale Route). Das Ergebnis ist ein ela-
borierteres Urteil über die Wichtigkeit des Themas. Da das Themeninvolvement (als
intervenierende Rezipientenvariable) stark mit der persönlichen Themensalienz bzw.
– treffender – Themenimportanz (als abhängiger Variable) korreliert, ist bei hoch
Involvierten ein Agenda Setting-Effekt aus zwei Gründen weniger wahrscheinlich als
bei gering Involvierten: Erstens weisen sie von Anfang an eine hohe Themensalienz
auf, so dass diese kaum mehr gesteigert werden kann (Deckeneffekt der empirischen
Messung). Zweitens wird ihre Informationsverarbeitung weniger von Medieninhal-
ten und dortigen Hinweisreizen determiniert, sondern eher von persönlichen Kennt-
nissen und Überzeugungen.
Bulkow et al. (2012) haben die soeben skizzierten Annahmen in einer mehrwelligen Pa-
nelstudie empirisch untersucht: Über einen Zeitraum von zwei Wochen hinweg besuch-
ten die Teilnehmer der Studie eine speziell erstellte Nachrichten-Website, auf der, ne-
ben realen Nachrichtenbeiträgen auch ein Experimentalthema berichtet wurde. Dieses
wurde hinsichtlich der Häufigkeit der Berichterstattung (täglich vs. gelegentlich), dem
Beachtungsgrad (Aufmacher vs. Kurzbericht) und dem Thementyp (Krise vs. Problem)
variiert. Im Abstand von mehreren Tagen wurden die Teilnehmer zu der Wichtigkeit
verschiedener Themen, u. a. der des Experimentalthemas, befragt.
Die Ergebnisse bestätigen die soeben getroffenen Annahmen: Personen, die sich in-
tensiv mit einem Thema beschäftigen, lassen sich nicht von dessen Betonung in der Be-
richterstattung beeinflussen, wenn sie ein Urteil über die Themenwichtigkeit fällen. Bei
Personen, die sich gar nicht aktiv mit dem Thema beschäftigen, tritt dagegen der klassi-
sche Agenda Setting-Effekt zu Tage. Die Interaktion zwischen Themeninvolvement und
Medienselektion / -rezeption mag in bisherigen Trend- und Panelstudien dazu geführt
1 Cues sind Schüsselattribute, die auch ein unaufmerksamer Leser beim Durchblättern schnell erfasst
186 Kristin Bulkow & Wolfgang Schweiger
haben, dass sich Agenda Setting-Effekte über alle Befragten hinweg und zu allen Mess-
zeitpunkten gegenseitig neutralisierten. Analysiert man hingegen eine Phase intensiver
Medienberichterstattung (Phase 1) bei niedrig involvierten Rezipienten, findet man dort
durchaus Effekte. Diese halten jedoch nicht lange an, so dass bei einer späteren Nach-
her-Befragung (nach Phase 2) der Agenda Setting-Effekt wieder verschwunden ist.
Der skizzierte Wirkungsverlauf verdeutlicht, warum ein Nachweis von Agenda Set-
ting auf der Individualebene bislang so schwierig war: Erstens muss ein Thema von den
Medien hochfrequent und intensiv berichtet werden, um bei Personen, die ursprünglich
einen geringen Themenbezug hatten, zumindest einen kurzfristigen Agenda Setting-Ef-
fekt hervorzurufen. Da der Effekt zweitens bei dieser Gruppe schnell wieder verschwin-
den kann, müssen die Befragungswellen exakt zum Verlauf der Rezipientensalienz pas-
sen. Befragt man zu früh, ist der Effekt zu schwach; befragt man zu spät, ist er bereits im
Abklingen. Bedenkt man die in Agenda Setting-Studien typischen Panelintervalle von
einem oder zwei Monaten, wird klar, dass man bei derart starren Messintervallen von
Glück sprechen kann, wenn man sich als Forscher zu Beginn für ein Thema entscheidet,
dessen Salienzentwicklung sowohl in den Medien als auch beim Publikum zum Mess-
intervall passt. Drittens braucht man nicht unerhebliche Stichprobengrößen, um eine
ausreichende Anzahl gering Involvierter über mehrere Wellen befragen zu können. Zu
allem Überfluss ist gerade in dieser Gruppe eine starke Panelmortalität zu befürchten,
denn wer sich für ein oder mehrere Themen nicht sonderlich interessiert, wird auch an
einer wiederholten Befragung dazu nur unwillig teilnehmen.
6 Fazit
Agenda Setting ist nicht ohne die Berücksichtigung der individuellen kognitiven Struk-
turen und der themenbezogenen Medienexposition – auch wenn diese nur vermittelt
über persönliche Gespräche erfolgen sollten – erklärbar. Bereits Cohen (1963, S. 3) er-
gänzte seine These, die Medien bestimmten weniger, was Menschen denken, sondern
eher, worüber sie nachdenken, um folgenden Zusatz:
„And it follows from this that the world looks different to different people, depending not
only on their personal interests, but also on the map that is drawn for them by the writers,
editors, and publishers of the papers they read.“
Dass Agenda Setting-Effekte auf der Mikroebene weniger stark ausgeprägt sind als im
Aggregat bzw. nur für bestimmte Themen nachweisbar sind, erklärt sich aus den in-
dividuell unterschiedlichen Prädispositionen, die zu abweichend starken Effekten füh-
ren. Durch die dennoch vorhandene Ähnlichkeit der Schemata zeigt sich im Aggregat
dann eine ‚zentrale Tendenz‘, was zu vermeintlich stärkeren Effekten führt (Rössler 1997,
S. 406). Abgesehen davon verstärkt sich der Zusammenhang von Variablen ohnehin mit
Agenda Setting – zwischen gesellschaftlichem Phänomen und individuellem Prozess 187
steigendem Aggregationsniveau der Daten, und auch der Einfluss persönlicher Gesprä-
che kann den vermeintlichen Medieneffekt hier steigern. Auf Individualniveau dagegen
können persönliche Gespräche über Medienthemen unterschiedliche Effekte nivellie-
ren, da so selbst Nichtnutzer von den Medienthemen erreicht werden (Maurer 2004,
S. 405 – 411).
Die jahrzehntelange Konzentration auf Agenda Setting als gesellschaftliches Phäno-
men hat somit vermutlich Erwartungen genährt, die an der Realität scheitern. Es spricht
vieles dafür, dass sich die Forschung von der Vorstellung verabschieden muss, ähnlich
starke Zusammenhänge wie auf der Gesellschaftsebene auch beim Individuum zu fin-
den. Die Untersuchung des individuellen Agenda Settings befindet sich noch im An-
fangsstadium. Solange die zugrunde liegenden Prozesse und deren Bedingungen nicht
geklärt sind, werden sich jedoch kaum Regelmäßigkeiten finden lassen. Die Versuche
der schlichten Replikation des Aggregateffekts auf Individualniveau ohne fundierten
kognitionstheoretischen Rahmen scheinen dabei jedenfalls in einer Sackgasse zu enden.
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190 Kristin Bulkow & Wolfgang Schweiger
Abstract Menschen orientieren sich an sozialen Modellen, eignen sich Verhaltensrepertoires und Ein-
stellungen an ihrem Beispiel an – oder grenzen sich davon ab. In erster Linie dienen reale Personen als
Modelle, doch im Zuge der Medialisierung des Alltags gewinnen auch mediale Vorbilder an Sozialisa-
tionskraft. Dabei wird v. a. die Übernahme von eher negativen Verhaltensmustern medialer Vorbilder
durch Heranwachsende kritisch betrachtet, und positive Aspekte des Modelllernens geraten oft in den
Hintergrund. Mediale Vorbilder wirken nicht auf alle Rezipienten gleich. Ob und wie eine Wirkung ein-
tritt, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, die eng mit der Persönlichkeit des Medienkonsumenten
und dem sozialen Kontext der Mediennutzung verknüpft sind. Bei der Beurteilung des Einflusspoten-
zials medialer Vorbilder auf Rezipienten spielt deshalb die Medienkompetenz eine maßgebliche Rolle.
1 Einleitung
bilder auf die Rezipienten wirken können und beschreiben die Prozesse der Soziali-
sation und der Mediensozialisation. Anschließend wird die Selbstverantwortung und
-regulierung des individuellen Medienverhaltens im Rahmen von Medienkompetenz
diskutiert. Denn ob und wie mediale Vorbilder auf den einzelnen Rezipienten wirken,
hängt von verschiedenen Faktoren ab.
Wenn wir im Alltag von Lernen sprechen, ist meist kognitives Lernen damit gemeint.
Dieser Bereich ist sehr vielfältig und umfasst mit Wissen, Vorstellungen und Überle-
gungen die Gesamtheit menschlicher Kognitionen. Zu den Ergebnissen kognitiven Ler-
nens zählen sowohl Wissenserwerb, Sprache, Begriffs- und Konzeptbildung, Handeln
als auch Problemlösen. Dabei werden Verbindungen zwischen einzelnen Teilen der ko-
gnitiven Struktur erstellt (Wissen wird aufgebaut), und es werden Verbindungen zwi-
schen Wissen und daraus abgeleiteter Aktivität aufgebaut (Handeln). Kognitives Lernen
kann auch als Informationsverarbeitung verstanden werden. Damit meint Informa-
tionsverarbeitung einen aktiven, subjektiven Strukturierungsprozess (vgl. Wagner et al.
2009, S. 33).
Beim Modelllernen zeigt sich der Übergang zwischen zwei Forschungsansätzen: dem
behavioristischen und dem kognitiven. Die Theorie des Modelllernens nach Albert Ban-
dura ging zunächst von der Frage aus, ob die Prinzipien des operanten Konditionierens
auch dann wirken, wenn man sie nicht selbst erfährt, sondern bei einem anderen Men-
schen oder am Modell beobachtet. Bandura erkannte im Laufe seiner Forschung, dass
die Art der Konsequenz, die das Modell erfährt, nur einer von mehreren Faktoren und
keine notwendige Voraussetzung für das Lernen am Modell ist. Beobachtungslernen er-
folgt also nicht rein instinktiv, sondern enthält Anteile von Informationsverarbeitung.
Dieser Übergang von der rein behaviouristischen zur kognitiven Interpretation des Mo-
delllernens zeigt sich auch in der Modellbezeichnung: Sprach man ursprünglich vom
Beobachtungslernen, setzte sich der Begriff der ‚sozial-kognitiven Lerntheorie‘ durch
(vgl. ebd.). Während die klassische Lerntheorie das menschliche Verhalten als Ergebnis
einer Reaktion auf Umweltimpulse ansieht, berücksichtigt Bandura in seiner Theorie in-
nere und soziale Prozesse als Einflussvariablen auf menschliches Lernen und Verhalten.
Bei Banduras Ansatz geht es einerseits um Lerntheorie und andererseits um Verhal-
tenstheorie. Er beschreibt, wie Personen lernen, und versucht zu erklären, weshalb sie
sich in bestimmter Weise verhalten. Das Beobachtungslernen ist kein passives Verhalten,
sondern ein aktives, auf das Urteil gegründetes und konstruktives Verhalten (vgl. Ban-
dura 1976, S. 217). Es gliedert sich in drei Teilprozesse:
1. Selektive Beobachtung: Dabei fokussiert der Lernende aus der Fülle an Umweltrei-
zen auf bestimmte Merkmale des Modellverhaltens. Bandura (1976, S. 24) schreibt
Werther, Soap Stars und Ego-Shooter-Helden: Das Einflusspotenzial medialer Vorbilder 193
Beim Modelllernen eignet sich ein Individuum als Folge der Beobachtung des Verhal-
tens anderer Individuen sowie der darauf folgenden Konsequenzen neue Verhaltenswei-
sen an, oder schon bestehende Verhaltensmuster werden angepasst und verändert (vgl.
Reimer et al. 2007, S. 200).
Betrachtet man nun Lernen am Modell im Zusammenhang mit medienvermittelten
Modellen, zeigen sich unterschiedliche Sichtweisen zur Wirksamkeit von Medien bzw.
ihrem Einfluss auf den Empfänger. Schon Bandura bezeichnete den Vorgang des Ler-
nens am Modell als das Auftreten einer Ähnlichkeit zwischen dem Verhalten eines Mo-
dells und dem einer anderen Person. Dabei gilt, dass das Verhalten des Modells als der
entscheidende Reiz für die Nachahmung wirkt. Bandura war überzeugt, dass mensch-
liches Verhalten nicht allein durch Reiz-Reaktions-Zusammenhänge zu erklären ist. In
seiner Bobo-Doll-Studie von 1963 filmte er, wie eine Person mit einem Hammer auf eine
Bobo-Doll1 einschlug. Den Film zeigte er anschließend einer Gruppe von Kindern im
Kindergartenalter. Diese wurden danach in ein Spielzimmer gebracht, wo sich kleine
Hämmer und auch eine Bobo-Doll befanden. Viele der Kinder schlugen ebenfalls auf
die Puppe ein und ahmten somit das Verhalten nach (Bandura et al. 1963, S. 4). Bei dem
Experiment zeigte sich, dass Kinder, denen ein sich aggressiv verhaltendes Modell2 prä-
sentiert worden war, in der darauf folgenden Spielsituation insgesamt deutlich mehr ag-
gressive Verhaltensweisen zeigten als Kinder, denen ein nicht-aggressives Modell oder
gar keines angeboten worden war. Diese Ergebnisse führten im Zusammenhang mit der
Wirkung von Fernsehgewalt und anderen Medien wie Videogames zu kontroversen Dis-
kussionen. Kritiklos wurde das Bobo-Doll-Experiment jedoch nicht beurteilt. Als be-
sonders problematisch wurde der Generalisierungsaspekt betrachtet. So sind Banduras
Befunde laut Theunert (1996, S. 40) nicht auf die alltägliche Fernsehrezeption von Kin-
dern übertragbar, weil sie in einer künstlichen und realitätsfernen Umgebung gewonnen
wurden. Zweitens seien sie nicht auf andere Altersgruppen übertragbar und drittens
1 Eine mit Luft gefüllte Puppe mit einem Gewicht an den Füßen.
2 Den Kindern wurden sowohl reale als auch mediale Modelle präsentiert.
194 Eveline Hipeli & Daniel Süss
hätten die Befunde keine Aussagekraft über das Verhalten der Kinder in der Realität, da
die Bobo-Puppe ein „denkbar ungeeignetes Äquivalent für reale Gewalttätigkeit“ (ebd.)
darstelle. Die bei Bandura angeführten Argumente seien kaum geeignet, die Stimula-
tionswirkung medialer Gewaltdarstellungen zu belegen.
Trotz Kritik konnte die Theorie Banduras im Rahmen einer Langzeitstudie weitge-
hend bestätigt werden (Eron 1994). Sie zeigte, dass Bestrafung bei aggressivem Verhal-
ten nur dann hemmend wirkt, wenn das Individuum diese als gerecht empfindet. Wenn
nicht, konnte eher ein Anstieg von Aggression verzeichnet werden. Dies bewog Bandura
zu einer Reformulierung seiner These: Nach der sozial-kognitiven Theorie überneh-
men Individuen nicht nur das Verhalten, sondern auch evaluative Standards, Gedan-
ken und Gefühle ihrer Modelle. Modelllernen als wichtige Lernform für den Menschen
erfolgt umso stärker, je mehr der folgenden Bedingungen erfüllt werden (vgl. Wagner
et al. 2009, S. 34):
Mit dem Lernen am Modell können komplexe Verhaltensweisen, wie etwa Bewegung,
Mimik, Gestik, sprachlicher Ausdruck, Rollenverhalten oder Kleidung rasch durch so-
zialen Kontakt übernommen werden. Gemäß der sozial-kognitiven Lerntheorie findet
dieses Lernen häufig informell statt. Jugendliche etwa müssen in ihrer Peergroup nicht
darüber diskutieren, ob Rauchen angesagt ist. Wenn diejenigen Personen der Gruppe,
die von den einzelnen Mitgliedern als Modelle akzeptiert werden, rauchen, dann findet
für dieses Modellverhalten häufig eine unbewusste Übernahme statt (vgl. Wagner et al.
2009, S. 34).
Ein weiterer Ansatz, die Kultivierungsthese, geht davon aus, dass die Wahrnehmung
der Welt davon geprägt wird, was Medien über die reale Welt präsentieren (vgl. den
Beitrag von Rossmann in diesem Band). Dies schürt Befürchtungen um die Selektions-
macht der Medien und zeigt gleichzeitig ihre Verantwortung gegenüber den Konsumen-
ten auf. Die amerikanischen TV-Serie ‚Mad Men‘ etwa geriet in Kritik, da in der darge-
stellten Werbeagentur der 1960er-Jahre ganz selbstverständlich Zigaretten geraucht und
hochprozentige Drinks zu jeder Tageszeit konsumiert werden. Daraufhin wurde die Al-
tersfreigabe der Serie auf 18 Jahre gesetzt. Auch am Beispiel der Trickfilmfigur Lucky
Luke wird deutlich, dass ein Einfluss des medialen Vorbildes auf Rezipienten angenom-
men wurde. Rauchte der Cowboy bis 1983 noch Zigaretten, wurde letztere später durch
einen Grashalm ersetzt (vgl. www.schnittberichte.com). Bei Medieninhalten dieser Art
sind es jedoch positive oder negative Umstände, unter denen der Konsum von Genuss-
Werther, Soap Stars und Ego-Shooter-Helden: Das Einflusspotenzial medialer Vorbilder 195
mitteln gezeigt wird, wie auch die Darstellung der medialen Vorbilder, die eine Nach-
ahmung eher begünstigen oder nicht (Borzekowski & Strasburger 2008, S. 446).
Lernstrategien bezeichnen unterschiedliche Wege, wie man sich etwas aneignen kann.
Heute strömen sehr viele Arten von Informationen und Reizen auf uns ein, weshalb
dem Einsatz effektiver Lernstrategien große Bedeutung zukommt, um Wichtiges von
Unwichtigem zu trennen (vgl. Wagner et al. 2009, S. 36). Das Individuum bzw. das Mo-
dell, das beim Beobachtungslernen beobachtet wird, braucht nicht körperlich anwesend
zu sein. In der heutigen Gesellschaft findet ein Großteil des Modelllernens durch die
Medien statt. Wir können Gedanken- und Handlungsstile von Personen lernen, denen
wir nie begegnet sind, sondern die wir nur im Fernsehen, im Internet oder in anderen
Medien beobachten.
Medien versorgen Menschen mit Identifikationsmöglichkeiten und Geschichten,
welche – zusammen mit Realerfahrungen – eine Basis für eine reflexive Identitätskon-
struktion bilden (vgl. Mikos et al. 2007, S. 13). Als förderlich für soziales Lernen am Mo-
dell gilt eine intensive Beziehung zu diesem. Während Identifikation und Imitation dazu
dienen, einem medialen Vorbild möglichst nahe zu sein, ist es die parasoziale Interak-
tion, die eine partnerschaftliche Auseindersetzung mit dem medialen Vorbild beschreibt
(vgl. Sander et al. 2008, S. 294).
Die Debatte darüber, ob Medienfiguren Vorbilder darstellen, respektive zur Nach-
ahmung ihres Verhaltens auf Seiten der Rezipienten führen, ist bereits in Bezug auf die
jüngsten Rezipienten, die Kinder, im Gange. Das Wissen um die Vor- und Nachteile
frühkindlichen Medienkonsums, hier geht es v. a. um das Fernsehen, ist limitiert (vgl.
Barr 2008, S. 106). Studien haben gezeigt, dass Kleinkinder im Alter von nur sechs Mo-
naten limitierte Aktionen innerhalb von 24 Stunden nachahmen können, die ihnen an-
hand von Videoaufnahmen präsentiert werden (Barr et al. 2008). Das Angebot an Kin-
dersendungen ist bereits für Unter-Dreijährige beachtlich, selbst für Babys ab sechs
Monaten gibt es in den USA ein 24-Stunden-Programm („Babyfirst TV“). Reichhaltig
fällt auch das Angebot bei der Zielgruppe der Über-Dreijährigen aus. Dies ist angesichts
der Beliebtheit des Fernsehens bei Kindern gleich nach dem Treffen mit Freunden und
dem Draußen-Spielen nicht überraschend (vgl. mpfs 2010, S. 11). Über die Frage, ob die
fröhlichen Teletubbies, die mutige Heidi, der vorlaute Pumuckl oder die unangepasste
Pippi Langstrumpf tatsächlich einen Einfluss auf das Verhalten von Kindern ausüben
und ob dieser Einfluss positiver oder negativer Natur ist, wird viel diskutiert. Während
sich ein kulturpessimistisches Lager bestehend aus Eltern und Pädagogen über die Tat-
sache empört, dass bereits Unter-Dreijährige vor den Fernseher gesetzt werden sollen,
zeigt sich ein kritisch optimistisches Lager froh darüber, dass überhaupt ein gewalt-
freies und als kindgerecht befundenes Programm angeboten wird. Was die Vorbildwir-
196 Eveline Hipeli & Daniel Süss
eine deutliche Häufung von Suiziden festgestellt werden. Mit einer derartigen Wirkung
seines Werkes hatte Goethe nicht gerechnet: „So verwirrten sich meine Freunde daran,
indem sie glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln […] und sich al-
lenfalls selbst erschießen: und was hier im Anfang unter Wenigen vorging, ereignete
sich nachher im großen Publikum“ (Goethes Dichtung und Wahrheit, 13. Buch, S. 588).
Dieser ‚Werther-Effekt‘ ist in der Medienwirkungsforschung ein viel beachtetes Phäno-
men (vgl. Ziegerl & Hegerl 2002, S. 41). Wissenschaftlich herrschte lange keine Einigkeit
darüber, ob solche Werther-Suizide nach Erscheinen von Goethes Roman tatsächlich
stattgefunden haben. Der amerikanische Soziologe David P. Philipps prägte schliesslich
1974 den Begriff und bezeichnete damit den Anstieg der Suizidrate nach der Veröffent-
lichung einer Selbsttötung einer prominenten Person. Seine Ergebnisse zeigten eindeu-
tig, dass im Anschluss an die journalistische Aufbereitung von Prominentensuiziden
die Rate in der Allgemeinbevölkerung statistisch signifikant anstieg. Je bekannter und
beliebter die Persönlichkeit, desto stärker der Effekt (ebd.). Philipps stellte eine Verbin-
dung zu Werther her, weil einige der Suizidenten sich ebenso wie die Figur des Werthers
kleideten und / oder Goethes Buch bei sich trugen. Studien, die sich nach Philipps mit
dem Werther-Effekt im 20. Jahrhundert befasst haben, stellten ebenfalls Zusammen-
hänge zwischen der medialen Berichterstattung über Selbstmorde und nachfolgende
Suizide fest (Schmidtke & Häfer 1986; Wassermann 1984).
Beim Werther-Effekt handelt es sich um eine Nachahmung eines medialen Vorbil-
des mit einem negativen Ausgang für den Nachahmer. Medien und mediale Vorbil-
der geraten in öffentlichen Debatten häufiger in die Lage des Beschuldigten (vgl. auch
den Beitrag von Schweiger in diesem Band). So lässt sich nach Gewalttaten und Amok-
läufen beobachten, dass oftmals ein Kausalzusammenhang zwischen dem Medienkon-
sum der Urheber dieser Taten und den Vorfällen hergestellt wird. Beim Schulmassaker
von Columbine (1999) wurden beispielsweise bei den zwei Tätern gewalthaltige Video-
spiele gefunden (vgl. Larkin 2002, S. 194). Ähnliche Kausalzusammenhänge wurden bei
den Attentaten in Oslo und der Insel Utøya im Juli 2011 angenommen. Dieses Mal wa-
ren es nicht ausschließlich Ego-Shooter, derer sich der Täter bedient haben soll, son-
dern die TV-Serienfigur „Dexter“ soll dem Attentäter Breivik als ‚Vorbild‘ gedient ha-
ben. Bei Dexter handelt es sich um eine fiktive Person, einen Forensiker der Polizei
von Miami, der tagsüber Tatorte sichtet und sich in der Nacht zum kaltblütigen Mörder
wandelt. Nach eigenen Angaben war Breivik ein Fan der Serie, was Spekulationen um
eine Vorbildwirkung der Serie entfachte (vgl. Helg 2011, S. 62). Dennoch kommen Stu-
dien über die Steigerung der Gewaltbereitschaft und Aggression nach dem Konsum von
Videospielen zu heterogenen Resultaten. Vor allem, was die Langzeiteffekte betrifft, gibt
es – in Bezug auf den Konsum von Videospielen – keinen eindeutigen Beleg (vgl. Kun-
czik & Zipfel 2006, S. 288; Bothe 2009). Im Bereich der gewalthaltigen Fernsehinhalte
und ihrer Langzeitwirkung auf Kinder und Jugendliche allerdings existieren Resultate,
die darauf hindeuten, dass es v. a. Kinder sind, die später im Erwachsenenalter von ei-
nem hohen TV-Gewaltkonsum in der Kindheit negativ beeinflusst werden und später
198 Eveline Hipeli & Daniel Süss
3 Ana und Mia stehen für Anorexia Nervosa und Bulimia Nervosa
Werther, Soap Stars und Ego-Shooter-Helden: Das Einflusspotenzial medialer Vorbilder 199
blematik hinweisen und dabei das politische Interesse der jungen Erwachsenen zumin-
dest kurzfristig wecken. Allerdings sind derartige positive Sozialisationseffekte eher bei
bereits intrinsisch an politischen Themen Interessierten zu erwarten.
Mit Blick auf Vorbilder wie die Medienstars, die aus Formaten wie „Dschungelcamp“,
„Big Brother“, „Germanys Next Topmodel“ oder weiteren Reality-TV-Formaten hervor-
gehen, wird das Wirkungpotenzial auf die Rezipienten angesichts der inhaltlichen Qua-
lität der Formate kontrovers diskutiert. Im Sommer 2011 schlug der bolivianische Präsi-
dent Evo Morales vor, die beliebten Telenovelas abzuschaffen, da die Darsteller schlechte
Vorbilder für die Bevölkerung seien und sie krank und untreu machen würden. Die
Schuld für eine höhere Scheidungsrate sei bei den Telenovelas zu suchen. Jüngst hat
eine Studie bestätigt, dass medial präsentierte ‚Dummheit‘ zumindest kurzfristig auf die
Konsumenten abfärben kann, wobei der Effekt nach Meinung des Autors umso stärker
ausfällt, je mehr sich die Rezipienten mit den gezeigten Medienfiguren identifizieren
können (Appel 2011). Daneben soll jedoch nicht vergessen werden, dass bei beliebten
Formaten wie Soap Operas oder Telenovelas auch sog. Idea Placement eingesetzt wer-
den kann, um die Rezipienten auf gesellschaftlich relevante Themen aufmerksam zu ma-
chen und positives und prosoziales Verhalten aufzuzeigen, ohne dass der Eindruck der
Belehrung entsteht (vgl. Müller 1997, S. 110).
Mediale Vorbilder präsentieren sich ihrem Publikum oft im Medienverbund. Ein
Beispiel dafür ist die Figur Harry Potter, die durch die Romanserie und deren Verfil-
mung weltweite Popularität erlangte. Stellt man sich den Zauberlehrling als soziales Mo-
dell vor, mit welchem sich die Rezipienten der Bücher und Filme identifizieren, werden
zwei Ebenen der Nachahmung deutlich. Die erste Ebene umschreibt die Nachahmung
konkreter Handlungen. Bei Harry Potter läge nahe, dass die Rezipienten versuchen, auf
einem Besen zu fliegen, was zu einer Häufung von Unfällen mit Besen führen müsste.
Grundsätzlich sind es jedoch Einzelfälle, wie jene, bei der Menschen nach einem Super-
man-Film aus dem Fenster gesprungen sind, im Glauben, auch fliegen zu können. Eine
zweite Ebene der Nachahmung eines Modells ist in der Loyalität, der Moral, der Freund-
schaft und dem Mut, scheinbar unlösbare Aufgaben anzugehen, zu suchen. Diese wer-
den als Botschaften in den Handlungen der Figuren angedeutet. Die Übernahme solcher
Botschaften und Verhaltensweisen zweiter Ebene ist wahrscheinlicher und dürfte stark
mit dem Grad der Identifikation mit dem medialen Vorbild zu tun haben. Ob das Ver-
halten von medialen Modellen übernommen wird, und wie dies geschieht, hängt von
Persönlichkeitsfaktoren des Rezipienten ab. Das soziale Umfeld, das intro- oder extro-
vertierte Wesen und die Vorlieben einer Person spielen letztlich eine große Rolle bei den
Motiven für die Wahl von Medieninhalten und dabei, ob Verhaltensmuster übernom-
men werden oder nicht. Die Wahrscheinlichkeit für eine spezifische Medienwirkung ist
nicht ausschließlich individuell bestimmbar: „Sozialisation, Familie, Gruppenbindun-
gen und persönliche Kommunikation liefern die Selektionskriterien für die Medien-
beurteilung. Das soziale Umfeld steuert Medienwirkungen. Es gibt gleichsam die Lesart
für Massenmedien vor“ (Berghaus 1999, S. 183).
200 Eveline Hipeli & Daniel Süss
Die zentralen Fragen der Sozialisation lauten: Woher komme ich, wer bin ich, wohin
will ich, zu wem gehöre ich, von wem grenze ich mich ab ? Die Orientierung an Vorbil-
dern ist ein zentraler Bestandteil der Sozialisation. Das Individuum setzt sich in der So-
zialisation aktiv mit seiner sozialen Umwelt auseinander, erfährt, was es bedeutet, be-
stimmte Rollen zu übernehmen und sich in die Gesellschaft einzufügen. Sozialisation
ist kein passiver Prozess der Anpassung, sondern ein aktiver Prozess der Gestaltung von
sozialen Rollen (vgl. Andresen & Hurrelmann 2010, S. 44).
Die Geschlechterrollen von Mann und Frau werden beispielsweise nicht einfach von
Modellen kopiert, sondern im Rahmen der Spielräume, welche eine Gesellschaft ge-
währt, nach individuellen Potenzialen und Präferenzen ausgestaltet. Vorbilder aus dem
sozialen Nahraum werden genau beobachtet und miteinander verglichen. Kann eine
vertrauensvolle Beziehung aufgebaut werden, dann streben Kinder danach, ihren Be-
zugspersonen nachzueifern. Ist die Beziehung unsicher oder ambivalent, so kann die
Auseinandersetzung mit der Bezugsperson aber gerade dazu führen, dass der Soziali-
sand sich möglichst stark andersartig entwickeln und definieren möchte.
Mit dem zunehmend größer werdenden Aktionsradius des Heranwachsenden kom-
men zu den Zwangsgemeinschaften immer mehr Wahlgemeinschaften hinzu. Die ers-
ten Bezugspersonen (Mitglieder der Kernfamilie) konnte sich das Kind ja nicht selber
auswählen, sondern es wurde mit Menschen und ihren Eigenheiten und Erwartungen
konfrontiert, denen es auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Eine der ersten Sphären,
in denen ein Kind sich mit selbstgewählten sozialen Vorbildern umgeben kann, sind
die Medien. In der Suche nach medialen Heldenfiguren schaffen sich die jungen Rezi-
pienten Identifikationsoptionen, die sie wie einen Steinbruch dazu nutzen, um an ihrem
Selbst-, Menschen- und Weltbild zu bauen. Mediensozialisation bedeutet, dass zentrale
Entwicklungsaufgaben mit Hilfe von Medienfiguren, -geschichten und -nutzungsmus-
tern bearbeitet werden, um die eigene Identität zu entwickeln (vgl. Süss 2004). Neben
den vieldiskutierten negativen Effekten, welche Medien auf Menschen ausüben können,
Werther, Soap Stars und Ego-Shooter-Helden: Das Einflusspotenzial medialer Vorbilder 201
geraten positive Lerneffekte durch mediale Vorbilder oft in den Hintergrund. Ebendiese
sind zwar gerade für Jugendliche wichtig, aber selten Vorlage kritikloser Nachahmung.
Vielmehr entdecken sie in ihrer Entwicklungsphase der Pubertät mit der Hilfe medialer
Vorbilder ihre eigenen Vorlieben, was der Identitätsfindung dienlich ist (vgl. Barthelmes
2001, S. 86). Sie stellen gewissermaßen ‚navigation points‘ dar, wobei die Heranwach-
senden noch immer stärker von den klassischen Sozialisationsinstanzen wie Familie,
Freunde und Schule geprägt werden (Gauntlett 2002, S. 282).
Mediensozialisation umfasst die Entwicklungsaufgabe, Medienkompetenz auf-
zubauen, um ein voll handlungsfähiges Mitglied einer Mediengesellschaft zu werden.
Mediensozialisation verläuft dann erfolgreich, wenn das Individuum seine Medien-
erlebnisse so verarbeiten kann, dass es sich selber dabei als authentisch erlebt und sein
Weltbild an Kohärenz gewinnt. Mediennutzung geschieht oft in sozialen Kontexten. Die
Interpretation von Medienfiguren und -geschichten ist damit meist das Produkt einer
Interpretationsgemeinschaft. Zuerst sind es primär die Eltern und nahen Verwandten,
danach zunehmend die Gleichaltrigen und Fachpersonen aus professionellen pädagogi-
schen Kontexten. Eltern und professionelle Erziehende konfrontieren die Sozialisanden
mit unterschiedlich engen Sozialisationsnormen. Sofern sie über Sanktionsmöglichkei-
ten verfügen, können sie die Heranwachsenden also unter Druck setzen, diesen Normen
möglichst nahe zu kommen. Allerdings ist das tragende Fundament, welches Gehorsam
auslöst, nicht die Sanktionsandrohung, sondern die Bindung (vgl. Largo 2010). Da die
Medien über keine Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Sozialsanden verfügen, spei-
sen sie ihre Autorität ganz aus der Bindung und Faszination, welche sie bei den Rezi-
pienten wecken können. Parasoziale Interaktionen führen zu parasozialen Beziehungen
zu Medienfiguren (vgl. den Beitrag von Döring in diesem Band). Diese können eine
wichtige Rolle als Sozialisatoren zugebilligt erhalten, wenn sich das Individuum allein
oder im Rahmen einer Fangemeinschaft mit den Attributen und Verhaltensweisen dieser
Figuren auseinandersetzt. Fangemeinschaften können über längere Zeit Bestand haben,
sie können aber auch plötzlich auseinanderbrechen, was darauf hindeuten würde, dass
die Entwicklungsaufgaben, für welche die medialen Vorbilder standen, bewältigt wor-
den sind und daher an Anziehungskraft verloren haben. Identitätsentwicklung verläuft
über Suchbewegungen, die manchmal heftige Ausschläge umfassen können. Phasen-
weise kann eine Identität in maßloser Übersteigerung von einem Vorbild kopiert und da-
nach wieder verworfen werden, bis schließlich die gefestigte Identität sich herausgebildet
hat. Diese kann zu einem späteren Zeitpunkt durch ein kritisches Lebensereignis – einen
Schicksalsschlag oder eine Überforderungssituation – wieder destabilisiert werden und
so im Sinne einer Spirale auf einem höheren Niveau wieder zu einem neuen Gleichge-
wicht streben. Reale soziale und mediale Vorbilder werden dabei zu Gefährten, welche
den eigenen Weg ebnen oder in ein neues Licht rücken.
202 Eveline Hipeli & Daniel Süss
Sprechen wir über Medienkompetenz, geht es stets um die Gestaltung und Nutzung von
Medien, aber auch um eine kritische Betrachtung von Medien und ihrer Produktions-
bedingungen sowie die Anschlusskommunikation über sie (vgl. Baacke 1997; Groeben &
Hurrelmann 2002, S. 179). Im Folgenden werden diese Dimensionen von Medienkom-
petenz in Zusammenhang mit Modelllernen am medialen Vorbild betrachtet.
Die Mediennutzung gehört zum Alltag aller Altersgruppen. Dabei kann aufgrund
hoher Nutzungszeiten und heterogenem Medienbesitz fälschlicherweise das Bild entste-
hen, dass Medien viele alternative Aktivitäten des Lebens verdrängen. Diese Vermutung
lässt sich empirisch jedoch nicht erhärten, denn obschon die Medien in der einen oder
anderen Form die Menschen heute ständig begleiten, werden medienfreie Tätigkeiten
nicht aufgegeben. Der Zusammenhang zwischen dem Konsum von medialen Inhalten
kann nicht losgelöst von anderen Aktivitäten in der Schule oder in der Freizeit beur-
teilt werden. Zur Beurteilung von Medienwirkungen ist die individuelle Persönlichkeit
der Rezipienten entscheidend. Vor allem Gewaltdarstellungen in den Medien sollten
aufgrund ihrer Vielfältigkeit und Kontextabhängigkeit differenziert betrachtet werden.
Zum Beispiel hängt die Wirkung einer Gewaltszene, ausgeübt durch mediale Vorbilder,
auf jugendliche Medienkonsumenten nicht nur vom Medium und dessen Realitätsbezug
ab, sondern auch von den Nutzungsbedingungen. Gerade digitale Verbreitungsmög-
lichkeiten über das Internet machen es für den Gesetzgeber zunehmend schwierig, den
Jugendmedienschutz über Altersbeschränkungen zu regeln. Als wirksamste Strategien
zur Verhinderung negativer Wirkungen von Mediengewalt gelten eine verstärkte Me-
dienbildung ab dem Grundschulalter sowie Bemühungen um eine Sensibilisierung der
Eltern. Denn sie können ihr Kind nicht nur zu einem risikoreduzierten und positiven
Medienumgang anleiten; sie sind in ihrer Elternrolle auch automatisch selbst Modelle,
anhand derer ihre Kinder den Umgang mit Medien erlernen und imitieren.
Kinder im Grundschulalter sollten möglichst von nicht-altersgerechten Medienan-
geboten ferngehalten werden. Intrafamiliäre Regeln im Medienumgang und Filtermaß-
nahmen bei Games und bei der Internetnutzung sollten wo immer möglich eingesetzt
werden. Dies allerdings im Wissen, dass diese Maßnahmen früher oder später nicht
mehr greifen. Aus diesem Grund ist die Vermittlung von Medienkompetenz von klein
auf elementar. Sobald ein Medium ins Leben eines Kindes tritt, sollte der Umgang da-
mit zu Hause und später auch in der Schule ein Thema sein. Je jünger das Kind, desto
stärker sollte es bei seiner Mediennutzung begleitet werden. Die dargestellten Inhalte
bedürfen oft einer Erklärung oder Einordnung durch eine erwachsene Bezugsperson.
Eine kritische Sichtweise auf Medieninhalte und die Absichten der Anbieter kann sich
nur entwickeln, wenn ein Individuum sich mit den Produktionsbedingungen vertraut
macht. Deshalb ist die Anschlusskommunikation über das Gesehene und Erlebte mit
Eltern oder Peers bereits für Heranwachsende elementar, damit sie sich eine Meinung
darüber bilden können, was der Realität entspricht und was nicht. Das Verhalten me-
Werther, Soap Stars und Ego-Shooter-Helden: Das Einflusspotenzial medialer Vorbilder 203
dialer Vorbilder kann auf diese Weise einer Reflexion unterzogen werden, und die Her-
anwachsenden lernen, das Gezeigte kritisch zu interpretieren. Bei älteren Kindern, die
sich mehr zur Peergroup hin wenden, tun Bezugspersonen gut daran, die medialen Ge-
wohnheiten der Heranwachsenden im Auge zu behalten, auch wenn die Digital Natives
von heute mit ihrer Mediennutzung den Digital Immigrants überlegen zu sein scheinen.
Die Vermittlung von Medienkompetenz ist nicht nur eine Grundverantwortung von
Eltern und anderen Bezugspersonen. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, bei der
nicht zuletzt der Staat die kontrollierte Selbstkontrolle der Medienanbieter überwachen
sollte. Auch die Medienanbieter haben ihren Teil beizutragen, dass Medieninhalte im
Rahmen der Altersrichtlinien zugänglich gemacht werden. Medienkompetenz bedeutet
auch nicht zwingend, technisch auf gleicher Augenhöhe mit den Heranwachsenden von
heute zu stehen. Medienkompetenz heißt: Medien risikoreduziert, kritisch, kreativ und
bedürfnisgerecht nutzen zu können, und zwar auf eine Art und Weise, die dem Indivi-
duum und auch seiner realen und virtuellen sozialen Umwelt zu Gute kommt. Im Hin-
blick auf das Wirkungspotenzial medialer Vorbilder bedeutet das, dass ein Rezipient das
Verhalten des Vorbildes zu hinterfragen vermag. Die kritische Reflexion ermöglicht im
Idealfall eine Überprüfung des eigenen Verhaltens, um zu erkennen, in welchem Aus-
maß dieses von medialen Vorbildern beeinflusst wird.
Aus diesem Grund kann Medienkompetenz als grundlegende Kompetenz verstan-
den werden, um von den positiven Wirkungspotenzialen von Medien überhaupt profi-
tieren zu können – und den negativen möglichst wirksam beizukommen.
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Kultivierungsforschung:
Idee, Entwicklung und Integration
Constanze Rossmann
Abstract Die Kultivierungsforschung befasst sich mit der Frage, in wie weit das Fernsehen Realitäts-
wahrnehmung und Einstellungen der Zuschauer langfristig formt. Seit ihrer Begründung durch George
Gerbner Ende der 1960er Jahre untersuchten Forscher die verschiedensten Themenbereiche, setzten
sich mit der Bedeutung selektiver Fernsehnutzung auseinander und prüften Einflüsse von Rezipienten-
merkmalen. Eine ganze Reihe von Studien versucht, Kultivierungseffekte psychologisch zu erklären, an-
dere beziehen die Verarbeitung narrativer Inhalte mit ein. Zunehmend lassen sich Integrationsversuche
mit anderen Medienwirkungstheorien finden. Nach einem kurzen Abriss der Ursprünge und Kritikpunk-
te der Kultivierungsforschung setzt sich der vorliegende Beitrag mit aktuellen Themen und Befunden,
Wirkungsarten und -determinanten, Erklärungsansätzen und Integrationsversuchen auseinander, um
abschließend den Forschungsstand, auch angesichts neuer Medientechnologien, kritisch zu beleuchten.
Schlagwörter Fernsehen, Kultivierung erster und zweiter Ordnung, heuristische und systematische
Urteilsbildung, online und erinnerungsgestützte Urteile, Transportation
1 Einführung
Mit der Frage, inwieweit das Fernsehen das Realitätsbild der Zuschauer beeinflusst, be-
schäftigt sich die Kommunikationswissenschaft schon seit der Einführung des Fernse-
hens. Seit Ende der 1960er-Jahre lässt sich ein Großteil dieser Debatte theoretisch in der
Kultivierungsforschung verorten. Diese geht von einem Einfluss des Fernsehens auf Rea-
litätswahrnehmung und Einstellungen der Zuschauer aus. Konkret postuliert sie, dass
Vielseher die Realität eher so wahrnehmen, wie sie im Fernsehen dargestellt wird, wäh-
rend Wenigseher in ihrer Realitätswahrnehmung der tatsächlichen Realität näher kom-
men. Zahlreiche Forscher haben sich seit Begründung der Kultivierungsforschung mit
dieser Hypothese auseinandergesetzt. Sie wendeten sie auf die verschiedensten Themen-
bereiche an, setzten sich mit der Bedeutung der Fernsehbotschaft auseinander und prüf-
ten Einflüsse von Rezipientenmerkmalen und Rezeptionsmodalitäten. Insgesamt wurden
über 500 Kultivierungsstudien publiziert, ein Viertel davon allein seit Beginn des Jahr-
tausends (Morgan & Shanahan 2010). Damit zählt die Kultivierungshypothese zu den
drei meistzitierten Ansätzen der Kommunikationswissenschaft (Bryant & Miron 2004).
2.1 Grundidee
Die Kultivierungsforschung wurde Ende der 1960er Jahre von George Gerbner theo-
retisch begründet (z. B. Gerbner 1969). Sie geht davon aus, dass Menschen in moder-
nen Gesellschaften einen Großteil ihrer Erfahrungen aus der Fernsehwelt ziehen und
ihre Realität aus den medial vermittelten Botschaften rekonstruieren. Dem Fernsehen
kommt deshalb eine so zentrale Bedeutung zu, weil es sich aufgrund seiner allgegenwär-
tigen Verfügbarkeit, seiner hohen Reichweite und zeitlichen Inanspruchnahme sowie
aufgrund der Gleichförmigkeit seiner Botschaften und Realitätsnähe von anderen Me-
dien unterscheidet. Im Gegensatz zu anderen Medienwirkungsansätzen geht die Kulti-
vierung nicht von kurzfristigen Effekten aus, sondern von einer langfristigen Formung
von Weltbildern, Normen und Werten.
Als Hilfskonstruktion für den Nachweis von Kultivierungseffekten diente ursprüng-
lich der Vergleich von Viel- und Wenigsehern: Während sich Wenigseher, so die Grund-
annahme, aus vielen verschiedenen Quellen (mediale und interpersonale) informieren,
stellt das Fernsehen bei Vielsehern die dominierende Informationsquelle dar. Vielseher
gehen bei der Fernsehrezeption weniger selektiv vor, weshalb sie über alle Programm-
Kultivierungsforschung: Idee, Entwicklung und Integration 209
inhalte, Formate und Sendungen hinweg denselben Botschaften ausgesetzt sind. Die
klassische Kultivierungshypothese ist daher, dass Rezipienten, die viel fernsehen, die
Realität im Sinne der Fernsehwelt wahrnehmen, während Wenigseher in ihren Urteilen
der tatsächlichen Realität näher kommen. Die klassische Vorgehensweise, diese Hypo-
these zu prüfen, umfasst zwei Untersuchungsschritte: Im ersten Schritt, der Message Sys-
tem Analysis, werden die Metabotschaften des Fernsehens identifiziert und mit Reali-
tätsdaten verglichen, um Diskrepanzen zwischen Fernsehwelt und Realität aufzudecken.
Im zweiten Schritt, der Cultivation Analysis, werden die Zusammenhänge von Fernseh-
rezeption und Realitätswahrnehmung beim Publikum untersucht, indem die in standar-
disierten Befragungen ermittelten Antworten von Viel- und Wenigsehern einander ge-
genübergestellt werden. Ziel ist der Nachweis, dass Vielseher eher die „Fernsehantwort“
geben, die den konstanten Mustern im Fernsehen entspricht, während Wenigseher in
ihren Antworten der „Realitätsantwort“ näher kommen.
Entsprechend nahmen Gerbner und Kollegen ausgehend von den inhaltsanaly-
tisch festgestellten Gewaltanteilen im amerikanischen Fernsehen an, dass Vielseher
die Anzahl von Verbrechen, die Anzahl von Personen, die in der Verbrechensbekämp-
fung arbeiten, sowie die Wahrscheinlichkeit, selbst Opfer eines Verbrechens zu werden,
überschätzen würden. Die Abfrage dieser Indikatoren beruhte auf jeweils zwei Antwort-
vorgaben: Eine entsprach in etwa der Fernsehantwort, die andere eher den Verhältnis-
sen in der Realität. Die Ergebnisse zeigten, dass Vielseher häufiger die Fernsehantwort
gaben als Wenigseher (Gerbner & Gross 1976). In zahlreichen weiteren Studien repli-
zierten Gerbner und seine Kollegen diese Befunde und zogen daraus den Schluss, dass
das Fernsehen eine Überschätzung des Gewaltausmaßes in der Realität kultiviere (im
Überblick vgl. Morgan & Shanahan 1997; Rossmann 2008).
Dennoch konnte sich die Gruppe um George Gerbner nicht dem Vorwurf entziehen,
Artefakte zu messen. Häufig wurde kritisiert, dass die beobachteten Zusammenhänge
auch durch andere Merkmale bedingt sein könnten. Doob und Macdonald (1979) zeig-
ten beispielsweise, dass der Zusammenhang zwischen Fernsehnutzung und Viktimisie-
rungsangst nach Kontrolle der Wohngegend (Stadt vs. Vorstadt) in fast allen Gruppen
verschwand. Dieser Vorwurf veranlasste Gerbner, die Theorie zu modifizieren und die
unterschiedlichen Zusammenhänge anhand zweier Subprozesse zu erklären: Mainstrea-
ming meint, dass durch jeweils soziale Voraussetzungen bedingte unterschiedliche Mei-
nungen und Vorstellungen durch eine intensive Fernsehnutzung absorbiert und zu einer
gemeinsamen Auffassung, dem Mainstream, homogenisiert werden. Resonanz bezieht
den Einfluss der Realitätserfahrung von Rezipienten mit ein: Wenn Vielseher die Reali-
tät so erleben, wie sie im Fernsehen dargestellt wird, wirkt die konsonante Fernsehbot-
schaft wie eine „Doppel-Dosis“ und verstärkt den Kultivierungseffekt. Dissonante Rea-
litätserfahrungen schwächen dagegen den Kultivierungseffekt ab.
210 Constanze Rossmann
Neben die Ursprungskritik gesellten sich im Laufe der Zeit weitere Kritikpunkte, die
im Folgenden stichpunktartig aufgeführt werden (für eine ausführliche Diskussion vgl.
Rossmann 2008, Kapitel 2.4):
2.3 Meta-Analysen
Die dargestellten Kritikpunkte machen die Kultivierungsthese zwar immer noch an-
greifbar, konnten sie aber nie ganz widerlegen. In ihrer Meta-Analyse von 52 Kultivie-
rungsstudien fanden Morgan und Shanahan (1997) einen zwar kleinen aber beständigen
Gesamteffekt (r = 0,091, K = 52) und resümierten: „Certainly not all of the issues are re-
Kultivierungsforschung: Idee, Entwicklung und Integration 211
solved, but, taken as a whole, the data show that cultivation theory has amply demon-
strated the nature, importance, and resilience of its findings.“ (S. 38) Auch Rossmann
(2008) stellte in ihrer Literatursynopse von 109 Kultivierungsstudien, die zwischen 1976
und 2005 in den wichtigsten internationalen und europäischen kommunikationswissen-
schaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht worden waren, fest, dass die große Mehr-
heit der Studien den Effekt bestätigt.
3 Wirkungsarten, Wirkungsdeterminanten
3.1 Themenbereiche
Obwohl zunächst die Darstellung und Wirkung von Gewalt im Fernsehen im Zentrum
des Forschungsinteresses standen, veranlassten auffällige Unterschiede zwischen Fern-
sehdarstellung und objektiver Realität die Gruppe um George Gerbner, ein breiteres
Themenspektrum zu untersuchen, z. B. Geschlechterrollen, Gesundheit, Wissenschaft
und Politik (vgl. im Überblick Morgan & Signorielli 1990). Wie die Synopse von Ross-
mann (2008) zeigt, bildeten Kultivierungsstudien zu Gewalt und Verbrechen allerdings
auch nach drei Jahrzehnten den Schwerpunkt der Forschung. An zweiter Stelle stehen
Studien zum Einfluss des Fernsehens auf politische Einstellungen, an dritter Stelle Unter-
suchungen zu allgemeinen Wert- und Moralvorstellungen. In der aktuelleren Forschung
scheint sich ein neuer Schwerpunkt herauszukristallisieren, der sich mit Kultivierungs-
effekten im Gesundheitskontext befasst (vgl. z. B. Shanahan et al. 2004 zu Rauchverhal-
ten; Rossmann & Brosius 2005 zu Schönheitsoperationen; Lücke 2007 zu Ernährung;
Diefenbach & West 2007 zu psychischen Krankheiten; Quick 2009; Cho, Wilson & Choi
2011 zu Arztserien; Beullens et al. 2011 zu riskantem Fahrverhalten). Auch Umweltthe-
men (z. B. Good 2009; Dahlstrom & Scheufele 2010), Homosexualität (z. B. Rossmann
et al. 2007; Calzo & Ward 2009) und Pornographie (z. B. Brown & L’Engle 2009; Peter &
Valkenburg 2009) werden in der aktuellen Forschung häufiger untersucht.
Üblicherweise beschäftigt sich die Kultivierungsforschung mit zwei Gruppen von ab-
hängigen Variablen. Zum einen untersucht sie Einflüsse des Fernsehens auf die Wahr-
nehmung von Häufigkeiten, Verteilungen und Wahrscheinlichkeiten (z. B. Verbre-
chenshäufigkeiten, Geschlechterverteilung) und spricht in diesem Zusammenhang
von Kultivierung erster Ordnung. Zum anderen werden Einflüsse auf Einstellungen und
Wertvorstellungen gemessen (z. B. Misstrauen, Bewertung von Ärzten, Materialismus),
die als Kultivierung zweiter Ordnung verstanden werden. Für beide Merkmalsgruppen
bestätigt das Gros der Forschung Kultivierungseffekte, jedoch werden in der Literatur
212 Constanze Rossmann
unterschiedliche Wirkmechanismen vermutet (siehe hierzu Kapitel 4.2 und 4.3; vgl. im
Überblick Rossmann 2008).
Zunehmend werden auch Verhaltensintentionen und Verhalten als abhängige Va-
riablen mit einbezogen. Mitunter wird in diesem Zusammenhang von Kultivierungs-
effekten dritter Ordnung gesprochen (vgl. Wünsch et al. 2012). So untersuchten Nabi
und Sullivan (2001) nicht nur, ob sich das Fernsehen auf verbrechensbezogene Einschät-
zungen und Einstellungen auswirkt, sondern auch den Einfluss auf Verhaltensintentio-
nen und Verhalten. Tatsächlich zeigte sich: Je mehr die Befragten fernsahen, desto hö-
her schätzten sie die Zahl von Verbrechen und Verbrechern ein. Dies hatte ein erhöhtes
Misstrauen zur Folge, welches positiv mit der Absicht korrelierte, Schutzmaßnahmen zu
ergreifen, und diese führte wiederum zu verstärkten Schutzmaßnahmen. Auch Segrin
und Nabi (2002) untersuchten den Zusammenhang zwischen Kultivierungsurteilen und
Verhaltensintentionen. In diesem Fall ging es um den Einfluss des Fernsehens auf Vor-
stellungen von der Ehe und die Absicht, selbst einmal zu heiraten. Auch hier bestätigten
Strukturgleichungsanalysen die erwarteten Zusammenhänge. Beullens et al. (2011) wen-
deten diese Überlegung auf die Kultivierung riskanten Fahrverhaltens an. Auch Wünsch
et al. (2012) untersuchten in ihrer Experimentalstudie zur Kultivierung durch die „Lin-
denstraße“ Verhaltensintentionen (z. B. politische Partizipation) und konnten Einflüsse
der Serie auf diese zumindest teilweise bestätigen.
Somit weist der Forschungsstand doch recht eindeutig darauf hin, dass Kultivie-
rungseffekte durchaus nicht auf Realitätsvorstellungen und Einstellungen begrenzt sind,
sondern auch Verhaltensintention und Verhalten beeinflussen können. Häufig werden
Kultivierungseffekte hier mit der Theory of Reasoned Action bzw. Theory of Planned
Behavior (TPB; Fishbein & Ajzen 2010; im Überblick Rossmann 2011) verknüpft (siehe
auch Kapitel 5).
3.3 Botschaftsmerkmale
(vgl. im Überblick Rossmann 2008, Kapitel 4.1.2). Dies liegt jedoch auch daran, dass es
die Kultivierungsforschung bislang meist versäumt hat, die Metabotschaften des Fernse-
hens akkurat zu messen. Die Identifikation von Metabotschaften setzt voraus, dass sich
Forscher theoretisch und empirisch genauer mit der Frage auseinandersetzen, welche
Botschaften auf welchem Aggregationsniveau „einheitlich“ dargestellt werden. Je nach
Thema und Fragestellung können die Metabotschaften auf einem sehr hohen (z. B. dem
gesamten Programmangebot) oder niedrigen Aggregierungsniveau (z. B. einer spezifi-
schen Fernsehserie) angesiedelt sein (ebd., Kapitel 4.1.3).
Doch nicht nur der Inhalt dürfte für Kultivierungseffekte relevant sein, sondern auch
die Art der Darstellung. Die Forschung hat sich hier mit ganz unterschiedlichen Darstel-
lungsmerkmalen auseinandergesetzt. Sotirovic (2001) zeigte etwa, dass die episodische
versus kontextreiche Darstellung des Themas Sozialhilfe die Realitätswahrnehmung der
Zuschauer unterschiedlich beeinflusst. Rossmann und Brosius (2005) fanden Hinweise
darauf, dass die Ähnlichkeit zwischen Fernsehakteuren und Zuschauern Kultivierungs-
effekte verstärken kann. Holbert, Shah und Kwak (2004) zeigten, dass auch ein hoher
Realitätsgrad von Sendungen zu einer Verstärkung von Kultivierungseffekten beiträgt.
Auch die Glaubwürdigkeit von Fernsehinhalten kann eine Rolle spielen. So scheinen
Sendungen, denen eine höhere Glaubwürdigkeit attestiert wird, eher Kultivierungs-
effekte hervorzubringen (vgl. Mares 1996; Quick 2009). Denkbare weitere Einflussmerk-
male, die sich aus der Persuasionsforschung ableiten, sind etwa Bewertung (z. B. positive
oder negative Folgen eines bestimmten Verhaltens), Humor, Emotionalisierung, Auffäl-
ligkeit und Lebhaftigkeit (vgl. Rossmann 2008, Kapitel 4.2).
Noch stärker als mit der Botschaftsseite setzt sich die Kultivierungsforschung mit Rezep-
tions- und Rezipientenmerkmalen auseinander. Den größten Anteil machen in diesem
Kontext Studien zu aktiver versus passiver Fernsehrezeption aus. Von Beginn an konkur-
rierten hier zwei Sichtweisen: Auf der einen Seite ging man davon aus, dass eine passive
Fernsehnutzung Kultivierungseffekte verstärkt, weil die Rezipienten weniger aufmerk-
sam sind und somit leichter überzeugt und beeinflusst werden können. Auf der anderen
Seite nahm man an, dass eine aktive Fernsehnutzung Kultivierungseffekte verstärkt, weil
sie mit einer größeren Motivation und Bereitschaft einhergeht, zu selektieren, zu inter-
pretieren und auf Botschaften zu reagieren. Fasst man die über 20 Kultivierungsstudien
zum Einfluss von ritualisierten oder instrumentellen Nutzungsmotiven zusammen, fin-
den sich etwas mehr Belege dafür, dass die aktive, instrumentelle Fernsehnutzung Kulti-
vierungseffekte verstärkt (im Überblick vgl. Rossmann 2008, Kapitel 5.2).
Auch der wahrgenommene Realitätsgrad wurde häufig untersucht (vgl. für eine aktu-
elle Studie Cho et al. 2011). Trotz einer dichten Forschungslage sind die Befunde recht
disparat. Betrachteten die Studien den wahrgenommenen Realitätsgrad als unabhängi-
214 Constanze Rossmann
gen Faktor, so fanden sie meist keine Zusammenhänge. Untersuchten sie den interve-
nierenden Einfluss des Realitätsgrades, so zeigt die Mehrheit der Studien, dass es einen
Interaktionseffekt zwischen Fernsehnutzung und wahrgenommenem Realitätsgrad gibt.
In welche Richtung der Einfluss geht, bleibt jedoch offen (im Überblick vgl. Rossmann
2008, Kapitel 5.6).
Des Weiteren gibt es Hinweise darauf, dass das Involvement der Zuschauer einen
Einfluss auf Kultivierungseffekte hat. Den Einfluss des Themeninvolvement haben bis-
lang nur wenige Kultivierungsstudien untersucht (z. B. Lücke 2007). Wie bei den ande-
ren Rezeptionsmerkmalen ist die Einflussrichtung dabei unklar (vgl. Rossmann 2008,
Kapitel 5.5). Wichtiger scheint für die Verarbeitung von narrativen Inhalten jedoch eine
andere Form des Involvement zu sein: das Prozessinvolvement, in der Literatur häu-
fig auch als Engagement, Absorbtion, Präsenzerleben oder – in der Kultivierungsfor-
schung am gebräuchlichsten – Transportation bezeichnet (vgl. auch Hofer in diesem
Band). Gemeint ist der Grad, mit dem Zuschauer während der Rezeption in eine Bot-
schaft kognitiv und affektiv versinken. Der Forschungsstand weist hier recht deutlich
darauf hin, dass Kultivierungseffekte durch einen hohen Transportationsgrad verstärkt
werden (u. a. Bilandzic & Busselle 2008; Shrum et al. 2011; im Überblick Rossmann
2008, Kapitel 5.5).
Darüber hinaus beschäftigt sich die Kultivierungsforschung auch mit der Bedeutung
parasozialer Interaktion (vgl. z. B. Semmler 2007; Rossmann 2008), mit Need for Co-
gnition (z. B. Schroeder 2005; Good 2009) oder Persönlichkeitsmerkmalen (z. B. Nabi &
Riddle 2008). Auch diese Studien zeigen im Wesentlichen, dass Kultivierungseffekte von
unterschiedlichen Randbedingungen beeinflusst werden, jedoch nicht vollständig durch
diese erklärt werden können.
4 Psychologische Erklärungsansätze
Hawkins und Pingree (1981; Hawkins et al. 1987) und Potter (1988; 1991) gehören zu
den ersten, die den Kultivierungsprozess psychologisch erklärten. Sie gingen von zwei
bzw. drei Subprozessen aus, die parallel oder stufenweise verlaufende Lern- (Erlernen
von Fernsehinhalten), Konstruktions- (der Realitätswahrnehmung aus den erlernten In-
halten) und Generalisierungsprozesse (Kultivierungsurteile zweiter aus Urteilen erster
Ordnung) beschreiben. Keines der durch die Autoren vorgeschlagenen Prozessmodelle
konnte eindeutig belegt werden. Jedoch deuten die Befunde darauf hin, dass Kultivie-
rungsurteile erster Ordnung aus dem Gedächtnis konstruiert werden. Bei Urteilen zwei-
ter Ordnung scheinen zwei Wege denkbar: So dürften sie bisweilen aus Urteilen erster
Ordnung entstehen, häufig scheinen sie aber auch direkt aus dem Fernsehen gebildet zu
werden (im Überblick vgl. Rossmann 2008, Kapitel 3). Einen Erklärungsansatz hierfür
Kultivierungsforschung: Idee, Entwicklung und Integration 215
lieferte erst später die Unterscheidung von online- und erinnerungsgestützter Urteils-
bildung.
Folgt man Shrums „Heuristic Processing Model of Television Effects“ (2009, S. 64), so
ist davon auszugehen, dass Kultivierungseffekte erster Ordnung in Folge heuristischer
Urteilbildung entstehen: Fragen nach Ereignishäufigkeiten sind für unseren Alltag meist
unbedeutend, der Druck, in der Befragungssituation die richtige Antwort zu geben, ist
eher gering, zudem wird in Befragungsinstruktionen meist darauf hingewiesen, spon-
tan zu antworten. Die Folge ist, dass die Urteile nicht auf Basis sämtlicher verfügbarer
Informationen gefällt werden, sondern auf Basis der Informationen, die am leichtesten
verfügbar sind. Kurz: Es werden Verfügbarkeitsheuristiken wirksam. Da nun Ereignisse,
die im Fernsehen häufig gezeigt werden, bei Vielsehern schneller verfügbar sind als bei
Wenigsehern, schätzen Vielseher das Vorkommen dieser Ereignisse höher ein.
Shrum fand unterschiedliche empirische Indizien, die diese Überlegungen stützen:
Vielseher antworten schneller als Wenigseher – sie können also offensichtlich schnel-
ler auf verfügbare Beispiele zugreifen als Wenigseher; wird die Antwortgeschwindigkeit
216 Constanze Rossmann
Auch wenn Shrums Annahmen zur Erklärung des Kultivierungsprozesses empirisch gut
belegt sind, bilden sie nicht die einzig mögliche Erklärung für die Entstehung von Kul-
tivierungseffekten. Anders als Shrum (2009) argumentiert etwa Shapiro (1991), dass es
auch bei systematischer Urteilsbildung zu Kultivierungseffekten erster Ordnung kommen
kann: Fernsehereignisse werden als Gedächtnisspur gespeichert und mit Kontextinfor-
mationen (u. a. der Informationsquelle) verknüpft. Bei systematischer Urteilsbildung
werden die Kontextinformationen herangezogen, um zu beurteilen, ob gespeicherte In-
formationen für ein Urteil relevant sind oder nicht. Zu Kultivierungseffekten kommt es
nun dadurch, dass Menschen Fehler machen, etwa weil sie die richtige Informations-
quelle vergessen haben.
Kultivierungsforschung: Idee, Entwicklung und Integration 217
5 Theoretische Integration
6 Ausblick
Das weite Spektrum an Studien und die Vielzahl an Belegen für Zusammenhänge zwi-
schen Fernsehnutzung und Realitätsbild haben die Stimmen der Kultivierungskritiker
deutlich reduziert. Methodik und Analysemethoden haben sich verbessert, basale Kri-
tikpunkte konnten weitgehend ausgeräumt werden. Auch psychologische Erklärungen
für die Entstehung von Kultivierungseffekten tragen erheblich dazu bei, dass die Kulti-
vierungsforschung mittlerweile auf einem stabilen Fundament steht. Nichtsdestotrotz
darf die umfangreiche empirische Evidenz nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele
Studien Einschränkungen aufweisen (Stichwort: Querschnittdesign und Kausalitäts-
problem) und häufig ohne Analyse der Fernsehinhalte auszukommen scheinen. Auch
ist die Forschungslage zum Einfluss von Botschafts- und Rezipientenmerkmalen ange-
sichts divergierender Operationalisierungen und Befunde noch zu uneindeutig. Unver-
kennbar ist jedoch: Die Kultivierungsforschung hat sich weiterentwickelt, bietet neue
Anknüpfungspunkte und fruchtbare Erweiterungen – über Realitätswahrnehmung und
Einstellungen hinaus auf Verhaltensintentionen und Verhalten (etwa TPB), wahrge-
nommenes Meinungsklima (Schweigespirale) oder wahrgenommene Einflüsse auf an-
dere (Third-Person-Effekte).
In den nächsten Jahren muss sich die Kultivierungsforschung neuen Herausforde-
rungen stellen. Angesichts der Veränderungen in Medienangebot und -nutzung wird
sich die zentrale unabhängige Variable, die Fernsehnutzung, nicht mehr ohne weite-
res erfassen lassen. Fernsehangebote werden zunehmend zeitversetzt genutzt, Fernseh-
serien unabhängig vom aktuellen Programmschema auf DVD oder über YouTube gese-
hen, Nachrichten werden von Internetportalen oder iTunes gestreamt. Das Fernsehgerät
verliert als Übertragungsmedium für audio-visuelle Inhalte an Bedeutung und wird
von Computer und mobilen Endgeräten abgelöst. Dies stellt nicht nur die gegenwär-
tige Operationalisierung der Fernsehnutzung in Frage, da die bloße Abfrage der Fern-
seh- oder Genrenutzungsdauer nicht mehr ausreicht, sondern auch die Erfassung seiner
Metabotschaften. Nicht zuletzt wird die Forschung auch darüber nachdenken müssen,
welchen Einfluss veränderte Rezeptionssituationen (unterwegs statt zuhause, Parallel-
nutzung mehrerer Dienste etc.) auf Kultivierungseffekte hat. Die Zeit des Fernsehens
als „centralized system of storytelling“ und „primary common source of socialization
220 Constanze Rossmann
and everyday information“ (Gerbner et al. 1986, S. 18) dürfte vorbei sein. Jedoch müssen
andere Verbreitungswege und Nutzungsmodalitäten nicht zwangsläufig bedeuten, dass
die Geschichten und Metabotschaften in narrativen audio-visuellen Medieninhalten als
Sozialisationsinstanz ausgedient haben.
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Teil 3
Schwerpunkt Emotionen und Erleben
Grundlagen emotionaler Medienwirkungen
Werner Wirth
Schlagwörter Emotion, Stimmung, Affekt, Erregung, emotionale Valenz, Annäherungs- versus Ver-
meidungsmotivation, physiologische Emotionstheorien, kognitiv-attributive Emotionstheorien, Angst,
Furcht, Ärger, Wut, Unterhaltungserleben, (emotionales) Involvement, Empathie, Spannungserleben
1 Einführung
Gängige Lehr- und Handbücher widmen den emotionalen Medienwirkungen selten be-
sondere Aufmerksamkeit – mit einer gewichtigen Ausnahme: Die Gewaltwirkungsfor-
schung behauptet seit Jahrzehnten einen Stammplatz in der Wirkungsforschung. Ge-
walt wird (wenn auch nicht ausschließlich) als emotionale Medienwirkung verstanden.
Entsprechend widmet Schenk (2007) allein 30 Seiten den Wirkungen von Gewaltdar-
stellungen, auf alle anderen emotionalen Wirkungen entfallen zusammen gerade noch
einmal 21 (von insgesamt 781) Seiten. In jüngerer Zeit hat sich als zweites einschlägi-
ges Forschungsfeld die Unterhaltungsforschung etabliert. In der dritten Ausgabe des
internationalen Handbuchs für Medienwirkungen von Bryant und Oliver (2009) fin-
den sich gleich zwei (von insgesamt 27) Kapiteln, die sich mit Wirkungen von Medien-
unterhaltung beschäftigen (Cantor 2009; Vorderer & Hartmann 2009). Das Fehlen
weiterer Forschungsfelder, die sich dezidiert den emotionalen Medienwirkungen ver-
schreiben, sollte nicht dazu verführen, die Bedeutung emotionaler Medienwirkungen
zu unterschätzen. Wirth und Schramm (2005) verweisen in ihrem Überblick auf die
Vielfalt von Forschungsgebieten, in denen emotionale Medienwirkungen erforscht wer-
den. Beachtung finden emotionale Medienwirkungen neben der genannten Gewaltwir-
2 Emotionstheoretische Grundlagen
mit geringer oder ganz ohne Erregung denkbar, oder die motivationale Handlungskom-
ponente ist mehr oder weniger stark ausgeprägt (Ulich & Mayring 1992). Zudem beto-
nen die verschiedenen Emotionstheorien die Bedeutung der einzelnen Komponenten
unterschiedlich (siehe Abschnitt 2.2).
Emotionen sind eher episodisch, auf konkrete Ereignisse zurückführbar, von eher
kurzer Dauer und intensiv. Beispiele für Emotionen (meist diskrete Emotionen ge-
nannt) sind Angst, Ärger, Stolz, Scham, Freude, Liebe oder Überraschung. Es besteht
keine Einigkeit darüber, wie viele diskrete Emotionen es gibt, welche affektiven Erschei-
nungsformen dazu zählen und welche nicht (Russell 1991). Neben einem unstrittigen
Kernbereich, der Emotionen wie Angst, Freude, Traurigkeit oder Wut umfasst, gibt es
Grenzbereiche mit Phänomenen wie Neugier, die nicht von allen Theoretikern zu den
Emotionen gezählt werden (z. B. Schmidt-Atzert 2000). Vielfach wurde versucht, Emo-
tionen zu übergeordneten Gruppen und Dimensionen zusammenzufassen bzw. nach
subjektiven Ähnlichkeiten zu ordnen. Als zentrale Dimensionen werden Lust (positiv)
und Unlust (negativ) sowie niedrige (Ruhe) und hohe (Erregung) Aktivierung unter-
schieden (Russell 1980). Generell können Annäherungs- von Vermeidungsemotionen
(approach versus avoidance emotions) abgegrenzt werden (Alexopoulos & Ric 2007).
Demnach lösen Emotionen entweder annähernde (Exploration bei Neugier, Angriff bei
Wut) oder vermeidende (Zurückweisung bei Ekel, Flucht bei Angst) Handlungstenden-
zen aus. Auch werden bisweilen Ego-Emotionen (z. B. Stolz, Freude, Peinlichkeit) und
Sozio-Emotionen (z. B. Sympathie, Mitleid, Verachtung, Ärger) unterschieden (Bente &
Vorderer 1997).
Emotionen sind Reaktionen auf konkrete Ereignisse und liefern Informationen über
die aktuelle Situation. Im Gegensatz dazu sind Stimmungen dauerhafte Begleiter des
Alltags (vgl. ausführlich Wirth 2013). Sie sind meist die Folge vieler kleiner Ereignisse
oder auch allgemeiner Lebensumstände und werden weniger intensiv und oft auch we-
niger bewusst erlebt. Stimmungen informieren über den aktuellen Zustand des Selbst.
Während Stimmungen und Emotionen meist hinreichend klar voneinander getrennt
werden (Parkinson & Klostermann 2000), wird der Affektbegriff häufig inkonsistent ge-
braucht. Einerseits gilt Affekt als Überbegriff für Stimmung und Emotionen, anderer-
seits wird Affekt als Synonym für die Erregungs- und bzw. oder die Valenzkomponente
(positiver versus negativer Affekt) von Emotionen verstanden.
In der emotionalen Wirkungsforschung kann zwischen einem dimensionalen und
einem emotionsspezifischen Ansatz unterschieden werden. Beim dimensionalen An-
satz werden die physiologische Erregung (arousal) sowie positiver bzw. negativer Af-
fekt, beim emotionsspezifischen Ansatz diskrete Emotionen wie Wut, Ekel oder Angst
als abhängige Variable fokussiert. Begrenzt sind beide Ansätze ineinander überführ-
bar. Erregung ist eine der sechs Komponenten der Definition von Emotion. Sie bezieht
sich auf eine erhöhte Aktivität des sympathischen Nervensystems und dient der Akti-
vierung und Bereitstellung von Energie, um emotionsrelevante Handlungen wie z. B.
Flucht (bei Angst) auszulösen. Die Kompatibilität ist allerdings begrenzt, weil negative
230 Werner Wirth
2.2 Emotionstheorien
die Emotion, die zu dieser Situation passt. Bei diesem Prozess kann es zu Fehlattributio-
nen kommen. Dies steht beispielsweise bei der Erregungstransferthese (Excitation trans-
fer) von Zillmann (1971) im Mittelpunkt. Eventuell vorhandene Erregungsüberschüsse
aus vorangegangenen Filmszenen (z. B. bei gewalthaltigen Filmen) werden fälschlicher-
weise der aktuellen Situation zugeschrieben. Die Erregungstransferthese gilt als gut be-
stätigt, während die ihr zugrunde liegende, umfassendere Zwei-Faktoren-Theorie von
Schachter (1962) deutlich weniger empirische Unterstützung fand und als allgemeine
Emotionstheorie heute als überholt gelten muss (Cornelius 1996; Cotton 1981). Insbe-
sondere kann das Postulat nicht mehr gehalten werden, dass Erregung für das Entstehen
einer Emotion zwingend erforderlich ist (Meyer et al. 1993 – 1997).
In kognitiv-attributiven Ansätzen wird die Rolle der Kognition bei der Emotions-
genese besonders betont und ausdifferenziert betrachtet (vgl. Scherer 2001, S. 240; im
Überblick Wirth 2013). Zentral sind die kognitiven Einschätzungsprozesse (appraisals),
bei denen Situationen aus subjektiver Sicht interpretiert werden. Charakteristische Mus-
ter solcher Appraisals führen zu (sog. diskreten) Emotionen wie Angst, Freude oder Är-
ger. Kognitionen dürfen dabei nicht als in jedem Fall bewusst verstanden werden und
sie sind auch nicht unbedingt erforderlich für die Emotionsgenese. So können etwa
Furchtreaktionen auch ohne zwischengeschaltete Bewertungen ausschließlich durch
Konditionierung ausgelöst werden (Weiner 1986). Die kognitiv-attributiven Ansätze
können als derzeit dominierend in der psychologischen Emotionsforschung angesehen
werden (Scherer et al. 2001). Ein typischer Vertreter dieser Ansätze ist Scherer (Sche-
rer 1984): Sein Ansatz betrachtet Emotionen als das Ergebnis einer Sequenz von emo-
tionsspezifischen Einschätzungsprozessen. Diese umfassen Bewertungen der Neuheit,
Überraschung, Relevanz, Zielförderlichkeit, Verantwortlichkeit, Kontrollierbarkeit und
Normverträglichkeit. Die Einschätzungsprozesse sind auch wirkungsrelevant: Emotio-
nen haben sogenannte Kernthemen (core relational themes), die mit bestimmten Moti-
vationen und Handlungstendenzen verknüpft sind: Wer sich über einen in den Medien
berichteten Skandal ärgert, möchte dass die Schuldigen zur Verantwortung gezogen und
bestraft werden.
siologische Folgen hat. Somit werden die ersten autonomen Reaktionen schnell über-
lagert (Lang et al. 2009). Allgemein wird Erregung sowohl als Ausdruck der Intensität
(arousal) als auch der wahrgenommenen Valenz (positiv / negativ) einer Emotion inter-
pretiert (Lang & Ewoldson 2011). Emotionale Valenz meint die positive bzw. negative
Bewertung und emotionale Intensität die Stärke der emotionalen Empfindungen. Bei-
spielsweise empfinden die meisten Menschen eine schöne Landschaft als positiv und ru-
hig (schwach erregend), eine erotisches Bild als positiv und erregend. Ähnlich wird ein
Friedhof meist als negativ valenziert und ruhig, hingegen ein Bild mit verstümmelten
Leichen negativ und stark erregend wahrgenommen. Valenz führt im Allgemeinen zur
Aktivierung einer prinzipiellen motivationalen Reaktion, die zwischen den Polen Ab-
lehnung bzw. Vermeidung bzw. Zuneigung bzw. Annäherung rangiert. Erregung bezieht
sich auf die Stärke der jeweiligen Motivation (Lang et al. 2009). Mittlerweile können Er-
regungsintensität und Valenzwahrnehmung relativ gut diskriminiert werden (Shapiro
et al. 2002). Beispielsweise wird Erregungsintensität (arousal) über die Erhöhung der
elektrodermalen Aktivität identifiziert (skin conductance; z. B. Lang 1990), während die
Wirkung auf die wahrgenommene Valenz mit einer Vielzahl unterschiedlicher Indika-
toren gemessen wird (u. a. Herzschlagsfrequenz, heart rate). Gleichzeitig sind die Erre-
gungsmuster komplexer. So reduziert sich etwa nach der Betrachtung von positiv emo-
tionalen Bildern die Herzschlagsfrequenz zunächst, um sich anschließend wieder zu
beschleunigen. Bei negativ-emotionalen Bildern geht die Herzschlagsfrequenz nach der
anfänglichen Verlangsamung lediglich wieder auf das Ausgangsniveau zurück. Stark ne-
gative Reize führen zu einer stärkeren Verlangsamung sowie zu einer intensiveren elek-
trodermalen Aktivität (Bradley & Lang 2000b). Für negativ valenzierte akustische Reize
(z. B. eine Bombenexplosion) gilt ähnliches (Bradley & Lang 2000a). Bei emotionalen
Fernseh- und Radiostimuli zeigen sich weniger klare Muster, womöglich weil hier die
physiologischen Messungen durch kognitive Reaktionen einerseits und die Reaktionen
auf überraschende (Schreckreaktion, startle response) und strukturelle Reize (Kamera-
schnitte, Einstellungswechsel: Orientierungsreaktion, orienting reaction) andererseits
überlagert werden (Lang 1990; Lang et al. 2009).
Das selbstberichtete Erregungsniveau korreliert deutlich mit der Erhöhung der elek-
trodermalen Aktivität. Allerdings müssen das Medium sowie der jeweilige inhaltliche
Kontext stets mit berücksichtigt werden (Lang & Ewoldson 2011). Bewegte Bilder erhö-
hen die Erregungsintensität (arousal) im Vergleich zu sonst identischen Standbildern
deutlich (Simons et al. 1999; vgl. zu weiteren Einflüssen formaler und stilistischer Ele-
mente Detenber & Lang 2011).
Negative bzw. positive Affekte sind als emotionale Reaktionen mit einer globalen ne-
gativen bzw. positiven Valenz zu verstehen, beispielsweise als summarisches Gefühl
Grundlagen emotionaler Medienwirkungen 233
über eine Reihe von Emotionen mit entsprechender Valenz bzw. als generell negative
oder positive Stimmung. Dabei können beide Affektvalenzen auch gleichzeitig auftreten
(mixed affects: Watson et al. 1988). Die Darstellung negativer bzw. positiver Ereignisse
in den Medien führen häufig, aber nicht immer zu entsprechend valenzierten Affekten
beim Publikum (Scherer 1998). Vor allem in den 1980er Jahren wurden Studien durch-
geführt, in denen aus der inhaltlichen Valenz direkt auf entsprechende Reaktionen beim
Publikum geschlossen wurde: Affekte wurden als Stimuluseigenschaft interpretiert. Erst
später wurden die vermuteten Ursache-Wirkungszusammenhänge auch explizit unter-
sucht. Die Wirkungsforschung interessierte sich allerdings lange Zeit eher für die Folgen
der Affektwirkung als für die Affektwirkungen selbst (Lang & Ewoldson 2011). Beispiels-
weise ziehen negative bzw. positive Affekte häufig affektkongruente Reaktionen nach
sich: Negative affektive Reaktionen führen zu ablehnenden und positive affektive Reak-
tionen zu zustimmenden Bewertungen (vgl. im Überblick Schemer 2009). Theoretisch
wird dies je nach Begleitumständen entweder mit Affektheuristiken („affect-as-informa-
tion“) oder mit affektivem Priming erklärt (Forgas 1995). Dennoch lassen sich auch aus
Studien, die Affekte (lediglich) als Mediatoren oder Moderatoren für Medienwirkungen
behandeln, Erkenntnisse zur Affektinduktion durch Medien gewinnen. Negativkampa-
gnen, fortgesetzte Berichterstattung über Kriminalität oder über Umweltrisiken führen
demnach zu vielfältigen negativen Affekten, während beispielsweise Unterstützungs-
kampagnen vermehrt positive Affekte auslösen (Schemer 2009).
Eine Reihe von Autoren plädiert für eine emotionsspezifische Betrachtung der Wirkun-
gen emotionaler Botschaften (z. B. Lerner & Keltner 2000). Medienstimuli induzieren
eine Vielfalt diskreter Emotionen beim Rezipienten, beispielsweise Angst, Ärger, Wut,
Ekel, Enthusiasmus, Stolz, Verachtung, Trauer, Freude oder Überraschung. Das betrifft
nicht nur Unterhaltungssendungen, sondern auch Nachrichten, politische Kampagnen,
Werbung, Musik und Computerspiele, um nur einige Genres zu nennen. Im Folgen-
den werden zwei besonders für die Kommunikationswissenschaft wichtige Forschungs-
zweige näher betrachtet: Angst / Furcht und Ärger / Wut.
Medien und insbesondere das Fernsehen können Furcht und Angst induzieren (z. B.
Newhagen 1998). Furcht und Angst sind eng verwandte, negative Emotionen, die beide
mit hoher Erregung einhergehen. Während Furcht ein Gefühl der konkreten Bedrohung
ist, zeichnet sich Angst durch einen fehlenden oder unbestimmten Gegenstandsbezug
aus. Bei beiden Emotionen kommt hinzu, dass die Bewältigung der Bedrohung als un-
gewiss eingeschätzt wird (Ulich & Mayring 1992). Angst und Furcht führen in der Regel
234 Werner Wirth
zur Vermeidung von Situationen und Objekten, die diese Emotionen auslösen (Lazarus
1991). Die Forschung zu Angst und Furcht infolge der Medienrezeption ist sehr vielfältig.
Es lassen sich (mindestens) drei Schwerpunkte erkennen: Angst- und Furchtreaktionen
bei Kindern und Jugendlichen, Angst bzw. Furcht vor Verbrechen im Rahmen der Kul-
tivierungsforschung sowie Angst- / Furchtappelle im Rahmen der Persuasionsforschung.
(1) Erstens haben Cantor und Kollegen die emotionalen Reaktionen sowie Regula-
tionsstrategien vor allem von Kindern und Jugendlichen auf bestimmte Filme, zum Bei-
spiel „Der Exorzist“ (1973, Regie: William Friedkin) oder „Der Weisse Hai“ (1975, Regie:
Steven Spielberg) sowie auf Nachrichten untersucht (Cantor 2011). Demnach empfinden
Kinder umso mehr Angst beim Sehen von Sendungen mit gewalthaltigen Inhalten, je
höher ihr genereller Fernsehkonsum ist. Auch Schlafstörungen und Albträume werden
auf den Konsum angsterregender Medienangebote zurückgeführt (Owens et al. 1999).
Aktives elterliches Mediationsverhalten vermag bei jüngeren Kindern Angstreaktionen
zu vermindern (Buijzen et al. 2007).
(2) Zweitens wird ausgehend von der Kultivierungstheorie von Gerbner die Rolle
der Medien für die Angst vor Verbrechen untersucht (fear of crime). Nachrichten ent-
halten häufig Furchtsignale (Altheide 1997). Hoher Fernsehkonsum (Gunter 1987) all-
gemein und insbesondere die Nutzung von (lokalen) Fernsehnachrichten (Romer et al.
2003) scheinen zumindest für bestimmte Bevölkerungsgruppen zu einer Angst vor Ver-
brechen beizutragen. Die Rezeption konkreter, stark gewalthaltiger Ereignisse im Fern-
sehen wie etwa Massaker in Schulen (Fallahi & Lesik 2009) oder Anschläge auf das
World Trade Center 2001 (Propper et al. 2007) können zudem Furcht, Schock oder gar
traumatische Zustände auslösen.
(3) Drittens wird die persuasive Wirkung von Furchtappellen erforscht. Furcht-
appelle haben das Ziel, Furcht oder das Gefühl der Bedrohung beim Rezipienten zu ge-
nerieren, um die Wirkung einer gleichzeitig vermittelten persuasiven Botschaft sicher
zu stellen. Die Herausforderung dabei ist, nicht gleichzeitig die für diese Emotionen ty-
pische Vermeidungsreaktion auszulösen. Von den verschiedenen Ansätzen erfährt der-
zeit das Modell der erweiterten parallelen Reaktionen (Extended Parallel Process Mo-
del; Witte & Allen 2000) am meisten Unterstützung. Demnach sind Furchtappelle am
erfolgreichsten, wenn sie moderate Angst erzeugen, gleichzeitig jedoch Mittel und Wege
aufzeigen, bedrohliche negativen Folgen zu verhindern bzw. abzuwenden, indem be-
stimmte Verhaltensweisen ergriffen (Kondome zum Schutz vor AIDS verwenden) bzw.
eingestellt (mit dem Rauchen aufhören) werden (Witte & Allen 2000). Das erzeugte
subjektive Furchtgefühl wird physiologisch von erhöhter Aufmerksamkeit (reduzierte
Herzschlagfrequenz und erhöhte elektrodermale Aktivität) begleitet. Erst bei starken
Furchtappellen finden sich auch typische physiologische Furchtreaktionen wie eine er-
höhte Herzschlagsfrequenz (Algie & Rossiter 2010; Ordoñana et al. 2009).
Grundlagen emotionaler Medienwirkungen 235
Ärger richtet sich auf ein Objekt oder eine Person und entsteht, wenn ein Individuum an
der Erreichung eines Zieles bzw. an der Befriedigung eines Bedürfnisses gehindert wird.
Wut ist eine intensivere Variante von Ärger. Sie geht mit einem höheren Erregungsgrad
einher (Izard 2004). Wut und Ärger sind Annäherungsemotionen (Lazarus 1991): Man
möchte sich mit der emotionsauslösenden Situation oder Person aktiv auseinanderset-
zen. Wiederum lassen sich in der Forschung vor allem drei Schwerpunkte erkennen:
Wut und Ärgerreaktionen im Zusammenhang mit Reaktanz, im Rahmen der Gewalt-
wirkungsforschung sowie als Wirkung politischer Kampagnen.
Ärger tritt erstens als Komponente von Reaktanz auf (Dillard & Shen 2005). Reak-
tanz ist ein „aversiver Zustand, der durch Beschränkungen der Freiheit einer Person
zustande kommt, zwischen wichtigen Verhaltensalternativen entscheiden zu können
(…)“ (Bohner 2003, S. 292). Zum Beispiel reagierten Probanden ärgerlich auf prosoziale
Werbebotschaften, weniger Alkohol zu trinken (Dillard & Shen 2005) oder auf Pop-Up-
Werbung im Internet (Edwards et al. 2002). In der Gewaltwirkungsforschung wird zwei-
tens neben Aggression ebenfalls häufig auch Ärger als abhängige Variable untersucht.
Beides ist eng miteinander verknüpft: in Ärgersituationen werden häufig auch Aggres-
sionen empfunden (Averill 1982). Gewalt im Fernsehen (Bushman 1998) oder auch ge-
walthaltige Computerspiele scheinen Ärger und aggressive Gefühle gleichermaßen zu
fördern (z. B. Anderson & Bushman 2001; Weber et al. 2006; siehe jedoch Scott 1995).
Die Befunde können gut mit dem General Aggression Modell (GAM) erklärt werden,
das eine Reihe partikulärer Gewaltwirkungstheorien und Befunde integriert und kurz-
fristige wie auch langfristige Wirkungen beschreibt (Anderson & Bushman 2002). Kurz-
fristig entstehen Aggressionen durch eine Interaktion von situativen und personalen
Variablen, wobei sowohl kognitive wie auch affektive und physiologische Reaktionen
entstehen können. Langfristig verändern sich aufgrund von repetitiven Aggressions-
episoden mentale Strukturen und die Reaktionsmuster auf typische Situationen ebenso
wie soziale Beziehungen (Anderson & Bushman 2002). Ärger und damit verwandte
Emotionen wie z. B. Ressentiments (Groll, Abneigung, Oatley 2009) werden drittens
auch in der Populismusforschung thematisiert (Betz 1993). Populistische Akteure be-
wirtschaften Themen in ihren Kampagnen, die zu Ressentiments gegenüber Minder-
heiten und Ausländern führen können. Medien transportieren diese Themen, wobei
populistische Kommunikationsstrategien (Dramatisierung, Emotionalisierung, Perso-
nalisierung) häufig unverändert übernommen werden, weil die Themen Nachrichten-
werte bedienen und die Kommunikationsstrategien den Medien angesichts von Media-
lisierungstendenzen und Kommerzialisierung entgegenkommen (Blumler & Kavanagh
1999; Plasser & Ulram 2003).
236 Werner Wirth
Spannungserleben wird von Ortony, Clore und Collins (1988) als ein Kompositum zweier
Emotionen (Besorgnis und Hoffnung) sowie der Ungewissheit (ein kognitiver Zustand)
verstanden. Die Ungewissheit bezieht sich darauf, welcher von möglichst wenigen (bei
maximaler Spannung nur zwei) denkbaren Ausgängen einer beobachteten Handlung
(z. B. einer fiktionalen Geschichte oder eines Wettkampfs) eintritt. Gemäß der Affective
Disposition Theory wird der eine Ausgang befürchtet und der andere erhofft (Zillmann
1996). Der erhoff te Ausgang ist mit angenehmen (Vorfreude), der befürchtete mit un-
angenehmen Gefühlen (Besorgnis, Angst) verknüpft. Die Spannung ist dann umso hö-
1 Davis (1983) nennt fiktionales Involvement (fantasy) als weitere Dimension von Empathie (siehe Kapi-
tel Involvement).
238 Werner Wirth
4 Ausblick
Wie der Beitrag darlegt, ist die Forschung zur emotionalen Medienwirkung sehr he-
terogen: Neben Wirkungen auf Erregung und positiven bzw. negativen Affekten wer-
den auch Wirkungen auf diskrete Emotionen sowie auf komplexe Metakonzepte wie
Involvement oder Unterhaltung untersucht. Auch in theoretischer Hinsicht ist das For-
schungsfeld (mindestens) zweigeteilt. Beim dimensionalen Ansatz stehen Wirkungen
auf emotionale Valenz und Erregung, bei der emotionsspezifischen Konzeption Wir-
kungen auf diskrete Emotionen im Zentrum. Die aktuelle Forschung zeigt eine Tendenz
zur emotionsspezifischen Konzeption, auch wenn immer noch viele Studien den dimen-
sionalen Ansatz verfolgen. Das hat seine Berechtigung: Die affektive Wirkung forma-
ler Medienmerkmale lässt sich besser mit dem dimensionalen als mit dem spezifischen
Ansatz beschreiben. Sinnvoll ist der dimensionale Ansatz auch dann, wenn langfris-
tige Wirkungen betrachtet werden sollen, da etwa Kampagnen und Wahlkämpfe eine
Vielzahl wechselnder diskreter Emotionen auslösen. Eine summarische Betrachtung der
empfundenen Emotionsvalenz ist hier möglicherweise angemessener.
Trotz der analytischen Fokussierung auf Emotionen und Affekte in diesem Beitrag
sollte nicht vergessen werden, dass affektive Reaktionen selten isoliert auftreten. Viel-
mehr sind affektive und kognitive Prozesse stark miteinander verknüpft. Schon bei der
Emotionsgenese spielen Kognitionen eine entscheidende Rolle (Eich et al. 2000; Le-
Doux 1989, Mangold et al. 2001; Scherer et al. 2001). Ebenso lassen sich vielfältige kogni-
tive Folgen emotionaler Reaktionen auf Medien aufzeigen (Lang et al. 1995). Umgekehrt
reichen die emotionalen Folgen kognitiver Verarbeitung von der Emotionsgenese selbst
über die Emotionsregulation bis hin zur emotionalen Befriedigung bzw. Frustration
(etwa bei Neuen Medien, Bucy & Newhagen 2004). Schließlich gilt dies erst recht für
die gerade für die Wirkungsforschung so relevanten Metakonzepte: Emotion und Kog-
nition sind stark miteinander verwoben und lassen sich allenfalls analytisch trennen.
240 Werner Wirth
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Unterhaltungserleben als Wirkung
der Medienrezeption
Marco Dohle & Uli Bernhard
Abstract Der Beitrag befasst sich mit der Frage, was das Unterhaltungserleben als Wirkung der Re-
zeption medialer Inhalte ausmacht. Dazu werden notwendige Bedingungen für die Entstehung einer
Unterhaltungserfahrung und grundsätzliche Merkmale eines Unterhaltungsgefühls erläutert. Zunächst
werden positive Gefühle wie Genuss und Vergnügen als ein Kern des Unterhaltungserlebens diskutiert.
Danach wird dargelegt, dass Unterhaltung ein komplexes Phänomen ist, das von den Beziehungen und
Wechselwirkungen zwischen Individuum, Stimulus und Situation abhängt. Daran anknüpfend wird auf
die Möglichkeiten der Verarbeitung negativer Emotionen eingegangen, insbesondere auf die Entste-
hung positiver Metaemotionen. Abschließend wird gezeigt, dass es auch als unterhaltsam empfunden
werden kann, selbstbestimmte, spielerische Situationen aktiv zu bewältigen.
Wir leben, darauf haben Zillmann und Vorderer (2000) bereits vor mehr als zehn Jahren
hingewiesen, in einem Zeitalter der Unterhaltung. In der Tat nehmen Unterhaltungsan-
gebote einen hohen Stellenwert im alltäglichen Leben ein: Das Spektrum ist enorm und
reicht von Straßenkünstlern in der Fußgängerzone über Konzerte und Sportveranstal-
tungen bis hin zu den Attraktionen in Freizeitparks. Der vielleicht größte Teil an Unter-
haltungsangeboten findet sich allerdings in den Massenmedien. Insbesondere das Fern-
sehen gilt mit seinen Spielfilmen, Soap Operas oder Spielshows gemeinhin als wichtiger
Unterhaltungslieferant. Aber auch in anderen Medien, etwa im Radio oder in Zeitschrif-
ten, finden sich Inhalte, die vorwiegend das Ziel haben, die Rezipienten zu unterhalten.
Nicht zuletzt hat die Diffusion der Online-Medien das Unterhaltungsangebot noch ein-
mal deutlich erweitert, beispielsweise durch die mehr oder weniger professionell herge-
stellten YouTube-Videos mit ihren lustig-skurrilen Inhalten.
Warum ist es angebracht, sich im Kontext von Medienwirkungen mit Unterhaltung
zu beschäftigen, wenn sie doch häufig als ein Bestandteil des Medienangebots aufge-
fasst wird ? Eine Antwort auf diese Frage lautet: Der Versuch, mediale Unterhaltung
Das Unterhaltungsbedürfnis von Menschen ist nicht neu – davon zeugen u. a. die antiken
Theatervorstellungen und Zirkusspiele. Und Medien stellen schon lange ein geeignetes
Mittel dar, um dieses Bedürfnis zu befriedigen, sind sie doch oft ohne großen zeitlichen,
finanziellen sowie sozialen Aufwand verfügbar und bieten eine enorme Vielfalt an An-
geboten. Entsprechend hoch ist der Anteil der Unterhaltungsrezeption an der Gesamt-
mediennutzung und am Freitzeitverhalten (z. B. Gerhards & Klingler 2011). Es ist daher
überraschend, dass es lange Zeit vernachlässigt wurde, Unterhaltung im Zusammen-
hang mit Medienrezeption zu erforschen (Bryant 2004). Mittlerweile lässt sich jedoch
eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand ausma-
chen. Der Fokus liegt im Folgenden auf solchen Arbeiten, die sich mit medial vermittel-
ter Unterhaltung aus einer Rezeptionsperspektive befassen (für ausführliche Überblicke
siehe u. a.: Bryant et al. 2003; Bryant & Vorderer 2006; Wirth et al. 2006; Wünsch 2006;
1 Es ist somit nicht das Ziel des Beitrags, weiterführende Wirkungen der Unterhaltungsrezeption zu un-
tersuchen – also z. B. die Fragen, ob die Rezeption gewalthaltiger Spielfilme aggressiv macht (vgl. den
Beitrag von Friedrich in diesem Band) oder welche Kultivierungseffekte durch die Nutzung fiktionaler
Fernsehserien zu erwarten sind (vgl. den Beitrag von Rossmann in diesem Band).
Unterhaltungserleben als Wirkung der Medienrezeption 249
Zillmann & Vorderer 2000; komprimiert und aktuell: Klimmt & Vorderer 2009; Oliver
2009; Vorderer & Hartmann 2009; zur Messung u. a.: Trepte 2006).
Aus der Forschung lassen sich etliche Hinweise ableiten, die zu einer näheren Bestim-
mung des Unterhaltungsgefühls als Folge der Medienrezeption beitragen. Dabei zeigt
sich ein komplexes Bild, denn die Entwicklung eines Unterhaltungsempfindens und
seine Intensität sind von verschiedenen, in sich differenzierten Faktoren und ihrem Zu-
sammenspiel abhängig. Zudem liegt inzwischen eine nennenswerte Zahl theoretischer
Ansätze vor, die sich auf zum Teil sehr unterschiedliche Aspekte des Unterhaltungs-
erlebens konzentrieren (object-specific theories; Klimmt & Vorderer 2009) – z. B. auf
das Phänomen der Spannung (vgl. den Beitrag von Hastall in diesem Band), auf perso-
nenorientierte Wahrnehmungen wie Empathie (vgl. den Beitrag von Döring in diesem
Band) oder auf Prozesse eines starken Involvements (vgl. den Beitrag von Hofer in die-
sem Band). Dennoch sind einige grundsätzliche Merkmale einer Unterhaltungserfah-
rung bzw. notwendige Bedingungen für die Entstehung einer solchen Erfahrung fest-
stellbar (vgl. Dohle 2011, S. 21 ff.):
Diese Definition steht stellvertretend für eine Reihe von Auslegungen, die Unterhal-
tungsempfinden mit verschiedenen Facetten positiver Emotionen gleichsetzen. Zudem
finden sich Analysen, die Unterhaltung als das Gegenteil von negativen Zuständen wie
Langeweile oder Traurigkeit begreifen (z. B. Klaus 1996). Empirisch untermauert wird
diese Sichtweise durch Ergebnisse von Gratifikationsstudien: Unterhaltung wird den Be-
fragten zufolge in erster Linie mit Spaß und Genuss verbunden (z. B. Dehm 1984).
Unterhaltung sollte jedoch nicht als simples, eindimensionales Phänomen verstan-
den werden, das sich als Folge der Nutzung fröhlich-lustiger Inhalte in Lachen und guter
Laune niederschlägt. Die Komplexität des Konstruktes ‚Enjoyment‘ wird z. B. bei Vor-
derer et al. (2004) anschaulich (siehe Abbildung 1). Das Vergnügen steht dort zwar im
Kern des Unterhaltungserlebens, ist aber abhängig von verschiedenen Voraussetzungen
auf Rezipienten- und Medieninhaltsseite sowie von Nutzungsmotiven. Außerdem kann
es sich höchst unterschiedlich manifestieren – etwa in Form von Heiterheit, aber z. B.
auch als Spannung oder gar Nachdenklichkeit und Melancholie. ‚Enjoyment‘ ist somit
als Zustand zu verstehen, der letztendlich eine Reihe konkreter Gefühle dominiert bzw.
überlagert. Tut er dies nicht, dürfte ein Rezipient sich nicht (gut) unterhalten fühlen
(siehe dazu auch die Abschnitte 4 und 5).
Eine zentrale Stellung im Zusammenhang mit der Rolle positiver Emotionalität für
die Unterhaltungserfahrung nehmen die Arbeiten von Dolf Zillmann und Kollegen ein.
Ihr umfangreiches Forschungsprogramm umfasst die Analyse aller Stadien der Nut-
zung unterschiedlichster Medienangebote mit Unterhaltungspotenzial – von der Selek-
tion über den Rezeptionsvorgang bis hin zu Wirkungen (im Überblick: Bryant et al.
2003). Mediale Unterhaltung hat für Zillmann in erster Linie die Funktion einer „emo-
tion machine“ (Klimmt & Vorderer 2009, S. 348). Er geht davon aus, dass Menschen he-
donistisch veranlagt sind und nach unmittelbarem Wohlbefinden streben.
Daran knüpft u. a. die Mood-Management-Theorie als zentrales Konzept von Zill-
mann zur Erklärung der Selektion medialer Unterhaltungsangebote an (u. a. Zillmann
2000): Demnach wählen Rezipienten eher unbewusst solche Medieninhalte aus, die
ihnen angenehme Gefühlszustände ermöglichen oder die dazu führen, unangenehme
Zustände zu verringern. Vor diesem Hintergrund lassen sich zwei Dimensionen der
Stimmungsregulierung voneinander trennen: Ein Ziel ist es, positive Stimmung zu in-
252 Marco Dohle & Uli Bernhard
tensivieren oder schlechte Stimmung zu mindern. Ein zweites Ziel besteht darin, Unter-
oder Überstimulation auszugleichen (etwa durch die Rezeption eines aufregenden Fil-
mes bei Langeweile). Eine Wirkung der Selektion medialer Unterhaltungsangebote ist
demnach die als positiv empfundene Stimmungsregulierung. Anders formuliert: Diese
führt bei Rezipienten dazu, die Nutzung medialer Inhalte als unterhaltsam wahrzuneh-
men (kritisch dazu: Schramm & Wirth 2008).
Andere Arbeiten von Zillmann setzen am Rezeptionsprozess an. Sie bieten Erklä-
rungen dafür, warum die Rezeption spezifischer Inhalte Vergnügen bereiten und Stim-
mungen verbessern kann. Einen Kern dieser Arbeiten bildet die Affective-Disposition-
Theory, die in enger Verbindung mit der Bedeutung empathischer Gefühle gegenüber
Medienfiguren steht und mit Zillmanns Spannungskonzept verknüpft ist (im Über-
blick u. a.: Raney 2006). Gemäß der Theorie bilden Rezipienten in einem ersten Schritt
Einstellungen gegenüber medial vermittelten Personen aus. Als Folge hoffen sie auf ei-
nen positiven Handlungsausgang für positiv bewertete Personen sowie einen negati-
ven Handlungsausgang für negativ bewertete Personen (und fürchten, dass das Gegen-
teil eintritt). Dadurch entsteht Spannung. Treten die erhoff ten Entwicklungen ein, führt
dies zu Freude. Diese ist umso intensiver, je stärker die affektiven Einstellungen gegen-
über den Medienfiguren sind und je unwahrscheinlicher der erhoff te Ausgang war. Ein
solches Happy End kann zu regelrechter Euphorie führen, da die ‚aufgestaute‘ physiolo-
gische Erregung abgebaut und dabei auf die kognitive Verarbeitung des Erlebten trans-
feriert wird (Excitation-Transfer-Theory; Zillmann 1983).
Diese Ausführungen verdeutlichen einerseits, dass die Auseinandersetzung mit me-
dialen Personen eine wesentliche Ursache für die Entstehung von Emotionen (vgl. den
Unterhaltungserleben als Wirkung der Medienrezeption 253
Beitrag von Wirth in diesem Band) und eines mit Freude und Vergnügen gleichgesetz-
ten Unterhaltungsgefühls ist (siehe auch parasoziale Interaktionen und Beziehungen
als weiteres personenorientiertes Konzept in der Unterhaltungsforschung; Hartmann
2010).
Sie deuten andererseits an, dass im Forschungsprogramm von Zillmann psycho-
physiologische Ansätze der Emotionsforschung einen besonderen Stellenwert haben.
Freude und Vergnügen finden sich als Ziele jedoch z. B. auch in evolutionstheoretischen
Ansätzen und ihrer Anwendung auf die als unterhaltsam empfundene Medienrezep-
tion (Miron 2006): Dort wird der funktionale Nutzen eines positiven emotionalen Erle-
bens betont, das sich bei der Rezeption von Medieninhalten unter Umständen einstellt
(Schwab 2001). Eine weitere Perspektive, unter der die Bedeutung positiven Erlebens im
Kontext unterhaltsamer Medienrezeption zunehmend diskutiert wird, ist die psycholo-
gische Well-Being-Forschung oder die positive Psychologie (Vorderer et al. 2006; Vor-
derer & Hartmann 2009).
balere Empfindung auf, die wir ‚Makroemotion‘ nennen“ (Früh 2002, S. 164). In diesem
Prozess sind sog. Valenztransformationen möglich, so dass auch negative Emotionen
auf der Mikroebene zu einem positiven Empfinden auf der Makroebene führen können
(vgl. hierzu insbesondere Wünsch 2006). Ist das triadische Fitting gegeben und wird
die Rezeption als unverbindlich und kontrollierbar wahrgenommen, handelt es sich um
die Makroemotion ,Unterhaltung‘. Diese wird nach Früh nicht immer einheitlich emp-
funden, da sie sich aus verschiedenen Mikrobausteinen zusammensetzen kann. Des-
halb wird das Unterhaltungserleben bei einem Horrorfilm und einer Liebeskomödie
unterschiedlich ausfallen. Die Gemeinsamkeit, gleichsam der Unterhaltungskern, be-
steht indes in einem positiven Makroerleben mit dem Aspekt der Kontrollierbarkeit
(Früh 2002, S. 240).
Dieses Mehrebenenmodell der Unterhaltung liefert somit erste Hinweise dafür, wie
das scheinbare Paradox aufgelöst werden kann, wonach sogar negative Emotionen als
unterhaltende Wirkung der Medienrezeption anerkannt werden können. Diesen Hin-
weisen soll im nächsten Abschnitt ausführlicher nachgegangen werden.
„Distressing experiences during exposure: Are we still talking entertainment ?“, fragt
Vorderer (2003, S. 135). Nimmt man zur Kenntnis, dass Horrorfilme, Thriller oder Tra-
gödien gerade wegen ihrer unterhaltenden Wirkung oft und gerne genutzt werden, so
lässt sich diese Frage zumindest für einen Teil des Medienpublikums bejahen. Dennoch
ist es eine theoretische Herausforderung, Argumente dafür zu finden, dass als Folge ei-
ner Rezeption solcher Inhalte ein Unterhaltungserleben entstehen kann. Arbeiten dazu
finden sich u. a. in der Spannungsforschung (vgl. den Beitrag von Hastall in diesem
Band): Ein Grund, warum sich Rezipienten einem häufig als unangenehm empfunde-
nen Spannungszustand aussetzen, ist die Aussicht auf einen aus ihrer Sicht positiven
Ausgang (siehe Abschnitt 3). Diese Überlegungen können allerdings nicht angemessen
erklären, warum sich ein Unterhaltungserleben auch einstellen kann, wenn ein glück-
liches Ende ausbleibt, also etwa unsympathische Kandidaten in einer Spielshow gewin-
nen, der Lieblingsverein ein im Fernsehen verfolgtes Fußballspiel verliert oder ein Film
tragisch endet. Gerade das Phänomen der Rezeption solcher Tragödien – man denke
etwa an den Erfolg des Films Titanic – hat mittlerweile zu einer Reihe theoretischer
Ausarbeitungen und empirischer Untersuchungen geführt (im Überblick: Dohle 2011).
Wie im vorhergehenden Abschnitt beschrieben, argumentiert beispielsweise Früh
(2002), dass es für die Entstehung von Unterhaltung zunächst keine Rolle spielt, wel-
che Emotionen auf der Mikroebene vorliegen. Entscheidend ist, dass diese Gefühle
zu einer angenehmen ‚Makroemotion‘ transferiert werden. Ein vom Namen und der
Grundüberlegung her ähnliches Erklärungskonzept stellen die sog. Metaemotionen dar.
Sie werden zunehmend als ein wichtiger Teil der Unterhaltungserfahrung gesehen. So
256 Marco Dohle & Uli Bernhard
states, associated with feelings of warmth, compassion, and sympathy“ (Oliver 2008,
S. 41; Oliver 2009) als weitere Manifestationen der Unterhaltungswirkung zu nennen.
Ein etwas anderer Akzent bei der Bestimmung der unterhaltenden Wirkung von Me-
dienrezeption wird in Ausarbeitungen gesetzt, in denen Unterhaltung als Spiel definiert
wird. Diese Deutung ist in vielerlei Hinsicht naheliegend. So verweist Vorderer (2003)
darauf, dass die Rezeption medialer Unterhaltungsangebote (bzw. das damit unter Um-
ständen verbundene Unterhaltungserleben) wie auch spielerische Handlungen aus in-
trinsischen Motiven angestrebt und als attraktive Beschäftigung empfunden werden –
weshalb auch ähnliche oder gar identische Angebote häufig wiederholt genutzt werden.
Ferner wird durch die Rahmung der Nutzung medialer Unterhaltungsangebote als spie-
lerische Tätigkeit unterstrichen, dass die rezipierten Geschehnisse keine unmittelbaren
Konsequenzen für den jeweiligen Nutzer haben. Auch in dieser Konzeptualisierung des
Unterhaltungserlebens werden somit die Freiwilligkeit und Unverbindlichkeit des Han-
delns betont: Ein Spiel wird aus eigenem Antrieb heraus begonnen, und es kann jeder-
zeit aus eigenem Willen heraus beendet werden. Hartmann (2006) integriert die Per-
spektive des Spiels in seine Definition des Unterhaltungserlebens:
„Stark komprimiert kann Unterhaltungserleben als der Genuss bezeichnet werden, der in
hinreichend selbstbestimmt ausgewählten und somit ungezwungenen Handlungskontexten
im Spannungsfeld zwischen eskapistischer Regeneration und Erholung und der aktiven Be-
wältigung ,spielerischer‘ Herausforderungen einsetzt.“ (Hartmann 2006, S. 9)
Zwei Aspekte dieser Definition sind hervorzuheben: Zum einen wird betont, dass sich
das Unterhaltungsgefühl sehr unterschiedlich manifestieren kann – als eher passive Re-
generation und Erholung, aber auch als Ergebnis aktiven Handelns. Was im Einzelfall
im Vordergrund steht, hängt wiederum vom Rezipienten selber und der jeweiligen Si-
tuation ab. Zum anderen wird indirekt zugestanden, dass in eine insgesamt positive
Unterhaltungserfahrung auch ‚Rückschläge‘ integriert sein können und diese vom In-
dividuum akzeptiert werden – es handelt sich schließlich um spielerische Herausforde-
rungen oder Erprobungen ohne direkte Auswirkungen auf das reale Leben („as-if qua-
lity of play“; Klimmt & Vorderer 2009, S. 349).
Gerade die Betonung der aktiven Auseinandersetzung mit spielerischen Herausfor-
derungen verdient weitere Beachtung, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Zunächst wird
durch den Hinweis auf die Aktivität des Rezipienten eine Anlehnung an grundlegende
handlungstheoretische Annahmen deutlich. Dadurch wird, viel mehr als z. B. in den Ar-
beiten von Zillmann (siehe Abschnitt 3), eine Intentionalität des Rezipienten in seinem
Mediennutzungsverhalten unterstellt – die freilich auch über die Zeit zu einem stark ha-
258 Marco Dohle & Uli Bernhard
bitualisierten Verhalten führen kann (LaRose 2010). Ein bewusst wahrgenommener Teil
des Unterhaltungserlebens – und somit auch ein Motiv für die Rezeption von Angebo-
ten mit hohem Unterhaltungspotenzial – kann für den Rezipienten etwa darin bestehen,
dass er über die entsprechenden medialen Inhalte nützliche Hinweise und Hilfestellun-
gen zur Bewältigung seines eigenen Lebens oder der dort auftretenden Herausforde-
rungen erhält. Die Rezeption von Fernsehserien oder Filmen kann beispielsweise helfen,
stellvertretend zu lernen, wie mit Konflikten oder dramatischen Ereignissen umgegan-
gen werden kann. Diese Sichtweise erweitert das Spektrum eines Unterhaltungserlebens
erheblich (macht aber auch Abgrenzungen zu anderen Erlebensformen schwieriger; vgl.
z. B. Zillmann 2000). Aus Sicht des Rezipienten ist ein solches Erleben aber weiterhin
angenehm, weil es sich eben in einem spielerischen und unverbindlichen Kontext er-
eignet. Unverbindlichkeit bedeutet indes nicht, dass die unterhaltenden Inhalte keine
Relevanz für den Rezipienten haben dürfen: Erst durch eine Relevanzzuweisung ist es
überhaupt möglich, dass sich eine emotionale Beteiligung – als zentrale Voraussetzung
für die Entstehung eines Unterhaltungsgefühls – des Rezipienten entwickelt (Vorderer &
Hartmann 2009).
Der Ansatz, aktives Handeln in spielerischen Kontexten als wichtigen Teil des Un-
terhaltungserlebens zu betrachten, hat zudem einen weiteren Nutzen: Er ist dafür ge-
eignet, Unterhaltungswirkungen in neueren Medienumgebungen zu erfassen. Gemeint
sind damit zum einen Online-Angebote, die etwa über ein hohes Interaktivitätspoten-
zial verfügen und eine stärkere Aktivität ihrer Nutzer ermöglichen als traditionelle Me-
dienangebote. Die Nutzung von Videoportalen, Weblogs oder Social Network Sites wird
häufig als sehr unterhaltsam empfunden – und ebenso das Erstellen von Videoclips oder
Texten, die über Videoportale oder in Weblogs veröffentlicht werden (Trepte & Reinecke
2010).
Zum anderen wird mit der aktiven Bewältigung von spielerischen Herausforderun-
gen genau das beschrieben, was im Kern der Computerspielnutzung steht: Dort ist ak-
tives Handeln nicht nur möglich, sondern es ist schlichtweg erforderlich. Allein schon
diese Tatsache trägt dazu bei, dass sich das Unterhaltungserleben während der Beschäf-
tigung mit Computerspielen erheblich von der unterhaltenden Wirkung etwa einer
Fernsehsendung unterscheiden kann. Zentrale Komponenten des Unterhaltungsgefühls
bei der Computerspielnutzung sind – neben auch in anderen Rezeptionssituationen
relevanten Phänomenen wie dem der Spannung – die Selbstwirksamkeit, das Kom-
petenzempfinden und Erfolgsgefühle (Klimmt & Vorderer 2009). Genuss und Freude
entstehen also u. a. durch das Gefühl, Herausforderungen durch eigenes Handeln zu
bewältigen und auf diese Weise ein bestimmtes Ziel zu erreichen (oder sich der Zieler-
reichung zumindest zu nähern). Auch der in anderen Unterhaltungskontexten wichtige
Eindruck der Kontrollierbarkeit einer Situation erhält bei der Computerspielnutzung
eine etwas andere Bedeutung: Während Kontrolle während eines Kinofilms vorrangig
die Einschätzungen eines Individuums umfasst, ob es mit den durch einen unveränder-
baren Stimulus ausgelösten Emotionen umgehen kann (z. B. durch Regulationsmecha-
Unterhaltungserleben als Wirkung der Medienrezeption 259
7 Fazit
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262 Marco Dohle & Uli Bernhard
Abstract Spannungserleben zählt zu den intensivsten und von Rezipienten am meisten geschätzten
Medienwirkungen. Dieses Kapitel gibt einen Überblick über den theoretischen und empirischen For-
schungsstand zum Themenbereich medialer Spannung. Spannungserleben wird als dynamisches und
multidimensionales Konstrukt vorgestellt, dass durch bestimmte Medieninhalte ausgelöst wird und sich
in spezifischen kognitiven (z. B. Wahrnehmung einer Bedrohung für Protagonisten), emotionalen (z. B.
Furcht und Hoffnung), physiologischen (z. B. körperliche Erregung) und verhaltensbezogenen Prozessen
(z. B. intensivierter Zuwendung zum Medieninhalt) manifestieren kann. Die Diversität bisheriger Model-
lierungen, die für das Spannungserleben als relevant postulierten Voraussetzungen und Begleitprozesse,
die Effekte von Spannung sowie moderierende Eigenschaften der Rezipienten werden thematisiert.
1 Einleitung
1.1 Spannungsdefinitionen
Obgleich jeder Spannung subjektiv kennt, erweist es sich als schwierig, diesen Begriff
präzise zu definieren. Als Gegenteil von Spannung werden typischerweise Langeweile
(Vorderer 1997) oder Entspannung (Fill 2007) angesehen. In vielen Definitionsvorschlä-
gen bildet die Unsicherheit der Rezipienten über den Ausgang einer Episode die zen-
trale Voraussetzung für Spannungserleben (vgl. hierzu auch Abschnitt 3.4). Diese Sicht-
weise korrespondiert mit Wörterbuch- und Rezipientenverständnissen von Spannung
(Schulze 2006) und der Wortherkunft (suspendere als „in Unsicherheit schweben“;
Schwab 2008, S. 235). Spannung wurde in diesem Sinne beispielsweise charakterisiert als
„sustained uncertainty concerning the direction of the dramatic action“ (Slater & Rouner
2002, S. 172) oder als „psychisches Erlebnis (…), das mit der Rezeption solcher Narratio-
nen einhergeht, deren Verlauf offen bzw. unsicher ist“ (Vorderer 1997, S. 242). Allerdings
finden sich in der Literatur diverse alternative Zugänge zum Spannungsbegriff, wes-
wegen Wulff (1993a) ein „Gewirr von inkompatibel scheinenden Bestimmungsstücken,
die von verschiedensten Autoren benannt werden, wenn sie Spannung zu definieren
versucht haben“ (S. 97) beklagt. Drei relativ häufig zitierte Zugänge seien exemplarisch
angeführt: Carroll (1990) sieht die Moralität und Wahrscheinlichkeit möglicher Hand-
lungsausgänge als ausschlaggebend für Spannung an: „I am suggesting that, in the main,
suspense in popular fiction is a) an affective or emotional concomitant of a narrative an-
swering scene or event which b) has two logically opposed outcomes such that c) one is
morally correct but unlikely and the other is evil and likely“ (S. 138). Zillmann (1996)
konzipiert Spannung ebenso als emotionalen Zustand, betont aber die Rolle negativen
Affekts: „I can now define the experience of drama-evoked suspense (…) as a noxious
affective reaction that characteristically derives from the respondents’ acute, fearful ap-
prehension about deplorable events that threaten liked protagonists, this apprehension
being mediated by high but not complete subjective certainty about the occurrence of
the anticipated deplorable events“ (S. 208; vgl. hierzu auch Abschnitt 2.2). Mellmann
(2007) wiederum versteht Spannungserleben als „Ensemble (…) physisch-behavioraler
Begleiterscheinungen verschiedener Emotionen“ (S. 245), das sich in bestimmten Kör-
pergefühlen und Verhaltenstendenzen manifestieren soll (vgl. Abschnitt 2.3).
Diese Diversität der Verständnisse ist mehreren Gründen geschuldet. Der dynami-
sche und multidimensionale Charakter von Spannung erschwert die Definition und
theoretische Modellierung. Der Forschungsstand entstammt verschiedenen wissen-
schaftlichen Disziplinen (neben der Kommunikationswissenschaft insbesondere der Li-
teraturwissenschaft, Psychologie, Filmwissenschaft und Philosophie) mit teils abwei-
chenden theoretischen, terminologischen und methodischen Zugängen. Grundsätzlich
lassen sich aber zwei Traditionen der Spannungserforschung voneinander abgrenzen
(Vorderer 1994a): Beim (a) werktheoretischen Zugang stehen spannungserzeugende
Merkmale von Medienangeboten im Mittelpunkt des Interesses, beim (b) rezeptions-
psychologischen Zugang hingegen Prozesse beim Rezipienten vor, während und nach
Spannung 265
dem Erleben von Spannung. Mittlerweile gilt als weitgehend anerkannt, dass Spannungs-
erleben am besten als Interaktion von Charakteristika des Medienangebots mit Merk-
malen der Rezipienten modelliert werden sollte, entsprechende empirische Arbeiten
sind allerdings noch selten (z. B. Plantinga & Smith 1999; Tan 1996). Die nachfolgenden
Erläuterungen erfolgen aus Gründen der Nachvollziehbarkeit am (fiktiven) Beispiel ei-
nes Hollywood-Blockbusters, sie lassen sich aber überwiegend auch auf andere Medien-
angebote übertragen. Spannungserleben wird dabei grundsätzlich als dynamische rezi-
pientenseitige Reaktion auf die formale und inhaltliche Präsentation einer Geschichte
aufgefasst, welche sich in Form spezifischer Kognitionen (z. B. Antizipation einer Be-
drohung für Protagonisten), Emotionen (z. B. Furcht und Hoffnung), biophysiologischer
Aktivierungen (z. B. körperliche Erregung) und Verhaltenstendenzen (z. B. intensivierte
Aufmerksamkeit) manifestiert.
2.1 Structural-Affect-Theory
Mellmann (2007) konzipiert Spannungserleben primär auf der Basis emotions- und
evolutionspsychologischer Annahmen. Medienangebote werden als emotionale Attrap-
pen verstanden, die spezifische angeborene Emotionsprogramme auslösen (vgl. Mell-
mann 2006). Die initialen Reaktionen auf emotionsrelevante mediale Stimuli erfolgen
prinzipiell analog zu Reaktionen auf reale Stimuli – zum Beispiel die sexuelle Erregung
beim Sehen erotischer Filme oder das Zusammenzucken bei einem plötzlichen lauten
Knall in spannenden Filmszenen. Die ausgelösten Emotionsprogramme können kom-
plex ausfallen und umfassen niedrige wie höhere Prozesse wie z. B. körperliche Aktivie-
rungen oder Informationssuchen, die in Sekundenbruchteilen gestartet oder gehemmt
werden können, um das Individuum schnell und flexibel auf potenziell kritische Situa-
tionen vorzubereiten. Die damit einhergehenden physiologischen Veränderungen (z. B.
Anstieg der Herzschlagfrequenz oder Fokussierung des Reizes) können den Rezipienten
bewusst werden. Dies gilt gleichermaßen für die parallel ablaufenden Kognitionen und
Informationssuche-Programme, welche beim Sehen eines Filmes z. B. die Rückmeldung
liefern, dass der wahrgenommene bedrohliche Reiz einem fiktionalen Medienangebot
entstammt und keine reale Gefahr darstellt. Die zuvor ausgelösten biophysiologischen
Aktivierungsprogramme werden daraufhin wieder gehemmt. Den „Standardfall einer
spannungsrelevanten emotionalen Reaktion“ entwirft Mellmann (2007) dementspre-
chend in der Form „einer ‚direkten‘, ‚unmittelbaren‘ Reaktion der Psyche des Lesers auf
die imaginierte Reizsituation (der Situationsdetektor eines spannungsrelevanten Emo-
tionsprogramms erzielt einen Treffer)“ (S. 258). Spannungserleben manifestiert sich bei
Rezipienten durch „ein bestimmtes Körpergefühl der Anspannung und Unruhe, und
eine gewisse Verhaltenstendenz, etwa des handlungsvermeidenden Abwartens, der Kon-
zentration auf eine Sache und das Ausblenden anderer“ (ebd.: S. 245). Bei der Wahr-
nehmung aversiver (z. B. bedrohlicher) oder auch appetitiver Reize (z. B. verführerische
Personen) erfolgt automatisch eine motorische Aktivierung zur Vorbereitung möglicher
Handlungen. Parallel setzen aufgrund des kognitiven Bewusstseins um die Fiktionali-
tät des Gesehenen Hemmungsprozesse ein, die z. B. verhindern, dass die Rezipienten
vor Furcht aus dem Kinosaal laufen. Die in anderen Ansätzen anzutreffende Annahme,
dass Rezipienten identisch wie die Protagonisten empfinden müssen, lehnt Mellmann
ab: „Nicht, dass der Geheimagent Angst vor der Bombe hat oder die unschuldige Jung-
frau sich vor dem Vampir fürchtet, ist spannungsrelevant, sondern die Bombe und
der Vampir selbst sind es“ (Mellmann 2007, S. 259). Empathische Prozesse wie z. B. das
Empfinden von Mitleid mit Protagonisten oder von Empörung über Handlungen der
Antagonisten sollen dennoch aufgrund angeborenen sozialer Dispositionen möglich
sein. Durch fehlende Informationen in der Geschichte soll ferner ein Quasibedürfnis
nach der Erledigung von Denkaufgaben aktivierbar sein, dessen Erfüllung als lustvoll
erlebt wird. In der Summe liegt damit ein komplexer und konsequenter Gegenentwurf
Spannung 269
Einige der in verschiedenen Modellierungen als für das Spannungserleben zentral pos-
tulierten Prozesse sollen nachfolgend ausführlicher diskutiert werden. Solche Prozesse
wurden auf verschiedenen Ebenen beschrieben und es ist überwiegend schwierig zu be-
stimmen, inwiefern sie Voraussetzungen, Begleitprozesse oder Effekte des Spannungs-
erlebens sind. Zunächst jedoch seien einige zentrale inhaltliche und formale Merkmale
von Medienangeboten zur Auslösung oder Aufrechterhaltung von Spannung angespro-
270 Matthias R. Hastall
chen. Als wichtige Voraussetzungen für Spannungserleben nennt Alwitt (2002) bei-
spielsweise die Existenz von Charakteren, einen konflikthaltigen Plot mit alternativen
(„guten“ versus „schlechten“) Ausgängen der Geschichte sowie eine Reihe zusätzlicher
Informationen, welche die Rezipienten erhalten, aber nicht notwendigerweise die
Protagonisten (z. B. Andeutungen großer Bedrohungen). Zudem gibt es prototypische
Spannungsmotive wie beispielsweise „plötzliche unerwartete Geräusche“, „plötzlich
hinter einem zuschlagende Türen“, „Rettung in letzter Sekunde“, „unter falschem Ver-
dacht“, „Flucht / Verfolgungsjagd“, „aus der Dunkelheit starrende Augen“ oder „akute
Zeitnot“ (Gerrig 1996; Jenzowsky & Wulff 1996). Spannung kann darüber hinaus durch
sprachliche Mittel (Fill, 2007), klassische „Cliff hanger“, Schnitt-, Beleuchtungs- und
Bildkompositionstechniken sowie auditive Hinweisreize in der Form „spannungsgela-
dener“ Musik oder Soundeffekte gefördert werden. Der Abbruch von Spannungserleben
ist zu erwarten, sobald „die gestellte Frage beantwortet ist und sich die Ungewissheit in
Gewissheit verwandelt hat“ (Schulze 2006, S. 73).
Weitgehend akzeptiert ist, dass Rezipienten für das Erleben von Spannung eine Vorah-
nung von einer drohenden Gefahr für die Protagonisten haben müssen, welche durch ent-
sprechende Hinweise in der Geschichte entsteht. Hierbei kann es sich um einen Wis-
sensvorsprung der Rezipienten gegenüber den Protagonisten handeln. Zentral für das
Spannungserleben sind generierte Erwartungen beispielsweise in der Spannungsmodel-
lierung von Wulff (1996): „The experience of suspense does not come from something
exciting being shown in a film. Rather, it results from the extrapolation of possible
events from a given situation; it is the result, or concomitant, of the anticipating activity“
(S. 16). Die Bedeutung der Antizipation für das Spannungserleben demonstriert auch
die Untersuchung von Nomikos, Opton und Averill (1968), bei der Probanden einen
nichtfiktionalen Film über Unfälle in Sägemühlen sahen, während ihre Herzfrequenz
und ihr Hautleitwiderstand aufgezeichnet wurden. Die Befunde zeigen, dass der größte
Anstieg des Stresserlebens in Phasen der Antizipation erfolgt und durch das Zeigen des
eigentlich befürchteten Ereignisses (hier: des Verlusts eines Fingers eines Protagonisten)
nur noch in relativ geringem Umfang gesteigert wird.
Spannungserleben kann ein sehr intensiver Vorgang sein und mit gestiegener Aufmerk-
samkeit, Stress, Muskelanspannungen, tieferer sowie gelegentlich stockender Atmung,
erhöhter Schmerztoleranz, Schweißausbrüchen, Unruhe und reduzierter Müdigkeit ein-
hergehen (Mellmann 2007; Zillmann 1996; vgl. auch den Beitrag von Fahr in diesem
Band). Da Spiegelneuronen es Menschen ermöglichen, die Gedanken und Gefühle an-
derer Personen „mitzuerleben“ (Bauer 2005), ist das Spektrum möglicher kognitiver,
emotionaler und physiologischer Prozesse beim Spannungserleben groß. Die mit dem
Spannungsempfinden einhergehenden physiologischen Veränderungen wurden schon
früh mittels physiologischer Indikatoren wie Hautleitfähigkeit oder Herzschlagfrequenz
gemessen (Nomikos et al. 1968; Zillmann et al. 1975) und sollten prinzipiell auch mittels
bildgebender Verfahren wie funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), Magne-
toenzephalographie (MEG) oder Elektroenzephalographie (EEG) dokumentierbar sein
Spannung 273
(Fill 2007). Allerdings wird bezweifelt, dass sich Spannungserleben allein aufgrund bio-
physiologischer Indikatoren sinnvoll beschreiben lässt (Hoffner & Cantor 1991; Schwab
2008).
Alfred Hitchcock bezeichnete Spannung als „most powerful means of holding onto the
viewer’s attention“ (Hitchcock in Truffaut 1985, S. 72). Und tatsächlich scheint einer der
Haupteffekte spannender Medieninhalte darin zu bestehen, eine starke Aufmerksam-
keit der Rezipienten zu aktivieren. Alwitt (2002) fand außerdem Hinweise darauf, dass
spannende Medienangebote die Zeit gefühlt schneller vergehen lassen als weniger span-
nende, was als Aufmerksamkeitsbonus interpretiert wurde. Die durch spannende Plots
hervorgerufene Transportation (Green & Brock 2002) der Rezipienten in die Geschichte
hat den Nebeneffekt, dass persuasive Absichten in geringerem Ausmaß bemerkt werden
und weniger Botschaftsabwehr (z. B. selektive Vermeidung, Reaktanz oder Generierung
von Gegenargumenten) zu erwarten ist (Moyer-Gusé 2008). Da spannende Medien-
inhalte ohnehin kaum mit Überzeugungsversuchen assoziiert werden, werden sie ent-
sprechend unkritischer rezipiert. Auch wenn die Einbettung persuasiver Botschaft en in
Narrationen die Gefahr mit sich bringt, dass die Geschichte stark von der eigentlichen
Werbebotschaft ablenkt (Alwitt 2002), können spannende Geschichten als sehr per-
suasiv gelten. Im Rahmen von Entertainment-Education-Strategien (vgl. Singhal et al.
2004) werden sie mit dem expliziten Ziel der Beeinflussung der Zuschauer eingesetzt.
Ein weiterer typischer Effekt von Spannungserleben ist, dass entsprechende Medien-
inhalte als unterhaltsamer und generell positiver bewertet werden (z. B. Zillmann et al.
1975). In der Summe spricht viel dafür, dass Spannung intendierte wie nicht-intendierte
Medieneffekte verstärken kann und dass den Rezipienten diese Einstellungs-, Wissens-
und Verhaltensänderungen nur selten bewusst werden.
Spannungserleben kann sehr individuell sein: „Was den einen mit klopfendem Herzen
gebannt auf die Leinwand starren lässt, ruft beim anderen Gähnen oder gar Belustigung
hervor“ (Ackermann 2005, S. 118). Im Laufe der intraindividuellen Entwicklung können
sich außerdem Vorlieben für spannende Medieninhalte ändern (Hoffner & Levine 2005;
Jose & Brewer 1984). Auch zyklische Schwankungen wurden beobachtet: Bei Frauen
wurden variierende Präferenzen in Abhängigkeit vom Menstruationszyklus festgestellt
(Weaver & Laird 1995). Einzelne Forschungsarbeiten sprechen dafür, dass Männer ein
stärkeres Maß an Spannung benötigen und aushalten, um sich gut unterhalten zu fühlen
(Gan et al. 1997; Vorderer 1994b). Individuelle Vorlieben oder Abneigungen für span-
274 Matthias R. Hastall
5 Ausblick
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278 Matthias R. Hastall
Abstract Präsenzerleben und Transportation beschreiben das Phänomen, dass Mediennutzer während
der Rezeption so sehr absorbiert werden bzw. in das medial Präsentierte eintauchen, dass die Medien-
vermitteltheit ihrer Erfahrung in Vergessenheit gerät und realweltliche Stimuli nicht (mehr) verarbei-
tet werden. Während Präsenzerleben räumliche und soziale Aspekte der sog. Non-Mediation beschreibt,
meint Transportation das Eintauchen in die Narration einer fiktiven Erzählung. Beide Konstrukte wer-
den einerseits von Eigenschaften des Mediums oder dessen Inhalt, andererseits von kognitiven Prozes-
sen, Persönlichkeitseigenschaften und Fähigkeiten der Nutzer und deren Motiv- und Interessenlagen
determiniert. Der Beitrag geht in einem ersten Schritt auf die Entstehung von Transportation und Prä-
senzerleben ein und behandelt dann deren mögliche Wirkungen. Schließlich werden methodische bzw.
messtheoretische Aspekte thematisiert. Überlegungen zu offenen Fragen und Desideraten bilden den
Abschluss des Überblicks.
1 Einführung
„Mit einem kurzen Aufschrei duckt er sich. Beinahe hätte ihm der Zombie den Kopf abge-
schlagen. Glücklicherweise konnte er dem Monster mit einer Machete, die er vor einer Wo-
che einem Wegelagerer nach einem erbitterten Kampf abgenommen hatte, im letzten Mo-
ment zuvorkommen“. Diese oder ähnliche Szenen spielen sich täglich ab – zwar nicht in
der realen, aber in einer medienvermittelten, virtuellen Welt. Für die Rezipienten spielt
die Unterscheidung real vs. medienvermittelt bisweilen keine Rolle mehr; sie vergessen
die Medienvermitteltheit ihrer Erfahrung und tauchen gänzlich in die virtuelle Welt
ein – sei es beim Lesen eines spannenden Romans, beim Fernsehen oder beim Spielen
eines Computerspiels. Der Umstand, dass das Medium in Vergessenheit gerät und die
virtuelle Welt real erscheint, wird als Non-Mediation bezeichnet. Man bedient sich bei
der Beschreibung dieses Phänomens der beiden Begriffe Präsenzerleben (engl. presence)
und Transportation.1
1 Daneben existieren noch weitere Konzepte, welche die Idee der Non-Mediation – zumindest implizit –
teilen. Die Definition von Flow beispielsweise (Nakamura & Csikszentmihalyi 2009) umfasst explizit
Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über Wesen, Entstehung und Wir-
kung(en) der beiden Non-Mediationsphänomene. Im nächsten Abschnitt werden die
beiden Begriffe genauer definiert und voneinander abgegrenzt. Abschnitt drei befasst
sich mit den Ursachen und Abschnitt vier mit den Folgen von Präsenzerleben und
Transportation in medienvermittelte(n) Realitäten. Schließlich behandelt der fünfte Ab-
schnitt mit Fragen der Messung und in Abschnitt sechs werden nach einer Zusammen-
fassung offene Fragen und Forschungsdesiderate diskutiert.
2 Begriffsdefinitionen
Sowohl Präsenzerleben als auch Transportation haben ihren Ursprung nicht in der
Kommunikationswissenschaft, obwohl die beiden Konzepte ohne ein Medium kaum
denkbar, ja gar nicht existent wären. Während Transportation vor allem in der Sozial-
psychologie und dort im Rahmen der Forschung zu narrativer Persuasion entwickelt
wurde (vgl. Green und Brock 2000), hat Präsenzerleben einen ingenieurswissenschaftli-
chen Hintergrund (vgl. Minsky 1980).
2.1 Präsenzerleben
Marvin Minsky beschrieb 1980 mit dem Begriff Telepresence die Möglichkeit, einen
Menschen durch hoch entwickelte technologische Einrichtungen an einem entfernten
Ort (z. B. in der lebensbedrohlichen Umgebung eines havarierten Atomkraftwerks) eine
Arbeit verrichten zu lassen, ohne dabei dort physisch anwesend sein zu müssen. Pre-
sence2 (im Folgenden Präsenzerleben) ist die Kurzform von Telepresence. Der Begriff
ein Ausblenden von Sachverhalten, die für die Ausführung der jeweiligen Tätigkeit nicht notwendig
sind. Im Kontext einer Medienrezeptionssituation könnte das durchaus das Medium selbst sein (vgl.
Sherry 2004). Flow ist als Konzept aber nicht explizit an Mediennutzung gebunden, sondern beschreibt
allgemeiner eine Form des Erlebens bei Personen, die eine intrinsisch motivierte Tätigkeit ausfüh-
ren. Auch das willentliche Ausblenden seines Unglaubens an Begebenheiten oder Erscheinungen ei-
ner fiktionalen Narration (engl. willing suspension of disbelief) kann als Non-Mediationsphänomen
im weitesten Sinne gedeutet werden (vgl. Böcking 2008), allerdings handelt es sich dabei eher um
eine Art wohlwollende Rezeptionshaltung, die besser als begünstigender Faktor des Präsenzerlebens
(s. auch Abschnitt 3.2), denn als eigenständiges Non-Mediationsphänomen gesehen werden sollte (vgl.
Abschnitt 3.2). Schließlich liegt mit Involvement ein weiteres Konzept vor, das den Gedanken der Non-
Mediation zumindest implizit enthält (Wirth 2006). Wie sich zeigen wird, wird das Konzept bisweilen
als Komponente und bisweilen als Voraussetzung von Präsenzerleben konzipiert.
2 Um einem auf der Hand liegenden Einwand zuvorzukommen: Präsenzerleben wird hier immer ver-
standen als Präsenzerleben in einem medienvermittelten Raum. Natürlich wird man sich vor allem
dort präsent fühlen, wo man sich tatsächlich gerade physisch befindet. Für die Konzeptualisierung von
Präsenzerleben ist dieser physische oder ‚reale‘ (für eine ausführliche Diskussion zur Realität von Er-
fahrung, vgl. Lee 2004) Raum natürlich vonnöten.
Präsenzerleben und Transportation 281
Letztlich lässt sich das Non-Mediationsphänomen aber auf zwei fundamentale Di-
mensionen reduzieren, die gleichzeitig sein Zustandekommen beschreiben. Denn ei-
nerseits entsteht Präsenzerleben dadurch, dass das Medium verschwindet, anderer-
seits kann das Medium selbst zur sozialen Entität transformiert werden (Lombard und
Ditton 1997). Entsprechend dieser Unterscheidung hat Präsenzerleben entweder eine
physische / räumliche oder ein soziale Erlebenskomponente. Deshalb spricht man von
räumlichem Präsenzerleben (spatial presence) bzw. von sozialem Präsenzerleben (social
3 Ein Begriff, der sowohl im umgangssprachlichen Deutschen als auch im Englischen für das Erleben me-
dienvermittelter Realität verwendet wird (was bisweilen schon zu erheblicher begriff licher Konfusion
geführt hat), ist der Begriff des Eintauchens, der Immersion. Innerhalb der Forschungen zu Präsenz-
erleben wird Immersion allerdings nicht als Erlebenskategorie behandelt, sondern als objektiv messbare
Stimuluseigenschaft (vgl. Witmer & Singer 1998).
282 Matthias Hofer
presence), also der gefühlten Anwesenheit einer (realen oder artifiziellen) sozialen Enti-
tät. Diese Unterscheidung ist letztlich auch dadurch haltbar, dass Bedingungen denkbar
sind, unter denen zwar physisches, aber kein soziales Präsenzerleben zustande kommt
(Ijsselsteijn et al. 2000). Andererseits vermögen manche Medienumgebungen (z. B. vir-
tuelle Verkaufsstellen, Skalski und Tamborini 2007) zwar ein relativ hohes Ausmaß an
sozialem, jedoch eher wenig physisches Präsenzerleben auszulösen. In die Schnittmenge
zwischen räumlichem und sozialem Präsenzerleben fällt das Konzept der Ko-Präsenz4
(co-presence), also das Gefühl der gemeinsamen Anwesenheit mit einem menschlichen
Individuum in einem medienvermittelten Raum (z. B. in Online-Chatrooms, Lombard
und Ditton 1997).
Eine allgemein anerkannte Definition, die sowohl räumliches als auch soziales Prä-
senzerleben aber auch Ko-Präsenz subsumiert, liefert Lee (2004: 37): Er definiert Prä-
senzerleben als „psychological state in which virtual (para-authentic or artificial) objects
are experienced as actual objects in either sensory or nonsensory ways“. Überraschen-
derweise kommt der Medienbegriff in dieser Definition nicht vor. Anstelle von „me-
diated“, also medienvermittelt, verwendet der Autor den Begriff „virtual“. Virtuell kann
ein Objekt entweder dadurch sein, dass es ein para-authentisches Abbild eines bereits
bestehenden Objekts darstellt (z. B. das virtuelle Modell eines real existierenden Mu-
seums) oder, wenn es sich um ein künstliches (engl. artificial) Objekt ohne realweltli-
ches Gegenstück handelt. Mit der Unterscheidung „sensorisch“ vs. „nicht-sensorisch“
lässt Lee (2004) Präsenzerleben bei der Rezeption jeglicher Arten von Medienangeboten
zu (s. dazu auch Abschnitt 3.2).
2.2 Transportation
Medienrealitäten besitzen neben den räumlichen und sozialen Aspekten sehr oft auch
eine narrative Komponente. Bezüglich dieser Komponente existiert ein mit Präsenzerle-
ben hochgradig vergleichbares Konzept: Transportation. Der Umstand, dass Menschen
bei der Rezeption eines narrativen Medientexts ihre gesamten mentalen Ressourcen auf
den Medientext richten und ganz in die Geschichte eintauchen, wurde von Gerrig (1993)
mit der Metapher des ‚Transportiert-Werdens‘ in eine narrative Welt beschrieben. Dem-
nach neigen Menschen dazu, sich im narrativen Plot eines Medienangebots zu verlieren,
absorbiert vom Gelesenen, Gehörten und / oder Gesehenen (vgl. Gerrig 1993; Green und
Brock 2000; Green et al. 2004). Anders als Präsenzerleben beinhaltet das Konzept der
Transportation nicht nur die Lokalisation im medialen Raum, sondern auch die Reise
dorthin (vgl. aber Kim und Biocca 1997). So definiert Gerrig (1993: 10) Transportation
folgendermaßen: „Someone (‚the traveler‘) is transported by some means of transpor-
4 Ein mit Ko-Präsenz vergleichbares Konzept ist die sog. Interaktivität (vgl. Quiring & Schweiger, 2008).
Allerdings ist bei Interaktivität die Non-Mediation nicht explizit enthalten.
Präsenzerleben und Transportation 283
tation, as a result of performing certain actions. The traveler goes some distance from
his or her world of origin“. Ein deutlicher Hinweis auf den Status von Transportation
als Non-Mediations-Phänomen findet sich im weiteren Verlauf der Definition: „Some
aspects of the world of origin become inaccessible“ (S. 11). Hier wird die Ähnlichkeit
mit Präsenzerleben deutlich, das ebenfalls ein Ausblenden der realen Welt beinhaltet.
Schließlich geht die Definition – analog zur Lasswell-Formel – auch auf mögliche Wir-
kungen von Transportation ein: „The traveler returns to the world of origin, somewhat
changed by the journey“ (ebd.).
Green und Brock (2000) haben das Konzept im Rahmen der Forschung zu narra-
tiver Persuasion weiter verfeinert. Ihnen zufolge bedeutet Transportation ein integrati-
ves Verschmelzen5 von Aufmerksamkeit (in der Theorie cognitive engagement genannt),
Vorstellungsbildern oder mentalen Modellen (mental imagery) und Affekt (affective
engagement).6
5 Dieses Verschmelzen ist in der Tat nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch wörtlich zu nehmen,
denn obwohl faktoranalytische Untersuchungen (Green und Brock 2000) eine Drei-Faktorenlösungen
nahelegen, werden die Items, die jede der drei genannten Subkonstrukte einzeln erfassen würden, in
empirischen Untersuchungen zu einem Gesamtindex vermengt.
6 Ein Konzept, das sehr große Ähnlichkeiten mit Transportation und Präsenzerleben aufweist bzw. beide
Konstrukte subsumiert, ist Narrative Engagement (Busselle und Bilandzic 2009). Auch hier stehen men-
tale Modell im Mittelpunkt. Allerdings läuft die Intension des Begriffs analytischen Bemühungen zu-
wider und versucht bis anhin (mehr oder weniger) klar abgrenzbare und auch abgegrenzte Konzepte
wie Verstehen, Aufmerksamkeit, aber auch Präsenzerleben unter einem Dach zu vereinen.
284 Matthias Hofer
3.1 Medienfaktoren
Steuer (1992) betrachtet vor allem zwei Größen als entscheidend für die Entstehung
von Präsenzerleben: Plastizität (engl. vividness) und Interaktivität. Mit ersterem ist die
Reichhaltigkeit der vom Medium übermittelten (sensorischen) Informationen gemeint.
Je mehr Sinne des Nutzers (auditiv, haptisch, visuell) angesprochen werden, desto höher
die Wahrscheinlichkeit, dass sich Präsenzerleben einstellt. Lombard und Ditton (1997)
sprechen von „richness of sensory information“, Sheridan (1992: 121) nennt diese Di-
mension „the extent of sensory information“ und bei Ijsselsteijn et al. (2000: 521) ist
vom „extent and fidelity of sensory information“ die Rede. Demnach führt ein 21-Zoll-
Bildschirm in stärkerem Maße zu Präsenzerleben als ein 15-Zoll-Bildschirm; ein Film
in 3D sollte einen das Medium eher vergessen lassen als der gleiche Film in 2D. Wei-
tere in diese Kategorie gehörende Medieneigenschaften sind Kameraperspektive, Seh-
winkel, Dimensionalität, die Audioqualität oder die Realitätsnähe computergenerierter
Stimmen.
Mit der zweiten Dimension – Interaktivität – ist das Ausmaß angesprochen, mit
dem der Mediennutzer in die medienvermittelte Welt eingreifen oder mit einer sozialen
Entität interagieren kann (vgl. Quiring und Schweiger 2008). Interaktivität wird nach
Steuer (1992) von drei Größen determiniert: erstens von der Geschwindigkeit, mit der
Eingaben des Nutzers im virtuellen Raum wirksam werden, zweitens von der Anzahl
potentieller Nutzungsmöglichkeiten und drittens vom Grad an Natürlichkeit der Ein-
gaben des Nutzers (natural mapping, Skalski et al. 2011). Letztlich ist damit die Überein-
stimmung zwischen Input und Output-Kanälen zwischen Mensch und Maschine sowie
deren Realitätsnähe gemeint (Ijsselsteijn et al. 2000; Schubert et al. 2000). Demnach
würde ein Tennisspiel Präsenzerleben eher begünstigen, wenn es mit einem gyroskopi-
schen7 Kontroller gespielt wird, als das gleiche Spiel mit einer Tastatur.
Nicht nur Präsenzerleben, sondern auch Transportation variiert mit dem Ausmaß
an sensorischem Input. Da Transportation neben einer kognitiven und einer affekti-
ven Komponente auch ein mentales Modell der medial präsentierten Geschichte enthält,
scheint es einleuchtend, dass auch bei diesem Phänomen das Ausmaß an sensorischem
Input eine Rolle spielt. Allerdings fehlt es bisher an eindeutiger empirischer Evidenz
dafür, dass Transportation von Medienfaktoren wie den oben genannten abhängt (vgl.
Green et al. 2008). Da sich Transportation vor allem auf die narrative Erlebenskompo-
nente bezieht, spielen am ehesten Inhaltsfaktoren (Ijsselsteijn et al. 2000) eine Rolle (vgl.
Green und Brock 2001). Damit ist die Reichhaltigkeit der in der Narration dargestellten
Objekte, Akteure und Ereignisse angesprochen.
Medienfaktoren kommt also eine zentrale Rolle für die Entstehung von Präsenzerle-
ben und Transportation zu. Wenn man aber davon ausgeht, dass nicht nur hoch-immer-
7 Gyroskope (Kreiselinstrumente) machen sich das Gesetz der Drehimpulserhaltung eines Kreisels zu
Nutze.
Präsenzerleben und Transportation 285
sive virtuelle Umgebungen, sondern auch ‚traditionelle‘ Medien, wie zum Beispiel Fern-
sehen, Radio oder Bücher Präsenzerleben auslösen können (vgl. Kim und Biocca 1997),
gerät man mit einem medienzentrierten Ansatz sehr schnell in Erklärungsnöte: Wie soll
Druckerschwärze auf verarbeiteter Zellulose hinreichend immersiv sein (vgl. Hartmann
et al. im Druck) ? Ähnliche Überlegungen lassen sich für Transportation anstellen – dort
allerdings für den Fall einer zu rudimentär ausgefallenen Narration. Daher behandeln
neuere Konzeptionen Präsenzerleben und Transportation als in erster Linie von kogni-
tiven Prozessen abhängig.8
Die Grundvoraussetzung für jegliche Art von Medienwirkung ist Aufmerksamkeit. Da-
mit ist Aufmerksamkeit auch eine notwendige Bedingung für die Entstehung von Prä-
senzerleben oder Transportation (siehe cognitive engagement als integrativen Bestandteil
von Transportation in Abschnitt 2.2) oder von diesem Erleben vorgelagerten Prozessen
(Green und Brock 2002; Wirth et al. 2007). Im Falle der automatischen (und kurzfristi-
gen) Aufmerksamkeitsallokation spielt nach Wirth et al. (2007) der oben genannte Me-
dienfaktor Plastizität eine wichtige Rolle. Interaktivität und Eigenschaften des Plots (z. B.
Verständlichkeit) sind für die kontrollierte (und längerfristige) Aufmerksamkeitsalloka-
tion von Bedeutung.
Ein mit Aufmerksamkeit verwandtes, jedoch ungleich breiteres Konstrukt – Involve-
ment (vgl. Wirth 2006) – wird (wie Aufmerksamkeit auch) entweder als Komponente
von Präsenzerleben und Transportation (Schubert et al. 2001) oder als es determinie-
render kognitiver Prozess (Wirth et al. 2007) betrachtet. Gleiches gilt für suspension of
disbelief (das willentliche Ausblenden von bzw. die Toleranz gegenüber Inkonsistenzen
unrealistischer oder fehlerhafter Darstellungen). Auch die vertiefte Beschäftigung mit
inneren oder äußeren Ereignissen (absorption) wird entweder als definierendes Merk-
mal oder als Antezedenzbedingung von Präsenzerleben konzipiert.9
Damit sich eine Person in einem medienvermittelten Raum überhaupt präsent oder
in diesen transportiert fühlt, ist die (inkrementelle) Bildung eines kognitiven Modells
der medienvermittelten Realität zentral – wiederum entweder als integrativer Bestand-
teil oder als Voraussetzung (Green und Brock 2000; 2002; Schubert et al. 2001; Wirth
et al. 2007). Während bei Präsenzerleben mentale Modelle in erster Linie räumlicher
oder sozialer Natur sind, sind sie im Falle von Transportation umfassender konzipiert
8 Damit soll nicht der Eindruck entstehen, dass Medienfaktoren gänzlich unwichtig sind. Schließlich sind
die Konzepte des Präsenzerlebens und der Transportation Medienwirkungskonzepte und damit ohne
Medienstimuli undenkbar, bzw. gar nicht erst existent.
9 Die beiden Konstrukte werden sowohl als Prozess als auch als Persönlichkeitsmerkmale konzipiert
(s. Abschnitt 3.3).
286 Matthias Hofer
und enthalten Informationen der kompletten narrativen Welt (d. h. Charaktere und de-
ren Beziehungen, Motive und Handlungen, also letztlich die Geschichte).
3.3 Persönlichkeitsfaktoren
Neben kognitiven Faktoren werden Präsenzerleben und Transportation auch von Per-
sönlichkeitsmerkmalen beeinflusst. Zu deren Einfluss existiert bis heute allerdings nur
wenig empirische Evidenz, obwohl beispielsweise Heeter (1992) schon früh auf deren
zentrale Rolle aufmerksam gemacht hat (vgl. auch Sacau et al. 2008). Zunächst haben
sicherlich kognitive Fähigkeiten, wie zum Beispiel das visuell-räumliche Vorstellungs-
vermögen, perzeptuell-motorische Fähigkeiten aber auch Persönlichkeitseigenschaften
wie Extraversion oder Impulsivität Einfluss darauf, wie sehr oder ob sich eine Person in
einem / n medienvermittelten Raum präsent / transportiert fühlt (vgl. Sacau et al. 2008).
Wirth et al. (2007) erachten in ihrem Zwei-Ebenen-Modell zwei Persönlichkeitsmerk-
male als zentral. Diese wirken entweder positiv auf das dem Präsenzerleben vorgelagerte
mentale Modell ein oder begünstigen Präsenzerleben direkt. Demnach wird Präsenz-
erleben vor allem von der Absorptionsfähigkeit, also die Fähigkeit zu vertieften Auf-
merksamkeitszuständen bei der Wahrnehmung innerer und äußerer Realität begünstigt.
Beim Aufbau eines mentalen Modells des medienvermittelten Raums wirkt das visuell-
räumliche Vorstellungsvermögen (visual spatial imagery) unterstützend (vgl. Wirth et al.
2007).
Auch Transportation variiert in Abhängigkeit von Persönlichkeitsmerkmalen. Green
und Brock (2000) konnten zeigen, dass Frauen eher Transportation erleben als Män-
ner. Des Weiteren scheinen das Kognitionsbedürfnis (need for cognition)10 und die Vor-
stellungskraft (imagery ability) bei der Entstehung von Transportation von Bedeutung
zu sein (Green et al. 2008). Neben dem Kognitionsbedürfnis spielt auch das Emotions-
bedürfnis (need for affect) eine Rolle. So konnten Appel und Richter (2010) zeigen, dass
dieses Persönlichkeitsmerkmal einen positiven Effekt auf Transportation hat. Die Au-
toren argumentieren, dass Menschen mit einem stark ausgeprägten Emotionsbedürfnis
gerade bei emotionalen narrativen Inhalten ein höheres Ausmaß an Transportation er-
leben als Menschen mit einem niedrigen Emotionsbedürfnis, da affektives Engagement
einen zentralen Bestandteil von Transportation darstellt.
Schließlich spielen nicht nur dauerhafte Dispositionen, sondern auch momentgebun-
dene und objektspezifische Interessenslagen sowie erlernte Fähigkeiten, Erfahrungen und
10 Im Falle des Kognitionsbedürfnisses zeigt die Forschung zu Transportation allerdings ein sehr wider-
sprüchliches Bild. Green und Brock (2000) berichten als Beleg diskriminanter Validität eine Null-
Korrelation zwischen dem Konstrukt und Transportation; Green et al. (2008) zeigten jedoch, dass
Probanden mit ausgeprägtem Kognitionsbedürfnis auch mehr Transportation beim Lesen einer Ge-
schichte empfanden.
Präsenzerleben und Transportation 287
Vorwissen eine Rolle bei der Entstehung von Präsenzerleben und Transportation (Green
2004; Lombard und Ditton 1997; Sacau et al. 2008; Wirth et al. 2007).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Präsenzerleben und Transporta-
tion in erster Linie psychologische Konstrukte, also sich innerhalb des Rezipienten ab-
spielende Prozesse sind. Mit Wirth et al. (2007) könnte man sie als fortlaufende Be-
stätigung einer Wahrnehmungshypothese (Aufenthaltsort = medienvermittelter Raum)
konzipieren, die entweder angenommen oder verworfen wird. Beiden Erlebensarten
liegen mentale Modelle zugrunde. Sowohl Eigenschaften des Rezipienten (Motivation,
Traits, Wissen) als auch momentan ablaufende kognitive Prozesse und Eigenschaften
des Mediums wirken im Zusammenspiel auf diese Hypothese ein und entscheiden letzt-
lich darüber, ob sich ein Rezipient in einer medial vermittelten Welt anwesend bzw. in
die Geschichte transportiert fühlt oder nicht.
Präsenzerleben und Transportation haben nicht nur den Status von abhängigen Varia-
blen, sondern werden auch zur Erklärung anderer Phänomene herangezogen. In diesem
Falle kommt ihnen der Status von Mediatorvariablen zu – die unabhängigen Variablen
sind in diesem Falle die in Abschnitt 3 genannten Medienfaktoren, die kognitiven Pro-
zesse und die Persönlichkeitsmerkmale (vgl. Daugherty et al. 2010).
Präsenzerleben und Transportation wurden vor allem hinsichtlich ihrer Wirkung
auf die menschliche Informationsverarbeitung (Lernen, Aufgabenerfüllung, Erinne-
rung, Persuasion, Unterhaltungserleben), aber auch auf ihren Einsatz bei Therapien ver-
schiedenster Phobien oder posttraumatischer Stresssymptome hin untersucht. Grund-
sätzlich wird dabei immer ähnlich argumentiert: Zwischen den genannten abhängigen
Variablen und dem Präsenzerleben besteht ein positiver Zusammenhang, weil mit dem
Präsenzerleben der mediatisierte Raum zum primären Objekt der kognitiven Verarbei-
tung wird. Dies kann entweder dazu führen, dass keine kognitive Kapazität mehr üb-
rig ist für anderes (z. B. das Suchen von Gegenargumenten bei Persuasionsversuchen;
Ressourcenansatz) oder dass die medienvermittelte Realität als so real wahrgenommen
wird, dass sie direkten, realen Erfahrungen (inkl. deren Auswirkungen) gleich kommt
(Realitätsansatz).
Zwei- und dreidimensionale virtuelle Realitäten werden nicht zuletzt aus ökonomischen
Überlegungen heraus zu Trainings- und Lernzwecken, aber auch für das Erledigen von
Aufgaben eingesetzt. Computergenerierte Lern- und Trainingsumgebungen können mit
entsprechenden Algorithmen einfacher, präziser und besser an den jeweiligen Lern-
288 Matthias Hofer
11 Als abhängige Variable (d. h. Ergebnis des Persuasionsversuchs) fungieren klassischerweise die Einstel-
lung gegenüber einem Produkt, einer im Medium vertretenen Meinung oder der jeweiligen Werbung
gegenüber. Hinzu kommen Variablen wie Kaufabsicht oder Vertrauen in die Entscheidung für ein Pro-
dukt (vgl. Green und Brock 2000; Kim und Biocca 1997).
Präsenzerleben und Transportation 289
und Kühne in diesem Band) haben Skalski und Tamborini (2007) gezeigt, dass sozia-
les Präsenzerleben, das mit dem Grad an wahrgenommener Interaktivität variiert, so-
wohl zu systematischer als auch zu heuristischer Verarbeitung führen kann. Systema-
tisch verarbeitet wird dadurch, dass sich der Rezipient mit dem Ausmaß an sozialem
Präsenzerleben motiviert fühlt, den vorgetragenen Argumenten mehr Aufmerksamkeit
zu schenken, als wenn er sich nicht (oder nur in geringem Ausmaß) sozial präsent fühlt.
Umgekehrt kann mit zunehmendem sozialen Präsenzerleben auch stärker heuristisch
verarbeitet werden, wenn nämlich die jeweilige Quelle (mit der man sich sozial präsent
fühlt) Objekt der Gedanken wird.
Wie bereits erwähnt, wurde Transportation vor allem zur Erklärung narrativer Per-
suasion bei der Rezeption fiktionaler Texte verwendet (Green und Brock 2000). Die
Autoren sehen den Erfolg narrativer persuasiver Botschaften nicht – wie in klassischen
Zwei-Prozess-Modellen (z. B. HSM, vgl. Wirth und Kühne in diesem Band) – in der ko-
gnitiven Elaboration, sondern vermittelt über das Eintauchen in die narrative Welt der
Botschaft. Im Falle der Wirkung von Transportation auf die persuasive Wirkung (nar-
rativer) Medieninhalte wird nicht wie bei Präsenzerleben mit einem Realitäts-, sondern
mit einem Ressourcenansatz argumentiert.
Demnach können sich persuasive Effekte nach Green und Brock (2000) vor allem
durch drei Mechanismen entfalten. Erstens kann Transportation negative kognitive Re-
aktionen wie die Suche nach Gegenargumenten vermeiden, da der Rezipient seine ko-
gnitiven und affektiven Ressourcen vollständig auf die Medienbotschaft richtet und der
realen Welt (in der er / sie vielleicht anders reagieren würde) keine Aufmerksamkeit mehr
schenkt. Zweitens geht Transportation mit lebhaften Bildern der Erzählung einher, die
unter Umständen fälschlicherweise als Gegebenheiten des realen Lebens erinnert wer-
den. Schließlich kann narrative Persuasion auch über die emotionale Komponente von
Transportation, bzw. durch den emotionalen Gehalt und damit durch das Unterhaltungs-
potential (im Sinne eines positiv-emotionalen Rezeptionserlebens, vgl. Dohle und Ber-
hard in diesem Band) einer Geschichte, zustande kommen (vgl. Appel und Richter 2010).
Die Beziehung zwischen Unterhaltung (vgl. Dohle und Berhard in diesem Band) und
Präsenzerleben / Transportation kann auf drei Arten gefasst werden (vgl. Hartmann et al.
2010): Erstens kann ein dritter Faktor (z. B. Aufmerksamkeit oder Involvement) beide
Variablen bedingen und so im Sinne einer partiellen Korrelation für deren Zusammen-
hang verantwortlich sein. Zweitens kann Präsenzerleben zu Unterhaltung führen, da
eine Verlagerung des eigenen Standorts von der aktuellen in die medienvermittelte
Realität unterhaltend wirkt. Drittens ist auch die umgekehrte Kausalrichtung denkbar,
nämlich dass Unterhaltungserleben zu Präsenzerleben führt. Nur eine der drei Kausal-
richtungen wurde empirisch untersucht; die meiste Literatur beschränkt sich auf theo-
290 Matthias Hofer
retische Überlegungen. In einer der wenigen Studien (Skalski et al. 2011) erwies sich
räumliches Präsenzerleben als Prädiktor von Unterhaltungserleben. Nicht überraschend
korreliert auch Transportation hoch mit Unterhaltungserleben (Green et al. 2004).
Virtuelle Realitäten werden als interaktives Werkzeug zur Visualisierung von angstaus-
lösenden Stimuli und ein damit einhergehendes Präsenzerleben auch zu therapeuti-
schen Zwecken eingesetzt (Schubert und Regenbrecht 2002). Nach einem Grundprin-
zip der Verhaltenstherapie (systematische Desensibilisierung) müssen furchtauslösende
Situationen aufgesucht werden, um entsprechende Ängste (z. B. Agoraphobie (Angst vor
Weiten Plätzen), Arachnophobie (Angst vor Spinnen), Akrophobie (Höhenangst)) aber
auch posttraumatische Belastungsstörungen effizient therapieren zu können. Oft ist es
zu aufwändig, die Situationen in vivo aufzusuchen; hoch-immersive virtuelle Realitäten,
so hat eine Reihe von Studien gezeigt, vermögen die gleichen (kognitiven, emotionalen,
konativen und physiologischen) Reaktionen auszulösen und können letztlich auch zum
Therapieerfolg führen.
Bei der Messung von Präsenzerleben und Transportation lassen sich subjektive und ob-
jektive Methoden unterscheiden (im Überblick vgl. Van Baren und Ijsselsteijn 2004).
Subjektive Messmethoden basieren auf der Selbstauskunft von Probanden. Dazu zählen
quantitative Methoden wie postrezeptive standardisierte Fragebögen, die sich als sehr
valide erwiesen haben und auch mit Abstand am häufigsten eingesetzt werden. Im Fall
von Transportation wird ausschließlich die von Green und Brock (2000) entwickelte
Skala eingesetzt. Zu den quantitativen subjektiven Methoden zählt auch das Real-Time-
Response-Measurement (RTR, auch Continuous Response Measurement, CRM), bei
dem die Probanden auf einen Schieberegler während der Rezeption kontinuierlich ange-
ben, wie sehr sie sich präsent fühlen. Zu den qualitativen subjektiven Methoden gehören
die Methode des Lauten Denkens (MLD, eine valide Methode zur Erfassung kognitiver
Prozesse im Zeitverlauf), qualitative Interviews oder Fokusgruppendiskussionen. Sub-
jektive Messmethoden setzen voraus, dass dem Rezipienten die Erfahrung der Präsenz /
Transportation bewusst ist – eine nicht unbestrittene Annahme (vgl. Hartmann et al. im
Druck).
Neben den subjektiven Messmethoden existiert eine Reihe von (mehr oder weniger)
objektiven Messmethoden, die Präsenzerleben zwar nicht alleine messen können, aber
als Unterstützung subjektiver Messungen dienen können (vgl. Ijsselsteijn et al. 2000).
Hierzu gehören psychophysiologische Messungen der Herzfrequenz, der Hautleitfähig-
Präsenzerleben und Transportation 291
keit oder der Gesichtsmuskulatur, die als Indikatoren (emotionaler) Erregung oder der
Aufmerksamkeit dienen (vgl. Fahr in diesem Band). Daneben lässt sich auch die Ge-
hirnaktivität mittels EEG (Elektroenzephalographie) oder fMRI (funktionale Magnet-
resonanztomographie) messen. Schließlich wird auch das Verhalten von Studienteilneh-
mern erfasst. Dabei geht man – wie auch bei physiologischen Messungen – davon aus,
dass mit hohem Ausmaß an Präsenzerleben die Reaktionen auf medienvermittelte Sti-
muli denen auf realweltliche gleichen (z. B. sich Ducken als Reaktion auf einen virtuel-
len Angriff ).
Es erscheint auf den ersten Blick paradox, in einem Handbuch über Medienwirkun-
gen einen gesamten Beitrag zwei Phänomenen zu widmen, bei denen das Medium ‚ver-
schwindet‘. Allerdings lässt sich argumentieren, dass ein Medium insbesondere dann
seine Wirkung entfalten kann, wenn es nicht (mehr) als Botschaftsträger wahrgenom-
men wird und etwa Reaktanz gar nicht erst entsteht (vgl. Abschnitt 4.2). Fest steht, dass
es sich bei Transportation und bei Präsenzerleben um Medienwirkungsphänomene
handelt, die von situativen Faktoren, der Persönlichkeit und den Fähigkeiten des Me-
diennutzers und Prozessen, die während der Rezeption ablaufen, abhängen. Grund-
sätzlich lassen sich Ansätze unterscheiden, die Non-Mediation als multidimensionales
Konstrukt auffassen (Green und Brock 2000; Schubert et al. 2001) und solche, die das
Konzept eng fassen und zwischen Kernphänomen und Antezedenzbedingungen unter-
scheiden (Wirth et al. 2007). In jedem Fall können beide Phänomene andere Medien-
wirkungen nach sich ziehen bzw. begünstigen.
Sowohl Präsenzerleben als auch Transportation sind junge Konzepte. Daher sind of-
fene Forschungsfragen und Desiderata vielfältig. In welchem Verhältnis stehen Trans-
portation und Präsenzerleben ? Kommen die beiden Phänomene gleichzeitig und
gleichberechtigt nebeneinander vor oder bedingt das eine das andere ? Sicherlich ist die
Beantwortung dieser Fragen in hohem Maße medienabhängig. Besonders bei hoch-im-
mersiven Computerspielen mit einem narrativen Plot dürften beide Phänomene glei-
chermaßen auftreten.
Uneinigkeit besteht bis anhin auch darüber, ob es sich bei Präsenzerleben und Trans-
portation um binäre oder stetige Erlebenskategorien handelt (vgl. Hartmann et al. im
Druck). Kann man also mehr oder weniger präsent / transportiert sein oder ist man es in
einem Moment und im anderen nicht mehr ? Zur Messung werden – wie in Abschnitt 5
erwähnt – meist postrezeptive Fragebögen mit Likert-Skalen eingesetzt, womit das Pro-
blem elegant umschifft wird. Messtheoretische Weiterentwicklungen prozessbegleiten-
der Methoden könnten zur Klärung dieser offenen Frage wesentlich beisteuern.
Eine weitere unbeantwortete Frage ist der Zusammenhang zwischen Emotionen
und Präsenzerleben. Transportation subsumiert explizit eine affektive Komponente, die
292 Matthias Hofer
meisten Modelle zum Präsenzerleben erachten den Einfluss kognitiver Faktoren als zen-
tral. Neuere Ansätze räumen neben den kognitiven auch emotionalen Prozessen eine
zentrale Rolle bei der Entstehung von Präsenzerleben ein (z. B. Baños et al. 2004; Schu-
bert 2009). Weitgehend ungeklärt ist allerdings einerseits die Richtung der Beziehung
zwischen Präsenzerleben und Emotionen und andererseits die Valenz des mit dem Prä-
senzerleben zusammenhängenden emotionalen Erlebens. Beide Fragen dürften mit ent-
sprechenden Experimentaldesigns beantwortet werden können.
Schließlich und nicht zuletzt auch aus methodischen Gründen ist die Frage nach
der Bewusstheit des Präsenzerlebens und der Transportation zu beantworten. Während
nämlich eher unbewusste Aufmerksamkeitsprozesse zu mentalen Modellen des medien-
vermittelten Raums führen, wird die erlebte Präsenz / Transportation in diesen / m Raum
als bewusst betrachtet (vgl. Schubert 2009). Eine mögliche Antwort auf diese Frage Lö-
sung schlägt Schubert (2009) vor, der Präsenzerleben als kognitives Gefühl (engl. cogni-
tive feeling) beschreibt, als bewusst wahrgenommenes Ergebnis unbewusst ablaufender
Prozesse.
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294 Matthias Hofer
Abstract Menschen sind soziale Wesen. Ihre soziale Umwelt setzt sich zusammen aus den realen Mit-
menschen sowie aus imaginierten und nicht zuletzt aus medial repräsentierten Personen. Der Umgang
von Mediennutzern mit Medienpersonen ist vielgestaltig und kann starke Wirkungen entfalten, insbe-
sondere im Bereich der Emotionen sowie des Selbstkonzepts: Wir können mit Medienfiguren mitden-
ken und mitfühlen (Empathie), dann löst ihr Schicksal entsprechende Emotionen in uns aus. Soziale
Vergleiche mit Medienpersonen können unser Selbstkonzept beeinflussen, etwa wenn wir mit media-
len Schönheitsnormen nicht mithalten können. Die intensive Beschäftigung mit einer bestimmten Me-
dienperson kann zuweilen den Charakter einer parasozialen Beziehung annehmen, die z. B. Einsamkeit
mildert, aber auch erzeugt – beispielsweise wenn die Medienfigur durch Absetzen der Sendung oder
Auflösung der Band buchstäblich von der Bildfläche verschwindet. Bei der Identifikation löst sich die
Grenze zwischen Medienperson und Mediennutzer temporär im eigenen Erleben auf: Man wird wäh-
rend der Medienrezeption selbst zum Superhelden oder Supermodel. Der Beitrag stellt die genannten
vier sozialpsychologischen Phänomene – Empathie, sozialer Vergleich, parasoziale Beziehung und Iden-
tifikation – im Umgang mit Medienpersonen samt ihren typischen emotionalen und selbstkonzeptbezo-
genen Wirkungen vor. Dabei werden Medienpersonen aus unterschiedlichen Medien einbezogen, etwa
Darsteller in TV-Serien, Charaktere in Computerspielen, Werbemodels, Sportler oder ethnische Gruppen
in der journalistischen Berichterstattung sowie Avatare in virtuellen Welten.
1 Einführung
Dieser Abschnitt widmet sich der Frage, wie Empathie definiert ist, unter welchen Be-
dingungen und in welcher Weise Mediennutzer / innen Empathie gegenüber Medien-
personen empfinden und welche Wirkungen die Empathie mit Medienfiguren nach sich
zieht.
Wie Medienpersonen Emotionen und Selbstkonzept der Mediennutzer beeinflussen 297
• Kognitive Empathie (cognitive empathy): Man versetzt sich gedanklich in die Lage
einer anderen Person, versucht die Situation mit ihren Augen zu betrachten, überlegt
sich, welche Gedanken, Gefühle, Motive, Ziele, Erwartungen die andere Person in
der betreffenden Situation hat (Perspektivenübernahme).
• Affektive Empathie (affective empathy): Man empfindet mit einer anderen Person mit.
Wenn die andere Person uns nahe steht bzw. sympathisch ist, dann synchronisieren
wir oft unser emotionales Erleben: Mit dem Erfolg von Freunden freuen wir uns
mit, mit dem Kummer von Angehörigen trauern wir mit. Im Unterschied zur puren
Affektansteckung beinhaltet die affektive Empathie Bewertungsprozesse: Wenn es
sich beim Gegenüber um eine negativ bewertete Person handelt und diese Angst
oder Schmerz empfindet, so erleben wir i. d. R. nicht die entsprechenden, sondern im
Sinne von Gegen-Empathie eher komplementäre Emotionen (z. B. Schadenfreude).
Neben der Abgrenzung zwischen kognitiver und affektiver Empathie ist die Differen-
zierung zwischen situativem Zustand und situationsübergreifender Eigenschaft wichtig
(vgl. Davis 1996): Situative Empathie (state empathy) beinhaltet Qualität und Quantität
des Mitdenkens und Mitfühlens mit einer anderen Person (oder Personengruppe) in ei-
ner konkreten Situation. Merkmale des Gegenübers (z. B. Sympathie) sowie der Situa-
tion (z. B. zugeschriebene Ursache für eine Notlage) beeinflussen die situative Empathie.
Dispositionale Empathie (trait empathy) wird verstanden als Persönlichkeitseigenschaft,
also als situationsübergreifende Tendenz einer Person, eher stärker oder schwächer em-
pathisch auf andere Menschen zu reagieren. Die dispositionale Empathie ist eine wich-
tige Mediatorvariable bei der Entstehung situativer Empathie.
Von der interpersonalen Empathie, die sich auf Mitmenschen im unmittelbaren sozialen
Umfeld bezieht, ist die Medienempathie – also die Empathie mit Medienpersonen – ab-
zugrenzen (Früh & Wünsch 2009, S. 197). Die Ausprägung situativer kognitiver und af-
fektiver Medienempathie wird i. d. R. mit standardisierten Fragebögen gemessen (siehe
298 Nicola Döring
Tabelle 1). Neben diesen subjektiven Selbstauskünften ist auch eine objektive Erfassung
von Empathieprozessen im Zuge der Medienrezeption über physiologische Messungen
(Hirnaktivität, Gesichtsmuskelaktivität etc.) möglich.
Früh & • Wenn ich einen guten Film sehe, kann • Wenn in einem Fernsehbeitrag eine sym-
Wünsch ich mich sehr leicht in die Gefühlslage pathische Person von ihrem Glück erzählt,
(2009) der Darsteller/-innen hineinversetzen. freue ich mich wirklich mit ihr.
• Beim Fernsehen beschäftige ich mich mit • Ich bin traurig, wenn ich im Kino sehe,
den Gefühlen der gezeigten Personen. wie ein Fremder oder Außenseiter in einer
• Im Film finde ich es oft sehr schwierig, Gruppe isoliert und einsam ist.
die Dinge vom Standpunkt der Haupt- • Meistens bin ich selbst nicht besonders
figuren zu sehen. (N) besorgt, wenn ich im Fernsehen sehe, dass
andere in Schwierigkeiten stecken. (N)
Shen • I can see the character’s point of view. • I can feel the character’s emotions.
(2010) • I recognize the character’s situation. • I was in a similar emotional state as the
• The character’s reactions to the situation character when watching this message.
are understandable. • I experienced the same emotions as the
characters when watching this message.
Generell lässt sich festhalten, dass Medienempathie, insbesondere die affektive Empa-
thie, oft geringer ausfällt als Empathie in unvermittelten sozialen Situationen. Struk-
turell zeigen sich jedoch starke Ähnlichkeiten zwischen den Konstrukten. So sind bei-
spielsweise sowohl Empathie als auch Medienempathie geschlechtsrollenkonform bei
Frauen stärker als bei Männern ausgeprägt; zudem korrelieren beide Formen der Em-
pathie positiv mit dem Persönlichkeitsmerkmal der sozialen Verträglichkeit (Früh &
Wünsch 2009).
Im Hinblick auf Empathie ist es besonders wichtig, die Art und Darstellung von Me-
dienpersonen hinsichtlich ihres Realitätsgrades zu differenzieren.
• Medial repräsentierte reale Personen: Werden wir in den Medien mit realen Perso-
nen konfrontiert (z. B. Talkshow-Gäste in Radio und Fernsehen, Dokumentarfilme
über Menschen in Kriegs- und Krisengebieten, autobiografische Bücher), so sollten
im Grunde ähnliche Empathieprozesse wie in unvermittelten sozialen Situationen
ablaufen und auch ähnliche Konsequenzen resultieren. Die mediale Distanz und ge-
ringere Involviertheit kann die situative Empathie allenfalls reduzieren. Im Internet
ist die Empathie mit virtuell auftretenden Personen (z. B. Blogger) zudem stark von
deren Glaubwürdigkeit abhängig, insbesondere nach spektakulären Fällen von Iden-
titätstäuschung (‚Fakes‘, vgl. Döring 2003).
Wie Medienpersonen Emotionen und Selbstkonzept der Mediennutzer beeinflussen 299
Die unmittelbare Wirkung situativer Empathie mit Medienpersonen ist zunächst einmal
eine emotionale: Die affektive Komponente der Empathie wird während und auch nach
der Rezeption emotional mehr oder minder intensiv erlebt und steigert das Involvement.
Im Zusammenhang mit fiktionalen Medienpersonen werden Empathie-Effekte v. a. als
Steigerung des Unterhaltungswertes gesehen. Wer mit den Charakteren eines Films mit-
fiebert, hat ein intensiveres Medienerlebnis (Medien-Enjoyment).
Der andere Wirkungskomplex behandelt die Überzeugungskraft persuasiver Medien-
angebote, die durch Medienempathie als Moderatorvariable verstärkt wird. Durch er-
höhte Empathie können dann im zweiten Schritt Einstellungs- und Verhaltensänderun-
gen gefördert werden: Spendenaufrufe zeigen leidende Personen – das im Zuge von
Empathie ausgelöste Mitleid soll die Spendenbereitschaft erhöhen (Basil et al. 2008).
Die politische und Kriegs-Propaganda setzt z. B. auf die drastische mediale Darstellung
des Leidens bestimmter Bevölkerungsgruppen, um Mitgefühl und Wut und in der Folge
dann die Unterstützung militärischer Interventionen zu fördern. Auch Werbung nutzt
Empathie-Effekte, z. B. indem ein strahlendes Baby, dessen Wohlbehagen man mitfühlt,
zum Kauf einer bestimmten Windelmarke motivieren soll. Die emotionalen Wirkungen
der Empathie können also manipulativ genutzt werden.
Neben der empathischen Reaktion auf Medienfiguren vergleichen wir uns auch automa-
tisch mit ihnen. Wie soziale Vergleiche aus psychologischer Sicht im Allgemeinen sowie
in Bezug auf Medienpersonen im Speziellen ablaufen, wird im Folgenden beschrieben.
300 Nicola Döring
Die auf den Sozialpsychologen Leon Festinger (1954) zurückgehende und inzwischen
intensiv weiterentwickelte Theorie des sozialen Vergleichs (social comparison theory)
geht davon aus, dass sich Menschen bei ihrer Selbsteinschätzung an anderen Personen
orientieren: Wir verarbeiten Informationen über andere Menschen automatisch oder
gezielt in Bezug auf unsere eigene Person (Wood 1996). Der soziale Vergleich bezieht
sich dabei auf einzelne Merkmale (z. B. körperliche Attraktivität, sozialer Status, beruf-
liche oder sportliche Leistungsfähigkeit). Soziale Vergleiche haben kognitive (Selbst-
einschätzung, Selbstkonzept), emotionale (Selbstwertgefühl) sowie auch motivationale
und verhaltensbezogene Aspekte (Selbstentwicklung, Selbstwirksamkeit). Dabei sind
drei Typen von sozialen Vergleichen zu unterscheiden:
Im Hinblick auf soziale Vergleiche ist es besonders wichtig, in welchem Verhältnis die
Medienpersonen zum Mediennutzer stehen:
• Überlegene Medienpersonen: Im Zuge der Mediennutzung sind wir mit einer gro-
ßen Zahl an Ausnahmepersonen konfrontiert: Sprichwörtlich ‚reiche und schöne‘
Prominente, Stars, Schauspieler oder Models spielen in der Populärkultur ein große
Rolle, werden uns in Zeitschriften, TV-Sendungen usw. täglich präsentiert. Diese
im Vergleich zur Normalbevölkerung stark herausgehobene Elite wird in der me-
dialen Darstellung noch zusätzlich idealisiert, z. B. durch die Inszenierung (Styling,
Maske, Beleuchtung etc.) oder digitale Bildverarbeitung. Soziale Vergleichsprozes-
se mit diesen Medienpersonen erscheinen in erster Linie bedrohlich: Der soziale
Vergleich mit den so stark idealisierten realen oder fiktionalen Medienfiguren sollte
beim Publikum Aufwärtsvergleiche auslösen. Diese werden nur selten assimilativ,
sondern meist kontrastiv ausfallen, d. h. man erkennt, niemals auch nur ansatzweise
den Wohlstand, den Ruhm, die Schönheit etc. der Medienpersonen zu erreichen.
• Unterlegenen Medienpersonen: Neben Eliten und Stars werden im Zuge von Forma-
ten wie Daily Talks, Reality Shows, Doku Soaps etc. neuerdings auch ganz normale
sowie gesellschaftlich unterprivilegierte Menschen verstärkt medial sichtbar. Diese
bieten dem Publikum die Möglichkeit selbstwertsteigernder Abwärtsvergleiche: Man
selbst mag zwar auch einige Probleme haben, ist aber vom Ausmaß wahlweise der
Schulden („Raus aus den Schulden“, RTL), der Erziehungsprobleme („Supernan-
ny“, RTL), des Übergewichts („Besser essen“, ProSieben), der Vereinsamung („Bauer
sucht Frau“, RTL) etc. immerhin weit entfernt.
• Ähnliche Medienpersonen: Horizontale Vergleiche werden in der Forschung bislang
kaum beachtet. Sie können z. B. auftreten, wenn im TV-Frühsport eine hinsichtlich
Geschlecht, Alter und Fitness heterogene Teilnehmergruppe gezeigt wird, so dass
sich Zuschauer entsprechend ihrer eigenen Voraussetzungen an einem realistischen
Leistungsstandard orientieren können.
Die zentralen Wirkungen sozialer Vergleiche mit Medienfiguren sind wiederum von der
Art des Vergleichs abhängig:
Aufwärtsvergleiche mit Medienpersonen: Bisher konzentriert sich die Forschung auf
negative Wirkungen von Aufwärtsvergleichen mit Medienpersonen. Im Zentrum steht
die Sorge, dass unnatürliche und unerreichbare mediale Schönheitsnormen wie sie von
Schauspielerinnen, Models, Charakteren in Trickfilmen und Computerspielen usw. ver-
körpert werden, insbesondere das Körperbild und damit auch das Selbstwertgefühl von
302 Nicola Döring
Mädchen und Frauen nachhaltig beeinträchtigen (Grabe et al. 2008; Reaves 2011). Diese
Selbstwertbeeinträchtigung kann weitere Negativfolgen wie Essstörungen, Schönheits-
operationen, Kaufsucht, Depressionen usw. begünstigen. Entsprechende negative Me-
dienwirkungen sind auch bei Jungen und Männern nachweisbar. Die mediale Körper-
norm für Männer betont in erster Linie Muskularität, hier kann Körperunzufriedenheit
im Vergleich zu medialen Bildern den Selbstwert bedrohen (Hargreaves & Tiggemann
2009; Hobza et al. 2007) und wiederum zu problematischen weiteren Reaktionen wie
Sportsucht, Doping, Essstörungen, Schönheitsoperationen führen. Neben dem noto-
risch schlechten Abschneiden des Publikums bei sozialen Vergleichen mit Medienfigu-
ren in Bezug auf körperliche Attribute wird auch problematisiert, dass Medienfigu-
ren oft unerreichbar hohen sozialen Status und materiellen Wohlstand genießen, was
wiederum Selbstwert und Lebenszufriedenheit des Publikums beeinträchtigen kann
(Yang & Oliver 2010).
Abwärtsvergleiche mit Medienfiguren sind bislang kaum systematisch untersucht
worden. Der Nutzen einer Entlastung und Selbstaufwertung steht dem Risiko einer ge-
sellschaftlichen Entsolidarisierung und Stigmatisierung gegenüber, wenn bestimmte
Personengruppen (z. B. „Hartz IV-Empfänger“) im Fernsehen „vorgeführt“ und vom
Publikum im Rezeptionsmodus des kontrastiven Abwärtsvergleichs rezipiert und dis-
kutiert werden.
Horizontale Vergleichen mit Medienfiguren: Medienfiguren, die zu horizontalen Ver-
gleichen einladen, werden im Rahmen von Medienangeboten, die Lern- und Trainings-
zwecken dienen sollen, sowie im Rahmen der persuasiven Kommunikation eingesetzt,
um durch realistische Selbsteinschätzungen zu bestimmten Verhaltensweisen zu moti-
vieren (z. B. Gesundheitsprävention, vgl. Hoffner & Ye 2009).
Während Empathie und sozialer Vergleich spontan und situativ mit unterschiedlichen
Medienfiguren auftreten können, beschreibt die parasoziale Beziehung eine situations-
übergreifende Bindung an eine bestimmte Medienperson, welche quasi zu einer bzw. ei-
nem persönlichen Bekannten wird.
Interaktionen (parasocial interactions: PSI, Horton & Wohl 1956; Giles 2002; Schramm
et al. 2002). Parasoziale Interaktionen bzw. parasoziale Prozesse (vgl. Schramm & Hart-
mann 2008) umfassen konzeptuell auch Phänomene wie Empathie, sozialen Vergleich
oder Identifikation: Mit einer Medienperson, die Empathie auslöst, wird man eher eine
parasoziale Beziehung eingehen als mit einer Medienperson, die einen gleichgültig lässt.
Umgekehrt begünstigt eine bestehende parasoziale Beziehung empathische, identifika-
torische oder sozial vergleichende Interaktionen mit der betreffenden Medienperson
(vgl. Auter et al. 2008).
Die parasoziale Beziehung ist mehr als die Summe einzelner parasozialer Interaktio-
nen – sie besteht in den Kontaktpausen weiter, etwa indem man sich an den letzten Kon-
takt erinnert oder den nächsten Kontakt plant. Die parasoziale Beziehung manifestiert
sich auf drei Ebenen: (1) auf kognitiver Ebene durch Nachdenken über die Medienper-
son, (2) auf emotionaler Ebene in Form von Gefühlen für die Medienperson und sogar
(3) auf der Verhaltensebene. Verhaltenseffekte betreffen z. B. die Tagesstrukturierung an-
hand von Sendeterminen, Gespräche mit der Medienperson während der Rezeption, das
Versenden von Publikumspost oder das Hinterlassen von Gästebucheinträgen auf der
Homepage. Bei der Medienperson kann es sich um nicht-fiktionale, aber dennoch medial
inszenierte Personen handeln (z. B. Nachrichtensprecherin, Musikstar, Spitzensportler),
um fiktionale Rollen (z. B. Mutter Beimer in der TV-Serie „Lindenstraße“, ARD) oder
um künstliche Medienfiguren (z. B. die Archäologin Lara Croft im Computerspiel „Tomb
Raider“, Eidos Interactive).
Im Vergleich zu zwischenmenschlichen Beziehungen fehlt bei parasozialen Bezie-
hungen die Reziprozität bzw. Interdependenz: Die Medienfigur ihrerseits geht keine Bin-
dung zur Mediennutzerin ein und reagiert nicht oder nur vermeintlich individuell auf
sie. Die fehlende Reziprozität ist einerseits ein Defizit gegenüber der zwischenmensch-
lichen Sozialbeziehung, andererseits aber auch ein Vorzug: Parasoziale Beziehungen
haben den Vorteil der Kontrollierbarkeit, Unverbindlichkeit, Anspruchs- und Risiko-
losigkeit: Man entscheidet selbst, wann, wie oft, wie lange und wo man sich mit der Me-
dienfigur beschäftigt, man kann die Beziehung jederzeit kommentarlos abbrechen, muss
sich nicht mit Erwartungen der Medienperson befassen und steht selbst nie in der Ge-
fahr, persönlich kritisiert oder abgelehnt zu werden. Allerdings bleibt der Verlust der
Medienperson – der sog. Parasocial Breakup – als Risiko bestehen (z. B. Karriereende
eines Stars, Absetzung einer TV-Serie, Auflösung einer Band, vgl. Eyal & Cohen 2006).
Die Qualität parasozialer Interaktionen und Beziehungen wird meist mit standardi-
sierten Fragebögen erfasst (z. B. Schramm & Hartmann 2008; Auter et al. 2008). Wie eng
eine parasoziale Beziehung ausfällt, hängt einerseits von den Merkmalen der Medien-
person (z. B. häufiges mediales Auftreten, Erscheinungsbild, direkte Publikumsanspra-
che) und andererseits von den Merkmalen der Mediennutzer (z. B. Alter, Geschlecht,
Persönlichkeitsmerkmale) ab. Zudem spielen situative Faktoren (z. B. Zuwendung in Si-
tuationen der Einsamkeit) sowie Umweltfaktoren (z. B. Pflege parasozialer Beziehungen
im sozialen Umfeld – etwa innerhalb von Fan-Communitys) eine wichtige Rolle.
304 Nicola Döring
Unter dem Aspekt der parasozialen Beziehung ist es besonders wichtig, Medienperso-
nen danach zu gruppieren, welche Art von Interaktion mit ihnen möglich ist (vgl. Giles
2002). TV-Figuren bieten v. a. eine Regelmäßigkeit des Kontakts, Beziehungen zu Stars
lassen sich kollektiv in Fan-Kulturen pflegen und interaktive Medienfiguren können die
Illusion persönlicher Reaktion auf den Nutzer erzeugen.
Bei der Identifikation löst sich die Grenze zwischen Medienperson und Mediennutzer
auf: Wir versetzen uns temporär im eigenen Erleben in die Medienfigur hinein, sehen
sie nicht mehr als ein soziales Gegenüber, sondern werden zu ihr.
Identifikation (identification) ist ein psychologisches Konzept, das ursprünglich aus der
psychoanalytischen Entwicklungstheorie stammt (Identifikation des Kindes mit den El-
ternfiguren) und sich mittlerweile in der Entwicklungs- und Sozialpsychologie sowie der
Medienforschung etabliert hat. Identifikation bezeichnet eine temporäre Verschiebung
der Selbst-Wahrnehmung, indem man Eigenschaften der Person oder Gruppe, mit der
man sich identifiziert, übernimmt. Dies betrifft nicht alle Eigenschaften, sondern nur
ausgewählte, positiv bewertete Eigenschaften der Identifikationsfigur (z. B. Stärke, Intel-
ligenz, Attraktivität, Status), die einem vielleicht selbst aktuell nicht in dem gemäß Ideal-
306 Nicola Döring
selbst gewünschten Maße zur Verfügung stehen. Durch Identifikation mit einer bewun-
derten Person oder Gruppe kann die Diskrepanz zwischen Realselbst und Idealselbst
aufgehoben und problemlos ein positives Selbst-Erleben erzeugt werden. Der Identifi-
kationsprozess verläuft dabei in erster Linie in der eigenen Vorstellung, kann aber auch
durch Handlungen begleitet und somit von außen beobachtbar sein (z. B. das äußere Er-
scheinungsbild der Identifikationsfigur hinsichtlich, Kleidung, Frisur, Makeup imitieren).
Identifikationsprozesse werden durch Merkmale der Mediennutzer (z. B. Alter, Real-
selbst-Idealselbst-Diskrepanz, Identifikationsbedürfnis), Merkmale der Medienperso-
nen (z. B. wünschenswerte Eigenschaften) sowie durch Kontextfaktoren beeinflusst. Die
Identifikation mit Vorbildern ist besonders wichtig für Kinder und Jugendliche, die ihre
Fähigkeiten und Identitäten erst entfalten. Zudem wird bei sozialen und gesellschaftli-
chen Minderheiten die Möglichkeit zur Identifikation mit positiven Rollenmodellen als
wichtiger Faktor der Stärkung der eigenen Identität verstanden (z. B. ethnische, sexuelle,
politische Identität).
Der Grad der Identifikation mit einer Medienfigur wird i. d. R. mit standardisierten
Fragebögen gemessen (siehe Tabelle 2).
Für Identifikationsprozesse ist es besonders wichtig, Medienpersonen nach dem
Grad ihrer Interaktivität zu unterscheiden:
Auter et al. (2008): • I can identify with my favorite music video performer / personality.
Identifikation mit Perso- • I can imagine myself as my favorite music video performer / personality.
nen in Musikvideos • My favorite music video performer / personality reminds me of myself
Die Wirkungen der Identifikation mit Medienpersonen sind wiederum primär emo-
tional und verstärken Medien-Enjoyment und Persuasion, zudem können Effekte auf
Selbstkonzept und Identität auftreten.
Medien-Enjoyment: Generell steigen Involvement und Vergnügen an Medienangebo-
ten, wenn die Mediennutzerinnen und -nutzer sich mit den präsentierten Medienperso-
nen identifizieren können (vgl. Cohen 2001).
Persuasion: Die Identifikation mit Medienpersonen steigert die Überzeugungskraft
persuasiver Botschaften: Kampagnen zur Gesundheitsvorsorge (Anti-Rauchen, Safer
Sex etc.) wirken besser, wenn sie mit Protagonisten arbeiten, mit denen sich die jewei-
lige Zielgruppe identifizieren kann. Auch die Werbung präsentiert Identifikationsperso-
nen, so dass z. B. Kaufhandlungen im Zuge der Imititation begünstigt werden.
Identität und Selbstwert: Während der Identifikation mit medialen Vorbildern ha-
ben die Mediennutzer ein positives Selbsterleben bzw. eine geringere Realselbst-Ideal-
selbst-Diskrepanz. Dies kann möglicherweise zu entsprechenden realen Verhaltens-
änderungen motivieren (z. B. mag die Identifikation mit einer sportlichen Figur im
Computerspiel zur Steigerung der eigenen körperlichen Fitness animieren; vgl. Klimmt
et al. 2009). Andererseits bestehen Gefahren z. B. in der Übernahme problematischer
Werte von Identifikationsfiguren. Ebenso kann nach einer Episode der Identifikation
308 Nicola Döring
5 Diskussion
• Zum einen wird medienethisch und medienrechtlich auf die Medienanbieter einge-
wirkt, problematische Inhalte nicht oder nur eingeschränkt zu verbreiten (z. B. Ver-
zicht auf untergewichtige Models in Zeitschriften; Kritik an sexualisierten Compu-
terspielfiguren). Dabei ist jedoch zu beachten, dass idealisierte Medienfiguren nicht
pauschal wegen der Problematik sozialer Aufwärtsvergleiche abzulehnen sind, weil
die Idealisierung aus Publikumssicht im Zusammenhang mit parasozialen Bezie-
hungen und Identifikation auch wiederum Gratifikationen bietet.
• Zum anderen wird medienpädagogisch auf eine spezifische Förderung der Medien-
kompetenz der Mediennutzer / innen hingewirkt (z. B. Jugendliche für die Konstruk-
tion und Konstruiertheit medialer Schönheitsideale sensibilisieren; über den mani-
pulativen Einsatz von Empathie im Rahmen politischer Propaganda aufklären). Da
alle vier beschriebenen sozialpsychologischen Phänomene auf kognitiven Verarbei-
tungsprozessen basieren, ist davon auszugehen, dass Mediennutzer / innen vielfältige
Steuerungsmöglichkeiten haben, insbesondere wenn ihnen die Wirkmechanismen
bewusst sind. Eine wirkungsvolle Förderung der Medienkompetenz in dieser Hin-
sicht setzt allerdings gesicherte Erkenntnisse über parasoziale Prozesse, ihre Wir-
kungsweisen sowie ihre Gestaltung und Gestaltbarkeit durch ein aktives Publikum
voraus.
Wie Medienpersonen Emotionen und Selbstkonzept der Mediennutzer beeinflussen 309
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Teil 4
Schwerpunkt Einstellung & Verhalten
Grundlagen der Persuasionsforschung
Konzepte, Theorien und zentrale Einflussfaktoren
Werner Wirth & Rinaldo Kühne
1 Einführung
Die Persuasionsforschung ist ein, wenn nicht sogar der zentrale Bereich der Medienwir-
kungsforschung. Ab den 1950er-Jahren führten allerdings die „Entdeckung“ der Selek-
tivität des Publikums und der begrenzten direkten Wirkungen der Massenmedien zu
einer gewissen Ernüchterung und gipfelten in der Einschätzung McGuires (1986), dass
die Medien kaum nennenswerte Wirkungen auf die Meinungen, die Gefühle und die
Handlungen der Menschen hätten. Heute kann man jedoch ohne weiteres behaupten,
dass „Totgesagte länger leben“ – die Persuasionsforscher ist heute lebendiger, spannen-
der, vielfältiger und ergebnisreicher denn je (Zaller 1996). Sie hat sich allerdings grund-
legend gewandelt. Lange Zeit dominierte historisch gesehen eine lineare und direkte
Denkweise (Holbert & Stephenson 2003). Die generelle Erwartungshaltung war – ana-
log zur Lasswell-Formel – unvermittelte, lineare und starke Effekte zu finden. Heute
werden viel eher multiple, komplexe, mediatisierende und moderierende Prozesse als
wirkungsrelevant angesehen. Hierzu lieferte die Sozialpsychologie das Fundament, na-
mentlich mit dem Cognitive Response Ansatz (Petty et al. 1981) und den Zwei-Prozess-
Modellen (Chaiken 1980, 1984), noch während in der Kommunikationswissenschaft der
Eindruck von schwachen Medienwirkungen vorherrschte. Starke persuasive Wirkungen
waren damit wieder modellierbar, auch wenn dies in der Medienwirkungsforschung zu-
nächst weder theoretisch noch empirisch aufgegriffen wurde. Dort standen zu dieser
Zeit mit dem Uses-and-Gratification Ansatz und der Fokussierung auf kognitive Wir-
kungen (z. B. Agenda Setting, Knowledge Gap) andere Ansätze im Mittelpunkt. Erst
viel später wurden die Zwei-Prozess-Modelle aufgegriffen (Brosius 1995). Sie sind aber
auch heute noch in vielen Lehr- und Handbüchern der Kommunikationswissenschaft
eher randständig, obwohl sie sich als prototypische und theoretische Grundlage aktuel-
ler Medienwirkungsstudien ausgezeichnet eignen (Holbert et al. 2010).
Wie für viele Metakonzepte lässt sich auch für den Persuasionsbegriff (lat. persuadere =
„überreden, überzeugen“)1 keine unumstrittene Definition angeben. Die meisten Auto-
ren betonen die Aspekte Intention, Kommunikation sowie die Veränderung des menta-
len Zustands einer Person: „we use the term persuasion to refer to any instance in which
an active attempt is made to change a person’s mind“ (Petty & Cacioppo 1996, S. 4).
Ob wirklich die Intention Bestandteil der Definition sein muss, kann aus drei Gründen
kritisch gesehen werden: (1) Erstens hat jede Kommunikation auch persuasive Folgen,
(2) zweitens ist eine objektiv vorhandene, aber vielleicht nicht bemerkte Intention für
die Wirkung ohne Belang, und (3) drittens werden in Wirkungsstudien auch nicht in-
tendierte Persuasionswirkungen untersucht, etwa im Bereich der narrativen Persuasion
(Green et al. 2002). Änderungen des mentalen Zustands können vielfältig sein (siehe
Abschnitt 1.3). Hierunter fallen Vorstellungen2 (beliefs), Einstellungen (attitudes), Mei-
nungen (opinions), Werte (values) und Verhaltensintentionen (behavioral intention).
Eingeschlossen sind neben Einstellungswechsel (changing) und Einstellungsbildung
(shaping) auch Abschwächung bzw. Verstärkung (reinforcement) (Perloff 2010) sowie
die Stabilisierung bzw. Destabilisierung der Einstellungssicherheit (Bohner & Wänke
2002). Eventuell ändert sich auch nur die kognitive Struktur einer Einstellung (Ab-
schnitt 1.3). Auf einen wichtigen Aspekt weist außerdem O’Keefe (2002, S. 3) hin: Per-
suasion unterstellt, dass der Empfänger einer persuasiven Botschaft prinzipiell die Wahl
1 Im deutschen (im Gegensatz zum englischen) Sprachraum unterscheiden manche Autoren zwischen
Überredung und Überzeugung Fahr (2006).
2 Synonym verwendet wird häufig auch Überzeugungen.
Grundlagen der Persuasionsforschung 315
hat, die Botschaft anzunehmen oder nicht. Damit schließt der Persuasionsbegriff die er-
zwungene Annahme einer Botschaft aus.
Reaktionen auf persuasive Botschaften können sich auf verschiedene Weisen manifes-
tieren. Am wichtigsten sind die Wirkungen auf Einstellungen (attitude). Einstellungen
werden zum einen von den konkreteren Vorstellungen (beliefs), zum anderen von den
weit abstrakteren Werten (values) unterschieden. Vorstellungen haben einen rein ko-
gnitiven Charakter und beinhalten Ideen und Aussagen darüber, wie die Welt beschaf-
fen ist oder sein sollte (Perloff 2010). Sie sind konkreter als Einstellungen, können wahr
oder falsch sein und gelten als leichter beeinflussbar.
Eine Einstellung kann ganz allgemein definiert werden als eine zeitlich relativ stabile,
durch Informationsverarbeitungs- und Lernprozesse erworbene Bereitschaft, in positiver
oder negativer Weise auf eine bestimmte Klasse von Objekten (Person, Sache, Idee, Ereig-
nis, Institution, O’Keefe 2002, S. 6) zu reagieren. Unterschieden werden ein- und dreidi-
mensionale Einstellungskonzeptionen. Eindimensionale Einstellungen beschränken sich
auf die Valenzdimension (positiv versus negativ). Bei der dreidimensionalen Konzeption
werden affektive (Emotionen, vor allem Ab- versus Zuneigung), kognitive (Meinungen)
sowie eine konative Komponente (Handlungen und Handlungsabsichten) unterschieden
(Rosenberg et al. 1960). Obwohl das tripartite Einstellungsmodell empirisch gut bestätigt
ist, begnügt sich die Forschung häufig mit dem einfacheren Einkomponentenmodell. Die
drei Einstellungskomponenten müssen keineswegs immer konsistent sein, Handlungs-
absichten und Kognitionen können durchaus unterschiedliche Richtungen aufweisen.
Einstellungen sind auch keineswegs immer bewusst: Auch unbewusste (implizite) Ein-
stellungen beeinflussen Urteile und Verhaltensweisen (Greenwald & Banaji 1995).
Einstellungen können auch als eine Summe aller mit der individuellen Relevanz
gewichteten positiven und negativen Vorstellungen über ein Objekt verstanden wer-
den (Fishbein 1967). Wertvorstellungen (values) sind stark präskriptive und besonders
dauerhafte Ideen darüber, mit welchen Grundsätzen und Zielen die Welt gestaltet sein
sollte (z. B. Freiheit oder Gleichheit) (Schwartz & Sagie 2000). Sie bilden die allge-
meinste und am schwersten zu beeinflussende Klasse von Evaluationssystemen.
Einstellungen übernehmen wichtige Funktionen für das Alltagshandeln: Ihnen wird
eine Wissensfunktion (Einstellungen dienen der schnellen Einordnung von Objek-
ten), eine instrumentelle Funktion (sie dienen dem Aushandeln positiver und negativer
Sanktionen), eine Identitätsfunktion (sie dienen dem Ausdruck der eigenen Persönlich-
keit sowie der sozialen Anpassung) zugeschrieben. Zudem helfen sie, das eigene Selbst-
wertgefühl aufrechtzuerhalten (Stroebe et al. 2003).
Speziell in der Politischen Kommunikation ist schlieβlich das Belief-System bedeut-
sam, wenn es darum geht, politisches Verhalten zu erklären. Damit ist ein System aus
316 Werner Wirth & Rinaldo Kühne
logisch aufeinander bezogenen, konsistenten, sehr fest gefügten und schwer veränder-
baren Einstellungen und Vorstellungen gemeint, die in der Regel auf einer Skala von po-
litisch rechts nach links eingeordnet werden können (Converse 1964).
tulierten, dass bei hohem Involvement Botschaften schon bei relativ geringen Abwei-
chungen von der eigenen Meinung zurückgewiesen werden. In den Konsistenztheorien,
insbesondere der Theorie der kognitiven Dissonanz von Festinger (1957) wurden die
Bedingungen und Modi der Botschaftszurückweisung theoretisch weiter ausformuliert.
Auch wenn dort theoretisch die Möglichkeit eines starken Einstellungswandels gegeben
ist, wurde in der Medienwirkungsforschung wegen der in vielen Lebensbereichen be-
reits festgefügten Einstellungen vor allem der Teil der Theorie rezipiert, der schwache,
ausbleibende oder gar entgegengesetzte Persuasionswirkungen zum Gegenstand hat.
Insgesamt führten die Konsistenzmodelle zur Vorstellung, dass die selektive Nutzung,
Wahrnehmung und Wirkung von Persuasionsbotschaften durch die Rezipienten eine
Einstellungsänderung eher unwahrscheinlich machen (Schenk 2007). Die Konsistenz-
theorien blieben allerdings nicht ohne Widerspruch, denn sozialer Wandel lässt sich mit
ihnen etwa nur schwer erklären. Hier setzen Komplexitätstheorien an und verweisen auf
Neugier- und Explorationsmotive, die Menschen veranlassen, auch zur eigenen Einstel-
lung widersprüchliche Medieninhalte zu nutzen. Negativität scheint ein weiterer Zu-
wendungsfaktor zu sein, der die Selektionsschwelle überwindet: Donsbach (1991) fand
nur bei positiven, nicht aber bei negativen Nachrichten Hinweise auf eine selektive Nut-
zung. Auch die Theorien der schwachen Persuasionswirkungen sind heute immer noch
gültig. Allerdings greifen sie als umfassende Erklärungen für persuasive Medienwirkun-
gen zu kurz (Petty & Cacioppo 1996).
2.3 Zwei-Prozess-Modelle
In vielen Studien und Ansätzen (z. B. schon in den Studien der Hovland-Gruppe) zeigte
sich, dass die bei der Rezeption generierten Gedanken von groβer Bedeutung für die
Persuasionswirkung sind. Im Zuge der kognitiven Wende gewannen diese Überlegun-
gen erheblich an Einfluss und führten zur Formulierung des Cognitive Response-An-
satzes (Greenwald et al. 1968). Darauf aufbauend entstanden Anfang der 1980er-Jahre
eine Reihe von Zwei-Prozess-Modellen, die viele der älteren Theorien und Modelle zu
integrieren vermögen (Petty & Wegener 1998) und im Gegensatz zu älteren Ansätzen
einerseits deutlich flexibler, andererseits spezifischer sind (Petty et al. 1981). Die bei-
den bekanntesten Zwei-Prozess-Modelle sind das Elaboration Likelihood-Modell (ELM;
Petty & Cacioppo 1984) und das Heuristic Systematic-Modell (HSM; Chaiken 1980),
die beide auch heute trotz (oder gerade wegen) einiger aktueller Herausforderungen
und Erweiterungen eine herausragende Rolle für die Persuasionsforschung einnehmen
(Bennett & Iyengar 2010; Petty & Briñol 2008; siehe auch den Beitrag von Weber & Fahr
in diesem Band).
Beide Modelle gehen davon aus, dass bei hoher Motivation und bei ausgeprägten ko-
gnitiven Fähigkeiten die Informationsverarbeitung involviert, d. h. tiefgründig und argu-
mentbasiert, erfolgt. Dabei werden die Argumente mit schon bestehenden kognitiven
318 Werner Wirth & Rinaldo Kühne
Strukturen abgeglichen. Je nachdem wie die Bilanz ausfällt, kommt es zu einer Einstel-
lungsänderung oder nicht. Einstellungsänderungen, die auf argumentbasierter Urteils-
bildung beruhen, gelten als dauerhaft und widerstandsfähig gegenüber Gegenargu-
menten. Bei geringer Motivation oder geringen Fähigkeiten (z. B. bei Zeitdruck oder
Ablenkung), wird das Medienangebot peripher (ELM) bzw. heuristisch (HSM) verarbei-
tet, also wenig elaboriert, oberflächlich und nicht argumentbasiert. Dann entscheiden
einfache Hinweisreize darüber, ob eine Botschaft akzeptiert wird (z. B. die Glaubwür-
digkeit des Kommunikators). Solche Einstellungsänderungen gelten als wenig dauer-
haft. Allerdings sind solche Urteile für den Alltag vermutlich viel typischer als argu-
mentbasierte. Bei mäβigem Involvement oder auch bei unklaren Botschaftsmerkmalen
können die argumentbasierte wie auch die periphere Verarbeitungsweise zugleich auf
die Einstellungsbildung bzw. -veränderung Einfluss nehmen (z. B. Chaiken & Mahes-
waran 1994).
Die Unterschiede zwischen ELM und HSM sind nicht allzu groß, aber dennoch be-
deutsam. Während die zentrale (ELM) und die systematische (HSM) Route weitgehend
identisch sind, setzen die beiden Modelle bei der peripheren (ELM) bzw. der heuristi-
schen (HSM) Route unterschiedliche Schwerpunkte: Das HSM betont die Rolle von ein-
fachen Entscheidungsregeln. Ein Beispiel ist die Expertenheuristik: Wenn eine Experte
etwas sagt, dann muss es wohl stimmen – also kann die persuasive Botschaft auch ohne
eingehende Prüfung angenommen werden. Damit Heuristiken zum Einsatz kommen,
müssen sie verfügbar (available), in einer bestimmten Situation kognitiv zugänglich (ac-
cessible) und auf diese Situation anwendbar (applicable) sein (Chaiken & Trope 1999).
Das ELM hingegen akzentuiert die Breite der möglichen peripheren Prozesse. Auch Ler-
nen durch Konditionierung, Priming oder reine Einstellungsbildung auf Basis schlichter
Wiederholungseffekte (Mere Exposure-Effekt) subsumieren Petty und Cacioppo unter
die periphere Route. Hier wird die hohe Integrationskraft des ELM deutlich.
Es ist zu betonen, dass bei einer elaborierten, systematischen, argumentbasierten
Verarbeitung nicht unbedingt eine objektive und unverzerrte Urteilsfindung garantiert
ist. Auch gilt, dass Einflussvariablen wie etwa die Glaubwürdigkeit des Kommunika-
tors (siehe Abschnitt 4) bei der Verarbeitung nicht unbedingt eine fest definierte Rolle
übernehmen. Zwei-Prozess-Modelle (hier das ELM) postulieren insgesamt vier grund-
legende Prozesse, wie eine Variable Einstellungen beeinflussen kann: (1) Erstens als ein-
facher Hinweisreiz (peripheral cue) bei geringem Involvement, (2) zweitens als Argu-
ment bei hohem Involvement, (3) drittens verzerrend (biased) bei hohem Involvement,
(4) viertens als Einfluss auf die Verarbeitungsintensität bei moderatem Involvement
(Petty & Briñol 2008). Welcher Weg beschritten wird, hängt von jeweiligen Randbe-
dingungen ab. Eine traurige (bzw. glückliche) Stimmung kann beispielsweise als Hin-
weisreiz dienen, wenn keine besondere Motivation oder Fähigkeit zur Informationsver-
arbeitung und daher niedriges Involvement vorliegt (siehe Abschnitt 4.1). Bei hohem
Involvement kann Traurigkeit aber auch zu einer gründlicheren Verarbeitung der Ar-
gumente führen, weil negative Emotionen auf ein Problem verweisen, das eine vertiefte
Grundlagen der Persuasionsforschung 319
Auseinandersetzung mit einem Stimulus erforderlich macht. Diese vertiefte und argu-
mentbasierte Informationsverarbeitung ist dann in vielen Fällen verzerrt (biased), d. h.
negative Gedanken und Informationen werden mit höherer Wahrscheinlichkeit sali-
ent als positive (stimmungskongruente Verarbeitung). Umgekehrt führt positive Stim-
mung zu einer weniger gründlichen, „sorglosen“ Verarbeitung, weil sie signalisiert, dass
a) keine Probleme vorliegen und b) die positive Stimmung mit einer allzu kritischen
Prüfung der Argumenten gefährdet werden könnte (Forgas 1995). Eine Emotion kann
schlieβlich auch als Argument dienen, wenn sie mit dem Einstellungsobjekt in Verbin-
dung gebracht werden kann. So kann Traurigkeit etwa als Argument für die positive Be-
wertung eines Spielfilms dienen, wenn der Film diese Eigenschaft haben soll (Petty &
Briñol 2008).
Insgesamt können die Zwei-Prozess-Modelle (auch wegen ihres Integrationspo-
tenzials) als derzeit dominantes Paradigma der Informationsverarbeitung und Pesua-
sionsforschung bezeichnet werden (Fischer & Wiswede 2009, S. 1). Sie werden aber auch
kritisiert, z. B. weil die Charakteristika von starken versus schwachen Argumenten un-
terspezifiziert seien oder weil die multiplen Rollen, die einzelne Einflussfaktoren ein-
nehmen können, Falsifikationsversuche erschweren würden (Perloff, 2010, S. 150). Mit
dem Uni-Modell liegt ein aktueller Integrationsversuch vor, der davon ausgeht, dass
es keinen qualitativen Unterschied zwischen Argumenten und peripheren Merkmalen
(bzw. Heuristiken) gibt, sondern nur mehr oder weniger komplexe Evidenzen als Basis
für Urteile (Kruglanski & Thompson 1999).
Im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Theorien ist der Framing-Ansatz stark durch
die Kommunikationswissenschaft geprägt (siehe auch Schemer in diesem Band). Der
Ansatz nimmt mittlerweile eine bedeutsame Rolle für die Erklärung von Einstellungs-
effekten ein (Matthes 2007; Scheufele & Scheufele 2010). Beim wirkungsorientierten Fra-
ming-Ansatz stehen Eigenschaften der persuasiven Botschaft (genauer: der verwendete
Frame) im Mittelpunkt, gleichzeitig zeigen sich Einflüsse der Zwei-Prozess-Modelle.
Frames lassen sich als Muster in der Berichterstattung verstehen, welche die Deu-
tung eines Themas durch die Rezipienten beeinflussen können und Wirkungen auf die
Einstellungen der Rezipienten zur Folge haben. Es gibt keine einheitliche Definition für
Frames, allerdings orientieren sich viele Autoren an der Definition von Entman, der
die Framing-Forschung stark beeinflusst hat. Demnach bestehen Frames aus „problem
definition, causal interpretation, moral evaluation, and / or treatment recommendation“
(Entman 1993, S. 52). Durch die wiederholte Hervorhebung und Verknüpfung bestimm-
ter Aspekte eines Themas in der Medienberichterstattung sollen nun Medien-Frames be-
einflussen, wie Rezipienten über das entsprechende Thema denken und welche Einstel-
lungen sie bilden. Typische Wirkungen sind die Zuschreibung von Verantwortung für
320 Werner Wirth & Rinaldo Kühne
ein Problem oder die Zustimmung bzw. Ablehnung von politischen Lösungsvorschlä-
gen. Analog zu den Zwei-Prozess-Modellen wird die Übernahme eines Frames (frame
adoption) und die daraus resultierenden Einstellungseffekte (frame effects) durch die
Rezipienten durch zwei unterschiedliche Prozesse erklärt (Chong & Druckman 2007;
Price & Tewksbury 1997): Bei einer tiefgründigen Verarbeitung reflektieren Rezipienten
über die Verknüpfungen, die in einem Medien-Frame vorgenommen werden. Ein Me-
dien-Frame beeinflusst demnach, welche Informationen von Rezipienten für die Beur-
teilung eines Objekts verwendet werden. Bei einer oberflächlichen Verarbeitung führen
die hervorgehobenen Aspekte hingegen dazu, dass im Gedächtnis des Rezipienten die
Zugänglichkeit entsprechender Kognitionen erhöht wird. Diese sogenannten Anwend-
barkeits- und Zugänglichkeitseffekte beeinflussen also, welche Informationen Rezipien-
ten bei Urteilen verwenden und beeinflussen so deren Einstellungen. Der Framing-An-
satz ist für die Kommunikationswissenschaft ein bedeutender Persuasionsansatz, da er
Aussagen darüber macht, wie Merkmale der Berichterstattung bei einer oberflächlichen
oder tiefgründigen Verarbeitung die Einstellungen der Rezipienten beeinflussen. Der
Ansatz fokussiert somit eine genuin kommunikationswissenschaftliche Fragestellung.
2.5 Einstellungs-Verhaltensmodelle
scheinlich ist, dass aufgrund der eigenen Beteiligung an der Wahl die präferierte Partei
gewählt wird und die politischen Ziele der Bürgerin erfüllt werden. Allerdings sind ihr
diese Ziele sehr wichtig. Zudem könnte sie denken, dass sie mit dem Gang zur Urne in
jedem Fall ihre Rolle als Staatsbürger ausübt, auch wenn ihr diese weniger wichtig als
die Erfüllung ihrer politischen Ziele ist. Insgesamt spricht die Summe der beiden Er-
wartungswertprodukte eher für als gegen eine Wahlbeteiligung. Die TPB berücksichtigt
demnach, dass die Einstellung lediglich ein Prädiktor für die Verhaltensintention bzw.
das Verhalten ist und weitere Prädiktoren existieren.
Verschiedentlich wurden Erweiterungen der TRA und der TPB vorgeschlagen. Bei-
spielsweise wurde das frühere, sporadisch oder auch gewohnheitsgemäß ausgeübte Ver-
halten mit in das Modell aufgenommen. Auch das Ausmaß des antizipierten Bedauerns
über eine ggf. ausgeführte bzw. unterlassene Handlung scheint das Verhalten zu beein-
flussen. Plädiert wird zudem für eine Integration der subjektiven Moral in das Normen-
konzept (sog. internale im Gegensatz zu externalen sozialen Normen) (Conner & Armi-
tage 1998). Da TRA und TPB auf geplante und überlegte Handlungen beschränkt sind,
erweiterte Fazio (1990) das Modell grundlegend, indem er einen zweiten Pfad einbaut.
Dieser erklärt speziell das Zustandekommen spontanen Verhaltens. Leicht zugängliche
Einstellungen steuern demnach die Wahrnehmung in einer Situation und lösen das Ver-
halten direkt aus (ohne Einbeziehung von deliberativen Bewertungen oder Normbe-
trachtungen). Wie schon bei den Zwei-Prozess-Modellen beeinflussen Motivation und
Gelegenheit bzw. Fähigkeiten, ob eher der spontane oder der deliberative Weg einge-
schlagen wird. Bei niedriger Motivation, starkem Zeitdruck oder fehlenden kognitiven
Kapazitäten wird eher der spontane, bei hoher Motivation und ausreichenden Fähig-
keiten bzw. Kapazitäten eher der deliberative Weg (‚planned behavior‘) eingeschlagen.
Die prädiktive Bedeutung der Einstellung ist dabei jeweils unterschiedlich. Während sie
beim geplanten Verhalten nur ein Faktor neben mehreren anderen ist, steht sie beim
spontanen Verhalten im Mittelpunkt.
Werbung und Kampagnen verfehlen oft ihr Ziel, das Publikum scheint resistent zu sein
gegenüber den Persuasionsbotschaften. Die Persuasionsforschung kennt eine Reihe
von Prozessen, die solche Effekte erklären können. Sie sollen in diesem Abschnitt über-
blicksartig referiert werden. Bereits erwähnt wurde, dass die Theorie der Kognitiven
Dissonanz eher geringe Persuasionswirkungen nahe legt. Dabei verhindert das Konsis-
tenzmotiv die Aufnahme, Verarbeitung und Akzeptanz von Botschaften, die den eige-
nen Kognitionen widersprechen oder entgegenlaufen (Festinger 1957).
Starken Voreinstellungen kommt bei der Abwehr von Persuasionsversuchen eine
Schlüsselrolle zu. Mit dem Konzept der Einstellungsstärke (attitude strength) werden
eine Reihe von spezifischen Einstellungsmerkmalen zusammengefasst (Eagly & Chai-
322 Werner Wirth & Rinaldo Kühne
ken 1993), beispielsweise die Konsistenz der affektiven und kognitiven Einstellungskom-
ponenten, die Extremität einer Einstellung bzw. das Vertrauen in die eigene Einstellung.
In diesem Sinne starke Einstellungen erweisen sich als widerstandsfähiger gegenüber
Persuasionsversuchen. Studien zur Inokulationstheorie konnten belegen, dass Personen,
die mit den Gegenargumenten einer Meinungsposition vertraut sind, weniger anfällig
für eine Einstellungsänderung sind (Eagly & Chaiken 1993). Zaller (1996) argumentierte
in diesem Zusammenhang, dass die Wirkungsforschung häufig nur deshalb schwache
Medienwirkungen fand, weil in der Medienrealität fast immer sowohl Argumente wie
auch Gegenargumente angeboten werden. Analog postuliert Noelle-Neumann (2001)
in ihrer Theorie der Schweigespirale starke Medienwirkungen vor allem bei Konsonanz
(also bei Abwesenheit von Gegenargumenten im Medienangebot).
Auch außerhalb der Wissenschaft bekannt geworden ist die Theorie der Reaktanz
(Brehm 1966): Reaktantes Verhalten tritt auf, wenn ein Persuasionsversuch als auf-
dringlich empfunden und die Wahlfreiheit, eine bestimmte Meinung anzunehmen, als
einschränkend wahrgenommen wird. Daraufhin entsteht eine Motivation, die ausge-
schlossenen Optionen wieder zu ermöglichen. In der Folge kann sogar eine zum Persua-
sionsversuch konträre Position attraktiv erscheinen. Begleiterscheinung ist häufig eine
gegen die Beeinflussungsquelle gerichtete aggressive Haltung (Moyer-Gusé 2008). Ganz
ähnlich wirkt ein Beeinflussungsversuch mit einer zur eigenen Einstellung sehr diskre-
panten Position. Als Folge kann ein Bumerang-Effekt beobachtet werden, also eine Ver-
stärkung der zum Persuasionsversuch entgegengesetzten Position (vgl. für eine aktuelle
Studie Henriksen 2006).
Da reaktantes Verhalten voraussetzt, dass ein Persuasionsversuch wahrgenommen
wird, beeinflusst das Persuasionswissen des Publikums, wie stark Botschaften wirken.
Friestad und Wright (1994) gingen davon aus, dass das Publikum im Verlauf der Me-
diensozialisation Wissen über die persuasiven Absichten von Persuasionsagenten (Wer-
bung, Politik) sowie über deren Strategien erwirbt. Durch Hinweisreize oder zu auffäl-
lige Botschaften wird dieses Persuasionswissen salient und kann Wirkungen verhindern
(siehe auch Matthes et al. 2007).
Im Rahmen der Zwei-Prozess-Modelle wurden Prozesse erforscht, wonach Men-
schen unter bestimmten Umständen in der Lage sind, Verzerrungen (zum Beispiel Per-
suasionseinflüsse) bei der Urteilsbildung zu korrigieren. Erfährt ein Individuum bei-
spielsweise, dass die Botschaft von einem unglaubwürdigen Kommunikator stammt,
so kann sie diesen Umstand bei der Urteilsbildung berücksichtigen. Das Flexible Cor-
rection-Modell (Wegener & Petty 1997) postuliert, dass solche Korrekturen auch dann
unternommen werden, wenn das Individuum nur irrtümlicherweise glaubt, dass eine
Verzerrung vorliegt. Es kommt dann zu einer Überkompensation, also zu einer ent-
gegengesetzten Verzerrung. Dieser Fall ist dann wahrscheinlich, wenn Rezipienten hoch
motiviert sind, zu einem akkuraten Urteil kommen wollen und systematisch verarbeiten.
Neben diesen prozessorientierten Ansätzen wirken auch personale Dispositionen
Persuasionseffekten entgegen: Tsfati (2003) zeigte beispielsweise, dass Medienskepsis
Grundlagen der Persuasionsforschung 323
Wirkungen abschwächt. Insgesamt zeigen die referierten Ansätze, dass Rezipienten Per-
suasionseinflüssen nicht wehrlos ausgesetzt sind. Vielmehr beeinflussen verschiedene
Merkmale des Kommunikators, der Botschaft, des Rezipienten sowie Kontextfaktoren
die Stärke von Persuasionseffekten.
4 Zentrale Einflussfaktoren
4.1 Personenfaktoren
4.1.1 Persönlichkeitsmerkmale
Schon früh hat sich die Persuasionsforschung dafür interessiert, ob es Personen gibt,
die für Persuasionsversuche generell empfänglicher sind als andere. Mit Suggestibilität
schien ein solches Merkmal gefunden, allerdings sind die empirischen Belege schwach
geblieben (O’Keefe 2002). Heute konzentriert sich die Suche auf bedingte Einflüsse von
Persönlichkeitsmerkmalen, also auf Interaktionen zwischen Persönlichkeitsmerkma-
len und Prozess- bzw. Botschaftsmerkmalen. So lassen sich intelligente Personen (er-
wartungsgemäß) von guten Argumenten in hinreichend komplexen Botschaften eher
überzeugen. Umgekehrt zeigen sie gegenüber simplen Persuasionsversuchen Wider-
stand. Auch das Selbstbewusstsein beeinflusst den Persuasionsprozess: Wenig selbst-
bewusste Personen setzen offenbar häufig eine Art generalisierte Expertenheuristik ein,
wonach die meisten anderen Personen (und Kommunikatoren) als kompetenter als die
eigene Person eingeschätzt werden. Daher erscheinen Persuasionsbotschaften unabhän-
gig vom Kommunikator oft glaubwürdig und akzeptabel (Petty & Wegener 1998). Die
Befunde für hohes Selbstbewusstsein ähneln jenen für hohe Intelligenz: Stringente und
eher komplexe Argumentationen haben eine stärkere Wirkung.
Menschen unterscheiden sich auch hinsichtlich ihres Kognitionsbedürfnisses (need
for cognition), d. h. ihrem Bedürfnis nach kognitiver Betätigung (Cacioppo & Petty
1982). Menschen mit hohem Kognitionsbedürfnis verarbeiten mit höherer Wahrschein-
lichkeit zentral, während Menschen mit geringem Kognitionsbedürfnis eine Präferenz
für die periphere Route zeigen. Sensation Seeker lassen sich eher von aufregenden und
stimulierenden Stimuli beeinflussen, während es bei Menschen mit niedrig ausgepräg-
tem Sensation Seeking genau umgekehrt ist (Everett & Palmgreen 1995). Des Weiteren
interagiert etwa die Neigung, sich emotional zu engagieren, mit einer erhöhten Emp-
fänglichkeit für narrative (und emotionale) Persuasionsbotschaften (Appel & Richter
2010). Allgemein können solche Phänomene mit den Regulationstheorien von Higgins
324 Werner Wirth & Rinaldo Kühne
und Kollegen (Cesario et al. 2008) erklärt werden. Demnach wird die Persuasion er-
leichtert, wenn es zu einem Fit oder Matching zwischen einem persönlichen Motiv (Nei-
gung, Ziel) und der Art (Form, Stil, Inhalt) der Persuasionsbotschaft kommt.
4.1.2 Stimmungen
der Folge starke Persuasionseffekte nach sich ziehen (siehe Abschnitt 4.3.1). Weitere
persuasionsrelevante Motive sind: Steigerung des Selbstwertgefühls (self-enhancement),
Stimmungsregulierung (mood repair) sowie die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen
oder Leistung (Forgas 1995).
4.2 Kommunikatorfaktoren
4.3 Botschaftsfaktoren
Intuitiv würde man visualisierten und lebendig wirkenden Botschaften ein eher hohes
Persuasionspotenzial einräumen. Diese Lebendigkeit (vividness) der Persuasionsbot-
schaft hat sich jedoch überwiegend als wenig wirksam erwiesen (Taylor & Thompson
1982). Allerdings verweisen neuere Studien auf die Bedeutung des Kontrasts zwischen
lebendigen und wenig lebendigen Botschaftsteilen (Guadagno et al. 2011). Narrativität
übt dagegen nach aktuellen Befunden einen starken Einfluss auf die Persuasion aus, weil
es (1) die Aufmerksamkeit und das Involvement auf die Narration (Plot und Charak-
tere) lenkt, (2) eine positive, hedonistische Grundstimmung entstehen lässt und (3) als
Konsequenz eine unkritische Rezeptionsweise eingenommen wird (Green et al. 2002).
Auch wahrgenommener Humor kann unter bestimmten Umständen die Persuasions-
wahrscheinlichkeit erhöhen (Gulas & Weinberger 2006).
Emotionalität als Botschaftsmerkmal wird ebenfalls häufig in Persuasionsbotschaf-
ten eingesetzt. Im Gegensatz zu unspezifischen Stimmungen (siehe Abschnitt 4.1.2) wer-
den dadurch in der Regel diskrete Emotionen wie Angst, Ärger, Freude oder Stolz indu-
ziert, die thematisch mit der Persuasionsbotschaft korrespondieren (relevant emotions,
Lerner & Keltner 2000, siehe auch Wirth in diesem Band). Diese lassen sich allgemein
im Rahmen eines konditionierten Lernprozesses (Glücksversprechen in der Werbung
sind positive Sanktionen) bzw. als periphere Hinweisreize verstehen. Darüber hinaus
kann emotionstheoretisch argumentiert werden: Für das Erleben diskreter Emotionen
sind oft bestimmte Handlungstendenzen typisch, z. B. die Suche nach Schutz bei Furcht
oder der Wunsch nach Bestrafung bei Ärger. Entsprechend zeigen sich Personen emp-
fänglicher für Botschaften, die mit den Handlungstendenzen der induzierten Emotio-
nen korrespondieren: Jemand der sich über einen Skandal ärgert, stimmt Forderungen
eher zu, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen (Kühne & Schemer 2013). Für den
Einsatz von Furcht in (z. B. prosozialen) Persuasionsappellen sind eigenständige und gut
bestätigte Theorien entworfen worden (Witte 1992).
für das Einstellungsobjekt sprechen, es ist aber ungünstig, mit Argumenten des Gegners
die eigenen Argumente zu widerlegen.
Der Einfluss der Qualität von Argumenten macht sich gemäß den Zwei-Prozess-Mo-
dellen vor allem bei zentraler bzw. systematischer Verarbeitung bemerkbar. Ebenfalls
bereits angesprochen wurden potenzielle Interaktionswirkungen der Botschaft mit Per-
sönlichkeitsmerkmalen: Starke (und komplexe) Argumente sprechen besonders Perso-
nen mit hohem Kognitionsbedürfnis an. Weniger klar ist allerdings die Frage, was denn
ein gutes Argument kennzeichnet (Boller et al. 1990). In empirischen Studien wird dies
meist pragmatisch definiert und ein Pretest zur Ermittlung starker und schwacher Ar-
gumente durchgeführt. Zur typischen Struktur und Inhalt eines guten Arguments gibt
es bislang wenig empirische Belege. Als schwache versus starke Argumentattribute vor-
geschlagen wurden (1) erstens neutrale versus positiv valenzierte Konsequenzen aus der
Akzeptanz der Botschaft, die (2) aufgrund der Eigenschaften des Einstellungsobjekts
wenig versus stark evident sind, (3) schlecht versus gut garantiert werden können und
(4) mit einer geringen versus hohen Wahrscheinlichkeit eintreten (Boller et al. 1990).
Kumulation und Konsonanz zählen zu den zentralen Kontextfaktoren, die die Wirksam-
keit einer Persuasionsbotschaft moderieren können. Kumulation meint die wiederholte
Darbietung gleicher oder zumindest sehr ähnlicher Persuasionsbotschaften und Kon-
sonanz die Übereinstimmung von Persuasionsbotschaften aus unterschiedlichen Quel-
len. Beide haben große Bedeutung für die Medienwirkungsforschung (Noelle-Neumann
1973), werden jedoch eher selten in der Literatur behandelt.
Kumuliert präsentierte Persuasionsbotschaften wirken unter bestimmten Umstän-
den glaubwürdiger (Truth-Effect) und persuasiver (Mere Exposure-Effect). Beide Ef-
fekte sind in der Psychologie seit den 1960er-Jahren bekannt und werden auf die Verar-
beitungsgeläufigkeit (Processing Fluency) zurückgeführt: Demnach werden wiederholt
verarbeitete Reize schneller und flüssiger verarbeitet, was vom Rezipienten als positiv
empfunden wird. Die positive Wahrnehmung wird dabei auf den Reiz (fehl-)attribuiert,
wodurch die positiven Bewertungen entstehen. Beide Effekte treten ohne bewusste Auf-
merksamkeitszuwendung auf und werden dem peripheren Verarbeitungsweg zugerech-
net. Bei besonders häufigen Wiederholungen und / oder bekannten Einstellungsobjekten
können die Wiederholungen jedoch zur Reaktanz führen (siehe Abschnitt 3) und ins
Gegenteil umschlagen (Koch & Zerback 2011; Wirth et al. 2009). In der Werbewirkungs-
forschung wird ebenfalls beobachtet, dass bei besonders häufig geschalteten Werbungen
persuasive Wirkungen wieder abnehmen (Scott & Solomon 1998).
Die persuasive Wirkung von konsonanter Berichterstattung wurde von Noelle-Neu-
mann über den Wegfall der Selektionsschranken erklärt (man kann der Botschaft nicht
mehr ausweichen). Freilich gilt das nur für absolute Konsonanz, was in der heutigen,
328 Werner Wirth & Rinaldo Kühne
5 Fazit
Eine Fülle von Studien hat sich mit der Frage beschäftigt, welche Prozesse persuasi-
ven Wirkungen zugrunde liegen und welche Randbedingungen Persuasion begünsti-
gen oder verhindern. Die Ausführungen zeigen, dass diese Bemühungen ein differen-
ziertes Bild persuasiver Wirkungen hervorgebracht haben. Einstellungseffekte können
durch oberflächliche oder tiefgründige Informationsverarbeitungsprozesse erzeugt
werden und sind von verschiedenen Eigenschaften des Rezipienten, des Kommunika-
tors- sowie der Botschaft und des Kontextes abhängig. Dabei haben sich insbesondere
Zwei-Prozess-Modelle als flexible und integrative Ansätze zur Untersuchung von Per-
suasionsprozessen bewährt, da sie spezifischen Einflussvariablen in Abhängigkeit von
der Verarbeitungsweise unterschiedliche Rollen zugestehen und vielfältige periphere
Persuasionsprozesse subsummieren. Zwei-Prozess-Modelle sind deshalb für die Un-
tersuchung unterschiedlichster Gegenstandsbereiche geeignet, wie unter anderem der
politischen Kommunikation (Reinemann & Zerback in diesem Band), der Werbekom-
munikation (Weber & Fahr in diesem Band) oder der Finanzkommunikation (Sommer
in diesem Band). Auf Basis eines Zwei-Prozess-Frameworks können für unterschied-
liche Gegenstandsbereiche die zentralen Einflussgrößen und deren Rollen im Persua-
sionsprozess identifiziert werden sowie bereichsspezifische Theorien entwickelt werden.
Zum Beispiel kann der wirkungsorientierte Framing-Ansatz als spezifisches Zwei-Pro-
zess-Modell verstanden werden, das präzise Aussagen zu Eigenschaften des persuasiven
Stimulus und zu den relevanten Wirkungsprozessen bei tiefgründiger und oberflächli-
cher Informationsverarbeitung liefert. Ebenso können neue Kommunikationsangebote
analysiert werden. Es müssen keineswegs stets neue Theorien entwickelt werden. Viel-
mehr kann auf das bestehende Zwei-Prozess-Framework zurückgegriffen und dieser an
die Spezifika des neuen Gegenstands angepasst werden.
Grundlagen der Persuasionsforschung 329
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Werbekommunikation
Werbewirkungsforschung als angewandte Persuasionsforschung
Patrick Weber & Andreas Fahr
Abstract In diesem Beitrag wird einleitend Werbung als strategische Form von Kommunikation cha-
rakterisiert, die heute jenseits von Wirtschaftswerbung in vielen Kontexten relevant ist. Nachdem auf
unterschiedliche Konzeptualisierungen von Werbewirkung eingegangen wird, liegen die Schwerpunkte
des Beitrags 1) auf der Darstellung zentraler Mechanismen und Prozesse, aus denen Erinnerungs-, Ein-
stellungs- und Verhaltenswirkungen resultieren, 2) der Vorstellung zentraler Randbedingungen und
Grenzen der Beeinflussung durch Werbung und 3) einem Überblick über zentrale Fragestellungen der
kommunikationswissenschaftlichen Werbewirkungsforschung. Abschließend werden diese Aspekte am
Beispiel der aktuellen Forschung zur Wirkung von Online-Werbung illustriert.
1 Grundlagen
Zu ‚werben‘ bedeutet der Wortherkunft nach u. a., sich um etwas zu bemühen – sei es
um einen potentiellen Partner, einen neuen Job oder Anerkennung. Insofern beschreibt
das Wort ein ganz grundlegendes menschliches Verhalten und der Akt des Werbens
ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Wenn wir heute von Werbung spre-
chen, meinen wir aber in der Regel etwas Spezifischeres: wir sprechen von Werbung als
sozialer Institution im Sinne eines stabilen Interaktionsmusters von Anbietern unter-
schiedlichster Arten von Gütern, die mit Hilfe werbender Botschaften die Empfänger
dieser Botschaften zu Abnehmern der Güter machen möchten. In modernen, funktio-
nal differenzierten Gesellschaften wird dieses Interaktionsmuster durch das systemische
Zusammenwirken hochgradig ausdifferenzierter, organisierter und professionalisierter
Handlungsbereiche realisiert. Idealtypisch umfassen sie die Produktion und Gestaltung
werblicher Botschaften, z. B. durch werbetreibende Unternehmen und Kreativagenturen,
ihre Distribution, bspw. durch Mediaagenturen und Massenmedien, sowie ihre Rezep-
tion durch das Medienpublikum (siehe Siegert & Brecheis 2005). Werbekommunikation
lässt sich deshalb wie folgt definieren: „Werbung ist ein geplanter Kommunikationspro-
zess und will gezielt Wissen, Meinungen, Einstellungen und / oder Verhalten über und
zu Produkten, Dienstleistungen, Unternehmen, Marken oder Ideen beeinflussen. Sie be-
dient sich spezieller Werbemittel und wird über Werbeträger, wie z. B. Massenmedien
und andere Kanäle verbreitet.“ (Siegert & Brecheis 2005, S. 26)
Die Definition macht deutlich, dass Werbung heute auch jenseits des engen Kontex-
tes der Wirtschaftswerbung relevant ist und als eine Form der strategischen Kommunika-
tion für eine Vielzahl von Werbeobjekten eingesetzt wird, z. B. als Werbung für Politiker
und Parteien, für Spenden, für gesundheitsförderliche Verhaltensweisen oder auch für
bestimmte kollektive Identitäten (z. B. die Kampagne „Du bist Deutschland“ als Beispiel
für sog. Social-Marketing). Daneben ist die Etablierung innovativer Formen und Wege,
Werbebotschaften zu verbreiten, kennzeichnend für die inzwischen starke Ausdifferen-
zierung der Werbung (vgl. Siegert & Brecheis 2005)
Unabhängig vom konkreten Werbeobjekt, dem gewählten Werbeträger und -mit-
tel ist Werbekommunikation per Definition intentionale Kommunikation. Die Beein-
flussung von Wissen, Meinungen, Einstellungen und / oder Verhalten gegenüber dem
Werbeobjekt stellt in der Regel das operative Ziel dar, das der Realisierung bestimmter
strategischer Ziele der Kommunikation dient. Je nach Werbeobjekt können diese sehr
unterschiedlich ausfallen: Ein strategisches Ziel der Absatzwerbung ist es beispielsweise,
Konsumenten zu motivieren, das beworbene Produkt zu kaufen und sie an eine Marke
zu binden. Ziel politischer Wahlwerbung kann es sein, die Bürger auf bevorstehende
Wahlen hinzuweisen, sie über die wählbaren Parteien zu informieren, zum Urnengang
zu motivieren und insgesamt zu einer aktiven Partizipationskultur beizutragen. Zusam-
men genommen lassen sich auf abstrakter Ebene fünf Ziele von Werbung differenzieren
(Felser 2001, S. 10 ff.), die auch über den Bereich der Wirtschaftswerbung hinaus sinn-
volle Werbeziele bilden:
Diese kommunikativen Ziele von Werbung sollen innerhalb eines hierarchischen Ziel-
systems strategischer Kommunikation bestimmte übergeordnete Ziele realisieren (Sie-
gert & Brecheis 2005, S. 120 ff.), im Falle von Wirtschaftswerbung bspw. die Steigerung
des Umsatzes eines Produktes, im Falle von Social Marketing bspw. die Hemmung so-
zial unerwünschten bzw. die Förderung prosozialen Verhaltens. Das Erreichen dieser
übergeordneten Ziele definiert den Werbeerfolg (Mayer & Illmann 2000, S. 390 f.), der
anhand ökonomischer Kennzahlen (z. B. Absatzzahlen, Marktanteile) und Sozialindika-
toren (z. B. Raucheranteil in der Bevölkerung, Anzahl Verkehrstote, Wahlbeteiligung)
auf kollektiver Ebene bestimmt wird.
Analog zu sehr breiten Verständnissen von Medienwirkungen (z. B. Früh & Wünsch
2005) kann man unter Werbewirkungen im weitesten Sinne alle Konsequenzen der
Werbekommunikation für die direkt oder indirekt am Kommunikationsprozess beteilig-
ten Faktoren verstehen, die auf diese Beteiligung zurückzuführen sind. Darunter fallen
zum einen die Wirkungen von Werbebotschaften auf der Ebene einzelner Individuen –
und zwar entsprechend der Werbeziele intendierte als auch nicht intendierte Effekte. Zu
letzteren gehören etwa Auswirkungen von Werbemittelplatzierungen auf die Wahrneh-
mung und Bewertung des redaktionellen Kontexts (bspw. Wirth et al. 2010). Weiterhin
wären auch die Auswirkungen der Institution Werbung auf die die Werbekommunika-
tion tragenden Akteure und ihre Handlungsfelder als Werbewirkung im weitesten Sinne
zu verstehen, z. B. Auswirkungen der Werbefinanzierung auf Medien und ihre Inhalte
(Siegert & Brecheis 2005, S. 256 f.). Schließlich fallen darunter auch mögliche Folgen von
Werbekommunikation auf gesellschaftlicher Ebene wie etwa die Entstehung von Moden
und Lebensstilen.
Der kommunikationswissenschaftlichen Forschung zu Werbewirkungen liegt in der
Regel eine sehr viel engere Konzeptualisierung zu Grunde. Nicht alle denkbaren Konse-
quenzen von Werbekommunikation sind als abhängige Variable Gegenstand dieser so-
zialwissenschaftlichen Strömung empirischer Forschung. Sie konzentriert sich vielmehr
auf intendierte Wirkungen und die Indikatoren des Werbeerfolgs auf Individual- und
Aggregatebene.
336 Patrick Weber & Andreas Fahr
1.2.1 Werbewirkungsmodelle
Seit Lewis im Jahr 1898 die Formel „Attention → Interest → Desire → Action“, kurz
AIDA, als erstes Werbewirkungsmodell aufgestellt hat, beschäftigten sich Generationen
von Forschern mit der Frage, wie Werbung wirkt. Da Werbung unterschiedliche Ziele
hat, unter verschiedenen Rahmenbedingungen eingesetzt wird und vielfältige Parame-
ter fokussiert, kann es kein generelles Modell oder eine allgemein gültige Theorie der
Werbewirkung geben. In der Forschung wird vielmehr Partialmodellen der Vorzug ge-
geben, die einzelne Determinanten der Werbewirkung erklären. Sie sind verkleinerte
Nachbildungen oder auch methodische Vereinfachungen des vom Betrachter als rele-
vant erachteten Ausschnitts der Wirklichkeit.
Mittlerweile liegt eine bemerkenswerte Zahl teils von psychologischer, teils von
wirtschaftswissenschaftlicher Forschung entwickelter Werbewirkungsmodelle vor, die
sich häufig ergänzen und nicht immer miteinander in unmittelbarer Konkurrenz ste-
hen (Behrens 1996, S. 257). Vakratsas und Ambler (1999) kombinierten verschiedene
Klassifizierungsversuche und nehmen eine Einteilung anhand inhaltlicher Zusammen-
hänge vor. Die einzelnen Modellklassen lassen sich zwei dominanten Forschungsparadig-
men der Werbewirkungsforschung zuordnen, die sich primär hinsichtlich der gewähl-
ten Analyseebene und der untersuchten unabhängigen Variablen unterscheiden (Tellis
2004, S. 49 f.). Dem Modellierungsparadigma zuzurechnen sind (1) Marktreaktions-
modelle. Darin werden (mit Hilfe statistischer Verfahren) funktionale Zusammenhänge
zwischen bestimmten In- und Outputvariablen der Werbekommunikation ermittelt. In
der Regel werden abhängige und unabhängige Variablen auf Ebene ganzer Märkte zu-
einander in Beziehung gesetzt (Aggregatdatenanalyse), also Werbewirkungen auf der
Makroebene untersucht.
Im verhaltensorientierten Paradigma wird der Einfluss spezifischer Merkmale von
Werbebotschaften (unabhängige Variable) auf individuelle Reaktionen (abhängige Va-
riable) untersucht (Individualdatenanalyse). Vakratsas und Ambler (1999) differenzie-
ren sechs Modellklassen, in denen Werbewirkung auf der Individualebene konzeptua-
lisiert wird: (2) Kognitive Informationsmodelle (Modelle, in denen Werbung primär
eine Informations- und Signalfunktion zugeschrieben wird und Werbewirkung als eine
Funktion der kommunizierten Information und bestimmten Produkteigenschaften kon-
zeptualisiert wird), (3) Modelle affektiver Reaktionen (Werbewirkung wird als Funk-
tion affektiver Reaktionen auf Werbebotschaften konzeptualisiert), (4) Stufenmodelle
(Werbewirkung wird als eine fixe Sequenz spezifischer kognitiver (z. B. Aufmerksam-
keit oder Elaborationen), affektiver (z. B. Einstellungen oder Produktpräferenzen) und
konativer Effekte (z. B. Kaufintention) konzeptualisiert), (5) Low-Involvement-Stufen-
modelle (Modelle, die direkte Erfahrungen mit dem Werbeobjekt in die Effektsequenz
zwischen kognitiven und affektiven Effekten integrieren), (6) Integrative Stufenmodelle
(Modelle, die mehrere Effektsequenzen postulieren und die zentrale Randbedingun-
gen der einzelnen Sequenzen spezifizieren) sowie (7) Hierarchiefreie Modelle (Ansätze,
Werbekommunikation 337
die Werbewirkung nicht als feste Effektsequenz verstehen und / oder zeigen, dass ko-
gnitive und affektive Reaktionen auf Werbebotschaften parallel und interaktiv ablaufen
können).
Hierarchielose Vorstellungen haben heute die Stufenmodelle weitgehend abgelöst.
Beispielhaft verglich etwa Cramphorn (2006) das AIDA-Modell, eine Abwandlung
davon und das hierarchielose M-A-C-Modell (Memory-Affect-Cognition; Ambler &
Burne 1999) miteinander und konnte zeigen, dass das AIDA-Modell nur einen geringen
Teil der Varianz der Kaufabsicht erklärt, das hierarchielose Modell hingegen mehr als
zwei Drittel. Die Untersuchung von Cramphorn (2006) konnte einen signifikanten Ein-
fluss von Erfahrungen und Gewohnheiten nachweisen, der sich als deutlich schwächer
gegenüber dem Einfluss affektiver Reaktionen auf Werbebotschaften und Werbeobjekte
herausstellte. Sowohl Produkterfahrungen als auch Emotionen, Gefühle und Kognitio-
nen beeinflussen also Kaufverhalten – ohne jedoch streng hierarchisch und in einer fes-
ten Sequenz miteinander verbunden zu sein.
2.1 Erinnerungswirkungen
Der Kontakt mit einer Werbebotschaft kann zunächst Spuren im Gedächtnis der Rezi-
pienten hinterlassen. Führt der Kontakt zu einem bewussten Erinnern an Informatio-
nen, spricht man von expliziten Gedächtniseffekten. Voraussetzung dafür ist, dass die
Werbebotschaft in den Aufmerksamkeitsfokus des Rezipienten gelangt und im Kurzzeit-
gedächtnis basale Kategorisierungsprozesse durchläuft. Je nachdem, was erinnert wird
oder werden soll (z. B. nur das Werbemittel an sich oder damit kommunizierte Inhalte
wie die werbende Marke oder Informationen wie bspw. der Preis oder zentrale Argu-
mente) muss die Werbebotschaft zusätzliche Verarbeitungsstufen durchlaufen (z. B. in-
haltliches Verstehen der Botschaft und aktives Nachdenken darüber, siehe auch Hannah
Früh in diesem Band), die auch die Aktivierung weiterer Gedächtnisinhalte involvieren.
Eine zentrale Frage der Werbewirkungsforschung ist in diesem Zusammenhang, wie
die fokale Aufmerksamkeit (auch unter Nutzung unwillkürlicher Aufmerksamkeits-
reaktionen) auf Werbebotschaften gelenkt werden kann. Die psychologische Werbewir-
kungsforschung kennt hier drei effektive Strategien (Fennis & Stroebe 2010, S. 51 ff.):
1. Erhöhung der Salienz (Ausmaß, in dem sich das Werbemittel von seinem Umfeld ab-
hebt). Die Salienz einer Werbebotschaft lässt sich bspw. erhöhen, indem bestimmte Stil-
mittel (z. B. Erotik) in einem Werbeumfeld eingesetzt werden, das dieses Stilmittel nicht
nutzt oder durch Platzierung von Werbemitteln außerhalb gewöhnlicher Werbeumfel-
der (z. B. Programmsponsoring statt Werbung im Werbeblock). 2. Erhöhung der Leben-
digkeit (Vividness) einer Werbebotschaft indem versucht wird, die Botschaft emotional
ansprechend zu gestalten (z. B. mit Hilfe von Emotionsappellen) oder Informationen
sehr konkret, anschaulich und bildhaft zu vermitteln. 3. Durch Neuartigkeit des Werbe-
stimulus. Die Wahrnehmung einer Werbebotschaft als neuartig kann gesteigert werden
durch ungewohnte oder erwartungswidrige Werbestimuli, die eine Überraschungsreak-
tion auslösen, wodurch wiederum kognitive Ressourcen mobilisiert werden.
Die Standardmethoden zur Messung expliziter Gedächtniseffekte sind Erinnerungs-
und Wiedererkennungstests (Woelke 2000). Bei Erinnerungs- oder Recalltests wird die
freie Erinnerung an Werbestimuli oder / und deren Inhalte ermittelt. Die Erfassung er-
folgt entweder ungestützt oder gestützt durch Vorgabe von Kontextinformationen zum
Werbemittel (z. B. Produktkategorien). Mit Wiedererkennungs- oder Recognitiontests
wird unter Verwendung des Werbemittels getestet, ob Rezipienten dieses wiedererken-
nen, wobei der Kontext des Wiedererkennens (z. B. isoliert oder zusammen mit anderen
Werbemitteln einer Produktkategorie) variiert werden kann.
Neben Wirkungen auf das explizite, deklarative Wissen kann der Kontakt mit ei-
ner Werbebotschaft zu Wirkungen auf nichtbewusste Formen des Gedächtnisses füh-
ren (implizite Gedächtniseffekte, Roediger 1990). Implizite Gedächtniseffekte von Wer-
bung zeigen sich daran, dass der Kontakt mit einer Werbebotschaft die (Test-)Leistung
bei einer darauffolgenden, nicht mit der Werbeexposition in Zusammenhang stehen-
den Aufgabe beeinflusst, ohne dass man sich an den vorherigen Werbekontakt erinnern
Werbekommunikation 339
oder sich dessen bewusst sein muss. Klassische Tests für implizites Erinnern sind Wort-
stamm- und Wortfragment-Ergänzungstests, mit denen im Rahmen der Werbewirkungs-
forschung vor allem implizites Erinnern an Markennamen getestet wird. So nutzten z. B.
Yang et al. (2006) Wortfragment-Ergänzungstests, um die implizite Erinnerung an Mar-
kenplatzierungen in Computerspielen zu untersuchen.
Implizite Gedächtniseffekte sind besonders deshalb relevant, weil sie nicht auf be-
wusster Aufmerksamkeitszuwendung zu Werbebotschaften basieren und eine Grund-
lage für die Erklärung von Effekten des beiläufigen, unaufmerksamen und unbewussten
Werbekontakts sind. So beeinflusst implizites Erinnern bei erneutem Kontakt mit einer
Werbebotschaft, wie einfach diese verarbeitet werden kann (Verarbeitungsgeläufigkeit).
Implizite Gedächtniseffekte und implizites Erinnern stellen damit eine wichtige Grund-
lage für Einstellungseffekte wie z. B. den Truth-Effekt (Koch & Zerback 2011) oder den
Mere Exposure Effekt dar, von denen angenommen wird, dass sie zumindest teilweise
durch die Verarbeitungsgeläufigkeit vermittelt werden.
2.2 Einstellungswirkungen
dels (Winkielman et al. 2003) mit positivem Affekt assoziiert, der auf das Werbeobjekt
übertragen wird. Weiterhin kann die Evaluation des Werbeobjekts aus der Assozia-
tion mit Stimuli resultieren, die bereits eine eindeutige Bewertung haben (evaluatives
Konditionieren, Walther & Langer 2010). So werden bspw. in Werbemitteln die Werbe-
objekte zusammen mit angenehmer Musik oder attraktiven Testimonials dargeboten.
Ähnlich kann bei integrierter Werbung (z. B. Product Placements) die Bewertung der
produktverwendenden Figur auf die Bewertung des Werbeobjekts übertragen werden
(Schemer et al. 2008). Darüber hinaus kann die durch eine Werbebotschaft oder den
Werbekontext ausgelöste Stimmung als affektive Information über das Werbeobjekt ge-
nutzt werden (affect-as-information, z. B. Aylesworth & MacKenzie 1998). Im Gegensatz
zu evaluativem Konditionieren resultieren Einstellungswirkungen dabei aus einer emo-
tionsbasierten Inferenz statt auf gelernten Assoziationen zwischen Stimuli.
Einstellungen zum Werbeobjekt können also auch durch den Kontext beeinflusst
werden, in dem das Objekt auftritt. Im Falle klassischer Mediawerbung stellt der engste
Kontext des Werbeobjekts das Werbemittel (z. B. Anzeige oder Werbespot) dar. Rezi-
pienten reagieren evaluativ auch auf diesen Stimulus, d. h. sie haben oder bilden Ein-
stellungen gegenüber dem Werbemittel (Attitude toward the Ad, AAd), die unabhängig
von den vermittelten kognitiven Informationen die Einstellung zum Werbeobjekt be-
einflussen können. Beschrieben wird dieser Mechanismus etwa in der Dualen Vermitt-
lungshypothese (MacKenzie et al. 1986), die einen zweifachen Effekt der Einstellung zum
Werbemittel auf die Markeneinstellung postuliert: Einen direkten via evaluativem Kon-
ditionieren und einen indirekten über die Beeinflussung von Kognitionen zur Marke
(z. B. Gedanken zur Marke und zu kommunizierten Produkteigenschaften).
Die Standardmethoden zur Messung von Einstellungswirkungen sind Messungen
von expliziten Einstellungen, also Evaluationen des Werbeobjekts, denen sich das Indivi-
duum bewusst ist und die es verbal ausdrücken (und daher kontrollieren) kann. Die Mes-
sung erfolgt häufig mithilfe eines semantischen Differentials, bei dem das Individuum
das Werbeobjekt hinsichtlich einer Reihe bipolarer Adjektivpaare (z. B. gut – schlecht)
einschätzen soll oder mittels Likert-Skalen, bei denen das Individuum das Ausmaß sei-
ner Zustimmung zu evaluativen Aussagen über das Werbeobjekt ausdrücken soll.
Werbung kann auch implizite Einstellungen beeinflussen, die sich von expliziten Ein-
stellungen unterscheiden können. Implizite Einstellungen sind Evaluationen, denen sich
das Individuum i. d. R. nicht bewusst ist und die nur schwer kontrollierbare Reaktionen
beeinflussen. Die Standardmethoden der impliziten Einstellungsmessung (siehe über-
blickshalber Hefner et al. 2011) versuchen über das Erfassen solcher Reaktionen, impli-
zite Einstellungen zugänglich zu machen.
Werbekommunikation 341
2.3 Verhaltenswirkungen
Ultimatives Ziel von Wirtschaftswerbung ist in dem meisten Fällen die Beeinflussung
des (Kauf-)Verhaltens. Gemäß zentraler sozialpsychologischer Handlungstheorien wie
etwa der Theorie des geplanten Handelns (Ajzen 2005) ist die unmittelbarste Ursache
für ein bestimmtes Verhalten eine Verhaltensintention. Diese wiederum ist eine Funk-
tion der Einstellung gegenüber dem Verhalten, sozialen Normen und der wahrgenom-
menen Kontrollierbarkeit des Verhaltens. Da diese teilweise auf bestimmten kognitiven
Überzeugungen basieren, kann Werbung über die gezielte Beeinflussung dieser Über-
zeugungen auch Verhaltensintentionen und in der Folge tatsächliches Verhalten beein-
flussen. Darüber hinaus kann durch eine Werbebotschaft ein bestimmtes Verhaltensziel
(positiv bewertetes Handlungsresultat) aktiviert werden (goal priming), das entweder
bewusste Verhaltensintentionen oder Verhalten direkt beeinflussen kann, ohne dass
Konsumenten vorher explizite Verhaltensintentionen gebildet haben (siehe zum Über-
blick Fennis & Stroebe 2010, S. 211 ff.)
Im Rahmen des Dualen Vermittlungsmodells (s. o.) wird ein weiterer Mechanismus
der Beeinflussung von Verhaltensintentionen beschrieben. Es postuliert einen direk-
ten Zusammenhang zwischen Markeneinstellung und Kaufintention, was durch eine
Metaanalyse von Brown und Stayman (1992) gestützt wird: Sie berichten auf Basis von
14 Studien eine durchschnittliche paarweise Produkt-Moment-Korrelation zwischen
Markeneinstellung und Kaufintention von .38 und einen Pfadkoeffizienten für diesen
Zusammenhang im kompletten Dualen Vermittlungsmodell von .73.
Die Standardmethode zum Testen von Verhaltenswirkungen ist die Messungen von
Verhaltensintentionen. Sie erfolgt i. d. R. mittels Likert-Skalen, bei denen das Indivi-
duum bspw. die Wahrscheinlichkeit angeben soll, mit der es das Produkt in einer hypo-
thetischen Entscheidungssituation kaufen würde. Eine andere Möglichkeit stellen Ver-
haltensbeobachtungen dar, bei denen Individuen tatsächlich in eine Auswahlsituation
gebracht werden und dann aus einer Reihe von Optionen (darunter das Werbeobjekt)
selektieren können.
Der Kontakt mit einer konkreten Werbebotschaft / einem Werbemittel findet immer un-
ter bestimmten Randbedingungen statt, die neben den Merkmalen der Werbebotschaft
die Wirksamkeit von Werbung beeinflussen können. Zunächst stellen alle Randbedin-
gungen, denen die im vorigen Kapitel beschriebenen Wirkungsmechanismen unterlie-
gen, zentrale Randbedingungen der Werbewirkung dar. Im Folgenden werden darüber
hinausgehend Randbedingungen besprochen, die charakteristisch für Werbekommu-
nikation sind. Zu den einflussreichsten Merkmalen des spezifischen Werbekontakts ge-
hört, wie häufig bereits Kontakt mit der Werbebotschaft bestand und in welchem (me-
342 Patrick Weber & Andreas Fahr
dialen) Umfeld der Werbekontakt stattfindet. Daneben bringt der Rezipient bestimmte
Erfahrungen und Einstellungen in die Werbekommunikation ein, die als individuelle
Rahmenbedingungen Werbewirkungen moderieren können.
Auch das Unterbrechen einer Kampagne kann positive Effekte im Sinne einer Super-
kompensation nach sich ziehen: Nach einer Pause und Gelegenheit zur Konsolidierung
der Botschaften kann der Nutzengewinn erneut überproportional ansteigen. Diese Er-
kenntnisse führten in der Praxis zum Einsatz verschiedener Puls-Strategien in der Pla-
nung von Werbekampagnen. Auf Ebene der Werbegestaltung kann die Wirksamkeit von
Wiederholung optimiert werden, wenn charakteristische Merkmale der Werbebotschaft
wiederholt, andere Merkmale aber bei den wiederholten Darbietungen abgeändert wer-
den. Typische Wiederholungen sind Claims, Slogans und Jingles – aber auch wiederkeh-
rende individuelle Symbolik und Tonalität (Form- und Farbgebung, Textstile usw.) einer
Werbebotschaft. Dies verdeutlicht, dass Erinnerung, Bewertung oder Kaufneigung nicht
nur mit der Kontaktdosis zusammenhängen.
Eine weitere zentrale Randbedingung im Bereich kommerzieller Werbung stellt die
Art des beworbenen Produktes dar, weshalb es in der Werbewirkungsforschung mehrere
Ansätze der Produktklassifikation gibt. Die Grundüberlegung dahinter macht schon das
klassische FCB-Grid von Vaughn (1980) deutlich: Es wird angenommen, dass die der
Kategorisierung zugrunde liegenden Dimensionen (bei Vaughn Produktinvolvement
und Modus von Konsumentscheidungen) beeinflussen, wie Werbung verarbeitet wird
und Werbewirkung in der Folge zu Stande kommt.
Darüber hinaus spielt insbesondere bei Mediawerbung der mediale Kontext eine
Rolle dafür, welche Wirkung ein Werbekontakt haben kann: Kontexteffekte können ei-
nerseits vom redaktionellen Kontext der Werbebotschaft ausgehen (z. B. Aylesworth &
MacKenzie 1998). Andererseits wird die spezifische Werbebotschaft aber häufig auch im
Umfeld weiterer Werbebotschaften dargeboten, so dass auch Merkmale des Werbekon-
texts, z. B. die Position eines Spots in einem Werbeblock, Merkmale des Konkurrenz-
umfelds (kompetitiv vs. nicht-kompetitiv, Ähnlichkeiten oder Besonderheiten in der
Werbegestaltung) beeinflussen, wie der Kontakt mit der einzelnen Werbebotschaft wirkt.
Hinsichtlich des Rezeptionskontextes wird prototypisch unterschieden zwischen auf-
merksam oder beiläufig rezipierter Werbung – also flüchtigen oder intensiven Kontak-
ten. Eng damit zusammen hängen zunehmend vielfältigere Expositionsbedingungen –
wird Werbung also entspannt zuhause im Fernseh- oder Lesesessel, neben anderen
Tätigkeiten oder unterwegs in Konkurrenz unterschiedlichster Aufmerksamkeitsher-
ausforderungen wahrgenommen ? Insbesondere innerhalb neuer Medienumgebungen
(WWW, Parallelnutzung verschiedener Medien, mobile Mediennutzung) treten Werbe-
formen und Werbebotschaften zunehmen synchron auf und konkurrieren um die Auf-
merksamkeit der Rezipienten. Die auf Rezipienten treffende Werbung nimmt folglich
nicht nur absolut zu – sie wird sequenziell und parallel dichter sowie multimodaler.
344 Patrick Weber & Andreas Fahr
geht es um die Fragen, ob, warum und unter welchen Bedingungen die Nutzung be-
stimmter Stilmittel (z. B. Erotik, Humor oder Furchtappelle) eine effektive Persuasions-
strategie darstellt. Zur Beantwortung dieser Fragen werden für einzelne Stilmittel häu-
fig eigenständige Theorien und Modelle formuliert, die die Mechanismen der Wirkung
dieser Stilmittel auf Aufmerksamkeit, Erinnerung, Einstellungen und Verhaltensinten-
tionen spezifizieren (Mediatoren) sowie die Bedingungen, unter denen diese Prozesse
und Wirkungen auftreten (Moderatoren). Im Zuge fortgesetzter empirischer Forschung
werden diese Theorien und Modelle geprüft, modifiziert, weiterentwickelt und ermög-
lichen dadurch ein besseres Verständnis der Wirkungsprozesse sowie ganz praktische
Hinweise darauf, wie ein Stilmittel optimal gestaltet werden kann und unter welchen
Bedingungen sein Einsatz effektiv ist.
Zum anderen widmet sich die Forschung der Wirkung innovativer Werbeformen.
Konventionelle Werbeformen sind i. d. R. mit dem Problem konfrontiert, dass die Rand-
bedingungen der Werbung (siehe Abschnitt 3) die Effektivität von Werbung reduzieren,
z. B. durch fehlende Aufmerksamkeit für die einzelne Werbebotschaft im Umfeld an-
derer Werbung oder negative Werbeeinstellungen gegenüber konventionellen Werbe-
formen (z. B. Unterbrecherwerbung im Fernsehen). Neue technische Möglichkeiten für
die Werbekommunikation und / oder veränderte rechtliche Rahmenbedingungen nut-
zend, zielen innovative Werbeformen i. d. R. darauf, diese Probleme vorübergehend zu
lösen bzw. zu entschärfen. Die entsprechenden Strategien innovativer Werbung las-
sen sich entlang der Dimensionen Integration und Personalisierung beschreiben (Sie-
gert & Brecheis 2005, S. 53 ff.). Bspw. kann eine Strategie in der stärkeren Integration der
Werbebotschaft in den redaktionellen Kontext bestehen, so dass die Botschaft u. U. gar
nicht als Werbung erkannt wird (etwa Product Placements). Eine andere Strategie kann
darin bestehen, die Werbebotschaft in einem Medium vom übrigen Werbeumfeld zu
trennen (z. B. werbliche Alleinstellung durch Sponsoring). Eine dritte Strategie besteht
im gänzlichen Verzicht auf Massenmedien als Werbeträger und in der Herstellung des
Werbekontakts in anderen Alltagskontexten z. B. mit kreativen Werbemedien (Ambient-
Werbung). Im Online-Bereich sind mit den dort entstandenen Werbeformen viele die-
ser Strategien parallel zu beobachten, weshalb die Forschung zu Wirkung von Online-
Werbung exemplarisch überblicksartig dargestellt wird.
Auch und gerade interaktive Medienumgebungen nähren die Hoffnung von Werbetrei-
benden, Quantität und insbesondere Qualität von Werbekontakten zu erhöhen. Der
Online-Werbemarkt wächst stetig und machte im Jahr 2011 (in Deutschland) bereits
knapp ein Fünftel des gesamten Werbeaufkommens aus (BVDW 2011). Dabei geht es
nicht nur um die weitere Minimierung von Streuverlusten aufgrund von Personalisie-
rungsmöglichkeiten und zunehmend zielgruppenspezifischere Ansprache. Auch die
346 Patrick Weber & Andreas Fahr
Jüngst haben sich zu den mittlerweile schon klassischen Formen der Display-Wer-
bung neue Stile wie Bewegtbildwerbung, „Branded Content“ und In-Game-Advertising
gesellt. Im Bewegtbildbereich finden sich klassische Werbespots nun auch im Internet,
darüber hinaus zahlreiche unterhaltende Videos, die häufig auch über YouTube und
ähnliche Plattformen zugänglich gemacht werden. Dies geht Hand in Hand mit dem
„Branded Content“, also Inhalt, der eigens dazu geschaffen wird, ein Produkt oder eine
Marke in Szene zu setzen – wobei auch hier meist auf die Kombination von Unterhal-
tung und Werbung gesetzt wird.
Beim In-Game-Advertising wird Werbung gezielt in Off line- oder Online-Spielen
platziert – eine Werbeform, die bereits in den 1980er-Jahren Einzug hielt, als SEGA
Games in seinen Autorennen-Spielen die Bandenwerbung mit Marlboro-Anzeigen be-
stückte (vgl. Chang et al. 2010). Im Jahr 2000 zeigten dann bereits 50 Prozent der 25 po-
pulärsten Videospiele Markenprodukte (vgl. Nelson 2002). Die Strategie, die Spiele
durch Werbeelemente im Hintergrund realistischer erscheinen zu lassen oder sogar ein
Produkt direkt in das Spiel zu integrieren und in die Handlung einzubauen, wird zu-
nehmend genutzt. Beispielsweise erreicht ein Spieler nur dann das nächste Level, wenn
er das Produkt in irgendeiner Weise einsetzt. Die Platzierung von Werbung in Spie-
len wirkt sich v. a. dann positiv aus (hinsichtlich der Einstellung zu Produkt und / oder
Marke), wenn der wahrgenommene Realitätsgrad nicht darunter leidet oder die Nut-
zung nicht als aufdringlich wahrgenommen wird (vgl. Chaney et al. 2004, Nelson et al.
2004).
Die Werbung im mobilen Bereich nahm ihren Anfang mit dem Versenden von Pro-
dukt- oder Markeninformationen via SMS oder MMS. Diese Form der Werbung wird
jedoch meist als störend empfunden und stößt daher nur auf geringe Akzeptanz bzw.
sogar Reaktanz (vgl. Ma et al. 2009). Solche Botschaften können zwar eine Marke ins
Bewusstsein rücken, kaum aber das Markenimage verbessern (vgl. Rau et al. 2011). Die
Forschung im mobilen Sektor hat vielmehr gezeigt, dass auch hier diejenige Werbebot-
schaft am ehesten effektiv ist, die relevant, nützlich oder unterhaltend sind.
Das Online-Umfeld bietet für die Forschung häufig den Vorteil der direkten Mes-
sung der Wirkungsparameter, d. h. die Nutzung (z. B. ein Klick ) wird manifest gemes-
sen bzw. beobachtet und ist somit valider als die durch Selbstauskunft der Rezipienten
erhobene Nutzung von Off line-Medien. Durch die Klickpfade der Nutzer lassen sich
Profile erstellen, welche es wiederum ermöglichen, die Nutzer entsprechend ihrer Vor-
lieben gezielt mit der passenden Werbung anzusprechen. Bei dieser Eingrenzung der
Zielgruppen spricht man von Targeting. Da die Targeting-Technologien immer ausge-
reifter werden, zeigen sich hier massive Steigerungen in der Effektivität von Werbekam-
pagnen, da es immer weniger Streuverluste gibt. Jedoch ist Targeting nicht unumstritten
und der Manipulationscharakter dieser Technologie ist immer wieder Gegenstand von
ethischen Debatten (vgl. Goldfarb & Tucker 2010).
Jedoch nicht nur im mobilen Werbemarkt haben neue Werbestrategien Einzug ge-
halten. Komplett neue Werbemärkte haben sich in den vergangenen Jahren im Umfeld
348 Patrick Weber & Andreas Fahr
sung ist angesichts der zunehmend komplexen Vergütungs- und Targeting-Modelle eher
nicht zu erwarten.
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Wirkungsforschung in der strategischen
Organisationskommunikation
Juliana Raupp & Viorela Dan
Abstract Der Beitrag bietet eine Bestandsaufnahme der Konzepte und Verfahren der Wirkungs-
forschung in der strategischen Organisationskommunikation. Zunächst definieren wir den Begriff und
ordnen die Wirkungsforschung in die verschiedenen kommunikationswissenschaftlichen Teildisziplinen
ein. Es folgt ein Überblick über Methoden und Ebenen der Evaluation der strategischen Organisations-
kommunikation. Anschließend stellen wir in einem kurzen Überblick theoretische Ansätze vor, die für
die Wirkungsforschung fruchtbar gemacht werden können. Abschließend zeigen wir Defizite und mög-
liche weitere Entwicklungen auf.
• Die Forschung zur Internen Kommunikation (im englischen Sprachraum wird hier-
für meist der Begriff Organisationskommunikation verwendet) evaluiert organisa-
tionsinterne Kommunikationsprozesse, z. B. die Kommunikation zwischen Vorge-
setzten und Mitarbeiter / innen.
1 Der Begriff Teilöffentlichkeiten (Publics) bezeichnet in Anlehnung an Grunig & Hunt (1984) soziale
Gruppen, deren Mitglieder untereinander in Verbindung stehen und deren Handeln auf ein Interesse
ausgerichtet ist. In der Unternehmenskommunikation werden zudem verwandte Begriffe wie Zielgrup-
pen und Stakeholder oder Anspruchsgruppen verwendet (vgl. Mast 2002: 104 ff.).
Wirkungsforschung in der strategischen Organisationskommunikation 355
rend der Ausführung der jeweiligen Maßnahme bewertet. Die summative Evaluation
wird hingegen rückblickend ausgeführt und dient der abschließenden Bewertung einer
bestimmten Maßnahme, der eingesetzten Instrumente und ihrer Wirkung. Sowohl in
der formativen als auch in der summativen Evaluation sollen Fragen hinsichtlich der
Effektivität und der Effizienz beantwortet werden. Die Überprüfung der Effektivität be-
zieht sich auf die Frage danach, ob die Maßnahmen geeignet sind, die vorher festgelegten
Ziele zu erreichen. Die Effektivitätsfrage dagegen betrifft den optimalen Ressourcenein-
satz (Kosten-Nutzen-Verhältnis; vgl. Zerfaß 2007, S. 53).
Aus Sicht der Organisation sind mindestens drei Aspekte interessant. (1) Wie gut war
die erbrachte Leistung ? (2) Welche kurzfristige Wirkung erzielten die Kommunikationsakti-
vitäten bei den Rezipienten ? (3) Welchen Beitrag leistet Kommunikation zum Organisa-
tionserfolg ? Diese Fragen beziehen sich auf unterschiedliche Ebenen der Wirkungsfor-
schung: Die Qualität der erbrachten Kommunikationsleistungen, z. B. der geschriebenen
Pressemitteilungen, wird Output genannt. Die Evaluation der kurzfristigen Wirkung bei
den Rezipienten dieser Kommunikationsleistungen, etwa die Wahrnehmung der stra-
tegischen Botschaften, wird als Outgrowth angeführt. Schließlich wird der Beitrag von
Kommunikation zum Organisationserfolg Outflow bezeichnet (vgl. DPRG & GPRA
2000). Die hier vorgenommene Einteilung in Ebenen basiert auf dem Evaluations-
modell von Cutlip et al. (2000). Sie ist deshalb erheblich, weil in der Kommunikations-
praxis oft Evaluationsverfahren auf der Ebene des Output durchgeführt werden und
daraus unberechtigte Schlüsse hinsichtlich der Wirkung bei den Rezipienten gezogen
werden. Dabei bedeutet eine gut geschriebene Pressemitteilung noch lange nicht, dass
sie die erhoff te Wirkung bei den Rezipienten erzielt. Watson und Noble (2005, S. 79)
nennen diese Praxis „substitution game“.
Aus Sicht der Gesellschaft hingegen stellt sich die Frage nach der langfristigen Wir-
kung bei den Rezipienten, also nach dem Outcome der strategischen Organisations-
kommunikation. Mit anderen Worten geht es darum, ob strategische Botschaften die
Veränderung von Einstellungen oder Verhalten eingeleitet, Prozesse der öffentlichen
Meinungsbildung beeinflusst oder mediale Diskurse verändert haben. Dies schließt mit-
unter auch negative Wirkungen mit ein.
Tabelle 1 zeigt diese Ebenen, Methoden und Verfahren der Wirkungsforschung im
Überblick.
Tabelle 2 fasst die oben angeführten Methoden und Verfahren hinsichtlich ihrer Vor-
und Nachteile zusammen (vgl. auch die Beiträge in Teil 6 dieses Bandes). Zu den meist
verwendeten Methoden zur Beurteilung der Qualität und der Wirkung der Presse- und
Medienarbeit zählt die Inhaltsanalyse. In der Wirkungsforschung werden Inhaltsanaly-
sen eingesetzt, um zum einen die Qualität der Botschaften zu überprüfen, die an die Me-
dien gesandt wurden: Vermitteln sie die Kernbotschaften der Organisation ? Besonders
geeignet dafür sind Input-Output-Analysen, wie etwa die Medienresonanzanalyse (vgl.
Raupp & Vogelgesang 2009). Zum anderen geht es dabei darum, den Einfluss von strate-
gischen Quellen auf die Medienberichterstattung zu bewerten. Durch die damit verbun-
Wirkungsforschung in der strategischen Organisationskommunikation 357
Erkenntnis- Qualität und Wir- Wirkung auf Beitrag von Wirkung auf öffent-
interesse kung der Presse- Rezipienten Kommunikation liche Meinung und
und Medienarbeit zum Organisations- mediale Diskurse
erfolg
dene aufmerksame Beobachtung4 der Themen in der öffentlichen Debatte können auch
aufkeimende Krisen entdeckt werden (vgl. Heath 1997 zu Issues Management als Früh-
warnsystem). Medieninhaltsanalysen können überdies Aufschluss darüber geben, wie
über eine bestimmte Organisation oder eine bestimmte Person in den Medien berich-
tet wird. Als Instrumente werden hauptsächlich kommerzielle Datenbanken für Presse-
informationen (z. B. Factiva, LexisNexis) verwendet; darüber hinaus auch einzelne Me-
dien, über die sich die Teilöffentlichkeiten informieren, da einige deutsche Printmedien
nicht in den kommerziellen Datenbanken enthalten sind.
Um die Wirkung der strategischen Organisationskommunikation bei den Rezipien-
ten bewerten zu können, werden Methoden der Mediennutzungsforschung eingesetzt,
mitunter Befragungen und systematische Beobachtungen (vgl. Bortz & Döring 2006,
S. 263). Die systematische Beobachtung liefert wertvolle Informationen ‚aus erster Hand‘.
Um individuelle Informationen zu generieren, die verallgemeinert werden können, wer-
den meist standardisierte Befragungen eingesetzt. Während Off line-Befragungen münd-
lich oder schriftlich erfolgen, werden Online-Befragungen über das Internet geführt. On-
line-Befragungen sind forschungsökonomischer als Off line-Befragungen, leiden jedoch
häufig unter eingeschränkter Repräsentativität. Die Analyse der Nutzung einer Website
(gemessen in Page Impressions und Visits sowie daraus abgeleiteter Kennzahlen) liefert
zum Teil sehr ausführliche Erkenntnisse über das Surf- und Mediennutzungsverhalten
der Rezipienten (Schweiger 2010a). Dennoch können die dabei zum Einsatz kommen-
den Anwendungen, wie etwa Google Analytics, keine persönlichen Informationen über
die Besucher einer Website liefern (z. B. soziodemografische Merkmale oder Nutzungs-
motive; vgl. Schweiger 2010a, 2010b).
Neben den bereits beschriebenen Methoden, mit denen die Wirkungen der strate-
gischen Organisationskommunikation auf die Medien und die Rezipienten untersucht
werden können, stellt sich aus Sicht der Organisation auch die Frage nach dem Beitrag
der strategischen Organisationskommunikation zum Organisationserfolg. Da diese sich
nicht mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung überprüfen lässt, können wir
an dieser Stelle keine theoretischen Ansätze nennen. Oft werden dafür bestehende be-
triebswirtschaftliche Bewertungssysteme (Controlling) verwendet, wie etwa Value Based
Management, Total Quality Management oder Balanced Scorecards. Diese Management-
systeme versuchen alle Leistungen eines Unternehmens mit Kennzahlen zu unterlegen,
um dadurch Verbesserungsprozesse in Gang zu setzen (vgl. zu diesen Kennzahlen Besson
2008, S. 150 f.). Dies gilt als Stärke und Schwäche des Controlling zugleich: Einerseits
wird Kommunikation dadurch als wichtiger Bestandteil moderner Unternehmensfüh-
rung anerkannt, als Wertschöpfungsfaktor und als Erfolgsfaktor. Allerdings lassen sich
einige Kommunikationsleistungen schwer beziffern. Insbesondere auf Dauer angelegte
Kommunikationsmaßnahmen und immaterielle Werte wie Reputation könnten davon
betroffen sein, denn die Veränderung von Wissen und Einstellungen benötigt Zeit. Eine
solide Erforschung von Wirkungen der strategischen Organisationskommunikation
stellt sowohl Fragen hinsichtlich der Effizienz als auch der Effektivität (Raupp 2008).
Grunig (2008) machte zu Recht auf den Unterschied aufmerksam, der zwischen der
Messung von Wirkungen und der Erforschung von Wirkungen besteht. Während sich die
Messung auf die Anwendung bestimmter Methoden beschränkt, geht die Erforschung
von Wirkungen theoriegeleitet vor. Deshalb gilt es zu fragen, welche theoretischen
Ansätze für die Erforschung der strategischen Organisationskommunikation fruchtbar
gemacht werden können. Die Kommunikationswissenschaft stellt verschiedene Theo-
rien und Ansätze bereit, die hier als Fundament dienen können. Im Folgenden stel-
len wir summarisch einige Theorien und Theorieansätze dar, wobei wir uns auf empi-
risch überprüfbare Theorien mittlerer Reichweite aus der Kommunikationswissenschaft
und der sozialwissenschaftlichen PR-Forschung konzentrieren. Betriebswirtschaftli-
che Bewertungssysteme, wie sie im Kommunikationscontrolling Anwendung finden,
klammern wir aus, da es sich hierbei nicht um empirisch-sozialwissenschaftlich über-
prüfbare Theorien handelt. Wir unterscheiden die Ansätze im Folgenden danach, ob
Wirkungen auf der Ebene der massenmedialen Berichterstattung oder der Rezipienten
bzw. Teilöffentlichkeiten untersucht werden.
360 Juliana Raupp & Viorela Dan
5 In der Literatur wird die Ähnlichkeit der beiden Ansätze kontrovers diskutiert (vgl. z. B. Weaver 2007).
Wirkungsforschung in der strategischen Organisationskommunikation 361
mediale Darstellung von Themen in den Blick nehmen. Darüber hinaus lassen sich auf
dieser Grundlage auch Rückkopplungseffekte der Medienberichterstattung auf das or-
ganisationale Mitteilungshandeln untersuchen. So diskutiert etwa die Medialisierungs-
forschung die Anpassung von Organisationen an die Medienlogik als Medialisierungs-
effekte (vgl. Donges 2008; Imhof 2006; Marschall 2009).
Der hier gegebene Überblick zeigt die Vielseitigkeit der Wirkungsforschung in der stra-
tegischen Organisationskommunikation. Einerseits kommunizieren Organisationen auf
der Ebene der Massenmedien, andererseits direkt mit ihren Teilöffentlichkeiten. Die
Kommunikationswissenschaft stellt verschiedene sozialwissenschaft liche Methoden
bereit, um die Wirkungen der strategischen Organisationskommunikation in beiderlei
Hinsicht zu untersuchen: Inhaltsanalysen zur Erforschung medienbezogener Wirkun-
gen, Befragungen und Beobachtungen, um Wirkungen auf die organisationalen Teil-
öffentlichkeiten zu ermitteln. In der Grundlagenforschung, aber auch in der angewand-
ten Wirkungsforschung sind Theorieansätze aus der Kommunikationswissenschaft und
der PR-Forschung hilfreich, um zu entscheiden, auf welcher Ebene Aussagen zur Wir-
kung strategischer Organisationskommunikation gemacht werden sollen, und welche
Methoden hierfür angemessen sind.
364 Juliana Raupp & Viorela Dan
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Wirkung von Wirtschaftsberichterstattung –
eine Systematisierung
Katharina Sommer
Abstract Geht es um die Wirkung von Wirtschaftsberichterstattung, so gilt es erstens, zwischen Ge-
genstandsbereichen der Berichterstattung zu unterscheiden, da unterschiedliche thematische Aus-
richtungen auch verschiedene Rezipientengruppen implizieren, auf die der Medieninhalt wirken kann.
Zweitens müssen Ebenen unterschieden werden, auf denen die Wirkung von Wirtschaftsberichterstat-
tung erklärt werden soll. Drittens müssen Wirkungsdimensionen wie Wahrnehmungen, Einstellungen
bzw. Urteile und Verhalten(sintentionen) differenziert werden. Viertens sollten Funktionen, die der Me-
dienberichterstattung in den Studien aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen zugeschrieben
werden, berücksichtigt werden. So können Medien als Informationsverbreiter bzw. als Träger öffentli-
cher Information oder aber als Informationsaufbereiter verstanden werden. Der Beitrag macht einen
Vorschlag zur Systematisierung entlang dieser vier Dimensionen.
1 Einleitung
Die Insolvenz der US-Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 löste eine
unkontrollierbare Kettenreaktion aus: Plötzlich war es nicht mehr nur der US-Immobi-
lien- und Finanzmarkt, der bedrohlich wackelte. Das Finanzbeben breitete sich global
aus, führte zu Staatspleiten und zur Bedrohung des Euros – und wurde so sehr schnell
hochpolitisch. Informationen über immens komplexe, wirtschaftliche Zusammenhänge,
potentielle Bedrohungen und Marktstimmungen erhielten die meisten Menschen aus-
schließlich aus den Medien. Die Frage danach, welche Inhalte in der Berichterstattung
auf welche Weise auf die Rezipienten Einfluss nehmen und so ihre Wahrnehmung, ihre
Urteile und schließlich ihr Handeln prägen, ist darum heute stärker denn je von großer
Relevanz.
Die Bedeutung der Wirtschaftsberichterstattung ist jedoch kein neues Phänomen,
sondern schon seit Mitte der 90er-Jahre stetig gestiegen. Mit einem beständigen Zu-
wachs an Kleinanlegern, also solchen Anlegern, die privat investieren, wurden speziali-
sierte journalistische Angebote deutlich ausgebaut. Insbesondere Online-Informations-
angebote eröffneten den Vorteil, höchst aktuell zu informieren – eine Eigenschaft, die
fortan den Anlegern ermöglichte, die Entwicklung ihrer Aktien rund um die Uhr zu be-
obachten. Websites von Informationsdienstleistern wie Bloomberg oder Thomson Reu-
ters werden heute gleichermaßen von Journalisten, von professionellen Anlegern und
von Privatanlegern genutzt. Nicht zuletzt dieser wachsende Einfluss der Informations-
dienstleister auch auf journalistische Beiträge macht die Frage nach der Wirkung von
Wirtschaftsinformationen noch dringlicher, und insbesondere nach dem Einfluss von
konsonanter Berichterstattung.
Gegenstandsbereich
• Themen auf
a f Makroebene: uu.a.
au a wirtschaft
wirtschaftliche
f liche Gesamtentw
Gesamtentwicklung,
Konjunktur, Arbeitsmarkt, Finanzmarkt
• Themen auf Mesoebene: u. a. Unternehmensentwicklungen, Anlagetipps
• Themen auf Mikroebene: u. a. Portraits einflussreicher Persönlichkeiten
Wirkungsebene
• Erk
Erklärung
r läru
r ng von Wirkungen
Wirku
k ngen au
aauff Makrophänomene
• Erklärung von Wirkungen auf Individuen
Wirkungsdimension
• Kognitiv: Wirkungen
Wirku
k ngen auf
a f Wahrnehmungen
au W hrn
Wa r ehmungen und korrespondierenden
korr
r espond
Einstellungen
• Affektiv: Wirkungen auf Emotionen
• Konativ: Wirkungen auf Verhalten
Für die Frage danach, wie und auf wen Wirtschaftsberichterstattung wirkt, ist in einem
ersten Schritt zu klären, wovon überhaupt die Rede ist, wenn es um Wirtschaftsbericht-
erstattung geht. Bei der Lektüre einer Tageszeitung wird schnell klar, dass sich Wirt-
schaftsberichterstattung nicht auf den Wirtschaftsteil beschränkt. So wird etwa schon
auf der ersten Seite über die Herabstufung der USA durch Standard & Poors berich-
tet, im Politikteil geht es im Zuge der Ausschreitungen in England um die Arbeits-
losenquote und um die Vermögensverteilung, und auch die Berichterstattung zur Opel-
rettung sprengte schnell die Grenzen des Wirtschaftsteils. Wirtschaftsberichterstattung
geht also über eine enge Definition hinaus, die sich daran orientiert, was im Ressort
Wirtschaft thematisiert wird und darum vor allem auf betriebswirtschaftliche Themen
wie die wirtschaftlichen Entwicklungen von einzelnen Unternehmen und Branchen fo-
kussiert. Auch eine Definition von Wirtschaftsberichterstattung, die volkswirtschaft-
lich relevante Entwicklungen wie Konjunkturentwicklungen, Arbeitslosenzahlen und
Veränderungen in Aktienindizes einschließt, ist nicht umfassend. Heinrich und Moss
(2006, S. 10 f.) formulieren die Gegenstandsbereiche der Wirtschaftsberichterstattung
daher folgendermaßen: „Wirtschaftsjournalistik umfasst (…) die aktuelle Berichterstat-
tung über Menschen, Unternehmen, Institutionen und Organisationen der Wirtschaft,
über Märkte und Bereiche der Wirtschaft, über Branchen, Sektoren und Industrien, sie
umfasst die Berichterstattung über Volkswirtschaften und Probleme der Weltwirtschaft
sowie die Berichterstattung über ökonomische Funktionen und Rollen der Menschen
etwa als Arbeiter, Unternehmer, Sparer, Konsument oder Steuerzahler. Gegenstands-
bereiche der Wirtschaftsjournalistik sind damit auch die ökonomischen Wirkungen von
Ereignissen, die nicht primär der Wirtschaft zuzurechnen sind.“
Diese Definition nimmt also explizit auch solche Ereignisse mit auf, die zwar nicht
direkt dem Bereich der Wirtschaft zuzurechnen sind, zu denen jedoch die wirtschaftli-
chen Konsequenzen in der Berichterstattung aufgegriffen werden und die so durch die
Medien ökonomisch kontextualisiert werden. Dieser Definition schließt sich dieser Bei-
trag an.
Die Inhalte der Berichterstattung über Wirtschaftsthemen hängen deshalb maßgeb-
lich von dem Format des Mediums ab. Er richtet sich jeweils nach der „funktionalen
und personalen Zielorientierung der Medien“ (Heinrich 1991, S. 68). Während Fachme-
dien wie Börse im Ersten der ARD oder Börse online, eine Koppelung von Zeitschrift und
Online-Angebot, vor allem auf Informationen für Anleger setzen, ist der Wirtschafts-
teil in Tageszeitungen oder in den Fernsehhauptnachrichten darauf ausgerichtet, Wirt-
schaftsthemen mit breiter Relevanz so aufzubereiten, dass die Komplexität reduziert
wird und so auch für das Laienpublikum nachvollziehbar ist.
Ein übergreifender Trend in der Themensetzung ist allerdings erkennbar: Während
bis in die 1990er-Jahre der Wirtschaftsjournalismus vor allem über wirtschaftspolitische
Themen berichtete, wird mit dem Börsengang der Telekom im Jahr 1996 eine Trend-
372 Katharina Sommer
wende markiert. Kleinanleger wurden mit der Möglichkeit vertraut gemacht, in Ak-
tien zu investieren und ggf. schnell hohe Renditen zu erzielen – und sie machten davon
Gebrauch. Durch diese persönliche Betroffenheit entstand ein verstärktes Interesse an
Wirtschaftsinformationen, das nun in erster Linie nicht mehr gesellschaftspolitischen
Wirtschaftsthemen auf Makroebene galt, sondern sich auf Nachrichten über Unterneh-
men, Kursentwicklungen und Anlageempfehlungen erstreckte. Einen jähen Einbruch
erfuhr der Aktienmarkt im Jahr 2000 mit dem Platzen der „dotcom-Blase“, und genauso
brach auch das Interesse an Aktieninformationen ein (vgl. Mast 2003, S. 72).
Für die vorliegende Systematisierung der Wirkungen von Wirtschaftsberichterstat-
tung muss also zum einen nach dem Gegenstandsbereich unterschieden werden, der
in den Wirkungsstudien betrachtet wird. Der Gegenstandsbereich bestimmt, welche
Rezipientengruppen in den Wirkungsstudien im Zentrum des Interesses stehen. Ana-
lysen von Wirkungen der Wirtschaftsberichterstattung in Tageszeitungen oder in den
Fernsehnachrichten können sich auch mit Effekten auf ein fachfremdes Laienpublikum
beschäftigen und beispielsweise Effekte auf die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Si-
tuation in Augenschein nehmen. Dagegen richtet sich der Gegenstandsbereich der fi-
nanzmarktrelevanten Themen wie z. B. die Berichterstattung von Bloomberg eher an ein
Fachpublikum und Wirkungen dieser Medieninhalte sind nicht mehr bei einem Laien-
publikum, sondern bei Experten zu erwarten. Unterschieden werden können also zum
einen Gegenstandsbereiche, wie die Berichterstattung über Finanzmärkte oder über die
wirtschaftliche Situation im Allgemeinen, aber zum anderen auch die Themenebenen:
Werden gesamtgesellschaftlich relevante, wirtschaftliche Themen in der Berichterstat-
tung aufgegriffen, so findet ein Bezug zur Makroebene statt, während Berichte über ein-
zelne Unternehmen den Fokus auf die Mesoebene legen. Seltener sind Themen in der
Berichterstattung, die inhaltlich auf der Mikroebene zu verorten sind, wie beispielsweise
Medienbeiträge, die einflussreiche Wirtschaftspersönlichkeiten portraitieren.
Insgesamt zeigt die Wirtschaftsberichterstattung einen Trend hin zur Finanzbericht-
erstattung, also zu Beiträgen, die für Anleger relevant sind (Mast 2003). Die Themen
erstrecken sich von der wirtschaftlichen Entwicklung einzelner Unternehmen hin zu
solchen, die auf Makroebene für die Finanzmärkte von Bedeutung sind. Dass Entwick-
lungen des Finanzsystems nicht nur für Anleger, sondern für alle Menschen zentral wer-
den können, zeigte nicht zuletzt die enorme und weitreichende Verunsicherung durch
die Krise an den Finanzmärkten mit Beginn des Jahres 2008. Finanzberichterstattung
wird darum auch zu einem besonders wichtigen Gegenstand der Wirkungsforschung.
Bisher werden vor allem die Wirkung der Berichterstattung über aktienkotierte Unter-
nehmen (z. B. Chan 2003; Fang und Peress 2009; Scheufele und Haas 2008a / b), aber
auch Effekte von Ratgeberangeboten wie beispielsweise von Aktientipps auf das Ver-
halten von Anlegern untersucht (z. B. Desai und Jain 1995; Dewally 2003). Die Studien
dazu kommen bei Weitem nicht nur aus der Disziplin der Kommunikationswissen-
schaft, sondern sind aufgrund des Gegenstandsbereichs vor allem in den Wirtschafts-
wissenschaften entstanden.
Wirkung von Wirtschaftsberichterstattung – eine Systematisierung 373
1 Hagen kontrolliert in seiner Analyse der Effekte von Wirtschaftsberichterstattung auf das Konsumklima
den Einfluss von medienexternen Indikatoren für Konjunktur (vgl. Hagen 2005, S. 344).
Wirkung von Wirtschaftsberichterstattung – eine Systematisierung 375
Die Verbindung der durch die Medien „gesetzten“ Themenschwerpunkte mit einzel-
nen Objekten (beispielsweise mit Parteien) führt wiederum zu Priming-Effekten, weil
Menschen vor dem Hintergrund dieser Berichterstattung beispielsweise Politiker oder
Parteien bewerten. So zeigt Quiring (2004), dass die Wirtschaftsberichterstattung indi-
rekt auch die Wahlpräferenzen beeinflusst, weil Kandidaten und Parteien bezüglich der
Wirtschaftsthemen als kompetent oder inkompetent eingeschätzt werden und diese Be-
urteilung ein wichtiger Prädiktor für Wahlpräferenzen ist.
Insgesamt geht es in den Studien zu Wirkungen auf Wahrnehmungen und Einstel-
lungen vor allem um allgemeine Wirtschaftsphänomene wie Konjunktur, Arbeitslosen-
quoten oder die generelle wirtschaftliche Situation.
Sozialpsychologische Konzepte zur Informationsverarbeitung wie beispielsweise die
Verfügbarkeitsheuristik (u. a. Kahneman und Tversky 1984) werden häufig angeführt um
zu erklären, auf welche Weise die Wirtschaftsberichterstattung Urteile von Rezipien-
ten über wirtschaftliche Phänomene oder damit verbundene Objekte wie Unternehmen,
aber auch Politiker oder Parteien beeinflusst. Auch Studien zum Einfluss von Medien-
berichterstattung auf Wahrnehmung von Unternehmen bzw. Organisationen durch ihre
Stakeholder bezüglich Reputation und Vertrauenswürdigkeit sind hier zu nennen (vgl.
Raupp in diesem Band).
Neben kognitiven Effekten können auch affektive Wirkungen der Wirtschafts-
berichterstattung betrachtet werden, allerdings wird dieser Zusammenhang empirisch
bisher noch nicht berücksichtigt. Sentiment-Analysen aus der Wirtschaftswissenschaft
untersuchen etwa, inwiefern sich emotionale Elemente in der Finanzberichterstattung
auf das Anlegerverhalten auswirken. Emotionen sind hier also nicht zu erklärende, son-
dern erklärende Variablen (z. B. Tetlock 2007). Die Studien können als Mediensenti-
ment-Analysen zusammengefasst werden. In diesen wird zwar nicht explizit zwischen
kognitiven und affektiven Wirkungen dieser medialen Stimmungslage unterschieden,
allerdings ist anzunehmen, dass sie durchaus auch von einer Wirkung auf die Emotio-
nen der Rezipienten ausgehen, die schließlich das Handeln beeinflussen. Da Sentiment-
Analysen auf der Annahme beruhen, dass Verhalten nicht nur durch „harte“ Fakten,
sondern auch durch Stimmungen ausgelöst werden kann, sind die Sentiment-Studien
vor dem Hintergrund der Behavioral Finance zu verstehen: Behavioral Finance-Vertre-
ter fordern die als klassische Effizienzmarkthypothese bekanntgewordene und in den
Wirtschaftswissenschaften paradigmatisch vertretene Annahme heraus, dass Anleger
vollkommen rational und daher strikt nach den vorhandenen, relevanten Informatio-
nen handeln, wodurch es zu einer Selbstregulation der Märkte kommt. Während die Ef-
fizienzmarkthypothese postuliert, dass irrationales Verhalten der Anleger höchstens un-
systematisch auftritt und daher auf Aggregatebene nicht mehr wirksam ist, da sich die
Abweichungen ausgleichen, stellt die Behavioral Finance diese Annahme also in Frage
(z. B. Kahneman und Tversky 1979, Shiller 1981, Shleifer, 2000). Ausgangspunkt für sie
ist die Beobachtung, dass Kurse stärker schwanken und damit volatiler sind, als dies
durch die Veränderung von Fundamentalwerten erklärbar wäre (u. a. Shiller 1981). Fun-
376 Katharina Sommer
Insgesamt zeigt sich hier, dass die Berichterstattung über Unternehmen das Anleger-
verhalten beeinflusst. Investoren reagieren auf die mediale Selektion und Kumulation,
das heißt, dass sie Aktien kaufen, die positive Medienaufmerksamkeit erlangt haben.2
Scheufele und Haas (2008a) beispielsweise untersuchen die Auswirkungen von Medien-
berichterstattung über ausgewählte Unternehmen (Print-, Fernseh-, und Onlineange-
bote) auf den Aktienkurs und auf Handelsvolumina. Sie differenzieren in ihrer Analyse
neben Eigenschaften von Unternehmensaktien wie Streubesitz, Volatilität und Markt-
kapitalisierung auch situative Charakteristika wie etwa die Börsenphase. Die Effekte der
unterschiedlichen Medien werden verglichen, und die Wirkung von Unternehmens-
berichterstattung wird je nach Berichtsaufkommen (kumulative Effekte), dem Grad der
Konsonanz, dem Tenor der Berichterstattung, der Valenz des berichteten Ereignisses
und nach Analystenempfehlungen in der Berichterstattung differenziert. Durch diese
Unterscheidungen berücksichtigen Scheufele und Haas, dass Medienberichterstattung
nicht nur fremde Meinungen und Beurteilungen verbreiten (wie beispielsweise Analys-
tenempfehlungen), sondern die Medien die berichtete Information mit einem eigenen
Tenor ausstatten, der wiederum einen speziellen Einfluss auf das Verhalten der Investo-
ren (und Rezipienten) haben kann. Die zeitreihenanalytische Auswertung ergab aller-
dings keinen systematischen Zusammenhang zwischen den einzelnen Elementen der
Medienberichterstattung und dem Aktienkurs bzw. dem Handelsvolumen.
2 Auch Studien, die sich mit der Wirkung von Aktientipps auf Anlegerverhalten beschäftigen sind im
Zuge dieser Studien zu nennen, da die Medien hier vor allem als Verbreiter von Expertenmeinungen
auftreten und die Wirkung von Aktientipps auf Aktienkurse untersucht wird (z. B. Desai und Jain 1995).
Allerdings zeigen sich, wenn überhaupt, nur sehr kurzfristige Effekte.
378 Katharina Sommer
werte von den Medien veröffentlicht. Die Veröffentlichung dieser Werte beeinflusst An-
legerentscheidungen, weil sie einerseits durch die Medien von den Werten erfahren und
andererseits auch wissen, dass andere Rezipienten diese Informationen auch erhalten
und möglicherweise danach handeln (Third-Person-Effekt). Auch bei der Frage nach
der Wirkung von Weltereignissen, also Ereignissen von globaler Bedeutung und damit
auch mit möglicher Bedeutung für den Aktienmarkt, steht die Verbreitungsfunktion der
Medien im Vordergrund (für eine Übersicht siehe Schuster 2004).
Ein zweites Funktionsverständnis der Medienberichterstattung geht über die reine
Informationsverbreitung hinaus und bezieht die Transformationsleistungen der Medien
von Informationen durch die Berichterstattung mit ein. Der Übergang vom Verständnis
der Medien als Informationsverbreiter hin zu Informationsaufbereitern verläuft dabei
fließend. So fokussieren zum Beispiel Untersuchungen zum Einfluss von Anlagetipps
durch Experten in den Medien darauf, dass diese Tipps verbreitet werden. Allerdings
wird die Auswahl von Expertenstimmen als Leistung der Medien dabei durchaus mitbe-
dacht, wenn auch selten mit untersucht (z. B. Desai und Jain 1995). Auch in weiteren Stu-
dien insbesondere aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Bereich wird in erster Linie
die Vermittlung von Information als Medienleistung thematisiert, allerdings wird auch
dabei die mediale Betonung einzelner Information durch Selektion und Wiederholung
ähnlicher Information anerkannt (z. B. Barber und Odean 2008).
Insbesondere kommunikationswissenschaftliche Studien stellen die Transformations-
leistung der Medien und die damit verbundene Wirkung der Berichterstattung auf Re-
zipienten in den Mittelpunkt. Die Funktion der Medienberichterstattung wird nicht be-
schränkt auf die Verbreitung von Information und ist somit weit mehr als nur Träger
öffentlicher Information. Medien nehmen insbesondere eine Selektionsfunktion wahr,
indem sie auswählen, welche Information aufgegriffen wird und in welcher Konstel-
lation die Informationen angeordnet und in einen Sinnzusammenhang gebracht wer-
den (zu Framingeffekten siehe Schemer in diesem Band). Der Medienberichterstat-
tung werden häufig medienexterne ‚Realitätsindikatoren‘ gegenübergestellt, um die
Transformations(dys)funktion der Medien zu belegen (z. B. Brettschneider 2003). Zum
Einen werden so Verzerrungen herausgestellt und zum anderen untersucht, welche
„Realität“ – die der externen Faktoren oder die in den Medien konstruierte – die Men-
schen stärker beeinflusst. Insgesamt wird in den Studien weitestgehend eine Loslösung
der Medienberichterstattung von wirtschaftlichen Indikatoren festgestellt, wobei, wie
schon oben beschrieben, eine negative Berichterstattung dominiert. Beispielsweise ver-
gleichen Brettschneider (2003) und Quiring (2004) die Wirtschaftsberichterstattung im
Fernsehen zur generellen wirtschaftlichen Lage mit medienexternen Daten wie Zah-
len zu Insolvenzen und Neugründungen von Unternehmen, dem Bruttoinlandsprodukt
vom Statistischen Bundesamt und der Staatsverschuldung der Deutschen Bundesbank.
Sie stellen eine Verzerrung hin zu negativen Informationen fest. Quiring (2004) findet
in den Fernsehnachrichten zu gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen eine verzerrende
Berichterstattung nicht nur durch negative Medienberichte, sondern auch durch die ein-
Wirkung von Wirtschaftsberichterstattung – eine Systematisierung 379
3 Fazit
Studien zur Wirkung von Wirtschaftsberichterstattung können (1) erstens nach dem
Gegenstandsbereich, (2) zweitens nach der Wirkungsebene, (3) drittens nach der Wir-
kungsdimension und (4) viertens nach dem Funktionsverständnis der Medien systema-
tisiert werden. Betrachtet man die Fülle an unterschiedlichen Gegenstandsbereichen,
mit denen sich Wirtschaftsberichterstattung auseinandersetzen kann, so wird deutlich,
dass davon abhängt, welche Gruppen von Rezipienten bezüglich der Wirkungen be-
trachtet werden. So stehen bei der Berichterstattung über Unternehmensaktien vor al-
lem Investoren im Zentrum des Interesses, während bei Themen wie der Entwicklung
von Arbeitslosenquoten die Bevölkerung oder Konsumenten im Allgemeinen angespro-
chen werden. Wirkungen von Wirtschaftsberichterstattung wurden zu diversen wirt-
schaftlichen Gegenstandsbereichen untersucht. Dabei kann man insbesondere zwischen
Themen auf Makro- und auf Mesoebene unterscheiden. Es können Wirkungen der Be-
richterstattung über Themen untersucht werden, die gesamtgesellschaftlich relevant
sind – wie beispielsweise die Entwicklung der Arbeitslosenquote und jüngst die Funk-
tionsfähigkeit des Finanzsystems oder globale Interdependenzen der Märkte. Auch po-
litische Entscheidungen oder Weltereignisse, die Auswirkungen auf die Wirtschaft eines
oder mehrerer Länder haben, sind thematisch der Makroebene zuzurechnen.
Berichterstattung auf Mesoebene über einzelne Organisationen bzw. Unternehmen
oder Branchen kann sich sowohl auf die wirtschaftliche Entwicklung, aber auch auf vor-
nehmlich nicht im Kern wirtschaftliche Belange beziehen, wie beispielsweise moralische
bzw. soziale Verfehlungen einzelner Unternehmen. Auch Aktientipps sind als Empfeh-
lungen von Unternehmenswertpapieren inhaltlich zur Mesoebene zu zählen.
Während es bei dem Gegenstandsbereich unter anderem darum geht, auf welcher
Ebene die Berichterstattung anzusiedeln ist, wird durch die Definition der Wirkungs-
ebene festgelegt, auf welche spezifische Wirkung von Wirtschaftsberichterstattung sich
die Analysen konzentrieren. Medieneffekte können einerseits auf individueller und da-
mit auf Mikroebene untersucht werden, so etwa bei der Frage danach, wie stark sich ein-
zelne Investoren durch Medieninhalte in ihren Investitionsentscheidungen beeinflus-
sen lassen. Andererseits beschäftigt sich ein Großteil der vorliegenden Studien mit der
Frage, wie sich die Wirtschaftsberichterstattung auf Makrophänomene auswirkt, bei-
spielsweise auf Aktienindizes.
Bei den Wirkungsdimensionen können Effekte auf die Wahrnehmung, auf Einstel-
lungen, auf Emotionen und auf Verhalten unterschieden werden. Sie lassen sich mehr
oder weniger unterschiedlichen Gegenstandsbereichen zuordnen: Während es bei der
Berichterstattung über gesamtwirtschaftliche Entwicklungen wie die Arbeitslosenquote
Wirkung von Wirtschaftsberichterstattung – eine Systematisierung 381
vor allem um die Wahrnehmung der Realität durch die Rezipienten geht, werden bei
finanzmarktrelevanten Themen eher Effekte auf Verhalten bzw. Verhaltensintentionen
untersucht. Bei der Differenzierung nach den Wirkungsdimensionen wird deutlich,
dass es insbesondere in der kommunikationswissenschaftlichen Disziplin einige Stu-
dien gibt, die sich mit den Effekten von Wirtschaftsberichterstattung auf die Realitäts-
wahrnehmung von Rezipienten zu wirtschaftlichen Zusammenhängen und mit darauf
basierenden Einstellungen auseinandersetzen. Sie können Wirkungen der Medien auf
die Realitätskonstruktion und auf Urteile nachweisen. Die deutlich größere Anzahl von
Studien zu Einflüssen der Wirtschaftsberichterstattung ist allerdings in den Wirtschafts-
wissenschaften zu finden, die sich vor allem mit der Wirkung auf das Verhalten von un-
terschiedlichen Gruppen wie Investoren oder Konsumenten beschäftigen. Hier werden,
wenn überhaupt, nur kurzfristige Medienwirkungen beobachtet.
Schließlich ist noch nach dem Funktionsverständnis der Berichterstattung zu dif-
ferenzieren und zu klären, ob es sich bei der Wirkung der Medienberichterstattung
um eine „Eigenleistung“ der Medien handelt oder die Medien eher als Indikator da-
für herangezogen werden, welche Informationen öffentlich zugänglich sind. Während
insbesondere in den kommunikationswissenschaftlichen Wirkungsstudien den Me-
dien durchaus zugestanden wird, dass sie Themen setzen, Themenfacetten auswählen
und eine eigene Bewertung in die Berichterstattung einbringen, nehmen in dem Ver-
ständnis von Medien in den Wirtschaftswissenschaften Betonungseffekte in den theo-
retischen Diskussionen einen geringen Stellenwert ein und werden in den empirischen
Umsetzungen nicht mehr berücksichtigt. Wie wenig die theoretische und empirische
Differenzierung zwischen der Funktion der Medien als Verbreiter und als Aufbereiter
in den wirtschaftswissenschaftlichen Studien bisher berücksichtigt wurde, wird an den
Sentimentanalysen deutlich, die weder theoretisch noch empirisch zwischen Valenz der
berichteten Ereignisse und dem Tenor der Berichterstattung trennen. Das Funktions-
verständnis der Medienberichterstattung ist darum in diesen Ansätzen noch als unter-
entwickelt zu bezeichnen.
Aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive wäre es daher wünschenswert,
wenn die oben beschriebenen Studien durch eine differenzierte Betrachtung der mög-
lichen Medienfunktionen und -wirkungen ergänzt würden. Auch wurden die Fragen,
welche affektiven Effekte Wirtschaftsberichterstattung auf die Rezipienten haben kann
und inwiefern indirekte Medieneffekte auftreten, wie die Orientierung der Anleger an
den Medien aus dem Glauben heraus, dass sich andere daran orientieren (Third-Person-
Effekt), bisher noch nicht beantwortet und bedürfen einer näheren theoretischen und
empirischen Betrachtung.
382 Katharina Sommer
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Gesundheitskommunikation:
Medienwirkungen im Gesundheitsbereich
Constanze Rossmann & Lena Ziegler
1 Einführung
2.1 Wirkungsdimensionen
über die Reportage zu dem Entschluss, sich – vielleicht sogar gemeinsam – regelmäßig
sportlich zu betätigen. Der Einfluss medialer Gesundheitskommunikation kann folglich
durch das soziale und situative Umfeld der Mediennutzung sowie die Anschlusskom-
munikation mit Familienmitgliedern, Freunden oder Arbeitskollegen verstärkt oder
vermindert werden.
Medial vermittelte Informationen über Gesundheit erzielen nicht immer die beab-
sichtigte positive Wirkung. Vor diesem Hintergrund lassen sich mögliche Wirkungen
auch hinsichtlich der Wirkungsabsicht unterscheiden: Wie bereits erwähnt, wird hier
zwischen intendierten und nicht-intendierten Effekten differenziert (vgl. Viswanath
2008; Walsh-Childers & Brown 2009; Fromm et al. 2011). Die Dauer der Wirkung kann
sowohl kurzfristig als auch langfristig sein. So können nach der Rezeption von gesund-
heitsbezogenen Informationen kurzfristige Wirkungen in Form eines temporär verän-
derten Gesundheitsverhaltens (z. B. mehr Sport) auftreten, welches aber nach einigen
Tagen oder Wochen wieder endet. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, dass eine solche
Intention zu einem langfristig veränderten Gesundheitsverhalten (z. B. einer dauerhaf-
ten Ernährungsumstellung) führt.
Gesundheitskommunikation kann unterschiedliche Folgen haben. So können medial
verbreitete Gesundheitsinformationen neues Verhalten initiieren, bestehendes Verhal-
ten (oder auch Einstellungen) verändern, stabilisieren oder bestärken und somit Ver-
änderungen verhindern. Denkbar sind hier Kampagnen gegen zu schnelles Fahren auf
der Autobahn, die auf eine Änderung des Fahrverhaltens abzielen, oder aber Anti-Rau-
cher-Kampagnen für Jugendliche, die verhindern wollen, dass Jugendliche anfangen zu
rauchen.
Die klassischen Wirkungsdimensionen – welche auch, aber nicht nur auf die Ge-
sundheitskommunikation zutreffen – umfassen weiterhin den Wirkungszeitpunkt (wäh-
rend oder im Anschluss an die Nutzung), den Wirkungseintritt (nach einem oder wie-
derholten Kontakten), die Wirkungsintensität (schwache vs. starke Wirkung) sowie die
Reichweite der Wirkung (einzelne vs. viele Rezipienten). Nicht zuletzt stellt auch die Art
der Wirkung eine Wirkungsdimension dar. Diese wird im folgenden Abschnitt ausführ-
licher erläutert.
2.2 Wirkungsarten
Informationsverhalten zur Folge haben. Auch physiologische Effekte spielen in der Ge-
sundheitskommunikation eine Rolle (Kreps et al. 1994). Diese betreffen körperliche Fol-
gen wie etwa Gewichtsreduktion oder veränderte Blutwerte, aber auch das allgemeine
Wohlbefinden. Rogers (1994) verweist darauf, dass die Besonderheit der Gesundheits-
kommunikation im Vergleich zu anderen Forschungsbereichen darin besteht, dass die
Wirkung in der Regel positiver Natur ist. Tatsächlich zielen intendierte Effekte auf eine
positive Wirkung ab, sie können zunächst aber auch negative Effekte hervorrufen (wie
z. B. Angst), um anschließend zu einer positiven Reaktion (z. B. Verhaltensänderung) zu
führen. Auch durch nicht-intendierte Effekte kann es zu negativen Wirkungen kommen
(vgl. hierzu Abschnitt 4).
Die Wirkungsperspektive von Gesundheitskommunikation geht allerdings über das
einzelne Individuum hinaus. Auf der Mesoebene sind etwa Fragen der interpersonalen
Kommunikation von Relevanz. Dies betrifft sowohl die Anschlusskommunikation mit
Familienmitgliedern und Freunden, aber auch die Arzt-Patient-Interaktion. So kann die
Rezeption von Krankenhausserien das Arztbild der Patienten beeinflussen und dieses
kann im nächsten Schritt die Kommunikation zwischen Arzt und Patient determinieren
(vgl. Fromm et al. 2011). Eine andere Wirkungsart auf der Mesoebene betrifft den mögli-
chen Diskurs innerhalb relevanter Institutionen, der durch Gesundheitskommunikation
angeregt wird (z. B. Politiker, Schulen, Gesundheitsämter).
Auch auf der Makroebene rufen mediale Gesundheitsinformationen Effekte hervor
(vgl. u. a. Walsh-Childers & Brown 2009; Fromm et al. 2011). Diese umfassen gesell-
schaftliche Wirkungen in Form von Homogenisierungs- bzw. Differenzierungsprozes-
sen. Dabei ist auch ein Transfer klassischer Medienwirkungsansätze auf die Gesund-
heitskommunikation möglich, z. B. Kultivierungseffekte (vgl. den Beitrag von Rossmann
in diesem Band, siehe auch Abschnitt 4), eine wachsende Kluft in Bezug auf gesund-
heitsrelevantes Wissen (vgl. den Beitrag von Zillien in diesem Band) sowie Agenda Set-
ting-Effekte (vgl. den Beitrag von Bulkow & Schweiger in diesem Band) von Gesund-
heitsthemen durch Massenmedien.
2.3 Einflussfaktoren
einzelner Medien für die Vermittlung von Gesundheitsinformationen finden sich bei
Fromm et al. (2011) und Silk et al. (2011).
Innerhalb dieser Mediengattungen sind einzelne Genres zu unterscheiden. So las-
sen Informations- oder Unterhaltungsformate (bspw. Ratgebersendungen oder Fernseh-
serien), Frauenzeitschriften oder spezielle Gesundheitsmagazine ebenso wie Gesund-
heitsportale oder soziale Netzwerkseiten jeweils unterschiedliche Effekte erwarten (vgl.
u. a. Jandura & Rossmann 2009; Brosius & Rossmann 2009). Der Entertainment-Edu-
cation-Ansatz etwa baut explizit auf Unterhaltungsangebote als Strategie der Gesund-
heitsförderung. Diese erreichen nicht nur Zielgruppen, die mit klassischen Informa-
tionsangeboten schwer erreichbar sind (z. B. Jugendliche). Ihnen wird durch den Einsatz
narrativer Inhalte, das Lernen am Modell sowie die unterschwellige Vermittlung von
Gesundheitsinformationen, die gleichsam nebenbei und unbemerkt stattfindet, auch ein
erhöhtes Wirkpotenzial zugeschrieben (Singhal et al. 2004; Lampert 2007).
Die Bandbreite an gesundheitsbezogenen Themen ist umfangreich und reicht von
Sport, Wellness und Ernährung über die Thematisierung verschiedener Medikamente
und Therapiemöglichkeiten bis hin zur Darstellung einzelner Erkrankungen. Diese In-
formationen können sowohl einen expliziten (z. B. Bericht über Hautkrebs oder neue
Therapiemöglichkeiten) als auch einen impliziten Gesundheitsbezug (z. B. wenn der
Darsteller einer Serie Drogen konsumiert, ohne darauf näher einzugehen) aufweisen.
Weiterhin kann man zwischen Themen mit einem Schwerpunkt auf Individual- (z. B.
Schicksale einzelner Betroffener) oder Gesellschaftsebene (z. B. Thematisierung zuneh-
mender Fettleibigkeit von Kindern) unterscheiden. (vgl. Fromm et al. 2011)
Innerhalb dieser Medien, Genres und Themen stellen stilistische Aufbereitungs-
möglichkeiten einen wesentlichen Einflussfaktor dar (vgl. u. a. Hastall 2011). Neben der
sprachlichen und visuellen Gestaltung werden verschiedene Stilmittel wie Fallbeispiele
und Testimonials, aber auch Furchtappelle oder humorvolle Elemente untersucht. Die
Befunde zeigen, dass sowohl die stilistische Aufbereitung von Gesundheitsinformatio-
nen als auch das richtige Maß an Appellen für Verhaltensänderungen entscheidend sind
(vgl. Perloff 2003).
Neben den genannten Botschaftsmerkmalen spielen auch Rezipienten- und Situa-
tionsmerkmale im Wirkungsprozess eine Rolle. Das Spektrum möglicher intervenieren-
der Variablen ist umfangreich, weshalb hier lediglich die wichtigsten stichpunktartig
aufgeführt werden. Hier tauchen manche Variablen wieder auf, die bereits im Zusam-
menhang mit den Wirkungsarten genannt wurden. Eine veränderte Risikowahrneh-
mung kann etwa aus der Rezeption von Gesundheitsinformationen resultieren und
somit abhängige Variable sein. Die Risikowahrnehmung ist aber häufig auch eine inter-
venierende Variable, die den Einfluss von Gesundheitsinformationen auf Einstellungen
oder Verhalten moderiert.
3 Kommunikationskampagnen im Gesundheitsbereich
Ähnlich wie für den Begriff der Gesundheitskommunikation finden sich auch für den
Kampagnenbegriff zahlreiche Definitionen. Die wohl meistzitierte stammt von Rogers
und Storey (1987) und ist vergleichsweise weit gefasst. Vier Elemente sind demnach kon-
stituierend für Kampagnen: Sie verfolgen ein bestimmtes Ziel und wollen durch den stra-
tegischen Einsatz verschiedener kommunikativer Aktivitäten bei einer relativ großen Zahl
an Individuen üblicherweise innerhalb einer bestimmten Zeit eine bestimmte Wirkung
erzielen. Bonfadelli und Friemel (2010, S. 16) definieren Kommunikationskampagnen
etwas näher als „1) die Konzeption, Durchführung und Evaluation von 2) systemati-
schen und zielgerichteten 3) Kommunikationsaktivitäten zur 4) Förderung von Wissen,
Einstellungen und Verhaltensweisen 5) gewisser Zielgruppen 6) im positiven, d. h. ge-
sellschaftlich erwünschten Sinn.“ Anders als die ältere Definition spezifiziert diese vor
allem das Wirkungsziel und die konkreten Umsetzungsschritte von Kommunikations-
kampagnen näher (siehe hierzu auch Abschnitt 3.4).
Auch wenn im allgemeinen Sprachgebrauch durchaus häufig von „Gesundheits-
kampagnen“ die Rede ist, sprechen zentrale Publikationen zum Thema (wie die oben
zitierten) oft vom allgemeineren Begriff der Kommunikationskampagne, der für Ge-
sundheitsthemen genauso gilt wie für andere soziale Themen. Dabei stellen Kommu-
nikationskampagnen eine von mehreren Strategien zur Lösung gesellschaftlicher (z. B.
gesundheitsspezifischer) Probleme dar, die jeweils für sich genommen nur Teil einer
Gesamtstrategie sind. Erst durch das Zusammenspiel von technischen Entwicklungen
(z. B. Entwicklung von Medikamenten), Gesetzesvorschriften (z. B. Nichtraucherschutz),
monetären Steuerungsmechanismen (z. B. Tabaksteuer) und Kommunikationskampag-
nen können soziale Probleme nachhaltig gelöst werden. Kommunikationskampagnen
sind dabei nicht gleichzusetzen mit Werbung und Marketing, Public Relations, mas-
392 Constanze Rossmann & Lena Ziegler
senmedialer oder interpersonaler Kommunikation, sie bedienen sich jedoch dieser Ele-
mente (Bonfadelli & Friemel 2010).
So vielfältig wie die Definitionen von Kommunikationskampagnen sind auch die Kam-
pagnen selbst. Sie unterscheiden sich im Hinblick auf den thematisierten Gesundheitsbe-
reich – häufige Themen sind etwa Tabakkonsum, Herzerkrankungen, Alkohol- und Dro-
genmissbrauch oder Krebsvorsorge (vgl. Wakefield et al. 2010). Sie variieren im Hinblick
auf die Urheber (auch Stakeholder), die typischerweise entweder staatliche Organisatio-
nen (z. B. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung oder Robert-Koch-Institut),
nicht-staatliche Nonprofit-Einrichtungen (z. B. Stiftungen, Verbände), Krankenkassen
oder Pharmakonzerne sind. Auch die Adressaten von Kampagnen sind verschieden. So
richten sich Kampagnen entweder direkt an die Zielgruppen, die ihr Gesundheitsver-
halten ändern sollen (s. u.), oder zunächst an Dritte, die die Individuen der fokussierten
Zielgruppe durch interpersonale Kommunikation beeinflussen sollen (Meinungsführer,
Peergroup, Rollenmodelle). Oder aber sie verfolgen eine Policy-Strategie, die zunächst
Politiker erreichen soll, die dann für das Gesundheitsverhalten relevante soziale und
rechtliche Rahmenbedingungen ändern sollen (Rice & Atkin 2009, S. 440).
Eine weitere fundamentale Unterscheidung betrifft die Frage, ob es sich um eine
Kampagne zur Gesundheitsförderung (bspw. soll gesundheitsförderliches Verhalten wie
Sport initiiert oder stabilisiert werden) oder zur Prävention (gesundheitsschädliche Ver-
haltensweisen, z. B. Drogenkonsum, sollen verhindert werden) handelt (z. B. Silk et al.
2011). Desweiteren lassen sich Kampagnen – ebenso wie die Gesundheitskommunika-
tion allgemein – im Hinblick auf die zu beeinflussende abhängige Variable differenzieren
(siehe Abschnitt 2.2). Bonfadelli und Friemel (2010) sprechen in diesem Kontext von un-
terschiedlichen Kommunikationszielen und unterscheiden Wissens-, Einstellungs- und
Verhaltensziele. Diese lassen sich mittels unterschiedlicher Botschaftstypen erreichen
(informierend, erklärend, persuasiv), die über unterschiedliche Kanäle oder Kombina-
tionen von Kanälen (hierzu vgl. z. B. Wakefield et al. 2010) verbreitet werden (weitere
Unterscheidungsmerkmale vgl. Rice und Atkin 2009, S. 436).
Nach Rogers und Storey (1987) lässt sich die Wirkungsgeschichte medialer Kommuni-
kationskampagnen in den USA in vier Phasen einteilen: Die 1940er und 1950er Jahre
beschreiben eine Ära minimaler Effekte, in der viele Kampagnen scheiterten. Die 1960er
und 1970er fallen in die Ära möglicher Kampagneneffekte, in der erfolgreiche Kampag-
nen, darunter das als Meilenstein gewürdigte „Stanford Heart Disease Prevention Three
Gesundheitskommunikation: Medienwirkungen im Gesundheitsbereich 393
anvisierten Zielgruppe am stärksten beeinflusst. Soll bspw. eine Kampagne zur Förde-
rung körperlicher Aktivität entwickelt werden, sollte in einer Vorstudie zunächst eru-
iert werden, welche Verhaltensdeterminante körperliche Aktivität in der anvisierten
Zielgruppe am stärksten beeinflusst. Stellt man etwa fest, dass die Bereitschaft, Sport
zu treiben, nicht mit Einstellungen zu Sport korreliert, aber stark mit der Selbstwirk-
samkeit (also dem Gefühl, in der Lage zu sein, sich körperlich zu betätigen), so sollte
die Kampagne auf Letztere abzielen. Auf der Basis gesundheitspsychologischer Modelle
lässt sich also herauszufinden, welche Botschaft konkret geeignet ist, um Verhalten zu
ändern (vgl. zu diesem Vorgehen z. B. Rossmann & Brosius 2010).
Wenn es nun um die Frage geht, wie eine solche Botschaft formuliert und aufberei-
tet sein muss, ist es sinnvoll, Erkenntnisse der Kognitionspsychologie und Kommuni-
kationswissenschaft heranzuziehen. Aus den Befunden zur Informationsverarbeitung
wissen wir etwa, dass für Adressaten unterschiedliche Aspekte einer Botschaft relevant
sind – je nachdem ob sie motiviert sind, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen,
oder nicht (vgl. z. B. das Elaboration-Likelihood-Model von Petty & Cacioppo 1986).
Aus Theorien und Erkenntnissen zur Selektion und Nutzung von Medien und Medien-
inhalten sowie zum Einfluss bestimmter Medien, Medienkanäle oder Medieninhalte
lässt sich außerdem ableiten, über welche Kanäle (z. B. Printmedien, Fernsehen, Online)
und in welchen Genres (z. B. Informations- oder Unterhaltungsangebote) eine Kam-
pagnenbotschaft verbreitet werden muss, um bei der Zielgruppe anzukommen (vgl. im
Überblick Rossmann 2010c; Finnegan & Viswanath 2008).
kann dies negative Auswirkungen auf ihre Gesundheit haben (vgl. hierzu im Überblick
Rossmann 2010a).
5 Ausblick
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400 Constanze Rossmann & Lena Ziegler
Abstract Die Mediengewaltforschung kann inzwischen ein beachtliches Korpus empirischer Be-
funde vorweisen, so dass sich nicht mehr die Frage stellt, ob Mediengewaltdarstellungen wirken, son-
dern wie sie ihre Wirkung entfalten und welche relative Bedeutung ihnen im Verhältnis zu anderen
Einflussfaktoren zukommt. Die Forschung ist auf negative Medieneffekte ausgerichtet – hauptsächlich
Aggressionen – und nimmt vor allem Kinder und Jugendliche in den Blick. Im Forschungsfeld ist eine
fortschreitende Psychologisierung zu beobachten, die sich sowohl in der Theoriebildung als auch in der
methodischen Umsetzung manifestiert. In jüngerer Zeit zeichnen sich Bemühungen ab, die vielfältigen
Einzelbefunde in umfassendere Erklärungsansätze zu integrieren, um das relative Gewicht von Medien-
gewalt für Aggressionen im Verhältnis zu anderen Einflussfaktoren des personalen und sozialen Kon-
texts besser zu verstehen und die individuell unterschiedliche Gefährdung für Mediengewaltwirkungen
präziser einschätzen zu können.
Schlagwörter Mediengewalt, kurz- und langfristige Medienwirkungen, Aggression, Angst, Sucht, pro-
soziales Verhalten
1 Einführung
Die akademische Forschung zu Mediengewalt kann heute auf einen großen Bestand
empirisch untermauerten Wissens aus jahrzehntelanger Forschung zurückgreifen. Den-
noch schätzen Öffentlichkeit und Wissenschaft das Gefährdungspotenzial von Medien-
gewalt sehr unterschiedlich ein (Brosius & Schwer 2008). Die Öffentlichkeit diskutiert
vor allem dann über schädliche Wirkungen gewalthaltiger Medienangebote, wenn tech-
nologische Entwicklungen neue Mediengattungen hervorbringen und damit neue For-
men von Mediengewalt ermöglichen (z. B. Internet, multimediafähige Mobiltelefone),
wenn besonders gewalthaltige Filme und Computerspiele auf den Markt kommen oder
wenn Jugendliche extreme Gewaltverbrechen wie Amokläufe verüben. Gerade nach sol-
chen Gewalttaten wie in Winnenden, Erfurt oder Littleton sucht die Öffentlichkeit nach
Erklärungen; als Ursachen solchen Verhaltens geraten schnell gewalthaltige Medienan-
gebote in den Blick. Dann wenden sich Journalisten und Politiker an die Wissenschaft,
in der Hoffnung, klare Antworten und Empfehlungen für geeignete Interventionsmaß-
nahmen zu erhalten. Trotz jahrzehntelanger Forschung sind die Antworten der Wis-
senschaft jedoch selten eindeutig (ebd.). Zwar stimmen Forschende insgesamt überein,
viel Aufmerksamkeit (z. B. te Wildt et al. 2010; Grüsser et al. 2005). Allerdings bedarf
es noch weiterer Grundlagenforschung, um zu klären, ob bei exzessivem Internet- und
Computerspielekonsum ein eigenständiges, klinisch anerkanntes Störungsbild vorliegt.
2 Theoretische Ansätze
Der ausgeprägte Fokus auf aggressionsfördernde Wirkungen schlägt sich auch im Theo-
riearsenal nieder. Das Forschungsfeld arbeitet primär mit Erklärungsansätzen, wel-
che auf die Entstehung und Verstärkung von Aggressionen ausgerichtet sind. Im aus-
geprägten Interesse an negativen Effekten sieht Gunter (2008) eine Erklärung dafür,
warum die Wirkungs- und Nutzungsperspektive in der Mediengewaltforschung weit-
gehend unverbunden nebeneinander stehen und warum Forschende bislang nur unprä-
zise Aussagen zur Rolle persönlicher Bedürfnisse und Nutzungspräferenzen für indi-
viduell unterschiedliche Mediengewaltwirkungen machen können. Während Vertreter
der Wirkungsperspektive individuelle Motive der Zuwendung zu Mediengewalt bislang
weitgehend vernachlässigen, bietet die Mediennutzungsforschung etliche Befragungs-
studien mit Kindern und Jugendlichen, die positive Effekte wie Genuss, Entspannung,
Kompetenzerleben oder soziale Integration als erhaltene Gratifikationen der Medien-
gewaltnutzung – vor allem des Computerspielekonsums – identifizieren (für einen
Überblick vgl. Weaver 2011). Bislang nehmen sich Vertreter beider Perspektiven jedoch
nicht ausreichend wahr. Immerhin zeichnet sich jüngst Bewegung ab: Forschende der
Wirkungsperspektive identifizieren Nutzungsmotive als wichtigen zukünftigen Untersu-
chungsgegenstand, um individuelle Mediengewaltwirkungen besser erklären zu können
(Sparks et al. 2009, S. 208).
Die Wirkungsperspektive der Mediengewaltforschung verfügt über vielfältige Theo-
rien und Modelle, welche dezidiert für diesen Untersuchungsgegenstand entwickelt
(z. B. Kultivierung, General Aggression Model) oder an diesen angepasst wurden (etwa
Priming, Arousal-Ansätze). Tabelle 1 umfasst die wichtigsten Theorien des Felds und
führt deren Kernaussagen sowie die hauptsächlich erforschten Effektarten auf.
Auch wenn der Überblick nicht sämtliche Weiterentwicklungen und empirische
Überprüfungen berücksichtigt, wird dennoch ein zentraler Trend der Theoriebildung
deutlich, welcher mit den Schlagwörtern Spezialisierung und Psychologisierung zu be-
schreiben ist. Während theoretische Ansätze wie die Suggestionsthese oder die – inzwi-
schen mehrfach wiederlegte – Katharsisthese (z. B. Uhrig & Kepplinger 2010) ungenaue
Angaben zu den Wirkmechanismen machen, basieren neuere Modelle wie das General
Aggression Model (GAM) und Weiterentwicklungen bestehender Theorien (z. B. Kul-
tivierung, sozial-kognitive Theorie) auf elaborierten Annahmen zu kognitiven, affek-
tiven und physiologischen Verarbeitungsprozessen. Zieht man die Veröffentlichungen
in internationalen Fachzeitschriften als Indikator für den aktuellen Stand der Medien-
gewaltforschung heran, so schenken Forschende in jüngerer Zeit vor allem den in der
Tabelle 1 Zentrale Theorien zur Erklärung von Mediengewaltwirkungen 404
Katharsisthese Kurzfristige Katharsisthese: Mediengewalt- Katharsisthese: Gedankliches Inhibitionsthese: Rezeption Katharsisthese: Gedankliches
Inhibitionsthese Effekte konsum als Möglichkeit, den Ausleben des Aggressions- von Mediengewalt löst sofor- Miterleben von Gewalt vermin-
Uhrig & Kepplin- menschlichen Aggressions- triebs tige negative emotionalen Re- dert die Bereitschaft aggressi-
ger (2010), Can- trieb in der Phantasie auszu- aktionen aus ven Verhaltens
tor & Nathanson leben Inhibitionsthese: Angst hemmt
(1996) Inhibitionsthese: Nutzung von Aggressionsbereitschaft
Mediengewalt löst Angst aus
Desensibilisie- Langfristige Regelmäßiger Konsum von Kognitive Desensibilisierung: Emotionale Abstumpfung: Re- Desensibilisierung senkt die
rungsthese / Effekte Mediengewalt reduziert ko- Akzeptanz von Gewalt als an- duktion emotionaler und phy- Bereitschaft zu prosozialem
Habitualisie- gnitive und emotionale Re- gemessene Handlungsoption siologischer Reaktionen auf Verhalten;
rungsthese aktionen auf reale Gewalt in Konfliktsituationen mediale Gewaltdarstellungen, Zusammenhang zwischen
Rule & Ferguson die normalerweise starke Re- Desensibilisierung und erhöh-
(1986) aktionen auslösen ter Aggressivität ist noch un-
geklärt
Arousal: Excita- Kurzfristige Mediengewalt löst – neben – Stimulation unspezifischer (Aus emotionaler Erregung
tion-Transfer- Effekte anderen Medieninhalten – emotionaler Erregungs- resultierende Handlungen
Ansatz unspezifische emotionale Er- zustände (Arousal) werden nicht von konkreten
Zillmann (1991) regungszustände aus, die Medieninhalten bestimmt,
nachfolgendes Verhalten sondern sind von der Situation
beeinflussen können abhängig)
Kultivierung Langfristige Wiederholter Konsum führt Verzerrte Realitätsvorstellun- Mean World Syndrome: Me- Durch Mediengewalt kulti-
Gerbner & Gross Effekte zu verzerrten Realitätsvorstel- gen von Vielsehern speisen diengewaltkonsum ruft Angst vierte Ängstlichkeit kann
(1976), Shrum lungen (Kultivierung erster sich aus fiktionalen Fernseh- hervor, Opfer eines Verbre- in einem zweiten Schritt zu
(1996) Ordnung) und daraus resul- darstellungen (z. B. Überschät- chens zu werden und kulti- Handlungen wie Sicherheits-
tierenden Einstellungen zu zung der Viktimisierungsrate). viert Misstrauen gegenüber vorkehrungen gegen Verbre-
sozialen Problemen (Kultivie- Wirkmechanismus: chroni- der Umwelt chen führen
rung zweiter Ordnung) sche Verfügbarkeit violenter
Konstrukte im Gedächtnis
Katja Friedrich
Theorien & Dauer Wirkmechanismus Kognitive Ebene Emotionale, physiologische Verhaltensebene
Autoren Ebene
Copycat-/ Kurzfristige Nachahmung medial verbrei- Lerntheoretische Erklärung: – Imitation: Berichte und Filme
Werther-Effekt Effekte teter (realer wie fiktiver) Ge- Psychisch vorbelastete Perso- über Gewalttaten und Suizide
Phillips (1979) walttaten und Suizide nen lernen aus Medieninhal- lösen Nachahmungstaten aus
ten, dass Gewalttaten / Suizide
Lösungsstrategien für Proble-
me sind
Priming Kurzfristige Netzwerk-Modellvorstellung: Medienkonsum erhöht tempo- Kurzfristige Aktivierung von Kurzzeitige Aktivierung feind-
Berkowitz (1984) Effekte (lang- Priming als kurzzeitige Aktivie- rär die Verfügbarkeit aggres- Gefühlen, die mit dem Netz- seliger und aggressiver
fristige Effekte rung feindseliger und aggres- siver Schemata. Dadurch wird werk aggressiver Kognitionen Schemata erhöht die Wahr-
bei chronischer siver Schemata aufgrund von das Verhalten anderer eher als verknüpft sind scheinlichkeit aggressiven
Verfügbarkeit Mediengewaltkonsum aggressiv und feindselig inter- Verhaltens
aggressiver pretiert (langfristige Effekte bei
Schemata) häufiger, intensiver Nutzung:
chronische Verfügbarkeit)
Wirkungen gewalthaltiger Medienangebote
Soziale Lerntheorie, Kurz- und lang- Zweistufige Wirkungskette: Erste Wirkungsstufe: Erlernen – Zweite Wirkungsstufe: Umset-
sozial-kognitive fristige Effekte 1. Stufe: Kinder erlernen über aggressiver Verhaltensmuster zung aggressiver Wissensstruk-
Theorie mediale Modelle Verhaltens- 1. Kurzfristige Effekte: Beob- turen in Handlungen hängt
Bandura (2001) muster für soziale (Konflikt-) achtungslernen von regulativen Faktoren ab
Situationen und übernehmen 2. Langfristige Lerneffekte: In- 1. Kurzfristige Effekte: Imita-
Realitätsvorstellungen ternalisierung aggressiver Wis- tion aggressiven Verhaltens
2. Stufe: Umsetzung aggressi- sensstrukturen, Einstellungen 2. Langfristige Effekte: Fes-
ver Verhaltensdispositionen in und Verhaltensskripte tigung aggressiver Verhal-
reale Handlungen hängt von tensmuster, generalisierte
regulativen Faktoren ab (z. B. Nachahmung
Belohnung, Sanktionen, Nor-
men, Erwartungen)
General Aggres- Kurz- und Rezeption von Mediengewalt 1. Kurzfristige Effekte: Akti- Kurzfristige Effekte: Erregung Aggressive Wissensstrukturen er-
sion Model (GAM) langfristige prägt kurz- und langfristig vierung aggressiver Wissens- und Aktivierung von mit ag- höhen kurz- und langfristig die
Anderson & Bush- Effekte aggressive Kognitionen und strukturen gressiven Wissensstrukturen Wahrscheinlichkeit aggressiven
man (2002a) führt kurzfristig zu höherer 2. Langfristige Effekte: chroni- verknüpften Emotionen Verhaltens
Erregung und aggressiven sche Zugänglichkeit aggres-
Gefühlszuständen siver Wissensstrukturen er-
möglicht automatisierten
Abruf
405
406 Katja Friedrich
3 Methodische Diskussion
von 20 bis 40 Jahren (etwa Huesmann et al. 2003, Johnson et al. 2002). Die Stärke von
Langzeitstudien liegt darin, regelmäßige Mediengewaltnutzung im Kontext von perso-
nalen und sozialen Faktoren zu untersuchen und damit die relative Bedeutung von Me-
diengewalt im Zusammenspiel mit anderen Einflussgrößen besser einschätzen zu kön-
nen. Dafür bedarf es aber gerade im deutschsprachigen Forschungsraum, für den nur
wenige Panelstudien mit mittelfristigen Zeithorizonten vorliegen, weiterer Langzeitstu-
dien mit regelmäßigen Messzeitpunkten und Projektlaufzeiten, die möglichst den ge-
samten Sozialisationsverlauf bis ins Erwachsenenalter umfassen. Allerdings ist die hohe
externe Validität nicht-experimenteller Untersuchungsanlagen auch mit Nachteilen ver-
bunden. Dazu zählen die Verlässlichkeit von Selbstauskünften in Befragungen und die
forschungslogischen Begrenzungen von Feldstudien, welche Kausalität allenfalls plau-
sibel begründen, nicht aber im streng-logischen Sinne nachweisen können, selbst wenn
heute fortschrittliche Verfahren wie Zeitreihen- und Pfadanalysen zum Einsatz kom-
men. Diese Verfahren benötigen eine ausreichende Anzahl von Messzeitpunkten und
regelmäßige Zeitabstände zwischen den Erhebungswellen, solche Studien sind aber kos-
tenintensiv und daher spärlich gesät. In vielen Fällen stehen dazu nur Aggregatdaten aus
offiziellen Statistiken zur Verfügung, die keine Nachweise von Kausalzusammenhängen
auf Individualebene erlauben (vgl. dazu ausführlich Scheufele 2006).
Als weiterer Studientypus sind Meta-Analysen zu nennen (z. B. Weaver 2011; Ander-
son et al. 2010, 2003). Ihr Ziel ist es, Befunde zu einzelnen Hypothesen, Methoden, Ef-
fektarten und Mediengattungen zusammenzuführen sowie zu prüfen, wie robust die
Ergebnisse sind und welche durchschnittliche Effektstärke Mediengewaltdarstellungen
zuzusprechen ist. Etliche Meta-Analysen bestätigen schwache bis moderate Zusam-
menhänge zwischen Mediengewaltkonsum und Aggressionen. Anderson und Kolle-
gen (2003, S. 104) ermitteln für verschiedene Aggressionsdimensionen durchschnitt-
liche Effektgrößen von r = 0,13 bis r = 0,38.1 Die Effektstärken variieren je nachdem,
welche abhängigen Variablen gemessen werden; tendenziell fallen Mediengewalteffekte
für harmlose Aggressionsformen stärker aus als bei schwerwiegender Gewalt. Auch die
methodische Qualität der Studien beeinflusst die Effektgrößen (Anderson et al. 2010,
S. 167): Arbeiten mit methodischen Mängeln ergeben beispielsweise kleinere Effektstär-
ken für den Zusammenhang von Mediengewalt und aggressivem Verhalten (r = 0,16) als
methodisch sauber durchgeführte Mediengewaltstudien (r = 0,24). Darüber hinaus zei-
gen die Meta-Analysen, dass Experimentaldesigns im Durchschnitt größere Effekte pro-
duzieren als nicht-experimentelle Wirkungsstudien (vgl. Tabelle 2). Allerdings hinter-
fragen Forschende immer wieder die methodische Qualität der Meta-Analysen. Es sind
vor allem drei Aspekte, die kritisch beleuchtet werden: die statistischen Verfahrenswei-
sen zur Berechnung studienübergreifender Effektstärken, die Abhängigkeit meta-analy-
tischer Befunde von der Auswahl und Qualität der berücksichtigten Einzelstudien so-
1 Bei den angegebenen Effektstärken handelt es sich um nach Stichprobengröße gewichtete, durch-
schnittliche Korrelationen.
Wirkungen gewalthaltiger Medienangebote 411
4 Einflussfaktoren
Vor dem Hintergrund der empirischen Befundlage stellt sich heute nicht mehr die Frage,
ob Mediengewalt negative Auswirkungen hat, sondern wie Mediengewaltreaktionen zu-
stande kommen, wie stark solche Effekte in Kombination mit anderen Einflussfakto-
ren ausfallen und wie groß der Anteil der Kinder und Jugendlichen ist, der besonders
gefährdet ist. Die Forschung unterscheidet vier Faktorenbündel, welche die Stärke und
Reichweite von Medieneffekten bedingen: Charakteristika der Medieninhalte, situative
412 Katja Friedrich
Öffentlichkeit und Politik, weil sich aus den zwei Interpretationsansätzen divergente
Konsequenzen ableiten, welches Gefährdungspotenzial gewalthaltige Medienangebote
für Heranwachsende und die Gesellschaft besitzen und welche Regulierungsmaßnah-
men angeraten wären.
5 Ausblick
lichkeit häufig geäußerte Kritik, die Wissenschaft könne nach jahrzehntelanger For-
schung noch immer keine eindeutigen Antworten auf die Frage nach der Gefährlichkeit
gewalthaltiger Medienangebote geben, heute nicht mehr zu. Forschende können eine
ganze Reihe von Risikofaktoren benennen, welche zusammen mit regelmäßigem und
exzessivem Mediengewaltkonsum die Wahrscheinlichkeit aggressiven Verhaltens erhö-
hen. Allerdings ist es derzeit noch schwierig, die Befunde zu einem kohärenten Bild zu-
sammenzuführen, weil das Zusammenspiel der Faktoren nicht ausreichend in den Blick
genommen wird und zwei generelle Interpretationsansätze der Gesamtbefundlage um
die Deutungshoheit konkurrieren. Obwohl es in jüngerer Zeit Bemühungen gibt, inte-
grative Modelle zu entwickeln, zeichnet sich die empirische Forschungspraxis insgesamt
doch stärker durch Spezialisierungstendenzen aus, als durch Versuche, das fragmen-
tierte Wissen in größere Erklärungsansätze zu integrieren. Hier liegt in den nächsten
Jahren eine wichtige Aufgabe der Mediengewaltforschung: Es gilt, das vielfältige Wissen
zu Einflussfaktoren und Wirkprozessen in umfassendere, theoretisch fundierte Erklä-
rungsansätze zu integrieren und so ein klares Bild des relativen Gewichts von Medien-
gewalt im Verhältnis zu anderen Risiko- und Schutzfaktoren zeichnen zu können.
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418 Katja Friedrich
Abstract Sexualität gilt – neben Gewalt – als problematischer Medienhalt. Zahlreiche negative Wir-
kungen sexuell expliziter Mediendarstellungen auf Kinder und Jugendliche, aber auch auf erwachsene
Frauen und Männer werden befürchtet. Die Sorge um eine zunehmende Sexualisierung der Gesell-
schaft durch freizügige Medienangebote hat sich mit der Verbreitung von Internet-Pornografie ver-
schärft. Inzwischen wird über eine Pornografisierung von Medien und Gesellschaft diskutiert. Sowohl
in der Öffentlichkeit als auch in der Fachliteratur verlaufen diese Debatten sehr kontrovers. Denn in der
Auseinandersetzung mit expliziten Medienangeboten geht es immer auch um moralische Wertungen
darüber, welche sexuellen Repräsentationen und Handlungsweisen als ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ einzuordnen
sind. Der vorliegende Beitrag widmet sich zunächst sexuellen Inhalten in den Massenmedien und ihrer
Wirkung auf Jugendliche. Anschließend wird Internet-Pornografie als historisch neues Phänomen in den
Blick genommen und dabei der gesamte Kommunikationsprozess beginnend mit der Produktion über
Inhalte und Nutzung bis zu den Wirkungen abgehandelt. Der Beitrag differenziert dabei zwischen ver-
schiedenen Arten von Pornografie (Mainstream-, Non-Mainstream-, Amateur- und illegale Pornografie).
Es wird verdeutlicht, warum negative Wirkungsannahmen oft zu relativieren und positive Effekte einzu-
beziehen sind.
1 Einführung
In den letzten Jahren wird in der Fachliteratur sowie in der breiten Öffentlichkeit ver-
stärkt über eine zunehmende Sexualisierung und Pornografisierung der westlichen Welt
und die daraus resultierenden Konsequenzen diskutiert. ‚Pornografisierung‘ meint da-
bei zwei unterschiedliche, jedoch miteinander verknüpfte Entwicklungen (vgl. Paaso-
nen et al. 2007; Sarracino & Scott 2008):
Manche Fachbeiträge werten den Trend insgesamt positiv und identifizieren eine wach-
sende ‚Gelassenheit‘, ‚Zivilisierung‘ und ‚Demokratisierung‘ in unseren sexuellen Ver-
hältnissen (z. B. Schmidt 2009; Attwood 2006). Auf der anderen Seite werden in der
(Fach-)Öffentlichkeit viele Stimmen laut, die vor gravierenden negativen Wirkungen
medialer Sexualisierung und Pornografisierung auf Kinder und Jugendliche, aber auch
auf erwachsene Frauen und Männer warnen – etwa vor sexueller Verunsicherung, Ver-
wahrlosung, Pornografiesucht usw. (z. B. APA 2010; Dines 2010; Jensen 2007; Paul 2005).
Auch wenn das Ausmaß der Schädlichkeit bzw. Nützlichkeit sexuell expliziter Me-
dienangebote in der Literatur ganz unterschiedlich bewertet wird, so besteht doch Kon-
sens, dass es sich bei sexuell eindeutigen Medienangeboten um potenziell problema-
tische Inhalte handelt, insbesondere wenn es um Kinder und Jugendliche geht. Zum
Schutz vor negativen Medienwirkungen werden in Bezug auf Pornografie zwei einander
ergänzende Ansätze verfolgt:
Neben Gewaltinhalten gelten sexuelle Medieninhalte von jeher als problematisch, ins-
besondere wenn sie von Kindern und Jugendlichen intensiv genutzt werden und somit
sozialisierend wirken. Eine Reihe von empirischen Studien belegen, dass die Intensi-
tät der Rezeption sexueller Inhalte in unterschiedlichen Medien (z. B. Fernsehen, Mu-
sik, Filme, Magazine, Computerspiele) bei Jugendlichen tendenziell einhergeht mit frei-
zügigeren sexuellen Einstellungen sowie früherer und häufigerer sexueller Aktivität (vgl.
Wright 2011). Unterschiedliche Theorien befassen sich mit dem kausalen Wirkprozess,
wobei kognitive Faktoren als Mediatorvariablen bedeutsam sind: Dementsprechend sor-
gen mediale Repräsentationen von Sexualität in den Unterhaltungsmedien dafür, dass
Jugendliche sexuelle Aktivität als unproblematisch und wünschenswert einschätzen
(z. B. Eyal & Finnerti 2009).
Ein weiterer Wirkungskomplex betrifft die Verunsicherung von Körperbild und Selbst-
wert – insbesondere bei Mädchen und jungen Frauen: Sexualisierte Darstellungen rü-
cken meist die körperlichen Merkmale der weiblichen Protagonisten sehr viel stärker
ins Bild als die der männlichen. Im Vergleich zu den allgegenwärtigen, übernatürlich
schönen und perfekten Körpern weiblicher Medienpersonen schneiden die Rezipien-
tinnen notorisch schlecht ab (siehe den zweiten Beitrag von Döring in diesem Band).
422 Nicola Döring
Nicht zuletzt vermitteln sexualisierte Mediendarstellungen oft ein stereotypes Bild der
heterosexuellen Geschlechterverhältnisse: Mädchen und Frauen sind in erster Linie kör-
perbetont als Sexualobjekte sichtbar. Weder treten sie als Sexualsubjekte auf, die eigene
sexuelle Interessen verfolgen, noch werden sie als anderweitig kompetente Akteurinnen
gezeigt. Als prototypisch gelten z. B. Inszenierungen in Hip-Hop-Musikvideos, in denen
der vollständig bekleidete männliche Star im Vordergrund agiert und leichtbekleidete
‚sexy chicks‘ im Hintergrund tanzen. Sexualisierung zeigt sich aber auch in Informa-
tionsmedien – z. B. wenn durch Perspektive und Bildausschnitt Fotos von Profisportle-
rinnen nicht sportliche Leistungsfähigkeit, sondern sexuelle Attraktivität betonen, was
bei männlichen Sportlern nicht vorkommt (vgl. APA 2010).
Diese in der Literatur ausführlich – und nicht selten eher mediendeterministisch –
dargestellten Probleme sind hinsichtlich ihrer Effektgrößen sowie der kausalen Wirkpro-
zesse kritisch zu hinterfragen. Verursachen Medien Sex ? Oder ist es nicht (auch) um-
gekehrt: Sexuell interessierte Jugendliche wenden sich mit höherer Wahrscheinlichkeit
sowohl sexuellen Aktivitäten als auch sexuellen Medieninhalten zu. Werden mediale
Repräsentationen von Jugendlichen unkritisch als Richtlinien und Normen für das ei-
gene Sexualleben übernommen ? Oder setzen sie sich nicht vielmehr einzeln und unter
Peers auch kritisch mit den Inhalten auseinander, kultivieren subversive und widerstän-
dige Lesarten ? Sind sexuelle Darstellungen besonders sexistisch ? Oder zieht sich nicht
vielmehr eine Geschlechterstereotypisierung durch die gesamte Medienlandschaft inkl.
Kinder- und Familienprogrammen, so dass das Sexismus-Problem eher heruntergespielt
wird, wenn man es nur im Zusammenhang mit Erotik behandelt ? Dramatisierende Dar-
stellungen einer zunehmenden Sexualisierung der Jugend sind als Moralpanik zu wer-
ten angesichts gegenläufiger empirischer Trends in der Mediennutzung (z. B. aktuelle
Popularität von romantischen Vampirgeschichten, in denen sexuelle Abstinenz ideali-
siert wird) sowie v. a. im Sexualverhalten der Jugendlichen, das sich durch wachsende
Verantwortung und Partnerschaftlichkeit auszeichnet (vgl. BzgA 2010).
Nicht zuletzt sind auch positive Wirkungen sexueller Medieninhalte zu betrachten.
So können entsprechende Inhalte zum Rezeptionsvergnügen beitragen, z. B. wenn sie
nicht im Modus des sozialen Vergleichs, sondern der Identifikation rezipiert werden
(vgl. den zweiten Beitrag von Döring in diesem Band). Sexuelle Medieninhalte können
sexuelle Neugier befriedigen und konstruktive Diskussionen über sexuelle Themen im
sozialen Umfeld anstoßen. Zudem bieten Medien auch immer wieder innovative Dar-
stellungen und Rollenmodelle, die gesellschaftlichen Wandel in den sexuellen Verhält-
nissen widerspiegeln und fördern (z. B. Darstellung von Mädchen und Frauen als Sex-
subjekte, Repräsentation homo- und bisexueller Protagonisten etc.).
Die Kommunikationswissenschaft befasst sich seit Dekaden mit sexuellen Inhalten
in den Massenmedien und ihrer Wirkung auf Jugendliche. Von sexuellen Inhalten sind
pornografische Darstellungen abzugrenzen, die aus rechtlichen Gründen z. B. nicht im
Fernsehen gezeigt werden dürfen. Die definitorische Abgrenzung von Pornografie ist in-
nerhalb und jenseits juristischer Diskurse schwierig und umstritten (vgl. Döring 2011a).
Sexuell explizite Medienangebote: Produktion, Inhalte, Nutzung und Wirkungen 423
Aktuell wird eine ‚Krise‘ der Porno-Industrie diagnostiziert, die ähnlich wie die Krise
der Musik-Industrie auf das Internet – speziell auf die Verbreitung illegaler Raubkopien
sowie die Fülle kostenloser Inhalte (etwa im Bereich Amateur-Pornografie) – zurück-
geführt wird.
Während verlässliche Marktdaten zur Musik-, Film- und Computerspielbranche von
den Branchenverbänden regelmäßig publiziert werden, sind belastbare Marktdaten zur
Porno-Branche allgemein oder speziell zum Internet-Porno-Markt definitiv nicht ver-
fügbar. Kursierende Zahlen sind allesamt unbelegt. Hier ist also großer Forschungs-
bedarf zu konstatieren.
Es wird aus feministischer und sexualethischer Sicht (vgl. Döring 2011a) kontro-
vers diskutiert, ob Pornografie-Produktion grundsätzlich als Ausbeutung der Darstel-
ler / innen abzulehnen oder bei entsprechenden Arbeitsbedingungen ethisch akzepta-
bel ist. Studien zur Lebenssituation von Darsteller / innen sind rar. In einer Umfrage
unter n = 50 US-amerikanischen Profis (durchschnittlich fünf Jahre Berufserfahrung
und mindestens 50 Filme) zeigte sich, dass Geld, Berühmtheit, Gelegenheit und sexu-
elle Horizonterweiterung die Hauptgründe für die Tätigkeit waren und sowohl posi-
tive als auch negative Berufserfahrungen berichtet wurden (Abbott 2009). Die Internet-
Krise der Branche wird dafür verantwortlich gemacht, dass sich die Arbeitsbedingungen
und Verdienstmöglichkeiten der Darsteller / innen im Bereich der kommerziellen Main-
stream-Produktion in den letzten Jahren deutlich verschlechtert haben.
424 Nicola Döring
Durch das Internet und seine niederschwelligen Vermarktungs- und Vertriebswege kön-
nen kleinere Porno-Unternehmen bis hin zu Einzelpersonen am Markt teilnehmen. Im
Internet konnten sich dadurch Anbieterinnen und Anbieter von kommerzieller Non-
Mainstream-Pornografie etablieren, die herkömmliche Mainstream-Pornografie durch
Angebote von und für heterosexuelle Frauen (Attwood 2007; Schauer 2005), lesbische
und bisexuelle Frauen, schwule Männer, Transgender-Personen sowie diverse Fetisch-
Communities ergänzt. Dabei wird oft ausdrücklich auf darstellerfreundliche Arbeits-
bedingungen Wert gelegt (z. B. Safer Sex-Richtlinien).
Erst durch das Internet ist die Amateur-Produktion von Erotika und Pornografie in grö-
ßerem Stil an die Öffentlichkeit gelangt. Das Publizieren von Eigenproduktionen so-
wie der Austausch mit anderen Internet-Usern befördern die Kultivierung dieser Do-it-
Yourself-Pornografien.
Nicht-kommerzielle Amateur-Produktionen existieren beispielsweise im Bereich
sexuell expliziter Geschichten (z. B. Literotica.com) sowie Zeichnungen und computer-
generierter Bilder (sog. CG-Pornografie, z. B. Renderotica.com). Sehr verbreitet ist auch
visuelle Amateur-Pornografie in Form von Fotos und Videos, die über einschlägige
Porno-Plattformen (z. B. Youporn.com) verbreitet werden (vgl. Döring 2010). Während
nicht-kommerzielle Amateur-Pornografie authentisches Begehren repräsentiert und
z. B. echte Liebespaare zeigt (Hardy 2008), agieren in der kommerziell vermarkteten
‚Amateur-Pornografie‘ professionelle Darsteller / innen (pro-am porn). Relativ wenig
ist über die soziodemografischen Merkmale, sexuellen Lebensstile und Motive der On-
line-Porno-Amateur / innen bekannt (Eichenberg & Döring 2006). Öffentlich verbrei-
tete Amateur-Produktionen sind abzugrenzen von sexuell expliziten Inhalten, die im
Rahmen privater Kommunikation ausgetauscht werden (z. B. erotische Handy-Fotos,
sog. Sexting, vgl. Döring, 2012a). Ethisch problematisch und strafrechtlich relevant ist
die Weiterleitung und Publikation selbst erstellter sexuell expliziter Fotos oder Videos
ohne ausdrückliche Zustimmung aller dargestellten Personen (z. B. Veröffentlichung
intimer Fotos der Ex-Freundin im Internet). Im Rahmen von Mobbing treten entspre-
chende Probleme neuerdings verstärkt unter Jugendlichen und Erwachsenen auf.
Sexuell explizite Medienangebote: Produktion, Inhalte, Nutzung und Wirkungen 425
Sehr viel Aufmerksamkeit hat die Analyse illegaler Pornografie – darunter Tier-, v. a.
aber Kinder- und Gewalt-Pornografie – auf sich gezogen. Sie dürfte unter der Online-
Pornografie einen größeren Anteil haben als unter der Off line-Pornografie. Die media-
len Bedingungen, die es kleinen, ethisch und politisch engagierten Indie-Porno-Labels
erlauben, ihre alternativen Produkte zu vermarkten, erleichtern auch die Verbreitung
illegaler Kinder- und Gewaltpornografie (Kuhnen 2007; Quayle & Taylor 2005). Die
Analyse von Kinderpornografie ist primär aus kriminologischer und klinischer Perspek-
tive relevant. So differenziert die COPINE-Skala (Combating Paedophile Information
428 Nicola Döring
Networks in Europe, Taylor et al. 2001) verschiedene Typen sexualisierter bis pornogra-
fischer Darstellungen von Kindern. Auf dieser Basis wird untersucht, ob und inwiefern
anhand von Besitz und Menge bestimmter Typen von Bildmaterial das Risiko realer se-
xueller Übergriffe auf Kinder bei Porno-Nutzern vorhergesagt werden kann.
Neben Kinderpornografie wird auch Gewaltpornografie in jüngster Zeit wieder ver-
stärkt diskutiert, etwa neue Gattungen wie ‚HorrorPorn‘ oder ‚TorturePorn‘ (vgl. Jones
2010). Dabei spielt der ‚Snuff-Film‘ eine Schlüsselrolle. Manche Autoren halten die Exis-
tenz von Snuff-Filmen – das sind pornografische Filme, die in realem Mord von Frauen
kulminieren – für gesichert und behaupten, entsprechende Darstellungen seien im In-
ternet „leicht zu finden“ (Waltman 2010, S. 234). Ein anderer Teil der Literatur ordnet
das Phänomen als puren ‚Mythos‘ ein – kein einziger Fall sei bislang kriminologisch
nachgewiesen. Hier besteht offenbar großer konzeptueller und empirischer Klärungs-
bedarf.
Kinder- und gewaltpornografische Online-Inhalte werden in öffentlichen Debat-
ten oft zum Anlass genommen, verstärkte Kontrolle und Regulierung des Internet zu
fordern und zu legitimieren. Nicht zuletzt deswegen ist es sinnvoll und zur Versachli-
chung entsprechender politischer Auseinandersetzungen notwendig, den Gegenstands-
bereich wissenschaftlich zu untersuchen. Inhaltsanalytische Forschung im Bereich lega-
ler wie v. a. illegaler Online-Pornografie ist jedoch mit besonderen Problemen behaftet:
Mit zielgerichteten Recherchen nach illegalem Material können sich Forschende selbst
strafbar machen. Die Analyse entsprechender Inhalte kann für die Codierer unzumut-
bar belastend sein. Die Validität der Analysen ist beschränkt, wenn es kaum möglich ist
zu differenzieren, ob eine im Internet gefundene drastische Darstellung reale Misshand-
lung oder einvernehmliche Inszenierung darstellt.
Ist Pornografie das ‚Thema Nr. 1‘ im Internet ? Rufen die Nutzer / innen immer ‚extremere‘
Inhalte ab ? Prägt die Porno-Wirklichkeit ihre Vorstellungen vom typischen Sexualver-
halten ? Die Rezipienten- und Rezeptionsforschung relativiert entsprechende Befürch-
tungen.
Neben der Intensität der Nutzung ist v. a. auch die Art der Pornografie-Nutzung – etwa
die Rezeptionssituation oder der Rezeptionsmodus – ausschlaggend dafür, welche Me-
dienwirkungen resultieren.
Rezeptionssituationen: Hauptgründe für die Nutzung von Online- wie Off line-
Pornografie sind laut Selbstauskunft sexuelle Stimulation, Masturbation, Neugier und
Informationsbedürfnis sowie Anregung für die Partnersexualität (Goodson et al. 2001).
Dementsprechend wird Pornografie oft solitär genutzt. Während männliche Jugendliche
430 Nicola Döring
Als mögliche positive Effekte der (Online-)Pornografie werden zunächst einmal Lust-
gewinn, gesteigerte Selbstakzeptanz insbesondere bei sexuellen Minderheiten, verbes-
serte Paarkommunikation und eine Erweiterung tradierter Geschlechtsrollen und Se-
xualskripts diskutiert (z. B. Boies 2002; Jacobs et al. 2007; McKee 2010). Nimmt man
ernst, dass Sexualität für Menschen neben ihrer Fortpflanzungs- und Beziehungsfunk-
tion auch eine Lustfunktion hat und Solosexualität ein eigenständiger und wertvoller
Bestandteil von Sexualität ist, der nicht in Konkurrenz zur Partnersexualität steht, dann
ist Lustgewinn durch Online-Pornografie eine positive Wirkung.
Wird davon ausgegangen, dass diverse sexuelle Ausdrucksmöglichkeiten vielen Men-
schen auch heute noch wenig bekannt, mit Unsicherheit, Scham- und Schuldgefühlen
verbunden sind, so kann die selbst gesteuerte Auseinandersetzung mit einem breiteren
Spektrum sexueller Aktivitäten in der Pornografie positive sexuelle Einstellungen för-
dern und zum sexuellen Experimentieren ermutigen. In Befragungsstudien berichten
Sexuell explizite Medienangebote: Produktion, Inhalte, Nutzung und Wirkungen 433
7 Fazit
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Teil 5
Schwerpunkt Öffentlichkeit & Gesellschaft
Grundlagen politischer Kommunikation
Carsten Reinemann & Thomas Zerback
1 Einführung
Die politische Kommunikation gehört zu den Feldern, mit denen sich die Kommuni-
kations- und Medienwissenschaft bislang am intensivsten auseinandersetzt. Dies lässt
sich u. a. an den fest etablierten und mitgliederstarken Fachgruppen in nationalen und
internationalen Fachgesellschaften, den spezialisierten Fachzeitschriften (z. B. Political
Communication oder Press / Politics) sowie den mittlerweile in großer Zahl vorliegenden
Lehr- und Handbüchern ablesen. Darüber hinaus wurden bedeutende theoretische An-
sätze und Forschungsmethoden des Fachs in politik-bezogenen Kontexten entwickelt
oder erstmals angewendet. Dazu zählen etwa das Meinungsführer- und Zwei-Stufen-
Fluss-Konzept, der Agenda-Setting-Ansatz, Framing, Priming oder die Panel-Methode
(dazu Schulz 2009). Der Grund für die hohe Aufmerksamkeit für Fragen der politi-
schen Kommunikation liegt auf der Hand: Die Kenntnis der Bedingungen, Strukturen
und Abläufe politischer Kommunikation ist für das Verständnis politischer Prozesse in
modernen Gesellschaften von zentraler Bedeutung. Und da politische Entscheidungen
und die Funktionsweise politischer Systeme alle Mitglieder einer Gesellschaft betreffen,
ergibt sich eine besondere Relevanz des Forschungsbereichs. Vor diesem Hintergrund
wird es im vorliegenden Beitrag darum gehen, einen allgemeinen Überblick über den
Stand der politik-bezogenen Medienwirkungsforschung zu geben. Der Fokus wird da-
bei auf den Wirkungen massenmedial vermittelter Kommunikation liegen, die freilich
mit Prozessen interpersonaler Kommunikation eng verknüpft ist. Dabei wollen wir be-
schreiben, was überhaupt unter politischer Kommunikation verstanden wird, welche
Fragestellungen im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses stehen, welche Theorien
und Ansätze, Designs und Erhebungsmethoden zur Beantwortung dieser Fragen heran-
gezogen werden, welche offenen Fragen die Forschung bewegen und welche Perspekti-
ven sich abzeichnen. Die Darstellung der politik-bezogenen Medienwirkungen gliedert
sich in zwei große Teile. Im ersten Teil betrachten wir Wirkungen auf die Bevölkerung
im Allgemeinen. Im zweiten Teil befassen wir uns mit Effekten auf politische Akteure
im engeren Sinn.
In der politischen Kommunikationsforschung wird unter Politik in der Regel die For-
mulierung, Aggregation, Herstellung und Durchsetzung kollektiv bindender Entschei-
dungen über gesellschaftliche Ressourcen, Werte oder Macht verstanden. Zudem wird
häufig auf eine in der Politikwissenschaft geläufige Dimensionalisierung des Politik-
begriffs zurückgegriffen, die zwischen Politics, Policy und Polity unterscheidet. Mit Po-
litics sind dabei Prozesse und Verfahren (z. B. Wahlkämpfe), mit Policy die inhaltliche
Substanz (z. B. Wahlprogramme) und mit Polity der institutionelle Rahmen (z. B. das
Wahlrecht) von Politik gemeint. Politisch sind also alle individuellen, korporativen oder
kollektiven Akteure, die an den entsprechenden Prozessen als aktiv Handelnde beteiligt
sind. Als politische Akteure im engeren Sinne werden dabei z. B. supranationale Organi-
sationen, Staaten, Regierungen, Parlamente, Parteien, Politiker oder Interessengruppen
verstanden. Politische Akteure im weiteren Sinne können aber auch Medien, Journalisten
und Bürger sein, und zwar dann, wenn sie sich aktiv handelnd oder auch nur rezeptiv an
Politik bzw. politischer Kommunikation beteiligen, sei es als Staatsbürger, Wähler oder
Mediennutzer (Graber 2005, S. 480; Schulz 2008, S. 16).
Bis heute hat sich keine allgemein gültige Definition für den Begriff „politische Kom-
munikation“ durchgesetzt. Dennoch gibt es eine recht große Schnittmenge in den De-
finitionen verschiedener Autoren. Dies wird beispielsweise deutlich in den bekannten
Definitionen von Graber (2005) und Schulz (2008). Graber beschreibt politische Kom-
munikation als „the construction, sending, receiving, and processing of messages that
potentially have a significant direct or indirect impact on politics“ (Graber 2005, S. 479).
Schulz dagegen definiert politische Kommunikation als die Kommunikation, „die von
politischen Akteuren ausgeübt wird, die an sie gerichtet ist, oder die politische Akteure,
ihr Handeln und ihre Kognitionen beinhaltet“ (Schulz 2008, S. 16). Betrachtet man
nicht die großen Überschneidungen, sondern die Unterschiede der beiden Vorschläge,
dann stellt man fest, dass Graber auch mögliche direkte oder indirekte Wirkungen auf die
Politik und damit weit mehr Botschaften und kommunikative Prozesse einbezieht als
Grundlagen politischer Kommunikation 441
Schulz. Pointiert formuliert kann man sagen, dass Graber der akteursorientierten Defi-
nition von Schulz eine eher prozessorientierte Definition gegenüberstellt, in der jegliche
Kommunikation politisch sein kann – auch wenn sie sich erst ex post als politisch rele-
vant herausstellt.
Es gibt also offenbar einen Kern von Kommunikationsphänomenen, bei dem man
a priori davon ausgehen kann, dass er politisch ist und dementsprechend politik-bezo-
gene Wirkungen entfalten kann. Daneben gibt es aber offenbar auch Kommunikations-
phänomene, deren politische Relevanz nicht ohne weiteres sofort, sondern erst ex post
bzw. im Prozessverlauf erkennbar wird. So kann ein Zeitungsbericht über ein Verbre-
chen nicht nur dann politisch relevant sein, wenn er ausdrücklich auf die Verantwor-
tung der Politik für die Bekämpfung von Kriminalität verweist. Unter Umständen erhält
der Beitrag seine politische Relevanz erst im Rezeptionsprozess oder in der interperso-
nalen oder massenmedialen Anschlusskommunikation, etwa wenn ein Leser oder Jour-
nalist auf Basis seiner Lektüre eine Verbindung zu den Leistungen der Regierung in Sa-
chen Kriminalitätsbekämpfung herstellt. Wann Kommunikation politisch ist bzw. wird,
hängt also nicht nur vom Kommunikator und den Inhalten ab, sondern ebenso von
den Prädispositionen und der Verarbeitung politischer Botschaften durch Mediennut-
zer, politische Akteure und Medien. Auch wenn es durchaus sinnvoll ist, etwa die Betei-
ligung politischer Akteure im engeren Sinn als Definitionskriterium zur Identifikation
entsprechender Botschaften, Einstellungen oder Prozesse heranzuziehen, muss man
sich also bewusst sein, dass die Menge potentiell politisch relevanter Kommunikations-
prozesse und Medienwirkungen sehr viel größer ist.
len Medienwirkungen. Die Befunde solcher Studien sind folglich stark kontextabhängig
und nur begrenzt generalisierbar.
Die vierte Triebfeder ist der langfristige Wandel politischer Kommunikation. Damit
sind sowohl Veränderungen auf der Medienseite als auch auf Seiten der politischen
Akteure gemeint. Im Hinblick auf die Medien werden die Auswirkungen der Verän-
derungen von Medienstrukturen (z. B. Deregulierung, Diffusion neuer Medien), Hand-
lungslogiken (z. B. Ökonomisierung) sowie Medieninhalten (z. B. Boulevardisierung,
Visualisierung) betrachtet. Bezüglich der politischen Akteure geht es um die Professiona-
lisierung von Kampagnen bzw. inhaltliche Tendenzen in der Kampagnenführung (z. B.
Personalisierung, Negativismus). Entsprechende Veränderungen führen oftmals auch
zu einem Wandel der Mediennutzungs-, Kommunikations- bzw. Wahrnehmungsmus-
ter der Rezipienten. So hat die Individualisierung der Mediennutzung in Deutschland
auf der Makroebene die Fragmentierung und Segmentierung des Publikums gefördert.
Solche Veränderungen ziehen die Frage nach sich, welche Relevanz sie für Wirkungs-
phänomene auf den verschiedenen Ebenen haben. Eine gängige Vorgehensweise ist es
in solchen Fällen, populäre theoretische Ansätze vor dem Hintergrund neuer media-
ler Rahmenbedingungen zu überprüfen, etwa die Agenda Setting- oder Wissenskluft-
Hypothese im Kontext der Ausbreitung von Online-Medien (Bonfadelli 2002).
2.1 Wirkungsursachen
Die Frage nach der unabhängigen Variable politik-bezogener Medienwirkungen ist kei-
neswegs trivial, da hier sowohl theoretisch wie empirisch Phänomene auf unterschied-
lichen Abstraktionsebenen ins Blickfeld rücken. Zudem kann man Studien, die Effekte
journalistischer Berichterstattung betrachten, von solchen unterscheiden, die an den
Wirkungen der Eigenbotschaften politischer Akteure im engeren Sinn interessiert sind
(z. B. politische Werbung, Wahlprogramme, Medienauftritte).
Im Hinblick auf die journalistische Berichterstattung finden sich zum einen Studien,
die Wirkungen der Existenz bzw. Diffusion von Medien betrachten, ohne dabei deren
konkrete Inhalte näher zu untersuchen. Dies ist etwa der Fall, wenn nach den Auswir-
kungen der Einführung des Fernsehens (z. B. Peiser 2000), des Internets (Boulianne
2009; Emmer et al. 2011) oder der Existenz öffentlich-rechtlicher Medien (z. B. Curran
et al. 2009) für politisches Interesse, Wissen oder Engagement gefragt wird. Etwas nä-
her an den Inhalten sind Studien, die Auswirkungen der Nutzung unterschiedlicher Me-
dientypen oder Formate untersuchen – wobei die konkreten Inhalte oftmals ebenfalls
nicht untersucht werden. Dies ist etwa der Fall, wenn die Nutzung von TV-Nachrich-
ten, überregionalen, regionalen oder Boulevardzeitungen mit politischem Wissen oder
politischen Einstellungen in Beziehung gesetzt wird (z. B. Schmitt-Beck und Wolsing
2010). Schließlich finden sich Studien, die spezifische inhaltliche Merkmale bzw. kon-
krete Inhaltsstrukturen, denen die Rezipienten ausgesetzt waren, mit deren individuel-
len Reaktionen verknüpfen. Dies ist in experimentellen Untersuchungen der Fall (z. B.
Früh 2010), aber auch in Studien, in denen Befragungs- und Inhaltsanalysedaten auf der
Ebene einzelner Personen verknüpft werden (z. B. Maurer et al. 2012b). Zudem werden
auch die möglichen politik-bezogenen Effekte scheinbar unpolitischer und fiktionaler
Medieninhalte, die zum Teil schon in den Anfängen der Kultivationsforschung im Mit-
telpunkt standen, in den letzten Jahren intensiver beachtet (z. B. Prior 2003).
Bezüglich der Frage, welche Charakteristika der Medienberichterstattung als Wir-
kungsursachen betrachtet und untersucht werden, kann man fünf Arten von Merkma-
len unterscheiden: Erstens die Häufigkeit bzw. Intensität der Berichterstattung über ein
Thema, ein Ereignis, einen Akteur oder eine Information – auch im Verhältnis zu kon-
kurrierenden Themen etc. Entsprechende Wirkungsstudien untersuchen, ob mit der
Häufigkeit der Berichterstattung z. B. die wahrgenommene Bedeutung eines Themas an-
steigt (Agenda Setting-Effekte), Wissensbestände wachsen (Lern-Effekte) oder sich Be-
urteilungskriterien und damit u. U. auch die Beurteilung von Sachverhalten oder Perso-
nen verschieben (Priming-Effekte). Zweitens geht es um die Frage, welche Themen- oder
Ereignisaspekte in der Berichterstattung akzentuiert werden und welche Auswirkungen
dies beispielsweise auf die Problemwahrnehmung, die Auslösung von Emotionen, aber
auch die Bewertung von Sachverhalten und Handlungsintentionen hat (Framing-Ef-
fekte). Drittens interessiert die Forschung, welche Auswirkungen der Tenor der Bericht-
erstattung, also die wertende Tendenz der Mediendarstellungen, hat. Im Mittelpunkt
446 Carsten Reinemann & Thomas Zerback
stehen hier die Veränderungen von Meinungen, Werturteilen, Einstellungen und Han-
deln (Persuasions-Effekte). Viertens geht es um Auswirkungen formaler Merkmale der
Berichterstattung, also etwa um Effekte verschiedener Darstellungsmittel (z. B. Schnitt-
frequenz, Einsatz von Fallbeispielen; z. B. Lang et al. 2003) oder den relativen Einfluss
verbaler, visueller und parasprachlicher Elemente politischer Botschaften (z. B. Maurer
et al. 2012a). Fünftens fragt man nach den Auswirkungen struktureller Merkmale der Be-
richterstattung, die sich aus dem Verhältnis unterschiedlich intensiver Thematisierung,
unterschiedlichen Framings oder Bewertungen ergeben können. Merkmale wie Fokus-
sierung, Konsonanz, Vielfalt oder Ausgewogenheit sind nicht nur für die Stärke von Wir-
kungen relevant, sondern haben Auswirkungen auf die Möglichkeiten, entsprechende
Wirkungen tatsächlich methodisch nachzuweisen (Maurer 2004).
Daneben hat sich die Forschung intensiv mit den Wirkungen politischer Botschaften,
mit denen sich politische Akteure völlig oder weitgehend unabhängig von Journalisten
direkt an die Bürger richten (z. B. politische Werbung, Reden, Medienauftritte) beschäf-
tigt. Dabei wird die Wirkung zahlreicher, aus der Persuasionsforschung bekannter, Bot-
schaftsmerkmale untersucht – etwa die Effekte rhetorischer Stilmittel und Strategien,
Angriffe auf den politischen Gegner (attack ads, negative campaigning), Verwendung
von Evidenzen oder Humor sowie der Attraktivität politischer Kandidaten (im Über-
blick Maurer et al. 2012a).
2.2 Wirkungsarten
den (z. B. Bennett & Iyengar 2008). Auch die Frage, welche Rolle Emotionen einerseits
als Effekte, andererseits als die Selektion und Informationsverarbeitung politischer Bot-
schaften moderierende Faktoren spielen, rückt zunehmend in den Fokus der Forschung
(z. B. Früh 2010; Schemer 2009).
Im Laufe der Zeit haben sich auf Rezipientenseite einige Variablen herauskristallisiert,
die politik-bezogene Medienwirkungen moderieren und daher in vielen Modellen eine
wichtige Rolle spielen. Besondere Bedeutung kommt dabei dem politischen Involvement
sowie den politischen Prädispositionen zu – die ihrerseits mit einer Reihe weiterer Varia-
blen in Zusammenhang stehen (z. B. Geschlecht, Bildung u. a.).
Das politische Involvement wird in der Regel über politisches Wissen (kognitive Kom-
ponente) und politisches Interesse (motivationale Komponente) ermittelt. Obwohl ver-
mutet wird, dass hohes politisches Involvement die Resistenz gegenüber (persuasiven)
Medienwirkungen steigert, kommen empirische Studien zu Agenda Setting, Priming,
Wissenserwerb, zur Stabilität politischer Einstellungen oder auch zum Wahlverhalten zu
unterschiedlichen Ergebnissen. Eine wesentliche Ursache für die widersprüchlichen Be-
funde dürfte darin liegen, dass politisches Involvement auf den verschiedenen Stufen
der Informationsverarbeitung typischerweise unterschiedliche Auswirkungen hat. So
spricht die häufigere Nutzung politischer Inhalte zunächst für stärkere Wirkungen auf
Involvierte, was in experimentellen Studien, in denen Selektionsprozesse keine Rolle
spielen, oftmals nicht berücksichtigt werden kann (selektive Nutzung). Auch das bes-
sere Verständnis gerade für komplexe politische Inhalte könnte zu stärkeren Wirkungen
auf höher Involvierte beitragen (selektive Wahrnehmung). Wenn dagegen die rezipier-
ten Informationen mit bestehenden Einstellungen und Vorwissen abgeglichen werden,
dann erscheinen gerade persuasive Wirkungen bei höher Involvierten unwahrscheinli-
cher, da sie eher dazu neigen, ausgeprägte politische Prädispositionen und umfangrei-
ches Vorwissen zu haben. Wenn politisch Interessierte und Desinteressierte also die-
selben Informationen nutzen und sie zumindest ähnlich wahrnehmen und verstehen
können, dann sollten die Wirkungen auf Desinteressierte größer sein (selektive Verarbei-
tung). Im Hinblick auf die Erinnerung an politische Botschaften (selektive Erinnerung)
spricht wiederum einiges dafür, dass gerade die Wirkungen persuasiver Botschaften bei
politisch Interessierten mit konträren Voreinstellungen, aber auch politisch Desinteres-
sierten ohne ausgeprägte Voreinstellungen relativ bald wieder nachlassen (dazu Reine-
mann & Maurer 2010).
Neben dem politischen Involvement sind es vor allem politische Prädispositionen,
die politik-bezogene Medienwirkungen beeinflussen, wobei hier in der Regel die Ef-
fekte wertender bzw. als werthaltig wahrgenommener Elemente von Medienbotschaf-
ten in den Blick genommen werden. Indikatoren für politische Prädispositionen sind
Grundlagen politischer Kommunikation 449
2.4 Wirkungsmodelle
Modells (z. B. Früh 2010; Schemer 2009), kognitive und Verhaltenseffekte im Cognitive
Mediation Model (Eveland 2001) und persuasive Effekte im Rahmen des Elaboration Like-
lihood- (ELM) (Petty & Cacioppo 1986) oder des RAS-Modells (Receive-Accept-Sample;
Zaller 2005). Zudem liegt mit dem Limited-Capacity-Modell ein analytischer Rahmen
vor, auf dessen Basis die Effekte formaler gegenüber inhaltlichen Merkmalen politischer
Botschaften analysiert werden (Lang et al. 2003).
Vor allem in den USA und der Politikwissenschaft recht prominent ist das RAS-Mo-
dell zur Erklärung persuasiver Effekte in Wahlkämpfen. In diesem Modell variiert die
Wahrscheinlichkeit einer Einstellungsänderung mit der Wahrscheinlichkeit, Informatio-
nen zu erhalten und zu akzeptieren. Dabei wird davon ausgegangen, dass Menschen mit
hohem politischem Interesse aufgrund ihrer intensiven Kommunikation mit größerer
Wahrscheinlichkeit mit Argumenten verschiedener Parteien konfrontiert werden. We-
niger interessierte Rezipienten werden dagegen weniger Informationen nutzen und des-
wegen vornehmlich mit in der Öffentlichkeit dominierenden Sichtweisen konfrontiert.
Allerdings sind politisch Involvierte auch stärker ideologisch geprägt und besitzen ein
umfangreicheres Vorwissen als weniger Involvierte. Dies führt zu einer geringeren Ak-
zeptanz einstellungs-inkonsistenter und dem Vorwissen widersprechender Argumente
und Informationen. Zaller kommt deshalb zu dem Schluss, dass die Einstellungsände-
rung in Richtung einer dominierenden persuasiven Botschaft bei moderat Interessierten
und Involvierten am größten ist. Zallers Modell legt damit einen starken Fokus auf die
Intensität der Mediennutzung und mögliche persuasive Effekte. Viele andere relevante
Einflussfaktoren auf Botschafts- und Rezipientenseite bleiben dagegen unberücksichtigt.
Dies ist in den Modellen anders, die einen stärkeren Fokus auf Selektions- und Informa-
tionsverarbeitungsprozesse legen.
Insgesamt ist ein Trend zu integrativen, prozessorientierten Modellen zu beobachten,
die den gesamten Rezeptions- und Wirkungsprozess umfassen – also die Verschrän-
kung von Prädispositionen, Motivations-, Selektions-, Aufmerksamkeits-, Verarbei-
tungs- und Interpretationsprozessen sowie der anschließenden interpersonalen Kom-
munikation. Ein Beispiel für einen solchen integrativen und prozessorientierten Ansatz
ist das O-S-R-O-R-Modell von Cho et al. (2009), ein anderes das dynamische Prozess-
modell der Entscheidungsfindung im Wahlkampf von Reinemann et al. (2011). Im An-
satz von Cho et al. (2009) stehen am Beginn einer Wirkungskette die strukturellen, kul-
turellen, kognitiven und (stabilen oder variablen) motivationalen Prädispositionen
(„O“), mit denen ein Bürger in eine Kommunikationssituation hineingeht. Empirisch
werden diese Prädispositionen über Merkmale wie Alter, Geschlecht, Parteibindung
oder politisches Interesse abgebildet. Die Prädispositionen führen dann zu bestimm-
ten Mustern der Mediennutzung („S“). Auf die Mediennutzung folgen – gewisserma-
ßen als Wirkungen erster Ordnung – kognitive Elaboration und Reflektion, interperso-
nale Anschlusskommunikation und eventuell auch unmittelbare politische Aktivitäten,
vor allem im Onlinebereich („R“). Dabei werden in kognitiven und / oder deliberativen
Prozessen die Medieninhalte vor dem Hintergrund individueller Prädispositionen in-
Grundlagen politischer Kommunikation 451
Neben der klassischen Wirkungsforschung, die ihre Aufmerksamkeit in erster Linie auf
das breite Publikum medialer Inhalte gerichtet hat, beschäftigen sich neuere Ansätze
auch mit Wirkungen auf Personen und Akteure, die selbst Teil der Berichterstattung
sind. Zwar handelt es sich dabei um eine vergleichsweise kleine Gruppe, deren Angehö-
rige allerdings über gesellschaftliche Schlüsselpositionen verfügen und daher Entschei-
dungen treffen, die weitreichende Folgen haben können. Ihre Vernachlässigung durch
die bisherige Wirkungsforschung verwundert insbesondere deshalb, weil hier das Po-
tential für Medieneffekte besonders groß ist. Die folgenden Ausführungen beziehen sich
in erster Linie auf Politiker als Akteure im engeren Sinn, da der weitaus größte Teil der
bisherigen Forschung in diesem Bereich verortet ist. Dies schließt andere Akteure der
Politik, wie z. B. Interessengruppen, Lobbyisten oder Wirtschaftsakteure freilich nicht
aus, sie sind allerdings deutlich seltener Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen.
3.1 Wirkungsursachen
Man kann im Prinzip zwei Ursachen der Medienwirkungen auf Politiker unterschei-
den. Erstens können Medienwirkungen von konkreter Berichterstattung ausgehen. Da-
bei muss man zwischen Berichten unterscheiden, in denen die rezipierenden politischen
Akteure oder ihre Partei, Fraktion etc. selbst thematisiert werden und solchen, in de-
nen dies nicht geschieht. Im ersten Fall spricht man von reziproken Effekten (Kepplin-
ger 2007). Die im Zuge reziproker Effekte ablaufenden psychologischen Prozesse unter-
scheiden sich vermutlich deutlich von nicht-reziproken Effekten (s. u.). Nicht-reziproke
Effekte sind dagegen in ihren Mechanismen im Wesentlichen mit den Wirkprozessen
bei normalen Rezipienten vergleichbar. In beiden Fällen gilt, dass auch bei politischen
Akteuren vor allem die Intensität der Thematisierung, das Framing, die Tendenz der Dar-
stellung, formale und strukturelle Merkmale der Berichterstattung die Art der Einflüsse
maßgeblich prägen dürften.
452 Carsten Reinemann & Thomas Zerback
3.2 Wirkungsarten
Im Prinzip kann man bei politischen Akteuren im engeren Sinn – analog zu den „nor-
malen“ Bürgern – Effekte auf Emotionen, Kognitionen, Einstellungen und ihr Verhalten
auf der Mikro-, der Meso- und der Makroebene unterscheiden. Jedoch stehen aufgrund
ihrer besonderen Bedeutung andere Wirkungsaspekte im Mittelpunkt. Dabei sind Wir-
kungen auf unterschiedlichen Analyseebenen und in unterschiedlichen Phasen des po-
litischen Prozesses zu unterscheiden.
Auf der Mikroebene differenzieren sich Effekte zunächst anhand des Zeitpunkts ihres
Auftretens: Medieneffekte können das Resultat vorangegangener Berichterstattung sein,
aber auch während des Kontakts zu einem Medium bzw. Journalisten auftreten (z. B.
in Form eines veränderten Verhaltens während eines Interviews). Außerdem sind fi-
nale Wirkungsbeziehungen möglich, wenn zukünftige Berichterstattung antizipiert und
Handeln a priori daran ausgerichtet wird. Studien konnten zeigen, dass sich Politiker in
ihren Annahmen über Medienwirkungen unterscheiden und dass sie Wirkungen auf
unterschiedliche Gruppen (die eigene Partei, politische Gegner, die Wähler) differen-
ziert beurteilen (z. B. Marx 2009). Außerdem gibt es Belege dafür, dass die Annahme
Grundlagen politischer Kommunikation 453
starker Medienwirkungen bei Politikern zu aktiverer Medienarbeit führt, die sich wie-
derum in stärkeren parlamentarischen Aktivitäten und häufigerer Medienberichterstat-
tung niederschlägt (Cohen et al. 2008). Insgesamt sind gerade antizipatorische Reak-
tionen in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen. Sie können dazu führen kann, dass
bestimmte Themen mit Blick auf ihre mediale Tauglichkeit nicht (bzw. eher) behandelt
werden (Pontzen 2006, S. 93). Die zweite Unterscheidung von Medienwirkungen auf Po-
litiker betrifft ihre Unmittelbarkeit. Dabei versteht man unter direkten Effekten solche,
die bei den politischen Protagonisten selbst als unmittelbare Reaktion auf die Medien-
berichterstattung zu beobachten sind und ihre Emotionen, Kognitionen, Einstellungen
und Verhalten betreffen. Weitaus bedeutsamer sind allerdings indirekte Effekte, die erst
als Folge der direkten Medienwirkungen auftreten und weitreichende Konsequenzen für
Dritte haben können. Werden beispielsweise aufgrund der Erwartung negativer Bericht-
erstattung eigentlich notwendige politische Maßnahmen nicht umgesetzt (z. B. eine Er-
höhung der Einkommenssteuer), kann dies gesellschaftspolitisch bedeutsam sein.
Auf der Mesoebene geht es um die Folgen individueller Medienwirkungen für poli-
tische Organisationen und Institutionen, die zuletzt häufig im Zusammenhang mit der
Medialisierung der Politik diskutiert wurden. Dies betrifft Organisationsstrukturen, die
mit Blick auf das Mediensystem verändert werden, etwa indem die Parteien ihre Me-
dienbeobachtung professionalisieren und PR-Abteilungen vergrößern. Auch die zuneh-
mende Anpassung von Veranstaltungen an die Bedürfnisse der Medien oder die me-
diengerechte Inszenierung von Ereignissen lässt sich hier verorten.
Auf der Makroebene wird schließlich betrachtet, ob sich durch eine gestiegene Be-
deutung der Medien für die Bürger und die politischen Akteure auch die Strukturen po-
litischer Prozesse oder die generelle Wichtigkeit politischer Institutionen verändern. So
wird diskutiert, ob eine generell zunehmende Antizipation der Selektions- und Präsen-
tationslogiken von Medien zu einer Verschiebung der Kriterien führt, nach denen po-
litisches Personal ausgewählt und politische Entscheidungen getroffen werden oder ob
das Parlament an Bedeutung verliert, weil seine Debattenkultur nicht fernsehtauglich ist
(Pontzen 2006; Reinemann 2010).
Neben der Ebenenbetrachtung findet man in der politikwissenschaftlichen Policy-
Forschung verschiedene Phasen-Modelle, die sich mit den prozessualen Strukturen po-
litischer Entscheidungen beschäftigen (Policy-Cycle). Auf Basis dieser Modelle kann un-
tersucht werden, welche Wirkungen Medien in einzelnen Phasen auf politische Akteure
haben – also etwa darauf, welche Themen von der Politik aufgegriffen werden (Agenda
Building bzw. Political Agenda Setting), welche Wirkung sie auf die Formulierung politi-
scher Lösungsvorschläge haben und welche Rolle sie für politische Personal- und Sach-
entscheidungen haben. Dabei werden in der Literatur unterschiedliche Formen poli-
tischen Handelns differenziert. Eine Möglichkeit besteht darin, zwischen Herstellung
und Darstellung von Politik zu unterscheiden, also zwischen dem eigentlichen politi-
schen Informationsverarbeitungs- und Verhandlungsprozess und der Vermittlung po-
litischen Handelns und Entscheidens nach außen. Medienwirkungen auf die Darstel-
454 Carsten Reinemann & Thomas Zerback
lungspolitik bestehen vor allem darin, wie politische Vorschläge oder Entscheidungen
kommuniziert werden. Medienwirkungen auf die Herstellungspolitik beeinflussen da-
gegen die Substanz einer Entscheidung über politische Inhalte (z. B. ein Gesetz). Ähn-
lich unterscheiden Walgrave und van Aelst (2006) mögliche Reaktionen der Politik auf
Medienberichte nach ihrer Geschwindigkeit (schnell vs. langsam) und ihrer inhaltli-
chen Bedeutung (symbolisch vs. substantiell). Insgesamt wird dabei angenommen, dass
Medienwirkungen auf die politische Agenda groß sind und schnelle sowie symbolische
Handlungen wahrscheinlicher sind als langsame Effekte auf die Substanz politischer
Entscheidungen. Allerdings hängt die Stärke der Befunde von zahlreichen Kontextfak-
toren sowie methodischen Zugängen ab und die Befunde hierzu sind entsprechend dif-
ferenziert (van Aelst & Walgrave 2011).
Bei der Beantwortung der Frage, welche Variablen die Art und Stärke von Medien-
effekten auf politische Akteure beeinflussen, steht die Forschung noch am Anfang. Aller-
dings gibt es mittlerweile eine Reihe von Studien, die entsprechende Faktoren nicht nur
theoretisch diskutieren, sondern auch empirisch untersuchen. Neben Merkmalen des
Mediensystems und der Medienberichterstattung, die wir oben schon diskutiert haben,
scheinen Medieneinflüsse auf politische Akteure einerseits von stabilen Makro-, Meso-
und Mikromerkmalen des politischen und des Mediensystems, andererseits von situati-
ven Umständen abzuhängen. So unterscheiden sich die Einschätzungen von Medienein-
flüssen auf die Karrieren von Politikern in Ländern mit unterschiedlichen politischen
Kommunikationskulturen, die eine unterschiedliche Nähe von Parteien und Medien
aufweisen (Maurer 2011). Im Hinblick auf mediale Einflüsse auf die politische Agenda
werden neben dem situativen Kontext (Wahlkampf vs. kein Wahlkampf) als Einfluss-
faktoren der Makroebene institutionelle Regeln des politischen Prozesses genannt (z. B.
Öffentlichkeit und Häufigkeit von Parlamentssitzungen). Einflüsse von Mesovariablen
können von der Stellung eines Akteurs als Mitglied von Regierung oder Opposition so-
wie institutions-internen, informellen Regeln für Entscheidungsprozesse abhängen. Auf
der Mikroebene werden die Berufserfahrung, das individuelle fachliche Profil, aber auch
Persönlichkeitsdispositionen als mögliche Einflüsse genannt (Maurer 2011; van Aelst &
Walgrave 2011; Walgrave und van Aelst 2006).
3.4 Wirkungsmodelle
2008) an. Relevant dürfte darüber hinaus auch das Hostile Media Phenomenon sein, das
dazu beiträgt, dass Klagen über eine verzerrte Berichterstattung bei Politikern auch
dann an der Tagesordnung sind, wenn die Berichterstattung eher ausgewogen ist. Die
Diskussion von Medieneffekten auf der Meso- und Makroebene wird dagegen nicht mit
individualpsychologisch orientierten Modellen, sondern auf Basis institutioneller An-
sätze untersucht. Für eine Integration dieser Perspektiven und die Modellierung der
entsprechenden Mikro-Makro-Links erscheinen soziologische Ansätze wie der indivi-
dualistische bzw. struktur-individualistische Ansätze vielversprechend, die mittlerweile
auch für Mehr-Ebenen-Betrachtungen in der Medienwirkungsforschung herangezogen
werden (Scheufele 2011).
Ein integratives und individualpsychologisch ausgerichtetes Wirkungsmodell, das
dem prozessualen Charakter von Medienwirkungen auf die Protagonisten der Bericht-
erstattung Rechnung trägt, hat Kepplinger vorgelegt. Er verknüpft darin Annahmen
über die Interaktionen von persönlichem Involvement, negativity bias, Attributionsfeh-
lern, Wahrnehmungen von Medienwirkungen auf das eigene soziale Umfeld und den
Third-Person-Effekt, um emotionale und kognitive Auswirkungen insbesondere nega-
tiver Berichterstattung zu erklären (Kepplinger 2007). Dabei zeigt sich beispielsweise,
dass sich Protagonisten der Berichterstattung sehr hohen Mediendosen aussetzen und
durchaus emotional auf negative Berichte reagieren (z. B. Kepplinger & Zerback 2009).
Schwierigkeiten zurückzuführen ist, gehen wir am Ende des Kapitels auch auf diese spe-
zielle Problematik ein.
In der politik-bezogenen Medienwirkungsforschung kommen sowohl Labor- als
auch Feldstudien zum Einsatz. Bei den Laborstudien handelt es sich in der Regel um
klassische Experimente, während im Feld neben korrelativen Designs auch Feldexpe-
rimente durchgeführt werden. Experimente wurden schon sehr früh gewinnbringend
zum Nachweis politischer Medienwirkungen eingesetzt (z. B. Gosnell 1926) und haben
sich bis heute bewährt, insbesondere zur Überprüfung kognitiver Effekte, z. B. auf po-
litisches Wissen oder Bewertungen von Kandidaten und Parteien. Aber auch affektive
Wirkungen oder solche auf politisch relevante Verhaltensweisen (z. B. Min 2004) wer-
den auf diese Weise erforscht. Bekannte Beispiele sind die Studien von Iyengar und Kin-
der (1987) zu Priming-Effekten von TV-Nachrichten oder solche zur Wirkung politi-
scher Persuasion (Mutz et al. 1996).
In Feldstudien werden sowohl Aggregat- als auch Individualanalysen vorgenommen.
Aggregatanalysen beruhen meist auf einem zeitversetzten Vergleich zweier Zeitreihen,
beispielsweise der Entwicklung der Berichterstattung und der Bevölkerungsmeinung
(z. B. Grabe & Bucy 2009), wobei zeitversetzte Korrelationen als Medienwirkung in-
terpretiert werden. Individualanalysen hingegen untersuchen den Einfluss der Nutzung
einzelner Medien (z. B. Nir & Druckman 2008), Mediengruppen (z. B. Schmitt-Beck &
Wolsing 2010) oder der Menge der Mediennutzung insgesamt (z. B. Kim et al. 2010) auf
die Rezipienten, beziehen allerdings in der Regel keine inhaltsanalytischen Daten ein.
Einen weitaus härteren Test für Medienwirkungen bilden daher individuelle Verknüp-
fungen aus Befragung und Inhaltsanalyse, die sowohl Informationen zur Ausgestaltung
der Inhalte liefern als auch bezüglich der Eigenschaften der Befragten und ihrer Verän-
derung. Angesichts der zunehmenden Fragmentierung der Medienlandschaft und den
ausdifferenzierten Nutzungsmustern der Bevölkerung ist die Bedeutung solch indivi-
dualisierter Designs für die politische Kommunikationsforschung erheblich gestiegen
(Maurer et al. 2012b).
Neben unterschiedlichen Designs setzt die politische Kommunikationsforschung
auch zahlreiche Erhebungsmethoden ein. Zu den ältesten und am häufigsten verwen-
deten zählt die Befragung, die ihre Bedeutung nicht nur der frühen Verwendung in
den Pionierstudien der Wahlforschung verdankt, sondern vor allem auch der modernen
Demoskopie (Brady 2000). Querschnittsbefragungen kommen dabei ebenso wie Längs-
schnittbefragungen zum Einsatz. Wobei Trend- und Panelbefragungen stringentere Nach-
weise von Medienwirkungen ermöglichen. Eine neuere Form der Trendbefragung ist die
sogenannte Rolling Cross-Section (RCS) bei der in sehr kurzen Abständen (in der Regel
tageweise) relativ kleine, für die Grundgesamtheit repräsentative Personenstichproben
befragt werden. Die eng beieinanderliegenden Erhebungszeitpunkte ermöglichen es,
eventuelle Veränderungen mit höherer Wahrscheinlichkeit bestimmten Ursachen (z. B.
Ereignissen im Wahlkampf) zuordnen zu können. Wesentlich seltener als Befragungen
sind Beobachtungen. Der Grund dafür liegt vor allem darin, dass politische Medien-
Grundlagen politischer Kommunikation 457
wirkungen auf diese Weise in vielen Fällen nur schwer oder überhaupt nicht zugäng-
lich sind. Eine der am häufigsten verwendeten Methoden bildet in diesem Kontext das
Realtime Response Measurement (RTR), das vor allem zum Nachweis von Medienwir-
kungen während der Rezeption verwendet wird. Dabei handelt es sich um eine Selbst-
auskunft der Teilnehmer, die mit Hilfe eines Dreh- oder Schiebereglers kontinuierlich
ihre Eindrücke zu den gezeigten Medieninhalten wiedergeben. Auf diese Weise kön-
nen die Reaktionen – im Gegensatz zur Befragung – relativ genau einzelnen Elementen
des Gezeigten zugeordnet werden. Die erfassten Effekte sind sehr unterschiedlich und
hängen u. a. von der Anweisung des Forschers ab, wann der Regler betätigt werden soll
(z. B. wenn das Gezeigte gefällt oder missfällt). In der politischen Kommunikationsfor-
schung kamen RTR-Messungen bisher vor allem bei der Analyse der Wirkung von Fern-
sehdebatten, politischen Werbespots u. a. Persuasionsmitteln zum Einsatz (Maurer et al.
2007). Weitere, allerdings wesentlich seltener eingesetzte Verfahren sind apparative Be-
obachtungen, wie Eye-Tracking-Studien (z. B. Geise & Brettschneider 2010), Messungen
der Reaktionszeit (z. B. Faas & Mayerl 2010) oder Hautwiderstands- bzw. Herzfrequenz-
messungen (z. B. Früh 2010).
Die Erforschung von Medienwirkungen auf politische Akteure im engeren Sinn (ins-
besondere auf Politiker) ist mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert. So
handelt es sich dabei um eine vergleichsweise kleine Gruppe, die zudem immer schwe-
rer für wissenschaftliche Untersuchung zu gewinnen ist. Vor allem kurzfristige Panelstu-
dien wie bei normalen Rezipienten sind kaum vorstellbar und damit auch keine unmit-
telbaren Verknüpfungen von Inhalten und Handeln. Auch Experimente werden so gut
wie nie durchgeführt. Häufig sind daher Einmalbefragungen, in denen Medieneffekte
bzw. die Wahrnehmung von Medieneffekten nicht analytisch, d. h. etwa über die Verän-
derung individueller Auskünfte oder Gruppenvergleiche, sondern mittels direkter oder
indirekter Fragen nach solchen Phänomenen untersucht werden. Dabei wird häufig eher
allgemein nach Beobachtungen von Wirkungen auf Dritte bzw. Organisationen gefragt,
denen die Befragten angehören (z. B. die eigene Fraktion, Partei etc.). Der Grund dafür
ist, dass valide Auskünfte über Medieneffekte auf die eigene Person gerade bei politi-
schen Akteuren sehr von sozialer Erwünschtheit beeinflusst sein dürften. Dennoch wer-
den quantitative und qualitative Befragungen am häufigsten verwendet. Daneben gibt
es Studien, die in Zeitreihenanalysen Medieninhalte und verschiedene Indikatoren für
politisches Handeln in Beziehung setzen, beispielsweise die Häufigkeit eines Themas in
Parlamentsdebatten oder auch die Entscheidung zur Verausgabung von Mitteln für be-
stimmte Zwecke. Die verschiedenen Methoden erbringen dabei typischerweise unter-
schiedlich starke Belege für Medieneinflüsse auf die Politik (van Aelst & Walgrave 2011).
458 Carsten Reinemann & Thomas Zerback
5 Perspektiven
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Wahrnehmungsphänomene
Christina Peter & Hans-Bernd Brosius
1 Einführung
Realität ist etwas hochgradig Subjektives: Was wir von unserer Umwelt wahrnehmen,
wird von jedem Individuum für sich selbst interpretiert und mit Bedeutung versehen.
Die Tatsache, dass wir in einem Kulturkreis über eine gemeinsame Wissensbasis verfü-
gen und über Sprache, Bild und Schrift kommunizieren können, führt aber auch dazu,
dass wir viele Dinge ähnlich wahrnehmen und uns Realität als „objektiv“ erscheint.
Dass wir, wenn wir ein Fahrrad sehen, gemeinsam den Begriff „Fahrrad“ im Kopf ge-
nerieren und an Fortbewegung denken, liegt dran, dass wir irgendwann einmal gelernt
haben, uns darauf zu verständigen, was Form und Funktion eines Fahrrades sind. Kom-
plexer wird es, wenn wir uns der Ebene von Meinungen und Einstellungen – also Begrif-
fen mit indirektem empirischen Bezug – nähern. Gerade im sozialen Miteinander ist es
von entscheidender Bedeutung, Meinungen in der Gesellschaft bzw. in unserer sozialen
Umgebung einschätzen zu können. Elisabeth Noelle-Neumann nutzt in diesem Zusam-
menhang die Metapher eines „quasi-statistischen Wahrnehmungssinns“ des Menschen
(Noelle-Neumann 1991), der es uns ermöglichen soll, Mehr- und Minderheitenmeinun-
gen in der Öffentlichkeit relativ genau einzuschätzen – eine notwendige Voraussetzung
für ihre Theorie der Schweigespirale (vgl. Abschnitt 4.4).
stehung und den Folgen solcher Prozesse beschäftigt sich Noelle-Neumann ausführlich
in der Theorie der Schweigespirale (vgl. Abschnitt 4.4).
Pluralistische Ignoranz ist damit nicht im eigentlichen Sinn ein Wahrnehmungsphä-
nomen, sondern das Ergebnis von Wahrnnehmungsverzerrungen – sie kann dement-
sprechend durch einen False-Consensus-Effekt, eine Third-Person-Wahrnehmung oder
das Hostile-Media-Phänomen zustande kommen (vgl. Huck 2009; Gunther & Chia
2001).
Der False-Consensus-Effekt beschreibt die Tendenz, die eigene Meinung als gängig und
weit verbreitet, dagegen alternative Vorstellungen als ungewöhnlich und selten einzu-
stufen (vgl. Ross et al. 1977, S. 280). Menschen halten also ihre Meinung für gesellschaft-
lichen „Konsens“, unabhängig davon, wie diese Meinung tatsächlich in der Bevölkerung
verteilt ist. Ähnlich konzipiert es der sog. Looking-Glass-Effekt: Er besagt, dass Indivi-
duen ihre eigene Meinung quasi als „Lupe“ oder „Fernglas“ benutzen, um auf die Mei-
nung der Gesellschaft zu schauen (Taylor 1982). Letztlich bedeutet dies auch hier, dass
von der eigenen Meinung auf die Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung geschlossen
wird, unabhängig von der tatsächlichen Meinungsverteilung.
Der Begriff des Looking-Glass-Effekt (häufig auch als Projektion bezeichnet) wird
in der Literatur oftmals synonym zum False-Consensus-Effekt verwendet (vgl. Huck
2009). Zwar beschreiben beide theoretisch das gleiche Phänomen, allerdings ergeben
sich aus der methodischen Umsetzung zum Nachweis dieser Verzerrungen kleinere Un-
terschiede: In den meisten Studien zum False-Consensus-Effekt werden Personengrup-
pen mit unterschiedlichen Ansichten hinsichtlich ihrer Einschätzung zur Verbreitungs-
häufigkeit der eigenen Meinung verglichen. Dementsprechend handelt es sich um einen
relativen Effekt, der besagt, dass Individuen die eigene Meinung als weiter verbreitet
wahrnehmen als Personen, die anderer Meinung sind – nicht aber, dass sie ihre eigene
Meinung auch tatsächlich für die Mehrheitsmeinung halten. Der Looking-Glass-Effekt
hingegen beschreibt genau das, nämlich die Annahme, dass die eigene Meinung der ge-
sellschaftlichen Mehrheitsmeinung entspricht (vgl. Wojcieszak & Price 2009).
Der False-Consensus-Effekt hat in einer Vielzahl von Studien seit den 1970er-Jahren
Bestätigung erfahren; Uneinigkeit herrscht allerdings über die Auslöser für dessen Auf-
treten. Marks und Miller (1987) führen in ihrer Meta-Analyse vier mögliche Gründe
für die Entstehung dieses Phänomens an, die an unterschiedlichen Stellen im Informa-
tionsverarbeitungsprozess ansetzen. Zunächst gehen sie davon aus, dass wir uns mit
ähnlichen Personen umgeben, die dementsprechend auch ähnliche Ansichten vertre-
ten; diese Überrepräsentation der eigenen Meinung in der eigenen „Peer-Group“ wird
fälschlicherweise auf die gesellschaftliche Meinung übertragen („selective exposure to
466 Christina Peter & Hans-Bernd Brosius
similar others“). Des Weiteren tendieren Individuen dazu, durch die kognitive Reprä-
sentation der eigenen Meinung damit harmonisierende Ansichten auch stärker wahr-
zunehmen („salience and focus of attention“) bzw. durch die Übertragung der eigenen
Meinung ihren Selbstwert zu stärken („motivation“). Eine weitere Begründung für das
Auftreten des False-Consensus-Effekts kann ein fundamentaler Attributionsfehler sein
(vgl. Abschnitt 2.3), wonach Personen ihr eigenes Verhalten durch situative Umstände
begründen und dann davon ausgehen, dass diese situativen Umtände andere in einer
ähnlichen Art und Weise betreffen („logic information processing“).
Darüber hinaus wurden in der bisherigen Forschung zum False-Consensus-Effekt
mehrere individuelle Variablen identifiziert, die das Auftreten des Effekts begünstigen
oder abschwächen können, wie etwa die Stärke der eigenen Meinung und die Themen-
wichtigkeit (vgl. Wojcieszak & Price 2009).
Obwohl der False-Consensus-Effekt als relativ gut bestätigt gilt, gibt es auch ein ge-
genteiliges Wahrnehmungsphänomen, das als False-Uniqueness-Effekt bezeichnet wird.
Hintergrund ist eine Abgrenzung des Individuums von der Meinung anderer, die dazu
führt, dass die eigenen Ansichten (im Vergleich zu Personen mit anderer Meinung) als
relativ einzigartig und selten wahrgenommen werden (vgl. Mullen et al. 1992; Chambers
2008). Hier kann man jeweils Motive annehmen, die mit umgekehrtem Vorzeichen mit
denen des False-Consensus-Effekts korrespondieren.
beiden Personen zu Verfügung stehen (der Beobachter weiß nicht, wie sich der Akteur
in ähnlichen Situationen bisher verhalten hat oder wie er sich gerade fühlt). Zum ande-
ren können solche Fehlattributionen motivationalen Charakter haben, z. B. Aufrecht-
erhaltung des Selbstwerts (Meyer & Försterling 2001). Einige Studien konnten zeigen,
dass der fundamentale Attributionsfehler in westlichen Kulturen stärker auftritt und da-
mit offenbar auch kulturabhängig ist (vgl. Morris & Peng 1994; Norenzayan et al. 2002).
Der Confirmation Bias (auch „Bestätigungsfehler“) beschreibt die Tendenz, dass Indi-
viduen Informationen suchen, interpretieren oder erinnern, die ihre Meinung zu einem
bestimmten Thema bestätigen. Dieses Phänomen wurde ursprünglich im Zusammen-
hang mit Hypothesentests untersucht: Studien konnten zeigen, dass Personen grund-
sätzlich versuchen, eine bestehende Hypothese zu bestätigen, aber nicht, sie zu falsifi-
zieren (vgl. Wason 1960; Oswald und Grosjean 2004). Damit ist der Confirmation Bias
eine Verzerrung, der auch viele Forscher bei der Konzeption von Forschungsdesigns
unterliegen, z. B. durch Weglassen von Kontrollgruppen (vgl. Friedrich 1993). In Bezug
auf Massenmedien findet das Konzept Eingang im so genannten „Selective-Exposure-
Ansatz“, der ebenfalls davon ausgeht, dass Individuen zu ihrer Einstellung konforme
Informationen suchen und dissonante Informationen meiden. Auch hier gibt es drei
unterschiedliche Selektionsstufen: Selektive Suche nach Informationen („selective expo-
sure“), selektive Wahrnehmung bzw. Interpretation von Informationen („selective per-
ception“) und selektive Erinnerung konsonanter Informationen („selective retention“)
(vgl. Klapper 1960). Als Grundlage für den Selective-Exposure-Ansatz dient wiederum
die Theorie der kognitiven Dissonanz (Festinger 1957), derzufolge Menschen nach inne-
rer Konsistenz streben und deshalb dissonante Informationen meiden. Diese Strategie
liegt vermutlich auch dem Confirmation Bias zugrunde.
Durch einen Confirmation Bias kann folglich auch ein False-Consensus-Effekt her-
vorgerufen werden: Personen, die verstärkt einstellungskonsonante Informationen su-
chen bzw. erinnern oder Informationen im Sinne ihrer Einstellung interpretieren, schät-
zen diese vermutlich auch als weiter verbreitet ein als sie tatsächlich ist (vgl. Abschnitt 2.2).
Mal sechs Richtige haben werden. Dagegen wird die Wahrscheinlichkeit von Krankhei-
ten unterschätzt, z. B. das Risiko eines Herzinfarktes bei Rauchern. Eng damit verknüpft
ist das Konzept „Illusion of Control“, nach dem Personen dazu tendieren, ihre Kontrolle
über externe Ereignisse höher einzuschätzen als sie tatsächlich ist (vgl. Thompson 1999).
Meist ist die optimistische Selbstwahrnehmung mit einer pessimistischen Fremd-
wahrnehmung gekoppelt (vgl. Third-Person-Effekt, Abschnitt 3.2), so dass man davon
ausgeht, dass negative Konsequenzen eher andere treffen als einen selbst. So konnten
Studien zeigen, dass Raucher das Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken, für andere Rau-
cher höher einschätzen als für sich persönlich (vgl. Weinstein 1998; Arnett 2000).
In empirischen Studien wird der Optimistic Bias häufig auf zwei unterschiedliche
Arten gemessen: In den meisten Untersuchungen werden Versuchspersonen nach der
Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses für sie selbst im Vergleich zu Dritten ge-
fragt (vgl. Weinstein 1998; Arnett 2000). Daneben gibt es Studien, die die Einschät-
zung der Versuchspersonen (zusätzlich) mit offiziellen Statistiken vergleichen; solche
Untersuchungen konnten dabei nicht durchgängig einen Optimistic Bias nachweisen
(vgl. Gerrad & Luus 1995; Rothman et al. 1996).
Der Großteil der Forschung zum Optimistic Bias bezieht sich auf Fehleinschätzun-
gen in Bezug auf gesundheitliche Risiken; auf diesem Gebiet gilt das Wahrnehmungs-
phänomen als relativ robust (vgl. Abschnitt 4.2). Dunning und Kollegen (2004) konnten
in ihrer Metaanalyse allerdings zeigen, dass dies auch für andere Bereiche wie die Selbst-
einschätzung von beruflichen Fähigkeiten oder das Abschneiden bei Klausuren für Stu-
dierende gilt (vgl. auch Shepperd et al. 1996; Armor & Taylor 2002).
2.6 Positive-Negative-Asymmetry
1991). Aber auch auf journalistischer Seite spielt dieses Phänomen – speziell die Über-
betonung negativer Informationen – eine Rolle: So konnten bereits Galtung und Ruge
(1965) Negativismus als einen Nachrichtenfaktor für die Auswahl von Ereignissen für
die Berichterstattung identifizieren: Konflikt, Kontroverse, Aggression, Zerstörung oder
Tod sind demnach Aspekte, die ein Ereignis berichtenswert machen (vgl. Galtung &
Ruge 1965). Die zunehmende Boulevardisierung von Nachrichten unterstützt diesen Ne-
gativ-Bias der Medienberichterstattung, der aber auch in thematischen Bereichen wie
Politikberichterstattung stark vorhanden ist (vgl. Maurer & Reinemann 2003). Robin-
son (1976) wirft dem Fernsehen im Rahmen seiner Videomalaise-Hypothese sogar vor,
durch negative politische Berichterstattung Politikverdrossenheit in der Bevölkerung zu
fördern (vgl. auch Wolling 1999). Eine solche Überbetonung negativer Ereignisse in den
Nachrichten kann wiederum den Negativity Bias in der Wahrnehmung des Rezipienten
verstärken. Vermutlich ist die Asymmetrie anthropologisch bedingt: Den Tiger im Wald
mussten Menschen in allen Epochen auf jeden Fall wahr- und wichtig nehmen, die Or-
chidee dagegen ist schön anzusehen, aber nicht überlebenswichtig.
3 Medienspezifische Wahrnehmungsphänomene
Das Hostile-Media-Phänomen (auch „hostile media effect“ oder „hostile media percep-
tion“; vgl. Gunther 1992) besagt, dass Personen mit einer bestimmten Meinung zu ei-
nem Thema die Medienberichterstattung als dazu konträr, also feindlich, wahrnehmen
(Gunther & Liebhart 2006). Dabei ist nicht die Tatsache entscheidend, ob die Bericht-
erstattung eine tatsächliche Verzerrung aufweist, sondern dass Rezipienten eine ‚feindli-
che‘ Verzerrung wahrnehmen. Damit steht diese Art der Wahrnehmungsverzerrung im
Gegensatz zum Confirmation Bias (vgl. Abschnitt 2.4). Das Phänomen konnte erstmals
von Vallone et al. (1985) nachgewiesen werden: Diese zeigten Studierenden, die entwe-
der pro-israelische oder pro-arabische Ansichten vertraten, einen Bericht zum Beirut-
Massaker von 1982. Obwohl beide Gruppen den gleichen Filmausschnitt sahen, nahmen
beide Lager die Berichterstattung in die jeweils andere Richtung verzerrt wahr und äu-
ßerten die Sorge, dass ein neutraler Zuschauer durch den Bericht auf die jeweils andere
Seite gezogen werden könnte.
Weitere Studien konnten zeigen, dass dieser Effekt zwar themen- und mediums-
unabhängig zu sein scheint, allerdings stärker bei hoch-involvierten Personen mit deut-
lich ausgeprägten Meinungen auftritt (vgl. Schmitt et al. 2004; Hansen & Kim 2011).
Bei niedriger involvierten Personen konnte nur ein relatives Hostile-Media-Phänomen
nachgewiesen werden, nach dem Versuchspersonen die Berichterstattung zwar nicht
zwangsläufig in die andere Richtung verzerrt wahrnehmen, aber trotzdem diskrepant
zu ihrer eigenen Meinung und damit auch unterschiedlich zu Personen mit gegenteili-
470 Christina Peter & Hans-Bernd Brosius
gen Ansichten (vgl. Gunther & Chia 2001). Damit steht das relative Hostile-Media-Phä-
nomen im Einklang mit dem False-Uniqueness-Konzept (Abschnitt 2.2, vgl. Gunther &
Christen 2002).
Weitere Faktoren, die die Stärke des Phänomens moderieren können, sind die einem
Medium zugeschriebene Qualität und Glaubwürdigkeit (vgl. Dohle & Hartmann 2008;
Arpan & Raney 2003). Dohle und Hartmann (2008) stellen außerdem einen Zusam-
menhang zwischen Hostile-Media-Phänomen und Third-Person-Effekt her: Personen,
die massenmediale Inhalte als ihrer Meinung entgegengesetzt wahrnehmen, schätzen
auch den (negativen) Einfluss dieser Inhalte auf andere als hoch (bzw. höher als auf ei-
nen selbst) ein (Dohle & Hartmann 2008, S. 26).
Für das Auftreten eines Hostile-Media-Phänomens werden in der Literatur drei zen-
trale Ursachen genannt: (1) konträre Argumente werden stärker wahrgenommen und
erinnert („selective recall“); (2) diesselben Medieninhalte werden von unterschiedlichen
Anhängern als jeweils die andere Meinung stützend interpretiert („selective categori-
zation“); (3) Anhänger der jeweiligen Seiten empfinden ihre Meinung als die „richtige“
und nehmen demenstprechend ausgeglichene Berichterstattung als in die andere Rich-
tung verzerrt wahr („different standards“) (für einen Überblick siehe Huck 2009; Han-
sen & Kim 2011). Dass dies zum Teil der Dissonanztheorie widerspricht, konnte schon
Donsbach (1991) nachweisen. Offenbar wird Dissonanz außer Kraft gesetzt, wenn An-
hänger einer Position mit negativen Informationen über diese konfrontiert werden.
3.2 Third-Person-Effect
dere. Zweitens ist es nicht von Bedeutung, ob dem vermuteten Einfluss positive oder
negative Konsequenzen unterstellt werden (der Third-Person-Effekt tritt nur bei un-
erwünschten Medienwirkungen auf; vgl. Abschnitt 3.2). Drittens werden hier auch wei-
tere Konsequenzen dieses vermuteten Einflusses integriert, wie etwa die Anpassung der
eigenen Meinung bzw. des eigenen Verhaltens (Huck 2009). Damit ist die Presumed-In-
fluence-Hypothese breiter angelegt als der Third-Person-Effekt: „In fact, the third-per-
son effect is just a special case of this broader general model“ (Gunther & Storey 2003,
S. 201). Auch hier ist nicht von Bedeutung, ob Dritte tatsächlich von Massemedien be-
einflusst werden bzw. die Einschätzung dieses Einflusses korrekt ist; entscheidend ist,
dass eine Person einen Einfluss auf andere wahrnimmt und entsprechend ihr Handeln
daran ausrichtet. Eine Mutter, die glaubt, dass gewalthaltige Cartoons einen negativen
Einfluss auf ihr Kind haben, wird sie diesem verbieten – unabhängig davon, ob die Car-
toons das Kind tatächlich beinflussen (vgl. Gunther & Storey 2003, S. 200).
Die Idee, dass Personen von massenmedialen Inhalten indirekt beeinflusst werden,
indem sie sich an anderen, direkt von diesen Inhalten beeinflussten Personen orientie-
ren, entwickelten bereits Kepplinger und Roth (1978) in ihrer Studie zur vermeintlichen
Ölkrise von 1973 / 74. Dort konnte gezeigt werden, dass es zunächst keine Ölknappheit
gab, dass aber die Berichterstattung über die vermeintliche Knappheit dazu führte, dass
Menschen begannen, Öl früher und verstärkt einzukaufen, als dies sonst der Fall war –
aus Angst, im kommenden Winter im Kalten zu sitzen. Durch diese unerwartet hohe
Nachfrage trat dann tatsächliche eine Verknappung ein.
Gunther und Storey (2003) beschreiben verschiedene Stufen für das Zustande-
kommen eines solchen indirekten Einflusses: Menschen wenden sich Medieninhalten
zu und machen sich ein Bild von deren Aussage und Bedeutung; des Weiteren gehen
sie davon aus, dass diese Medieninhalte repräsentativ für andere ihrer Art sind (Extra-
polationseffekt), eine große Reichweite haben und damit die Meinungen Anderer beein-
flussen. Auf Basis dieses vermuteten Einflusses erfolgt eine Einschätzung des Meinungs-
klimas, an dem sich Menschen dann orientieren (vgl. auch Gunther 1998).
Der Bereich Politische Kommunikation spielt in Bezug auf die meisten Wahrnehmungs-
phänomene eine große Rolle, da einige der diskutierten Phänomene im Rahmen von
Studien in dieser Domäne erstmals „entdeckt“ wurden. So konnten z. B. Lazarsfeld und
Kollegen in ihrer Studie „The People’s Choice“ (1944) zur Wahlentscheidung von US-
Bürgern erstmals das Phänomen „Selective Exposure“ nachweisen, das auf dem Confir-
mation Bias gründet (vgl. Abschnitt 2.4). Die Autoren konnten unter anderem zeigen,
dass Wähler vorzugsweise Wahlkampagnen der ohnehin von ihnen präferierten Partei
rezipierten und damit Massenmedien hauptsächlich zur Meinungsverstärkung nutzten.
Dieser Ansatz, der davon ausgeht, dass Massenmedien die Einstellung der Menschen
nicht ändern, sondern lediglich verstärken können, markiert unter anderem die Hypo-
these der „schwachen Medienwirkungen“ (vgl. auch Klapper 1960).
Auch die Theorie der Schweigespirale entstand im Bereich der politischen Kommu-
nikation (vgl. Abschnitt 4.4): Noelle-Neumann versuchte, eine Erklärung für den bei
den Bundestagswahlen 1965 und 1972 beobachteten „last-minute swing“ zu finden. Da-
mals lagen die beiden großen Parteien CDU / CSU und SPD bis zuletzt in repräsentati-
ven Bevölkerungsumfragen bei der Frage nach der persönlichen Wahlabsicht Kopf an
Kopf, während sich die erfragte Siegeserwartung immer deutlicher zugunsten der SPD
verschob. Noelle-Neumann erklärte dieses Phänomen damit, dass die Medienbericht-
erstattung die SPD begünstigte und den Rezipienten dadurch einen Wahlsieg dieser
Partei suggerierte, weshalb CDU / CSU-Anhänger ihre Parteipräferenz weitgehend ver-
schwiegen (vgl. Noelle-Neumann 1980). Die auf dieser Beobachtung entwickelte Theorie
der Schweigespirale hat in der Kommunikationswissenschaft große Bedeutung erlangt,
aber auch viel Kritik erfahren (weiterführend siehe Abschnitt 4.4). Wahrnehmungsphä-
nomene, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, sind dementsprechend der
False-Consensus- (für die vermeintliche Mehrheit) bzw. False-Uniqueness-Effekt (für
die vermeintliche Minderheit), woraus schließlich pluralistische Ignoranz entsteht (vgl.
Abschnitt 2).
4.2 Gesundheitskommunikation
des Programms auf die Mitarbeiter und erwarteten dementsprechend bessere Beratung
(weiterführend vgl. Abschnitt 3.3).
Im Zusammenhang mit der Einschätzung von Gesundheitsrisiken spielt der in Ab-
schnitt 2.5 vorgestellte Optimistic Bias eine wichtige Rolle. Forschung zu diesem Wahr-
nehmungsphänomen konnte mehrfach zeigen, dass Personen die Wahrscheinlichkeit
von Gesundheitsrisiken auf sich selbst niedriger einschätzen als auf Dritte (vgl. Dunning
et al. 2004; Armor & Taylor 2002). Gerade in diesem Kontext ist die Fehleinschätzung
besonders problematisch, da sie dazu führen kann, dass Personen wichtige Vorsorge-
untersuchungen nicht wahrnehmen (Weinstein 1987) und problematische Verhaltens-
weisen (z. B. Rauchen) aufrechterhalten. Clarke et al. (2000) konnten in diesem Zusam-
menhang zeigen, dass Frauen und Männer bei verschiedenen Risikoeinschätzungen zur
Krebserkrankung einen Optimistic Bias zeigten und dementsprechend das Risiko, an
Krebs zu erkranken, für andere höher einschätzten als für sich selbst.
Das Wissen um solche Fehlwahrnehmungen in Bezug auf gesundheitliche Risiken
kann helfen, Gesundheitskampagnen gezielter auf bestimmte Zielgruppen zuzuschnei-
den und damit ihre Effektivität zu erhöhen (vgl. Rossmann 2010).
menwichtigkeit eingestuft wird (vgl. Abschnitt 3.1). Eine empirische Überprüfung zeigte,
dass die genannten Wahrnehmungsphänomene bei Rezipienten tatsächlich in unter-
schiedlicher Ausprägung auftreten und von weiteren Faktoren – wie z. B. spezifischer
Mediennutzung, Gesprächsverhalten und Orientierungsbedürfnis – moderiert werden.
Letztentlich konnten die Autoren zeigen, dass sich der klassische Agenda-Setting-Effekt
auf Makroebene nur begrenzt auf der Individualebene wiederfindet (vgl. Huck 2009).
4.4 Schweigespirale
Eine Theorie, die im Wesentlichen auf einer Wahrnehmungsverzerrung beruht, ist die
Theorie der Schweigespirale von Noelle-Neumann (1980). Voraussetzung für einen Spi-
ralprozess ist dabei die so genannte Isolationsfurcht, welcher der Mensch als soziales
Wesen unterliegt. Um soziale Isolation zu vermeiden, beobachten Menschen ihre Um-
welt, um festzustellen, welche Meinung gesellschaftlich akzeptiert ist („quasi-statisti-
scher Sinn“). Als Quelle der Umweltbeobachtung dienen zum einen Erfahrungen im
sozialen Umfeld und zum anderen die Medienberichterstattung. Allerdings kann die
von den Medien berichtete öffentliche Meinung und die Meinung in der eigenen Peer-
Group von der tatsächlichen Bevölkerungsmeinung abweichen – dadurch kann plura-
listische Ignoranz (vgl. Abschnitt 2.1) entstehen, nämlich dass Menschen die Mehr- und
Minderheitsmeinung in der Öffentlichkeit falsch einschätzen. Da nach der Theorie der
Schweispirale nun Personen, die ihre Meinung (vermeintlich) als Minderheitsmeinung
wahrnehmen, diese aus Isolationsfurcht verschweigen, kann es zu einem Spiralprozess
kommen, in dessen Verlauf ein Meinungslager immer schwächer wird. Solche Spiral-
prozesse können vor allem dann auftreten, wenn es sich um ein wertegeladenes Thema
handelt, das noch im Fluss ist und zu dem die Medien konsonant, kumulativ und öf-
fentlichkeitswirksam berichten (vgl. Scherer et al. 2006). Dies kann im Extremfall dazu
führen, dass sich Anhänger einer Minderheitsmeinung, die von den Medien unterstützt
wird, vermeintlich in der Mehrheit sehen und dementsprechend stärker darüber spre-
chen, so dass diese Meinung im weiteren Verlauf zur tatsächlichen Mehrheitsmeinung
wird. Hier greift also das Wahrnehmungsphänomen Looking-Glass-Perception bzw.
False-Consensus-Effekt (vgl Abschnitt 2.2). Zusätzlich dazu kann eine Hostile-Media-
Wahrnehmung (vgl. Abschnitt 3.1) solche Spiralprozesse unterstützen: „wenn Menschen
vermuten, die Medien stützen den Gegner, verringert sich vermutlich ihre Redebereit-
schaft“ (Roessing 2011, S. 92). Zuletzt findet sich auch ein Bezug zum Third-Person-Ef-
fekt (vgl Abschnitt 3.2), den bereits Mutz (1989) nachweisen konnte: Personen, die die
Medienberichterstattung dissonant zur ihrer eigenen Meinung wahrnehmen und dieser
einen starken Einfluss auf andere unterstellen, sind auch weniger bereit ihre Meinung zu
äußern, was wiederum eine Schweigespirale auslösen kann.
476 Christina Peter & Hans-Bernd Brosius
5 Fazit
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480 Christina Peter & Hans-Bernd Brosius
Abstract Es gibt drei verbreitete Begriffe von öffentlicher Meinung: (1) Öffentliche Meinung als Ergeb-
nis von Meinungsumfragen, (2) öffentliche Meinung als rationaler, gemeinwohlbezogener Diskurs und
(3) öffentliche Meinung als soziale Kontrolle. Lediglich das dritte Konzept weist direkte Bezüge zur Me-
dienwirkungsforschung auf. Die maßgeblich von Elisabeth Noelle-Neumann entwickelte Theorie der öf-
fentlichen Meinung weist den Massenmedien vier Funktionen zu: (1) Massenmedien sind eine Quelle
der Meinungsklimawahrnehmung. (2) Massenmedien setzen die Themenagenda für Publikum und Po-
litik. (3) Massenmedien verleihen Standpunkten Öffentlichkeit, machen eine Auffassung populär – oder
unmöglich. (4) Massenmedien liefern Argumente für die interpersonale Kommunikation der Bürger. Ge-
schieht das einseitig, wird ein Standpunkt bevorzugt. Es gibt nur wenige Studien, die durch Kombina-
tion von Medieninhaltsanalyse und Befragung empirisch prüfen, inwieweit die Medien die genannten
Funktionen erfüllen. Bislang kaum erforscht ist der Einfluss unterhaltender Medieninhalte auf die öffent-
liche Meinung. Online-Medien führen zu neuen Herausforderungen für die Forschung.
1 Definitionen
Der Begriff der öffentlichen Meinung ist umstritten. Niklas Luhmann vermutete 1974,
öffentliche Meinung sei „heute ein Begriff, dessen Gegenstand fraglich geworden – viel-
leicht gar nicht vorhanden ist.“ (Luhmann 1974, S. 28). Bei näherer Betrachtung der in
der Literatur diskutierten Definitionen zeigt sich, dass insgesamt drei Verständniswei-
sen von öffentlicher Meinung vorherrschen: (1) öffentliche Meinung als Gesamtheit der
Ergebnisse von Meinungsumfragen, (2) öffentliche Meinung als gemeinwohlbezoge-
ner Diskurs einer informierten Elite und (3) öffentliche Meinung als soziale Kontrolle
(vgl. Hennis 1968, S. 36 – 48; Roessing 2009, S. 48). Harwood Childs diskutiert in seinem
Buch „Public Opinion: Nature, Formation, and Role“ (1965, S. 14 – 25) etwa 40 Definitio-
nen von öffentlicher Meinung. Dabei kategorisiert er die Definitionen je nachdem, auf
welchen Aspekt der öffentlichen Meinung sie sich beziehen. Das sind beispielsweise die
Qualität der Meinungen oder die Eigenschaften ihrer Träger oder der Prozesscharakter.
Genaues Unterscheiden zwischen verschiedenen Auffassungen von öffentlicher Mei-
nung ist wichtig, weil die unterschiedlichen als öffentliche Meinung bezeichneten Sach-
verhalte in unterschiedlichem Ausmaß mit Medienwirkungen zu tun haben.
Bis Anfang der 1970er-Jahre hießen die Jahrbücher des Allensbacher Instituts für Demo-
skopie „Jahrbuch der öffentlichen Meinung“. Die inhaltliche Spannweite der berichteten
Umfrageergebnisse reicht von Abendessen bis Zwölftonmusik (Institut für Demoskopie
1974: 605 – 666). Auch unter den von Childs untersuchten Definitionen sind einige, die
sich ausschließlich auf Befragungsergebnisse konzentrieren, beispielsweise „Public opi-
nion consists of people’s reactions to definitely worded statements and questions under
interview conditions.“ (Warner 1939, S. 377)
Werden unter öffentlicher Meinung bloße Umfrageergebnisse verstanden, existiert
kein direkter Bezug zu Medienwirkungen. Weite Teile der Medienwirkungsforschung
beschäftigen sich allerdings mit Einflüssen der Massenmedien, die zumindest auch
durch Umfrageforschung gemessen werden. Dazu gehören die Forschungstraditionen
des Agenda Setting-Ansatzes oder die Kultivierungsanalyse (vgl. Schenk 2007, Bul-
kow & Schweiger sowie Rossmann in diesem Band) und die sowohl für die Umfragefor-
schung als auch für die Medienwirkungsforschung besonders relevante Wahlforschung
(vgl. z. B. Kepplinger & Maurer 2005).
Öffentliche Meinung als gemeinwohlorientierter Diskurs ist ein zentrales Thema des
Soziologen Jürgen Habermas, speziell seiner Habilitationsschrift Strukturwandel der Öf-
fentlichkeit aus dem Jahr 1962: „‚Public opinion‘ heißt es jetzt; sie bildet sich in öffentlicher
Diskussion, nachdem das Publikum durch Erziehung und Mitteilung instand gesetzt ist,
eine begründete Meinung zu fassen “ (Habermas 1990, S. 132). Informelle, nicht-öffent-
liche Meinungen hingegen bildeten sich nach Habermas „weder rational, nämlich in be-
wußter Auseinandersetzung mit erkennbaren Sachverhalten (…) noch bilden sie sich
diskutant, nämlich im Für und Wider eines öffentlich geführten Gesprächs“ (S. 325).
Auch andere Autoren, speziell aus den Bereichen der Staats- und Rechtswissenschaft
und der Geschichtswissenschaft, vertreten ähnliche Auffassungen. Harwood Childs
klassifiziert entsprechende Definitionen als solche, die sich auf diejenigen konzentrie-
ren, die Träger und Gestalter der öffentlichen Meinung sind; beispielsweise: „Public opi-
nion may be said to be, that sentiment on any given subject which is entertained by the
best informed, most intelligent, and most moral persons in the community“ (Mackin-
non 1828, S. 15). Zusätzlich verlangt dieser Begriff von öffentlicher Meinung Rationalität
(‚bewußte Auseinandersetzung mit erkennbaren Sachverhalten‘, vgl. auch Berelson 1952,
S. 324). Schließlich deutet das Wort öffentlich in diesem Verständnis öffentlicher Mei-
nung auf den Gemeinwohlbezug der öffentlichen Meinung hin: „Der Zusammenhang,
aus dem [die öffentliche Meinung] begriffen werden muß, ist das politische Gemeinwe-
sen, das Zusammenleben der Menschen in politischen Ordnungen.“ (Hennis 1968, S. 38)
Öffentliche Meinung 483
Ein drittes Konzept von öffentlicher Meinung, das in der Literatur häufig anzutreffen ist,
fasst öffentliche Meinung als sozialpsychologische Kontrollinstanz auf. Elisabeth Noel-
le-Neumann entwickelte das sozialpsychologische Konzept öffentlicher Meinung seit
den späten 1960er-Jahren und baute es zu einer expliziten Medienwirkungstheorie aus
(Noelle-Neumann 2001). Obwohl die Theorie in ihrem Kern zur Sozialpsychologie ge-
hört und auch auf Gesellschaften angewandt werden kann, in denen es keine Massen-
medien gab, zählt sie heute zu den Ansätzen der Medienwirkungsforschung (vgl. z. B.
Schenk 2007, S. 526 – 577). Die Verwendung des Begriffs ‚öffentliche Meinung‘ für soziale
Kontrolle im weitesten Sinne ist freilich älter und findet sich in der Literatur auch in an-
deren Zusammenhängen als Sozialpsychologie und Medienwirkung (vgl. z. B. Hennis
1968, S. 38).
Noelle-Neumann definiert öffentliche Meinung folgendermaßen: „Unter öffentlicher
Meinung versteht man wertgeladene, insbesondere moralisch aufgeladene Meinungen
und Verhaltensweisen, die man – wo es sich um festgewordene Übereinstimmung han-
delt, zum Beispiel Sitte, Dogma – öffentlich zeigen muß, wenn man sich nicht isolieren
will; oder bei im Wandel begriffenem ‚flüssigen‘ (…) Zustand öffentlich zeigen kann,
ohne sich zu isolieren.“ (Noelle-Neumann 1996, S. 343 – 344).
Öffentlichkeit bedeutet in diesem sozialpsychologischen Konzept der öffentlichen
Meinung Sichtbarkeit vor aller Augen, eine gesellschaftliche Kontrollinstanz für das Ver-
halten des Einzelnen.
Die Theorie Noelle-Neumanns – meist als Theorie der Schweigespirale bezeichnet,
obwohl die Schweigespirale nur ein Teil des Gesamtkonzeptes ist – lässt sich in 13 Kern-
thesen zerlegen. Die zehnte These befasst sich explizit mit der Rolle der Massenmedien
für die öffentliche Meinung (nach Noelle-Neumann & Petersen 2004, S. 349 – 350):
Die sozialpsychologische Theorie der öffentlichen Meinung beruht auf fünf Elementen
und aus deren Zusammenwirken abgeleiteten Aussagen über die Entwicklung von Mei-
nungen in einer Gesellschaft.
2.1.1 Voraussetzungen
Prozesse der öffentlichen Meinung entwickeln sich nicht zu jedem Thema. Fünf Vor-
aussetzungen müssen erfüllt sein, damit sich eine Schweigespirale entwickeln kann (vgl.
Noelle-Neumann 1996, S. 366 – 368; Donsbach & Stevenson 1986, S. 13 – 14)
• Kontroverse. Eine Schweigespirale entwickelt sich nicht aus einem Konsens heraus.
Es müssen mehrere (oft zwei) unvereinbare Meinungslager existieren.
• Aktualität. Ein Thema der öffentlichen Meinung muss ein akuter gesellschaftlicher
Konflikt sein, etwas, das die Menschen bewegt.
• Dynamik. Öffentliche Meinung entfaltet ihre Macht vor allem dann, wenn sich die
Meinungsverteilungen im Fluss befinden. Es gibt allerdings Schweigespiralen, die
sehr langsam – und auch von geringer Aktualität geprägt – ablaufen, in der Bun-
desrepublik Deutschland beispielsweise zum Thema Todesstrafe (Noelle-Neumann
1973, S. 43 – 44).
• Einfluss der Massenmedien. In modernen Gesellschaften ist es sehr unwahrscheinlich,
dass sich eine Schweigespirale entwickelt, ohne dass die Massenmedien sich für die
eine oder andere Seite einsetzen.
• Moralische Ladung, emotionales Potenzial (Noelle-Neumann 2001, S. 337; Roessing
2009, S. 80). Die Isolationsdrohung der Gesellschaft gegen das Individuum, das sei-
nerseits die soziale Isolation fürchtet, wirkt nur in Bereichen, die emotional aufgela-
den sind. Derjenige, der auf der Seite der Verlierer steht, erscheint in den Augen der
Öffentlichkeit als schlechter Mensch.
Lediglich das emotionale Potenzial ist eine unabdingbare Voraussetzung für einen so-
zialpsychologischen Prozess öffentlicher Meinung (Roessing 2009, S. 77 – 80). Für em-
pirische Untersuchungen der öffentlichen Meinung ist es unbedingt erforderlich, das
Vorliegen dieser Voraussetzung empirisch mit zu erfassen (und nicht nur zu vermuten).
Anderenfalls kann ein positiver Test die Theorie nicht stützen und ein negatives Er-
gebnis sie nicht falsifizieren, weil unbekannt bleibt, ob die Voraussetzungen erfüllt wa-
ren (vgl. Roessing 2009, S. 86 – 96). Ein wichtige Voraussetzung für empirische Studien
ist, dass die Massenmedien nicht unberücksichtigt bleiben dürfen, weil sie heutzutage
nahezu alle Menschen erreichen und beeinflussen können.
Öffentliche Meinung 487
„Der Mensch ist furchtsam und vorsichtig“ (Noelle-Neumann 2001, S. 107), den meis-
ten ist das ‚soziale Band‘ (vgl. Scheff 1994), das sie mit anderen verbindet, sehr kostbar.
Kaum jemand ist „so unbeugsam und so unempfindlich, als daß er die fortgesetzte Miß-
billigung und Geringschätzung von seiten seiner eigenen Gesellschaft ertragen könnte“
(Locke 1968 / 1690, S. 448). Noelle-Neumanns Theorie setzt die soziale Natur des Men-
schen voraus, es handelt sich nicht um eine Hypothese, die empirisch zu testen wäre. Al-
lerdings verweist Noelle-Neumann auf die Konformitätsstudien Solomon Aschs (1965)
und die international vergleichende Peinlichkeitsforschung Michael Hallemanns, die
nahelegen, dass es das Streben nach sozialer Integration wirklich gibt, wenn auch in Ab-
hängigkeit von sozialen und kulturellen Umständen unterschiedlich stark ausgeprägt
(vgl. Noelle-Neumann 2001, S. 60 – 62; Hallemann 1986; Scheff 1994; Lamp 2009). Es gibt
auch, wenngleich wenige, Menschen, die dem Konformitätsdruck nicht nachgeben. Der
sogenannte harte Kern passt seine Meinung nicht dem Meinungsdruck oder dem Stand-
punkt der Massenmedien an. Avantgardisten hingegen haben die Möglichkeit – spezi-
ell, wenn sie Zugang zu den Medien haben – eine herrschende öffentliche Meinung ins
Wanken zu bringen (Noelle-Neumann 2001, S. 200 – 205; 246 – 249).
2.1.3 Umweltwahrnehmung
Die soziale Natur treibt die Menschen dazu, sich ständig über die Meinungsverteilungen
in ihrer Umgebung zu orientieren, denn wer auf der Seite der Verlierer steht, gefährdet
die Stabilität des sozialen Bandes, riskiert, dass sich Mitmenschen von ihm abwenden.
Die Umweltwahrnehmung hat zwei Quellen. Die erste ist die direkte Beobachtung ver-
baler und nonverbaler Meinungsäußerungen und -bekenntnisse in der Öffentlichkeit.
Die zweite Quelle der Umweltwahrnehmung sind die Massenmedien (Noelle-Neumann
2001, S. 227).
2.1.4 Redebereitschaft
Nehmen Menschen wahr, dass sie mit ihrer Meinung zu einer Minderheit gehören oder
dem Lager angehören, das verliert, zu dem sich immer weniger Menschen öffentlich
bekennen, neigen sie dazu, ihre Meinung zurückzuhalten, um Isolation zu vermeiden.
Das passiert nicht schlagartig, sondern in einem dynamischen Prozess, der sich über
Wochen, Monate und auch Jahre hinziehen kann. Zudem zeigen zwar die allermeisten
Menschen Isolationsfurcht, neigen aber – in Abhängigkeit von kulturellen und sozio-
demographischen Gegebenheiten – unterschiedlich stark zum Schweigen als Reaktion
auf Isolationsgefahr (Noelle-Neumann 2001, S. 44 – 49). Als ‚Reden‘ im Sinne der Theo-
rie der öffentlichen Meinung gilt dabei nicht nur das gesprochene Wort. Auch das Tra-
gen von Abzeichen, das Anbringen von Aufklebern am eigenen Automobil, Mode und
488 Thomas Roessing
Die latente, also den Beteiligten nicht unmittelbar bewusste, Funktion von öffentlicher
Meinung als sozialer Kontrolle ist die Integration der Gesellschaft. Ernsthafte Konflikte
werden durch Schweigespiralen für die eine oder andere Seite entschieden und Kon-
sensbrecher zum Schweigen gebracht. Diese Funktion ist vermutlich der Grund da-
für, dass die öffentliche Meinung besonders scharf wirkt, wenn eine Gesellschaft be-
droht ist, zum Beispiel in Zeiten von Revolution und Umsturz (Noelle-Neumann 2001,
S. 192 – 199; 108).
Massenmedien informieren Menschen über das Geschehen außerhalb des eigenen Er-
fahrungsbereichs. Das gilt auch für das Meinungsklima, also die Wahrnehmung, wel-
che Meinungen vorherrschend oder im Aufstieg begriffen und welche in der Minderheit
sind, an Boden verlieren. Die Medien informieren die Bürger darüber, welche Meinun-
gen und Verhaltensweisen man unbehelligt öffentlich äußern kann und welche mit dem
Risiko sozialer Isolation verbunden sind. Berichte über Umfrageergebnisse spielen hin-
gegen allenfalls eine untergeordnete Rolle beim massenmedial vermittelten Meinungs-
klima (Donsbach 1984), journalistische Stilmittel wie Fallbeispiele (kurze Statements
von Bürgern) haben eine stärkere Wirkung auf die Meinungsklimawahrnehmung als
Statistiken (Brosius 1995; Daschmann 2001). Sowohl in der Theorie als auch in der empi-
rischen Forschung unterrepräsentiert ist die Rolle unterhaltender Medieninhalte für die
Meinungsklimawahrnehmung (vgl. Roessing 2009, S. 241 – 244), obwohl die Forschung
sich in verwandten Bereichen, wie der Integration der Gesellschaft durch Medien, die-
ses Themas bereits angenommen hat (vgl. Vlasic 2004).
Noelle-Neumann vermutete vor allem wegen des sogenannten doppelten Meinungs-
klimas eine Wirkung der Massenmedien auf die Meinungsklimawahrnehmung. Dieses
Phänomen wurde während des Wahlkampfes 1976 beobachtet. Damals entwickelte sich
das wahrgenommene Meinungsklima bei Befragten, die häufig politische Fernsehsen-
dungen sahen, deutlich stärker zugunsten von SPD und FDP als bei Menschen, die sol-
che Sendungen seltener rezipierten (vgl. Noelle-Neumann 1980). Insgesamt sind empiri-
sche Studien zur Rolle der Massenmedien für öffentliche Meinung als soziale Kontrolle
relativ selten, das gilt auch für den Bereich der Meinungsklimawahrnehmung (Roessing
2009, S. 207 – 246). Das liegt vermutlich daran, dass die für Kausalschlüsse erforderli-
che Kombination von Zeitreihendaten aus Inhaltsanalyse und Befragung aufwendig und
teuer ist. Eine der wenigen derartigen Analysen hat Helmut Scherer 1990 vorgelegt. Er
verglich Inhaltsanalysedaten zur Berichterstattung der vier Qualitätszeitungen (FR, SZ,
FAZ, Welt) mit einer Panelbefragung, die auch Informationen über die Nutzung dieser
Zeitungen enthielt. Scherer fand tatsächlich Hinweise auf eine Wirkung der Tageszei-
tung auf die Meinungsklimaeinschätzung ihrer Leser.
Erst in Ansätzen vorhanden sind Forschungsarbeiten zu der Frage, wie der Wan-
del der Medienlandschaft, speziell die Entwicklung des Internet, die Rolle der Massen-
medien für die Meinungsklimawahrnehmung verändert. Vermutet wird eine stärkere
Rolle der Selektion von Inhalten durch die Nutzer und in der Folge eine Fragmentierung
der Öffentlichkeit, die zu Prozessen öffentlicher Meinung führen könnten, die auf Teil-
öffentlichkeiten begrenzt sind (näher dazu unten, Abschnitt 3).
490 Thomas Roessing
2.2.3 Thematisierung
Diese Funktion der Massenmedien ist identisch mit der allgemeinen Agenda Setting-
Funktion moderner Medien (vgl. den Beitrag von Bulkow & Schweiger in diesem Band).
Sie prägen die Vorstellung der Menschen von den wichtigen Themen der Zeit. Es ist un-
wahrscheinlich, dass ein Thema ohne ein Mindestmaß an Berichterstattung durch die
Massenmedien zu einem Thema der öffentlichen Meinung wird.
Das Verleihen von Öffentlichkeit durch Medien ist mit der Thematisierungsfunktion
eng verwandt, hat aber über das neutrale Setzen einer Themenagenda hinaus eine in-
haltliche, wertende Komponente: „Verhalten, dem ohne Prangeratmosphäre Öffentlich-
keit verliehen wird, das wird ‚salonfähig‘“ (Noelle-Neumann 2001, S. 226). Die Medien
wirken so auf die Vorstellung der Menschen ein, welches Verhalten, welche Meinung ak-
zeptabel und welche Verhaltensweisen und Meinungsäußerungen andererseits inakzep-
tabel und mit Isolationsdrohung verbunden sind.
Eine besondere Stellung unter den Medien im Prozess der öffentlichen Meinung neh-
men seit Ende der 1990er-Jahre Online-Medien ein. Das gilt sowohl für normative Theo-
rien der öffentlichen Meinung (siehe oben), als auch für sozialpsychologische Ansätze.
Wirkungen der Online-Medien können sich dabei auf die tradionelle öffentliche Mei-
nung außerhalb des Internet erstrecken, Phänomene der öffentlichen Meinung können
sich aber auch innerhalb der Online-Kommunikation herausbilden. Im ersten Fall ver-
ändert das Internet möglicherweise das Informationsverhalten und die politische Parti-
Öffentliche Meinung 491
zipation der Bevölkerung. Eine über mehrere Jahre hinweg angelegte Panelstudie von
Emmer, Vowe und Wolling (2011) fand Belege für eine derartige Wirkung der Online-
Kommunikation, wenngleich es sich bislang keineswegs um eine revolutionäre Umwäl-
zung des Mediensystems und der politischen Kommunikation handelt.
Im Unterschied zu traditionellen Massenmedien erfordert und ermöglicht Online-
Kommunikation Aktivität des Rezipienten. Er muss die Inhalte aktiv aufsuchen und
hat selbst die Möglichkeit Internetinhalte zu gestalten und beispielsweise an Diskussio-
nen teilzunehmen (Niedermaier 2008). Aus der Sicht gemeinwohlorientierter Theorien
der öffentlichen Meinung eröffnet das Internet die Möglichkeit, einige bislang uner-
füllte Normen Wirklichkeit werden zu lassen. So gab es die Erwartung, dass einer brei-
ten Bevölkerung nun freier Zugang zu Diskursen ermöglicht werde, der bislang durch
die Beschränkungen der traditionellen Massenmedien begrenzt war (Gerhards & Schä-
fer 2009, S. 145). Versteht man öffentliche Meinung als soziale Kontrolle, stellt sich ei-
nerseits die Frage, inwieweit die Vielfalt der online verfügbaren Inhalte die Wahrneh-
mung des Meinungsklimas verändert (Fragmentierung der Öffentlichkeit). Andererseits
ist noch unklar, ob öffentliche Meinung in Online-Gemeinschaften, auf Diskussions-
plattformen, oder bei der gemeinsamen Arbeit zahlreicher, oft anonymer ‚Benutzer‘ an
Internetprojekten ähnlich oder anders funktioniert als im Leben außerhalb des Internet
(siehe Döring in diesem Band). Entsprechende Studien widmeten sich beispielsweise
Online-Diskussionsforen (Mayer-Uellner 2003), der Wikipedia-Community (Roessing
2010), Facebook (McLaughlin & Vitak 2011) oder dem Web allgemein (Schweiger &
Weihermüller 2008). Befunde deuten darauf hin, dass trotz der in Online-Gemeinschaf-
ten verbreiteten Anonymität bzw. Pseudonymität soziale Kontrolle keineswegs abwe-
send ist und sich auch auf die Redebereitschaft auswirkt (Woong Yun & Park 2011). Auf-
grund der Heterogenität der Internetkommunikation und ihres raschen Wandels sind
in diesem Bereich allerdings noch viele Forschungsfragen offen.
4 Fazit
Öffentlichkeit, machen eine Auffassung mehr oder weniger populär. Außerdem liefern
Massenmedien den Menschen Argumente für Gespräche mit anderen, wodurch sich
ihre Wirkung verstärkt. Empirische Forschung gibt es hauptsächlich zur Wirkung der
Massenmedien auf die Wahrnehmung des Meinungsklimas. Desiderata der Medienwir-
kungsforschung im Zusammenhang mit öffentlicher Meinung sind die Rolle von On-
line-Medien und Mobilkommunikation, sowie die Integration von Unterhaltungsfor-
maten in Theorie und empirische Forschung zum Prozess der öffentlichen Meinung.
Online-Medien eröffnen sowohl für das normative, diskursorientierte Konzept der öf-
fentlichen Meinung, als auch für Fragen nach sozialer Kontrolle und Isolationsfurcht
zahlreiche neue Perspektiven.
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Wissenskluftforschung
Nicole Zillien
Abstract Die These der wachsenden Wissenskluft behauptet, dass in Folge der medialen Informations-
darstellung Wissensunterschiede zwischen statushöheren und statusniedrigeren Bevölkerungsgruppen
eher ausgeweitet als abgebaut werden, da Statushöhere in größerem Ausmaß von Medieninformatio-
nen profitieren. Diese These wurde erstmals in den 1970er-Jahren vom sog. Minnesota-Team explizit
ausformuliert und seither in zahlreichen Untersuchungen empirisch geprüft, teils deutlicher Kritik un-
terzogen und in vielfacher Hinsicht theoretisch weiterentwickelt. Der vorliegende Beitrag beschreibt die
Anfänge der Wissenskluftforschung, erläutert die Grundlagen derselben, stellt systematisch die Ausdif-
ferenzierung des Ansatzes dar und skizziert abschließend den aktuellen Forschungsstand.
1 Einführung
Die Möglichkeit zur Teilnahme Aller am öffentlichen Diskurs wird als zentrales Element
moderner Demokratien angesehen. Als Voraussetzung für diese Teilnahme gilt ein an-
gemessener Wissensstand, wobei Informationen zu politischen oder wissenschaftlichen
Themen in weiten Teilen aus den Massenmedien stammen. Den Massenmedien kommt
aus dieser Perspektive eine hohe Verantwortung zu: „Sie sind in der Pflicht, Bürger in
Demokratien mit ihrer Berichterstattung zur gesellschaftlichen Teilhabe zu ermächtigen“
(Gerhards & Schäfer 2007, S. 210). Dementsprechend wird die Diffusion jedes neuen
Mediums – ob es sich um das Buch, die Zeitung, das Radio, das Fernsehen oder das In-
ternet handelt – von der Diskussion begleitet, ob diese nun die soziale Teilhabe aller Ge-
sellschaftsmitglieder erhöhe oder doch eher zur Exklusion bestimmter Bevölkerungs-
gruppen beitrage (vgl. Kümmel et al. 2004, S. 8). Letzteres, die Annahme wachsender
Ungleichheiten infolge medialer Informationsverbreitung, ist Kern der sog. Wissens-
klufthypothese. Der vorliegende Beitrag beschreibt die Anfänge der Wissenskluftfor-
schung, erläutert systematisch die Grundlagen derselben, stellt Weiterentwicklungen
des Ansatzes vor und skizziert abschließend den aktuellen Forschungsstand.
Schon eine frühe Arbeit von Hyman und Sheatsley (1947) stellt in Frage, dass ein An-
stieg medialer Information den Wissensstand aller Gesellschaftsmitglieder gleicherma-
ßen verbessere. In der Arbeit „Some Reasons Why Information Campaigns Fail“, die
auf mehreren Bevölkerungsumfragen beruht, machen die amerikanischen Meinungs-
forscher darauf aufmerksam, dass ein harter Kern chronischer „Know-Nothings“ (Hy-
man & Sheatsley 1947, S. 413) existiere, der auch durch aufwändige Informationskam-
pagnen kaum zu erreichen sei. In der Folgezeit wurde dieses Ergebnis durch weitere
Studien untermauert, wobei sich ein deutlicher Bildungseffekt herauskristallisierte: Hö-
hergebildete profitierten jeweils in größerem Ausmaß von Informationskampagnen als
Personen mit geringerer Schulbildung (vgl. Gaziano 1983, S. 450). Auf diesen Arbeiten
aufbauend bezweifelten auch der Kommunikationswissenschaftler Phillip J. Tichenor
und die Soziologen George A. Donohue und Clarice N. Olien, dass die Zunahme der
massenmedialen Berichterstattung zu einem bestimmten Thema zur Angleichung des
entsprechenden Wissens führe und somit sozialisations- und bildungsbedingte Un-
gleichheiten ausgleichen könne. Das Team aus Minnesota formulierte im Jahr 1970 in
der Ursprungsarbeit der Wissenskluftforschung „Mass Media Flow and Differential
Growth in Knowledge“ erstmals explizit die These einer wachsenden Wissenskluft, die
wohl zu den meistzitierten Sätzen der Wirkungsforschung zählt (vgl. Guggenheim &
Neuman 2011, S. 182):
„As the infusion of mass media information into a social system increases, segments of the
population with higher socioeconomic status tend to acquire this information at a faster rate
than the lower status segments, so that the gap in knowledge between these segments tends
to increase rather than decrease“ (Tichenor et al. 1970, S. 159 f.).
als für Themen mit geringer Publizität. Das Methodendesign der Studie sah vor, dass die
Teilnehmer jeweils zwei wissenschaftsbezogene Zeitungsartikel lesen und im Anschluss
die Inhalte wiedergeben. Für die Befragten (n = 600) zeigte sich, dass für Themen, die
im Vorjahr in der regionalen Presse hohe Beachtung gefunden hatten, die Korrelation
zwischen Bildungsgrad und Leseverständnis höher ausfiel: Höhergebildete konnten
demnach in größerem Ausmaß von der Verfügbarkeit der medialen Informationen pro-
fitieren, was sich konsistent zur Wissensklufthypothese verhält. Das Minnesota-Team
kommt abschließend zu dem Ergebnis, dass mit den berichteten Untersuchungen empi-
rische Evidenzen für die Gültigkeit der These einer wachsenden Wissenskluft vorlägen.
Sie halten deshalb zusammenfassend fest: „[T]he mass media seem to have a function
similar to that of other social institutions: that of reinforcing or increasing existing in-
equities“ (Tichenor et al. 1970, S. 170).
Anlass zur Kritik an der Ursprungsstudie gaben die wenig spezifizierte Formulierung
der These selbst und auch die normative Annahme, politisches und wissenschaftliches
Wissen seien von allgemeiner Relevanz (vgl. Bonfadelli 1994; Holst 2000; Horstmann
1991). Weiterhin wurde die unpräzise Definition und Operationalisierung der Kernbe-
griffe bemängelt. So ist beispielsweise die Operationalisierung des sozioökonomischen
Status zu kritisieren, da Tichenor und seine Kollegen hier kurzerhand die formale Bil-
dung als hinreichenden Indikator definierten: „For this paper, education is assumed to
be a valid indicator for socioeconomic status“ (Tichenor et al. 1970, S. 360). Auch der
eigentliche Forschungsgegenstand – das Wissen – bleibt weitgehend undefiniert. Nach
Angaben von Wirth (1997, S. 95) fehlt nicht nur in der Ursprungsstudie, sondern auch in
80 Prozent der Folgestudien jede theoretische Begründung für den verwendeten Wis-
sensindikator, obwohl beispielsweise auf Faktenwissen beruhende Klüfte jeweils gerin-
ger sind als solche, die für komplexeres Strukturwissen gemessen werden. Nach wie vor
ist die allgemeine Klage, viele Untersuchungen der wachsenden Wissenskluft seien „me-
thodisch gesehen als mangelhaft zu bezeichnen“ (Bonfadelli 2007, S. 640), ernst zu neh-
men, auch wenn diesbezüglich ein deutlicher Fortschritt stattgefunden hat und einige
aktuellere Arbeiten gerade durch ihre methodische Versiertheit auffallen (vgl. z. B. Jerit
et al. 2006; Eveland & Scheufele 2000).
Das Minnesota-Team griff jedenfalls die genannten Kritikpunkte teilweise in spä-
teren Arbeiten auf und führte beispielsweise eine Differenzierung des Wissensbegriffs
ein: Sie unterschieden ‚knowledge of ‘ als jene Kenntnisse, die unbewusst und instink-
tiv im Alltagsleben erworben werden und ‚knowledge about‘ als die Kenntnisse, die sys-
tematisch als rationales und exaktes Wissen erlernt werden (vgl. Tichenor et al. 1973,
S. 655). Das zentrale Ziel der späteren Arbeiten des Teams war es jedoch, den Einfluss
gesellschaftlicher Strukturen auf die Verteilung von Wissen herauszustellen. Im Fokus
der Untersuchungen stand stets die in Abhängigkeit von lokalen Gegebenheiten unter-
suchte Wissensverteilung zu politischen, wissenschaftlichen oder gesundheitsbezoge-
nen Themen in einer Gemeinde, wobei jeweils der formale Bildungsgrad als dominante
Determinante der Entstehung von Wissensklüften angenommen wurde. Eine erste grö-
500 Nicole Zillien
ßere Folgestudie von 1973 konnte die These der wachsenden Wissenskluft dabei nur teil-
weise belegen: Für die untersuchten konflikthaften, lokalen Themen ließen sich – an-
ders als im Falle nationaler Themen – keine Wissensklüfte feststellen (Tichenor et al.
1973, S. 65). In der Arbeit „Mass Media and the Knowledge Gap: A Hypothesis Recon-
sidered“ (Donohue et al. 1975) fasst das Minnesota-Team seine bis dahin vorliegenden,
teils widersprüchlichen Ergebnisse zur Wissenskluftforschung erstmals zusammen. Als
Quintessenz lassen sich im Sinne einer Modifikation der Ursprungsthese verschiedene
Bedingungen festhalten, die jeweils zum Abbau von Wissensklüften führen (Donohue
et al. 1975, S. 21):
Theoretische und empirische Arbeiten, die den Ansatz der Wissenskluftforschung (kri-
tisch) weiterentwickeln, weisen – neben dem sozioökonomischen Status – auf alterna-
tive Determinanten von Wissensklüften hin, diskutieren über Wissensunterschiede hin-
Wissenskluftforschung 501
aus weitere statusabhängige Klüfte und untersuchen auch andere Medien als die Zeitung.
Im Folgenden wird die theoretische und empirische Ausdifferenzierung der Wissens-
kluftforschung deshalb entlang (1) der diskutierten Determinanten, (2) der zentralen
Klüfte und (3) der untersuchten Medien im Rahmen der Wissenskluftforschung darge-
stellt.
„As the infusion of mass information into a social system increases, segments of the popula-
tion motivated to acquire that information and / or for which the information is functional
tend to acquire the information at a faster rate than those not motivated or for which it is
not functional, so that the gap in knowledge between these segments tends to increase rather
than decrease“ (Ettema & Kline 1977, S. 188).
502 Nicole Zillien
Diese Variante der Wissensklufthypothese betont, dass es eher die situationalen Aspekte
wie die Motivation und das individuelle Interesse eines Mediennutzers bzw. die in der
jeweiligen Situation wahrgenommene Funktionalität einer Information seien, die die
Informationsaufnahme bestimmten. Diese Ideen sind ansatzweise auch in den Arbei-
ten des Minnesota-Teams enthalten: Tichenor und Kollegen zeigen am Beispiel einer
Kleinstadt, in der eine große Metallfabrik aus Umweltschutzgründen geschlossen wer-
den sollte, dass die allgemeine Betroffenheit schichtübergreifend eine hohe Motivation
zur Informationsaufnahme auslöste: „Unter diesen Bedingungen, als das Thema Um-
welt und Arbeitsplätze die Gespräche in der ganzen Stadt bestimmte, war eine Wissens-
kluft zu diesem Problembereich zwischen formal gut und formal schlecht gebildeten
Gruppen in der Stadt nicht festzustellen“ (Donohue et al. 1989, S. 373). Das Minnesota-
Team interpretiert diesen Vorgang jedoch weniger als Hinweis darauf, dass die indivi-
duelle Motivation eine zentrale Determinante der Wissensaneignung sei, sondern eher
als Beleg dafür, „dass Wissensunterschiede vor allem eine Folge der Systembedingungen
und nicht einfach die Konsequenz von bildungsmäßigen Unterschieden zwischen den
Individuen sind“ (Donohue et al. 1989, S. 374). So waren Ettema und Kline die ersten,
die systematisch auf die Determinanten Motivation und Interesse aufmerksam machten
und einer transsituationalen Defizitperspektive die situationale Differenzperspektive ge-
genüberstellten. Dabei nutzten sie einen konstruktivistischen Wissensbegriff. Die tradi-
tionelle These spricht Wissensklüften dann Relevanz zu, „when certain types of know-
ledge are supposed to have universal value but are not universally held“ (Gaziano &
Gaziano 2009, S. 123). Die Differenzperspektive geht hingegen davon aus, dass der indi-
viduelle Wert von Wissen in Relation zur sozialen Position konstruiert wird. In diesem
Sinne halten Ettema und Kline (1977, S. 189) fest, dass Statushöhere und Statusniedrigere
„may well see the world in somewhat different ways“.
Dervin (1980) formuliert im Rahmen ihres „Sense-Making“-Ansatzes ähnliche An-
nahmen und kommt so zu einer Fundamentalkritik der traditionellen Wissenskluftfor-
schung im Speziellen und der Kommunikationswissenschaft im Allgemeinen. Sie be-
hauptet, der jeweils verwendete Informationsbegriff müsse durch ein nutzerzentriertes
Verständnis ersetzt werden. Dervin spricht von „mythical gaps“ (S. 105), die die Wissens-
kluftforschung nur deshalb konstatieren könne, da sie Informationsdefizite vor einem
Standard messe, der für die als defizitär klassifizierten Mediennutzer im Lebensalltag
keine Gültigkeit habe. Ähnlich wie Ettema und Kline hebt sie jedenfalls die individu-
elle Motivation als Determinante der medialen Wissensaneignung hervor. Zu kritisieren
am Denkgebäude der Differenztheorie ist aus demokratietheoretischer Perspektive je-
doch, dass es keinen Maßstab zur qualitativen Unterscheidung verschiedener Wissens-
inhalte mehr gibt, „da der gesellschaftlichen Hierarchie der Wissensformen, ablesbar
an den unterschiedlichen sozialen Belohnungen in Form von Aufstiegsmöglichkeiten
oder Meinungsführerschaft“ (Saxer 1988, S. 173) jede Gültigkeit abgesprochen wird. So
kann unter dieser Prämisse „[d]ie stärkere Bindung der Unterschichtangehörigen an das
Fernsehen und sein Unterhaltungsangebot und selbst der Rezeptionsmodus des Ober-
Wissenskluftforschung 503
„As the infusion of mass information into a social system increases, segments of the popu-
lation motivated to acquire that information and / or for which the information is functional
tend to acquire the information at a faster rate than those not motivated or for which it is
not functional, so that the gap in knowledge between high and low SES groups will decrease
among those who are motivated or for whom the information is functional; the gap between
SES groups will increase among those who are not motivated or for whom the information is
not functional“ (Kwak 1999, S. 389).
„Thus, we posit a ‚communication effects gap‘ hypothesis that is limited neither to any par-
ticular mass medium nor just to knowledge effects. Perhaps it need not even be limited to
socioeconomic status: alternative variables might be literacy; racial, ethnic, or religious mi-
nority membership; rural-urban residence; and subsistence / commercial farming (although
there is probably an overlap of each of these variables with socioeconomic status)“ (Shingi &
Mody 1976, S. 173 f.).
Diese Ausweitung der These auf weitere Determinanten, Klüfte und somit gesellschaftli-
che Kontexte erschwert einerseits deren theoretische Abgrenzung und empirische Über-
prüfbarkeit. Andererseits kann die Offenheit für neue Fragestellungen, die mehr oder
weniger stringent dem Denkmuster der Wissensklufthypothese folgen, die Aktivitäten
in einem Forschungsfeld befeuern, wie es aktuell die Forschung zur digitalen Spaltung
bezeugt.
Die klassische Wissenskluftforschung bezieht sich auf Printmedien, denen ein ‚Mit-
telklasse-Bias‘ nachgesagt wird, da sie sich in ihrer Form tendenziell an Höhergebil-
dete wenden, Selektionsfähigkeiten, Vorwissen und Fertigkeiten im Umgang mit Texten
voraussetzen und Informationen stärker in der Tiefe darstellen können. Dem Medium
Fernsehen wird hingegen „eher eine ‚Spotlight‘-Funktion zugeschrieben, die keine tie-
fer gehende Informationsvermittlung ermöglicht“ (Jäckel 2011, S. 335). Gleichzeitig wird
davon ausgegangen, dass Statusniedriegere eher einen Zugang zum diesem Medium ha-
ben: „If there is a bias to television news, it is a lower-class bias“ (Eveland & Scheufele
2000, S. 220).
Shingi und Mody (1976) zeigten in einem Feldexperiment, inwiefern ein auf indi-
sche Farmer abgestimmtes Fernsehprogramm, das leicht verständlich, vereinfacht und
geprägt durch mehrfache Wiederholung der Inhalte landwirtschaftliche Informationen
vermittelte, Wissensunterschiede zwischen Besser- und Schlechtergebildeten aufheben
506 Nicole Zillien
konnte. Dies führten sie u. a. auf den sog. Deckeneffekt zurück, der allgemein besagt,
dass bestimmte Themen eine inhärente Obergrenze der Wissensvermehrung aufwei-
sen (vgl. Ettema & Kline 1977, S. 197 f.). Ein solches Kriterium führt notwendigerweise
im Zeitverlauf zu einer Einebnung anfänglich bestehender Klüfte: Wenn – wie im be-
schriebenen Feldexperiment – Statushöhere bereits über das in den Medien vermittelte
Wissen verfügen, holen Statusniedrigere durch ihre Mediennutzung auf, wodurch die
Wissenskluft schrumpft. Shingi und Mody (1976) setzten bewusst diesen Effekt ein, so
dass die formal schlechter gebildeten Farmer von der Informationskampagne profitier-
ten, und so die existierenden Ungleichheiten reduziert wurden. Den Erfolg ihrer Kom-
munikationsstrategie erklärten sie weiterhin durch die Aufbereitung der Informationen
in einer einfachen und verständlichen Sprache sowie durch die Vermittlung der Inhalte
im Medium Fernsehen, das schon Tichenor und Kollegen als potentiellen „knowledge
leveler“ (Tichenor et al. 1970, S. 176) bezeichnet hatten. Auch Neuman (1976) widmete
sich der Frage, inwiefern das Fernsehen ein „knowledge equalizer“ (Viswanath & Finne-
gan 1996, S. 200) sei, und führten mehrere Gründe an, die für diese These sprechen (vgl.
Neuman 1976, S. 11 ff.): So korreliere die Fernsehnutzung beispielsweise anders als die
Zeitungslektüre nur wenig mit dem Bildungsgrad und sehe zudem weniger Selektions-
möglichkeiten vor: „Thus, the less politically oriented individual who would perhaps
skip most of the more abstract national and international news stories in a newspaper,
cannot skip over them in the same sense when they are presented in a newscast“ (S. 116).
Neuman kommt in seiner empirischen Untersuchung des Lerneffekts von Fernsehnach-
richten im Frühjahr 1971 zu dem Ergebnis, dass in einem Zeitfenster von drei Stunden
nach der Ausstrahlung die befragten Fernsehnutzer (n = 232) aus der Gegend von San
Francisco im Durchschnitt noch eine von zwanzig Meldungen frei wiedergeben könn-
ten und sich – nach einer Aufzählung des Interviewers – an etwa die Hälfte erinnerten.
Da hierbei kaum Unterschiede zwischen den Bildungsgruppen auftraten, deutet Neu-
man dieses recht ernüchternde Ergebnis im Sinne einer die Wissenskluft reduzierenden
Funktion des Fernsehens: „In comparing the college professor and his construction-
worker counterpart, it may be not only that they are equally likely to turn on the news
but that they remember the same amount of what they see“ (S. 122). In einer neueren
Studie kann auch Kwak (1999) am Beispiel der amerikanischen Präsidentschaftskam-
pagne von 1992 zeigen, dass die Nutzung der Fernsehnachrichten bildungsabhängige
Wissensklüfte signifikant reduziert (Kwak 1999, S. 399 f.), was weitere Studien untermau-
ern (vgl. Eveland & Scheufele 2000, S. 228; Jerit et al. 2006). Eveland und Scheufele
(2000, S. 228) sprechen von einer wachsenden Evidenz dafür, dass Fernsehnutzung dazu
beitragen könnte, Wissensklüfte einzuebnen.
Eine gegenläufige Tendenz lässt sich für das Internet festhalten, dessen effiziente Nut-
zung noch vorrausetzungsreicher ist als die Printmediennutzung (vgl. van Deursen &
van Dijk 2010). Neben dem technologischen Zugang zum Internet stellen insbesondere
die Kompetenzen im Umgang mit demselben eine hohe Anforderung an die Nutzer dar.
Auch weil die Gatekeeperfunktion der Journalisten im Internet teilweise wegfällt, wach-
Wissenskluftforschung 507
„In Analogie zu den theoretischen Positionen der Wissenskluftforschung geht die Forschung
zur digitalen Spaltung von der generellen Annahme aus, dass die Verbreitung und gewinn-
bringende Verwendung der digitalen Technologien vom sozioökonomischen Status einer
Person (Mikroebene) und von der volkswirtschaftlichen Potenz eines Landes (Makroebene)
begünstigt wird und sich damit bestehende soziale und transnationale Klüfte durch die Ver-
breitung dieser Technologien eher verstärken als verringern“ (Marr & Zillien 2010, S. 257).
Rössler (2007) zeigt in einer systematischen Analyse, dass sich die Internetforschung
zwar insgesamt nur wenig an klassischen Wirkungsmodellen orientiert. Doch jenes
Zehntel der insgesamt 283 untersuchten Forschungsbeiträge, das eine theoretische An-
knüpfung sucht, rekurriert in weiten Teilen auf die Wissenskluftforschung: Über die
Hälfte dieser Arbeiten greift die „Wissenskluft-Hypothese in ihrer aktualisierten Va-
riante ‚Digital Divide‘ auf. Diese Perspektive wird häufiger eingenommen als alle ande-
ren Theorien zusammen“ (S. 98).
Ulrich Saxer (1978, S. 42) hielt im ersten deutschsprachigen Überblick zur Wissenskluft-
forschung fest, dass diese „durchaus ein medienwissenschaftliches Paradigma, d. h. ei-
nen viele Forscher fesselnden Problemlösungsansatz von erheblicher Fruchtbarkeit her-
vorbringen [könnte], falls weiterhin genügend Anstrengungen darein investiert werden“.
508 Nicole Zillien
Aktuellere Meta-Studien und Synopsen zur Wissenskluftforschung (z. B. Hwang & Jeong
2009; Kwak 1999; Gaziano 1997; Viswanath & Finnegan 1996; Bonfadelli 1994) zeigen,
dass seit Anfang der 1970er-Jahre immense Anstrengungen unternommen wurden, um
der These der wachsenden Wissenskluft theoretisch und empirisch auf die Spur zu kom-
men. Gaziano (1983), die in einer Meta-Analyse insgesamt 58 Studien zur Wissenskluft-
forschung zählte, spricht 1997 in einer aktualisierten Variante des systematischen For-
schungsüberblicks von 97 Untersuchungen (vgl. Gaziano 1997) und kommt inzwischen
auf 230 Studien, die sich der These der wachsenden Wissenskluft widmen – theoreti-
sche Abhandlungen ausgenommen (vgl. Gaziano 2010, S. 616). Ein Großteil der empi-
rischen Untersuchungen kann, wie Gaziano zusammenfasst, die These der wachsenden
Wissenskluft belegen: „Knowledge gap evidence from several decades underscores the
enduring character of knowledge inequalities and shows gaps often transcend topics
and research settings“ (Gaziano 1997, S. 253). Viswanath & Finnegan (1996) weisen in
ihrer Meta-Studie ebenfalls darauf hin, dass mit den 70 von ihnen analysierten Stu-
dien alles in allem ein konsistentes Forschungsprogramm vorliege, auch wenn Wissens-
klüfte in Abhängigkeit vom untersuchten Thema, der Komplexität des abgefragten Wis-
sens, medialer Repräsentation, Medium, individuellem Interesse, Makrostruktur und
Studiendesign aufträten. Anders als in den beschriebenen narrativen Meta-Studien un-
ternehmen Hwang und Jeong (2009) im Rahmen ihrer Meta-Studie den Versuch, aus
den vorliegenden empirischen Untersuchungen der Wissensklufthypothese mittlere Ef-
fektgrößen zu berechnen: Sie konstatieren einen positiven Zusammenhang von Bildung
und Wissensstand, können jedoch keine Veränderungen dieser Korrelation im Zeitver-
lauf (Längsschnitt) bzw. zwischen wenig und viel publizierten Themen (Querschnitt)
feststellen, weswegen sie resümieren: „[T]his meta-analytic review does not offer strong
support for the knowledge gap hypothesis“ (S. 523). Allerdings konnten sie in ihrer Stu-
die auch lediglich jene 46 Studien des Forschungsfeldes berücksichtigen, die die zu ihrer
Berechnung notwendigen statistischen Angaben machten (S. 516). Zudem ist die verwen-
dete Maßzahl umstritten (vgl. Gaziano 2010) und weiterhin generell fraglich, ob der in-
zwischen vier Jahrzehnte umfassende und als „dispers und disparat zugleich“ (Bonfadelli
2007, S. 639) umschriebene Forschungsstand auf eine einzige Zahl herunterzubrechen
ist. Entsprechende Meta-Studien zeigen jedenfalls einmal mehr, dass die Wissenskluft-
forschung nicht als geschlossene Theorie mit einheitlichem Begriffsgerüst zu verstehen
ist. Vielmehr handelt es sich um ein Forschungsparadigma, das durch die Frage nach
der stratifizierenden Wirkung von Medien geeint wird. Zudem erweist sich die Wis-
senskluftforschung auch im Hinblick auf die methodische Umsetzung als wenig festge-
legt, was hier jedoch keineswegs moniert werden soll: Das Durchführen von Quer- und
Längsschnittuntersuchungen, Befragungen und Inhaltsanalysen, Feld- und Laborexpe-
rimenten im Rahmen der Wissenskluftforschung kann auch als Methodenvielfalt ange-
sehen und entsprechend begrüßt werden.
Wissenskluftforschung 509
5 Ausblick
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Diffusionstheorie
Veronika Karnowski
Abstract Die Diffusionstheorie beschäftigt sich mit dem Prozess der Verbreitung von Innovationen
in einer Gesellschaft. Sie ist in zweierlei Hinsicht relevant für die Kommunikationswissenschaft: zum ei-
nen ist der Diffusionsprozess selbst ein maßgeblich durch massenmediale und interpersonale Kommu-
nikationskanäle angetriebener Prozess, zum anderen stehen oftmals auch Medieninnovationen selbst
im Blickpunkt von Diffusionsstudien. Medienwirkung ist die Diffusion von Innovationen dabei dahin-
gehend, dass massenmediale Kanäle den Prozess der Verbreitung einer Innovation maßgeblich mit an-
treiben. Ebenso verändern (etwa technische) Innovationen Medienprodukte und -botschaften, ihre
Verbreitung und damit auch ihre Wirkungspotenziale.
Die Diffusionstheorie konnte seit den 1940er Jahren eine Vielzahl an Faktoren herausarbeiten, die
diesen Prozess beeinflussen und ihn auf der Mikro- wie auch auf der Makroebene modellieren. Jedoch
gelingt es der Diffusionstheorie – trotz einer Vielzahl an empirischen Studien – erst in der jüngsten Ver-
gangenheit, Kernkritikpunkte sowohl an ihrer theoretischen Konzeption als auch an der methodischen
Umsetzung zu überwinden.
Die Diffusionstheorie beschäftigt sich mit dem Prozess, in dessen zeitlichem Verlauf
eine Innovation über verschiedene Kanäle an die Mitglieder eines sozialen Systems
kommuniziert wird (vgl. Rogers 2003). Verschiedene Autoren (vgl. u. a. Katz 1961; Ro-
gers 2003) bedienen sich hier einer Analogie zur bekannten, den Kommunikationspro-
zess beschreibenden, S-M-C-R-E-Formel „Who [Source] says what [Message] in which
channel [Channel] to whom [Receiver] with what effect [Effects]?“ (Lasswell 1948). Aus-
gehend von einer Quelle (Source) werden auch Innovationen (Message) über verschie-
dene Kommunikationskanäle (Channel) an die Mitglieder eines sozialen Systems (Re-
ceiver) verbreitet und führen zu verschiedenen Konsequenzen (Effects) (vgl. Rogers &
Shoemaker 1972).
Eine Innovation ist dabei alles, was in den Augen des Übernehmers als neu angese-
hen wird: „An innovation is an idea, practice, or object that is perceived as new by an in-
dividual or other unit of adoption.“ (Rogers 2003, S. 12). Damit kann die Diffusionstheo-
rie mit ihren Modellen und Erkentnisse so unterschiedliche Dinge wie die Verbreitung
eines neuen Produkts (z. B. ein neuer Föhn), die Verbreitung einer Medieninnovation
(z. B. Facebook), die Verbreitung einer Ideologie (z. B. „going green“) oder aber auch die
Verbreitung einer Nachricht (z. B. der Tod von Steve Jobs) erklären.
Aus vielen Traditionen, wie beispielsweise der Soziologie oder der Anthropologie,
stammend, fand diese Forschungsrichtung in den 1960er Jahren in der Kommunika-
tionswissenschaft eine Heimat. Dabei ist die Relevanz der Diffusionstheorie für die Kom-
munikationswissenschaft zweigeteilt. Zum einen kann anhand der Diffusionstheorie die
Verbreitung von neuen Medienprodukten oder Nachrichten in einer Gesellschaft un-
tersucht werden, zum anderen ist der Diffusionsprozess jedweder Innovation selbst ein
Kommunikationsprozess, d. h. massenmediale und interpersonale Kommunikations-
kanäle beeinflussen die Verbreitung jeder Innovation. Die Diffusion jeder Innovation ist
somit auch Medienwirkung erster oder zweiter Ordnung.
Grundsätzlich lässt sich der Prozess der Übernahme einer Innovation auf zwei Ebenen
betrachten. Zum einen auf der Mikroebene der Übernahme einer Innovation durch ein
einzelnes Individuum, zum anderen auf der Makroebene des sozialen Systems, in wel-
chem sich eine Innovation verbreitet.
ser eingesetzt werden soll, einer neuen Social Network Site und der Nutzungsmöglich-
keiten, der Umweltbewegung und ihren Konsequenzen für das alltägliche Leben, etc..
Dabei werden drei Typen oder auch Stufen von Wissen unterschieden: (1) Awareness-
Knowledge beschreibt das reine Wissen um die Existenz einer Innovation, (2) How-
to-Knowledge, welches die korrekte Anwendung einer Innovation ermöglicht und (3)
Principles-Knowledge, das Grundlagenwissen über eine Innovation darstellt (vgl. Ro-
gers 2003, S. 172 f.).
In der zweiten Phase, der Persuasion, setzt sich das einzelne Individuum mit dem Für
und Wider einer Übernahme der Innovation auseinander, d. h. es durchdenkt mögliche
Konsequenzen einer Übernahme und sucht in seinem Umfeld nach sozialer Unterstüt-
zung für die Übernahmeentscheidung (vgl. Rogers 2003, S. 174 ff.). Das Ergebnis dieser
Phase des Innovations-Entscheidungs-Prozesses ist somit eine positive oder auch nega-
tive Einstellung gegenüber der fraglichen Innovation.
Entscheidung bedeutet, dass die in der vorangegangenen Phase gebildete Einstel-
lung in konkretes Verhalten umgesetzt wird, d. h. die Innovation wird entweder über-
nommen oder abgelehnt. Man unterscheidet zwischen einer aktiven und einer passi-
ven Ablehnung. Aktive Ablehnung ist die Ablehnung der Übernahme einer Innovation
auf Basis einer sorgfältigen Einstellungsbildung dieser Innovation gegenüber. Passive
Ablehnung dahingegen tritt dann auf, wenn das Individuum nie wirklich in Erwägung
zieht, die fragliche Innovation zu übernehmen.
Die Phase der Implementierung beschreibt die tatsächliche, kontinuierliche Nutzung
der Innovation durch den Übernehmer, d. h. der Übernehmer setzt seine Übernahme-
entscheidung an dieser Stelle in eine nachhaltige, offenkundige Verhaltensänderung um
und integriert die Innovation in seine Handlungsroutinen.
In Anlehnung an die Überlegungen der Dissonanztheorien (vgl. u. a. Festinger 1976;
Klapper 1961) sucht der Übernehmer in der Phase der Bestätigung nach Informationen,
516 Veronika Karnowski
2.1.3 Eigenschaften der Innovation und ihr Einfluss auf den Diffusionsprozess
1 „Missed calls“ sind ein bekanntes Beispiel für Re-Invention. Ursprünglich wurde diese Funktion von
den Netzbetreibern eingeführt, um den Teilnehmer über einen verpassten Anruf zu informieren und
so einen (kostenpflichtigen) Rückruf hervorzurufen. Diese Funktion wurde jedoch in verschiedenen
sozialen Gruppen so umgedeutet, dass der (absichtlich) verpasste Anruf – der kostenfrei bleibt – selbst
eine Bedeutung in sich trägt und daher keinen Rückruf erfodert (Donner 2007).
518 Veronika Karnowski
2.2.1 Diffusionsverlauf
Stellt man nicht die Frage nach der Übernahme einer Innovation durch den Einzel-
nen, sondern betrachtet die Diffusion einer Neuerung in der Gesellschaft auf der Ma-
kroebene, so gelangt man in Abhängigkeit von der Zeit zur empirisch vielfach bestätig-
ten, charakteristischen S-Kurve der Diffusion. Zu Beginn des Diffusionsprozesses ist die
Steigung noch relativ gering. Der Punkt an welchem die Steigung der Kurve dann ra-
pide zunimmt, wird als kritische Masse bezeichnet. An dieser Stelle beginnen die Early
Adopter, unter welchen sich überdurchschnittlich viele Meinungsführer befinden, die
Innovation zu übernehmen und aufgrund ihrer starken sozialen Vernetzung auch zu
verbreiten (vgl. Markus 1987). Zum Ende des Diffusionsprozesses hin flacht der Verlauf
der Kurve dann langsam ab, bis auch die letzten Übernehmer die Innovation überneh-
men (siehe Abbildung 2). Der Verlauf dieser kumulierten Adoptionsrate im Zeitverlauf
stellt ein vielfach und für Innovationen aller Bereiche belegtes Phänomen dar (vgl. u. a.
Ryan 1948).
Betrachtet man diesen Verlauf auf einer nicht kumulierten Basis, d. h. die Zahl der
Übernehmer pro Zeiteinheit, so ergibt sich eine glockenförmige Kurve, welche sich ma-
thematisch durch die Normalverteilung beschreiben lässt (siehe Abbildung 3).
Diffusionstheorie 519
2.2.2 Übernehmerkategorien
Auf Basis dieser Glockenkurve lassen sich verschiedene Typen von Übernehmern in Ab-
hängigkeit von ihrem Übernahmezeitpunkt unterscheiden (vgl. Rogers 1958; 1962): In-
novatoren, Frühe Übernehmer, Frühe Mehrheit, Späte Mehrheit und Nachzügler.
Diese Abgrenzung der verschiedenen Übernehmerkategorien nach Rogers (1958;
1962) orientierte sich an der Standardabweichung des Übernahmezeitpunkts. Dabei
ist die Einteilung jedoch nicht symmetrisch. Auf der einen Seite unterscheidet Rogers
(1958; 1962) zwischen Innovatoren und frühen Übernehmern, da sich diese in wichtigen
Punkten unterscheiden. Die Gruppe der Nachzügler hingegen bildet eine weitgehend
homogene Nutzergruppe, so dass Rogers hier auf eine analoge Unterteilung zu derjeni-
gen zwischen Innovatoren und frühen Übernehmern verzichtet.
Innovatoren Die ersten Übernehmer einer Innovation werden als Innovatoren be-
zeichnet. Diese Nutzergruppe zeichnet sich insbesondere durch ihre hohe Risikobereit-
schaft aus. Eine Risikobereitschaft, welche ihnen im Allgemeinen durch ausreichende
finanzielle Ressourcen ermöglicht wird, die sie auch Fehlinvestitionen in letztlich schei-
ternde Innovationen verschmerzen lässt. Gleichzeitig benötigen diese Übernehmer ein
hohes Maß an Unsicherheitstoleranz, da zu diesem frühen Zeitpunkt der Übernahme
noch in keiner Weise feststeht, ob sich die Innovation zu einem Erfolg entwickeln wird.
Innovatoren haben im Allgemeinen eine Vielzahl an sozialen Kontakten auch über ihr
lokales Umfeld hinaus. Mit diesen oftmals geographisch weit entfernten Freunden und
Bekannten teilen sie das Interesse an und die Kenntnisse über spezifische Neuerungen,
die es ihnen ermöglicht, diese verstehen und anwenden zu können. Innovatoren sind
die bei weitem kleinste Übernehmergruppe mit einem idealtypischen Anteil von etwa
2,5 Prozent aller Übernehmer.
520 Veronika Karnowski
Frühe Übernehmer Im nächsten Schritt verbreitet sich eine Innovation auch unter
den frühen Übernehmern. Diese spielen eine entscheidende Rolle im Diffusionspro-
zess: Frühe Übernehmer sind lokal sehr gut vernetzte Meinungsführer, welche zum ei-
nen überdurchschnittlich häufig von ihrem Umfeld um Rat bezüglich der Übernahme
einer Innovation gefragt werden. Zum anderen dienen sie ihrem Umfeld auch als Vor-
bilder für den Umgang mit einer Innovation. Damit helfen frühe Übernehmer einer In-
novation dabei, die kritische Masse2 an Übernehmern zu erreichen. Auch bei den frü-
hen Übernehmern handelt es sich noch um eine vergleichsweise kleine Nutzergruppe
(13,5 Prozent).
Frühe Mehrheit Hat eine Innovation dann den Punkt der kritischen Masse überschrit-
ten, so wird sie im nächsten Schritt von einer relativ große Gruppe übernommen: der
Frühen Mehrheit. Diese Gruppe macht etwa 34 Prozent der Übernehmer aus. Mitglieder
der Frühen Mehrheit verfügen über eine Vielzahl an Sozialkontakten, sind jedoch im
Allgemeinen keine Meinungsführer. Sie agieren gemäß dem bekannten Zitat des Dich-
ters Alexander Pope (1712, S. 17): „Be not the first by whom the new are try’d, nor yet the
last to lay the old aside“.
Späte Mehrheit Für die späte Mehrheit ist die Übernahme einer Innovation oftmals
entweder eine wirtschaftliche Notwendigkeit oder Folge starken sozialen Drucks, d. h.
die sozialen Normen müssen klar für eine Innovation sprechen, bevor die späte Mehr-
heit sie übernimmt. Die späte Mehrheit betrachtet Innovationen generell skeptisch und
eher ablehnend. Mit ebenfalls etwa 34 Prozent ist diese Gruppe gleich groß wie die frühe
Mehrheit der Übernehmer.
Nachzügler Die letzte, mit etwa 16 Prozent kleine Gruppe an Übernehmern wird als
Nachzügler bezeichnet. Diese sind stark an der Vergangenheit orientiert und misstrau-
isch gegenüber Innovationen. Dieses Misstrauen begründet sich auch aus ihren be-
grenzten Ressourcen, weswegen sie größtmögliche Sicherheit bei der Übernahme ei-
ner Innovation benötigen. Nachzügler sind sozial weitgehend isoliert bzw. pflegen nur
soziale Kontakte zu anderen Nachzüglern.
Auch sind die überregionalen Kommunikationskanäle wichtiger für frühe Über-
nehmer, während regionale Kommunikationskanäle einen stärkeren Einfluss auf späte
Übernehmer haben.
2 Das ursprünglich aus der Physik stammende Prinzip der kritischen Masse wird in vielen wissenschaftli-
chen Disziplinen benutzt, um denjenigen Punkt in einem Prozess zu bezeichnen, ab welchem sich die-
ser Prozess selbsttätig fortsetzt.
Diffusionstheorie 521
Wie sich hier bereits zeigt, spielt interpersonale Kommunikation auf der Makroebene
betrachtet in der Phase der massenhaften Verbreitung der Innovation eine wichtige
Rolle. Am Punkt der kritischen Masse beginnt eine ausreichende Zahl an Meinungsfüh-
rern über eine Innovation zu kommunizieren, so dass sich deren Verbreitung signifikant
beschleunigt. D. h. die Steigung der Diffusionskurve steigt rapide an, und der Prozess
der Diffusion setzt sich selbsttätig fort (siehe auch Abbildung 2). Dieser Effekt lässt sich
auch durch den Two-Step-Flow of Mass Communication erklären, welcher besagt, dass
Informationen in einem ersten Schritt von den Massenmedien zu Meinungsführern flie-
ßen und dann in einem zweiten Schritt von diesen Meinungsführern zu den weniger ak-
tiven Mitgliedern der Bevölkerung (vgl. Lazarsfeld et al. 1944).
Die Diffusion von Nachrichten stellt einen Sonderfall in der Diffusionstheorie dar. In
diesem Fall endet der Innovations-Entscheidungs-Prozess (vgl. 2.1.1) bereits mit der
Stufe des Wissens. Die Verbreitung von Nachrichten über unvorhersehbare Ereignisse,
wie beispielsweise den Tod von Präsident Roosevelt (vgl. u. a. Miller 1945) wurde in dern
1940er bis 60er Jahren in einer Vielzahl von kommunikationswissenschaftlichen Studien
untersucht. All diese Studien konnten den hohen Stellenwert der Massenmedien als In-
formationsquelle für derartige Nachrichten zeigen.
Greenberg (1964) führte diese Einzelbefunde in einer Metaanalyse der Verbreitung
von 18 verschiedenen Nachrichtenereignissen zur J-Kurve der Nachrichtendiffusion zu-
sammen (siehe Abbildung 4). Er unterscheidet dabei drei verschiedene Nachrichten-
kategorien.
1. Nachrichten dieser Kategorie sind für die Allgemeinheit nur wenig relevant, für eine
kleine Gruppe haben Sie jedoch eine hohe Bedeutung. Dementsprechend erhalten
diese Ereignisse auch nur wenig Aufmerksamkeit in den Massenmedien. Aufgrund
ihrer hohen Bedeutung für eine kleine Gruppe von Personen, werden sie jedoch sehr
wahrscheinlich interpersonal zwischen diesen weitergegeben.
2. Diese Nachrichten sind für den Großteil der Gesellschaft von Bedeutung. Sie werden
in den Massenmedien diskutiert und die meisten Menschen erfahren auch durch die
Massenmedien von ihnen. Trtotzdem werden diese Nachrichten oftmals im Nach-
gang interpersonal diskutiert.
3. Von Nachrichten der dritten Kategorie erfährt beinahe jedes Mitglied der Gesell-
schaft in kurzer Zeit. Es handelt sich dabei um dramatische Ereignisse von hoher
Wichtigkeit und Dringlichkeit, welche auch extensive Beachtung in den Massen-
medien erfahren. Die extrem hohe Bedeutsamkeit dieser Ereignisse mobilisiert so-
522 Veronika Karnowski
Nach dieser Hochphase der Forschung zur Nachrichtendiffusion finden sich nur noch
einige wenige Studien in dieser Richtung. Selbst die Terroranschläge des 11. September,
deren Einzigartigkeit auch als Nachrichtenereignis sicherlich unbestritten ist, zogen nur
wenige Forschungen zur Nachrichtendiffusion nach sich (vgl. u. a. Emmer et al. 2002;
Rogers & Seidel 2002). Diese Studien bestätigten die extrem rasche Verbreitung derar-
tig dramatischer Ereignisse. Wichtigstes Medium dabei ist das Fernsehen. Das Internet
spielte im Jahr 2001 noch eine untergeordnete Rolle. Welche Veränderungen sich in die-
ser Hinsicht in den vergangenen zehn Jahren ergeben haben, wurde bisher kaum unter-
sucht.
Diffusionstheorie 523
Sowohl theoretisch als auch methodisch hat sich die Diffusionstheorie in den vergange-
nen Dekaden nur geringfügig weiterentwickelt, was bereits häufig kritisiert wurde. Oft-
mals finden sich Ansätze, lange bekannte Defizite dieser Forschungstradition zu bear-
beiten, erst in der jüngsten Vergangenheit.
Bereits seit den agrarsoziologischen Anfängen der Diffusionstheorie zeigt sich bei-
spielsweise ein deutlicher Innovationspositivismus der Diffusionsforschung: Eine mög-
lichst schnelle und vollständige Übernahme der Innovation wird positiv bewertet, mög-
liche negative Konsequenzen werden systematisch übersehen (vgl. u. a. Hightower 1973).
Verbunden mit dieser Sichtweise wird auch das Scheitern der Diffusion einer Innovation
üblicherweise einzelnen Akteuren angelastet. Die Rolle sozialer Randbedingungen auf
den Diffusionsprozess wird hingegen häufig übersehen (vgl. McMaster &Wastell 2005;
Melkote & Steeves 2001).
Damit einhergehend geht die Diffusionsforschung üblicherweise davon aus, dass
Lösungen zur Behebung sozialer Probleme durch Experten außerhalb des betroffenen
sozialen Systems entwickelt werden und dann von außen durch so genannte ‚change
agents‘ in das soziale System gebracht werden (vgl. Rogers 2003). Erst Singhal (2011)
stellt diese Überlegungen auf den Kopf, in dem er zeigt, dass die Unterstützung von „po-
sitive deviance“ innerhalb des jeweiligen sozialen Systems, d. h. von Verhalten, welches
nicht normkonform ist, aber zu besseren Ergebnissen führt, deutlich effektiver ist.
Ein weiterer Kritikpunkt ist der lineare Diffusionsverlauf Message → Channel → Re-
ceiver → Effects, wie er in der Diffusionsforschung modelliert wird. Dieser entstand in
Analogie zur Lasswell-Formel (Lasswell 1948) und war gut geeignet, um die heterogenen
Forschungsbefunde in diesem Feld Mitte des vergangenen Jahrhunderts zu strukturie-
ren. Allerdings festigte sich so jedoch auch eine lineare Sichtweise auf den Diffusions-
prozess. Während die Kommunikationswissenschaft in der Folge verschiedenste Theo-
rien und Modelle entwickeln konnte, die dem Rezipienten eine aktivere Rolle zuweisen
und die Nachricht als Objekt des Aushandelns zwischen Sender und Empfänger begrei-
fen (vgl. u. a. Hall 1980; Katz et al. 1974), konnte die Diffusionstheorie diesen Schritt bis-
her kaum vollziehen. Bis heute herrscht ein lineares Verständnis des Diffusionsverlaufs
vom Erfinder bis zum späten Übernehmer vor, welches auch einen statischen Innova-
tionsbegriff und eine rein passive Rolle des Übernehmers beinhaltet, der nur zwischen
Übernahme und Ablehnung wählen kann (vgl. Karnowski et al. 2006; Karnowski et al.
2011).
Diese in der Diffusionsforschung übliche Dichotomie zwischen Annahme und Ab-
lehnung stellt einen weiteren theoretischen Kritikpunkt an dieser Forschungsrichtung
dar. Zwar erlaubt erst diese Dichotomie aggregierte Betrachtungen zum Diffusions-
prozess auf der Makroebene, wie beispielsweise die S-Kurve der Diffusion, sie verstellt
524 Veronika Karnowski
jedoch auch den Blick für verschiedene Phänomene wie etwa den aktiven Anteil des
Übernehmers an diesem Prozess (vgl. Karnowski et al. 2011). Lin (1998) schlägt daher
vor, die Dichotomie zwischen Übernahme und Ablehnung um eine dritte Ausprägung
der „wahrscheinlichen Übernahme“ zu erweitern. Noch weiter gehen Untersuchungen
in der Tradition der Cultural Studies (vgl. de Certeau 1988; Hall 1980) und darauf auf-
bauend des Domestication-Ansatzes (vgl. Silverstone & Haddon 1996), welche den Pro-
zess der Institutionalisierung und Alltagsintegration von Innovationen untersuchen.
Besonderes Augenmerk richten Untersuchungen in dieser Forschungstradition dabei
auf den Prozess des Aushandelns der Bedeutungen einer Innovation. Einen Versuch
diese beiden heterogenen Forschungsrichtungen zu verknüpfen, stellt das MPA-Modell
(Wirth et al. 2008) dar. Basierend auf der Theory of Planned Behavior (Ajzen 1985) mo-
delliert es den zirkulären, durch Metakommunikation ausgehandelten Prozess der An-
eignung von Medieninnovationen.
Auch Rogers’ Vorgehensweise bei seiner Integration der vorhandenen Forschungs-
befunde im Rahmen der fünf Auflagen des Buches „Diffusion of Innovations“ steht im-
mer wieder in der Kritik. Grundlage der Systematisierung ist größtenteils die Metaana-
lyse von Rogers und Shoemaker (1972). Dabei übernehmen die Autoren, ohne Rücksicht
auf Stichproben, Effektgrößen oder die jeweiligen Operationalisierungen der einzelnen
Konstrukte (vgl. Downs & Mohr 1976), diejenigen Befunde, die von der Mehrheit der
Studien unterstützt werden. Aus Sicht des kritischen Rationalismus ist diese Vorgehens-
weise allerdings als problematisch zu betrachten. Stellt sich nämlich heraus, dass ein
Zusammenhang eben nicht für alle Innovationen zutrifft, so muss dieser Zusammen-
hang überarbeitet und / oder in seinem Geltungsbereich eingeschränkt und erneut ge-
testet werden (vgl. von Pape 2009).
Von methodischer Seite fasst Meyer (2004, S. 59) die Defizite der Diffusionstheorie sehr
treffend zusammen: Diffusionsstudien sammelten „(1) quantitative data, (2) concerning
a single innovation, (3) collected from adopters, (4) at a single point in time, (5) after
widespread diffusion had already taken place.“ Diese Vorgehensweise blendet zum ei-
nen die Prozesspersektive der Diffusion aus und ermöglicht zum anderen nur die Unter-
suchung korrelativer Zusammenhänge im Diffusionsprozess. Rogers regte daher selbst
an, zukünftig mit mehreren Querschnitsstudien im Diffusionsverlauf zu arbeiten (siehe
Abbildung 5).
Weitere Möglichkeiten diese von Meyer (2004) angesprochenen Defizite anzugehen,
stellen Untersuchungen von Archivmaterial dar, wie beispielsweise in der Studie von
Coleman (1966). Dieser hatte für seine Untersuchung zur Ausbreitung des Antibioti-
kums Tetracyclin die von den an der Studie beteiligten Ärzten ausgestellten Rezepte als
Datengrundlage benutzt.
Diffusionstheorie 525
Einen anderen Weg stellen Netzwerkanalysen dar (vgl. Valente 2005, 2006). In ih-
rer derzeit elaboriertesten Form, den dynamischen Modellen, werden die Zusammen-
hänge im Adoptionsverhalten in einem Netzwerk im Zeitverlauf modelliert (vgl. Mars-
den & Podolny 1990), wobei nicht nur die Netzwerkstruktur das Adoptionsverhalten
beeinflusst, sondern auch umgekehrt das Adoptionsverhalten die Netzwerkstruktur (vgl.
Strang & Turma 1993).
4 Fazit
ten sich vor dem Hintergrund des Medienwandels der vergangenen beiden Jahrzehnte
gewandelt haben. An konkreten Forschungsergebnissen dazu mangelt es bisher jedoch.
So konstatieren Studien aus dem Jahr 2001 zur Diffusion von Nachrichten noch den
überragenden Einfluss des Fernsehens (vgl. Emmer et al. 2002) – ob dies jedoch auch
im Jahr 2012 in dieser Form noch bestand hat, bleibt fraglich. Auch das Einflussver-
hältnis zwischen interpersonaler und massenmedialer Kommunikation im Innovations-
Entscheidungs-Prozess dürfte sich im Zeitalter der massenhaften Verbreitung sozialer
Netzwerke wie Facebook oder Google+ verschoben haben – auch hierzu liegen bisher
jedoch noch kaum empirisch gesicherte Erkenntnisse vor.
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Kommunikationswirkungen auf Journalisten
Patrick Rössler & Lena Hautzer
Abstract Die klassische Medienwirkungslogik konzipiert Effekte üblicherweise als von einem Kom-
munikator ausgehend, der via medialer Botschaften einen Einfluss auf sein Publikum ausübt. Dieses
Kapitel nimmt die umgekehrte Perspektive ein und fragt nach den Rückwirkungen von Medien und an-
derer Kommunikation auf die Kommunikatoren selbst. Das transaktionale Medienwirkungsverständnis
begreift dies als reales oder imaginäres (Para-)Feedback, das durch vielfältige Prozesse journalistischer
Koorientierung flankiert wird. So sind Journalisten selbst auch Mediennutzer und damit zumindest po-
tenziell ähnlichen Wirkungsmechanismen unterworfen wie ihr Publikum. Angesprochen werden dabei
unter anderem Aspekte des Third-Person-Effekts auf Journalisten und des Intermedia Agenda Settings.
„Journalisten sind auch Menschen !“ – Dieser Ausruf von Peter Vitouch (2009, S. 58), mit
dem er seine kommunikatorzentrierte Erläuterung des Nachrichtenwert-Ansatzes be-
titelt, erscheint vordergründig als Binsenweisheit. Auf den zweiten Blick eröffnet er je-
doch eine interessante Perspektive auf die Medienwirkungsforschung, denn aus der im
Grunde trivialen Beobachtung lässt sich die Frage ableiten, ob und in welchem Ausmaß
auch professionelle Medienschaffende selbst von Medieneffekten betroffen sind. Dieser
Zugang ähnelt anderen segmentierten Problemstellungen, die sich mit Wirkungen auf
Bevölkerungsgruppen wie beispielsweise Kinder und Jugendliche, ältere Menschen oder
Migranten befassen – seine Pointe ist freilich seine Doppelbödigkeit: Wenn Medien Ef-
fekte auf diejenigen ausüben, die substanziell an der Erstellung und Selektion von Me-
dieninhalten beteiligt sind, verweist dies auf eine spezifische, bislang in der Forschung
nur selten explizit beachtete Form der Selbstbezüglichkeit im Journalismus (vgl. z. B.
Weber 2000), die Phänomene der Selbstthematisierung und Selbstbeobachtung (Malik
2004, S. 124) einschließt (s. u.), aber hinsichtlich deren Effektpotenziale darüber hin-
1 Die Verfasser danken Bernd Blöbaum (Münster) und Thorsten Quandt (Stuttgart-Hohenheim) herzlich
für ihre hilfreichen Anmerkungen zum Manuskript dieses Beitrags.
ausgeht. Aus der systemischen Sichtweise ist diese Form der Selbstbezüglichkeit jedoch
keine Besonderheit: so wie Politiker auch wählen und Empfänger politischer Kommu-
nikation sind, Ärzte auch Patientien sein können, so können Journalisten auch von der
Leistungs- in die Publikumsrolle wechseln.
Eine Untersuchung von Kommunikationseffekten auf Journalisten liegt gerade bei
einer dynamisch-transaktionalen Modellierung auf der Hand (Früh & Wünsch 2005).
Mediennutzung ist einerseits Teil des beruflichen Alltags von Journalisten (zur Recher-
che, zur Evaluation von Themen, zur Validierung ihrer Selektionsprogramme); ande-
rerseits nutzen sie in ihren nicht-journalistischen Rollen (als Mütter / Väter, als Kon-
sumenten, als Wähler etc.) ebenfalls Medien, um sich über aktuelle Vorgänge auf dem
Laufenden zu halten. In ihrer Berufsrolle erhalten sie direktes und inhaltliches Feedback
durch Rezipienten, kommen regelmäßig in Kontakt mit medialen Vorprodukten und
anderen Quellen (wie Agenturmeldungen oder Inhalte der PR), beobachten die Bericht-
erstattung anderer Medien oder gleichen sich durch interpersonale Kommunikation mit
anderen Journalisten ab (Reinemann & Huismann 2007, S. 473 ff.). Weil Journalisten als
Individuen regelmäßig zwischen Rezipienten- und Kommunikatorrolle wechseln und
außerdem die Grenzen zwischen privater und professioneller Kommunikation fließend
sind, ergibt sich eine interessante Perspektive für die Medienwirkungsforschung.
Da sich die Kommunikationswissenschaft mit diesem Forschungsfeld zwar punktu-
ell intensiv, aber bislang kaum mit Wirkungspotenzialen in ihrer möglichen Bandbreite
befasst hat, will dieser Abschnitt einen Vorschlag zur Systematisierung von Kommu-
nikationswirkungen auf Journalisten entwickeln und die prägnantesten Wirkungs-
potenziale darstellen. Damit liegt der vorliegende Beitrag quer zu den übrigen Kapiteln
dieses Handbuchs, weil er sich mit keinem Wirkungsansatz, Paradigma oder Anwen-
dungsgebiet in der Tiefe auseinandersetzt, sondern vielmehr verschiedene Effekte auf
eine spezielle Zielgruppe2 hin beleuchtet. Dabei orientieren sich die Überlegungen an
einem Systematisierungsmodell (siehe Abbildung 1), dessen Logik auf dem dynamisch-
transaktionalen Ansatz (DTA) beruht (vgl. zsf. Früh 1991; für den Bezug zur Journalistik:
Holtz-Bacha et al. 2009). Ein Journalist steht in seiner Rezipienten- bzw. Kommunika-
torrolle (R / K1) dabei u. a. über die von ihm produzierten Inhalte in Inter-Transaktionen
mit seinem Publikum (R). Die eigentlichen Kommunikationswirkungen manifestieren
sich primär als Intra-Transaktionen innerhalb des Journalisten (R / K1) und werden im
Folgenden anhand ausgewählter klassischer Konzepte der Medienwirkungsforschung
2 Obwohl die Diskussion um den Kommunikator- und (gerade in Zeiten der Online-Medien) den Jour-
nalismusbegriff sicherlich wichtig und lohnenswert ist (vgl. z. B. Quandt 2005), kann sie innerhalb die-
ses Beitrages nicht vertieft werden; der Text verwendet die Begriffe ‚Journalist‘ und ‚Kommunikator‘ vor
diesem Hintergrund synonym. Wir legen unserer Analyse das Bild eines Journalisten zugrunde, den wir
schlicht als klassischen Redakteur und Reporter verstehen (bzw. übernehmen aus empirischen Studien
die jeweilige Journalismusdefinition der Verfasser). Unbeschadet dessen halten wir es für plausibel,
dass die in diesem Artikel beschriebenen Prozesse ähnlich für andere professionelle Kommunikatoren
(z. B. aus dem Bereich Public Relations) ablaufen können.
Kommunikationswirkungen auf Journalisten 531
E C Medien-
Quellen R/K₁ inhalt R
A
B D
Medien-
K₂ – Kn inhalt
R: Rezipientenrolle Kommunikationseffekte
K: Kommunikatorrolle weitere Effekte (hier unberücksichtigt)
verdeutlicht. Dabei üben gerade die Bezugsgruppe der anderen Journalisten (K2 – Kn) so-
wie der von ihnen produzierten Medieninhalte einen erheblichen Einfluss aus (im Mo-
dell: grau unterlegt). Hier können Kommunikationseffekte auftreten, die sich u. a. auf-
grund der allgemeinen Mediennutzung herausbilden (A), die bei der Koorientierung an
Kollegen entstehen (B) oder die durch die eigene Produktion von Medieninhalten wir-
ken (C). Diesen Kommunikationsprozessen übergeordnet sind mögliche Wirkungen auf
einer Makroebene (D) wie etwa Diffusionsprozesse im Allgemeinen oder Intermedia
Agenda Setting im Speziellen. Diese wären dann nicht mehr als Intra-Transaktion auf-
zufassen, wirken aber indirekt auf den Journalisten in seinen Rollen ein.
Neben diesem journalismusbezogenen Kommunikationsraum im engeren Sinn ent-
falten aber auch die Transaktionen mit anderen, externen Bezugsgruppen (wie z. B. die
Politik, die Wirtschaft oder das Publikum) ein Wirkungspotenzial. Dies kann auf Basis
medialer Vorprodukte und Quellen wie PR-Mitteilungen oder Blogeinträge entstehen
(E), oder auch durch Feedback- bzw. Para-Feedback-Prozesse als wechselseitige Wahr-
nehmungen oder Reaktion des Publikums auf schon bestehende Medieninhalte (F). Die
nachfolgenden Ausführungen widmen sich den einzelnen Beziehungen A bis F und fas-
sen die Wirkungsannahmen überblicksartig zusammen.3
3 Die als gestrichelte Pfeile dargestellten Beziehungen sind zum einen die klassischen Medienwirkungen
auf Rezipienten, die als Gegenstand des übrigen Handbuchs hier nicht weiter vertieft werden, und zum
anderen die Verdopplung der Inter-Transaktionen der Journalisten K2 – Kn in ihrer Kommunikatorrolle,
die analog zu (C) interpretierbar sind.
532 Patrick Rössler & Lena Hautzer
Die alltägliche Mediennutzung von Journalisten ermöglicht generell jede Art von Ef-
fekten, die auch üblicherweise in Medienwirkungsansätzen beschrieben werden. Ob-
wohl die Gruppe der Journalisten je nach Mediengattung, Alter und Tätigkeitsprofil he-
terogene Mediennutzungsmuster aufweist, unterscheidet sie sich deutlich von der der
klassischen Rezipienten. Nach Reinemann (2003, S. 142) nutzt der typische politische
Journalist die aktuelle Medienberichterstattung über 4,5 Stunden täglich. Der durch-
schnittliche Rezipient weist laut der ARD / ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation
eine Gesamtnutzungsdauer von ca. 8,5 Stunden auf, wovon jedoch nur ein eher geringer
Teil auf Information und aktuelle Medienberichterstattung entfällt (Media Perspektiven
2010, S. 68 ff.). Tageszeitungen erzielen bei Journalisten eine Reichweite von 99 Prozent,
während sie lediglich von 44 Prozent der Gesamtbevölkerung täglich gelesen werden.
Knapp die Hälfte der Journalisten rezipieren sowohl überregionale und regionale Tages-
zeitungen als auch Boulevardzeitungen, während ein solches Medienrepertoire nur auf
ein Prozent der Bevölkerung zutrifft (Reinemann 2003, S. 154, 209 f.; Media Perspekti-
ven 2010, S. 68). Auch die Reichweiten von Fernsehen und Radio sind bei der Gesamt-
bevölkerung im Vergleich zur journalistischen Zielgruppe um ca. 10 Prozent, die des
Internet um ca. 20 Prozent reduziert. Schließlich liegt gerade die Reichweite von Fach-
zeitschriften und politischen Magazinen bei Journalisten deutlich über der der Rezi-
pienten4 (ebd).
Jenseits der erheblichen Unterschiede zwischen Journalisten und anderen Rezipien-
ten bezüglich ihrer Mediennutzung können auch die empirischen Ergebnisse der Me-
dienwirkungsforschung nicht ohne weiteres auf Journalisten übertragen werden.5 Dons-
bach (2004) betont etwa in seinen Überlegungen zu psychologischen Faktoren hinter
den Nachrichtenentscheidungen auch Unterschiede in den Prädispositionen der Jour-
nalisten: Deren selektive Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Erinnerung kann situa-
tiv anders erfolgen als bei ‚normalen‘ Rezipienten. Dabei kann man unterstellen, dass
Journalisten ihre private Mediennutzung von der im professionellen Bereich nicht ab-
grenzen können, weshalb sie Medieninhalte immer auch im Rahmen von erlernten ‚pro-
fessionellen‘ Wahrnehmungsregeln betrachten (‚déformation professionelle‘). So besit-
4 Die Werte entstammen zwei unterschiedlichen Studien und sind somit nur bedingt miteinander vergleich-
bar. Reinemann (2003) befragte Journalisten explizit bezüglich der aktuellen Medienberichterstattung,
während die Befragung der ARD / ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation in dem Punkt allgemein
gehalten ist.
5 Im Zuge der Professionalisierungstendenzen im Journalismus haben auch Redakteure zunehemend ei-
nen akademischen Hintergrund aus Studiengängen der Kommunikationswissenschaft und Journalistik.
Das dort erworbene Reflexionswissen kann Medienwirkungsprozesse in dieser Zielgruppe beeinflussen,
wird im Folgenden jedoch nicht weiter vertieft.
Kommunikationswirkungen auf Journalisten 533
oder sie unter- bzw. überschätzt, kann mangels einer validen Referenzgröße nur schwer
beurteilt werden. Vor längerer Zeit vermutete beispielsweise Noelle-Neumann (1982),
Journalisten würden starke Medienwirkungen systematisch herunterspielen, um sich
aus der Verantwortung für mögliche negative Entwicklungen in der Gesellschaft zu ent-
lassen. Allerdings ist es möglich, gemäß der Logik des Third-Person-Ansatzes verglei-
chend zu ermitteln, wie hoch Journalisten die Wirkungen auf die allgemeine Bevöl-
kerung in Relation zu sich selbst bzw. anderen Bezugsgruppen einschätzen (Dohle &
Vowe 2010). Insofern bewegt man sich dabei analytisch auf einer Metaebene, da es nicht
um die tatsächlichen Wirkungen auf den Journalisten (bzw. andere Bevölkerungsgrup-
pen) geht, sondern um deren Wahrnehmung (‚perceptual component‘), aus der dann
freilich ebenfalls wieder Effekte auf das Verhalten des Kommunikators resultieren (‚be-
havioral component‘). In einer der wenigen Studien, die auch Journalisten zu Third-
Person-Effekten befragten, ermittelten Dohle und Vowe (2010) zunächst auch in dieser
Gruppe das übliche Wirkungsdifferential, wonach den Medien größere Wirkungen auf
andere zugeschrieben wird als auf die Gruppe selbst. Erstaunlicherweise unterschei-
den sich diese Wahrnehmungsmuster jedoch nur wenig von denen der Normalbürger –
die Stärke des Einflusses auf einen selbst wird insgesamt nahezu identisch eingeschätzt,
lediglich die Anfälligkeit für positive Medieneinflüsse, etwa auf das politische Wissen,
scheint (den Selbstauskünften zufolge) substanziell stärker ausgeprägt. Hinsichtlich
möglicher Verhaltenseffekte waren dagegen gerade für Journalisten die schwächsten der
ohnehin meist nur gering ausgeprägten Einflüsse zu beobachten (S. 23, 26; vergleichbar
anhand einer Stichprobe israelischer Journalisten: Tsfati & Livio 2008).
Potenzielle Wirkungen auf Journalisten basieren nicht nur auf der Rezeption der Me-
dienberichterstattung, sondern können auch aus anderer beruflicher Kommunikation
hervorgehen: der Interaktion mit und der Orientierung an ihrer eigenen Berufsgruppe.
Dieser Einfluss wird bereits in den klassischen Stufenmodellen journalistischen Han-
delns (wie etwa dem Gatekeeper-Konzept) angesprochen und als integratives Mehr-
ebenen-Modell von Reinemann und Huismann (2007) auf Basis eines strukturell-indi-
vidualistischen Ansatzes überzeugend entwickelt (vgl. S. 481, Abb. 5). Dementsprechend
belegen Kommunikatorbefragungen regelmäßig die bedeutende Rolle der Kollegen für
die eigene Berufsausübung (etwa Weischenberg et al. 2006a, S. 146 ff.). Und auch in Be-
funden aus Leitfadeninterviews erweisen sich deutsche Journalisten als die ‚besten Kun-
den‘ anderer Journalisten: „They intensively study the outputs of their competitors to
obtain ideas, proof-read their work, legitimize their decisions, search for topics and in-
formation, learn to improve their cultural capital (journalistic skills), and to define their
own position in the journalistic field“ (Meyen 2011, S. 14). Unsere Darstellung klammert
an dieser Stelle aus Platzgründen die reichhaltige Forschung zu Redaktionen und Me-
Kommunikationswirkungen auf Journalisten 535
Neben dem Einfluss von anderen Medieninhalten auf Journalisten sind die möglichen
Effekte des selbstproduzierten Medienbeitrags zu beachten. Selbst wenn die Annahme
solcher Rückwirkungen publizierter Inhalte auf den Urheber zunächst eigenartig an-
mutet, so wäre beispielsweise ein verstärkter Framing-Effekt denkbar, der nicht auf der
fremden, sondern auf der eigenen Berichterstattung beruht: Aus psychologischer Sicht
könnte eine vorherige Framing-Entscheidung eines Journalisten diesen in seiner wei-
teren Medienberichterstattung über dasselbe oder ähnliche Ereignisse prägen (vgl. hier
und im Folgenden Donsbach 2004). Analog lässt sich hinsichtlich journalistischer Se-
lektionskriterien argumentieren: Nachrichtenfaktoren und Nachrichtenwerte, an denen
sich Journalisten orientieren und die sie während der Produktion als Relevanzindikato-
ren aktiv einsetzen (z. B. Staab 1990; Maier et al. 2010), können auch auf Rezeptionspro-
zesse angewendet werden (Eilders 1997). Einerseits verändern sich Nachrichtenfaktoren
im Zeitverlauf, wie es beispielsweise die Forschung zu Schlüsselereignissen verdeutlicht.
Solche Schlüsselereignisse werden nämlich in der Medienberichterstattung verdichtet
dargestellt, in der Aufmerksamkeit des Publikums verankert und stellen somit zeitweise
ein eigenes Relevanzkriterium dar (Brosius & Eps 1993). Andererseits trägt die perma-
nente Anwendung von Selektionsmustern in der eigenen Berichterstattung zur Verfesti-
gung dieser Muster beim Journalisten bei.
Während eine Vielzahl empirischer Befunde zum Agenda Setting-Ansatz existiert (vgl.
zuletzt Maurer 2010), sind Evidenzen zum Phänomen des Intermedia Agenda Setting
deutlich dünner gesät (vgl. Weaver 2009, S. 310 ff. mit einer prägnanten Zusammenfas-
sung insbesondere der amerikanischen Befunde). Letzteres Konzept befasst sich mit den
Auswirkungen der Medienagenda innerhalb des Mediensystems, d. h. inwieweit die The-
menprioritäten eines Mediums, einer Mediengattung oder sogar eines einzelnen For-
mats in der Lage sind, die Themenprioritäten anderer Medien zu beeinflussen (Dea-
ring & Rogers 1996). Auch wenn die Perspektive hier auf die Makroebene zielt (nämlich
die Dynamiken bei der Entstehung der Medienagenda), ist der implizit zugrunde ge-
legte Wirkungsmechanismus erneut der der journalistischen Koorientierung (Jarren &
Vogel 2009), nun allerdings mit der Berichterstattung selbst als Gegenstand.
Empirische Untersuchungen zum Intermedia Agenda Setting verwenden oft die
Opinion-Leader-Metapher (s. o.) und identifizieren so genannte ‚ Meinungsführer-
medien‘ oder ‚Leitmedien‘ (Weischenberg et al. 2006a, S. 132 ff.), denen eine besondere
Resonanz in anderen Medien zugeschrieben wird. Als simple Beispiele können hier die
in der Publikumspresse rezipierten Zitate-Rankings (vgl. z. B. http: / / www.pressemoni-
tor.de / ; http: / / www.mediatenor.de / ) genannt werden, die mit etwa dem Spiegel, dem
Kommunikationswirkungen auf Journalisten 537
durch andere Medien verstanden wird, die nach Einschätzung der Journalisten sowohl
zunimmt als auch kritischer wird (Weber 2000, S. 136 ff.). Inhaltsanalysen zeigen, dass
diese Medien-Selbstberichterstattung in den überregionalen deutschen Tages- und Wo-
chenzeitungen „zwar kontinuierlich, aber zum Teil unbefriedigend“ (Choi 1999, S. 160)
stattfindet. Diese Selbstthematisierung, die als „Markt für journalistische Reputation“
(Ruppert 2004, S. 15) ebenso in Form des klassischen Feuilletons erfolgen kann wie etwa
als satirisch-parodistischer Unterhaltungsbeitrag (z. B. bei ‚switch‘ oder ‚TV total‘), lässt
sich zweifellos als unmittelbare Form einer Medienwirkung auf Kommunikatoren be-
trachten – wenn sich nämlich Journalisten explizit mit der Arbeit von Kollegen ausein-
andersetzen und dies in ihre eigene Berufsausübung integrieren. Gleichzeitig stellen sie
ein Element der journalistischen Koorientierung (s. o.) dar, das über informelle Feed-
back-Prozesse oder Erwartungen in Form des Para-Feedbacks (Früh 1991) hinausgeht.
Ein zentrales Resultat dieser parallel ablaufenden Diffusionsprozesse auf der Ma-
kroebene wird mit dem Konzept der medialen Vielfalt beschrieben, die sowohl als jour-
nalistisches Qualitätskriterium als auch als normative Zielvorgabe von Medienpoli-
tik eine erhebliche Bedeutung besitzt (vgl. ausf. Rössler 2008). Das tatsächliche oder
wahrgenommene Vielfaltsniveau zeitigt unmittelbare Rückwirkungen auf den einzel-
nen Kommunikator: Zum einen werden Themen, die im Konsensbereich der Bericht-
erstattung liegen, als ein ‚Muss‘ wahrgenommen, das selbst auch zu bearbeiten ist, um
sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, relevante Themen auszusparen und somit gegen
ein anderes journalistisches Qualitätskriterium zu verstoßen. Andererseits ist ein Mini-
mum an exklusiven Mitteilungen unerlässlich, um sich als Medium zu profilieren und
damit auch zu legitimieren. Es ergibt sich so eine fragile Balance zwischen wenigen
Kernthemen der Berichterstattung, die von vielen Medienorganen berücksichtigt wer-
den, und einem breiten Kranz von Randthemen, die nur vereinzelt aufgegriffen werden.
Auf der Mikroebene des redaktionellen Alltags ist dabei eine Reihe von mehr oder we-
niger institutionalisierten Praxen zu beobachten, die dieses Spannungsverhältnis adres-
sieren (Weischenberg et al. 2006a, S. 133) – von der systematischen Lektüre des lokalen
Konkurrenzblattes über die Diskussion von Themen der gestrigen ‚Tagesschau‘ in der
Redaktionskonferenz bis hin zu der Aufnahme von O-Tönen für den Hörfunk aus der
laufenden Live-Berichterstattung des Fernsehens (vgl. Rössler 2006).
Auf die Herstellung von Medieninhalten oder die Tätigkeit als Gatekeeper besitzen auch
externe Vorprodukte, mit denen Journalisten tagtäglich konfrontiert werden, ein erheb-
liches Wirkungspotenzial. Dazu gehören, wie schon häufiger untersucht, die PR auf den
Kommunikationswirkungen auf Journalisten 539
Feldern Wirtschaft und Politik, Agenturmaterial (Wilke 2000), aber auch User-Genera-
ted Content (z. B. Welker 2006).
Die Betrachtung der Beziehung zwischen Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit
blickt auf eine lange Forschungstradition zurück. Dabei existieren zu diesem Verhält-
nis verschiedene Ansätze (z. B. Determinationshypothese, Intereffikations-Modell, Me-
diatisierungsthese, vgl. etwa Pfetsch & Wehmeier 2002; Bentele et al. 2008) als auch
divergierende empirische Ergebnisse (Determinationsquoten zwischen 10 bis 84 Pro-
zent, Resonanzquoten zwischen 11 und 65 Prozent; Raupp & Vogelgesang 2009), die auf
variierende Einflüsse der PR auf den Journalismus hinweisen. Die aktuelle Forschung
belegt Wechselwirkungen zwischen Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit, und geht
nicht mehr von einer hauptsächlich einseitigen Determination des Journalismus durch
PR aus; es existiert eine Beziehung aufgrund gegenseitiger Nutzung und Orientierung
(Löffelholz 2004). Lediglich 17 Prozent der Journalisten räumen allerdings nach Wei-
schenberg et al. (2006a, S. 155) der Öffentlichkeitsarbeit einen eher großen oder sehr
großen Einfluss auf ihre Arbeit ein. Abhängig ist dieses Verhältnis von verschiedenen
medieninternen oder externen Einflussfaktoren wie z. B. der Struktur des Medienunter-
nehmens oder dessen begrenzten Kapazitäten, sowie von den genannten journalisti-
schen Selektionskriterien (Pfetsch & Wehmeier 2002) oder dem journalistischen Selbst-
verständnis als unabhängiger Akteur.
Diese Diskussion wird auf Makroebene gerade bei der Beziehung von Politik und
Journalismus relevant: Konzepte wie Agenda-Building oder Agenda-Surfing fragen, in-
wiefern strategische PR im Bereich der Politik Themen in den Massenmedien setzten
kann oder sich selbst an diesen orientiert (z. B. Geiss 2011). Staschen und Ohlemacher
(1999) hatten sich beispielsweise den Netzwerken (s. o.) von Hannoveraner Journalisten
in der lokalen Politik zugewandt und dabei unter Lokalredakteuren der Neuen Presse
hauptsächlich professionelle, dienstliche Kontakte und keine ‚Seilschaften‘ aufgefunden.
Als zusätzlicher Einflussfaktor tritt jüngst User-Generated Content hinzu, also Me-
dienprodukte, die von Rezipienten generiert und meist durch das Internet verbreitet
werden (wie beispielsweise Blogbeiträge, Bilder oder Videos). Erste Studien hierzu bele-
gen, dass sich Journalisten zwar mitunter durch solche Inhalte bei ihrer Themenfindung
inspirieren lassen, User-Generated Content jedoch nur ausnahmsweise zur Veröffent-
lichung geeignet ist (z. B. YouTube-Clips im Fernsehen). Generell schreiben Journalis-
ten dieser Art von Material eine eher geringe Relevanz für ihre journalistische Praxis
zu (Singer et al. 2011). Durch die vermehrte Beobachtung der Blogosphäre in ihrem
Verhältnis zum Journalismus wurde deutlich, dass Nutzer-Beiträge zunächst eine ge-
wisse Aufmerksamkeitsschwelle erreichen müssen, um für die Verarbeitung in den Mas-
senmedien relevant zu werden (z. B. Schmidt 2009). Bezüglich Recherchezwecken und
Themenfindung orientieren sich allerdings immer mehr Journalisten an der populärs-
ten Form des User-Generated Content: dem Weblog (Welker 2006; vgl. auch Quandt &
Schweiger 2008). Da sich auch die Blogosphäre hinsichtlich ihrer Themengestaltung oft
nach den Massenmedien richtet, könnte man hier von einer speziellen Form des In-
540 Patrick Rössler & Lena Hautzer
Über den potenziellen Einfluss durch User-Generated Content hinaus können durch
das Publikum andere wichtige Kommunikationseffekte auf die Produktion und Selek-
tion der Journalisten entstehen, und zwar durch die (im DTA durch das Para-Feed-
back verdeutlichten) Vorstellungen der Journalisten und Rezipienten voreinander. Diese
Wechselbeziehung ist im Prozess der Medieninhaltsproduktion von Bedeutung (wie bei-
spielweise auch bei der Zuschreibung von Prominenz; Eichhorn 2009). Dabei interes-
sierte bislang vor allem das Publikumsbild der Journalisten (Hohlfeld 2005; Scholl 2004;
Hestermann 2010). Dessen Einfluss auf die journalistische Arbeit wurde zwar in diver-
sen Studien nachgewiesen, die Stärke des Einflusses schwankt jedoch zwischen den Er-
hebungen: Weischenberg et al. (2006a) zeigten beispielsweise, dass lediglich 23 Prozent
aller Journalisten ihrem Publikum einen eher großen oder sehr großen Einfluss auf ihre
Arbeit zuschreiben, wohingegen laut einer anderen Studie aus derselben Zeit 96 Prozent
der Journalisten die Präferenzen des Publikums eher wichtig, wichtig oder sehr wich-
tig seien (Hohlfeld 2005, S. 218). Insgesamt ist seit Beginn entsprechender Erhebungen
in den 1980er Jahren der Trend festzustellen, dass das Publikumsimage der Journalisten
immer positiver und die aktive Orientierung an ihm immer stärker wird (ebd.).
Die steigende Orientierung an dieser Bezugsgruppe findet ihre Ursache auch in ei-
ner veränderten Medienumgebung, denn das Publikumsbild der Journalisten wird
zurzeit nicht mehr nur primär durch indirekte Feedback-Prozesse und die Ergebnisse
der Medienanalysen geformt, sondern zunehmend auch durch direktes Feedback z. B.
via Internet (z. B. Weischenberg et al. 2006b, S. 354)6. Dabei werden einerseits Kenn-
zahlen (wie Klicks, Bewertungen oder die Anzahl der Weiterleitungen von bestimm-
ten Medieninhalten) relevant, aber auch die zunehmend erleichterte Option eines in-
haltlichen Feedbacks. So können die Rezipienten ihre Meinungen und Anmerkungen
durch Kommentare oder selbstproduzierte Inhalte kundtun, die sich auf spezifische
Medieninhalte beziehen. Journalisten haben dadurch die Gelegenheit, sich an den Se-
6 Auch wenn in diesem Beitrag das Publikum selbst nicht ausdifferenziert wird, schiene interessant, ge-
sonderte Kommunikations- und Feedbackeffekte zu betrachten, die beispielsweise vom engeren sozia-
len Umfeld (Freunde und Familie) oder auch von professionellen Kommunikatoren und öffentlichen
Personen ausgehen.
Kommunikationswirkungen auf Journalisten 541
4 Schlussbemerkung
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Teil 6
Methoden der Medienwirkungsforschung
Grundlagen: Designs und Forschungslogik
in der Medienwirkungsforschung
Marcus Maurer
1 Einführung
2 Experimentelle Untersuchungsdesigns
Designs allerdings kaum verwendet, weil sie vergleichsweise aufwändig sind. Eine Mög-
lichkeit, die Effekte von Vorhermessungen dennoch zu reduzieren, besteht darin, Vor-
her- und Nachhermessung zeitlich weit auseinanderzulegen oder zumindest die Pro-
banden nach der Vorhermessung durch eine andere Aufgabe abzulenken. In jedem Fall
muss man jedoch davon ausgehen, dass sich die Befunde von Experimenten mit Vor-
hermessung von den Befunden von Experimenten ohne Vorhermessung unterscheiden.
Wir haben bereits deutlich gemacht, dass das Grundprinzip experimenteller Designs
darin besteht, einzelne unabhängige Variablen so zu isolieren, dass eventuelle Unter-
schiede in der abhängigen Variablen alleine auf ihre Variation zurückgeführt werden
können. Die meisten experimentellen Designs sind deshalb so genannte einfaktorielle
Designs, also Experimente, in denen nur eine unabhängige Variable (= Faktor) mani-
puliert wird. Solche Designs werden allerdings in vielen Fällen den komplexen Wech-
selbeziehungen zwischen den unabhängigen Variablen in der Realität nicht gerecht.
In mehrfaktoriellen Designs werden deshalb zwei oder mehr unabhängige Variablen
gleichzeitig manipuliert. Soll bspw. untersucht werden, welchen Einfluss Text (Faktor 1)
und Bild (Faktor 2) auf die Urteile der Rezipienten über die in Tageszeitungen darge-
stellten Personen haben, werden Zeitungsbeiträge mit allen möglichen Text-Bild-Kom-
binationen (z. B. positiver Text mit negativem Bild, negativer Text mit negativem Bild
usw.) angefertigt und unterschiedlichen Versuchsgruppen präsentiert (vgl. z. B. Mau-
rer & Reuter 2008). Dabei lassen sich zwei Arten von Effekten ermitteln: Erstens kön-
nen die Effekte von Text und Bild unabhängig voneinander untersucht und verglichen
werden (Haupteffekte). Zweitens kann untersucht werden, ob darüber hinaus ein ge-
meinsamer Effekt beim Zusammenspiel der beiden unabhängigen Variablen entsteht
(Interaktionseffekt).
Theoretisch können folglich auch in experimentellen Designs die Wirkungen meh-
rerer unabhängiger Variablen gleichzeitig untersucht werden. In der Praxis sind sol-
chen mehrfaktoriellen Designs jedoch enge Grenzen gesetzt, weil die Anzahl der er-
forderlichen Versuchsgruppen schnell so groß wird, dass kaum in ausreichender Zahl
Teilnehmer angeworben werden können. Wird bspw. im oben genannten Design eine
dritte unabhängige Variable mit zwei Ausprägungen hinzugefügt, werden bereits acht
Versuchsgruppen benötigt. Haben die unabhängigen Variablen drei statt zwei Ausprä-
gungen wären es bei zwei unabhängigen Variablen bereits neun, bei drei unabhängi-
gen Variablen schon 27 Versuchsgruppen. Eine Lösung für dieses Problem kann das so
genannte Latin-Square-Design sein, bei dem nach einem systematischen Muster nur
ein Teil der möglichen Kombinationen der unabhängigen Variablen in das Experiment
aufgenommen wird. Dies schränkt allerdings wiederum die Aussagekraft der Untersu-
chung ein und führt oft zu Problemen bei der Interpretation der Daten.
Grundlagen: Designs und Forschungslogik in der Medienwirkungsforschung 553
Wie bereits verdeutlicht, messen Experimente in der Regel kurzfristige Wirkungen ein-
zelner Stimuli unmittelbar nach der Rezeption. Dabei stellen sich zwei Fragen: Die erste
Frage ist, wie lange die gemessenen Wirkungen anhalten. Weil man davon ausgehen kann,
dass die Rezipienten die Botschaftsinhalte relativ bald wieder vergessen, kann man einer-
seits annehmen, dass klassische Experimente Medienwirkungen deutlich überschätzen
(vgl. z. B. Lodge et al. 1995). Die zweite Frage ist, ob der einmalige Kontakt mit einem Sti-
mulus ausreicht, um in nennenswertem Umfang Medienwirkungen zu verursachen. Weil
man man davon ausgehen kann, dass die Rezipienten im Alltag wiederholt mit ähnlichen
Medienbotschaften konfrontiert werden, kann man daher andererseits auch annehmen,
dass klassische Experimente Medienwirkungen deutlich unterschätzen.
Eine Möglichkeit, experimentell eine Alltagssituation mit wiederholtem Kontakt mit
ähnlichen Botschaften zu simulieren, sind so genannte sequenzielle oder prolongued
exposure-Experimente (vgl. z. B. Iyengar & Kinder 1987). Hier werden die Rezipien-
ten mehrmals, bspw. im Abstand von mehreren Tagen, mit manipulierten Medienbei-
trägen konfrontiert. Im Anschluss werden jeweils die abhängigen Variablen gemessen,
so dass erkennbar wird, ob sich Kognitionen, Emotionen und Verhalten der Rezipien-
ten im Zeitverlauf infolge der Medienbotschaften verändern. Dieses Design ist zwar
aufwändig, aber deutlich realitätsgerechter als einmalige Experimente. Allerdings ist
es auch mit Problemen verbunden: Zum einen können – ähnlich wie bei Vorhermes-
sungen – im Verlauf der wiederholten Messung Sensibilisierungseffekte auftreten. Zum
anderen muss man damit rechnen, dass die Probanden zwischen den experimentellen
Messungen im Alltag Medieninhalte oder andere Stimuli rezipieren, die in der experi-
mentellen Logik als Störfaktoren zu betrachten und nur schwer zu konrollieren sind.
Die Versuchspersonen können allenfalls gebeten werden, während des Untersuchungs-
zeitraums keine anderen Medieninformationen zu nutzen. Ob sie sich daran halten, ist
aber fraglich. Bei Verwendung sequenzieller Designs wird folglich ein Teil der Kontrolle
über das Experiment aufgegeben. Sie eignen sich deshalb vor allem für Untersuchungs-
themen, von denen man erwarten kann, dass sie durch den alltäglichen Medienkonsum
wenig beeinflusst werden.
hen und bei der Herstellung unterschiedlicher Versionen möglichst wenig zu bearbei-
ten. Untersucht man die Wirkungen von Stimulusbeiträgen, die sich in den Medien so
nicht finden, kann man kaum den Anspruch erheben, Medienwirkungen zu untersu-
chen. Zum anderen ist die Rezeptionssituation für die Versuchspersonen in der Regel
künstlich. Sie werden mehr oder weniger gezwungen, Medienbeiträge zu rezipieren, mit
denen sie unter Umständen sonst niemals in Kontakt gekommen wären (forced expo-
sure). Statt zuhause und gemeinsam mit anderen sehen sie die Beiträge außerdem wo-
möglich alleine und in ungewohnter Umgebung. Statt nebenher Gespräche zu führen
oder den Raum zu verlassen, rezipieren sie den Stimulus aufmerksamer, als sie es in ei-
ner realen Situation womöglich getan hätten. In dem Bestreben, die Kontrolle über das
Experiment zu behalten und die Prüfung von Kausalbeziehungen sicherzustellen (in-
terne Validität) wird folglich die Übertragbarkeit der Befunde auf reale Kommunika-
tionssituationen (externe Validität) geschwächt.
Eine Lösung für dieses Problem sind so genannte Feldexperimente. Feldexperimente
folgen einer experimentellen Logik, ohne umfassend in das Alltagsgeschehen einzugrei-
fen. Die Probanden nutzen Medien in ihrer gewohnten Umgebung, ohne zu wissen, dass
sie Teil eines Experiments sind. Der experimentelle Charakter entsteht mehr oder weni-
ger ausschließlich durch die Manipulation der unabhängigen Variablen. Eine Kontrolle
über die Bedingungen des Experiments ist dagegen kaum möglich. In einem bekannten
Feldexperiment (Boden et al. 1975) wurden Studierende zufällig auf zwei Versuchsgrup-
pen verteilt: Die eine erhielt ein Jahr lang ein kostenloses Abonnement einer konservati-
ven, die andere einer linken Tageszeitung. Nach einem Jahr wurden die politischen Ein-
stellungen der beiden Gruppen miteinander verglichen. Dabei wurde weder überprüft,
ob die Probanden die Zeitungen wirklich lasen, noch wurde ihre übrige Mediennutzung
in irgendeiner Form kontrolliert. Die interne Validität eines solchen Feldexperiments ist
dementsprechend gering. Seine externe Validität ist dagegen hoch, weil die Rezeptions-
situation natürlich ist. Feldexperimente stellen folglich einen Mittelweg dar zwischen
der klassischen experimentellen Forschung und der nicht experimentellen Forschung,
die wir im Folgenden diskutieren wollen.
kommen unklar, ob die Mediennutzung die Ursache oder Folge bestimmter Kognitio-
nen, Emotionen oder Verhaltensweisen ist, weil beide zum selben Zeitpunkt erhoben
werden. Werden die Befragungen zur Mediennutzung durch Medieninhaltsanalysen er-
setzt, reduziert sich das Problem zwar etwas, weil die Inhaltsanalysen in diesem Fall den
Zeitraum vor der Befragung fokussieren können. Man kann dann annehmen, dass sich
die Medieninhalte, die in den Tagen oder Wochen vor der Befragung rezipiert wurden,
in den Kognitionen, Emotionen oder Verhaltensweisen der Befragten niedergeschlagen
haben. Dennoch greifen statische Analysen auch hier zu kurz, weil sie den Prozess des
Entstehens von Medienwirkungen nicht abbilden können.
Als Längsschnittuntersuchungen bezeichnet man Untersuchungsdesigns mit min-
destens zwei Messzeitpunkten. Sie ermitteln nicht Medieneinflüsse auf Kognitionen,
Emotionen oder Verhaltensweisen, sondern Medieneinflüsse auf die Veränderungen von
Kognitionen, Emotionen oder Verhaltensweisen. Dass es sich dabei um eine substanziell
andere Analyselogik handelt, wird leicht erkennbar, wenn man anstelle von Medien-
nutzungsvariablen den Einfluss des Alters auf die Wahlabsicht betrachtet. Untersucht
man diesen Einfluss im Querschnitt, wird man einen starken Einfluss des Alters auf die
CDU / CSU-Wahl finden: Ältere Menschen wählen eher die Union als jüngere. Führt
man dieselbe Analyse im Längsschnitt durch, wird gar kein oder sogar ein umgekehr-
ter Einfluss erkennbar sein, weil ältere Menschen tendenziell eher stabilere Wahlabsich-
ten haben und ihre Wahlabsicht deshalb nicht häufiger ändern als jüngere. Man muss
folglich davon ausgehen, dass häufig ein erheblicher Unterschied besteht zwischen der
Erklärung einer abhängigen Variable und der Erklärung der Veränderung einer abhän-
gigen Variable. Weil dieser Unterschied im Hinblick auf Medienvariablen weniger offen-
sichtlich ist, werden beide Untersuchungsdesigns in der Medienwirkungsforschung zu
Unrecht nach wie vor häufig als austauschbar betrachtet.
Längsschnittanalysen können als Trend- oder Panelanalysen durchgeführt werden.
Bei Trendanalysen werden die Kognitionen, Emotionen oder Verhaltensabsichten un-
terschiedlicher Befragter an mehreren Zeitpunkten erhoben und können dann bspw. mit
der Entwicklung der Medieninhalte im selben Zeitraum verglichen werden (Zeitreihen-
analyse). Trendanalysen zeigen folglich das Ausmaß gesellschaftlicher Veränderungen
im Aggregat. Bei Panelanalysen werden die Kognitionen, Emotionen oder Verhaltens-
absichten derselben Befragten an mehreren Zeitpunkten erhoben. Panelanalysen zeigen
folglich das Ausmaß der individuellen Veränderungen bei einzelnen Rezipienten. Dabei
übersteigt das Ausmaß individueller Veränderungen das Ausmaß von Veränderungen,
die im Aggregat sichtbar werden, meist erheblich, weil individuelle Veränderungen in
der Regel in unterschiedliche Richtungen erfolgen und sich folglich im Aggregat zum
Teil aufheben. Trendanalysen unterschätzen also das Ausmaß von Veränderungen, weil
sie nur ihren Saldo ausweisen. Panelanalysen eignen sich deshalb besser als Trendanaly-
sen, um die Ursachen von Veränderungen zu ermitteln.
Allerdings werden Paneluntersuchungen häufig auch zwei bedeutsame Schwächen
attestiert. Weil ein Teil der Befragten im Verlauf einer Panelbefragung nicht mehr be-
558 Marcus Maurer
fragt werden kann und diese Ausfälle vermutlich systematisch sind, verliert die Stich-
probe zunehmend an Repräsentativität (Panelmortalität). Weil die mehrmalige Befra-
gung zudem zu einem untypischen Antwortverhalten führen kann, stellt sich zudem die
grundsätzliche Frage, ob die Antworten der Panelteilnehmer überhaupt für die Grund-
gesamtheit repräsentativ sind (Paneleffekt). Die Panelmortalität tritt vor allem zwischen
der ersten und zweiten Befragungswelle auf und schwächt sich dann deutlich ab. Sie
verstärkt folglich die durch systematische Verweigerung und Nichterreichbarkeit ver-
ursachten Stichprobenausfälle, die bei allen Befragungen auftreten. Eine Lösung die-
ses Problems kann die Rekrutierung von neuen Panelteilnehmern sein. Dennoch redu-
ziert sich freilich die Zahl derjenigen, die im gesamten Untersuchungszeitraum befragt
wurden. Der Paneleffekt ist dagegen eher ein Mythos, der bislang kaum überzeugend
nachgewiesen werden konnte. Er tritt allenfalls bei Wissensfragen auf, wenn sich einige
Befragte im Verlauf der Untersuchung über Sachverhalte informieren, die sie in der ers-
ten Befragung nicht beantworten konnten, und sollte sich weitgehend vermeiden lassen,
wenn die Befragten nicht vorab darüber informiert werden, dass sie mehrmals befragt
werden (vgl. Maurer 2004a). Wir wollen hier dennoch nicht argumentieren, dass in-
divduelle Panelanalysen aggregierten Trendanalysen in der Medienwirkungsforschung
grundsätzlich überlegen sind. Wir werden die Unterschiede beider Untersuchungs-
designs im folgenden Abschnitt noch detaillierter diskutieren und begründen, unter
welchen Bedingungen welches Design angemessen erscheint.
Phänomen, das man als das Paradox der Medienwirkungsforschung bezeichnen kann
(vgl. Maurer 2004b). Es erklärt sich vermutlich dadurch, dass den beiden Untersu-
chungsdesigns implizit ein ganz unterschiedliches Verständnis von Medienwirkungen
zugrundeliegt: In Aggregatdatenanalysen werden kollektive Medienwirkungen unter-
stellt, die von der Nutzung bestimmter Medieninhalte losgelöst auftreten. Sie können
die direkte Folge der individuellen Mediennutzung sein, aber auch der daraus resultie-
renden Anschlusskommunikation, die auch Menschen erreicht, die selbst gar keine Me-
dien nutzen. Je umfangreicher und gleichgerichteter die Anschlusskommunikation ist,
desto stärker lösen sich (indirekte) Medienwirkungen von der individuellen Medien-
nutzung. Bei Individualdatenanalysen bleiben die gemessenen Medieneffekte auf die
Einflüsse der unmittelbar genutzten Medieninhalte beschränkt. Anschlusseffekte durch
interpersonale Kommunikation werden ausgeblendet. Darüber hinaus werden auch Ef-
fekte der Ereignislage kontrolliert: Weil die Berichterstattung unterschiedlicher Medien
auf ein und derselben Ereignislage basiert, lassen sich Unterschiede in der Darstellung
verschiedener Medien nicht mit der Ereignislage erklären. Folglich sind auch ihre Wir-
kungen nicht mit der Ereignislage, sondern nur mit redaktionsinternen Selektionskrite-
rien und Darstellungsweisen erklärbar.
Methodenkombinationen aus Inhaltsanalyse- und Befragungsdaten auf der Indivi-
dualebene treten folglich zugleich der gelegentlich geäußerten Annahme entgegen, dass
Medienwirkungen lediglich die Folge neutraler Ereignisvermittlungen durch die Mas-
senmedien sind. Es ist deshalb weder verwunderlich, noch eine Folge methodischer
Mängel, dass Studien, die Medienwirkungen mit Methodenkombinationen auf der Indi-
vidualebene untersuchen, geringere Medieneffekte aufzeigen als Aggregatdatenanalysen
(vgl. z. B. Huck 2009).
4 Schlussfolgerungen
Wir haben in diesem Beitrag deutlich gemacht, dass Medienwirkungen auf ganz unter-
schiedliche Arten untersucht werden können. Dabei ist auch erkennbar geworden, dass
die Wahl des Untersuchungsdesigns erhebliche Folgen für die Befunde von Medienwir-
kungsstudien hat. Die vermutlich größten Unterschiede bestehen zwischen experimen-
tellen und nicht experimentellen Designs. In experimentellen Designs werden die kurz-
fristigen individuellen Wirkungen einzelner Medienbotschaften untersucht. Dabei geht
man von bestimmten Merkmalen der Stimulusbeiträge aus und versucht zu beantwor-
ten, welche Folgen diese Merkmale für die Kognitionen, Emotionen und Verhaltens-
weisen der Rezipienten haben. In der nicht experimentellen Medienwirkungsforschung
werden die langfristigen individuellen oder gesellschaftlichen Wirkungen der Medien-
inhalte untersucht. Dabei geht man von den Kognitionen, Emotionen und Verhaltens-
weisen der Rezipienten aus und versucht sie unter anderem auf Merkmale der von ih-
nen genutzten Medieninhalte zurückzuführen. Beide Herangehensweisen nähern sich
Grundlagen: Designs und Forschungslogik in der Medienwirkungsforschung 561
demselben Phänomen folglich aus ganz unterschiedlicher Perspektive. Eine Aufgabe der
Medienwirkungsforschung muss es deshalb zukünftig sein, beide Ansätze stärker mit-
einander zu verbinden. Wie kann man etwa erklären, dass sich Rezipienten in experi-
mentellen Untersuchungen schon unmittelbar nach der Mediennutzung kaum noch an
die genutzten Inhalte erinnern oder Medieninhalte durch individuelle Voreinstellungen
geprägt ganz unterschiedlich interpretieren und dennoch in Befragungsstudien oft ein
breiter gesellschaftlicher Konsens über die wichtigsten politischen Probleme oder breite
Kenntnisse gesellschaftlich relevanter Fakten, die prinzipiell nur aus den Medien be-
kannt sein können, ermittelt werden ? Dabei kann man zwar vermuten, dass langfristige
Medienwirkungen auf die Gesellschaft durch wiederholten Kontakt mit ähnlichen Bot-
schaften entstehen. Ein überzeugendes Untersuchungsdesign, das eine Brücke zwischen
experimentellen und nicht experimentellen Ansätzen bilden kann, muss aber noch ent-
wickelt werden.
Auf einer zweiten Ebene lassen sich auch innerhalb der experimentellen bzw. nicht
experimentellen Medienwirkungsforschung verschiedene Untersuchungsdesigns unter-
scheiden. Dabei hat die Entscheidung für ein bestimmtes Design insbesondere in der
nicht experimentellen Forschung weitreichende Konsequenzen. Hier werden reine Befra-
gungsdesigns mit nur einem Messzeitpunkt zwar nach wie vor häufig verwendet. Sie sind
jedoch allenfalls aus forschungsökonomischen Gründen akzeptabel, weil sie die Medien-
inhalte als eigentliche Ursache der Medienwirkungen nicht erfassen und durch ihr stati-
sches Design kaum einen Beitrag zur Aufklärung der Frage nach Ursache und Wirkung
leisten können. Medienwirkungen können im Feld im Grunde nur mit Längsschnittstu-
dien, die Inhaltsanalyse- und Befragungsdaten kombinieren, zuverlässig analysiert wer-
den. Ob dabei Aggregat- oder Individualdatenanalysen besser geeignet sind, hängt – wie
erläutert – vor allem davon ab, wie konsonant die Medienberichterstattung ist. Nur eine
konsonante Medienberichterstatung macht gesellschaftliche Medienwirkungen auf der
Aggregatebene wahrscheinlich. Bei nicht konsonanter Berichterstattung sind dagegen
individuelle Effekte erwartbar, die im Aggregat nicht oder nur teilweise sichtbar werden.
Die Auswahl des Untersuchungsdesigns sollte in Medienwirkungsstudien folglich
nicht von der Verfügbarkeit der Daten, sondern von theoretischen Überlegungen und
empirischen Erkenntnissen über die Medieninhalte geleitet sein. Dabei geht es zum ei-
nen um die oben genannten Überlegungen zu den Ebenen, auf denen die Effekte zu er-
warten sind. Zum anderen geht es aber auch um die Frage, welche Medienwirkungs-
theorie überhaupt untersucht werden soll. Theorien wie der Kultivierungsansatz oder
die Theorie der Schweigespirale verlangen eher nach Felduntersuchungen, weil sie per
se langfristige Medienwirkungen auf die Gesellschaft unterstellen. Dagegen lassen sich
bspw. Theorien zur individuellen Informationsverarbeitung eher mit experimentellen
Designs untersuchen, weil es um die individuellen Unterschiede bei der Wahrnehmung
und Verarbeitung von Informationen während bzw. kurz nach der Rezeption geht.
Dabei genügt es zunächst, in jeder Untersuchung das jeweils angemessene Unter-
suchungsdesign auszuwählen. Sollen grundsätzliche, über die Befunde einzelner Stu-
562 Marcus Maurer
dien hinausgehende Aussagen über Medienwirkungen gemacht werden, müssen die Er-
kenntnisse von Untersuchungen mit unterschiedlichen Designs sinnvoll miteinander in
Beziehung gesetzt werden. Lassen sich Medienwirkungen mit allen denkbaren Designs
nachweisen und lassen sich Unterschiede in den Befunden plausibel auf das jeweilige
Design oder unterschiedliche Randbedingungen zurückführen (Kumulation von Evi-
denzen), kann man davon ausgehen, dass Medieninhalte Wirkungen auf die Rezipien-
ten entfalten.
Literaturtipps
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Standardisierte Befragung –
Messmethodik und Designs
in der Medienwirkungsforschung
Wiebke Möhring & Daniela Schlütz
Abstract Die quantitative Befragung ist in der Wirkungsforschung eine zentrale Erhebungsmetho-
de, weil sie innere Prozesse verbal abbildet. Der zugrunde liegende standardisierte Fragebogen ermög-
licht bei entsprechender Konstruktion die reliable und valide Ermittlung zahlreicher Medienwirkungen.
In vielen Studien ist die quantitative Befragung die einzige Möglichkeit, für größere Stichproben ver-
gleichbare Daten zu erheben, die generalisierbar sind. Der Einsatz der Methode birgt allerdings eine
Reihe methodischer Herausforderungen, die sich einerseits aus dem Prinzip der Selbstauskunft, dem
kognitiven Befragungsprozess und der Befragungssituation ergeben und die andererseits spezifischen
Voraussetzungen der Wirkungsforschung wie dem Kausalitätsnachweis geschuldet sind. Diesen Heraus-
forderungen kann in der Untersuchungsanlage begegnet werden durch ein entsprechend geeignetes
Instrument, aber auch durch rezeptionsbegleitende Messung, implizite Verfahren oder Längsschnitt-
designs.
Generelles Ziel einer standardisierten Befragung ist es, theoretische Konzepte in Form
empirisch messbarer Konstrukte valide und reliabel abzubilden, um sie als numerische
Kennzahlen ausdrücken zu können, die sich für die quantitative Auswertung eignen.
Scheuch definiert Befragung als „planmäßiges Vorgehen mit wissenschaftlicher Zielset-
zung, bei dem die Versuchsperson durch eine Reihe gezielter Fragen oder mitgeteilter
Stimuli zu verbalen Informationen veranlasst werden soll“ (1967, S. 70 f.). Grundlegen-
des Anliegen ist es, subjektive Bewertungen, individuelle Einstellungen, Meinungen und
Wertvorstellungen sowie Wissen der Befragten in Erfahrung zu bringen. Es geht allge-
mein um solche Merkmale, die sich durch Methoden wie Inhaltsanalyse oder Beobach-
tung nicht oder zumindest nicht direkt messen lassen.
Aber auch Verhalten wird häufig abgefragt: Neben der Rekonstruktion vergangener
oder der Prognose zukünftiger Verhaltensweisen interessiert in der kommunikations-
wissenschaftlichen Wirkungsforschung auch gegenwärtiges Verhalten (z. B. Medien-
Standardisierte Befragung – Messmethodik und Designs in der Medienwirkungsforschung 567
heitlicht (vgl. im Gegensatz dazu den Beitrag von Mikos in diesem Band). Für das In-
strument der Befragung bedeutet Standardisierung, die Fragen als identische Stimuli zu
präsentieren, so dass die Antwort der Befragten möglichst in erster Linie eine Reaktion
auf den Reiz der für alle gleichen Frage darstellt. Zu diesem Zweck wird ein Fragebogen
eingesetzt, der als Messinstrument einen hohen Grad an Vereinheitlichung ermöglicht.
Die Formulierung der Fragen und der Aufbau des Fragebogens sind für die Qualität der
Untersuchung entscheidend. Darüber hinaus wird durch exakte Anweisungen im Frage-
bogen der Spielraum der einzelnen Interviewer und Interviewerinnen (z. B. für Erläu-
terungen, Ergänzungen oder Interpretationen) stark eingeschränkt. Zudem sollte die
Befragungssituation stets identisch sein (daher ist der Einsatz unterschiedlicher Modi
innerhalb einer Wirkungsstudie nicht ratsam). Die Grenzen der Standardisierung liegen
allerdings in der sozialen Situation der Befragung, da die quantitative Befragung ein re-
aktives Verfahren ist. Es wird bestimmt von einer Interaktion zwischen Befragten, Inter-
viewenden und Fragebogen, die in einer realen Untersuchungssituation stattfindet und
die Antwort im Interview mit beeinflusst (vgl. Abbildung 1).
Vor diesem Hintergrund kann in einer erweiterten Definition die standardisierte Be-
fragung bezeichnet werden als „eine besondere Form der geplanten Kommunikation,
die auf einem Fragebogen basiert. Ihr Ziel ist es, zahlreiche individuelle Antworten zu
generieren, die in ihrer Gesamtheit zur Klärung einer (wissenschaftlichen) Fragestel-
Standardisierte Befragung – Messmethodik und Designs in der Medienwirkungsforschung 569
lung beitragen. Die Form ergibt sich daraus, dass Verlauf, Thema, Befragungspartner so-
wie (soziale) Situation vorgegeben sind und weitgehend von Störeinflüssen freigehalten
werden“ (Möhring & Schlütz 2010, S. 14).
Ziel einer Frage ist es, mit einer gelungenen Formulierung den Bezugsrahmen des
Forschenden (und damit die zugrunde liegenden Dimensionen der Untersuchung im
Sinne der Validität) so umzusetzen, dass er dem Bezugsrahmen der Befragten angemes-
sen ist. Die Qualität einer Formulierung ist somit immer auch abhängig von der ange-
strebten Zielgruppe, denn die kognitive Ausstattung der Befragten beeinflusst, ob sie
die Fragen verstehen, ob sie Auskunft geben können und wollen. Die Eignung der Ant-
wortvorgaben muss ebenso beachtet werden wie der Aspekt, ob Frageinhalt, Fragefor-
mulierung und Fragebogendramaturgie der Interviewsituation angemessen sind und ob
der Fragebogen für die Interviewenden und / oder die Befragten einfach zu handhaben
ist (vgl. Fowler 2001; Porst 2009). Dabei ist es unerheblich, in welchem Modus die Be-
fragung durchgeführt wird. Bei Modi ohne Interviewende muss allerdings bedacht wer-
den, dass die Handhabung besonders einfach für die Befragten sein muss, gleichzeitig
aber auch motivierend genug, um die fehlende Ermunterung des Interviewers bzw. der
Interviewerin zu kompensieren.
Standardisierte Fragen lassen sich auf unterschiedliche Arten klassifizieren. Grundle-
gend ist zunächst die Unterscheidung in offene und geschlossene Fragen. Beide können
im quantitativen Interview eingesetzt werden und kommen innerhalb von Wirkungs-
studien zum Einsatz. Die offene Frage, also die Frage ohne vorgegebene Antwortalter-
nativen, ermöglicht es, Spontaneität und die ganze Bandbreite der Antworten zu bewah-
ren, ebenso wie Wortwahl und Ausdrucksweise und somit individuelle Assoziationen.
Sie wird beispielsweise eingesetzt, um die Aktualität von Themen beim Agenda Setting
zu messen (vgl. Abschnitt 2), um Wissen abzufragen oder wenn die Reihenfolge der
Antworten interessiert (etwa in der Werbewirkungsforschung: Welche Marke ist „top
of mind“ ?). Offene Fragen stehen den Standardisierungsanforderungen einer quantita-
tiven Befragung also nicht grundsätzlich entgegen, da Formulierung, Präsentation und
Ablauf identisch bleiben. Allerdings sollte man sie im Sinne der angestrebten Vergleich-
barkeit nur gezielt einsetzen, zumal sich der Auswertungsaufwand gegenüber geschlos-
senen Fragen enorm erhöht.
Im Unterschied zur offenen Frage werden bei der geschlossenen Frage sämtliche
Antwortalternativen präsentiert, aus welchen die Befragten die ihnen passende auswäh-
len (siehe zum Prozess Abschnitt 1.2). Der damit erzielte große Vorteil ist die Vergleich-
barkeit der Antworten. Gleichzeitig erhöhen sich Reliabilität und Vollständigkeit der
Antworten, da die Vorgaben beim Verstehen der Frage unterstützend wirken und den
relevanten Bezugsrahmen definieren. Die Art und Weise, wie Antwortalternativen prä-
sentiert werden, ist in erster Linie vom Modus der Befragung abhängig. Den größten
Spielraum (beispielsweise den Einsatz von Kartenspielen zur Visualisierung, Auflocke-
rung, aber auch zur Vermeidung von Reihenfolgeeffekten) bietet das persönlich-münd-
liche Interview. Aktuelle Befragungssoftware ermöglicht in Online-Umfragen ebenfalls
570 Wiebke Möhring & Daniela Schlütz
schem Niveau). Zudem sind sie leicht zu administrieren. Gleichzeitig stellen sie jedoch
eine Gefahr für das Auftreten formaler Antwortstile dar. Insbesondere umfangreiche
Itembatterien sind anfällig für inhaltsunabhängiges Antwortverhalten und Reihenfolge-
effekte (vgl. Möhring & Schlütz 2010, S. 104 ff.).
Weitere Möglichkeiten, Fragen zu klassifizieren, sind die Einteilung nach Fragen-
inhalt, d. h. ob Wissen, Meinung oder Verhalten erforscht werden soll, nach Art der
Antwortvorgabe (z. B. Listenfragen, Ratingfragen, Forced-choice-Techniken) oder nach
der dramaturgischen Funktion der Frage innerhalb des Fragebogens (etwa Eisbrecher-
frage oder Überleitungsfrage, vgl. Möhring & Schlütz 2010, S. 67 ff.).
Der kognitive Prozess, der im standardisierten Interview vom ‚wahren Wert‘ zur tat-
sächlichen Antwort führt (vgl. Abbildung 1), besteht aus mehreren aufeinanderfolgen-
den kognitiven Schritten (vgl. Hartmann & Möhring 2008). Schwarz und Oyserman
(2001, S. 129) zufolge können fünf solcher Schritte unterschieden werden: Zunächst
muss die Frage nachvollzogen und ihre Bedeutung entschlüsselt werden („understan-
ding the question“, z. B. „Um welches Objekt / welche Quantifizierung / welchen Zeitraum
geht es ?“), um daraufhin verfügbare Wissensbestände zum nachgefragten Objekt abzu-
rufen („recalling relevant behavior“). Im Folgenden werden Inferenzschlüsse und Schät-
zungen vorgenommen, da meist die erfragte Häufigkeit, Dauer oder Intensität des Ob-
jekts nicht so abrufbar sind, dass eine exakte Quantifizierung vorgenommen werden
kann („inference and estimation“). Im vierten Schritt muss diese innere Antwort auf
ein vorgegebenes Format (z. B. eine Antwortskala) zugeschnitten werden („mapping the
answer onto the response format“). Dabei treten nicht selten zusätzliche Anpassungen
auf, um sich mit der eigenen Antwort vermeintlich sozial erwünschtem Antwortverhal-
ten anzunähern („editing the answer for reasons of social desirability“), die sich aus den
Gegebenheiten und Anforderungen der sozialen Situation, wie sie in Abbildung 1 skiz-
ziert ist, ergeben. Bei jedem Schritt können Probleme auftauchen, die Validität und Re-
liabilität der Antwort beeinträchtigen: Die Frage kann (hinsichtlich des Bezugsrahmens
der Forschenden) missverstanden werden, die Befragten erinnern die notwendigen In-
formationen nicht, fällen ein situativ geprägtes Urteil, oder es findet sich im Fragebogen
keine im Hinblick auf das gefällte Urteil passende Antwortvorgabe. Für eine valide und
reliable Antwort muss der Fragebogen so gestaltet sein, dass der kognitive Prozess opti-
mal unterstützt wird.
Das jeweilige Antwortverhalten ist zudem das Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Abwä-
gung zwischen verschiedenen Handlungsalternativen. Die Auswahlstrategie einer spe-
zifischen Antwortvorgabe basiert häufig auf bestimmten Heuristiken: Beim „satisfi-
cing“ (Krosnick 1991; 1999) kürzen die Befragten den kognitiven Antwortprozess ab
oder durchläuft ihn zumindest nachlässig, indem sie die erste sie zufriedenstellende
572 Wiebke Möhring & Daniela Schlütz
Die Befragung ist ein reaktives Verfahren, der Befragungsprozess eine Kette kognitiver
Abläufe, die geprägt sind von heuristischen Auswahl- und Entscheidungsstrategien auf-
seiten der Befragten. Die Methode unterliegt also hohen Anforderungen im Hinblick
auf die Standardisierung. Die einzelnen Bereiche der Wirkungsforschung bedienen sich
zwar spezifischer Vorgehensweisen und Instrumente bzw. Frageformen. Mit Ausnahme
einiger medienpsychologischer Skalen – wie z. B. der (allerdings nicht unumstrittenen)
Parasocial Interaction Scale von Rubin et al. (1985) – gibt es kaum originär kommuni-
kationswissenschaftliche Standardfragen, deren methodische Güte sich wiederholt be-
währt hat. Zwar ist die sog. Sonntagsfrage typisch für die Wahlforschung („Wenn am
kommenden Sonntag Wahl wäre, welcher Partei würden Sie Ihre Stimme geben ?“), aber
schon die Frage nach dem derzeit wichtigsten persönlichen Thema wird in der Agenda
Setting-Forschung nicht immer identisch formuliert. Maurer (2010, S. 30 f.) nennt ei-
nige Beispiele für Fragestellungen wie die klassische offene Abfrageform nach McCombs
und Shaw bzw. Treneman und McQuail: „What are you most concerned about these
days ? That is, regardless of what politicians say, what are the two or three main things
which you think the government should concentrate on doing something about ?“ sowie
die sog. Gallup-Frage: „What is the most important problem facing [this country] to-
day ?“ nach Funkhouser. Eine deutsche Version findet sich bei Rössler: „Wenn Sie einmal
an die vergangenen Wochen zurückdenken, was empfanden Sie da persönlich als die
wichtigsten politischen und gesellschaftlichen Themen ?“ Die geschlossenen Abfrage-
varianten variieren noch stärker. Bei der Schweigespirale, einer anderen zentralen Wir-
kungstheorie (vgl. den Beitrag von Rössing in diesem Band), wird die Kernfrage der
Redebereitschaft wie folgt formuliert: „Angenommen, Sie hätten eine fünfstündige Ei-
senbahnfahrt vor sich und in Ihrem Abteil ist jemand, der beginnt sich ganz für … [in
jedem zweiten Interview: ganz gegen …] auszusprechen. Würden Sie sich gern mit dem-
Standardisierte Befragung – Messmethodik und Designs in der Medienwirkungsforschung 573
jenigen unterhalten, oder würden Sie keinen großen Wert darauf legen ?“ (Noelle-Neu-
mann 2001, S. 33 f.). Weitere Beispiele für standardisierte Wirkungsfragen lassen sich bis
dato nicht finden. Ein erster Katalog spezifisch kommunikationswissenschaftlicher Ska-
len und Abfragemodelle bestimmter Wirkungskonstrukte liegt jetzt vor (Rössler 2011).
Es obliegt daher dem einzelnen Forschenden, durch entsprechende auf die jeweilige
Forschungsfrage zugeschnittene Operationalisierungen Validität und Reliabilität der
Fragen sicherzustellen. Diese Gütekriterien können zwar durch die Beachtung hand-
werklicher Qualitätskriterien erheblich verbessert werden (vgl. Faulbaum et al. 2009;
Möhring & Schlütz 2010; Porst 2009), allerdings ist die Reliabilitätsmessung grundsätz-
lich nicht unproblematisch: Die Befragung selbst beeinflusst die Befragten und steht so
einer sinnvollen Messwiederholung entgegen. Reliabilitätsmessung ist zwar als Parallel-
test oder Split-Half-Verfahren denkbar, beides wird aber eher selten eingesetzt (vgl. bei-
spielsweise Oliver & Raney 2011).
In der Wirkungsforschung stellt ohnehin die Validität die größere Herausforderung
dar. Ein hier auftretendes Problem ist die Erinnerungsfähigkeit der Befragten: Im Be-
fragungsprozess wird deutlich, dass Antworten auf Reproduktion und Erinnerung be-
ruhen, deren Vollständigkeit nicht garantiert ist. In der Rezeptionsforschung etwa ist die
Frage, ob postrezeptiv das Erleben einer Mediennutzungsepisode valide abgefragt wer-
den kann, umstritten. Es können Verzerrungen auftreten, da zwischen prozessbeglei-
tenden Erlebensurteilen und postrezeptiven Globalurteilen nur eine mäßige Korrelation
besteht. Die (mangelhafte) Erinnerung der Befragten kann nachgelagerte Informations-
verarbeitungsprozesse beeinflussen (Hartmann & Möhring 2008). Häufig werden z. B.
weniger ausgeprägte Gewohnheiten retrospektiv überschätzt (Naab 2013, S. 140).
Nicht nur mangelndes Erinnerungsvermögen und angewandte Heuristiken können
die Anwort beeinflussen, sondern auch nachträgliche Rationalisierungen des Verhal-
tens. Damit ist gemeint, dass Befragte retrospektiv eine rationale Erklärung für ihr Ver-
halten in einer bestimmten Situation angeben, welche aber nicht unbedingt mit der tat-
sächlichen Handlungsmotivation übereinstimmen muss. Ein weiterer Einflussfaktor ist
die Soziale Erwünschtheit (Social Desirability Bias). Unter sozial erwünschtem Ant-
wortverhalten versteht man die Neigung von Befragten, ihre Antworten auf spezifische
Sachverhalte danach auszurichten, was innerhalb des normativen Systems ihrer Bezugs-
welt als sozial anerkannt und erwünscht gilt, wodurch der „wahre Wert“ verzerrt wird.
Die Befragten antworten also nicht, was sie wirklich denken, sondern was sie im Allge-
meinen oder im Rahmen der Interviewsituation als sozial (oder kulturell) angemessen
erachten (vgl. Möhring & Schlütz 2010, S. 61 ff.). In der Regel treten diese Verzerrungen
unbewusst auf, sie sind nicht als Lügen der Befragten aufzufassen.
Die Neigung zu sozial erwünschtem Antwortverhalten gilt zum einen als persön-
lichkeitsbedingtes Streben nach sozialer Anerkennung. Zum anderen wird Soziale Er-
wünschtheit auch von Aspekten der sozialen Situation im Interview beeinflusst. So ist
der Befragungsmodus einflussreich: Schriftliche Befragungen eignen sich z. B. besser
für die valide Ermittlung von als negativ eingestuften Medienwirkungen als ein Face-to-
574 Wiebke Möhring & Daniela Schlütz
Face-Interview, weil durch die Abwesenheit von Interviewenden der soziale Druck we-
sentlich geringer ist (vgl. zu weiteren Modus-Effekten Möhring & Schlütz 2010, S. 117 ff.).
Gerade im Rahmen von Wirkungsstudien ist ein sensibler Umgang mit möglichen Effek-
ten Sozialer Erwünschtheit entscheidend, insbesondere wenn es sich um (vermeintlich)
unerwünschte Verhaltensweisen oder negative Wirkungen handelt (z. B. die Nutzung
von Pornographie oder die Effekte gewalthaltiger Computerspiele). Die Fragen nach
Medienwirkungen, nach Medienbewertungen und Mediennutzung sind an sich anfällig
für Verzerrungen, da es sich um Sachverhalte handelt, zu denen relativ eindeutige gesell-
schaftlich verankerte Wertvorstellungen existieren – auch wenn sie je nach Zielgruppe
stark variieren. Berücksichtigt werden muss, dass Menschen auf der einen Seite dazu
neigen, sich sozial erwünschte Eigenschaften verstärkt zuzuschreiben („overreporting“,
ausführlich dazu Hardmeier & Fontana 2006), und auf der anderen Seite dazu tendieren,
sozial unerwünschte Eigenschaften abzustreiten („underreporting“) oder tabuisierten
Themen auszuweichen, beispielsweise durch das Vortäuschen von Meinungslosigkeit
(vgl. Esser 1986, S. 318). Abhilfe schaffen lässt sich (neben der Verwendung impliziter
Verfahren, siehe Abschnitt 3.2) durch geeignete Modi, die Zusicherung von Anonymi-
tät oder geeignete Fragenformulierungen (z. B. indirekte oder projektive Fragen). Als
Test der Neigung, sich sozial erwünscht zu verhalten, können entsprechende Messskalen
eingesetzt werden (z. B. die Marlowe Crown Social Desirability Scale, vgl. Möhring &
Schlütz 2010, S. 63 ff.).
Eine vierte Herausforderung ergibt sich aus der Frage nach der Kausalitätsrichtung
von Wirkungen. Untersuchungsdesigns, die eine quantitative Befragung im Querschnitt
einsetzen, sind dabei wenig aussagekräftig, denn Kausalität setzt eine zeitliche Abfolge
voraus, welche sich im Untersuchungsdesign niederschlagen muss.
Den genannten Herausforderungen für Validität und Reliabilität standardisierter
Befragungen – mangelndes Erinnerungsvermögen, Ex-post-facto-Rationalisierungen,
der Einfluss Sozialer Erwünschtheit sowie die Schwierigkeiten der Messung kausaler
Effekte – kann mit einem guten Fragebogen, ergänzenden Methoden sowie geeigneten
Forschungsdesigns entgegengetreten werden. Beispiele dafür werden im Folgenden auf-
geführt.
laufen und sich daher dem Selbstbericht entziehen, eingesetzte Antwortheuristiken und
Fragestellungen, die sozial erwünschtem Antwortverhalten unterliegen, können so bes-
ser als in der direkten Befragung erhoben werden, weil die Verfahren bzw. dessen Ergeb-
nisse von den Probandinnen und Probanden nicht willentlich kontrolliert werden kön-
nen (vgl. Hefner et al. 2011). Zumeist handelt es sich bei impliziten Messverfahren um
Aufgaben, die unter Zeitdruck ausgeführt werden müssen, um so spontane Reaktionen
einzufangen, die die Befragten nicht bewusst steuern, also rationalisieren oder sozial
erwünscht filtern können. Dabei werden nicht die eigentlich in Frage stehenden Kon-
zepte gemessen, sondern Assoziationsmuster und (zumeist werthaltige) Verknüpfungen
aktiviert und erfasst. Je enger verknüpft ein Konzept, so die Grundidee, umso schneller
die Reaktionsgeschwindigkeit. Es gibt unterschiedliche Messverfahren, die insbeson-
dere in der Wirkungsforschung Anwendung finden, z. B. im Zusammenhang mit dem
Konzept des Priming, mit Studien zur politischen Kommunikation, für die Gewaltfor-
schung oder in der Werbeforschung (Hefner et al. 2011, S. 185).
gen besteht darin, dass gezielt in das Geschehen eingegriffen wird: Ein Merkmal wird
systematisch variiert (z. B. die Formulierung einer Nachricht), um den Einfluss dieser
Variation auf eine oder mehrere andere Merkmale zu messen (z. B. die Wirkung gene-
risch maskuliner Personenbezeichnungen im Vergleich zu gendergerechten Formulie-
rungen auf den gedanklichen Einbezug der am berichteten Ereignis beteiligten Frauen,
vgl. Blake & Klimmt 2010). Dabei werden andere, möglicherweise einflussreiche Merk-
male konstant gehalten oder ausgeschaltet. Im Rahmen dieser Versuchsanordnung wer-
den häufig standardisierte Befragungsinstrumente eingesetzt, v. a. in der medienpsycho-
logischen Wirkungsforschung (vgl. den Beitrag von Maurer in diesem Band).
4 Fazit
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Beobachtung
Volker Gehrau
Abstract Die wissenschaftliche Beobachtung ist ein Verfahren zur Erhebung von Reaktions- und Ver-
haltensdaten. Bei der konkreten Erhebung lassen sich unterschiedliche Varianten in Bezug auf drei Be-
reiche differenzieren: Beobachter (intern vs. extern, selbst vs. fremd, teilnehmend vs. nicht teilnehmend),
Situation (offen vs. verdeckt, wissentlich vs. unwissentlich, Feld vs. Labor, mit vs. ohne Stimulus) und
Verfahren (standardisiert vs. nicht standardisiert, direkt vs. indirekt, vermittelt vs. unvermittelt, manuell
vs. apparativ). Zudem zeigen sich Auffälligkeiten bei der Durchführung von Beobachtungen, die insbe-
sondere die Vorbereitung, den Feldzugang und die Stichprobe betreffen. Da die Beobachtung rein auf
Reaktionen und Verhalten abzielt, kommen entsprechende Studien in der Medienwirkungsforschung
selten vor. Allerdings werden in wissenschaftlichen Studien gelegentlich Komponenten von Medienwir-
kungsprozessen beobachtet. Hierzu stellt der vorliegende Beitrag jeweils Beispielstudien für die Berei-
che Mediennutzungshandlungen, Anschlusshandlungen (also Medienwirkungen) sowie zum Verhalten
während der Medienrezeption vor.
1 Einführung
„Die wissenschaftliche Beobachtung ist die systematische Erfassung und Protokollierung von
sinnlich oder apparativ wahrnehmbaren Aspekten menschlicher Handlungen und Reaktio-
nen, solange sie weder sprachlich vermittelt sind noch auf Dokumenten basieren. Sie dient
einem wissenschaftlichen Ziel, dokumentiert ihr Vorgehen und legt alle relevanten Aspekte
offen“ (Gehrau 2002, S. 25 – 26).
Entscheidend bei der Definition einer wissenschaftlichen Beobachtung ist (1) das wis-
senschaftliche Ziel, womit i. d. R. die Exploration von Phänomenen oder die Prüfung von
wissenschaftlichen Annahmen gemeint ist, (2) das systematische Vorgehen und (3) die
nachvollziehbare Dokumentation des Vorgehens. Die anderen Komponenten dienen
der Abgrenzung zur Inhaltsanalyse, die auf Dokumente im weitesten Sinne zurückgreift,
und der Befragung, die mittels sprachlicher Vermittlung Daten erhebt. Berechtigter-
weise hat die letztgenannte Einschränkung Kritik hervorgerufen, weil sie streng genom-
men ausschließt, interpersonale Kommunikation mit Bezug zu Medien wissenschaftlich
zu beobachten. Eine andere Definition lautet deshalb wie folgt:
„Die wissenschaftliche Beobachtung ist die selektiv und systematische Erfassung und Pro-
tokollierung von sinnlich wahrnehmbaren Aspekten prinzipiell sichtbaren menschlichen
Verhaltens. Die Erfassung beruht auf einem hierfür konzipierten Erhebungsinstrument und
kann durch menschliche Beobachter oder apparative Vorrichtungen erfolgen. Sie beruht auf
einer wissenschaftlichen Fragestellung, ist in ihrem Vorgehen intersubjektiv nachprüfbar und
wiederholbar, indem alle relevanten Aspekte offengelegt werden.“ (Brosius et al. 2008, S. 182).
jeweilige Vorgehen in Bezug auf (1) den Beobachter, (2) die Beobachtungssituation und
(3) das Erhebungsverfahren zu systematisieren.
kann der Beobachter zwar sichtbar sein, soll sich aber nicht als solcher zu erkennen ge-
ben. Dies kann gelingen, wenn er am Geschehen teilnimmt.
Bei den meisten Beobachtungsstudien handelt es sich um Feldbeobachtungen. Solche
Beobachtungen finden in der natürlichen Handlungssituation statt, also z. B. im Wohn-
zimmer, im Klassenzimmer oder auf öffentlichen Plätzen. Die Reaktionen und Verhal-
tensweisen können dort beobachtet werden, wo sie natürlicherweise auftreten und dem-
entsprechend wahrscheinlich in authentischer Weise stattfinden. Allerdings kann die
natürliche Umgebung für die Beobachtungssituation ebenfalls eine Reihe von Proble-
men mit sich bringen. Zum einen ist es oft schwierig, Zugang zum Feld zu erhalten, um
überhaupt beobachten zu können. Zum anderen bestehen teilweise Schwierigkeiten, das
Feld angemessen beobachten zu können, was insbesondere heißt, ausreichend sehen zu
können. Beides ist v. a. dann problematisch, wenn verdeckt vorgegangen werden soll.
Die Praktikabilität der Beobachtung ist im Labor einfacher sicherzustellen. Hier können
die Forscher die Situation auf die Durchführung und insbesondere die Sichtbarkeit der
zu beobachtenden Aspekte optimieren. Auch können im Labor Störeinflüsse, wie das
Auftreten Dritter, verhindert werden. Allerdings ist es nur schwer möglich, im Labor
eine natürliche Situation zu schaffen und die Untersuchten in Unwissenheit darüber zu
lassen, dass sie untersucht werden.
Bei einigen Beobachtungen ist darüber hinaus zu entscheiden, ob künstlich ein Sti-
mulus gesetzt wird, um bestimmte Reaktionen oder Verhaltensweisen zu initiieren. Ei-
gentlich würde man das nicht tun, weil es der Forderung nach Authentizität widerspricht,
da das Verhalten nicht mehr natürlich ausgeführt wird. Wenn aber die interessierenden
Verhaltensweisen im Alltagshandeln selten vorkommen, dann kann das Initiieren des
Verhaltens durchaus sinnvoll sein. Auf diese Weise muss man nicht immense Zeiträume
untersuchen, um ein spezielles Verhalten beobachten zu können, z. B. den Umgang mit
einer Fachzeitschrift. In solchen Fällen wird man einen Input in die Handlungssituation
geben, der das Auftreten der interessierenden Verhaltensweise wahrscheinlich macht.
Alternativ wird man die Beobachteten sogar bitten, das entsprechende Verhalten auszu-
führen und zwar möglichst so, wie sie es üblicherweise tun.
Über den Beobachter und die Situation hinaus ist entscheidend, wie die Beobachtungs-
daten erhoben werden. Zunächst geht es um die Entscheidung, wie offen bzw. wie stan-
dardisiert bei der Erhebung vorgegangen wird. Ein unstandardisiertes, der Situation
und dem Beobachteten individuell angepasstes Vorgehen, erbringt i. d. R. die valideren
Resultate, erlaubt aber nur geringe Fallzahlen. Ein hoher Standardisierungsgrad erlaubt
hingegen größere Fallzahlen und verspricht reliable, quantitative Ergebnisse. Wenn
standardisiert vorgegangen wird, kann die Erhebung unter Umständen auch automa-
tisiert werden.
586 Volker Gehrau
len Aufzeichnungen aber kein nicht-reaktives Verfahren. Zwar greift die Codierung der
Aufzeichnung selbst nicht in die zu beobachtende Handlung ein. Die Aufnahmegeräte-
geräte können aber, wenn sie von den Untersuchten entdeckt werden, Reaktionen aus-
lösen, die sonst nicht aufgetreten wären.
Abschließend lassen sich Beobachtungsstudien danach differenzieren, ob ein Mensch
beobachtet oder ein Apparat. Eine Beobachtung durch den Menschen hat den Vorteil,
dass Menschen in der Beobachtungssituation auf Unerwartetes, aber Relevantes ange-
messen reagieren können, weil sie die Vorgänge selbst interpretieren können. Ihre Auf-
merksamkeits- und Beobachtungskapazität ist aber relativ eingeschränkt. Wenn die Re-
aktionen und Verhaltensweisen bei der Beobachtung keiner Interpretation bedürfen,
und beispielsweise hoch standardisierte Operationalisierungen vorliegen, dann sind die
Voraussetzungen dafür gegeben, dass statt eines Menschen auch ein Automat die Daten-
erhebung durchführen könnte. Voraussetzung hierfür ist der Einsatz von Apparaten, die
die entsprechenden Reaktionen und Verhaltensweisen feststellen können. Ein derarti-
ger Einsatz ließ sich bisher im Feld der wissenschaftlichen Beobachtung nur in wenigen
Ausnahmefällen realisieren. Durch Fortschritte in der apparativen Sensorik und Erken-
nungstechnik haben sich diese Möglichkeiten in jüngster Zeit aber enorm ausgeweitet.
3.1 Untersuchungsobjekte
In empirischen Studien muss nicht nur festgelegt werden, wie untersucht wird, son-
dern auch an welchen Objekten etwas untersucht wird. Oft wird zu Unrecht der ersten
Frage weit mehr Aufmerksamkeit gewidmet als der zweiten, obwohl beide ähnlich gro-
588 Volker Gehrau
ßen Einfluss auf die Qualität der Ergebnisse einer Studie haben (Gehrau & Fretwurst
2005). Nachfolgend werden zwei spezielle Probleme zu den Untersuchungsobjekten bei
der Beobachtung im Unterschied zur Befragung aufgegriffen: Definition und Auswahl
der Untersuchungsobjekte.
Im Gegensatz zu Befragungen, bei denen i. d. R. die einzelnen Befragten die Unter-
suchungsobjekte darstellen, ist die Festlegung der Untersuchungsobjekte bei der Beob-
achtung komplizierter. Das liegt darin begründet, dass die Beobachtung auf Reaktionen
und Verhaltensweisen abzielt, die von Personen in Bezug auf Objekte ausgeführt wer-
den. Dementsprechend ist quasi das kleinstmögliche Beobachtungsobjekt die einzelne
Reaktion, Handlung oder Verhaltensweise. Das führt dazu, dass in komplexen Hand-
lungssträngen verschiedenste Beobachtungsobjekte als Merkmalsträger für die Beob-
achtung auftreten, die zum Teil von denselben Personen ausgeführt werden und sich
auf dieselben Handlungsobjekte beziehen. Wenn auf der Ebene einzelner Handlungen
beobachtet wurde, lassen sich die Ergebnisse später auf Personen oder Objekte aggre-
gieren. In einigen Fällen ist es aber weder von der Fragestellung her nötig noch vom
Aufwand bei der Erhebung angemessen, alle auftretenden Handlungen einzeln zu erfas-
sen. In diesem Fall werden unmittelbar Personen oder Handlungsobjekte als zu unter-
suchende Merkmalsträger festgelegt. Es wird dann erhoben, wie oft, wie lange oder wie
intensiv eine Person bestimmte Handlungen ausgeführt hat oder welche Handlungen
entsprechend mit einem bestimmten Handlungsobjekt ausgeführt wurden.
Auch in Bezug auf das Auswahlverfahren unterscheiden sich die meisten Beobach-
tungsstudien von Befragungsstudien. Viele Befragungen sind repräsentativ für eine de-
finierte Grundgesamtheit angelegt. Da der Aufwand, Befragte zu finden, und bei ihnen
eine entsprechende Teilnahmebereitschaft zu erwecken, nicht sehr hoch ist, gelingt ein
solches Vorgehen bei Befragungen noch einigermaßen. Zur Rekrutierung von Beob-
achteten ist die Auswahl i. d. R. mit deutlich mehr Aufwand verbunden. Auch deshalb
werden meist weniger Personen beobachtet als befragt. Umso wichtiger ist es, dass die
Ausgewählten relevante Informationen liefern können. Dem folgend werden oft ent-
weder typische bzw. extreme Fälle ausgewählt oder solche, bei denen zu erwarten ist,
dass sie das interessierende Verhalten mit großer Wahrscheinlichkeit häufig ausführen.
Dann gilt es, über Plausibilitätsannahmen zugängliche Gruppen zu identifizieren, bei
denen das Verhalten wahrscheinlich und von Interesse ist, und aus diesen meist alle zu
untersuchen, die dazu bereit sind. Die Anzahl der untersuchten Personen mag hierbei
zwar nicht groß sein; wenn aber die einzelne Handlung das Untersuchungsobjekt dar-
stellt, kann es trotz weniger Personen zu Datensätzen mit erheblicher Fallzahl kommen.
Trotzdem lässt eine solche Auswahl nicht die üblichen Inferenzschlüsse zu, weil die Fälle
teilweise von denselben Personen stammen. Deshalb sind entsprechende Studien i. d. R.
entweder explorativ angelegt oder experimentell, um zumindest das Vorkommen von
Effekten durch den Falsifikationsversuch zu testen. Bei den wenigen Beobachtungsstu-
dien, die Repräsentativität anstreben, handelt es sich entweder um Panelstudien, bei de-
Beobachtung 589
nen die Ausgewählten mehrfach untersucht werden, oder es wird mit automatisierter
Erfassung von Verhaltensspuren gearbeitet.
3.2 Durchführung
Den Besonderheiten der Beobachtung muss durch spezielle Punkte bei der Vorberei-
tung Genüge getan werden. Dies ist zum einen nötig, weil die meisten Menschen als Un-
tersuchungsobjekte kaum über Erfahrung mit wissenschaftlichen Beobachtungen ver-
fügen und eher geneigt sind, auf ihre Erfahrungen mit der alltäglichen Beobachtung
zurückzugreifen, wohingegen die Meisten bereits Erfahrungen mit wissenschaftlichen
Befragungen haben, so dass ihnen die Unterschiede zur Alltagskonversation bewusst
sind. Zum anderen muss bei der Vorbereitung der Erhebung berücksichtigt werden,
dass sich die meisten Menschen nur ungern beobachten lassen. Auch können Beob-
achtungssituationen oft gestört werden. Diese Bedingungen zwingen dazu, vor der ei-
gentlichen Erhebung eingehende Schulungen von Beobachtern sowie Pretests durchzu-
führen. In vielen Fällen wird es von beiden sogar mehrere Durchgänge geben. Darüber
hinaus ist es bei Beobachtungen erforderlich, den Feldzugang gründlich zu planen und
vorzubereiten. Dabei ist es nicht nur wichtig, genaue Kenntnis der Situation vor Ort zu
haben. Wenn es sich um eine Feldbeobachtung handelt, muss man wissen, zu welcher
Zeit und an welchen Stellen die Beobachtung möglich ist. Es muss auch sichergestellt
sein, dass beobachtet werden darf. Denn längst nicht alles, was sich praktisch beobach-
ten lässt, darf zu wissenschaftlichen Zwecken systematisch beobachtet werden. Hier gel-
ten die Regeln des Persönlichkeitsrechts und des Schutzes der Privat- und Intimsphäre.
Im Zweifel muss immer ein Einverständnis eingeholt werden und zwar nicht nur von
den zu beobachtenden Personen selbst, sondern gegebenenfalls auch vom Hausherrn
des Beobachtungsfeldes. Zudem müssen die Beobachter vor der eigentlichen Beobach-
tung im Feld eingeführt werden. Die zu Beobachtenden sollten die Beobachter vor der
eigentlichen Beobachtung kennen, so dass diese den Beobachteten vertraut erscheinen
und so die Beobachtungssituation möglichst wenig stören.
Niveau zu regulieren (vgl. den Beitrag von Dohle in diesem Band). Dazu wurden in
einem Experiment einige Probanden vorab durch schwere Aufgaben in Stress, andere
durch leichte Aufgaben in Langeweile versetzt. In einer Pause danach durften die Pro-
banden Medien nutzen, um sich die Zeit bis zu einer erwarteten zweiten Aufgabe zu
vertreiben. Dabei wurde zum einen beobachtet, wie lange die Probanden während der
Pause welche Art von Medienangeboten nutzten. Die Angebote waren vorab inhaltlich
klassifiziert worden und wurden mittels Videorekorder präsentiert, wodurch auch die
individuelle Nutzungszeit erfasst werden konnte. Zudem wurde die Pulsfrequenz der
Probanden ermittelt. Gemäß der Mood Management-Theorie nutzten die gelangweil-
ten Probanden anregende Programmangebote länger als entspannende. Gestresste Pro-
banden nutzten hingegen beide Angebote gleich lang. Ferner sollte sich die Nutzung auf
die Stimmung auswirken. Die Herzfrequenz wurde als Indikator für Erregung herange-
zogen. Es zeigte sich, dass die Erregung der gestressten Probanden nach der Nutzung
abgesunken war und zwar unabhängig vom genutzten Inhalt. Demgegenüber stieg die
Erregung der gelangweilten Probanden durch die Mediennutzung an, wenn anregende
Programmangebote genutzt wurden, und blieb gleich, wenn entspannende Angebote
genutzt wurden.
Ein anderer Zugang zur selektiven Mediennutzung geht vor dem Hintergrund der
Theorie der Kognitiven Dissonanz (Festinger 1957) davon aus, dass Menschen die Nut-
zung von Medienangeboten vermeiden, wenn sie ihren individuellen Meinungen und
Einstellungen widersprechen könnten. Um dies zu ermitteln wird in einigen Studien
beobachtet, wie sich die Medienzuwendung verteilt. Studien dieser Art finden der-
zeit oft internetbasiert statt, da sich so die individuelle Medienzuwendung automati-
siert über Logfile-Analyse beobachten lässt. Dieses Setting ist für die Kommunikations-
wissenschaft besonders interessant, weil es gerade im Internet dem Nutzer möglich ist,
bestimmte Medieninhalte auszuwählen und andere systematisch zu umgehen. Dieser
Frage sind z. B. Knobloch-Westerwick und Kollegen in unterschiedlichen Settings nach-
gegangen und haben in den Studien die Art und Zeit der Mediennutzung automatisiert
über spezielle Computerprogramme erfasst (z. B. Knobloch-Westerwick & Meng 2009).
Da sich die Selektivitätshypothese i. d. R. bestätigt, stellt sich die Frage, welche Folgen
es haben könnte, wenn die Menschen im Internet primär solche Informationen nut-
zen, die ihren vorhandenen Einstellungen entsprechen. Dieser Frage widmet sich eine
Studie von Knobloch-Westerwick und Meng (2011), die online durchgeführt wurde. In
einem ersten Durchgang wurde die Einstellung der Probanden zu unterschiedlichen
Themenfeldern erhoben. Einige Tage später haben sich die Probanden ein Nachrichten-
portal angesehen, auf dem unterschiedliche Beiträge mit unterschiedlichen Positionen
zu diesen Themen angeboten wurden. Die Beobachtung der Mediennutzung fand mit-
tels computergestützter Aufzeichnung der jeweiligen Aufrufzeit einzelner Beiträge statt.
Auch dabei bestätigte sich die Selective Exposure-Hypothese: Beiträge mit konformer
Argumentation werden in Durchschnitt länger genutzt als non-konform argumentie-
rende Beiträge. Darüber hinaus wurde in dieser Studie mittels Reaktionszeitmessun-
592 Volker Gehrau
gen die kognitive Zugänglichkeit politischer Positionen nach der Nutzung erhoben und
festgestellt, dass die selektive Nutzung der meinungsbezogenen Beiträge zu einer besse-
ren kognitiven Verfügbarkeit der eigenen Positionen führt und diese insofern verstärkt
(Knobloch-Westerwick & Meng 2011).
Auch die Auswirkung von Gestaltungselementen spezifischer Angebote im Internet
gelangten in den letzten Jahren in den Fokus der Forschung, da Gestaltungselemente,
die die Selektion der Nutzer beeinflussen, indirekt auch Auskunft über Wirkungspoten-
ziale geben. Unter dem Stichwort ‚Klick-Magnete‘ untersuchte Seibold (2002), wie sich
die Gestaltung von Kurzverweisen (sog. Teasern) auf der Startseite des Internetange-
bots einer Zeitung auf die Nutzung der dazugehörigen Beiträge auswirkt. Die Verweise
wurden mit Hilfe einer Inhaltsanalyse nach Merkmalen, des Themas, der Gestaltung so-
wie der Platzierung klassifiziert. Die Nutzung des Medienangebots wurde beobachtet
und zwar über eine systematische Analyse der Verhaltensspuren in den Logfiles. Erfasst
wurde als Indikator für Interesse und Aufmerksamkeit für die dahinterstehenden Ange-
bote zum einen, auf welche Elemente die Nutzer klicken, insbesondere welchen Links
in den Verweisen sie folgen. Zum anderen wurde festgehalten, wie viel Zeit sie mit dem
entsprechenden Angebot verbrachten (Seibold 2002, S. 78 – 94). Die Studie belegt einen
großen Einfluss von Position und Gestaltung der Teaser: Je weiter oben in der Liste der
Teaser der einzelne Teaser positioniert war, umso mehr Aufmerksamkeit erhielt er, ins-
besondere wenn er ganz oben stand und nicht nur aus einer, sondern aus zwei Textzei-
len bestand. Wichtig war zudem eine knapp, aber präzise und verständlich formulierte
Aussage zum Inhalt des Angebots. Inhaltliche Aspekte spielten demgegenüber eine un-
tergeordnete Rolle. Vermehrte Aufmerksamkeit erzielten Beiträge im Bereich Skurriles
oder Überraschendes bzw. Beiträge mit den Nachrichtenfaktoren Überraschung, Scha-
den, Erotik, Emotion.
Noch genauere Angaben über Selektionsphänomene der Mediennutzer auf der Mi-
kroebene lassen sich mit Hilfe von Verfahren zur Blickregistrierung gewinnen. Zu-
nächst wurde die Forschung zur genauen Erfassung des Blickverlaufs in Rahmen der
Leserforschung unternommen. Die Untersuchungsmethode macht sich Charakteristika
des menschlichen Sehens zunutze. Wir sehen nur einen sehr kleinen Teil unseres Blick-
feldes scharf. Dieser als Fovea bezeichnete Bereich wird im Blickfeld ständig und sehr
schnell verschoben. Dabei ergeben sich Bewegungen von wenigen Millisekunden, sog.
Sakkaden, in denen das Auge nicht scharf sieht und Fixationen von einigen hundert
Millisekunden, in denen das menschliche Auge im Bereich der Fovea scharf sieht. Mit
unterschiedlichen Verfahren lässt sich festhalten, wo genau sich die Fovea wann befin-
det, um daraus zu schließen, was im Moment vom Auge betrachtet wird (Bente 2004).
Die Ergebnisse der Leseforschung dienten hauptsächlich dazu, die Gestaltung von Print-
produkten, insbesondere Aufbau und Anmutung von Titelseiten und Platzierung von
Printwerbung, an die Selektionsweisen des Publikums anzupassen, denn eine Wirkung
geht v. a. von den Informationen aus, die von vielen wahrgenommen wird.
Beobachtung 593
z. B. Studien, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Untertitelung von Fernseh-
angeboten und dem Verständnis des Dargestellten befassen. Solche Studien finden oft
in kleinen Ländern statt, in denen ausländische Filme meist ohne Synchronisation mit
Untertiteln gesendet werden. Eine Studie von Koolstra, van der Voort und d’Ydewalle
(1999) ging der Frage nach, ob eine Verlängerung der Präsentationszeit von Untertiteln
dazu führt, dass die Texte besser verstanden und in Folge dessen später besser erinnert
werden. In einem Laborexperiment führten sie Kindern unterschiedlichen Alters einen
längeren fremdsprachigen Filmausschnitt vor, dessen Untertitel in einer Gruppe jeweils
sechs, in anderen Gruppen jeweils acht oder zehn Sekunden präsentiert wurden. Später
wurde mit einem Recognition-Test erhoben, welche Texte die Kinder richtig erinnerten.
Als intervenierende Variable wurde apparativ beobachtet, wie lange sich die Kinder die
Untertitel angesehen haben. Es wurde vermutet, dass insbesondere leseschwache Kin-
der von der längeren Präsentationszeit profitieren, weil sie bei längerer Präsentationszeit
länger und damit intensiver lesen können. Zwar belegten die Resultate, dass ältere Kin-
der und solche mit höherer Lesekompetenz bei der Texterkennung besser abschneiden,
die Präsentationszeit hingegen keinen signifikanten Effekt hatte. Gemäß der Annahme
führte die längere Präsentationszeit zu einer längeren Lesezeit und zwar insbesondere
bei jungen, leseschwachen Kindern. Die längere Lesezeit wurde aber v. a. von leseschwa-
chen Kindern nicht in eine bessere Erinnerungsleistung umgesetzt. Insofern trug eine
durch die Präsentationszeit verlängerte Lesedauer nicht zum besseren Verständnis bei.
In einer Studie von Meadowcroft und Reeves (1989) wurde der Zusammenhang
zwischen dem Wissen von Kindern über Story-Schemata und dem Verständnis von
Filmgeschichten untersucht. Dabei wurde vermutet, dass besseres Wissen über Story-
Schemata dazu führt, dass den audiovisuellen Angeboten weniger Aufmerksamkeit
gewidmet werden muss, das Angebot aber trotzdem besser verstanden wird. Dazu
wurden in einem Laborexperiment unterschiedliche Zusammenschnitte von Serien-
sequenzen gezeigt, von denen ein Zusammenschnitt aus Sequenzen einer Handlung
und einer Nebenhandlung bestand, wohingegen die andere Version zwar vornehm-
lich dieselben Sequenzen präsentierte, zwischen die aber andere Sequenzen so gesetzt
waren, dass keine durchgehenden Handlungsstränge entstanden. Im Anschluss an die
Rezeption wurde ein Recognition-Test zum Verständnis des Gezeigten durchgeführt.
Vorab war das Wissen über Story-Schemata erhoben worden. Um die Aufmerksamkeit
während der Rezeption zu beobachten, wurden in Szenen, die in beiden Versionen vor-
kamen, Töne gesetzt und die Kinder aufgefordert, einen Knopf zu drücken, sobald sie
den Ton hörten. Die Zeit zwischen dem Ton und der Reaktion wurde apparativ als De-
tektionslatenz erhoben und als Aufmerksamkeit dem audiovisuellen Angebot gegen-
über interpretiert. Nach der Logik der Detektionslatenz brauchen diejenigen Kinder,
die sich aufmerksam in das Medienangebot vertiefen, aufgrund limitierter Kapazität
länger, um reagieren zu können (zu entsprechenden Verfahren siehe Basil 1994). Zu-
nächst zeigte sich, dass Kinder mit geringem Story-Wissen den Angeboten mehr Auf-
merksamkeit schenkten als Kinder mit größerem Story-Wissen und zwar insbesondere,
596 Volker Gehrau
wenn sie die nicht storygerechte Version verfolgten. Das schlug sich aber nicht in ei-
ner besseren Erinnerung nieder. Kinder mit besserem Story-Wissen erinnerten trotz
der geringeren Aufmerksamkeit mehr Elemente richtig und vorrangig solche, die für
die Geschichte zentral waren. Insofern konnte gezeigt werden, dass schemageleitete Re-
zeption von doppeltem Vorteil ist: Sie erfordert weniger Aufmerksamkeit, führt aber zu
besserem Verständnis.
In der Rezeptionsforschung ist oft von Interesse, was genau die Nutzer mit einem
Medienangebot machen. Das untersucht z. B. die Usability-Forschung, die sich v. a. mit
Aufbau und Gestaltung von Computer- oder Online-Angeboten beschäftigt. Dabei
kommt oft eine spezielle Variante der Blickverlaufsmessung zum Einsatz. Das sog. Eye-
tracking (vgl. Bente 2004; Ross 2009) arbeitet mit der Reflexion eines Infrarotpunktes
von dem scharf sehenden Bereich der Netzhaut auf das betrachtete Objekt. Ross (2009)
betont die Möglichkeit, mit Hilfe des Eyetrackings Schwierigkeiten bei der Nutzbarkeit
zu identifiziert. Es kann beobachtet werden, inwiefern wichtige Bereiche der Medien-
botschaft nicht betrachtet werden, Bereiche sehr lange fixiert werden, weil sie offenbar
nicht gleich verstanden werden oder wenn beispielsweise unwichtige Bereiche unge-
wollt viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ross verdeutlich das am Beispiel des Online-
Spielplans des Beach-Volleyball-Wettbewerbs der Olympischen Spiele in Peking, der
parallel so viele Informationen anbot, dass es den Nutzern nicht oder nur schwer gelang,
die Termine der einzelnen Spiele herauszufinden, weil ihr Blick i. d. R. von einem Detail
zum anderen wanderte, ohne die relevanten Details zu fokussieren. Da Probleme oder
Besonderheiten im Umgang mit Medienangeboten nicht nur mit der visuellen Selektion
verbunden sind, wird in der Usability-Forschung meist im Labor zusätzlich beobachtet
(Sarodnick & Brau 2011, S. 162 – 181), wie die Nutzer mit dem Angebot umgehen, wann
sie sich freuen oder ärgern und wann sie die Mediennutzung unter- oder gar abbrechen.
Ein Grundproblem der Beobachtung von Medienrezeptionsprozessen besteht im
Unwissen darüber, warum die Mediennutzer tun, was sie tun. Um das Handeln zu er-
gründen, sind zusätzliche Informationen nötig, die mit Hilfe zusätzlicher Erhebungsver-
fahren gewonnen werden. Zum Teil werden dazu Verfahren eingesetzt, die im weitesten
Sinne auch Beobachtungen sind, da sie Handlungen oder Reaktionen von Mediennut-
zern erfassen. Beispielsweise kann das Spielverhalten beobachtet werden, das dann wäh-
rend des Spielens eines Computerspiels aufgezeichnet und später – in Analogie zu In-
haltsanalysen – kategorisiert und ausgewertet wird (vgl. z. B. Weber et al. 2009). Andere
Studien beobachten Konversationen während der gemeinsamen Fernsehnutzung, wo-
mit sich sowohl Aussagen über die Art und Intensität der Mediennutzung sowie über
mögliche Wirkungen einzelner Fernsehsequenzen treffen lassen (im Überblick Hepp
1998, oder Klemm 2000). Darüber hinaus werden Reaktionen während der Rezeption
von Medienangeboten häufig mittels physiologischer Parameter erhoben (vgl. den Bei-
trag von Fahr in diesem Band). In der Kommunikationsforschung am weitesten verbrei-
tet ist jedoch die Kombination von Beobachtungen mit Inhaltsdaten oder Befragungen.
Eine spezielle Variante ist das sog. Laute Denken (vgl. Bilandzic 2005). Dabei werden die
Beobachtung 597
4.4 Ausblick
ren, wer im Internet welche Aktionen wie ausgeführt hat. Darüber hinaus hinterlassen
die meisten Aktivitäten im Internet Spuren, aus denen sich im Nachhinein die dazuge-
hörigen Handlungen des Nutzers rekonstruieren lassen; und nicht zuletzt zielen viele
typische Verhaltensweisen im Internet geradezu darauf ab, für andere sichtbar zu wer-
den, z. B. wenn bestimmte Angebote verlinkt, bewertet oder kommentiert werden. Diese
Handlungen stehen für wissenschaftliche Analysen zur Verfügung, wenn sie systema-
tisch ausgelesen und analysiert werden. Insofern könnte das Internet das wahre El-
dorado für Beobachtungsstudien werden.
Literaturtipps
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Physiologische Ansätze der Wirkungsmessung
Andreas Fahr
Abstract In diesem Kapitel werden Verfahren vorgestellt, die zur Erhebung und Analyse von Medien-
wirkungen, insbesondere Rezeptionsprozessen, herangezogen werden können. Der Schwerpunkt liegt
dabei auf der Beobachtung körperlicher Indikatoren psychischen Geschehens. Technisch-apparative
Verfahren der Nutzungsmessung (Reichweitenmessungen, Internetnutzung etc.) werden nicht disku-
tiert, da sie an anderen Stellen bereits gut dokumentiert sind. Neben physiologischen Grundlagen, Erhe-
bungsmodalitäten, Parametrisierung und Bedeutung der hier vorgestellten Verfahren wird jeweils auch
auf die Grenzen der Methoden sowie ihr Potenzial für die Beantwortung kommunikationswissenschaft-
licher Fragestellungen eingegangen.
1 Einführung
Im Folgenden werden verschiedene Verfahren vorgestellt, die dazu geeignet sind, Re-
zeptions- und Wirkungsprozesse zu messen. Die Verfahren und ihre Grundlagen wer-
den gerade so knapp diskutiert, wie dies zum Verständnis ihres Indikatorpotenzials für
psychische Prozesse im Rahmen kommunikationswissenschaftlicher Fragestellungen
nötig ist. Für tiefer gehende Erläuterungen sei auf die psychophysiologische Standard-
literatur verwiesen, die einen guten Einblick in die biologische und neurologische Basis
der Verfahren bietet. Im deutschsprachigen Bereich sind vor allem die Übersichtswerke
von Vossel und Zimmer (1998; 2000) und Schandry (1996) zu erwähnen. Als internatio-
nale Standardwerke können das Handbook of Psychophysiology (Cacioppo et al. 2007)
sowie der Band von Potter und Bolls (2012) gelten. Hinzu kommen einige weitere gute
Übersichten (Andreassi 2000; Kempter 1997; Kempter & Bente 2004). Für allgemeine
Hinweise zur Methode der Beobachtung sei auf das Kapitel von Gehrau in diesem Band
hingewiesen.
2 Elektrodermale Aktivität
Unter Elektrodermaler Aktivität (EDA) versteht man die Änderungen der bioelektri-
schen Eigenschaften der Haut. Die EDA ist sicherlich das am häufigsten verwendete phy-
sische Reaktionssystem im Rahmen psychophysiologischer Studien. Der Grund hierfür
liegt vor allem in ihrer vergleichsweise einfachen Messbarkeit, den geringen Kosten so-
wie der Korrelation mit einigen zentralen psychologischen Phänomenen. Hierzu gehö-
ren vor allem Aktivierung, Aufmerksamkeit, Informationsverarbeitung und emotionale
Prozesse (Dawson et al. 2000).
Für die EDA wesentliche Strukturen sind die ekkrinen Schweißdrüsen. Sie reagieren
sensibel auf „psychische Reize“ unterschiedlichster Art. Ihre höchste Dichte findet sich
an den Hand- und Fußinnenflächen; daher werden dort auch in der Regel die Mess-
werte abgenommen. Ihre Funktion wird vom sympathischen Teil des autonomen Ner-
vensystems gesteuert. Der Sympathikus hat eine ergotrope Wirkung, das heißt, er erhöht
die Handlungsbereitschaft. Die EDA wird daher mit emotionalen Reaktionen und moti-
vationalen Prozessen in Verbindung gebracht. Sie ist willentlich nicht kontrollier- und
steuerbar. Dies macht sie besonders interessant zur Messung von Phänomenen, die ent-
weder dem Rezipienten nicht zugänglich sind oder die er nicht preisgeben möchte1. Aus
letzterem Grund hat es die EDA auch zu zweifelhafter Berühmtheit als „Lügendetektor“
gebracht (Schüssler 2002).
Im Detail finden sich eine große Anzahl elektrischer Hautphänomene (vgl. Boucsein
1998) wobei die für die Wirkungsforschung wichtigsten das Niveau der Hautleitfähig-
keit (SCL = Skin Conductance Level) sowie die so genannten Skin Conductance Respon-
ses (SCR) sind. Die typische Hautleitfähigkeitskurve besteht aus einem Grundniveau
(das SCL), das als Indikator für allgemeine Erregung bzw. unspezifische Aktivierung des
sympathischen Nervensystems steht. Diese Grundlinie wird moduliert durch SCRs de-
ren Frequenz und Amplitude die situationsspezifische Aktivierung indiziert. Aus Per-
spektive der Informationsverarbeitung kann eine Erhöhung der EDA als Ressourcen-
allokation für relevante kognitive Prozesse interpretiert werden. Gleichzeitig steht eine
Erhöhung von SCL und SCR für emotional relevante, vor allem negative Erlebnisse. Die-
ser Befund wird gestützt durch Studien von Gross (1998): Bei Personen, die instruiert
waren, während der Betrachtung eines Films keine emotionalen Regungen nach außen
zu zeigen, fanden sich höhere SCL als bei Personen, die diese Instruktion nicht erhal-
ten hatten.
Auf einen weiteren für die Wirkungsforschung interessanten Befund zur EDA macht
Fowles (1988) aufmerksam: Die Herzschlagfrequenz (siehe unten) wird vor allem durch
das so genannte Behavioral Activation System (BAS) beeinflusst. Dieses System ist mit
1 Eine solche Messung widerspricht ethischen Prinzipien. Daher müssen Versuchsteilnehmer erstens
über Art und Aussagegehalt solcher Messungen aufgeklärt werden, zweitens dürfen die Daten nicht
personenbezogen ausgewertet bzw. dargestellt werden.
Physiologische Ansätze der Wirkungsmessung 603
3 Kardiovaskuläre Aktivität
Wesentliche physiologische Funktion der KVA ist die Versorgung des Körpers über
Arterien mit Sauerstoff und Nährstoffen sowie der Abtransport von Stoff wechselpro-
dukten über das venöse System. Die KVA ist an der Temperaturregulation, der Immun-
abwehr und der hormonellen Steuerung beteiligt. Damit sichert das System die Ho-
möostase des Organismus – und dies in der Regel ohne unser Zutun. Man kann es sogar
als den eigentlichen Sinn des autonomen Nervensystems betrachten, kurzfristige und
vielfach vorauseilende Anpassungen des Organismus an aktuelle Ereignisse zu ermög-
lichen. Insbesondere zeigen Untersuchungen, dass Stress und aversive Gefühle zu einer
Aktivierung des sympathischen Nervensystems und zu einer Deaktivierung des para-
sympathischen Systems führen. Dabei gilt, dass die parasympathische Innervation den
Herzschlag im Allgemeinen verlangsamt, die sympathische ihn in der Regel beschleu-
nigt (Vossel & Zimmer 1998).
Die Messung der KVA erfolgt durch die Ableitung mittels Messelektroden, wobei
verschiedene Ableitorte möglich sind (z. B. Brustwand). Da das EKG ein relativ star-
kes bioelektrisches Signal ist, stellt dessen Erfassung weder hohe Anforderungen an die
technische Ausstattung noch an das Know-how der Versuchsleiter. Selbst Laien können
nach einer kurzen Einführung zuverlässig EKGe erheben. Die Sportindustrie bietet dar-
über hinaus preiswertes und zuverlässig arbeitende Geräte zur Erhebung der Pulsfre-
quenz an (z. B. mittels eines Brustgurtes oder der Durchblutung von Finger oder Ohr-
läppchen), das die Messung auch außerhalb des Labors erlaubt.
3.1 Herzfrequenz
3.2 Blutdruck
Die Messung des Blutdrucks war lange Zeit für die meisten Fragestellungen der psycho-
physiologischen Wirkungsforschung ungeeignet. Dies hing zum einen mit der recht stö-
renden Applikation (z. B. Manschettendruckverfahren) und niedrigen zeitlichen Auf-
lösung (Messung maximal alle 10 Minuten) zusammen. Zum anderen gab es derart
viele verschiedene den Blutdruck regulierende Faktoren, dass es selten sinnvoll erschien,
Blutdruckwerte und dessen Veränderungen als Maße spezifischer physiologischer oder
psychischer Prozesse zu betrachten. Sie konnten allenfalls als sehr allgemeine, summa-
rische Indikatoren kardiovaskulärer Aktivität angesehen werden.
606 Andreas Fahr
Grundsätzlich ist der Blutdruck das Produkt von Auswurfleistung des Herzens und
peripherem Widerstand. Erstere ergibt sich aus Kontraktionskraft, Schlagvolumen und
Herzfrequenz, letzterer aus Elastizität und Durchmesser von Arterien und Arteriolen.
Vereinfacht dargestellt nimmt bei Zunahme des peripheren Widerstands die Kontrak-
tionskraft des Herzens zu. Gleichzeitig gibt es so genannte Barorezeptoren in den Gefä-
ßen, die bei (zu starkem) Druckanstieg zu einer Entspannung der Gefäße und Vermin-
derung der Herzleistung führen. Absteigende Bahnen von der Hirnrinde, insbesondere
dem Limbischen System, die vermutlich im Hypothalamus umgeschaltet werden, sind
u. a. für den Blutdruckanstieg infolge emotionaler Belastung verantwortlich (Schandry
1996). Die Zusammenhänge zwischen psychosozialen Wahrnehmungen und Blutdruck
hängen jedoch auch mit verschiedenen anderen Faktoren wie der Nierenfunktion, dem
vegetativem Nervensystem und dem Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-System
zusammen. Bei akutem Stress steigt etwa in der Niere der Gefäßwiderstand an und der
Blutdruck steigt. Wenn Stress, Ärger oder Angst lange andauern, können die überhöhte
Sympathikus-Aktivität (vermehrte Ausschüttung von Stresshormonen) und die ver-
minderte Parasympathikus-Aktivität (zu wenig Erholung) zu einem dauerhaft erhöhten
Bluthochdruck führen. (Cacioppo et al. 2007)
Es gibt mittlerweile sehr ausgereifte Methoden der kontinuierlichen Blutdruckmes-
sung (vgl. auch Friedman et al. 2004). Hier wird beispielsweise eine Manschette über
den Finger gestülpt, die computer- und pulsgesteuert aufgeblasen und entlüftet wird.
Der aufgebaute Druck führt dazu, dass zunächst keine Blutvolumenänderungen mehr
stattfinden. Das Blutvolumen wird nun photoelektrisch gemessen. Die Messung des
kompensierenden Außendrucks liefert eine Annäherung an den Innendruck. Die An-
gabe des arteriellen Drucks erfolgt als Zahlenpaar aus systolischem Druck (maximaler
Wert) und diastolischem Druck (minimaler Wert), beispielsweise „110 zu 70“. In Ruhe
beträgt der systolische Druck normalerweise (100 – 130 mmHg), der diastolische Wert
liegt bei 60 – 85 mmHg.
Bei körperlicher Anstrengung nehmen Herzminutenvolumen und Durchblutung
der Extremitäten zu, der Gefäßwiderstand sinkt. Anstrengung und Stress sind für den
Anstieg des systolischen arteriellen Drucks verantwortlich. Bei emotional belastenden
Erlebnissen findet sich eine Abschwächung der Baroreflex-Sensitivität. Ein vorüberge-
hender Blutdruckanstieg ohne körperliche Betätigung kann folglich als Ausdruck ei-
ner starken emotionalen Betroffenheit interpretiert werden (Krumhansl 1997). Gefühle
wie Wut, Ärger oder Angst führen zu einer plötzlichen, einige Zeit andauernden Blut-
drucksteigerung. Im Detail beeinflusst die psychische Befindlichkeit die Höhe des Blut-
drucks also unmittelbar: bei Ärger, Angst, Aufregung und Stress kann der Blutdruck im
Extremfall bis zu 240 / 130 mmHg ansteigen. Bei Ruhe und Entspannung sinkt er deut-
lich ab. Schock- und Schreckreaktionen sowie starker Stress führen im Extremfall zu ei-
ner parasympathischen Überaktivität mit ebenfalls starkem Blutdruckabfall (Sinha et al.,
1992). Insgesamt existieren Hinweise darauf, dass eine erhöhte stressinduzierte zentrale
Aktivität des autonomen Nervensystems oder auch eine erhöhte periphere sympathi-
Physiologische Ansätze der Wirkungsmessung 607
Erbleichen oder Erröten (plötzliche Ausdehnung von Blutgefäßen und einer damit ver-
bundenen Zunahme des Blutvolumens der Haut, des Gesichtes und des Halses) sind
sichtbare Veränderungen der peripheren Durchblutung. So wird beispielsweise zwischen
blush und flush unterschieden. Blush beschreibt das Erröten als körperliche Begleiter-
scheinung einer selbstbewertenden Emotion (beispielsweise als Folgen von Verlegen-
heit, Scham, Scheu, Peinlichkeit). Flush hingegen verwendet der englische Sprachraum
im Zusammenhang mit Ärger, Zorn und Wut als Resultat externer Auslöser (Drum-
mond et al. 2007; Mariauzouls 1996). Bereits geringe Änderungen im Aktivationsniveau
zeigen sich also in Durchblutungsveränderungen in der körperlichen Peripherie. Das
Ausmaß der Hautdurchblutung in peripheren Körperbereichen wird nahezu ausschließ-
lich durch das sympathische Nervensystem reguliert, das kaum willentlich kontrolliert
werden kann.
Bei der Messung des Blutvolumens betrachtet man Volumenschwankungen im
Rhythmus des Herzschlags (s. o.). Veränderungen der peripheren Durchblutung werden
mit so genannten plethysmografischen (plethysmos = Vergrößerung) Verfahren erhoben,
die Werte über Durchblutungsveränderungen liefern: Während schwach durchblutetes
Gewebe eine relativ hohe Lichtdurchlässigkeit aufweist, wird infrarotes Licht vom Blut
absorbiert. Dieses Phänomen – viel Blut, wenig Licht – machen sich photopletysmogra-
fische Verfahren zunutze (für weitere Verfahren vgl. etwa Schandry 1996): Eine kleine
Manschette mit einer Lichtquelle und einem Lichtsensor wird in der Regel an einem
Finger oder am Ohrläppchen befestigt. Der Lichtsensor wandelt die Veränderung der
Lichtintensität in elektrische Impulse um, die an den Rechner weitergegeben und dort
verarbeitet werden. Dieses Verfahren stellt – ähnlich wie das EKG – sehr geringe An-
forderungen an Versuchsleiter, technische Ausstattung und Umgebung. Die Abnehmer
sind klein, einfach anzuwenden, stören kaum und liefern für Studien der Rezeptionsfor-
schung in der Regel ein ausreichend gutes Datenniveau.
Bei den charakteristischen Wellen der Blutvolumenkurven handelt es sich um die
von Herzschlag zu Herzschlag auftretenden Veränderungen des Blutvolumens. Die Dif-
ferenz zwischen minimalem und maximalem Wert (Volumen) pro Herzschlag bezeich-
608 Andreas Fahr
net man als Pulsvolumen oder Pulsvolumenamplitude (PVA). Die PVA kennzeichnet da-
mit das relative periphere Blutvolumen und dessen Veränderung. Sind die Gefäße also
entspannt, beobachtet man größere PVA. Parameter der phasischen PVA-Veränderun-
gen beruhen auf dem Vergleich zwischen Prä- und Post-Stimulus-Werten. Bei Belastung
psychischer und physischer Art sinken sowohl die Werte des Blutvolumens als auch des
Pulsvolumens. Die meisten Veränderungen des peripheren Blutvolumens dürften inner-
halb eines Zeitraums von 1,5 bis 10 Sekunden nach einer bedeutenden Reizkonstellation
auftreten. Tonische Blutvolumenänderungen werden meist durch situative und / oder
psychische Zustandsveränderungen, seltener durch Einzelreize ausgelöst. Phasische
Veränderungen über meist nur einige Sekunden können spontan auftreten oder durch
kurz anhaltende Außenreize bedingt sein (Potter & Bolls 2012; Cacioppo et al. 2007;
Vossel & Zimmer 1998).
4 Gehirnaktivität
Die unmittelbare Messung der Aktivität des Gehirns kann einerseits durch Registrie-
rung elektrischer Potenziale bzw. elektrischer Ströme, andererseits durch Messung von
Stoffwechsel- bzw. Durchblutungsveränderungen beobachtet werden. Die physiologi-
sche Messung der Gehirnaktivität ist auf Grund der Komplexität des Organs, seiner Pro-
zesse und Verknüpfungen sicherlich die größte medizinische Herausforderung über-
haupt. Trotz enormer Fortschritte der Gehirnforschung in den vergangenen Jahren steht
das Verständnis von Prozessen wie Denken, Fühlen und Handeln aus gehirnphysiologi-
scher Perspektive noch eher am Anfang. Gleichwohl hat Forscher schon immer die Idee
fasziniert, man könne dem Gehirn bei diesen Prozessen „zuschauen“ und einen erhel-
lenden Blick in die Black Box erlangen. Die Möglichkeiten der (kommunikationswis-
senschaftlichen) Wirkungs- und Rezeptionsforschung bleiben unterdessen beschränkt.
Dies hängt erstens mit dem im Vergleich zu anderen Messungen enormen technischen
Aufwand und der eingeschränkten externen Validität der Erhebung zusammen. Zwei-
tens erfordert die überzeugende Analyse und Interpretation der gewonnenen Daten für
Kommunikationswissenschaftler ein vergleichsweise hohes Maß an Know-how aus eher
fremden Domänen. Daher werden derartige Studien regelmäßig in Kooperation mit
Spezialisten aus der Medizin umgesetzt. Drittens ist die Spezifität der gewonnenen Para-
meter selten höher als die anderer physiologischer Messverfahren. Der Aufwand steht
folglich oft nicht in einem entsprechenden Verhältnis zum Ertrag.
Mittels der Elektroenzephalographie (EEG) wird seit dem ersten Drittel des vergange-
nen Jahrhunderts die elektrische Aktivität des menschlichen Gehirns gemessen. In der
Physiologische Ansätze der Wirkungsmessung 609
Quelle: privat
Psychophysiologie wird die EEG vor allem zur Messung der Aktivität der Großhirnrinde
eingesetzt. Gemessene psychologische Konzepte sind in der Regel die allgemeine Akti-
vation, die spezifische Aktivität des Gehirns bei der Aufnahme und Verarbeitung von
Reizen, Aufmerksamkeitsprozesse, Sprachverarbeitung sowie Bewusstseinszustände.
Wie bei fast allen physiologischen Maßen wird zwischen spontaner (Spontan-EEG) und
ereignisbezogener Aktivität (Ereigniskorrelierte Potenziale, engl. ERP) unterschieden
(Schandry 1996). Erstere bezeichnet den „Routinefall“ mit Niveau- bzw. vor allem Fre-
quenzveränderungen – in anderen Kontexten mit den tonischen Werten vergleichbar
(siehe oben). ERP dagegen sind auf das Auftreten signifikanter Reizkonstellationen be-
zogen (ähnlich der phasischen Aktivität).
Das Elektroenzephalogramm ist deutlich aufwändiger zu erheben als die bislang
vorgestellten physiologischen Messverfahren. Erfahrung hinsichtlich Ableitmethodik,
Handhabung der technischen Geräte sowie Analyse und Beurteilung der Kurvenverläufe
ist unabdingbar (Abbildung 1). Da die gemessenen elektrischen Potenziale im Vergleich
zu anderen Größen extrem klein sind (im Vergleich zum EKG etwa um bis zu 1 000 mal
niedriger), müssen sie erheblich verstärkt werden und sind anfällig für elektrische Stö-
rungen. Neben externen Störungen sind EEG-Messungen außerdem empfänglich für
„interne“ Störungen, die durch Bewegungen oder andere innere Veränderungen der Re-
zipienten bedingt sind. Hierzu gehören neben den klassischen Bewegungsartefakten
schon kleinste Irritationen wie Lidschläge, Augenbewegungen, Herzschläge, Hautpo-
tenzialveränderungen oder Kopfbewegungen. Diese Effekte müssen kontrolliert werden,
etwa durch gleichzeitige Aufzeichnung des EKG und des EOG (siehe unten) (Schandry
1996, 2003; Cacioppo et al. 2007). Wenn in der Literatur empfohlen wird, während der
610 Andreas Fahr
Aktiviertheit“. Die Alpha-Blockade gilt dabei als Indikator für die Orientierungsreak-
tion, die eine Folge unerwarteter, neuartiger Reize ist. Für die Schlafforschung hat die
Frequenzverteilung eine besondere Bedeutung, da die Identifikation des Anteils der Fre-
quenzbänder den Grad der Wachheit bzw. die verschiedenen Schlafstadien anzeigt. Ins-
besondere die Deltawellen tragen zur Definition der tieferen Schlafphasen bei. Mit der
REM-Latenz wird die Zeit zwischen dem Einschlafen und dem Beginn der ersten REM-
Phase bezeichnet. Diese liegt bei Erwachsenen im Mittel bei etwa 90 Minuten (+ / − 30).
Ist diese REM-Latenz deutlich kürzer (z. B. innerhalb von 25 Minuten nach dem Ein-
schlafen), so bezeichnet man dies als vorzeitigem REM-Schlaf, der Schlafstörungen in
Zusammenhang gebracht wird (Bkeland et al., 1968).
Ein Anwendungsbeispiel aus der kommunikationswissenschaftlichen Forschung
stellt die Studie von Fahr et al. (2006) dar. Sie prüften, ob sich die Rezeption eines Thril-
lers (Die Kammer gegenüber der Komödie Und dann kam Polly) auf die Schlafqualität
auswirkt. Es zeigte sich kein signifikanter Einfluss auf die Dauer der Phasen des Tief-
schlafs, des leichten Schlafs, des Traumschlafs sowie der Wachphasen. Allerdings war,
entgegen der ursprünglichen Hypothese, nach der Thriller-Rezeption die Einschlaf-
dauer kürzer. Das heißt, dass der stark involvierende Film durch sein Ablenkungspoten-
zial schneller einschlafen lässt. Außerdem erfolgte in der Untersuchung die erste REM-
Phase beim Thriller signifikant früher als nach der Komödie – ein Hinweis darauf, dass
uns Thiller tatsächlich „schlechter schlafen“ lassen.
Die Tatsache, dass selbst „langsame“ Komponenten der ERP im Millisekunden-Be-
reich liegen und dennoch die Qualifikation eines Reizes als „neu“ und / oder „bedeu-
tungsvoll“ ermöglichen, macht einerseits deutlich, wie schnell unser Organismus eine
solche erste Bewertung vornehmen kann. Gleichzeitig ist die Definition von „neu“ und
„bedeutsam“ in EEG-Studien in den wenigsten Fällen mit einem kommunikationswis-
senschaftlichen Verständnis der Begriffe zu vergleichen. In erstgenannten Studien mag
schon ein unbekannter Ton in einer Folge von Tönen oder ein Lichtblitz die Qualifika-
tion als „neu“ oder „unerwartet“ erhalten. Diese Definition hat wenig mit der Wahrneh-
mung einer „neuen“ Nachricht oder einer neuartigen Rezeptionskonstellation zu tun.
Die Anzahl einschlägiger Studien zu Fragestellungen dieser Forschungsgebiete ist daher
vergleichsweise überschaubar (z. B. Appel et al. 1979; Nevid 1984; Rothschild & Hyun
1990; Rothschild et al. 1988; Rothschild et al. 1986; Simons et al. 2003; Smith & Gevins
2004; Weinstein et al.1984; Weinstein et al. 1984).
4.2 Stoffwechsel
Das klassische EEG kann nur vergleichsweise beschränkte Aussagen über die lokale Ak-
tivität einzelner Gehirnregionen machen. Das Verfahren ist darüber hinaus recht an-
fällig für Artefakte, außerdem belastend und ablenkend für die Versuchsteilnehmer. So
steht häufig der Ertrag solcher Untersuchungen in keinem vernünftigen Verhältnis zum
612 Andreas Fahr
Aufwand. Auf Grund der technischen Entwicklung der vergangenen 20 Jahre sind daher
andere Verfahren im Begriff, der EEG-Messung gleichsam den Rang abzulaufen. Hier-
bei handelt es sich um Verfahren, die Stoffwechselprozesse im Gehirn dreidimensional
und mitunter auf die Zeitachse projiziert darstellen können. Durch sie besteht zuneh-
mend die Möglichkeit, kognitive und affektive Prozesse bestimmten Gehirnregionen
zuordnen zu können, über deren Zusammenhang bislang nur spekuliert werden konnte.
Die Verfahren erlauben innerhalb bestimmter Grenzen die direkte Messung regionaler
neuronaler Aktivität. Sie werden unter den bildgebenden Verfahren zusammengefasst
und auch brain mapping oder brain imaging genannt.
Die „Macht des Bildes“ mit seinem intuitiven Zugang hat diesen Verfahren auch in
der angewandten Medienforschung einige Beachtung eingebracht. Seit einigen Jahren
ist zumindest ihre explorative Anwendung etwa in der Marktforschung in Mode (vgl.
zusammenfassend Fehse 2009). Gleichzeitig ist das Verfahren derzeit noch sehr teuer
und wegen der Komplexität hinsichtlich Datenaufzeichnung, Analyse und Interpreta-
tion medizinischen Fachleuten vorbehalten. Aus diesem Grund soll sich die folgende
Beschreibung auf einige zentrale Punkte beschränken, die Möglichkeiten und Grenzen
beschreiben.
Die Messung von Stoffwechselprozessen basiert auf dem Zusammenhang zwischen
dem Blutfluss im Gehirn und der neuronalen Aktivität. Bei der Aktivierung von Ner-
venzellen wird Sauerstoff verbraucht, ungefähr vier bis sechs Sekunden nach der Ak-
tivierung wird der Sauerstoffverbrauch durch erhöhten Zufluss von sauerstoffreichem
Blut wieder ausgeglichen. Da die Hirnaktivität also passiv über den Stoff wechsel ge-
messen wird, der nur verzögert erfolgt, ist die zeitliche Auflösung dieser Verfahren ver-
gleichsweise gering. Sie eignen sich also vornehmlich für die Untersuchung statischer
Stimuli wie Bilder, Logos oder ähnlichem. Die räumliche Auflösung der Verfahren ist
dagegen sehr hoch, Vorgänge können geografisch inzwischen im Millimeterbereich ver-
ortet werden (Cacioppo et al. 2007; Schandry 1996).
Im Zentrum der angewandten Verfahren steht die funktionelle Magnetresonanz-
tomographie (fMRT, englisch: fMRI). Sie ist das derzeit am häufigsten verwendete bild-
gebende Verfahren im so genannten Neuromarketing (z. B. Häusel 2008). FMRT bietet
gegenüber den nuklearmedizinischen Verfahren (z. B. PET) den Vorteil der geringen
Belastung der Probanden durch Strahlung, eine berührungsfreie Messung, eine hohe
räumliche und zeitliche Auflösung und damit die genaue anatomische Lokalisation von
Aktivierung. Die fMRT macht sich den sogenannten BOLD-Effekt (Blood Oxygenation
Level Dependent) zu Nutze, der besagt, dass sich sauerstoffarmes Blut magnetisch an-
ders verhält als sauerstoffreiches Blut. Wird also eine Veränderung im Magnetfeld des
Scanners gemessen, so kann diese auf eine Veränderung im Blutfluss zurückgeführt
werden, von der wiederum auf eine durch die Verarbeitung eines Reizes veränderte
Hirnaktivität geschlossen wird. Ein Messvorgang beansprucht zwischen 10 und 15 Mi-
nuten, in dem die Testpersonen dem Stimulus mehrfach ausgesetzt werden (so genannte
„Trials“). Die Ergebnisse werden kumuliert und schließlich zu einem Gesamtbild ver-
Physiologische Ansätze der Wirkungsmessung 613
rechnet. Durch statistische Verfahren erfolgt ein Vergleich aufgezeichneter Daten aus
der Reizphase mit denen aus der Ruhephase.
Die Beschreibung der Methode macht bereits einige Vor- und Nachteile der bild-
gebenden Verfahren offenkundig. Ein formaler Vorteil, der wohl auch für die rasche
Verbreitung im Neuromarketing mitverantwortlich war, ist der plastische und intuitiv
zugängliche Charakter der Ergebnisse, die auch Laien anschaulich dargebracht werden
können. Doch auch wenn die Bilder oft den Anschein erwecken, „Live-Aufnahmen“ des
Gehirns darzustellen, sind sie „nur“ die Kombination von statischen Aufnahmen und
statistischen Berechnungen. Das Missachten dieses Sachverhaltes führt daher immer
wieder zu Über- und Fehlinterpretationen. Ein Vorteil ist, dass mithilfe dieser Verfahren
unbewusste Vorgänge indiziert werden können und somit auch Informationen erhal-
ten werden, die die Probanden in einer Befragung nicht angeben können. Das bedeutet
nicht, dass Probanden mutwillig falsche Aussagen treffen würden – vielmehr können sie
beispielsweise eine Kaufentscheidung mit ihren eigenen Worten nicht vollständig erklä-
ren, da ein Großteil des Entscheidungsprozesses unbewusst abläuft und erst im Nach-
hinein von den Befragten rationalisiert wird.
Wenngleich man mit Gehirnscannern derzeit recht genau den Grad und den Ort
der „emotionalen“ Aktivierung bestimmen kann so ist ein Rückschluss auf die Art der
Emotion nicht ohne weitere Parameter möglich. Auch das komplexe Zusammenspiel
der einzelnen Hirnstrukturen ist bislang noch kaum erforscht. Weiterhin setzen Me-
thoden wie die fMRT voraus, dass bereits vor dem Scanvorgang die zu untersuchenden
Hirnareale festgelegt werden müssen, die untersucht werden sollen. Ein großer Nachteil
der meisten bildgebenden Verfahren ist außerdem der mit ihnen verbundene sehr hohe
finanzielle, zeitliche und personale Aufwand. Dies führt dazu, dass in der Regel mit sehr
geringen Fallzahlen gearbeitet wird, was sich wiederum negativ auf die Repräsentativi-
tät auswirkt. Zudem wird die Validität der Ergebnisse – analog zu einigen bislang dis-
kutierten Messverfahren – durch die Laborsituation geschmälert. Die fMRT setzt etwa
die vollkommene Abschirmung von äußeren Störfaktoren voraus und kann daher nur
in speziellen Labors durchgeführt werden. Bei den Verfahren müssen die Stimuli zudem
präsentiert werden, während sich der Proband in einem Tomographen befindet. Dies
trägt nicht unbedingt zur externen Validität der Untersuchung bei.
Auch einige ethische Aspekte müssen berücksichtigt werden. Die ersten Studien im
Bereich des Neuromarketing weckten Assoziationen vom Bild des „gläsernen Konsu-
menten“ und sorgten für zahlreiche Kontroversen (Lee et al. 2007). Die Vorwürfe, mani-
pulative Absichten zu hegen und mithilfe der Forschungsergebnisse Strategien zu entwi-
ckeln, die Konsumenten zu „willenlosen Kunden“ machen, werden von den beteiligten
Unternehmen und Forschern zwar zurückgewiesen. Dennoch bleiben die Fragen wei-
terhin umstritten, ob man medizinische Instrumente dazu einsetzen darf, das Kaufver-
halten von Konsumenten zu analysieren, und ob die daraus gewonnen Erkenntnisse
letztlich eine Einschränkung des freien Willens bedeuten (Wilson et al. 2008). Insge-
samt zeigt sich, dass in Studien, die bildgebende Verfahren einsetzen, die Bedeutung
614 Andreas Fahr
der medienvermittelten Verarbeitung von Informationen selten eine Rolle spielt. Aus-
nahmen sind die Studien aus dem „Neuromarketing“ (vgl. Fehse 2009) oder Studien zur
Wirkung von Computerspielen (vgl. etwa Weber et al. 2006).
5 Muskelaktivität
5.1 Gesichtsmuskulatur
emotional erlebten Situationen ausgelöst. Es spricht einiges dafür, dass bei der Steue-
rung der (emotionalen) Mimik unter anderem die Inselrinde, der Thalamus und an-
dere subkortikale Strukturen beteiligt sind (vgl. auch Schandry 2003). Der Oribicularis
oculi etwa, der das Auge umgibt und die Haut von den Wangen und der Stirn zum Aug-
apfel hinzieht, wird vom Limbischen System kontrolliert (Damasio 2000) während die
Mundwinkel (Zygomaticus major) von den motorischen Hirnrindenregionen gesteuert
werden.
Da nicht alle Emotionsregungen von offensichtlichen Gesichtsregungen begleitet
werden, lassen sich durch die EMG selbst subtilste Veränderungen der motorischen In-
nervation der Gesichtsmuskulatur aufdecken (Tassinary & Cacioppo 1992). So ist der
oribicularis oculi beispielsweise nur am „echten“ Lächeln beteiligt (Duchenne 1862,
1990). Bolls et al. (2001) konnten belegen, dass das Gesichts-EMG mit der im Fragebo-
gen erhobenen Valenz der Radiowerbung korrespondiert.
Unabhängig von dieser apparativen Messung von Emotionen können geschulte Be-
obachter im Prinzip sechs verschiedene Klassen des Gesichtsausdrucks unterscheiden
(glücklich, traurig, ärgerlich, überrascht, ängstlich und angewidert). Diese Fähigkeit be-
steht über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg. Vorreiter dieser Forschungsper-
spektive waren Paul Ekman und Wallace Friesen (Ekman & Friesen 1975). Auf Basis ih-
res Klassifikationsmodells (Facial Action Coding System (FACS), Ekman & Friesen 1978;
bzw. dem Emotion Facial Action Coding System (EMFACS)) sind Codierer in der Lage,
zumindest die sechs Basisemotionen valide zu qualifizieren und zu quantifizieren. Die
Codierung erfolgt entlang so genannter action units (AU), die ihre Basis in Muskel-
616 Andreas Fahr
kontraktionen und -entspannungen haben. Sie werden zu action descriptors (AD) zu-
sammengefasst, die dann jeweils eine inhaltliche Bedeutung haben. In der Medienre-
zeptionsforschung wird dieses recht aufwändige Verfahren durchaus Gewinn bringend
eingesetzt, um das emotionale Erleben von Personen während der Medienrezeption zu
messen (z. B. Unz et al. 2006).
5.2 Augenaktivität
Die Messung speziell von Augenbewegungen erfolgt durch die Elektrookulographie, ihr
Ergebnis ist das Elektrookulogramm (EOG). In der psychophysiologischen Forschung
dominiert die Ableitung mittels Elektroden; in der angewandten Rezeptionsforschung
kommt verschiedene Blickregistrierungshardware und -software zum Einsatz. Beim klas-
sischen Verfahren werden kleine Elektroden so nah wie möglich um die Augen herum
angebracht. Sie erfassen einerseits Lidschläge, andererseits die Bewegung der Augen. Die
Steuerung der Augenbewegungen erfolgt über sechs Muskeln, die am Augapfel angrei-
fen und das Auge um die vertikale, horizontale und sagitale Achse drehen. Für die Re-
zeptions- und Wirkungsforschung sind Fixationen und Sakkaden von besonderem In-
teresse. Während einer Fixation nimmt das Auge Informationen aus der Umgebung auf
und leitet diese an das Gehirn weiter. Sakkaden sind dagegen schnelle, ruckartige Bewe-
gungen von einem Objekt zum anderen mit jeweils darauf folgender Fixation. Je nach
Analyseinteresse werden bei Blickbewegungen also Latenz, Amplitude, Beschleunigung,
Richtung sowie Fixationspausen bestimmt (Cacioppo et. al. 2007; Potter & Bolls 2012).
Physiologische Ansätze der Wirkungsmessung 617
6 Reaktionsgeschwindigkeit
Abbildung 4 Eyetracking
zieren. Sie können jedoch auch verwendet werden, um die psychologische Nähe zu ei-
nem Ereignis oder einer Reizkonstellation festzustellen. Es werden dabei grundsätzlich
zwei Arten von Reaktionszeiten unterschieden, die primäre und die sekundäre Reak-
tionszeit. Bei der primären Reaktionszeit (Detektionszeit oder Detektionslatenz) wird
der Zeitraum gemessen, die ein Rezipient benötigt, um eine Reizkonstellation zu er-
kennen (ihr Auftreten, ihre Form, ihre Bedeutung) oder eine Aufgabe zu lösen (z. B.
eine Frage zu beantworten). Bei der sekundären Reaktionszeit (Secondary Task Reaction
Time (STRT)) wird eine parallele (zweite) Aufgabe gestellt, die in keinem Zusammen-
hang mit der ersten – hier etwa der Medienrezeption – steht. Dann wird die Reaktions-
zeit auf diese zweite Aufgabe gemessen (Basil 1994). Das heißt Reaktionszeiten können
als Korrelat kognitiver Prozesse, kognitiver Verarbeitungstiefe, Aufmerksamkeit oder
Involvement gesehen werden. Auch für die Verfügbarkeit relevanter Konstrukte wird
die Reaktionszeit als Indikator angesehen (z. B. Becker 1976). Die psychologische Ein-
stellungsforschung beschäftigt sich außerdem mit automatischen Prozessen im Kontext
von Stereotypen und Vorurteilen. Zur Messung impliziter Einstellungen haben Green-
wald, McGhee & Schwartz (1998) beispielsweise den Impliziten Assoziationstest (IAT)
vorgestellt.
Physiologische Ansätze der Wirkungsmessung 619
Die Verfahren machen sich die Tatsache zu nutze, dass unsere kognitive Verarbei-
tungskapazität innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls zum einen begrenzt ist, zum
anderen kognitive Prozesse stets eine gewisse Zeit benötigen. Je kürzer die Reaktions-
zeit ist, umso weniger Verarbeitungskapazität hat die Aufgabe benötigt. Der Messung
der sekundären Reaktionszeit liegt der Gedanke zugrunde, dass eine gewisse kognitive
Verarbeitungskapazität des Rezipienten durch die primäre Aufgabe – das Verfolgen des
Medienangebots – gebunden ist. Jede weitere parallele Aufgabe konkurriert nun um die
begrenzte Verarbeitungskapazität. Durch Messung der Verarbeitungstiefe dieser zwei-
ten Aufgabe lässt sich also indirekt auf die Verarbeitungstiefe der ersten Aufgabe schlie-
ßen. Bei der STRT ist die Reaktionszeit somit umgekehrt proportional zur Verarbei-
tungstiefe der ersten Aufgabe (Basil 1994).
Bei Reaktionszeitmessungen wird also generell die Zeit protokolliert, die ein Rezi-
pient benötigt, um eine bestimmte Aufgabe zu lösen. Das kann das Erkennen eines
akustischen oder optischen Signals, eines Objekts oder das Beantworten einer Frage
sein. Da Reaktionszeiten in der Regel unter einer Sekunde liegen, müssen die apparati-
ven Verfahren geeignet sein, diese kurze Zeit zu registrieren und mit dem Signal zu kop-
peln. Bei Messungen der sekundären Reaktionszeit ist es wichtig sicherzustellen, dass
die zweite Aufgabe den Verarbeitungsprozess der ersten möglichst nicht beeinträchtigt.
Daher werden in der Regel einfache Aufgaben gestellt wie etwa die Reaktion auf einen
akustischen oder optischen Reiz.
7 Real-time Introspektion
Fahr 2006; Reinemann & Maurer 2003; Wünsch 2006). Dies gilt freilich nur insoweit,
als Rezipienten ihr Urteil tatsächlich kontinuierlich abgeben können und wollen. Sind
sie etwa von einem Inhalt besonders gebannt, ist es denkbar, dass „vergessen“ wird, dem
Erleben Ausdruck zu verleihen. Dieses Problem tritt gleichwohl bei allen rezeptions-
begleitenden Verfahren der Introspektion und Selbstbeobachtung zu.
Die Güte von CR- bzw. RTR-Messungen hängt des Weiteren von der Klarheit und
Einfachheit der Instruktion ab. Elaborierte Urteile sind zweifellos mit diesem Verfahren
nicht messbar. Darüber hinaus kann jeweils immer nur eine Rezeptionsdimension in-
nerhalb eines Messdurchgangs erhoben werden – die Reichhaltigkeit und Vielfalt, die
die MLD oder andere Interviewformen erzielen, erreicht das Verfahren nicht. Hinzu
kommt das Problem der Latenzzeiten: Zuschauer reagieren auf unterschiedliche Me-
dieninhalte unterschiedlich (schnell). Darüber hinaus tritt – wie bei anderen aufgaben-
bezogenen Verfahren – das Problem der Aufmerksamkeitsteilung auf: Die Rezipienten
müssen sich parallel zum präsentierten Material dem Messverfahren widmen, was auf
Kosten der Validität der Messung gehen kann. Es gibt daher Hinweise darauf, dass der
Einsatz des Verfahrens das Erleben beeinflusst. Fahr und Fahr (2009) belegen beispiels-
weise, dass es unter Einsatz von RTR-Messungen in bestimmten Situationen zu einer
Dämpfung der physiologischen Aktivierung kommen kann.
Physiologische Ansätze der Wirkungsmessung 621
8 Zusammenfassung
Insgesamt zeigte die Übersicht über die verschiedenen Möglichkeiten der Erhebung
physiologischer Korrelate von Rezeptions- und Wirkungsprozessen zahlreiche Poten-
ziale und Restriktionen. Restriktionen sind vor allem der hohe apparative Aufwand, der
sich je nach Verfahren auch auf die externe Validität der Messung auswirkt. Dieser geht
einher mit Kosten, die sich zwischen einigen 1 000 (z. B. Messung elektrodermaler Akti-
vität, Codierung der Mimik) und mehreren 100 000 Euro (Bildgebende Verfahren) be-
wegen dürfte. Der apparative Aufwand stellt einerseits hohe technische und inhaltliche
Anforderungen an das bedienende Personal, die weit über das Austeilen von Fragebö-
gen hinausgeht. Dieser Aufwand wird verstärkt durch die Anforderung an Räumlich-
keiten, die eine reliable und valide Erhebung physiologischer Daten erlauben. Zentral
ist sicherlich auch das spezielle Know-how der Forscherinnen und Forscher, das viel-
fach Kenntnisse in Mathematik und Statistik, Medizin und Elektrotechnik erfordert.
Die von den meisten apparativen Verfahren gelieferten Daten sind nämlich nicht-para-
metrisierte Rohdaten, die zunächst aufwändig und verständig weiter verarbeitet werden
müssen. Schließlich ist auch deren Interpretation in der Regel deutlich anspruchsvoller
als jene von Betakoeffizienten, Prozent- oder Mittelwerten. Die Vorstellung täuscht also,
dass psychophysiologische Verfahren interpretierbare Werte quasi „auf Knopfdruck“
liefern. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Reichhaltigkeit, die physiologische
Rezeptionsdaten bieten, konzeptuell und phänomenologisch auf deutlich niedrigerem
Niveau angesiedelt sind als etwa Daten von klassischen Beobachtungen oder Befragun-
gen. Wenn letztere etwa das Konstrukt Einstellung gegenüber einer Person detailliert
und vielschichtig zu erheben in der Lage sind, so kann über physiologische Verfahren
spontane Zustimmung oder Ablehnung indiziert werden. Ähnliches gilt für kognitive
Prozesse wie etwa Lernen oder Vergessen oder für Prozesse des emotionalen Erlebens.
Demgegenüber sind drei wesentliche Vorteile physiologischer und apparativer Ver-
fahren zu nennen: Erstens lassen sich zumindest durch einige Messverfahren Prozess-
daten erheben. Das heißt, sie sind in der Lage, sehr genau den Verlauf einer Rezep-
tionsepisode darzustellen und nicht nur ihr konsolidiertes Ergebnis. Zweitens kann die
zeitliche Nähe der Erhebung zur tatsächlichen Medienrezeption für viele Fragestellun-
gen von Vorteil sein. Gerade die Rezeptions- und Wirkungsforschung hat mit Proble-
men wie Rationalisierungen, Erinnerungsfähigkeit und -willen der Rezipienten sowie
sozialer Erwünschtheit zu kämpfen. Medienwirkung und Medienrezeption können
durch die hier diskutierten Verfahren also in ihrem unmittelbaren Entstehungskon-
text erhoben werden. Wenn folglich unmittelbare und spontane Reaktionen von Belang
für die Forschungsfrage sind, bieten sich die diskutierten Verfahren als Ergänzung zur
klassischen Befragung oder Beobachtung an. Drittens können physiologische Verfah-
ren aktivierende, kognitive oder affektive Prozesse messen, die den Rezipienten nicht
unmittelbar bewusst sind. Sieht man von den an dieser Stelle aufscheinenden ethischen
Problemen (s. o.) ab, liegt hier sicherlich großes Potenzial der Verfahren.
622 Andreas Fahr
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Qualitative Verfahren
Lothar Mikos
1 Einführung
Der folgende Beitrag widmet sich den qualitativen Verfahren der Kommunikationswis-
senschaft, die bis heute eine eher marginale Bedeutung im Fach haben. So stellt Fahr
(2011b, S. 10) fest, „dass sich die grundsätzliche Diskussion um qualitative und quanti-
tative Methoden in der Kommunikationswissenschaft in den vergangenen Jahren we-
nig bewegt hat.“ In einem Lehrbuch „Methoden der empirischen Kommunikationsfor-
schung“ (Brosius & Koschel 2005) finden qualitative Verfahren keinerlei Erwähnung.
Die aus der Zeitungswissenschaft sich entwickelnde Kommunikationswissenschaft
setzte in Deutschland v. a. auf quantitative Methoden. Im Ringen um gesellschaftliche
Anerkennung und wissenschaftliche Reputation als Disziplin stand die Repräsentati-
vität quantitativer, empirischer Medienwirkungsforschung im Zentrum des Interesses.
Qualitative Verfahren erlangten nur an den Rändern Bedeutung, z. B. in der medien-
pädagogischen Forschung, die bereits in den 1980er-Jahren Studien zur Medienrezep-
tion von Kindern und Jugendlichen mit qualitativen Verfahren durchführte und ein ent-
sprechendes Selbstverständnis entwickelte (vgl. Baacke & Kübler 1989; Bachmair et al.
1985). Daneben wurden qualitative Verfahren v. a. in soziologischen Untersuchungen
eingesetzt (vgl. Flick et al. 2000). So waren es denn auch die Soziologie und die Medien-
pädagogik, aus denen heraus in der Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts zwei
Sammelbände zu qualitativen Verfahren und zum Selbstverständnis der qualitativen Me-
dienforschung vorgelegt wurden (Ayaß & Bergmann 2006; Mikos & Wegener 2005).
Ideologische Grabenkämpfe zwischen quantitativen und qualitativen Forschern ge-
hören weitgehend der Vergangenheit an. Der Eigenwert beider Verfahren wird aner-
kannt, auch wenn qualitative Verfahren z. B. immer noch dazu dienen, Indikatoren für
standardisierte Befragungen zu generieren. Dabei können sie auf eine lange Tradition
zurückblicken. Bereits 1911 hatte der Soziologe Max Weber eine „Erhebung über die So-
ziologie des Zeitungswesens“ (vgl. Ayaß 2006, S. 45 ff.) vorgelegt, eine Zeitungs-Enquête,
in der mit Interviews die Tendenzen der Entwicklung des Zeitungswesens herausgear-
beitet werden sollten. In den 1940er-Jahren wurde in den USA in der Radioforschung
im Team um Paul Lazarsfeld mit qualitativen Interviews gearbeitet (vgl. ebd: S. 54 ff.).
Hier sind v. a. die Studien von Herta Herzog zu erwähnen, die sich mit qualitativen In-
terviews den Nutzungsmotiven und -mustern von Quizsendungen und Radioserien nä-
herte (vgl. Herzog 1940; 1944). Sie hatte beim Princeton Radio Project an einer Studie
zur Massenpanik, die nach dem Hörspiel von Orson Welles ‚Krieg der Welten‘ entstan-
den sein soll, mitgewirkt (vgl. Cantril et al. 1940). Hier wurden die Erfahrungen der
Zuhörer während der Rezeption mit Leitfadeninterviews untersucht. In der deutschen
Kommunikationswissenschaft spielten qualitative Verfahren kaum eine Rolle. Lediglich
Gerhard Maletzke hatte sowohl mit quantitativen wie qualitativen Verfahren gearbei-
tet und sich mehr Anerkennung für letztere gewünscht, blieb aber im Fach ein Außen-
seiter (vgl. Meyen & Friedrich 2011, S. 34 f.). Erst in den Diskussionen seit den 1980er-
Jahren, ausgelöst durch medienpädagogische und soziologische Bemühungen, rückten
qualitative Verfahren mehr in den Blick, v. a. für die Untersuchung von Rezeptionspro-
zessen. Eine Befragung der Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und
Kommunikationswissenschaft (DGPuK) aus dem Jahre 2003 zeigte eine deutliche Ten-
denz zu einer Integration von quantitativen und qualitativen Verfahren. Fast die Hälfte
der befragten Kommunikationswissenschafter (46 Prozent) hat eine ausgeprägte quan-
titative und qualitative Orientierung. Lediglich 23 Prozent gaben an, eine überwiegend
quantitative Orientierung zu haben. Dem standen 17 Prozent gegenüber, die von sich
behaupteten, überwiegend qualitativ orientiert zu sein (vgl. Peiser 2011, S. 48 f.). Peiser
stellt denn auch fest: „Insgesamt gesehen ist kein eindeutiges Übergewicht einer der bei-
den methodischen Richtungen festzustellen“, auch wenn die quantitative Ausrichtung
geringfügig stärker vertreten ist (S. 48). Dennoch enststeht ein anderer Eindruck, weil
in der öffentlichen Diskussion repräsentative Daten bevorzugt werden. Dadurch scheint
es eine deutliche Dominanz quantitativer, empirischer Kommunikations- und Medien-
forschung zu geben.
Qualitative Verfahren 629
Quantitative und qualitative Verfahren haben beide ihre Vorteile, aber „beide Ver-
fahrensweisen haben ihre erkenntnistheoretischen und empirischen Grenzen“ (Mikos &
Wegener 2005a, S. 10). Die quantitative Forschung liefert statistisch verwertbare Daten
zum Medienkonsum und seinen Strukturen. Die qualitative Forschung dagegen liefert
tiefere Erkenntnisse über die Motive, Muster und Strukturen der Mediennutzung. In
diesem Sinn ergänzen sich beide Verfahren bei der Analyse und Erklärung kommuni-
kationswissenschaftlicher Phänomene. Doch der qualitativen Medien- und Kommuni-
kationsforschung liegt ein anderes Selbstverständnis zu Grunde.
und sozialen Konstruktionen (…) ihrer Welt berücksichtigen“ (Flick et al. 2000b, S. 17).
Diese Muster und Strukturen liegen nicht offen zu tage, sondern sie müssen von den
Forschern mühsam ans Licht gezerrt und beschrieben werden. Denn die Forscher leben
für gewöhnlich in anderen Lebenswelten als die untersuchten Akteure der Alltagswelt.
Gerade Praktiken der Mediennutzung sind Praktiken der Anderen, die erst einmal be-
schrieben und begriffen werden müssen.
In der Kommunikationswissenschaft kommen die Probleme, die mit ihrem Gegen-
stand, der medialen Kommunikation, einhergehen, hinzu. Mit der Entwicklung neuer
Lebensformen und -stile geht eine technische Entwicklung einher, die immer wieder
neue Medien und neue Medienanwendungen hervorbringt, die sich im Alltag der Men-
schen verbreiten. „Für die Medienforschung bedeutet aber der Prozess der fortschrei-
tenden gesellschaftlichen Medialisierung, dass ihr Gegenstand sich zunehmend ent-
grenzt und unfasslich wird. (…) Medien verweben und verwachsen immer dichter mit
den Lebenspraktiken des privaten und beruflichen Alltags, und deshalb wird es immer
schwieriger, sie aus ihren jeweiligen Verwendungskontexten herauszulösen und in Form
einzelner Variablen abzubilden“ (Bergmann 2006, S. 15 f.). Dieser Schwierigkeit kann
jedoch mit qualitativer Forschung begegnet werden, denn sie versucht die einzelnen
sozialen Phänomene zu kontextualisieren. Handlungen der Akteure mit ihrem subjek-
tiven Sinn können nur innerhalb sozialer Situationen verstanden werden, d. h. sie sind
kontextabhängig. Die gleiche Handlung, z. B. eine Begrüßung, kann in unterschiedli-
chen sozialen Kontexten anders gemeint sein. Die Begrüßung des Publikums durch ei-
nen Showmaster findet in einem anderen sozialen Kontext statt als die Begrüßung der
Fernsehzuschauer durch die Nachrichtensprecherin. Die Selbstpräsentation eines Kan-
didaten in einer Quizshow ist eine andere als in einer Castingshow. Medienhandeln fin-
det nicht isoliert statt. Entsprechend unterscheiden sich die emotionalen und kogniti-
ven Muster der Verarbeitung, die standardisiert nur bedingt erhoben werden können.
Es ist in die sozialen Strukturen der Alltags- und Lebenswelt eingebunden. Qualitative
Forschung ist darum bemüht, die subjektiven Deutungen von medialen Kommunika-
tionsverhältnissen zu beschreiben, zu erklären und zu verstehen, d. h. den subjektiven
Sinn des Handelns mit Medien für Akteure in den Medien wie auch für Nutzer bzw. das
Publikum offenzulegen.
Grundsätzlich lassen sich nach Flick et al. (2000b, S. 18 f.) drei Forschungsperspek-
tiven unterscheiden: (1) der Zugang zu subjektiven Sichtweisen, (2) die Beschreibung
von Prozessen der Herstellung sozialer Situationen, und (3) die hermeneutische Analyse
von tiefer liegenden Strukturen. Sie ist daher nicht an der Sammlung großer Datenmen-
gen interessiert, sondern an der intensiven Auslegung von Einzelfällen. „Sie setzt in der
Regel an einem Einzelfall an und ist bestrebt, diesen Fall im Hinblick auf seine Bedeu-
tungsstrukturen und generativen Mechanismen möglichst vollständig, also exhaustiv zu
untersuchen. Ihr Ziel ist es, sich reproduzierende Muster der Sinngenerierung und der
Kommunikation zu finden, die dem untersuchten Fall seine spezifische Eigenart ver-
leihen“ (Bergmann 2006, S. 21). Diese Orientierung am Einzelfall ist ein wesentliches
Qualitative Verfahren 631
Merkmal qualitativer Forschung. Erst in einem zweiten Schritt werden Einzelfälle mit-
einander verglichen, um so zu verallgemeinerbaren Aussagen zu kommen.
Qualitative Verfahren setzen darauf, die Lebenswelt aus der Sicht der Akteure nach-
zuvollziehen. Dazu müssen die subjektiven Sichtweisen verstanden werden. Nur so
lässt sich soziale Wirklichkeit verstehen, denn sie ist das „Ergebnis gemeinsam in so-
zialer Interaktion hergestellter Bedeutungen und Zusammenhänge“ (Flick et al. 2000b,
S. 20). Nur wenn die Forschung in der Lage ist, die Muster und Strukturen der Bedeu-
tungs- und Sinnproduktion im Alltag der Akteure zu entschlüsseln, kann es gelingen,
soziale Wirklichkeit zu verstehen und zu erklären. Es geht um eine hermeneutische
„Interpretation subjektiv gemeinten Sinns, der im Rahmen eines vorgängigen, intuiti-
ven alltagsweltlichen Vorverständnisses für jede Gesellschaft objektivierbarer und ideal-
typisch beschreibbarer Bedeutungen verstehbar wird und damit individuelle und kol-
lektive Einstellungen und Handlungen erklärbar macht“ (ebd.: S. 21). Für die qualitative
Forschung geht es letztlich um eine „dichte Beschreibung“ (Geertz 1987) der Muster und
Strukturen, mit denen und in denen die Akteure soziale Wirklichkeit deutend gestalten.
Das kann nur gelingen, wenn das Prinzip der Offenheit gegenüber dem Feld bzw. dem
Thema der Forschung gewahrt bleibt. In der grundlegenden Offenheit gegenüber dem
Gegenstand liegt ein zentrales Merkmal qualitativer Forschung. In der Konzeption von
Studien orientiert sich die qualitative Forschung am Konzept der Triangulation (vgl.
Flick 2004). Dabei geht es darum, unterschiedliche Perspektiven auf den Forschungs-
gegenstand einzunehmen. Es wird zwischen methodischer und theoretischer Triangu-
lation unterschieden. Dadurch ist ein tieferes Verständnis der untersuchten Phänomene
möglich. Das Verfahren kann als Validierungsstrategie betrachtet werden.
3 Methoden
Dazu bedient sich die qualitative Forschung unterschiedlicher Verfahren, die im We-
sentlichen aus der qualitativen Sozialforschung entlehnt sind. Lediglich die Analyse be-
wegter Bilder, sei es nun Film, Fernsehen, Video oder Computerspiel, hat sich originär
entlang des Gegenstandes der Medien- und Kommunikationswissenschaft entwickelt.
Im Folgenden werden einige zentrale Methoden der qualitativen Forschung kurz vor-
gestellt. Dabei wird deutlich, dass sie dem offenen Charakter verpflichtet sind und ver-
suchen, die Vorannahmen und theoretischen Annahmen der Kommunikationswissen-
schaftler aus dem Prozess der Datenerhebung herauszuhalten.
3.1 Interview
Entsprechend der Maxime qualitativer Forschung, dass Kommunikation für den For-
schungsprozess selbst sehr bedeutsam ist, nimmt das qualitative Interview einen großen
632 Lothar Mikos
Stellenwert ein. Es kann als eine der zentralen Methoden der qualitativen Forschung
bezeichnet werden. Im Gegensatz zu standardisierten Befragungen geht dem Interview
keine Hypothesenbildung voraus. Der Forscher geht offen in das Gespräch mit den Ak-
teuren hinein. Sein Ziel ist es, die Akteure zum Sprechen zu bringen, sie zu möglichst
vielen Aussagen zu bewegen. Dem Interviewten wird möglichst viel Raum gegeben, da-
mit er seine „eigenen Deutungs- und Handlungsmuster“ (Keunecke 2005, S. 254) mög-
lichst ausführlich darstellen kann. Es lassen sich verschiedenen Formen der qualitativen
Interviews unterscheiden (vgl. Aufenanger 2006; Hopf 2000, S. 351 ff.). In der Kommu-
nikationswissenschaft spielen klinische Interviews, wie sie in der Psychologie verwendet
werden, keine Rolle. Dagegen kommt narrativen, problemzentrierten und fokussierten
Interviews ebenso wie dem Experteninterview eine große Bedeutung zu. Beim narrati-
ven Interview geht es darum, den Interviewten dazu zu bringen, Geschichten zu erzäh-
len, denn – so die Annahme – in den Geschichten zeigen sich die subjektiven Sinnkon-
struktionen und Deutungsmuster der Akteure am deutlichsten. Der Interviewte steuert
mit seinen Erzählungen das Gespräch, der Forscher muss sich offen darauf einlassen. In
der Medien- und Kommunikationswissenschaft findet es v. a. in zwei Bereichen Anwen-
dung: (1) in der medienbiographischen Forschung, in der es um die lebensgeschicht-
lichen Aspekte der Mediennutzung geht (vgl. Tilemann 2005), und (2) als vertiefende
Ergänzung zur Methode der Gruppendiskussion (vgl. Loos & Schäffer 2001; Schäffer
2005; Schäffer 2006). Neben dem narrativen Interview gibt es auch das problem- bzw.
themenzentrierte Interview. Hier kommt es zu einer kooperativen Gesprächsführung
zwischen Interviewer und Interviewtem. Denn einerseits geht es weiterhin darum, den
offenen, erzählenden Charakter des Interviews weitgehend beizubehalten, andererseits
soll das Gespräch aber um ein Problem oder ein Thema kreisen, d. h. der Interviewer
muss trotz aller Offenheit die Kontrolle über das Gespräch behalten und die Befragten
immer wieder zum Thema oder zum Problem zurückführen. Dieser Art des Interviews
ist das Experteninterview sehr ähnlich. Befragte sind hier Experten aus professionellen
Berufsfeldern des Medienbereichs, die sich zu ihrer Profession äußern, und so den Wis-
senschaftlern Einblicke in die Strukturen der Medien erlauben. Im Grunde genommen
geht es beim Verfahren des Interviews jedoch generell darum, dass die Wissenschaftler
die interviewten Akteure als Experten ihrer Alltagswelt und ihrer subjektiven Sinndeu-
tungen begreifen, um aus ihren Erzählungen Aufschlüsse über die Deutungsmuster und
Sinnstrukturen des Alltags zu erhalten. Ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Aus-
wertung von Interviews, die mit qualitativer Inhaltsanalyse oder Konversationsanalyse
erfolgt, ist die Transkription (vgl. Ayaß 2005b; Hartung 2006, S. 482 ff.).
3.2 Gruppendiskussion
Das Gruppendiskussionsverfahren (vgl. Loos & Schäffer 2001; Schäffer 2005; 2006)
wurde v. a. aus forschungsökonomischen Gründen eingeführt, da man sich von einer
Qualitative Verfahren 633
Gesprächssituation in der Gruppe in der gleichen Zeit mehr Informationen erhoffte als
bei einem Einzelinterview. Im Wesentlichen wird das Verfahren mit zwei Zielen ein-
gesetzt: Erstens geht es darum, die Dynamik der Gesprächsgestaltung in der Gruppe,
die sozialen Interaktionen der Gruppenmitglieder und die Veränderungen der Meinun-
gen der Gruppenmitglieder während der Diskussion zu untersuchen, und zweitens geht
es weniger um den Prozess als um das Gesagte, also die Meinungen, Orientierungen,
Deutungen der Gruppenmitglieder selbst – die Gruppe wird als ein Medium betrachtet,
„innerhalb dessen sich kollektive Orientierungen artikulieren, die weit über die in der
Einzelgruppe geäußerten Einstellungen, Meinungen und Orientierungen hinausgehen“
(Schäffer 2005, S. 305). Das Verfahren hat da seine Grenzen, wo es darum geht, lebens-
geschichtliche Episoden zu erheben – dazu ist das Interview geeignet, es sei denn diese
Episoden werden als beispielhaft für Medienhandlungsmuster in das Gespräch einge-
bracht. Auch subjektive Orientierungen können mit dem Verfahren nicht erhoben wer-
den, da es in der Gruppendiskussion um das kollektive Aushandeln von Orientierungen
und Deutungsmustern geht. „Grundsätzlich sind Gruppendiskussionen in allen Medien-
forschungskontexten einsetzbar, die sich mit der Entwicklung milieu-, geschlechts-, ge-
nerations- oder entwicklungsspezifischer handlungsleitender Orientierungen im Kon-
text von Medienpraxis beschäftigen“ (Schäffer 2006, S. 139). Eine zentrale Problematik
des Verfahrens besteht in der Art der Zusammensetzung der Diskussionsgruppen. Hier
wird zwischen natürlichen Realgruppen und künstlich zusammengestellten Gruppen
unterschieden. Realgruppen bestehen aus Mitgliedern, die auch außerhalb der Grup-
pendiskussion als Gruppe existieren, z. B. als Biker- oder Kegelclub, Elterngruppe oder
Fangruppe. Realgruppen haben den Vorteil, dass die Diskussionen ergiebiger sind, weil
sich die Teilnehmer bereits kennen und im Gespräch aufeinander Bezug nehmen, wäh-
rend in den künstlichen Gruppen sich die Teilnehmer im Gespräch erst finden müssen
und sich gegenseitig abtasten. Allerdings kann es künstliche Gruppen geben, deren Zu-
sammenstellung sich an Realgruppen orientiert, wenn die Mitglieder z. B. gemeinsame
Vorlieben teilen, gemeinsame Erfahrungen mit Medien haben oder unter ähnlichen Be-
dingungen aufgewachsen sind. Entscheidend für den Einsatz von Gruppendiskussionen
ist es, dass die Diskussionen möglichst zu Selbstläufern werden, d. h. dass die Gruppen-
diskussionsleiter möglichst wenig eingreifen müssen, um die Diskussion in Gang zu hal-
ten. Während beim Interview subjektive Deutungsmuster erhoben werden, geht es bei
der Gruppendiskussion um kollektive Deutungsmuster und Orientierungen.
trum der Aufmerksamkeit“ zu rücken (Lüders 2000, S. 390). Beobachtung und teilneh-
mende Beobachtung sind methodische Verfahren, um sich diesen sozialen Gemein-
schaften zu nähern. Mit der teilnehmenden Beobachtung können Forscher Einblicke
in alltägliche Praktiken bekommen, an denen sie selbst teilnehmen. Im Unterschied zu
den sozialen Akteuren, die diese Praktiken mit ihren Handlungen erst konstituieren,
muss der Forscher „zugleich eine reflexive Distanz wahren, um sein Handeln im Kon-
text der Handlungen der anderen Teilnehmer in den jeweiligen Situationen beurteilen
zu können. Auch als Teilnehmer bleibt der Forscher immer Fremder, zumal er auch die
Möglichkeit hat, die Situationen im Sinne seines Erkenntnisinteresses zu beeinflussen“
(Mikos 2005, S. 316). Dennoch muss er tief in die untersuchte Kultur oder Gruppe ein-
dringen, um die Handlungspraktiken der Akteure möglichst von innen heraus zu ver-
stehen.
In der Medienforschung kann die Methode der teilnehmenden Beobachtung sowohl
in der Erforschung von Produktionsverhältnissen als auch in der Publikumsforschung
eingesetzt werden. Die Methode „ist immer dann angebracht, wenn es darum geht, so-
ziale Akteure in ihrem natürlichen Aktionsfeld in alltäglichen Situationen zu beobach-
ten“ (ebd.: S. 318). Die wohl bekannteste teilnehmende Beobachtung – auch wenn sie
journalistisch motiviert war – war die Arbeit von Günter Wallraff als Redakteur der
BILD-Zeitung in den 1970er-Jahren. In der Rezeptionsforschung wird die teilnehmende
Beobachtung v. a. zur Untersuchung der sozialen Interaktionen von Fans, dem Medien-
gebrauch in der häuslichen Umgebung, dem Mediengebrauch an öffentlichen Orten
und der Mediennutzung und ihrer Bedeutung für Gruppenidentitäten von Kindern und
Jugendlichen eingesetzt.
I. d. R. wird die teilnehmende Beobachtung mit anderen qualitativen Verfahren kom-
biniert, z. B. dem Interview oder dem Medientagebuch. Der Forscher kann sich so ver-
gewissern, ob die Sinnstrukturen, die er beobachtet hat, auch von den beobachteten Ak-
teuren in ihrer Innenansicht thematisiert werden. Während bei der Erforschung von
Produktionsabläufen v. a. die Kombination von teilnehmender Beobachtung und In-
terview Verwendung findet, kommt in der Erforschung von Rezeptionsprozessen und
Nutzungsmustern eine größere Anzahl von Methoden in Kombination mit der teilneh-
menden Beobachtung zum Einsatz. In der Studie von Wierth-Heining (2004) zur Re-
zeption populärer Filme in Mädchen-Cliquen wurde mit einer Kombination von teil-
nehmender Beobachtung, Gruppeninterviews, Einzelinterviews, Medientagebüchern
und Wahrnehmungsprotokollen, die bei der Rezeption erhoben wurden, gearbeitet. Auf
diese Weise konnten die Innenperspektiven der einzelnen Mädchen als auch die Innen-
perspektive der gesamten Clique erhoben werden. In Kombination mit anderen Metho-
den kann mit der teilnehmende Beobachtung untersucht werden, wie die sozialen Ak-
teure in ihrem Alltag mit dem symbolischen Material der Medien umgehen, Sinn und
Bedeutung generieren und soziale Strukturen ausbilden und aufrechterhalten.
Qualitative Verfahren 635
Die Analyse bewegter Bilder, seien es nun Filme, Fernsehsendungen, Videos, Compu-
terspiele oder Webclips, geht über die reine Analyse des Inhalts und der Form, wie sie
in der quantitativen und qualitativen Inhaltsanalyse betrieben wird, hinaus. Hier wird
davon ausgegangen, dass bewegte Bilder Mittel der Kommunikation mit dem Publi-
kum bzw. mit verschiedenen Publika sind. D. h., dass bewegte Bilder gestaltet wurden,
um Zuschauer anzusprechen. Sie sind zum Wissen, zu den Emotionen, zum prakti-
schen Sinn und der sozialen Kommunikation der Zuschauer hin geöffnet (vgl. Mikos
2008, S. 24). Ein wesentlicher Bestandteil ist die ästhetisch-dramaturgische Gestaltung
der Bewegtbilder, denn damit wird der Zuschauer im Text und zum Text positioniert.
Die Analyse bewegter Bilder arbeitet daher die Positionierungen des Zuschauers heraus.
Bewegte Bilder sind Elemente der Repräsentationsordnung der Gesellschaft. „Für
die Analyse ist daher nicht nur der Inhalt der Medientexte relevant, sondern auch wie
dieser Inhalt präsentiert wird und damit zur Produktion von Bedeutung und der sozia-
636 Lothar Mikos
len Konstruktion von gesellschaftlicher Wirklichkeit beiträgt. (…) Dabei ist grundsätz-
lich davon auszugehen, dass alles, was die Kamera zeigt, wichtig und bedeutsam ist.
Wenn Medientexte zum Wissen, zu den Emotionen, zur sozialen Kommunikation und
zum praktischen Sinn der Zuschauer hin geöffnet sind, dann steht im Mittelpunkt der
Analyse die Art und Weise, wie diese Texte zum ‚sinnhaften Aufbau der sozialen Welt‘
(Schütz 1991) beitragen, und zwar in Bezug auf die strukturelle Rolle der Medien in
der gesellschaftlichen Kommunikation sowie in Bezug auf die konkrete Rolle einzelner
Medien und Medieninhalte für die Subjektkonstitution und Identitätsbildung konkreter
Zuschauer und Zuschauergruppen“ (Mikos 2005, S. 459). Während bei den Formen der
Inhaltsanalyse der Medieninhalt in Bezug zur Produktion und gesellschaftlichen Kon-
texten im Mittelpunkt steht, rückt die Analyse bewegter Bilder den Kommunikations-
aspekt ins Zentrum und analysiert Medientexte in Bezug zum Publikum und den gesell-
schaftlichen, kulturellen und sozialen Kontexten.
Im strengen Sinn handelt es sich bei der Grounded Theory nicht um eine Methode der
qualitativen Forschung, sondern um eine Forschungsstrategie, deren oberstes Prinzip
die Offenheit ist. Im Grunde geht es dabei um eine am Gegenstand der Forschung orien-
tierte Theoriebildung (vgl. Glaser & Strauss 1998; Lampert 2005). Sie dient dazu, syste-
matisch eine Theorie über ein Phänomen zu entwickeln. „Es wird demzufolge nicht von
einem theoretischen Konzept ausgegangen, das empirisch überprüft wird. Den Aus-
gangspunkt stellt vielmehr ein Untersuchungsbereich dar, der sich erst während des
Forschungsprozesses konkretisiert“ (Lampert 2005, S. 517). Die Daten werden zeitgleich
erhoben, codiert und analysiert. „Entscheidend ist, die Phase der Erhebung von Ma-
terial von der der Analyse dieses Materrials nicht zu trennen, sondern miteinander zu
verschränken und nur so viel an Material zu erheben, wie für den Analyseprozess er-
forderlich ist. Nur so kann das Material die Analyse steuern“ (Hildenbrand 2000, S. 36).
In einem ersten Untersuchungsschritt stellen die Forscher Fragen an das Material zu
Bedingungen und Interaktionen der Akteure und ihren Strategien sowie den Konse-
quenzen ihres Handelns. In einem Prozess des offenen Codierens wird das Material
segmentiert. Die gewonnenen Kategorien und Konzepte werden mittels axialen Co-
dierens ausdifferenziert. Dabei werden die beim offenen Codieren gewonnenen Kate-
gorien und deren dimensionale Ausprägungen auf neue Art wieder zusammengesetzt,
indem „Verbindungen zwischen einer Kategorie und ihren Subkategorien ermittelt wer-
den“ (Strauss & Corbin 1996, S. 76). Der Prozess des Codierens setzt sich immer weiter
fort bis er zu dichten Zusammenhängen führt, die letztlich in einer Theorie münden.
Das Verfahren wird „theoretical sampling“ genannt (vgl. Hildenbrand 2000, S, 36; Lam-
pert 2005, S. 517 f.). Am Ende dieses Prozesses steht die Integration der Konzepte, die zu
Schlüsselkategorien führt. Diese Schlüsselkategorien bilden den Kern der entstehenden
638 Lothar Mikos
Theorie, die allerdings immer wieder an der Empirie überprüft werden muss, bis eine
theoretische Sättigung erreicht ist.
4 Fazit
tergestützt ausgewertet. In der Studie zur Bedeutung von Stars im Alltag von Jugend-
lichen (vgl. Wegener 2008) wurde eine Sekundäranalyse eines quantitativen Datensat-
zes mit einer Online-Befragung und Leitfadeninterviews kombiniert. Eine Kombination
von Telefonumfrage und Gruppendiskussion wurde in der Studie zur Mediennutzung
von jungen Migranten verwendet (vgl. Trebbe et al. 2010). Die Beispiele zeigen, dass
methodische Triangulation annähernd die Regel ist. Um der Komplexität von media-
len Wirkungsprozessen gerecht zu werden, verwenden die meisten Studien ein Mehr-
methodendesign.
Die Zeiten einer ideologisch geführten Debatte, in der entweder nur auf qualita-
tive Verfahren oder nur auf quantitative Verfahren gesetzt wird, sind – zumindest an
der Oberfläche der fachinternen Diskussion – vorbei. Qualitative Kommunikationsfor-
schung hat ihren besonderen Wert darin, einen genauen Blick auf die alltäglichen, sinn-
haften Medienhandlungen der Akteure zu werfen und die Vielfältigkeit der medienbe-
zogenen Handlungen im Lebensalltag der Rezipienten in ihrer Komplexität verstehend
erklären zu können.
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Autorinnen und Autoren
Hans-Bernd Brosius, Dr. phil. habil., geboren 1957, Professor am Institut für Kommu-
nikationswissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsinter-
essen: Mediennutzung, Medienwirkung und Methoden. Kontakt: brosius@ifkw.lmu.de
Kristin Bulkow, M. A., geboren 1981, bis 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-
Projekt Agenda Learning an der Technischen Universität Ilmenau, seit 2012 Referen-
tin für Kommunikation und Fundraising einer NGO, Forschungsinteressen: Rezeptions-
und Wirkungsforschung, politische Kommunikation, empirische Methoden. Kontakt:
kristin.bulkow@gmx.de
Marco Dohle, Dr. phil., akademischer Rat auf Zeit im Fach Kommunikations- und Me-
dienwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwer-
punkte: Rezeptionsforschung, politische Kommunikation, Unterhaltungsforschung.
Kontakt: marco.dohle@phil.uni-duesseldorf.de
Andreas Fahr, Dr. rer. pol. habil., Professor für Kommunikationswissenschaft mit dem
Schwerpunkt Soziale Kommunikation am Seminar für Medien- und Kommunikations-
wissenschaft der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte: Nutzungs-, Rezeptions-
Katja Friedrich, Dr. phil., akademische Rätin auf Zeit am Institut für Kommunika-
tionswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität Mün-
chen. Forschungsschwerpunkte: politische Kommunikation, Unterhaltungsjournalis-
mus, Mediengewaltwirkungen. Kontakt: katja.friedrich@ifkw.lmu.de
Hannah Früh, Dr. phil., geboren 1981, akademische Rätin auf Zeit am Seminar für Medien
und Kommunikationswissenschaft der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte:
Rezeptions- und Wirkungsforschung, empirische Methoden. Kontakt: hannah.frueh@
uni-erfurt.de
Werner Früh, Dr. phil., geboren 1947, Professor für empirische Kommunikations- und
Medienforschung an der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: wissenschafts-
theoretische Grundlagen empirischer Methoden, Inhaltsanalyse, Verständlichkeits-
forschung, Realitätsvermittlung durch Medien, dynamisch-transaktionaler Ansatz der
Medienwirkungen, Gewalt in den Medien, Fernsehunterhaltung, Narration. Kontakt:
früh@rz.uni-leipzig.de
Eveline Hipeli, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Zürcher Hochschule für
Angewandte Wissenschaften im Forschungsschwerpunkt Psychosoziale Entwicklung
und Medien. Forschungsschwerpunkte: Kinder & Jugendliche und ihre Mediennutzung,
Autorinnen und Autoren 645
Michael Jäckel, Dr. phil, geboren 1959, Professor für Soziologie an der Universität Trier,
seit 2011 Präsident der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Mediensoziologie,
Konsumsoziologie, Allgemeine Soziologie, Soziologie der Zeit. Kontakt: jaeckel@uni-
trier.de
Marcus Maurer, Dr. phil., Professor für empirische Methoden der Kommunikations-
wissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: po-
litische Kommunikation, empirische Methoden, nonverbale Kommunikation, Medien-
wirkungen. Kontakt: marcus.maurer@uni-jena.de
Lothar Mikos, Dr. phil. habil., Professor für Fernsehwissenschaft an der Hochschule für
Film und Fernsehen „Konrad Wolf “ in Potsdam-Babelsberg. Forschungsschwerpunkte:
qualitative Methoden der Medienforschung, Medienkonvergenz, globaler Medienmarkt.
Kontakt: l.mikos@hff-potsdam.de
Wiebke Möhring, Dr. phil., geboren 1970, Professorin für Öffentliche Kommunikation
an der Hochschule Hannover, Fakultät III – Medien, Information und Design. For-
schungsschwerpunkte: öffentliche Kommunikation, Methoden der empirischen Sozial-
forschung und ihre Anwendung, Lokalkommunikation. Kontakt: wiebke.moehring@hs-
hannover.de
646 Autorinnen und Autoren
Thomas Roessing, Dr. phil., geboren 1973, wissenschaftlicher Angestellter am Institut für
Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Öf-
fentliche Meinung, Online-Kommunikation (speziell Wikipedia) und empirische Me-
thoden der Kommunikationswissenschaft. Kontakt: roessing@uni-mainz.de
Patrick Rössler, geboren 1964, Dr. rer. soc., Professor für Kommunikationswissenschaft,
Schwerpunkt Empirische Kommunikationsforschung / Methoden an der Universität
Erfurt, dort derzeit Vizepräsident für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs.
Arbeitsschwerpunkte: Medienwirkungsforschung, politische Kommunikation, On-
line-Kommunikation, Inhaltsanalyse und visuelle Kommunikation in historischer Per-
spektive. Kontakt: patrick.roessler@uni-erfurt.de
Constanze Rossmann, Dr. phil., geboren 1974, Akademische Rätin auf Zeit am Insti-
tut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung, Ludwig-Maximilians-Uni-
versität München. Forschungsschwerpunkte: Gesundheitskommunikation, Rezeptions-
und Wirkungsforschung, empirische Methoden. Kontakt: rossmann@ifkw.lmu.de
Christian Schemer, Dr. phil., geboren 1976, Oberassistent am Institut für Publizistik-
wissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte:
politische Medienwirkungsforschung, Werbewirkungsforschung, empirische Methoden.
Kontakt: ch.schemer@ipmz.uzh.ch
Daniela Schlütz, Dr. phil., geboren 1968, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für
Journalistik und Kommunikationsforschung der Hochschule für Musik, Theater und
Autorinnen und Autoren 647
Wolfgang Schweiger, Dr. phil. habil., geboren 1968, Professor für Public Relations &
Technikkommunikation am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft,
Technische Universität Ilmenau. Forschungsschwerpunkte: Organisationskommunika-
tion, Technik- & Risikokommunikation, Online-Forschung, Mediennutzung & -wir-
kung, empirische Methoden. Kontakt: wolfgang.schweiger@tu-ilmenau.de
Daniel Süss, Dr. phil. habil., geboren 1962, Professor für Medienpsychologie an der Zür-
cher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und Professor für Publizistikwissen-
schaft am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität
Zürich. Forschungsschwerpunkte: Mediensozialisation, Medienkompetenz, Medienbil-
dung, Mediennutzung und Medienwirkungen. Kontakt: daniel.suess@zhaw.ch
Werner Wirth, Dr. phil., geboren 1959, Professor für empirische Methoden und Kom-
munikationsforschung am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung
der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Medienpsychologie, Medienrezep-
tion und Medienwirkung (u. a. Unterhaltungskommunikation, politische Kommunika-
648 Autorinnen und Autoren
Lena Ziegler, M. A., geboren 1987, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kom-
munikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universi-
tät München. Forschungsschwerpunkte: Gesundheitskommunikation, Rezeptionsfor-
schung. Kontakt: ziegler@ifkw.lmu.de
Nicole Zillien, Dr. rer. pol., Vertretung der Professur für Soziologie (insbesondere Kon-
sum- und Kommunikationsforschung) an der Universität Trier. Forschungsschwer-
punkte: Medien- und Techniksoziologie, Medienwirkungsforschung, Online-Forschung,
soziale Ungleichheit. Kontakt: nicole.zillien@uni-trier.de
Stichwortregister
-kompetenz 192, 200 – 203, 308, 420, -vermitteltheit 279, 281 f., 288
533 -wandel 120
-kompetenzförderung 200 -wirkung 464, 476
-kultur 119 direkte 441
-leistung 378 indirekte 441
-logik 361 negative 420
-macht 79 Reichweite von 26 f.
-nutzung 361 f., 530, 531 ff., 581, 590 f., medienethisch / -e 308
594, 596 f., 632 Sicht 433
Strukturen der 629 medienextern / -e / -er
-nutzungsforschung 19, 590 Daten 378
-öffentlichkeit 361 Realitätsindikator 378
-person 295, 304 medienpädagogisch 308
ähnliche 301 medienrechtlich 308
Grad der Interaktivität von 306 medienvermittelt / -e / -er
interaktive 304, 306 Realität 280, 285, 289
nicht-interaktive 306 Raum 280 ff., 285
selbst gestaltete interaktive 306 Medium 281
überlegene 301 Meinung 334
unterlegene 301 Meinungsführer 73, 75 ff., 348, 363, 392,
-praxis 119 518, 521, 535 ff.
-publikum virtueller 535
aktives 164 -forschung 363
passives 164 -medium 82
-realität 282 Meinungs-
-regulierung 420 -klima 485, 488 f., 491 f.
-repertoire 458 -lager 488
-resonanzanalyse 356 -umfrage 481
-resonanzforschung 362 mental / -e / -es
-rezeption 594, 627 f. imagery 283
-rezeptionsprozess 596 Kapazität 281
-selektion 430 Modell 283 – 287, 292
-sentiment 376 Ressource 282
-sozialisation 192, 200 f. Mere Exposure-Effect 327, 339, 342
-soziologie 67, 70, 83 Mesoebene 370, 373, 380, 387 ff., 444,
-star 199 452 f., 455, 458
-struktur 500 Messung 359
-technologie 120, 122 Meta-
-text 282 -analyse 26, 393, 210, 408, 410, 508
-umgebung 282 f., 285, 288 -botschaft 209, 213, 219 f.
-verbund 199 -emotion 99, 255 f., 259
Stichwortregister 661
Öffentlichkeit 361, 482, 484 ff., 490 Interaktion 195, 201, 236, 253, 303
Fragmentierung der 491 Liebesbeziehung 304
Öffentlichkeits- Parasympathisches System 604
-theorien 361 Parteiidentifikation 447, 449
verständigungsorientierte –arbeit 362 Partialmodell 336
Off line partielle Trainer 288
-Befragung 357 f. Payne Fund Studies 17. 92
-Kommunikation 361 Peinlichkeit 607
-Öffentlichkeit 361 perceptual illusion of non-mediation 281
ökologischer Fehlschluss 29, 182 peripher / -e / -es
Online Durchblutung 607
-Befragung 357 f. Blutvolumen 604
-Kommunikation 361, 491 Persönlichkeitseigenschaften, -merk-
-Medien 247, 259 f., 361, 490, 492 male 283, 286, 323, 327, 344, 412
-Öffentlichkeit 361 Persuasion 22, 72, 287 f., 307, 313 – 328, 339,
Relations 362 349, 392, 394, 397 f., 515 f.
-Urteil 215 f. Definition 314
-Werbung 345 f. Knowledge Model 344
Operationalisierung 583, 586 f. narrative 280, 283, 289
Optimistic Bias 393, 467 f., 471, 474 Resistenz gegenüber 321
Orientierung 605 Persuasions-
Orientierungs- -effekt 163 f.
-bedürfnis 180 -forschung 234, 236
-reaktion 21, 605, 610 f. -strategie 345
O-S-R-O-R-Modell 450 -wirkung
Outcome 356 f. schwache 316 f.
Outflow 356 starke 316
Outgrowth 356 f. -wissen 322
Output 356 f. perzeptuell-motorische Fähigkeit 286
Phobie 287
Page Impressions 357 Physical Presence 281
Panel 576 physiologisch / -e
-analyse 557 f. Messung 291
-design 409 Parameter 596
-effekt 558, 576 Veränderung 268
-mortalität 186, 558 Plastizität 284 f.
-studie 160, 410, 567, 576, 588 Pletysmographie 604
para-authentisch 282 Plot 282, 291
parasocial Breakup 303, 305 pluralistische Ignoranz 464 f., 473, 475
parasozial / -e Policy 440, 453
Beziehung 201, 238, 302 – 305 Agenda 175
Stichwortregister 663
Verhalten 211 ff., 218 f., 264 f., 320, 334, Vividness 284, 326, 338
337, 345, 370, 374, 376, 380 f., 386 – 394, Voreinstellung 159, 321, 324
397, 581 – 590, 593 f., 596 ff. Vorhermessung 551 ff., 559
intimes 583 Vorstellung 315
privates 583 Vorstellungskraft 286
prosoziales 335
spontanes 321 Wachheit 610 f.
systematisch-irrationales 376 Wahl 443
Verhaltens- -absicht 443, 446 f., 449
-beobachtung 341 -entscheidung 376, 446 f., 451, 473
-intention 320, 337, 341, 376, 381, 388, -ergebnis 443
391, 396 -forschung 449, 455 f., 482
-spuren 586, 589, 592, 594 -kampagne 443
-wirkungen 341 -kampf 440, 443 f., 450, 454 ff.
Verifikation 45 -verhalten 26, 443, 446 – 449, 593
Verkaufentscheidung 376 -werbung 334
Verständnis sozialer Wirklichkeit 629 Wähler 440, 442, 452
Verstärkerthese 18 Wahrheit 44 f., 47, 51, 54, 56, 59 ff.
Verstehen 638 Wahrheitsgehalt 48
Verteilung wahrheitsstiftende Rechtfertigung 42
gematchte 550 Wahrmacher 43
randomisierte 550 Wahrnehmung 133, 142, 281, 283, 370, 374,
Vertrauenswürdigkeit 375 376, 380, 386, 388, 393, 396 f., 464, 619
Verzerrung 378 Wahrnehmungs-
Video- -hypothese 287
-malaise 469 -phänomen 464 ff., 468, 470 f.,
-portal 258 473 – 476
-spiel 27 -regel 532
Vielleser 504 -verzerrung 466, 469, 472, 475
Vielseher 207 – 210, 215 f., 533 Wannenmodell 28
Virtualität 281, 285 War of the Worlds 17
Virtual Presence 281 Wear
virtuell / -e / -er / -es in 342
Lernumgebung 288 out 342
Modell 282 Webanalyse 357 f.
Raum 284 Weblog 258
Realität 279, 283, 287 f., 290 Webmonitoring 357
Visits 357 Werbe-
visual spatial imagery 286 -block 343
visuell-räumliches Vorstellungs- -botschaft 335, 338, 343
vermögen 286 -erfolg 335
670 Stichwortregister