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Vorwort
Wer war, wer ist Jesus? Das Interesse an seiner Person ist, mehr
als zweitausend Jahre nach seinem Tod am Kreuz, immer noch
groß. Artikel in Zeitschriften und Zeitungen über ihn erscheinen
regelmäßig um Weihnachten und Ostern. Es mangelt auch nicht
an Büchern – neue und alte – über ihn. Die Bandbreite reicht von
umfangreichen wissenschaftlichen Werken für ein Fachpubli-
kum, bis zu populärwissenschaftlicher Literatur, die oft auf Sen-
sationen abzielt. Ihre Autoren zitieren angeblich geheim gehal-
tene Dokumente, die das in der biblischen Tradition überlieferte
Bild von Jesus in Frage stellen. Sie hoffen, dadurch eine hohe
Auflage zu erzielen und sind weniger an Tatsachen interessiert.
Diese Biografie ist aus persönlichem Interesse am Thema und
als das Ergebnis einer intensiven Beschäftigung damit, während
der letzten achtzehn Monate entstanden. Ich schreibe als theolo-
gischer Laie nicht für ein Fachpublikum, sondern für Christen
und Interessierte und auch für die skeptischen und kritischen
Zeitgenossen, die sich mit der spannendsten Persönlichkeit der
Weltgeschichte beschäftigen wollen.
Der Mann, dem diese Biografie gewidmet ist, Jesus, ist in einem
kleinen Dorf, das einen zweifelhaften Ruf hatte, aufgewachsen.
Er arbeitete bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr als Handwer-
ker, hat weder studiert, noch Bücher verfasst. Die Geschichts-
forscher können sein Geburtsjahr (zwischen 7 und 4 v. Chr.) und
sein Todesjahr (30 oder 31 n. Chr.) nur ungefähr datieren. Als er
im Alter von etwa fünfunddreißig Jahren am Kreuz vor den
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Die Bibel nennt die Begleiter, die mit Jesus unterwegs waren während der
Zeit seines öffentlichen Wirkens, "Jünger". In der griechischen Sprache des
Neuen Testaments heißen sie "mathētai" – was so viel wie Schüler oder
Lernende heißt.
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Heiland bedeutet Erlöser oder Retter.
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deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde."3
Revolutionäre, die ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit mit Ge-
walt durchsetzen wollen, beanspruchen ebenfalls Jesus für sich.
Sie verweisen auf einen Vorfall, bei dem Jesus unter Anwendung
von Gewalt die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel in
Jerusalem vertrieb. Die kubanische Regierung unter Castro ver-
teilte kurz nach der Revolution ein Gemälde von Jesus, der einen
Karabiner geschultert hatte.
Für viele Christen ist Jesus der "liebe Heiland". Ein beliebtes
Motiv von ihm, das man in Kirchen oft sieht, zeigt Jesus als den
guten Hirten. Er trägt ein kleines Lamm in seinen Armen und
schaut mit einem verklärten Gesicht in die Ferne. Welches von
diesen vielfältigen und sich widersprechenden Vorstellungen
von Jesus entspricht am ehesten der Wahrheit?
Unser Wissen über ihn haben wir den vier Evangelien4 zu ver-
danken. Zusammengenommen haben sie den Umfang eines klei-
nen Buches von etwa einhundertzwanzig Seiten – viel zu wenig
um der Bedeutung des Mannes, von dem sie erzählen, gerecht
zu werden. Und viel zu knapp, um unsere Neugierde zu befrie-
digen. Die Evangelien erheben nicht den Anspruch, eine lücken-
lose Biografie von Jesus zu sein. Das war nicht die Absicht ihrer
Verfasser. Der Apostel Johannes schreibt am Ende seines Evan-
geliums: "Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jün-
gern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind
3
Matthäus 5, 38-39 + 43-44
4
Das Wort Evangelium stammt aus dem griechischen Begriff "euangélion"
und bedeutet frohe Botschaft oder gute Nachricht. Im heutigen
Sprachgebrauch steht es aber für die vier Berichte in der Bibel über das Leben
und Wirken von Jesus.
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geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der
Sohn Gottes, und damit ihr, weil ihr glaubt, das Leben habt in
seinem Namen."
Die Verfasser der Evangelien haben bei ihren Berichten über das
Leben und Wirken von Jesus ein Ziel vor Augen gehabt: Men-
schen zum Glauben an ihn einzuladen, indem sie von ihm und
seiner Botschaft erzählen. Darum liegt der Fokus bei ihnen auf
den letzten drei Jahre aus seinem Leben – die Jahre von seinem
ersten öffentlichen Auftreten bis zu seinem Tod am Kreuz und
seiner Auferstehung.
Viele Fragen, die uns heute interessieren, bleiben offen. Was hat
Jesus als Kind und Jugendlicher erlebt? Welche Ereignisse ha-
ben ihn während dieser Zeit geprägt? Wie sahen die Lebensum-
stände aus, in denen er aufgewachsen ist?
Hier sind wir auf außerbiblische Quellen angewiesen. Die histo-
rische Forschung und archäologische Funde liefern uns einige
ergänzende Informationen. Es gibt auch gute Bücher von Auto-
ren, die aus eigener Anschauung über Land und Leute schreiben.
Zu ihnen gehört Pfarrer Ludwig Schneller. Er wurde im Jahre
1858 in Jerusalem geboren und verbrachte seine Kindheit und
Jugend dort. Nach dem Studium der Theologie in Deutschland
diente er einige Jahre als Pfarrer in der einheimischen evangeli-
schen Gemeinde in Bethlehem. Er war mit seinem Pferd oft un-
terwegs, um die Mitglieder seiner Gemeinde zu besuchen.
Dadurch bekam er einen tiefen Einblick in die Sitten und Le-
bensgewohnheiten der Menschen, die sich seit der Zeit von Jesus
kaum geändert hatten. Er besuchte auch alle Orte, an denen Jesus
wirkte und besaß die Gabe, die Geschichten aus den Evangelien
sehr anschaulich und lebendig zu beschreiben. Aus seiner Feder
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stammen zwei Bücher über das Leben von Jesus: "Kennst du das
Land?" und "Kennst du Ihn?" Die Lektüre dieser Bücher hat mir
geholfen, mich in die Welt der Bibel zu versetzen und manches
so zu erleben, als wäre ich selber dabei gewesen. Leider sind
beide Bücher vergriffen. Mit etwas Glück, kann man sie noch im
antiquarischen Buchhandel erwerben.
Ein anderer, sehr guter Kenner der nahöstlichen Geschichte und
Kultur, ist der englische Theologe Kenneth Bailey. Sein Buch
über Jesus heißt: "Jesus Through Middle Eastern Eyes" (Jesus
aus der Sicht von Menschen aus dem Nahen Osten). Von Kardi-
nal Josef Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI, gibt es
auch ein gutes biografisches Werk mit dem Titel "Jesus von Na-
zareth". Die beiden letztgenannten Biografien sind zwar keine
leichte Lektüre aber sie verbinden fundiertes Sachwissen mit ei-
ner tiefen Frömmigkeit und helfen dem Leser, das Geheimnis
des Mannes aus Nazareth besser zu verstehen.
Ein weiteres Buch über Jesus, das ich persönlich sehr schätze,
wurde von Philip Yancey, einem bekannten amerikanischen The-
ologen und Publizisten geschrieben. Die deutsche Übersetzung
ist unter dem Titel "Der unbekannte Jesus" erschienen. Diese
Bücher und die Berichte der vier Evangelisten über das Leben
von Jesus, sowie einige Artikel und Vorträge im Internet zu die-
sem Thema, haben mir das Material geliefert, das ich in diese
Biografie eingearbeitet habe.
Mein Wunsch ist, Jesus den Lesern so vor Augen zu malen, dass
das Interesse an dieser einzigartigen Persönlichkeit bei ihnen ge-
weckt wird und sie motiviert werden, sich näher mit ihm zu be-
schäftigen.
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5
Der Messias – das war für die Juden zur Zeit von Jesus die Hoffnungs- und
Heilsgestalt. Von Gott gesandt würde er das Königtum Davids wieder
herstellen, die Fremdherrschaft über Israel beenden und die Zerstreuten des
auserwählten Volkes wieder in die Heimat ihrer Väter führen.
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Mir geht es nicht um eine pauschale Verurteilung der wissenschaftlichen
Theologie – sie hat uns viele wichtige Informationen über Jesus und seine
Zeit geliefert –, sondern um einen kritischen Blick auf manche ihrer
Auswüchse.
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Lukas 1, 26-38
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Engel sind in der Bibel keine geflügelten Wesen, die auf einer Wolke sitzen
und Harfe spielen. Sie sind Boten Gottes und erscheinen oft in menschlicher
Gestalt.
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Jesus, auf Hebräisch "Jeschua", bedeutet: Gott ist Hilfe/Rettung
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Matthäus 1, 18-21
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das im Süden liegt, dauerte etwa vier Tage. Maria und Josef be-
nutzten das Transportmittel der einfachen Leute, einen Esel. Sie
gingen von Nazareth aus zuerst gen Osten zum Jordantal und
wanderten durch die fruchtbare Ebene entlang des Jordans bis
nach Jericho. Von dort aus stiegen sie durch eine Halbwüste und
kamen über den Ölberg nach Jerusalem. Von Jerusalem konnten
sie Bethlehem in ein paar Stunden erreichen.
Lukas schreibt in seinem Evangelium über die Geburt von Jesus:
"Als sie aber dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte.
Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und
legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in
der Herberge."
Aus diesen Worten ist die Vorstellung entstanden, dass Jesus,
kurz nach der Ankunft von Maria und Josef in Bethlehem, im
Stall einer überfüllten Herberge geboren wurde. So wird die
Weihnachtsgeschichte auch in den Krippenspielen dargestellt.
Kenner des Landes Israel und seiner Geschichte stellen jedoch
diese Vorstellung in Frage und haben gute Argumente dafür.
Bethlehem war Josefs Heimatort und dort lebten mit Sicherheit
einige seiner Verwandten. Man kann sich kaum vorstellen, dass
er mit seiner schwangeren Frau sich auf die Suche nach einer
Herberge machte. Es war ganz selbstverständlich, dass die Ver-
wandten ihn und Maria bei sich aufnahmen. Das Wort, das für
Herberge im Lukasevangelium steht, kann man genauso gut mit
Haus übersetzen. Warum wurde Jesus aber nach seiner Geburt
in eine Krippe gelegt? Das lässt sich erklären, wenn man die
Wohnverhältnisse in jener Zeit kennt. Die Häuser bestanden aus
einem einzigen Raum, in dem ein Ehepaar mit ihren zahlreichen
Nachkömmlingen und oft auch mit den Großeltern lebten. Zu
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ebener Erde hatten die Haustiere ihren Platz. Der hintere Teil des
Wohnraums war etwas erhöht - hier lebten die Besitzer.
Auf Grund der beengten Wohnverhältnisse, kann man sich vor-
stellen, dass Maria und Josef in dem Teil übernachteten, in dem
sich die Haustiere befanden. Als Maria einige Zeit nach ihrer
Ankunft ihr Kind bekam, konnte sie es in die Krippe, die schon
dafür vorbereitet war, hineinlegen.
Die ersten Menschen, die von diesem Ereignis erfuhren, waren
Hirten auf dem Felde11. Ein Engel überbrachte ihnen die Nach-
richt und sagte den zutiefst erschrockenen Männern: "Fürchtet
euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem
Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Retter geboren,
welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt
zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt
und in einer Krippe liegen."
Die Hirten galten als unreine Menschen. Vornehme Leute mie-
den den Kontakt mit ihnen. Sie hätten sich nicht getraut, zu dem
neugeborenen Kind zu gehen, wenn er im Haus einer angesehe-
nen Familie geboren worden wäre. Die Worte des Engels, "Ihr
werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe
liegen", waren für sie aber ein Hinweis: Das Kind, von dem der
Engel sprach, war in einem einfachen Haus von ganz normalen
Menschen. Die Hirten wussten: Wenn wir jetzt hingehen, um
dieses Kind anzuschauen, dann wird man uns nicht wegschi-
cken.
Die Geburt von Jesus im Stall in Bethlehem ist bezeichnend für
sein ganzes Leben. Er kam als einfacher Mensch in eine Welt, in
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Lukas 2, 8-20
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der die Mächtigen und die Reichen das Sagen haben. Seine
wahre Größe äußerte sich nicht in Macht und Reichtum, sondern
im Dienen. Die Geburtsgeschichte von Jesus, wie sie der Evan-
gelist Lukas uns überlieferte, sagt auch etwas über Gott aus: Er
schreibt Geschichte mit einfachen Menschen. Mit einer jungen
Frau vom Land und ihrem Mann, einem Handwerker, mit Hirten
ohne große Bildung oder Ansehen und mit einem Kind, das in
einfachen Verhältnissen in einer kleinen Stadt geboren wird.
Und doch hat kein anderer die Weltgeschichte so geprägt wie
dieses kleine Kind von Bethlehem.
Matthäus berichtet in seinem Evangelium, dass Sterndeuter aus
dem Osten – vermutlich aus dem persischen Reich – durch einen
besonderen Stern auf die Geburt eines Königs in Israel aufmerk-
sam wurden. Sie machten sich auf den Weg und nahmen Ge-
schenke mit, um dem neugeborenen König die Ehre zu erweisen.
Dieser Stern war Anlass für viele Spekulationen. Thomas Boll,
Professor für Astrophysik am Max-Planck-Institut – nach eige-
ner Aussage kein besonders religiöser Mensch – interessierte
sich für die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Geschichte
über den Stern, der die Weisen aus dem Morgenland nach Beth-
lehem führte. Er stellte sorgfältige Recherchen an und fand her-
aus, dass hinter dem Weihnachtsstern eine seltene Planetenkon-
stellation steckt – und zwar eine Konjunktion von Jupiter und
Saturn. Dabei kommen sich diese zwei Planeten am Firmament
so nahe, dass sie sich zu berühren scheinen, weshalb sie von der
Erde aus gesehen wie ein einziger Stern leuchten. Bei seinen Re-
cherchen zum Stern von Bethlehem, entdeckte Thomas Boll,
dass eine solche Konjunktion von Jupiter und Saturn, die nur
etwa alle zweihundert Jahre vorkommt, im Jahr 7 vor Christus
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Matthäus 2, 13-15
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Matthäus 13, 55-56
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Lukas 2, 41-52
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Der Begriff Gesetzeslehrer (auf Hebräisch Rabbi) wurde als respektvolle
Anrede für die jüdischen Schriftgelehrten verwendet. Sie hatten die Heiligen
Schriften Israels studiert und konnten sie für die anderen auslegen. Übrigens
wurde Jesus auch Rabbi genannt.
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Als Jesus später mit dreißig Jahren sich ausschließlich seiner göttlichen
Berufung widmete, kam es häufiger zu Auseinandersetzungen mit seiner
Familie.
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Lukas 2, 52
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Die Thora besteht aus den ersten fünf Büchern der Bibel. Manchmal wird
dieser Begriff auch für die ganze hebräische Bibel verwendet.
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Ursprünglich wurde mit dem hebräischen Wort rab (=groß) der
Höhergestellte angeredet. Zur Zeit von Jesus wurde dieser Titel für die Lehrer
der Thora verwendet. Sie wurden nach dem Studium der Thora und ihrer 613
Gebote ordiniert. Ihre Aufgabe war, über die rechte Auslegung und
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den.
Jesus gehörte zu den aufmerksamen und fleißigen Schülern,
sonst hätte er nicht schon im Alter von zwölf Jahren mit den
Schriftgelehrten im Tempel diskutieren und ihnen kluge Fragen
stellen können. Wir wissen aber nicht, ob er über das zwölfte
Lebensjahr hinaus noch in den Unterricht ging, oder ob er sei-
nem Vater zur Hand gehen musste.
Mit dem Erreichen des dreizehnten Lebensjahres wurde Jesus
religionsmündig. Am ersten Sabbat nach seinem 13. Geburtstag
hatte er, wie jeder jüdischer Junge, seinen großen Auftritt in der
Synagoge, denn er war nun ein Bar Mitzwa20, ein "Sohn des Ge-
bots". Er war für die Beachtung und Einhaltung der jüdischen
Gebote (Mitzwot, Einzahl Mitzwa) verantwortlich und musste
von da an alle religiösen Pflichten erfüllen, etwa in der Synagoge
aus der Thora vorlesen. Dazu gehörte auch das Anlegen von Te-
fillin. Das sind Lederkapseln, die Worte aus der Thora auf Per-
gament enthalten und mit Lederriemen an Hand und Kopf be-
festigt werden.
Diese Details aus dem Leben von Jesus erscheinen uns heute
vielleicht nicht so wichtig, weil die Christenheit Jesus aus sei-
nem jüdischen Hintergrund herausgelöst hat. Uns ist nicht mehr
bewusst, dass Jesus – sowohl im Kindesalter, wie auch als Er-
wachsener – ein Angehöriger seines Volkes war. Und als solcher
war er tief verankert im Glauben und in den Traditionen Israels.
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Shawuot auf Hebräisch
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Die Pharisäer waren eine große religiöse Partei, eine Laienbewegung. Ihre
Mitglieder waren im Volk hochgeachtet. Sie nahmen ihren Glauben sehr
ernst. Ihr Anliegen war, die Gebote und die Gesetze aus der Heiligen Schrift
für jede alltägliche Situation bis ins Detail auszulegen und streng zu befolgen.
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Alltag der Menschen und aus der Natur zu erklären. Die Arbeit
des Bauern bei der Aussaat wird zu einem Bild dafür, wie der
ausgestreute Same des Wortes Gottes im Leben von Menschen
Wurzeln schlägt und Früchte bringt. Von den Vögeln und Blu-
men sollen die Jünger lernen, wie Gott für seine Schöpfung
sorgt, und ihm die Sorge für ihr Leben überlassen. An anderer
Stelle sagt er einem Menschen, der ihm nachfolgen will: "Über-
schlage zuerst die Kosten, bevor du dich entscheidest. So wie
ein Hausbauer die Kosten überschlagen soll, bevor er mit dem
Bauen anfängt." Wahrscheinlich machte Jesus bei seiner Tätig-
keit auf dem Bau die Erfahrung, dass mancher Bauherr sein Vor-
haben nicht zu Ende führen konnte, weil ihm das Geld dazu
fehlte.
Das soziale und politische Umfeld
Interessant ist natürlich auch die Frage nach dem sozialen und
politischen Umfeld in der Heimat von Jesus in jener Zeit. Naza-
reth lag in einem kleinen Landstrich, der als Galiläa bekannt war.
Er wurde vom Litanifluss im Norden und der Jesreelebene im
Süden begrenzt. Der See Genezareth, der später eine wichtige
Rolle im Leben von Jesus spielen sollte, lag im Osten Galiläas.
Mehrere Jahrhunderte waren Juden hier in der Minderheit. Der
Name Galiläa geht zurück auf die hebräische Bezeichnung
"Galil Hagoijim" und bedeutet "Region der Heiden." Etwa ab
dem Jahr 100 vor Christus wurde das Land wieder von Juden
neu besiedelt. Fromme Familien aus Judäa zogen nach Norden
und ließen sich in Galiläa nieder. Wahrscheinlich hat sie die
fruchtbare Hügellandschaft, in der Datteln, Oliven und Wein ge-
diehen, angezogen. Etwa 150000-200000 Menschen lebten zur
Zeit von Jesus dort. Sie waren, ähnlich wie die jüdischen Siedler
in der Westbank heute, eifrige Nationalisten.
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Als Jesus geboren wurde, stöhnte das Land unter der römischen
Besatzung. Die Römer setzten den von den Juden verhassten He-
rodes als König über Israel ein. Sein Reich umfasste weite Teile
des heutigen Israels, Jordaniens und des Libanon. Herodes hatte
eine große Vorliebe für extravagante Bauvorhaben. Er baute
Tempel, Amphitheater, Pferde- und Wagenrennbahnen, Aquä-
dukte und Palastfestungen mit luxuriösen Badehäusern. Die
Kosten dafür trieb er von der eigenen Bevölkerung durch hohe
Steuern ein. Hinzu kamen die Steuern, die die Israeliten an die
römische Besatzungsmacht entrichten mussten und die Abgaben
für den Tempel. Viele Menschen waren nicht in der Lage, diese
mehrfache Steuerlast zu tragen. Sie mussten sich verschulden
und verloren dadurch Haus und Hof. Ihre Söhne, die keine Zu-
kunftsperspektive für sich sahen, flohen oft in die Berge Galiläas
und schlossen sich den Zeloten an, einer Gruppe von Unter-
grundkämpfern gegen die Römer und ihre Helfershelfer. Der
Kampf der Zeloten gegen die Römische Herrschaft hatte noch
einen religiösen Hintergrund: Die Juden konnten sich nicht da-
mit abfinden, von einer heidnischen Macht regiert zu werden.
Die Verehrung des Kaisers als göttliche Person, die von seinen
Untertanen verlangt wurde, widersprach dem ersten Gebot23 und
war ihnen zuwider. Galiläa tat sich besonders hervor im Wider-
stand gegen Rom. In den ersten zwölf Lebensjahren von Jesus
gab es in seiner Heimat zwei große Aufstände gegen die Römer.
Beide wurden blutig niedergeschlagen. Jedes Mal wurden Tau-
sende von Aufständischen entlang den Straßen von Galiläa an
Kreuze genagelt. Die Hauptstadt Galiläas, Sepphoris, wurde zer-
stört und niedergebrannt. Man konnte von Nazareth aus den ro-
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Ich bin der Herr dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.
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Messias (Hebräisch: Maschiach, Griechisch: Christós – daraus abgeleitet
"Christus"), bedeutet "Gesalbter". Im alten Israel wurden Könige und
Propheten bei ihrer Amtseinsetzung mit Öl gesalbt. Später bekam dieser
Begriff eine spezielle Bedeutung: Ein von den Propheten im Alten Testament
verheißener königlicher Heilsbringer.
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Lukas 3, 1-3
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Elia war ein großer Prophet im Alten Testament. Gläubige Juden erwarteten
seine Rückkehr als Wegbereiter des Messias.
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Der Himmel ist in der Sprache der Bibel kein geografischer Ort, sondern
die für uns unsichtbare Welt Gottes. In der englischen Sprache unterscheidet
man deshalb zwischen sky und heaven.
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Sohn, über den ich mich von Herzen freue", bestätigte Jesus in
seiner Entscheidung, diesen schweren Weg bis ans Kreuz zu ge-
hen und gab ihm das Versprechen, dass Gott zu ihm halten wird.
Trotz der göttlichen Vollmacht, die Jesus bei seiner Taufe erhielt,
blieb er immer bescheiden und lebte in der völligen Abhängig-
keit von seinem Vater. Er ließ sich, solange er auf Erden lebte,
von Gottes Stimme leiten und sich den nächsten Schritt zeigen.
Es war diese Stimme, die ihn dann nach seiner Taufe in die
Wüste führte, wo er eine harte Bewährungsprobe zu bestehen
hatte, bevor er seine Aufgabe in der Öffentlichkeit wahrnehmen
konnte.
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Matthäus 4, 1-11; Markus 1, 12-13; Lukas 4, 1-13
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Libanon. Unser Vater gab uns damals nur wenig Geld mit auf
den Weg. Nicht dass er geizig gewesen wäre, aber er wollte uns
abhärten. Wir sollten lernen, dass wir mit knappen Ressourcen
zurechtkommen können und nicht so schnell vor Schwierigkei-
ten kapitulieren müssen. Unsere Mutter machte sich große
Sorgen um uns, bis wir wieder zu Hause waren. Wir waren aber
im Nachhinein dankbar für diese Erfahrungen. Sie statteten uns
mit einem gesunden Maß an Selbstvertrauen aus, um uns später
den Herausforderungen des Lebens zu stellen. So kann ich mir
vorstellen, dass Gott diese harte Bewährungsprobe Jesus zumu-
tete, um ihn auf die späteren Prüfungen in seinem Leben vorzu-
bereiten.
Nun kommt die nächste schwierige Frage: Wer ist dieser Teufel,
von dem hier die Rede ist? In der religiösen Kunst des Mittelal-
ters wird er oft als ein hässliches Wesen mit Hörnern, Bocksbei-
nen und einem Pferdefuß dargestellt. Die Bibel sagt uns über-
haupt nicht, wie der Satan aussieht. Sie beschreibt nur sein We-
sen und sein Wirken. Er begegnet uns schon auf den ersten Sei-
ten der Bibel, in der Geschichte von Adam und Eva, als kluger
Stratege. Die biblische Schöpfungserzählung schließt mit den
Worten: "Gott sah alles an, was er geschaffen hatte und siehe, es
war gut." Ganz unvermittelt erscheint dann der Versucher in der
Gestalt der Schlange und verführt Adam und Eva, gegen Gott zu
rebellieren. Woher kam er und wer hat ihn geschaffen? Die Bibel
macht keine eindeutigen Angaben darüber. Sie spricht von einer
bösen Macht als Person und als Gegenspieler Gottes. Jesus sagt
von ihm: Er ist ein Mörder und Lügner von Anfang an und ein
Vater der Lüge.
Die Frage nach dem Bösen ist heute so aktuell und bedrängend,
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5. Mose 8,3
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30
5. Mose 6,16
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Markus 10, 42-45
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Jesus hat oft von sich als den "Menschensohn" gesprochen. Mit diesem
Titel knüpfte er an eine alttestamentliche Messiaserwartung, deren Ursprung
sich im Buch des Propheten Daniel befindet (Daniel 7,13).
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Der Hebräische Name für Kapernaum ist Kfar Nahum und bedeutet
Nahums Dorf
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Siehe Lukas 7,5
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seiner Worte auf die Zuhörer35: "Die Zuhörer waren von seinen
Worten tief beeindruckt. Denn Jesus lehrte sie mit einer Voll-
macht, die Gott ihm verliehen hatte – ganz anders als ihre
Schriftgelehrten. In der Synagoge war ein Mann, der von einem
bösen Geist beherrscht wurde. Der schrie: 'Was willst du von
uns, Jesus aus Nazareth? Bist du gekommen, um uns zu vernich-
ten? Ich weiß, wer du bist: Du bist der Heilige, den Gott gesandt
hat!' Jesus befahl dem bösen Geist: 'Schweig und verlass diesen
Menschen!' Da zerrte der böse Geist den Mann hin und her und
verließ ihn mit einem lauten Schrei. Darüber erschraken und
staunten alle in der Synagoge; einer fragte den anderen: 'Was
hat das zu bedeuten? Dieser Jesus verkündet eine neue Lehre,
und das mit Vollmacht! Seinen Befehlen müssen sogar die bösen
Geister gehorchen!' Schnell wurde Jesus in ganz Galiläa be-
kannt."
Dieser erste Auftritt in der Synagoge machte Jesus in der ganzen
Stadt bekannt. Nach dem Gottesdienst besuchte Jesus das Haus
seines Jüngers, Simon Petrus. Dessen Schwiegermutter lag mit
einer fiebrigen Erkrankung im Bett. Jesus fasste sie an und rich-
tete sie auf. Das Fieber verließ sie augenblicklich. Sie konnte
aufstehen und den Gästen eine Mahlzeit zubereiten. Am Abend,
als es kühl wurde, versammelten sich die Bewohner der Stadt
vor dem Haus des Petrus und brachten ihre Kranken mit, damit
Jesus sie berührte und heilte.
Früh am Morgen verließ Jesus die Stadt. Er suchte einen einsa-
men Ort auf, um zu beten und Weisung von seinem himmlischen
Vater für die nächsten Schritte zu empfangen. Als Petrus und die
35
Markus 1, 21-28
Seite 44
36
Reich Gottes: siehe dazu die Erklärungen im Kapitel unter der Überschrift:
Was hat Jesus gelehrt?
37
Matthäus 4, 23-25
Seite 45
38
Matthäus 4,18-22
Seite 46
und folgten ihm nach. Und als er von dort weiterging, sah er
zwei andere Brüder, Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Jo-
hannes, seinen Bruder, im Boot mit ihrem Vater Zebedäus, wie
sie ihre Netze flickten. Und er rief sie. Sogleich verließen sie das
Boot und ihren Vater und folgten ihm nach."
Es war natürlich nicht die erste Begegnung, die Jesus mit diesen
vier jungen Männern hatte. Sie hatten schon mehr als einmal Ge-
legenheit gehabt, ihn zu hören und zu erleben und fühlten sich
zu ihm hingezogen. Sie spürten: Dieser Mann ist kein gewöhn-
licher Rabbi. Darum waren sie bereit, alles hinter sich zu lassen
und sich auf das Abenteuer der Jüngerschaft einzulassen. Sie
mussten, wie Jesus schon vor ihnen, alles aufgeben, was einem
Menschen Sicherheit und Halt gab – Familie, Beruf und Heimat
– und zogen mit ihm durch das Land, ohne zu wissen, wo sie die
nächste Mahlzeit bekamen oder wo sie eine Unterkunft für die
nächste Nacht finden konnten. Von Jesus lernten sie, dass Gott
für ihre Bedürfnisse sorgt, wenn sie ihn und seine Anliegen an
die erste Stelle in ihr Leben setzten.
Ein anderer, der später in den Jüngerkreis berufen wurde, hieß
Matthäus. Er war ein Zollbeamter im Dienst der römischen Be-
satzung. Ein Kollaborateur, der vom eigenen Volk deshalb ver-
achtet und gemieden wurde. Ein weiterer hieß Simon mit dem
Beinamen Zelot, ein ehemaliger Widerstandskämpfer gegen die
römische Besatzung. Und schließlich gehörte auch Judas, der
ihn später verriet, zum Kreis der von Jesus Berufenen. Es war
eine bunt zusammengewürfelte Truppe, mit der man, mensch-
lich gesehen, keinen großen Staat machen konnte. Aber gerade
an ihnen wollte Jesus das Prinzip demonstrieren: "Meine Kraft
ist in den Schwachen mächtig." Nicht die Begabten werden be-
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Eigentum und die seinen nahmen ihn nicht auf", erfüllte sich hier
auf traurige Weise. Die Menschen aus seinem Heimatort, die
ihm am nächsten standen, lehnten ihn ab. In dieser Ablehnung
und dem versuchten Anschlag auf Jesus wirft das Kreuz seinen
Schatten bereits voraus, als der aufgestachelte Mob vor dem rö-
mischen Statthalter Pilatus schrie: "Weg mit diesem, gib uns
Barabbas frei. Kreuzige ihn, kreuzige ihn!"
Seite 51
39
Johannes 2, 15-16
40
Markus 11, 17
Seite 53
Wallfahrtsorte?
Das nächtliche Gespräch mit Nikodemus
Jesus blieb nach diesem Ereignis im Tempel für einige Monate
in Jerusalem und Judäa. Nur wenige Details sind uns aus dieser
Zeit in Jerusalem überliefert. Das erste ist das nächtliche Ge-
spräch mit einem Pharisäer, der auch ein angesehenes Mitglied
des Hohen Rates war. Er hieß Nikodemus. Dieser Mann hatte
Jesus bei dessen öffentlichen Auftritten in Jerusalem beobachtet
und war offensichtlich zu einer anderen Meinung gelangt als
seine Kollegen im Hohen Rat, die in Jesus einen Ketzer sahen
und ihn so schnell wie möglich aus dem Verkehr ziehen wollten.
Nikodemus zeigte dagegen eine große Offenheit gegenüber Je-
sus und suchte eine Gelegenheit, ihn näher kennenzulernen. Er
wollte wissen, was es mit dem Reich Gottes, von dem Jesus oft
sprach, auf sich hat. Er hatte jedoch Angst, seine Kollegen im
Hohen Rat könnten davon erfahren und ihn als Abtrünnigen be-
handeln. Also beschloss er, Jesus bei Nacht aufzusuchen. Da
konnte er unentdeckt bleiben. Er schlich im Dunkeln durch die
Gassen Jerusalems, immer wieder hinter sich schauend, ob auch
keiner ihm folgte, bis er das Haus erreichte, in dem Jesus wäh-
rend seines Aufenthaltes in Jerusalem wohnte. Das Gespräch
zwischen den beiden Männern ist im dritten Kapitel des Johan-
nesevangeliums überliefert. Sehr wahrscheinlich war Johannes
ein Zeuge dieses Gesprächs, denn er hatte mit den anderen Jün-
gern Jesus auf seiner Reise nach Jerusalem begleitet.
Nikodemus eröffnete das Gespräch mit einem erstaunlichen Be-
kenntnis, das man von einem Mitglied des Hohen Rates nicht
erwarten konnte: "Rabbi – das heißt Lehrer –", sagte er, "wir
wissen, dass Gott dich als Lehrer zu uns gesandt hat. Denn nie-
Seite 55
mand kann die Wunder tun, die du vollbringst, wenn Gott sich
nicht zu ihm stellt." Das war keine Höflichkeitsfloskel. Ni-
kodemus erkannte in Jesus einen von Gott gesandten Lehrer und
fragte ihn: "Du sprichst oft davon, dass das Reich Gottes nahe
herbeigekommen ist. Auch wir Pharisäer sehnen uns danach.
Ich hätte gerne gewusst, was ich tun muss um in dieses Reich
hineinzukommen?"41
Jesus gab ihm eine Antwort, die fast wie ein Rätsel klingt: "Ni-
kodemus, du willst wissen, was du tun musst, um in das Reich
Gottes hineinzukommen? Ich sage es dir: Du musst von neuem
geboren werden." Nikodemus war ziemlich irritiert und fragte
zurück: "Wie soll das geschehen? Ich bin ein alter Mann. Soll
ich etwa wieder in den Mutterleib zurück und noch einmal auf
die Welt kommen?" Jesus versuchte zu erklären, was er mit die-
ser neuen Geburt meinte: "Nur wer durch Wasser und durch Got-
tes Geist neu geboren wird, kann in Gottes Reich kommen!"
Diese Worte von Jesus stehen im Widerspruch zu allem, was Re-
ligionen lehren. Der Grundtenor bei ihnen lautet: "Wenn Du
Gottes Gunst erringen willst, dann musst du seine Gebote halten
und die Verbote beachten. Du musst beten und fasten. Du musst
zu den Heiligen Stätten pilgern, um dort Gott anzubeten und ihm
Opfer darzubringen."
Jesus aber sagt: "Das Reich Gottes kann man nur als Geschenk
empfangen." Nikodemus hatte noch Schwierigkeiten, Jesus rich-
41
Diese Frage von Nikodemus steht nicht im Bibeltext, aber aus der Antwort,
die Jesus ihm gab, kann man schließen, dass er so oder ähnlich gefragt haben
muss. Eine andere mögliche Erklärung wäre, dass Jesus spürte, welche Frage
Nikodemus umtrieb und ihm eine Antwort gab, bevor dieser Gelegenheit
hatte, seine Frage zu stellen.
Seite 56
tig zu verstehen und fragte nach: "Wie kann dies – die neue Ge-
burt aus Wasser und Geist – aber geschehen?" Jesus antwortete
ihm: "Du bist ein anerkannter Lehrer in Israel und weißt das
nicht?" Die Rede von der neuen Geburt aus Wasser und Geist
stand bereits in der hebräischen Bibel. Nikodemus hätte es wis-
sen müssen. Der Prophet Hesekiel, der in der Zeit des babyloni-
schen Exils lebte, hatte eine Verheißung von Gott für das Volk
Israel empfangen: "Mit reinem Wasser besprenge ich euch und
wasche so die Schuld von euch ab, die ihr durch euren abscheu-
lichen Götzendienst auf euch geladen habt. Ich will euch ein
neues Herz und einen neuen Geist geben. Ja, ich nehme das ver-
steinerte Herz aus eurer Brust und gebe euch ein lebendiges
Herz. Mit meinem Geist erfülle ich euch, damit ihr nach meinen
Weisungen lebt, meine Gebote achtet und sie befolgt."
Da stand es also schwarz auf weiß in dieser Jahrhunderte alten
Prophetie: Gott wird sein Volk von ihren Sünden reinwaschen
und sie mit seinem Geist erfüllen, damit sie nach seinem Willen
leben und in sein Reich kommen können.
Das Gespräch zwischen Nikodemus und Jesus dauerte bis spät
in die Nacht. Jesus nahm sich Zeit für diesen ehrlichen und su-
chenden Mann. Bevor sich Nikodemus verabschiedete, gab ihm
Jesus ein Wort mit auf den Weg, das ihn noch lange beschäftigen
sollte: "Gott hat aus Liebe zu den Menschen seinen einzigen
Sohn für sie hergegeben. Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht
verloren gehen, sondern das ewige Leben haben. Gott hat näm-
lich seinen Sohn nicht zu den Menschen gesandt, um über sie
Gericht zu halten, sondern um sie zu retten." 42
42
Johannes 3,16-17
Seite 57
selbst seid meine Zeugen, dass ich gesagt habe: Ich bin nicht der
Christus, sondern ich bin vor ihm her gesandt. Wer die Braut
hat, der ist der Bräutigam; der Freund des Bräutigams aber, der
dabeisteht und ihm zuhört, freut sich sehr über die Stimme des
Bräutigams. Diese meine Freude ist nun erfüllt. Er muss
wachsen, ich aber muss abnehmen."43
Die Pharisäer erfuhren von dieser Geschichte. Wahrscheinlich
hatten sie ihre Späher ausgeschickt, um diese neue Bewegung zu
beobachten. Sie sahen darin eine Gelegenheit, Zwietracht zwi-
schen Johannes und Jesus zu säen. Als Jesus dies merkte, verließ
er die Gegend am Jordan und ging zurück nach Galiläa.44
43
Johannes 3, 27-29
44
Johannes 4,1
Seite 60
45
Diese Begegnung ist im Johannes Evangelium, Kapitel 4 überliefert.
Seite 62
ges Wasser? Bist du etwa größer als unser Vater Jakob, der uns
diesen Brunnen gegeben hat."
Jesus antwortete ihr in ziemlich rätselhaften Worten: "Wer dieses
Wasser trinkt, wird bald wieder durstig sein. Das Wasser, das ich
dir geben will, ist von einer ganz anderen Art. Wer davon trinkt,
der wird nie wieder Durst bekommen. Dieses Wasser wird in ihm
zu einer nie versiegenden Quelle." Die Frau verstand den Sinn
dieser Worte nicht. Lebendiges Wasser war in Israel ein Bild für
das Leben aus Gott, das die Bedürfnisse der Menschen nach
Liebe, Annahme und Geborgenheit stillen konnte. Sie aber
dachte an das Trinkwasser, das sie jeden Tag mühevoll aus dem
Brunnen holen musste. Sie bat Jesus nun: "Gib mir solches Was-
ser, dann brauche ich nicht mehr jeden Tag hierher kommen um
Wasser zu schöpfen."
Das Gespräch zwischen den beiden nahm nun eine unerwartete
Wende. Jesus sagte zu der Frau: "Geh und ruf deinen Mann,
dann komme wieder hier her." Die Frau antwortete: "Ich habe
keinen Mann." Worauf Jesus erwiderte: "Du hast recht, wenn du
das sagst. Fünf Männer hast du gehabt und der, mit dem du jetzt
lebst ist nicht dein Mann." Jesus legte seinen Finger in die
Wunde Stelle im Leben dieser Frau. Sie hatte große Probleme in
ihrer Beziehung mit Männern. Fünfmal war sie schon verheiratet
und wieder geschieden gewesen. Jetzt lebte sie mit dem Sechs-
ten in einer Ehe ohne Trauschein. Diese Reihe von gescheiterten
Beziehungen bescherten ihr einen schlechten Ruf in ihrer Stadt.
Sie wurde von den "anständigen" Leuten gemieden. Nun kann
man verstehen, warum sie in der Mittagshitze alleine zum Brun-
nen kam, um Wasser zu holen. Die Frau fühlte sich von Jesus
durchschaut und dachte bei sich: "Dieser Mann muss ein Prophet
Seite 64
sein. Woher sollte er sonst diese Details aus meinem Leben ken-
nen." Ihre Reaktion auf die Worte von Jesus ist typisch für Men-
schen, die durch Gottes Wort in ihrem Gewissen getroffen wer-
den. Sie lenkt von ihrem Problem ab und weicht auf allgemeine
religiöse Fragen aus: "Herr ich sehe, du bist ein Prophet. Unsere
Väter haben hier auf diesem Berg gebetet und ihr sagt, Jerusa-
lem sei die Stätte, wo man anbeten soll. Wer hat nun Recht?"
Jesus durchschaute natürlich ihr Ablenkungsmanöver, aber er
nahm ihre Frage trotzdem ernst und antwortete: "Glaub mir, die
Zeit kommt, – ja, sie ist schon da –, in der die Menschen den
Vater überall anbeten werden. Man braucht keinen bestimmten
Ort dafür. Denn Gott ist Geist. Er ist überall. Man muss nur mit
einem aufrichtigen Herzen zu ihm kommen."
Die Begegnung zwischen Jesus und der Frau begann mit einer
schlichten Bitte um Wasser und mündete in tiefes Gespräch ein,
bei dem es um grundsätzliche Lebensfragen ging. Die Frau er-
kannte, dass die Begegnung mit ihrem Gesprächspartner sie vor
eine Entscheidung stellte, aber sie zögert noch immer: "Ja, ich
weiß, dass einmal der Messias kommen wird. Der wird uns alles
erklären." Jesus antwortete ihr: "Du sprichst mit ihm, ich bin der
Messias." Und da glaubt die Frau. Sie begreift sich als bedürfti-
gen Menschen und erkennt Jesus als einen, durch den Gott
spricht. Sie, die lange Zeit beschämt und isoliert gelebt hatte, eilt
nun ins Dorf zurück und erzählt in glühender Begeisterung alles,
was Jesus ihr gesagt hatte. Dort sah man ihr die Veränderung an,
und manche glaubten schon aufgrund ihres Zeugnisses. Andere
wollten Jesus selbst hören. Sie folgten ihr zum Brunnen und ba-
ten Jesus, bei ihnen einzukehren. Er willigte ein und blieb ein
paar Tage in Sychar. Jesus beging mit diesem Schritt wieder ei-
nen Tabubruch. Ein jüdischer Rabbi, der bei den heidnischen Sa-
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dern auch aus anderen Gebieten in Israel und aus dem nahen
Ausland, um den inzwischen sehr bekannten Rabbi zu hören. Je-
sus stand oft am Ufer des Sees Genezareth und sprach von dort
aus zu den Menschen, die ihn dicht umdrängten. Und wenn der
Andrang zu heftig wurde, dann stieg er in das Boot von Petrus
und sprach von dieser schwankenden Kanzel aus zu den Men-
schen, die am Ufer standen.
Der Evangelist Matthäus fasst diese Zeit in Galiläa in wenigen
Sätzen zusammen46: "Jesus zog durch Galiläa, lehrte in den Sy-
nagogen und verkündete überall die rettende Botschaft, dass
Gottes Reich nun begonnen hatte. Er heilte alle Kranken und
Leidenden. Bald wurde überall von ihm gesprochen, sogar in
Syrien. Man brachte alle Kranken zu ihm, Menschen mit den un-
terschiedlichsten Leiden: solche, die unter schrecklichen
Schmerzen litten, Besessene, Menschen, die Anfälle bekamen,
und Gelähmte. Jesus heilte sie alle. Große Menschenmengen
folgten ihm, wohin er auch ging. Leute aus Galiläa, aus dem Ge-
biet der Zehn Städte, aus Jerusalem und dem ganzen Gebiet von
Judäa liefen ihm nach. Auch von der anderen Seite des Jordan
kamen sie."
Matthäus stellt in dieser kurzen Beschreibung des Wirkens von
Jesus in Galiläa drei Schwerpunkte heraus:
1. Lehren in den Synagogen: Jesus legte in einer einfachen
Sprache und in Bildern aus dem täglichen Leben die biblischen
Schriften aus. Die Zuhörer konnten ihn dadurch gut verstehen
und den Bezug zum ihrem Leben erkennen. Sie waren fasziniert
von seiner Lehre, weil Jesus sich nicht mit kleinlichen Details
46
Matthäus 4, 23-25
Seite 68
schlief weiter. Die Jünger weckten ihn auf und schrien: "Rabbi,
ist es dir egal, dass wir bald untergehen?" Die erfahrenen Fi-
scher, die mit ihren Booten oft auf dem See unterwegs waren,
fühlten sich völlig machtlos bei diesem wilden Sturm. Jesus
stand auf, bedrohte Wind und Wellen und der Sturm legte sich.
Eine große Furcht überkam die Jünger: "Was ist das für ein
Mensch, dass selbst Wind und Wellen ihm gehorchen." Sie waren
schon eine ganze Weile mit ihm unterwegs, hatten einiges mit
ihm erlebt und meinten, ihn schon gut zu kennen. Aber die
Erfahrung von der Sturmstillung hatte eine ganz neue Dimen-
sion, die ihnen Furcht einflößte.
Jesus beruft den Zöllner Matthäus in seine Nachfolge
Matthäus war ein hochgestellter Beamter im Zollamt von Ka-
pernaum. Viele Handelswege verliefen damals durch diese
Grenzstadt. Aus dem Osten kamen Kamelkarawane beladen mit
kostbaren Gewürzen und Weihrauch, der schon im alten Ägyp-
ten für kultische Zwecke verwendet wurde. Vom Ostufer des
Sees kamen auch Boote, mit Waren aller Art beladen. Alle Händ-
ler mussten am Zollamt von Kapernaum ihre Waren verzollen,
bevor sie ihre Reise fortsetzen konnten. Es war ein einträgliches
Geschäft für Matthäus. Er musste einen bestimmten Betrag an
die römische Besatzung abliefern. Alles, was er darüber hinaus
an Zollgebühren erhob, konnte er für sich behalten. Matthäus
gehörte zu jener Berufsgruppe, deren Mitglieder in Israel ver-
hasst und verachtet waren. Sie waren Kollaborateure, die ihre
Seelen an die Besatzungsmacht verkauft hatten und sich auf
Kosten ihrer Landsleute bereicherten. Sie trugen Mitschuld an
der Verarmung und Verelendung großer Teile der Bevölkerung
in Israel. Kein anständiger Bürger wollte etwas mit den Zöllnern
zu tun haben.
Seite 70
nem großen Haus war viel Platz für weitere Gäste. Und es kamen
noch viele Freunde von ihm zur Feier. Menschen, die nicht den
besten Ruf in der Stadt hatten: Berufskollegen von Matthäus und
andere, die einfach als Sünder bezeichnet wurden. Das waren
Menschen deren Leben ganz offensichtlich nicht im Einklang
mit Gottes Geboten stand. Zu ihnen zählten auch die Prostituier-
ten. Damals gab es in der Gesellschaft eine tiefe Kluft zwischen
den Frommen und den sogenannten Sündern. Die Frommen
mieden jeden Kontakt mit den anderen, um nicht unrein zu wer-
den. Sie wollten sich bewusst von den Sündern absondern, um
nicht an ihren Sünden teilhaftig zu werden.
Zu diesen Frommen gehörten vor allem die Pharisäer, die Gottes
Gebote sehr ernst nahmen. Sie fasteten regelmäßig und zahlten
den Zehnten von ihrem Einkommen für wohltätige Zwecke.
Kurzum, sie ließen sich den Glauben etwas kosten. Sie standen
nun vor der Haustür von Matthäus und schauten genau hin, wel-
che "illustren" Gäste das Haus betraten und sich mit Jesus an
einen Tisch setzten. Das rief bei ihnen Entsetzen hervor. Wenn
dieser Rabbi aus Nazareth wirklich von Gott gesandt war, dann
durfte er sich nicht an einen Tisch mit solchen Leuten setzen.
Tischgemeinschaft bedeutete damals mehr als nur eine Mahlzeit
gemeinsam einzunehmen. Man zeigte dadurch gegenseitige
Wertschätzung und Nähe.
Als ein paar Jünger von Jesus kurz vor das Haus traten, um fri-
sche Luft zu schnappen, traten die Pharisäer sofort an sie heran
und sagten: "Warum isst euer Lehrer mit Zöllnern und Sündern,
mit dem Abschaum der Gesellschaft?" Die Jünger gaben diese
Frage an Jesus weiter. Vielleicht war ihnen selber nicht ganz
wohl zumute in dieser Gesellschaft. Jesus antwortete den Phari-
Seite 72
47
Jesus zitiert hier ein Wort aus dem Buch des Propheten Hosea (Hosea 6,6)
Seite 73
einem erweiterten Kreis von Jüngern. Er nahm sich viel Zeit für
ihre Unterweisung, denn diese kleine Gruppe von Nachfolgern
sollte später das Evangelium in alle Ecken der damals bekannten
Welt tragen.
Konflikte mit der Familie
Maria, die Mutter von Jesus, und seine Brüder konnten die Be-
geisterung der Menschen in Galiläa für Jesus nicht teilen. Sie
beobachteten diesen Hype um ihn mit großer Sorge. Sein Le-
benswandel passte nicht in ihre Vorstellung von einem ordentli-
chen und pflichtbewussten jungen Mann: "Was denkt er sich ei-
gentlich? Er reist durch die Gegend und vernachlässigt seine
Pflichten zu Hause, vor allem gegenüber seiner verwitweten
Mutter." Wer – wie ich – in der nahöstlichen Kultur aufgewach-
sen ist, weiß, welche Verantwortung der älteste Sohn gegenüber
seiner verwitweten Mutter trägt. Sie ist eine heilige Pflicht. Wer
sie vernachlässigt, verstößt gegen das Gebot, Vater und Mutter
zu ehren. Die Mutter von Jesus und seine Brüder hielten ihn für
übergeschnappt und beschlossen, ihn mit Gewalt nach Hause zu-
rückzubringen. Darüber berichtet der Evangelist Markus48:
"Jesus ging in ein Haus und wieder kamen so viele Menschen
zusammen, dass sie nicht einmal mehr essen konnten. Als seine
Angehörigen davon hörten, machten sie sich auf den Weg, um
ihn mit Gewalt zurückzuholen; denn sie sagten: Er ist von
Sinnen."
Bei einer anderen Gelegenheit versuchten es seine Mutter und
Geschwister auf die sanfte Tour. Sie blieben vor dem Haus ste-
hen, in dem Jesus wieder einmal vor vielen Menschen sprach,
48
Markus 3, 20-21
Seite 74
und ließen ihn rufen. Wir hören wieder aus dem Bericht von
Markus in diese Geschichte hinein: "Und es kamen seine Mutter
und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und
ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu
ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwes-
tern draußen fragen nach dir." Jesus aber antwortete: "Wer ist
meine Mutter, und wer sind meine Geschwister? Dann sah er
seine Zuhörer an, die rings um ihn saßen, und sagte: Das hier
sind meine Mutter und meine Geschwister. Denn wer Gottes Wil-
len tut, der ist für mich Bruder, Schwester und Mutter!"
Jesus wehrt sich gegen den Versuch seiner Mutter und seiner
Brüder, ihn zu vereinnahmen. In der orientalischen Kultur, in der
er zu Hause war, hat die Familie bis heute den Vorrang vor allen
anderen Verpflichtungen. Wenn sie ruft, dann muss man zur
Stelle sein. Für Jesus hatte aber der Ruf Gottes die höchste
Priorität. Dafür war er bereit, Konflikte mit seiner Familie in
Kauf zu nehmen. Es gehört zum Phänomen "Jesus von Naza-
reth", dass er weder bei seiner eigenen Familie, noch in seiner
Heimatstadt Anerkennung fand. Erst nach seiner Auferstehung
zogen seine Mutter und Brüder nach Jerusalem um und wurden
Mitglieder der Urgemeinde.
Seite 75
49
Viele Impulse für diesen Abschnitt über die Lehre von Jesus verdanke ich
einem Vortrag von Professor Siegfried Zimmer, der an der PH Ludwigsburg
Religionspädagogik lehrte.
Seite 76
all deiner Kraft und deinen Nächsten wie dich selbst." Der
Glaube, den Jesus verkündete, gründet in liebevolle Beziehun-
gen zu Gott und zum Nächsten und macht frei von falscher Re-
ligiosität.
Jesus trat mit einer Autorität auf, die kein anderer sich an-
maßte
In der Bergpredigt, der längsten überlieferten Rede von Jesus,
sagt er an mehreren Stellen: "Ihr habt gehört …, ich aber sage
euch". Damit stellte er die gängigen Auslegungen der Gebote
durch die Schriftgelehrten und Ältesten in Frage und setzte dem
entgegen seine eigenen. Man muss schon staunen, mit welchem
Selbstbewusstsein Jesus als dreißigjähriger auftrat und den Aus-
legungen der Schriftgelehrten und Ältesten widersprach, obwohl
er keine offizielle Rabbinerschule besucht hatte.
Menschen, die als Sünder abgestempelt waren – Prostituierte
und korrupte Finanzbeamte – sprach er die Vergebung zu und
schenkte ihnen damit Freiheit und den Mut zu einem Neuanfang.
Die Pharisäer und Schriftgelehrten waren darüber entsetzt: "Wie
kann er sich so etwas anmaßen? Sünden vergeben steht allein
Gott zu."
Im Johannesevangelium sind einige Worte von Jesus überliefert,
in denen er sich auf die gleiche Stufe wie Gott stellt: "Ich und
der Vater sind eins.", "Wer mich sieht der sieht den Vater.", "Ich
bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, bleibt nicht in der
Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben."
Bei solchen Äußerungen muss man sich die Frage stellen: War
Jesus ein Hochstapler? Litt er an einem übertriebenen Selbstbe-
wusstsein oder war seine Autorität von Gott her legitimiert? Je-
sus wies auf seine Taten hin als Beweis dafür, dass er diese Au-
Seite 79
torität sich nicht selber anmaßte, sondern, dass Gott sie ihm ver-
liehen hatte. Selbst seine Gegner konnten die Krankenheilungen
und die Befreiung von okkult belasteten Menschen nicht leug-
nen. Sie versuchten sie jedoch als Werk des Teufels hinzustellen.
Die neue Anrede Gottes als "Abba"
Für die Anrede Gottes im Judentum verwendeten die Gläubigen
Juden solche Begriffe wie Schöpfer, Herr, Herrscher, Gebieter
und gelegentlich auch Vater. Jesus hat eine neue Anrede für Gott
gebraucht, die sonst keiner vor ihm in den Mund nahm: "Abba".
Abba ist ein aramäisches Wort, das die vertrauensvolle Anrede
eines Kindes gegenüber seinem Vater ausdrückt. Kein Jude hätte
damals gewagt, dieses Wort für Gott anzuwenden. Wenn Jesus
Gott mit Abba anredet, dann weist das auf seine einzigartige Be-
ziehung zu Gott hin, die nur mit der eines wirklichen Sohnes
verglichen werden kann. Jesus lehrte seine Jünger auch, dass sie
im Gebet Gott mit Abba anreden dürfen. Bei diesem Gott, den
Jesus als Vater vorstellt, findet man Nähe, Geborgenheit und
Zärtlichkeit. Vor ihm muss man keine Angst haben. Man kann
sich frei und spontan verhalten. Diese Anrede Gottes ist der erste
wichtige Schlüssel, der uns hilft Jesus zu verstehen. Der zweite
wichtige Schlüssel ist seine Verkündigung vom Reich Gottes –
"Malkut Jahwe" auf Hebräisch.
Die Nähe des Reiches Gottes
Diese Verkündigung stand von Anfang an im Mittelpunkt des
öffentlichen Wirkens von Jesus: "Nachdem Johannes der Täufer
von König Herodes verhaftet worden war, kam Jesus nach
Galiläa, um dort das Evangelium vom Reich Gottes zu
verkünden: 'Jetzt ist die Zeit gekommen, Gottes Reich ist nahe
herbeigekommen. Kehrt um zu Gott und glaubt an das
Seite 80
Jesus tritt mit dem Anspruch auf: Jetzt geht es los. Mit meinem
Kommen bricht das Reich Gottes in die Welt ein. Das hatte bis-
her kein anderer Prophet von sich behauptet. Es ist eine sehr
kühne Aussage. Dahinter steht ein großer Anspruch. Mit dem
Reich Gottes ist nicht der Himmel, die Seligkeit nach dem Tod,
gemeint. Es ist eine reale Änderung der Lebensverhältnisse auf
Erden und sie beginnt mit Jesus.
Die Botschaft vom Reich Gottes hatte ganz konkrete Auswir-
kungen auf den Lebensstil von Jesus. Die erste war die Über-
windung von tiefen Gräben zwischen Menschengruppen, die
fast jede menschliche Gesellschaft kennzeichnen. Es gibt viele
Klüfte im Alltag, die Menschen voneinander trennen: Arm und
Reich, Mann und Frau (insbesondere in der orientalischen Ge-
sellschaft), Kinder und Erwachsene (Kinderfeindlichkeit), Ge-
sunde und (chronisch) Kranke, gesellschaftlich Anerkannte (Ge-
rechte) und gesellschaftlich Geächtete (Sünder), Ortsansässige
und Fremde.
Jesus hat die Menschen, die abgewertet waren – Arme, Frauen,
Kinder, Kranke, Sünder, Fremde – durch seine Zuwendung wie-
der aufgewertet. Damit hat er gezeigt: Im Reich Gottes sind alle
Menschen gleichwertig. Die trennenden Unterschiede werden
aufgehoben. Eine kurze Episode aus seinem Leben soll hier,
stellvertretend für viele andere, als Beispiel dafür dienen. Als Je-
sus einmal durch einen Ort ging, brachten Eltern ihre Kinder zu
ihm und baten ihn, sie zu segnen50. Seine Jünger waren ungehal-
ten und wollten sie wegschicken. Sie dachten: Wir sind mit einer
wichtigen Mission unterwegs. Die Kinder stören nur. Sie haben
50
Markus 10, 13-16
Seite 82
hier nichts zu suchen. Doch Jesus wies seine Jünger scharf zu-
recht und sagte: "Lasst die Kinder zu mir kommen und hindert
sie nicht daran; denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Got-
tes. Ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein
Kind, der wird nicht hineinkommen." Dann umarmte er die
Kinder und segnete sie. Kinder waren für Jesus kein Störfaktor
im Leben der Erwachsenen, sondern von Gott geliebte vollwer-
tige Mitglieder der Gesellschaft. Die Erwachsenen sollten sogar
von ihnen lernen, wie man dankbar und ohne Argwohn ein Ge-
schenk annimmt, denn nur so kann man das Reich Gottes emp-
fangen.
Die zweite Auswirkung der Botschaft vom Reich Gottes war die
praktisch gelebte Nächstenliebe, die sich für das Ergehen des an-
deren interessiert. Das Verblüffende an Jesus ist sein großes In-
teresse an Menschen. Es war nicht vorgespielt, sondern ent-
stammte einer tiefen Empathie. Er saß mit den sogenannten Sün-
dern an einem Tisch. Diese Tischgemeinschaft hatte eine große
Bedeutung damals. Sie war ein Zeichen von Wertschätzung und
Anerkennung. So hat Jesus diese Menschen für den Glauben ge-
wonnen. Diese Zuwendungskraft findet man bei keinem atheis-
tischen Philosophen oder Literaten. Hat sich je einer von ihnen
Zeit genommen für Aussätzige, für Kranke, für weinende Kin-
der?
Die Gleichnisse
Gleichnisse sind ein zentraler Bestandteil der Verkündigung von
Jesus. An Stelle von tiefschürfenden philosophischen und theo-
logischen Gedanken, die kaum einer versteht, greift Jesus alltäg-
liche Erfahrungen der Menschen – Bauern, Handwerker und
Hausfrauen – auf, um vom Reich Gottes und von Gott selber zu
Seite 83
reden. Vertraute Bilder, wie Saat und Ernte, Heimat und Fremde,
Vögel und Blumen, bilden den Erzählstoff aus dem Jesus
schöpft bei seinen Gleichnissen. Das Senfkorn und der Sauerteig
dienen als Bild dafür, wie das Reich Gottes ganz unscheinbar
anfängt und doch eine große Wirkung erzielt. Die Vögel unter
dem Himmel und die Lilien auf dem Feld sind ein Hinweis auf
Gott, der für seine Schöpfung sorgt und sie ernährt.
Jesus erzählte Gleichnisse oft als Antwort auf Fragen von Zuhö-
rern. Einmal fragte ihn ein Schriftgelehrter, wer denn mit dem
Nächsten gemeint sei im Gebot, "Du sollst deinen Nächsten lie-
ben, wie dich selbst". Jesus erzählte daraufhin das Gleichnis
vom barmherzigen Samariter. Dieser war auf einer Geschäfts-
reise unterwegs und sah einen Juden, der von Räubern überfallen
worden war und halbtot am Straßenrand lag. Vor dem Samariter
waren ein Priester und ein Tempeldiener an dem Opfer des Über-
falls vorbeigegangen. Doch, statt ihrem Landsmann zu helfen,
machten sie einen weiten Bogen um ihn. Nur der Samariter –
Angehöriger eines Volkes, das mit den Juden verfeindet war –
war von der Not des verletzten Mannes bewegt. Er versorgte
seine Wunden, setzte ihn auf seinen Esel und nahm ihn mit in
die nächste Herberge. Als er am nächsten Morgen weiterreisen
wollte, gab er dem Wirt Geld und sagte ihm: "Pflege ihn; und
wenn du etwas mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich
wiederkomme." Der Nächste ist – so Jesus – derjenige, den Gott
mir vor die Füße legt und meine Hilfe braucht. Selbst wenn er
mein Feind sein sollte.
Zwei Brüdern, die sich um das Erbe stritten, erzählte Jesus das
Gleichnis vom reichen Kornbauern: "Es war ein reicher Mensch,
dessen Land hatte gut getragen. Und er dachte bei sich selbst
Seite 84
und sprach: Was soll ich tun? Ich habe nichts, wohin ich meine
Früchte sammle. Und sprach: Das will ich tun: Ich will meine
Scheunen abbrechen und größere bauen und will darin sammeln
all mein Korn und meine Güter und will sagen zu meiner Seele:
Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe
nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut! Aber Gott sprach zu
ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir for-
dern. Und wem wird dann gehören, was du bereitet hast? So geht
es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott."
Dieses Gleichnis ist auch eine Anfrage an unseren Lebensstil
heute, bei dem die materielle Absicherung an oberster Stelle
steht.
Jesus zog mit seiner freundlichen Art Menschen an, die einen
schlechten Ruf hatten: Außenseiter der Gesellschaft, verhasste
Zollbeamte und Prostituierte. Sie fühlten sich bei ihm angenom-
men. Darüber murrten die frommen Pharisäer und sagten: "Die-
ser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen." An statt sich auf
eine hitzige Diskussion mit ihnen einzulassen, erzählte Jesus
ihnen drei Gleichnisse51: vom verlorenen Groschen, vom verlo-
renen Schaf und vom verlorenen Sohn. In diesen Gleichnissen
zeichnet er ein Bild von Gott, das völlig konträr war zu dem, wie
die Frommen damals sich ihn vorstellten. Er ist der barmherzige
und gütige Vater, der sich auf die Suche nach den Verlorenen
aufmacht und nicht Ruhe gibt, bis er sie gefunden und in das
Vaterhaus zurückgeführt hat. Oder – wie im Gleichnis vom ver-
lorenen Sohn – sehnsüchtig darauf wartet, dass der Sohn, der
sein Glück in der Fremde suchte, wieder zurückkehrt. Und als
dieser, nachdem er das väterliche Erbe verprasst hatte, sich auf
51
Lukas 15
Seite 85
den Weg ins Vaterhaus macht, erblickt ihn der Vater schon aus
der Ferne. Er läuft er ihm entgegen und umarmt ihn. Dass der
Sohn in dreckigen und stinkenden Lumpen gehüllt war, stört den
Vater nicht. Statt dem Sohn eine Standpauke zu halten, lässt er
ein großes Fest feiern, denn "dieser mein Sohn war tot und ist
wieder lebendig; er war verloren und ist wiedergefunden wor-
den." Jesus gab dann noch eine kurze Erklärung zu diesen drei
Gleichnissen: "So wird auch Freude im Himmel (bei Gott) sein
über einen Sünder, der umkehrt, mehr als über neunundneunzig
Gerechte, die der Umkehr nicht bedürfen."
Die Autoren der Evangelien haben uns vierzig Gleichnisse von
Jesus überliefert. Sie halten uns einen Spiegel vor, in dem wir
uns selber erkennen und unser Verhalten hinterfragen können,
und sie sagen in wenigen Worten mehr über Gott, als viele Bände
von klugen Philosophen und Theologen. So kann nur einer er-
zählen, der Gott ins Herz geschaut hat: sein eigener Sohn, Jesus.
Die Bergpredigt
Der Evangelist Matthäus52 überliefert uns die längste Rede von
Jesus. Möglicherweise handelt es sich hierbei um eine Zusam-
menfassung von mehreren Reden, in denen Jesus die Grundla-
gen für seine Lehre vom Reich Gottes darlegt. Matthäus schreibt
in der Einleitung zu dieser Rede: "Als Jesus das Volk sah, ging
er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm.
Und er begann, sie zu unterweisen" Bei diesem Berg, von dem
hier die Rede ist, handelt es sich wahrscheinlich um eine Anhöhe
oberhalb des Sees Genezareth in der Nähe von Kapernaum. Die
meisten Bibelausleger sind sich darin einig, dass es bei diesen
52
Matthäus, Kapitel 5-7
Seite 86
53
Matthäus 7, 3-5
54
Matthäus 6, 24
Seite 88
sen bedürft. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach
seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum
sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine
sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat." 55
Damit ruft Jesus seine Nachfolger nicht dazu auf, sich auf die
faule Haut zu legen, sondern ihre Kraft ganz auf das "Heute" zu
konzentrieren und die Sorge um die Zukunft Gott zu überlassen.
Die Seligpreisungen56
Die Bergpredigt beginnt mit Verheißungen für Menschen, die in
ihrem Verhalten sich nicht nach den Maßstäben dieser Welt rich-
ten. Diese einleitenden Worte sind als Seligpreisungen bekannt:
Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmel-
reich. Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden.
Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land erben. Selig,
die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie wer-
den gesättigt werden. Selig die Barmherzigen; denn sie werden
Erbarmen finden. Selig, die rein sind im Herzen; denn sie wer-
den Gott schauen. Selig, die Frieden stiften; denn sie werden
Kinder Gottes genannt werden. Selig, die verfolgt werden um der
Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig
seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse
über euch redet um meinetwillen. Freut euch und jubelt: Denn
euer Lohn wird groß sein im Himmel. So wurden nämlich schon
vor euch die Propheten verfolgt.
Jesus verheißt Freude und Heil für die Armen und Trauernden.
Für die Barmherzigen, die mit Notleidenden mitfühlen und sich
55
Matthäus 6, 31-34
56
Matthäus 5, 3-12
Seite 89
für sie einsetzen. Für Menschen, die auf Gewalt verzichten und
sich aktiv für Frieden und Versöhnung einsetzen. Für Menschen,
die sich für die Gerechtigkeit einsetzen und dafür verfolgt wer-
den. Und schließlich für Menschen, die verfolgt, gehasst und
verleumdet werden, weil sie an ihn glauben.
Diese Seligpreisungen sind eine Provokation, weil sie in kein
Denkschema passen. Glücklich sind – nach unseren Maßstäben
– Menschen, die ganz oben auf der Erfolgsleiter stehen. Selbst,
wenn sie dafür unlautere Mittel eingesetzt haben. Menschen bei
denen Gerechtigkeit keine große Rolle spielt, wenn sie ihren per-
sönlichen Zielen im Wege steht. Die Seligpreisungen stellen un-
ser Verständnis vom Glücklichsein auf den Kopf. Die eigentlich
Glücklichen, so sagt Jesus, sind Menschen, die in seiner Nach-
folge leben. Sie bekommen eine neue Perspektive von Gott ge-
schenkt für das, was wirklich zählt. Und das sind eben nicht
Macht, Ruhm und materieller Erfolg. Und darum können wir die
Seligpreisungen als eine "Weisung für das Glücklich werden in
der Nachfolge Jesu" bezeichnen.
Die Ethik der Bergpredigt
Nicht nur die Seligpreisungen sind eine Zumutung für unseren
Verstand, sondern auch viele ethische Maßstäbe, die Jesus in der
Bergpredigt setzt. Etwa, wenn er von der Feindesliebe spricht:
"Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lie-
ben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure
Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder
seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufge-
hen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Un-
gerechte."
Feinde zu lieben und denen zu vergeben, die uns Unrecht getan
Seite 90
haben, das halten wir für nicht praktikabel. In der Welt gilt die
Maxime, "Wie du mir, so ich dir". Diese führt oft zu einem Teu-
felskreis von Hass und Feindschaft. Jesus gibt uns eine neue Ori-
entierung für unser Handeln: "Wie Gott mir, so ich dir." Das
heißt, so wie er mich liebt und mir vergibt, auch wenn ich ihn
oft enttäusche, so soll ich gegenüber anderen handeln. Ich soll
das Geschenk der Liebe, das ich von Gott empfange, weiterge-
ben. Auch an die, die es meiner Meinung nach nicht verdienen.
Das Risiko, das ich dabei eingehe, zu kurz zu kommen, ist viel
geringer als die Chance, durch solches Handeln, Konflikte zu
entschärfen und zerbrochene Beziehungen zu heilen.
Die hohen ethischen Maßstäbe der Bergpredigt sind unerfüllbar,
solange wir sie als eine vom Glauben losgelöste Morallehre be-
trachten. Wir können den Willen Gottes erst erfüllen, wenn wir
den eigenen Willen, das Herz, von ihm bestimmt sein lassen.
Wenn wir aus dem Glauben die Kraft empfangen, um danach zu
handeln. Und wenn wir wissen, dass wir im Falle eines Versa-
gens es mit einem barmherzigen Gott zu tun haben, der uns
vergibt und wieder auf die Beine stellt, wenn wir auf die Nase
fallen. Auf diesem Hintergrund einer vertrauensvollen Bezie-
hung zu Gott erweist sich die Bergpredigt nicht als Überforde-
rung, sondern als ein festes Fundament auf dem wir unser Leben
bauen können: "Wer diese meine Rede hört und tut sie, der
gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baute. Als
nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde
wehten und stießen an das Haus, fiel es doch nicht ein; denn es
war auf Fels gegründet." 57
57
Matthäus 7, 24-25
Seite 91
58
Sirach 25, 24-26
Seite 92
ihm den Schlaf: Wenn sie jung ist, dass sie nicht verblühe, wenn
sie mit einem Mann lebt, dass er ihrer nicht überdrüssig werde,
wenn sie noch Jungfrau ist, dass sie nicht geschändet und im
Hause ihres Vaters nicht schwanger werde; wenn sie bei ihrem
Mann ist, dass sie keinen Fehltritt tue, und wenn sie mit einem
Mann lebt, dass sie nicht kinderlos bleibe. Über eine verstockte
Tochter wache scharf, dass sie dich nicht vor deinen Feinden
zum Spott mache noch zum Gerede in der Stadt und zum Ge-
schwätz der Leute und dass sie dich nicht vor allen beschäme."59
Ben Sirach versteigt sich sogar zu der Aussage, dass ein schlech-
ter Mann besser sei als eine rechtschaffene Frau: "Für alle gilt:
Blicke nicht auf Schönheit und suche nicht die Gesellschaft von
Frauen! Denn aus Kleidern kommen Motten und aus Frauen
nichts als weibliche Schlechtigkeit. Besser die Schlechtigkeit ei-
nes Mannes als eine rechtschaffene Frau und als eine, die
Schimpf und Schande bringt."60
Jüdische Männer pflegten, in einem täglichen Gebet Gott zu
danken, dass sie nicht als Heide, nicht als Frau und nicht als
Unwissender erschaffen wurden! Wie dachte Jesus über die
Frauen? Hat er die damals gängige – eher negative – Meinung
über sie geteilt? Die Evangelien berichten über viele Begegnun-
gen von Jesus mit Frauen. Sein ungezwungener Umgang mit
ihnen war für die damalige Zeit äußerst ungewöhnlich. Auffällig
ist auch, dass Jesus oft mit Frauen sprach, die am Rande der Ge-
sellschaft standen. Er verteidigte sie, obwohl sie einen zweifel-
haften Ruf hatten.
59
Sirach 42, 9-11
60
Sirach 42, 12-14
Seite 93
Der Evangelist Lukas berichtet auch von Frauen, die Jesus nach-
folgten. Sie zogen mit ihm und den Aposteln von Ort zu Ort.
Einige von ihnen waren wohlhabend und trugen, mit dem was
sie besaßen, zum Unterhalt von Jesus und den Aposteln bei.61
Das war damals ein ganz ungewöhnlicher Vorgang. Kein anderer
Rabbi hatte Frauen als Jüngerinnen, die ihm nachfolgten und bei
ihm lernen durften. Diese Rolle war den Männern vorbehalten.
Eine andere Begebenheit aus dem Lukasevangelium zeigt uns,
wie Jesus zu den Frauen stand: "Als Jesus mit seinen Jüngern
weiterzog, kam er in ein Dorf, wo er bei einer Frau aufgenom-
men wurde, die Martha hieß. Maria, ihre Schwester, setzte sich
zu Füßen von Jesus hin und hörte ihm aufmerksam zu. Martha
aber war unentwegt mit der Bewirtung ihrer Gäste beschäftigt.
Schließlich kam sie zu Jesus und fragte: "Herr, siehst du nicht,
dass meine Schwester mir die ganze Arbeit überlässt? Sag ihr
doch, dass sie mir helfen soll!" Doch der Herr antwortete ihr:
"Martha, Martha, du bist um so vieles besorgt und machst dir so
viel Mühe. Nur eines aber ist wirklich wichtig und gut! Maria
hat sich für dieses eine entschieden, und das kann ihr niemand
mehr nehmen."62
Martha, Maria und ihr Bruder Lazarus waren gute Freunde von
Jesus. Sie lebten in Bethanien, einem kleinen Dorf nahe bei Je-
rusalem. Jesus war ein gern gesehener Gast in ihrem Haus. Als
er unangemeldet dort auftauchte, machte sich Martha sofort an
die Arbeit, um ihn und seine Jünger zu bewirten. Maria aber saß
bei den Männern und hörte Jesus zu. Sie überließ die Arbeit in
der Küche ihrer Schwester. Kein Wunder, dass Martha ärgerlich
61
Lukas 8, 1-3
62
Lukas 10, 38-42
Seite 94
63
Matthäus 15, 21-28; Markus 5, 25-34
Seite 95
64
Johannes 8, 1-11
Seite 97
ihn auf, ihnen eine Antwort zu geben. Jesus richtete sich auf,
schaute seinen Gegnern in die Augen und sagte: "Wer unter euch
ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein." Dann bückte er sich
wieder und schrieb mit seinem Finger auf die Erde. Eine ge-
spannte Ruhe trat ein. Die Augen der Menschenmenge richteten
sich auf die Pharisäer und Schriftgelehrten. Ihr Plan, Jesus eine
Falle zu stellen, war total danebengegangen. Nicht Jesus saß in
einer Falle, sondern sie selber. Jesus hatte nicht – wie sie wohl
hofften – der Forderung des Gesetzes widersprochen. Sie könn-
ten die Frau jetzt steinigen, aber Jesus hatte ihnen eine hohe
Hürde in den Weg gestellt: ihre eigene Schuld. Wie würden sie
jetzt reagieren? Das Schicksal der Frau war immer noch in ihren
Händen, aber bevor sie das Urteil vollstrecken konnten, mussten
sie ihr eigenes Gewissen zum Schweigen bringen. "Wer unter
euch ohne Sünde ist …" Sie waren gezwungen, innezuhalten und
über ihr eigenes Leben nachzudenken. Keiner von ihnen konnte
mit gutem Gewissen von sich behaupten, ohne Sünde zu sein.
Und so schlichen sie sich langsam mit gesenkten Köpfen wieder
aus dem Tempel hinaus. Die Alten zuerst, dann die Jungen.
Die Frau blieb nun allein mit Jesus zurück. Was mag in ihr vor-
gegangen sein bei dieser schrecklichen Geschichte? Man hatte
sie beim Ehebruch ertappt. Ihre heimliche Tat wurde ans Licht
der Öffentlichkeit gezerrt. Sie wurde beschimpft und gedemü-
tigt. Wo aber war der Mann, der auch an diesem Ehebruch betei-
ligt war? Nach dem Gesetz hatte auch er die gleiche Strafe ver-
dient. Hatte er einflussreiche Freunde, die ihn schützten, oder
konnte er sich gerade noch rechtzeitig aus dem Staub machen?
Die Frau musste als die Schwächere allein die Last der Schuld
und das Urteil der Steinigung tragen. Aber Jesus trat zwischen
ihren Anklägern und sie und rettete sie vor dem grausamen Tod
Seite 98
durch Steinigung. Und nun stand sie allein vor ihm da. Augusti-
nus schreibt über diese Szene: "Zwei wurden zurückgelassen,
die Erbärmliche und das Erbarmen." Die zum Tode Verurteilte
stand vor ihrem Retter. Bis vor ein paar Augenblicken musste sie
damit rechnen, gesteinigt zu werden. Tief erschüttert, aber mit
einem Herzen voller Dankbarkeit schaute sie auf Jesus. Er rich-
tete sich auf und fragte sie: "Frau, wo sind sie? Hat dich keiner
verurteilt?" Alle Ankläger waren beschämt weggegangen. Jesus
hatte sich schützend vor die Frau gestellt und die Meute daran
gehindert, sie zu steinigen.
Mit großer Erleichterung antwortete die Frau: "Niemand, Herr."
"So verurteile ich dich auch nicht." Jesus sprach die Frau von
ihrer Schuld frei. Es war niemand mehr da, der sie hätte verur-
teilen können. Aber er blieb nicht bei diesen Worten stehen. Er
fügte noch hinzu: "Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr."
Gehe hin! Das heißt: Du bist jetzt ein freier Mensch. Die Verge-
bung öffnet dir die Tür zu einem neuen Leben. Jesus verharmlost
den Ehebruch nicht. Aber er weiß, dass die Frau nach der erfah-
renen Vergebung nicht mehr so leicht in das alte, sündige Leben
zurückkehren wird.
Diese Geschichte hat – wie so viele Geschichten in den Evange-
lien – ein offenes Ende. Sowohl die frommen Hüter der Moral,
als auch die Frau erlebten eine Begegnung, die ihr Leben verän-
dern könnte. Ob sie etwas für ihr Leben daraus machten, blieb
ihre Verantwortung. Leider haben viele von den frommen Geg-
nern Jesu die Gelegenheit versäumt, etwas aus dieser Begeg-
nung zu lernen. Ihr Hass auf Jesus und ihre Entschlossenheit, ihn
zu töten, wurden durch diese Blamage nur noch größer.
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65
Johannes 9, 1-26
Seite 100
66
Tempelweihfest (Chanukka auf Hebräisch) ist ein acht Tage dauerndes,
jährlich gefeiertes jüdisches Fest zum Gedenken an die Wiedereinweihung
des zweiten Tempels in Jerusalem im Jahr 164 v. Chr.
Seite 103
Sohn zu sein. Seine Worte, "Ich und der Vater sind eins", waren
für viele Juden ein klarer Fall von Gotteslästerung. Sie hielten
ihm vor: "Du bist ein Mensch und machst dich selbst zu Gott".
Dann nahmen sie Steine in die Hand und wollten ihn steinigen,
als Strafe für dieses Vergehen. Jesus konnte aber entkommen. Er
ging mit seinen Jüngern über den Jordan an die Stelle, wo Jo-
hannes früher getauft hatte und blieb eine Zeitlang dort.
Die Auferweckung des Lazarus
Einige Wochen später erkrankte sein Freund Lazarus, der Bruder
von Martha und Maria, schwer. Die beiden Schwestern zögerten
lange, bevor sie Jesus baten, zu ihnen zu kommen. Seine Anwe-
senheit in Bethanien würde den Gegnern eine Gelegenheit bie-
ten, ihn zu ergreifen. Martha und Maria wussten, welche Gefahr
Jesus drohte, wenn er in die Nähe Jerusalems käme. Als aber der
Zustand von Lazarus von Tag zu Tag schlimmer wurde, schick-
ten sie einen Boten zu Jesus, der ihm folgende Nachricht über-
bringen sollte: "Herr, siehe, den du lieb hast ist sehr krank." Je-
sus wartete ein paar Tage und dann beschloss er, nach Bethanien
zu gehen. Lazarus war inzwischen gestorben. Die Jünger wuss-
ten es nicht. Sie waren nur besorgt, diese Reise könnte Jesus in
Lebensgefahr bringen. Sie wunderten sich über seinen Ent-
schluss: "Eben wollten dich die Juden steinigen und du willst
jetzt wieder dorthin gehen?" Thomas, der Pessimist unter ihnen,
sah schon den Tod vor Augen und sagte: "Lasst uns mit Jesus
gehen, um mit ihm zu sterben."
Als die ersten Bewohner Bethaniens Jesus erblickten, rannten
sie sofort zum Haus der drei Geschwister und berichteten von
seiner Ankunft. Martha sprang auf und ließ die Gäste, die ge-
kommen waren, um sie und ihre Schwester zu trösten, in ihrem
Seite 104
Haus zurück. Sie eilte Jesus entgegen und sagte zu ihm: "wärst
du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben, Aber
auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir Gott
geben." Welche Erwartung hatte Martha an Jesus? Hat sie etwa
gehofft, dass er Lazarus wieder zu neuem Leben erwecken
würde? Inzwischen war Maria auch eingetroffen. Alle Trauer-
gäste folgten ihr.
Jesus ließ sich zum Grab führen. Es war eine Höhle, deren Ein-
gang mit einem Stein verschlossen war. Dann befahl er: "Hebt
den Stein weg!" Martha war ganz erschrocken: "Herr, er stinkt
schon; denn er liegt seit vier Tagen im Grab." Jesus ließ sich
aber nicht von seinem Vorhaben abbringen. Da rollten sie den
Stein vom Eingang des Höhlengrabs weg. Der Evangelist Johan-
nes beschreibt was dann geschah67: "Jesus aber hob seine Augen
auf und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast.
Ich wusste, dass du mich allezeit hörst; aber um des Volkes wil-
len, das umhersteht, sagte ich's, damit sie glauben, dass du mich
gesandt hast. Als er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme:
Lazarus, komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus, ge-
bunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Ge-
sicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu
ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen! Viele nun von den
Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat,
glaubten an ihn. "
Bethanien wurde nach diesem Ereignis zu einem Wallfahrtsort.
Viele Menschen gingen dorthin, um den Toten zu sehen, der wie-
der lebendig geworden war, und kamen zum Glauben an Jesus.
67
Johannes 11, 41-45
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68
Johannes 11, 47-49
69
Johannes 12, 12-26
Seite 106
Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Ese-
lin."70
Die Menschen, die Jesus hier begeistert empfangen, hatten ihm
viel zu verdanken. Einige von ihnen hatte er von Krankheit ge-
heilt, andere von dämonischer Besessenheit befreit. Seine Pre-
digten und Gleichnisse über Gott als liebevollen Vater hatten
ihre Herzen tief berührt. Jetzt wollten sie ihre Dankbarkeit ge-
genüber Jesus zum Ausdruck bringen. Sie wollten ihn als König
und Retter feiern und er ließ sie gewähren.
Die Pharisäer standen mit finsterer Miene am Straßenrand und
schauten missbilligend auf das, was sich vor ihren Augen ab-
spielte. Dann forderten sie Jesus auf: "Rabbi, weise deine Jünger
zurecht!" Jesus antwortete ihnen: "Wenn diese schweigen wer-
den, dann werden die Steine schreien."
Warum haben diese Menschen – allen voran die Jünger –, die
Jesus begeistert empfingen, kurz danach versagt, als er ihren
Beistand brauchte: in Gethsemane und auf dem Weg nach Gol-
gotha, wo er gekreuzigt wurde? Die Jünger hatten ihre eigenen
Vorstellungen, wie die Geschichte von Jesus weiter gehen sollte.
Als sie und auch viele andere aus der großen Menschenmenge
später sahen, wie Jesus scheinbar hilflos seinen Peinigern gegen-
überstand und wie er danach sein schweres Kreuz durch die Gas-
sen von Jerusalem trug, wandten sie sich enttäuscht von ihm ab.
Jemand, der so jämmerlich endet, konnte nicht der Messias sein.
70
Sacharja 9,9
Seite 108
fernte sich einige Schritte von den drei Jüngern, ging auf die
Knie und betete: "Abba, wenn es möglich ist, dann gehe dieser
Kelch an mir vorüber, doch nicht wie ich will, sondern, wie du
willst." Gott bleibt für ihn, auch in diesem schweren Augenblick,
sein Vater, an den er sich vertrauensvoll wendet. Nach diesem
Gebet ging er zurück zu den Jüngern und fand sie schlafend.
Enttäuscht und traurig sagte er ihnen: "Könnt ihr nicht eine ein-
zige Stunde mit mir wachen. Wacht und betet, damit ihr nicht in
Versuchung fallt."
Die Stunden in Gethsemane zeigen Jesus als wirklichen Men-
schen. Er erlitt die ganz normale menschliche Angst vor dem
Tod. Darum bat er die drei Jünger, die er mitnahm, mit ihm zu
wachen und zu beten. Er brauchte in diesem Augenblick den
Beistand seiner Freunde. Sie aber ließen ihn im Stich und schlie-
fen ein. Wir können nur erahnen, was in Jesus in diesem Augen-
blick vorging und was ihn bedrückte. War es das Versagen der
Jünger, oder doch die Angst vor dem, was ihm bevorstand: die
Verhaftung, Verspottung und der Tod am Kreuz? Betet er viel-
leicht deshalb zu seinem himmlischen Vater, er möge diesen
Kelch des Leidens ihm ersparen?
Vielleicht war es auch die Sorge um die Fortführung seines Le-
benswerks nach seinem Tod durch die Jünger. Sie hatten sich
bisher als schwankend und wenig zuverlässig erwiesen. Und ob-
wohl sie schon drei Jahre als seine Schüler und Freunde bei ihm
waren, hatten sie ihn doch nicht richtig verstanden. Sie sahen in
Jesus immer noch den politischen Führer, den verheißenen Kö-
nig und warteten auf den großen Aufstand gegen Rom. Noch bei
der Feier des Abendmahls stritten sie darüber, wer der größte
von ihnen sei. Nun, da die Dinge in eine andere Richtung zu lau-
Seite 113
stehen, warum sie alle geflohen sind: Nicht nur aus Angst um ihr
Leben, sondern aus der bitteren Enttäuschung, die ihre Hoffnung
auf Jesus ein Ende machte. Gott hatte nicht eingegriffen, um Je-
sus vor der Verhaftung zu bewahren.
Jesus wurde gefesselt und von Gethsemane in das Haus des Ho-
hen Priesters Kaiphas gebracht. Für den Weg über das Kidrontal
zum Palast des Hohen Priesters brauchte man etwa zwanzig Mi-
nuten zu Fuß.
Petrus verleugnet seinen Freund und Meister
Die Verleugnung des Petrus fügt sich gut in das beschämende
Bild, dass die Jünger insgesamt bei diesem Geschehen abgaben.
Die Jünger waren nach der Verhaftung von Jesus verzweifelt in
die Nacht hineingelaufen. Sie wollten nur Weg vom Ort ihrer
größten Enttäuschung. Nur zwei von ihnen, Petrus und Johan-
nes, hielten inne und kehrten um. Sie folgten heimlich dem Fa-
ckelschein der Kolonne durch die dunklen Straßen Jerusalems.
Sie sahen die Soldaten mit dem Gefangenen in das Haus des Ho-
hen Priesters verschwinden. Johannes war dort bekannt und
konnte sich Zutritt zum Verhandlungsraum verschaffen. Er
sorgte auch dafür, dass Petrus durch das eiserne Tor in den Hof
hineingelassen wurde. Da stand Petrus nun, enttäuscht, einsam
und verlassen. Plötzlich trat die Türhüterin an ihn heran und
sagte: "Du gehörst doch auch zu Jesus." Petrus wurde auf dem
falschen Fuß erwischt. Ohne lange zu überlegen, antwortete er:
"Ich weiß nicht, was du meinst" und leugnete vor allen anderen,
die im Hof standen, Jesus zu kennen. Dann entfernte er sich von
der Stelle und ging in die Torhalle. Da sah ihn eine andere Frau
und sprach zu den anderen, die dort waren: "Der war auch bei
Jesus von Nazareth." Wieder leugnete Petrus und schwor noch
Seite 116
dazu: "Ich kenne diesen Menschen nicht." Andere, die dort wa-
ren, traten hinzu und sagten zu ihm: "Du bist ganz sicher einer
von denen. Deine Sprache verrät, dass du aus Galiläa kommst."
Petrus war nun ganz verzweifelt und fing an sich zu verfluchen
und zu schwören: "Ich kenne den Menschen nicht." In dem Au-
genblick krähte der Hahn. Petrus wurde an das Wort von Jesus
erinnert: "Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleug-
nen." Voller Scham über seine Verleugnung, verließ er den Hof
vom Haus des Hohen Priesters und ging in das Dunkel hinaus.
Er dachte an sein Verspechen, das er Jesus gegeben hatte, "wenn
alle sich von dir abwenden, ich halte zu dir", und weinte bitter-
lich.
Die Verhandlung vor dem Hohen Rat
Die Mitglieder des Hohen Rates –Sanhedrin auf Hebräisch –
wurden frühmorgens benachrichtigt und eilten zum Palast von
Kaiphas. Angetan mit ihren weißen Amtsroben betraten sie den
Verhandlungsraum und nahmen dort ihre Plätze ein. Jesus
wurde, wie ein Schwerverbrecher gefesselt, in die Mitte geführt
und auf einen Podest gestellt. Obwohl das Todesurteil bereits be-
schlossene Sache war, wollte man zumindest den Anschein eines
fairen Verfahrens wahren. Nach jüdischem Recht, das auf Zeu-
genaussagen basierte, mussten mindestens zwei Zeugen eine
übereinstimmende Aussage machen, um einen Angeklagten zu
verurteilen. Viele falsche Zeugen traten gegen Jesus auf, aber
ihre Aussagen waren widersprüchlich. Man konnte Jesus kein
Fehlverhalten nachweisen. Schließlich traten zwei Männer vor
und erklärten: "Dieser Mensch hat behauptet: 'Ich kann den
Tempel Gottes abreißen und in drei Tagen wieder aufbauen.'" Da
stand der Hohepriester auf und fragte Jesus: "Warum antwortest
du nicht? Hast du nichts gegen diese Anschuldigungen zu sa-
Seite 117
71
Sanhedrin ist die jüdische Bezeichnung für den Hohen Rat
Seite 119
standen die Ankläger, die Herren des Sanhedrins mit ihrem gro-
ßen Gefolge. Vor ihnen, oben auf der Terrasse, ging Pilatus un-
ruhig auf und ab. Er pendelte zwischen den Klägern vor dem
Haus und dem Angeklagten im Haus hin und her. Das war eine
ziemliche Zumutung für den stolzen Römer.
Pilatus konnte das Urteil einfach unterschreiben und vollziehen
lassen. Er hatte aber auch die Möglichkeit, den ganzen Prozess
noch einmal aufzurollen. Er war nicht überzeugt, dass der Ange-
klagte eine Gefahr für die Sicherheit des Landes darstellte. Der
Vorwurf der Gotteslästerung – der Grund für das Todesurteil ge-
gen Jesus – war für ihn als Straftatbestand irrelevant und be-
rührte nicht die Interessen Roms. Dem römischen Statthalter ge-
genüber, musste Jesus als politischer Aufrührer gegen die römi-
sche Herrschaft hingestellt werden. Streitigkeiten über Glau-
bensfragen wären für ihn kein Grund gewesen, einen Angeklag-
ten zum Tode zu verurteilen. Darum sagten die Ankläger beim
Verhör vor Pilatus: "Wir haben gefunden, dass dieser unser Volk
aufhetzt und verbietet, dem Kaiser Steuern zu geben, und
spricht, er sei Christus, ein König."
Pilatus musste diesem Vorwurf nachgegen und prüfen, ob Jesus
tatsächlich den Anspruch erhebt, König zu sein. Er ging wieder
hinein in seinen Palast und fragte ihn: "Bist du der Juden Kö-
nig?" Jesus antwortete: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt.
Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum
kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; aber
nun ist mein Reich nicht von hier." Da sprach Pilatus zu ihm: "So
bist du dennoch ein König?" Jesus antwortete: "Du sagst es: Ich
bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen,
dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört
Seite 120
meine Stimme."
Pilatus war nach diesem Gespräch überzeugt: Dieser Jesus hat
nichts getan, das den Tod verdient. Von ihm geht keine Gefahr
aus für Rom. Er suchte nach einer Möglichkeit, Jesus das Leben
zu retten. Die Römer hatten den Brauch, jedes Jahr zum Passa-
fest einen zum Tod verurteilten jüdischen Gefangenen freizulas-
sen. Er sprach zu der vor dem Palast versammelten Menge: "Ich
finde keine Schuld an ihm. Ihr habt aber die Gewohnheit, dass
ich euch einen zum Passafest losgebe; wollt ihr nun, dass ich
euch den König der Juden losgebe?" Pilatus hoffte, dass die
Mehrheit der Anwesenden für die Freilassung von Jesus stim-
men würde. Darin hatte er sich aber getäuscht. Der Hohe Rat
hatte es geschafft, die Massen gegen Jesus aufzuwiegeln. Selbst
diejenigen, die am Palmsonntag ihm vor den Toren von Jerusa-
lem einen begeisterten Empfang bereitet hatten, wandten sich
enttäuscht von ihm ab. Einen gefangenen und gedemütigten
Messias konnten sie sich nicht vorstellen. Sie schrien laut "Nicht
diesen, sondern Barabbas!" Barabbas, ein zum Tode verurteilter
Aufrührer und Mörder, wurde von vielen als Kämpfer gegen die
römische Herrschaft bewundert.
Da versuchte Pilatus noch einmal, Jesus freizulassen. Er ließ ihn
geißeln und hoffte, mit dieser brutalen Strafe die aufgehetzte
Menschenmenge zu besänftigen. Die Geißelung kam fast einer
Todesstrafe gleich. In den Enden der Peitschenriemen waren
scharfe Metallstücke eingeflochten, die das Fleisch in Fetzen
vom Rücken herunterrissen. Das führte zu einem hohen Blutver-
lust und zu inneren Verletzungen. Viele überlebten diese grau-
same Folterung nicht. Die Soldaten flochten nach der Geißelung
eine Dornenkrone und setzten sie Jesus auf das Haupt. Dann zo-
Seite 121
gen sie ihm einen roten Mantel an und trieben ihren Spott mit
ihm: "Sie gegrüßt, König der Juden!" und schlugen ihm ins Ge-
sicht.
Pilatus trat wieder vor die versammelte Menschenmenge und
sprach: "Seht, ich bringe ihn zu euch hinaus, damit ihr erkennt,
dass ich keine Schuld an ihm finde." Da stand nun der fast ver-
blutete Jesus vor seinem Volk. Die Dornenkrone zerriss die
Kopfhaut. Das Blut lief am blassen Gesicht herunter und bildete
eine Lache unter ihm. Aber die Hohenpriester und ihre Anhänger
zeigten keine Spur von Mitleid. Sie schrien: "Kreuzigen, kreuzi-
gen." Pilatus zögerte immer noch, das Todesurteil gegen Jesus
auszusprechen. Da fuhren die Mitglieder des Hohen Rates ein
schweres Geschütz auf: "Wenn du den laufen lässt, bist du kein
Freund des Kaisers; denn wer sich selbst zum König macht,
lehnt sich gegen den Kaiser auf." Das war eine versteckte Dro-
hung, Pilatus wegen Begünstigung eines Aufständischen beim
Kaiser in Rom anzuklagen. Pilatus wusste, dass dies keine leere
Drohung war. Er war stolz auf seinen Ehrentitel "Freund des
Kaisers – Amicus Caesaris". Das war eine besondere Auszeich-
nung und garantierte eine glanzvolle Laufbahn. Dieser Titel
konnte aber aberkannt werden und als Folge hätte er auch seine
Stellung als Gouverneur verloren. Pilatus war geschlagen. Die
Angst um seine Position und um sein Leben waren stärker als
sein Gefühl für Gerechtigkeit. Er war nicht bereit, so viel zu ris-
kieren, um einen Mann zu retten, von dessen Unschuld er über-
zeugt war. Also gab er dem Drängen der Ankläger nach.
Er ließ Jesus hinausführen an die Stelle, die man "Steinpflaster"
nannte, auf Hebräisch: "Gabbata", nahm eine Schüssel mit Was-
ser und in einer theatralischen Handlung wusch er sich die
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Hände und sprach: "Ich bin unschuldig an seinem Blut. Das ist
eure Sache." Dann setzte er sich dort auf den Richterstuhl und
sprach das Urteil über Jesus: Tod durch Kreuzigung. Die Kreu-
zigung war – nach den Schilderungen des römischen Staatsman-
nes und Anwalts Cicero – die grausamste und fürchterlichste To-
desstrafe. Die Römer hatten sie von den Karthagern übernom-
men. Sie wandten diese Form der Hinrichtung nur bei Sklaven
und gemeinen Verbrechern an. Auch Aufständische, die es wag-
ten, sich gegen die römische Herrschaft zu stellen, wurden ge-
kreuzigt. Bei römischen Bürgern durfte diese Strafe nicht ange-
wandt werden.
Pilatus gefiel es nicht, dass er bei diesem Prozess von den Mit-
gliedern des Sanhedrins blamiert worden war. Also suchte er
nach einer Möglichkeit, sich zu rächen und seine Gegner zu de-
mütigen. Dabei benutzte er den Spott als Waffe: "Hier ist euer
König!" Dieser blasse, zerschlagene und fast verblutete Mann,
zum Spott mit einem roten Mantel angetan und mit einer Dor-
nenkrone auf dem Haupt – das ist euer König. "Weg mit ihm!",
brüllten sie. "Ans Kreuz mit ihm!" "Soll ich wirklich euren König
kreuzigen lassen?", fragte Pilatus, wieder in einem spöttischen
Unterton. Die obersten Priester riefen: "Wir haben keinen König,
nur den Kaiser!" Dieses Bekenntnis von den obersten Priestern
war ein kleiner Sieg für Pilatus in dem Pokerspiel mit dem Ho-
hen Rat, bei dem er bisher ziemlich schlecht ausgesehen hatte.
Die Obersten des jüdischen Volkes hatten sich stets geweigert,
öffentlich die Herrschaft Roms anzuerkennen. Endlich hatte er
nun ihnen dieses Bekenntnis abgerungen: "Wir haben keinen
Anspruch auf einen eigenen König. Der Kaiser ist unser König."
Pilatus nutzte noch eine weitere Möglichkeit, die Obersten des
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72
Markus 15,21
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dann brach der Kreislauf zusammen und der Tod trat ein. Um
diese Qual zu verlängern, wurde ein Brett in Sitzhöhe ange-
bracht. Es war zu schmal, um sich länger darauf ausruhen zu
können. Der Gekreuzigte konnte aber für kurze Augenblicke
sich darauf setzen. Das brachte den Kreislauf wieder in Gang
und der Todeskampf begann wieder von neuem.
Die Hohenpriester, die Schriftgelehrten und die Ältesten des
Volkes spotteten über Jesus und sagten: "Andern hat er geholfen
und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König von Israel, so
steige er vom Kreuz herab. Dann wollen wir an ihn glauben. Er
hat Gott vertraut; der soll ihn erlösen, wenn er vertrauen zu ihm
hat". Trotz der schrecklichen Schmerzen und des Spotts, den Je-
sus durch seine Peiniger über sich ergehen lassen musste, war
sein erstes Wort, das er am Kreuz sprach: "Vater, vergib ihnen,
denn sie wissen nicht, was sie tun." Unter dem Kreuz stand seine
Mutter mit anderen Frauen und als einziger Jünger Johannes. Je-
sus war der älteste Sohn von Maria und trug die Verantwortung
für seine Mutter nach dem Tod des Vaters. Nun übertrug er diese
Verantwortung dem Jünger, der ihm am nächsten stand. Er
sprach zu Maria: "Siehe, das ist dein Sohn!" Und zu Johannes
sagte er: "Siehe, das ist deine Mutter!" Von dem Tag an nahm
Johannes Maria zu sich.
Der Todeskampf von Jesus dauerte drei Stunden: von zwölf Uhr
mittags bis fünfzehn Uhr. Kurz bevor er starb rief er laut: "Mein
Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Diese Worte
stehen am Anfang von Psalm 22, den man als das Leidenspsalm
des Messias bezeichnet. In einer prophetischen Vorschau be-
schreibt König David, tausend Jahre vor diesem Ereignis, ziem-
lich genau die Leiden und Schmerzen, die Jesus am Kreuz ertra-
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Psalm 22,17-19
Seite 127
Dann gab es noch politische Gründe, die den Hohen Rat in Jeru-
salem mit seinen 71 Mitgliedern veranlasste, in Jesus eine Ge-
fahr zu sehen. Diese Versammlung verfügte während der römi-
schen Herrschaft in Judäa über einen erheblichen Einfluss und
eine gewisse Autonomie. Die Mitglieder des Hohen Rates waren
darauf bedacht, diese Autonomie zu bewahren und betrachteten
jeden potentiellen Störer der öffentlichen Ordnung als Gefahr.
Sie fürchteten sich davor, dass die Anhänger von Jesus versu-
chen könnten, einen Aufstand gegen die Römer anzuzetteln, um
ihn zum König über Israel auszurufen. Nach der Auferweckung
von Lazarus durch Jesus versammelten die Hohenpriester und
die Pharisäer den Hohen Rat und sprachen: "Was tun wir? Dieser
Mensch tut viele Zeichen. Lassen wir ihn gewähren, dann wer-
den sie alle an ihn glauben, und dann kommen die Römer und
nehmen uns Land und Leute."74 Diese Sorge bestätigte sie in ih-
rem Ansinnen, Jesus zu verhaften und an die Römer auszulie-
fern.
Welche Bedeutung hat der Tod von Jesus am Kreuz?
Aus der juristischen Perspektive waren es also religiöse und po-
litische Gründe, die zur Verurteilung und Kreuzigung von Jesus
führten. Jesus selber aber sah darin einen Ratschluss Gottes. Er
wusste im Voraus, welches Ende in Jerusalem auf ihn wartete
und sprach mehrmals mit seinen Jüngern darüber, damit sie nicht
von den Ereignissen der Karwoche überrumpelt wurden: "Er
nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir ge-
hen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden,
was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschen-
74
Johannes 11,47-48
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75
Lukas 18, 31-34
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Bleibt noch die Frage nach dem Sinn von Jesu Leiden und Tod
zu klären. Die Bibel verwendet dafür verschiedene Begriffe:
Rechtfertigung, Erlösung, Vergebung, Versöhnung, Sühnung.
Vielleicht kann man sie in einem einfachen Satz zusammenfas-
sen: Jesus hat sein Leben am Kreuz hingegeben, um unsere Be-
ziehung zu Gott, die durch die Sünde76 zerrüttet war, zu heilen.
Und gerade an diesem Punkt entzündet sich der Widerspruch.
Viele Christen – Theologen und Laien – wehren sich heute ge-
gen den Gedanken, dass Jesus unsere Schuld am Kreuz gesühnt
habe. Sie sagen, dies sei der Ausdruck einer überholten Opfer-
theologie. An einen Gott, der den Tod eines Menschen als Sühne
für die Schuld anderer verlangt, können sie nicht glauben. Die
Kritik richtet sich besonders gegen die Lehre, Jesus habe sterben
müssen, um Gottes Zorn zu besänftigen und ihm Genugtuung zu
verschaffen. Eine Lehre, die übrigens in der Bibel nicht vertreten
wird. Die Kritik am Opfertod Jesu übersieht einen entscheiden-
den Punkt: Nicht wir Menschen sind es, die Gott ein Opfer brin-
gen, um seinen Zorn zu besänftigen, sondern in Jesus Christus
gibt Gott sich selbst hin, um die Menschen zu versöhnen: "Denn
Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und
rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerich-
tet das Wort von der Versöhnung."77 Gott selber ergreift die Ini-
tiative zur Versöhnung. Er liefert sich der Feindschaft und dem
Hass der Menschen aus. Er stellt sich am Kreuz unter die Schuld
und das Elend der Menschen und überwindet sie durch seine
Liebe. Sein Motiv ist nicht Vergeltung, sondern Vergebung und
76
Das griechische Wort, das im Neuen Testament für Sünde verwendet wird,
Hamartia, bedeutet Zielverfehlung. Wer sich von Gott abkehrt, lebt am Ziel
vorbei.
77
2. Korinther 5,19
Seite 134
Versöhnung.
Das Kreuz Jesu ist der Beleg für die Ernsthaftigkeit seiner Bot-
schaft. Er sprach nicht nur von unbedingter Liebe, er lebte sie,
auch als sie ihn das eigene Leben kostete. Das Kreuz ist Aus-
druck einer grenzenlosen Liebe, die alles einsetzt und sei es auch
das eigene Leben.
Seite 135
78
Die nachfolgenden Erläuterungen stammen aus einem Vortrag von Prof.
Siegfried Zimmer: "Wie glaubwürdig ist die Botschaft von der Auferweckung
Jesu?"
Seite 137
79
Apostelgeschichte 5, 29-32
Seite 139
sen, um die Anhänger der neuen Lehre aufzuspüren und sie als
Gefangene nach Jerusalem zu nehmen. Als er nahe bei Damas-
kus war, erschien ihm ein helles Licht am Himmel, das ihn blen-
dete. Er stürzte von seinem Pferd zu Boden und hörte eine
Stimme, die ihm sagte: "Saul, Saul, was verfolgst du mich?"
Paulus fragte: "Herr, wer bist du?" Und Jesus antwortete: "Ich
bin der Jesus, den du verfolgst." Dieses Ereignis führte zu einer
grundlegenden Umkehr bei Saulus. Aus dem Verfolger der
Christen wurde der größte christliche Missionar der frühen
Christenheit. Er bereiste große Teile des römischen Reiches und
gründete viele christliche Gemeinden. Seine Briefe gehören zu
den frühesten schriftlichen Zeugnissen im Neuen Testament.
Saulus hatte, als entschiedener Gegner und Verfolger der Chris-
ten, bestimmt kein Interesse daran, die Geschichte von der Be-
gegnung mit dem auferstandenen Jesus zu erfinden.
6. Alle vier Evangelien berichten von der Auferweckung und
von Begegnungen mit dem Auferstandenen. Dabei widerspre-
chen sie sich zum Teil in den Details. Dieses Phänomen erlebt
man oft bei außergewöhnlichen Ereignissen: Die Berichte der
Zeugen sind unterschiedlich. Die ersten Christen haben sich gar
nicht darum bemüht, diese Berichte zu harmonisieren. Wenn die
Auferweckung eine Erfindung der Jünger gewesen wäre, dann
hätten sie eine einheitliche Geschichte herausgebracht.
Die Botschaft von der Auferweckung ist schwer zu begreifen,
weil es keine Analogien in der Geschichte gibt. Eins steht jedoch
zweifelsfrei fest: Sie bildete das Zentrum der Verkündigung der
Apostel und war ein unverzichtbarer Teil des christlichen Glau-
bens. In einem der frühesten schriftlichen Zeugnisse im Neuen
Testament über dieses Ereignis schreibt der Apostel Paulus an
Seite 140
80
1. Korinther 15
Seite 141
hätte keine Grundlage. …. Wenn aber Christus nicht von den To-
ten auferweckt wurde, ist euer Glaube nichts als Selbstbetrug,
und ihr seid auch von eurer Schuld nicht frei. Ebenso wären
auch alle verloren, die im Glauben an Christus gestorben sind.
Wenn der Glaube an Christus uns nur für dieses Leben Hoffnung
gibt, sind wir die bedauernswertesten unter allen Menschen."
Hätte die Geschichte von Jesus am Karfreitag geendet, dann
wäre er ein vorbildlicher Mensch, wie es sie in der Geschichte
immer wieder gab. Menschen, die viel Gutes taten und bereit
waren, mit ihrem Leben für ihre Überzeugungen einzustehen.
Das Wichtigste für die Frauen und Männer, die damals Jesus
nachfolgten, war, dass Gott das Lebenswerk von Jesus dadurch
bestätigte, dass er ihn vom Tod auferweckte. Jesus durfte erfah-
ren: Gott ist treu. Er lässt uns nicht im Tod. Die Auferstehung
steht für die Hoffnung, dass Christen wohl sterben können, aber
sie werden – wie Jesus selbst – nicht im Tod bleiben.
Seite 142
81
Dieses letzte Kapitel basiert auf einem Vortrag von Hans Joachim Eckstein,
Professor für Neues Testament an der Universität Tübingen
82
"Christus" kommt aus dem altgriechischen Wort "Χριστός=Christos" und
bedeutet "der Gesalbte". Es ist ein biblischer Hoheitstitel und entspricht dem
hebräischen Begriff Messias.
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83
Johannes 1, 14
Seite 146
drei Jahre, die er mit Jesus verbrachte und im Lichte der Aufer-
stehung.
Wer war, wer ist Jesus: Menschenfreund, Wundertäter, Revolu-
tionär, Sohn Gottes? Das ist eine Frage, die viele sich immer
wieder stellen: Theologen, Historiker, Gläubige und Skeptiker.
Wer ist der Wahrheit näher? Diese Frage können wir am ehesten
beantworten, wenn wir uns auf den Weg der Nachfolge begeben.
Aus der Distanz einer neutralen Beobachterposition lässt sich
das Geheimnis einer Person nicht entschlüsseln. Und so verstehe
ich diese Biografie als eine Einladung, sich unvoreingenommen
auf den Menschen Jesus von Nazareth, wie die Zeitzeugen ihn
beschreiben, einzulassen. Vielleicht entdecken wir dabei, dass er
uns auch heute manches zu sagen hat, was unser Leben verän-
dert.
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Das "Jesusboot", rekonstruiert aus den Resten eines 2000 Jahre alten
Bootes, das auf dem Grund des Sees Genezareth gefunden wurde