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JESUS VON NAZARETH

Menschenfreund, Wundertäter, Revolutionär, Gottes Sohn?

20. SEPTEMBER 2021


HANI SAHYOUN
Inhalt
Vorwort ....................................................................................... 1
Kapitel 1: Wie glaubwürdig sind die Evangelien? ..................... 6
Kapitel 2: Die Geburt von Jesus in Bethlehem ........................ 11
Kapitel 3: Die Kindheit und Jugend von Jesus ........................ 20
Jesus und seine Familie ................................................................ 20
Schule und Berufsausbildung....................................................... 22
Das soziale und politische Umfeld ............................................... 26
Kapitel 4: Jesus lässt sich im Jordan taufen ............................. 29
Kapitel 5: Die Versuchung in der Wüste .................................. 33
Kapitel 6: Jesus kehrt nach Galiläa zurück .............................. 41
Der Umzug nach Kapernaum ....................................................... 41
Die Berufung der Jünger .............................................................. 45
Jesus wird in seiner Heimatstadt abgelehnt.................................. 47
Kapitel 7: Besuch in Jerusalem ................................................ 51
Die Vertreibung der Händler aus dem Tempel ............................. 51
Das nächtliche Gespräch mit Nikodemus .................................... 54
Jesus und seine Jünger taufen am Jordan ..................................... 57
Kapitel 8: Der kurze Aufenthalt in Samarien ........................... 60
Das Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen ............................ 61
Kapitel 9: Der Galiläische Sommer ......................................... 66
Das Leben auf der Wanderschaft.................................................. 68
Jesus beruft den Zöllner Matthäus in seine Nachfolge ................ 69
Die Ernennung der Zwölf Apostel ............................................... 72
Konflikte mit der Familie ............................................................. 73
Kapitel 10: Die Lehre von Jesus und ihre Auswirkung............ 75
Jesus befreite die Menschen vom Joch einer falschen Religiosität
...................................................................................................... 75
Jesus trat mit einer Autorität auf, die kein anderer sich anmaßte . 78
Die neue Anrede Gottes als "Abba" ............................................. 79
Die Nähe des Reiches Gottes ....................................................... 79
Die Gleichnisse ............................................................................ 82
Die Bergpredigt ............................................................................ 85
Die Seligpreisungen ......................................................... 88
Die Ethik der Bergpredigt ................................................ 89
Kapitel 11: Jesus und die Frauen .............................................. 91
Kapitel 12: Der Konflikt mit den Obersten des jüdischen Volkes
spitzt sich zu ............................................................................. 95
Jesus und die Ehebrecherin .......................................................... 96
Jesus und der Blindgeborene Bettler ............................................ 99
Die Auferweckung des Lazarus ................................................. 103
Der Einzug in Jerusalem ............................................................ 105
Kapitel 13: Die letzten Tage im Leben von Jesus .................. 108
Jesus nimmt Abschied von seinen Jüngern ................................ 108
Der Weg nach Gethsemane ........................................................ 111
Der Verrat des Judas ................................................................... 113
Petrus verleugnet seinen Freund und Meister ............................ 115
Die Verhandlung vor dem Hohen Rat ........................................ 116
Prozess und Verurteilung vor Pilatus ......................................... 118
Die Kreuzigung .......................................................................... 123
Die Grablegung .......................................................................... 126
Kapitel 14: Wer ist schuld am Tod von Jesus? ....................... 128
Warum musste Jesus sterben? .................................................... 130
Welche Bedeutung hat der Tod von Jesus am Kreuz? ................ 131
Kapitel 15: Die Auferstehung................................................. 135
Kapitel 16: Wer war Jesus: Menschenfreund, Wundertäter,
Revolutionär, Gottes Sohn? .................................................... 142
Seite 1

Vorwort
Wer war, wer ist Jesus? Das Interesse an seiner Person ist, mehr
als zweitausend Jahre nach seinem Tod am Kreuz, immer noch
groß. Artikel in Zeitschriften und Zeitungen über ihn erscheinen
regelmäßig um Weihnachten und Ostern. Es mangelt auch nicht
an Büchern – neue und alte – über ihn. Die Bandbreite reicht von
umfangreichen wissenschaftlichen Werken für ein Fachpubli-
kum, bis zu populärwissenschaftlicher Literatur, die oft auf Sen-
sationen abzielt. Ihre Autoren zitieren angeblich geheim gehal-
tene Dokumente, die das in der biblischen Tradition überlieferte
Bild von Jesus in Frage stellen. Sie hoffen, dadurch eine hohe
Auflage zu erzielen und sind weniger an Tatsachen interessiert.
Diese Biografie ist aus persönlichem Interesse am Thema und
als das Ergebnis einer intensiven Beschäftigung damit, während
der letzten achtzehn Monate entstanden. Ich schreibe als theolo-
gischer Laie nicht für ein Fachpublikum, sondern für Christen
und Interessierte und auch für die skeptischen und kritischen
Zeitgenossen, die sich mit der spannendsten Persönlichkeit der
Weltgeschichte beschäftigen wollen.
Der Mann, dem diese Biografie gewidmet ist, Jesus, ist in einem
kleinen Dorf, das einen zweifelhaften Ruf hatte, aufgewachsen.
Er arbeitete bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr als Handwer-
ker, hat weder studiert, noch Bücher verfasst. Die Geschichts-
forscher können sein Geburtsjahr (zwischen 7 und 4 v. Chr.) und
sein Todesjahr (30 oder 31 n. Chr.) nur ungefähr datieren. Als er
im Alter von etwa fünfunddreißig Jahren am Kreuz vor den
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Toren von Jerusalem starb, da glaubten selbst seine Jünger1 nicht


mehr daran, dass man in einigen Jahren noch an ihn denken
würde. Weit gefehlt! Kein anderer Mensch, der vor oder nach
ihm gelebt hat, hat die Welt so nachhaltig geprägt und verändert
wie er. Wer ist dieser Jesus?
Ein bekannter Maler – er hieß Wilhelm Steinhausen – wurde im
Jahr 1913 mit der künstlerischen Ausgestaltung der Lukaskirche
in Frankfurt beauftragt. Das zentrale Thema war "Christus, der
Sünderheiland2". Er empfand diesen Auftrag als große Heraus-
forderung und schrieb darüber: "Ach, von seinem Wesen kann
die Kunst nur weniges enthüllen. Was wir davon denken, was
wir sagen können, ist ein Schatten nur zu nennen." Vor der glei-
chen Herausforderung steht auch jeder, der eine Biografie über
Jesus schreiben will.
Seine Persönlichkeit ist so facettenreich, dass man ihn in keine
Schublade stecken kann, auch wenn manche dies immer wieder
versuchen. Die Anhänger der Friedensbewegung machen aus
ihm einen Pazifisten und berufen sich dabei auf seine Worte aus
der Bergpredigt: "Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge um
Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, dass ihr nicht wider-
streben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine
rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Ihr habt
gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und

1
Die Bibel nennt die Begleiter, die mit Jesus unterwegs waren während der
Zeit seines öffentlichen Wirkens, "Jünger". In der griechischen Sprache des
Neuen Testaments heißen sie "mathētai" – was so viel wie Schüler oder
Lernende heißt.
2
Heiland bedeutet Erlöser oder Retter.
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deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde."3
Revolutionäre, die ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit mit Ge-
walt durchsetzen wollen, beanspruchen ebenfalls Jesus für sich.
Sie verweisen auf einen Vorfall, bei dem Jesus unter Anwendung
von Gewalt die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel in
Jerusalem vertrieb. Die kubanische Regierung unter Castro ver-
teilte kurz nach der Revolution ein Gemälde von Jesus, der einen
Karabiner geschultert hatte.
Für viele Christen ist Jesus der "liebe Heiland". Ein beliebtes
Motiv von ihm, das man in Kirchen oft sieht, zeigt Jesus als den
guten Hirten. Er trägt ein kleines Lamm in seinen Armen und
schaut mit einem verklärten Gesicht in die Ferne. Welches von
diesen vielfältigen und sich widersprechenden Vorstellungen
von Jesus entspricht am ehesten der Wahrheit?
Unser Wissen über ihn haben wir den vier Evangelien4 zu ver-
danken. Zusammengenommen haben sie den Umfang eines klei-
nen Buches von etwa einhundertzwanzig Seiten – viel zu wenig
um der Bedeutung des Mannes, von dem sie erzählen, gerecht
zu werden. Und viel zu knapp, um unsere Neugierde zu befrie-
digen. Die Evangelien erheben nicht den Anspruch, eine lücken-
lose Biografie von Jesus zu sein. Das war nicht die Absicht ihrer
Verfasser. Der Apostel Johannes schreibt am Ende seines Evan-
geliums: "Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jün-
gern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind

3
Matthäus 5, 38-39 + 43-44
4
Das Wort Evangelium stammt aus dem griechischen Begriff "euangélion"
und bedeutet frohe Botschaft oder gute Nachricht. Im heutigen
Sprachgebrauch steht es aber für die vier Berichte in der Bibel über das Leben
und Wirken von Jesus.
Seite 4

geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der
Sohn Gottes, und damit ihr, weil ihr glaubt, das Leben habt in
seinem Namen."
Die Verfasser der Evangelien haben bei ihren Berichten über das
Leben und Wirken von Jesus ein Ziel vor Augen gehabt: Men-
schen zum Glauben an ihn einzuladen, indem sie von ihm und
seiner Botschaft erzählen. Darum liegt der Fokus bei ihnen auf
den letzten drei Jahre aus seinem Leben – die Jahre von seinem
ersten öffentlichen Auftreten bis zu seinem Tod am Kreuz und
seiner Auferstehung.
Viele Fragen, die uns heute interessieren, bleiben offen. Was hat
Jesus als Kind und Jugendlicher erlebt? Welche Ereignisse ha-
ben ihn während dieser Zeit geprägt? Wie sahen die Lebensum-
stände aus, in denen er aufgewachsen ist?
Hier sind wir auf außerbiblische Quellen angewiesen. Die histo-
rische Forschung und archäologische Funde liefern uns einige
ergänzende Informationen. Es gibt auch gute Bücher von Auto-
ren, die aus eigener Anschauung über Land und Leute schreiben.
Zu ihnen gehört Pfarrer Ludwig Schneller. Er wurde im Jahre
1858 in Jerusalem geboren und verbrachte seine Kindheit und
Jugend dort. Nach dem Studium der Theologie in Deutschland
diente er einige Jahre als Pfarrer in der einheimischen evangeli-
schen Gemeinde in Bethlehem. Er war mit seinem Pferd oft un-
terwegs, um die Mitglieder seiner Gemeinde zu besuchen.
Dadurch bekam er einen tiefen Einblick in die Sitten und Le-
bensgewohnheiten der Menschen, die sich seit der Zeit von Jesus
kaum geändert hatten. Er besuchte auch alle Orte, an denen Jesus
wirkte und besaß die Gabe, die Geschichten aus den Evangelien
sehr anschaulich und lebendig zu beschreiben. Aus seiner Feder
Seite 5

stammen zwei Bücher über das Leben von Jesus: "Kennst du das
Land?" und "Kennst du Ihn?" Die Lektüre dieser Bücher hat mir
geholfen, mich in die Welt der Bibel zu versetzen und manches
so zu erleben, als wäre ich selber dabei gewesen. Leider sind
beide Bücher vergriffen. Mit etwas Glück, kann man sie noch im
antiquarischen Buchhandel erwerben.
Ein anderer, sehr guter Kenner der nahöstlichen Geschichte und
Kultur, ist der englische Theologe Kenneth Bailey. Sein Buch
über Jesus heißt: "Jesus Through Middle Eastern Eyes" (Jesus
aus der Sicht von Menschen aus dem Nahen Osten). Von Kardi-
nal Josef Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI, gibt es
auch ein gutes biografisches Werk mit dem Titel "Jesus von Na-
zareth". Die beiden letztgenannten Biografien sind zwar keine
leichte Lektüre aber sie verbinden fundiertes Sachwissen mit ei-
ner tiefen Frömmigkeit und helfen dem Leser, das Geheimnis
des Mannes aus Nazareth besser zu verstehen.
Ein weiteres Buch über Jesus, das ich persönlich sehr schätze,
wurde von Philip Yancey, einem bekannten amerikanischen The-
ologen und Publizisten geschrieben. Die deutsche Übersetzung
ist unter dem Titel "Der unbekannte Jesus" erschienen. Diese
Bücher und die Berichte der vier Evangelisten über das Leben
von Jesus, sowie einige Artikel und Vorträge im Internet zu die-
sem Thema, haben mir das Material geliefert, das ich in diese
Biografie eingearbeitet habe.
Mein Wunsch ist, Jesus den Lesern so vor Augen zu malen, dass
das Interesse an dieser einzigartigen Persönlichkeit bei ihnen ge-
weckt wird und sie motiviert werden, sich näher mit ihm zu be-
schäftigen.
Seite 6

Kapitel 1: Wie glaubwürdig sind die Evangelien?


Die vier Evangelien sind die wichtigste Informationsquelle über
das Leben von Jesus. Aus diesem Grund ist die Frage nach ihrer
Glaubwürdigkeit von entscheidender Bedeutung. Bis zum Be-
ginn der Aufklärung gab es im christlichen Abendland kaum
ernsthafte Zweifel an der Wahrheit der Evangelien. Und wenn es
sie gab, dann wurden sie aus Furcht vor Repressalien durch die
mächtige katholische Kirche nicht laut geäußert. Erst mit der
Aufklärung änderte sich die Einstellung. Das Neue Testament
war für viele nicht mehr ein heiliges, von Gott inspiriertes, son-
dern ein ganz gewöhnliches, von fehlerhaften Menschen ge-
schriebenes Buch. Kritik an der Glaubwürdigkeit der Evangelien
war kein Tabu mehr und kam aus vielen Quellen. Sie lieferte
manchen Zeitgenossen, die den starken Einfluss der Kirchen auf
die Gesellschaft zurückdrängen wollten, eine willkommene Mu-
nition für ihren Kampf.
Manche Christen haben Angst davor, sich mit dieser Kritik aus-
einanderzusetzen, weil sie ihren Glauben in Frage stellen
könnte. Aber ein Glaube, der sich nicht traut, die Argumente der
Kritiker zu hören und sich damit zu befassen, steht auf schwa-
chen Füßen. Deshalb werde ich hier auf einige dieser Kritik-
punkte eingehen:
1. Die Berichte über Jesus in den Evangelien seien frei erfun-
den. In Wirklichkeit habe er aber gar nicht gelebt. Diese Behaup-
tung stammt nicht von seriösen Historikern, sondern von Ver-
schwörungstheoretikern. Dagegen spricht die Tatsache, dass es
schon im ersten Jahrhundert – also recht zeitnah an den Ereig-
nissen, die in den Evangelien berichtet werden – viele Menschen
gab, die ihren Glauben an Jesus bekannten und christliche Ge-
meinden bildeten. Damals wäre es für die Gegner – und es gab
Seite 7

ihrer viele – leicht gewesen zu beweisen, dass Jesus eine Le-


gende sei. Jesus wird auch in außerbiblischen Quellen erwähnt.
Der römische Historiker Tacitus berichtet von Neros Christen-
verfolgungen und fügt an: "Der Name kommt von Christus, der
in der Regierungszeit des Tiberius vom Prokurator Pontius Pi-
latus hingerichtet wurde." Dieser Bericht bestätigt nicht nur,
dass Jesus tatsächlich gelebt hat und unter Pontius Pilatus hin-
gerichtet wurde, sondern auch die zeitgeschichtlichen Angaben
der Bibel über diese Ereignisse. Der Prozess gegen Jesus muss
in irgendwelchen Akten festgehalten worden sein, auf die Taci-
tus bei seinen Recherchen zugreifen konnte. Die römischen
Schriftsteller Sueton und Plinius setzen die Existenz der christ-
lichen Gemeinde voraus, die auf Christus zurückgeht. Die Be-
deutung dieser Quellen besteht darin, dass neutrale Beobachter
und auch Gegner die Tatsache, dass Jesus gelebt hat, nicht an-
zweifeln.
2. Der in den Evangelien verkündigte Christus ist in vielen
Punkten ein anderer als der "historische Jesus". Die Evangelisten
hätten ihm Titel, wie Gottessohn oder Messias5, zugesprochen,
die er selber nicht für sich beansprucht hätte. Ebenso hätten sie
Wundergeschichten ihm zugeschrieben und Worte in den Mund
gelegt, die nicht von ihm stammten. Die Evangelien enthielten
daher viele "unechte" Jesusworte. Die Vertreter dieser These in
der wissenschaftlichen Theologie bemühen sich nach eigenen
Angaben, den historischen Jesus hinter den Berichten der Evan-
gelien zu finden. Ihre Kriterien sind aber oft willkürlich festge-
legt und sie kommen deshalb zu sehr widersprüchlichen Ergeb-
nissen, wer der historische Jesus gewesen sein soll: Mal ist er

5
Der Messias – das war für die Juden zur Zeit von Jesus die Hoffnungs- und
Heilsgestalt. Von Gott gesandt würde er das Königtum Davids wieder
herstellen, die Fremdherrschaft über Israel beenden und die Zerstreuten des
auserwählten Volkes wieder in die Heimat ihrer Väter führen.
Seite 8

ein Freiheitskämpfer, der sich mit der römischen Besatzungs-


macht anlegt und scheitert, dann ist er ein Reformer der jüdi-
schen Religion oder ein sanfter Pazifist, der keinem etwas zu-
leide tut. Hinter diesen Rekonstruktionen des "historischen Je-
sus" stecken eher der jeweilige Zeitgeist oder eigene Wunsch-
vorstellungen als die Wirklichkeit. Der Jesus, den uns die Evan-
gelien beschreiben, ist viel logischer und echter als manche Re-
konstruktionen der bibelkritischen Theologie6.
3. Die Evangelien seien erst einige Jahrhunderte nach dem Tod
von Jesus verfasst worden. Vorher habe man die Geschichten
über Jesus und seine Worte mündlich überliefert. Daher gäbe es
berechtigte Zweifel, ob diese Berichte authentisch sind. Ich er-
innere mich an den Vortrag eines bekannten Journalisten und
Nahostkenners vor einem großen Publikum. Er sprach u.a. über
die Bedeutung der drei monotheistischen Religionen – Juden-
tum, Christentum und Islam – für diese Region. In seinem Vor-
trag stellte er die Behauptung auf, dass die Evangelien erst einige
Jahrhunderte nach dem Tod von Jesus verfasst wurden. Als ich
ihn fragte, woher er seine Informationen dazu habe, konnte er
mir keine Antwort geben. In der wissenschaftlichen Forschung
hat sich inzwischen als Konsens herausgestellt, dass die Evan-
gelien zwischen den Jahren 70-100 nach Christi Geburt nieder-
geschrieben wurden, höchstwahrscheinlich in dieser Reihen-
folge: Markus, Matthäus, Lukas und schließlich Johannes. Sie
sind also in einer Zeit verfasst worden, als es noch Zeugen gab,
die Jesus erlebt haben. Die Originalmanuskripte sind zwar nicht
mehr vorhanden, aber es gibt Fragmente von Kopien, die bis ins
Jahr 125 nach Christi Geburt zurückdatiert werden können. Das

6
Mir geht es nicht um eine pauschale Verurteilung der wissenschaftlichen
Theologie – sie hat uns viele wichtige Informationen über Jesus und seine
Zeit geliefert –, sondern um einen kritischen Blick auf manche ihrer
Auswüchse.
Seite 9

älteste Papyrusfragment enthält ein paar Verse aus dem Johan-


nes Evangelium und sie stimmen mit dem Text überein, der uns
heute vorliegt. Das zeigt, dass die Evangelien zu diesem Zeit-
punkt schon in schriftlicher Form existierten. Die vielen alten
Handschriften, die im Bereich des damaligen römischen Reiches
gefunden wurden, stimmen fast wörtlich überein. Abweichun-
gen sind nur in den wenigsten Fällen sinnverändernd. Das
spricht für die Sorgfalt der Überlieferung der ursprünglichen
Manuskripte.
4. Die Evangelien unterscheiden sich zum Teil recht erheblich
voneinander und damit bestünden begründete Zweifel an ihrer
Zuverlässigkeit. Die ersten drei Evangelien vom Matthäus, Mar-
kus und Lukas haben viele Gemeinsamkeiten. Teilweise stim-
men sie wortwörtlich überein, aber jedes von ihnen enthält
Texte, die in den anderen fehlen. In der neutestamentlichen For-
schung geht man heute davon aus, dass das Markusevangelium,
gemeinsam mit einer Sammlung von Aussprüchen Jesu (Logien-
quelle) als schriftliche Vorlage für das Matthäus- und das Lu-
kasevangelium diente. Es fällt weiter auf, dass manchmal die
Berichte über das gleiche Ereignis voneinander abweichen. Für
diese Unterschiede gibt es jedoch eine plausible Erklärung: Die
Autoren der Evangelien hatten unterschiedliche Zielgruppen vor
Augen und haben dementsprechend aus dem ihnen vorliegenden
Material ihre Auswahl getroffen und eigene Akzente gesetzt.
5. Der letzte Kritikpunkt richtet sich gegen das Johannes Evan-
gelium. Auch einem Laien fällt auf, dass der Autor einen ganz
eigenen Weg geht bei der Beschreibung des Lebens von Jesus.
Er schreibt nichts über seine Geburt in Bethlehem. Wichtige An-
sprachen von Jesus – wie etwa die Bergpredigt – fehlen bei ihm.
Dafür berichtet er sehr ausführlich über Begegnungen von Jesus
mit Menschen und über seine Beziehung zu Gott, den er immer
mit dem Wort "Vater" anredete. Es gibt jedoch einige markante
Seite 10

Ereignisse im Leben von Jesus, über die Johannes ebenso be-


richtet wie die anderen Evangelisten. Dazu gehören seine Taufe,
die Austreibung der Händler aus dem Tempel und die Speisung
einer großen Menschenmenge mit wenigen Broten und Fischen.
Die letzte Woche im Leben von Jesus, die mit seinem triumpha-
len Einzug in Jerusalem beginnt und mit seiner Verhaftung, Ver-
urteilung und Kreuzigung endet, nimmt in allen Evangelien ei-
nen sehr breiten Raum ein. Alle vier berichten auch von seiner
Auferweckung aus dem Tod durch Gott und von Begegnungen
der Jünger mit dem Auferstandenen Jesus. Die vier Evangelien
mit ihrer unterschiedlichen Sichtweise ergänzen sich gegenseitig
und liefern uns ein stimmiges Bild von Jesus. Im Übrigen, spre-
chen die Unterschiede zwischen den Evangelien für ihre Echt-
heit. Wenn die ersten Christen sich die Geschichten über Jesus
ausgedacht hätten, dann wäre es für sie einfach gewesen, einen
einzigen und einheitlichen Bericht über sein Leben zu schreiben.
Sie haben auch nicht versucht, die Unterschiede durch nachträg-
liche Bearbeitung auszubügeln.
Dieser kurze Überblick über die Kritik an den Evangelien zeigt,
dass die Evangelien viel zuverlässiger sind, als manche Skepti-
ker wahrhaben wollen. Sie sind keine mythischen Erzählungen,
die frei gedichtet wurden, und es gibt keinen schlüssigen Grund,
ihre Glaubwürdigkeit und Echtheit anzuzweifeln. Es sei denn
man geht an sie heran mit der vorgefassten Meinung, dass es sich
dabei um bewusst manipulierte Berichte handelt.
Seite 11

Kapitel 2: Die Geburt von Jesus in Bethlehem


Weihnachtskarten, die wir an Verwandte und Freunde verschi-
cken, spiegeln unsere Vorstellungen über dieses Fest wider. Auf
vielen dieser Karten sehen wir eine schneebedeckte Landschaft.
Rehe oder Rentiere ziehen einen Schlitten, auf dem ein pausbä-
ckiger Weihnachtsmann mit weißem Bart und roter Filzmütze
sitzt. Die religiösen Karten zeigen uns die "Heilige Familie" im
Stall von Bethlehem. Maria, Josef und das Jesuskind sehen alle
glücklich und zufrieden aus. Ihre Häupter sind von einem golde-
nen Heiligenschein umgeben und um sie herum stehen Hirten,
Schafe, Ochs und Esel. Alles wirkt so friedlich und harmonisch.
Und so möchten wir ja auch das Fest im Kreis der Familie erle-
ben. Das erste Weihnachten war aber, wie wir aus den Evange-
lien wissen, alles andere als friedlich und harmonisch.
Jesus wurde als erstes Kind von Maria und Josef in Bethlehem
geboren. Zu der Zeit herrschte Herodes mit Zustimmung des rö-
mischen Kaisers Augustus über Israel. Die Vorfreude auf die Ge-
burt ihres ersten Kindes war bei Maria und Josef nicht ganz un-
getrübt. Maria musste ihrem Verlobten nämlich beibringen, dass
sie schwanger geworden war, bevor sie die Ehe mit ihm vollzo-
gen hatte. Lukas erzählt in seinem Evangelium die Umstände ih-
rer ungewöhnlichen Schwangerschaft7. Maria erhielt Besuch
von einem Engel8 und war ganz schön erschrocken darüber. Der
Engel musste sie zuerst beruhigen bevor er ihr seine Botschaft
mitteilen konnte: "Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei

7
Lukas 1, 26-38
8
Engel sind in der Bibel keine geflügelten Wesen, die auf einer Wolke sitzen
und Harfe spielen. Sie sind Boten Gottes und erscheinen oft in menschlicher
Gestalt.
Seite 12

Gott gefunden. Du wirst schwanger werden und einen Sohn zur


Welt bringen. Jesus soll er heißen."
Maria reagierte ganz irritiert: "Wie soll das geschehen? Ich habe
ja noch nie mit einem Mann geschlafen." Der Engel antwortete
ihr: "Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft
des Höchsten wird sich an dir zeigen. Darum wird dieses Kind
auch heilig sein und Sohn Gottes genannt werden."
Marias Schwangerschaft brachte sie in große Bedrängnis. Bei
ihrem Verlobten Josef musste der Verdacht aufkommen, dass sie
hinter seinem Rücken ein Verhältnis mit einem anderen Mann
hatte. Sie riskierte damit – nach dem jüdischen Gesetz damals –
wegen ehelicher Untreue verurteilt und gesteinigt zu werden.
Marias Sorge war nicht unbegründet, denn Josef war alles an-
dere als hocherfreut über die Nachricht ihrer Schwangerschaft.
Er wollte seiner Verlobten jedoch eine Anklage wegen Untreue
ersparen und beschloss, sie heimlich zu verlassen. In der Nacht
bevor er sein Vorhaben in die Tat umsetzen wollte, erschien ihm
ein Engel und sprach zu ihm: "Josef, du Sohn Davids, fürchte
dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen; denn was sie
empfangen hat, das ist von dem Heiligen Geist. Und sie wird ei-
nen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus9 geben, denn
er wird sein Volk retten von ihren Sünden."10
Nicht nur Josef hatte seine Probleme mit Marias Schwanger-
schaft. Auch für uns stellt sich die Frage: "Kann man heute noch
an die Aussage im Glaubensbekenntnis, Geboren von der Jung-
frau Maria, mit gutem Gewissen festhalten? Ist es möglich, dass

9
Jesus, auf Hebräisch "Jeschua", bedeutet: Gott ist Hilfe/Rettung
10
Matthäus 1, 18-21
Seite 13

eine weibliche Eizelle ohne einen männlichen Samen befruchtet


werden kann?" Wir stehen hier vor zwei Alternativen: Entweder
trauen wir Gott zu, dass er Dinge tun kann, die über den Horizont
unseres Verstandes hinausgehen – das wäre zumindest denkbar,
wenn wir glauben, dass er das Universum mit seinen unvorstell-
baren Dimensionen geschaffen hat –, oder wir sagen: "Es ge-
schieht nichts auf Erden, das nicht im Einklang mit den uns be-
kannten Naturgesetzen steht." Dann müssten wir annehmen,
dass Jesus ein uneheliches Kind gewesen ist. Genau dies hielten
seine Gegner unter den Juden später ihm vor: "Wir sind nicht
unehelich (wie du) geboren." Sie verbreiteten das Gerücht, er sei
ein uneheliches Kind. Damit konnten sie ihn von vorneherein
diskreditieren.
Jesus hat selber übrigens kein Dogma aus der Jungfrauengeburt
gemacht. Glaube war für ihn nicht ein Fürwahrhalten von ir-
gendwelchen Dogmen, sondern ein Leben in einer Vertrauens-
beziehung zu Gott. Er hat die Menschen eingeladen, sich mit
ihm auf diesen Weg zu begeben. Die Wahrheit über seine Person
sollte sich ihnen durch das gemeinsame Leben mit ihm erschlie-
ßen.
Maria und Josef lebten bis kurz vor der Geburt ihres Sohnes in
Marias Heimat, Nazareth, einer kleinen Stadt in Galiläa. Josef
stammte aus Bethlehem. Für uns ist es eine ausgemachte Sache,
dass Josef ein Zimmermann war. So steht es in den meisten deut-
schen Bibelübersetzungen. Aber das entspricht nicht ganz der
Wahrheit. Der Beruf, den Josef ausübte, wird in der griechischen
Sprache des Neuen Testaments mit dem Wort Tekton wiederge-
geben. Dieses Wort bedeutet so viel wie Bauhandwerker oder
Baumeister. Und da man damals in Israel – wie auch heute übri-
Seite 14

gens – die Häuser nicht aus Holz, sondern aus Natursteinen


baute, wird Josef die meiste Zeit als Steinmetz und Maurer tätig
gewesen sein. Die Baumeister aus Bethlehem waren im ganzen
Land für ihr Geschick und ihre gute Arbeit bekannt. Sie wurden
von Bauherren aus allen Landesteilen gerufen und verbrachten
oft die Zeit vom Frühjahr bis zum Herbst auf den Baustellen. Sie
kehrten dann rechtzeitig zur Wintersaat nach Bethlehem zurück,
um ihre Felder zu bestellen und blieben über Winter zu Hause.
So wird Josef auch nach Nazareth gekommen sein und dort seine
spätere Frau, Maria, kennengelernt haben.
Kurz bevor Jesus geboren wurde, erging ein Befehl des römi-
schen Kaisers Augustus, dass eine Volkszählung an allen Orten
in seinem Reich – zu dem Israel damals gehörte – durchgeführt
werden sollte. Sie sollte als Grundlage für die Erhebung von
Steuern dienen. Für diese Volkszählung musste jeder an den Ort,
aus dem er stammte, sich begeben. Eine kleine Völkerwande-
rung war notwendig, um die Familien in den alten Heimatorten
zu erfassen. Das verursachte viel Verbitterung und Widerstand
bei der jüdischen Bevölkerung, die ohnehin unter der hohen
Steuerlast zu leiden hatte. Aber die meisten gehorchten dem Be-
fehl, weil sie nicht in der Lage waren, sich gegen Rom zur Wehr
zu setzen.
Und so machte sich Josef auf den Weg nach Bethlehem auf. Es
ist sehr wahrscheinlich, dass er sich in seinem Heimatort wieder
niederlassen wollte. Nur so kann man erklären, warum er seine
schwangere Frau auf diese beschwerliche Reise mitnahm. Sonst
wäre es viel vernünftiger gewesen, sie in der Obhut ihrer Eltern
in Nazareth zurück zu lassen, bis er von seiner Reise zurückkam.
Die Reise von Nazareth im Norden Israels bis nach Bethlehem,
Seite 15

das im Süden liegt, dauerte etwa vier Tage. Maria und Josef be-
nutzten das Transportmittel der einfachen Leute, einen Esel. Sie
gingen von Nazareth aus zuerst gen Osten zum Jordantal und
wanderten durch die fruchtbare Ebene entlang des Jordans bis
nach Jericho. Von dort aus stiegen sie durch eine Halbwüste und
kamen über den Ölberg nach Jerusalem. Von Jerusalem konnten
sie Bethlehem in ein paar Stunden erreichen.
Lukas schreibt in seinem Evangelium über die Geburt von Jesus:
"Als sie aber dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte.
Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und
legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in
der Herberge."
Aus diesen Worten ist die Vorstellung entstanden, dass Jesus,
kurz nach der Ankunft von Maria und Josef in Bethlehem, im
Stall einer überfüllten Herberge geboren wurde. So wird die
Weihnachtsgeschichte auch in den Krippenspielen dargestellt.
Kenner des Landes Israel und seiner Geschichte stellen jedoch
diese Vorstellung in Frage und haben gute Argumente dafür.
Bethlehem war Josefs Heimatort und dort lebten mit Sicherheit
einige seiner Verwandten. Man kann sich kaum vorstellen, dass
er mit seiner schwangeren Frau sich auf die Suche nach einer
Herberge machte. Es war ganz selbstverständlich, dass die Ver-
wandten ihn und Maria bei sich aufnahmen. Das Wort, das für
Herberge im Lukasevangelium steht, kann man genauso gut mit
Haus übersetzen. Warum wurde Jesus aber nach seiner Geburt
in eine Krippe gelegt? Das lässt sich erklären, wenn man die
Wohnverhältnisse in jener Zeit kennt. Die Häuser bestanden aus
einem einzigen Raum, in dem ein Ehepaar mit ihren zahlreichen
Nachkömmlingen und oft auch mit den Großeltern lebten. Zu
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ebener Erde hatten die Haustiere ihren Platz. Der hintere Teil des
Wohnraums war etwas erhöht - hier lebten die Besitzer.
Auf Grund der beengten Wohnverhältnisse, kann man sich vor-
stellen, dass Maria und Josef in dem Teil übernachteten, in dem
sich die Haustiere befanden. Als Maria einige Zeit nach ihrer
Ankunft ihr Kind bekam, konnte sie es in die Krippe, die schon
dafür vorbereitet war, hineinlegen.
Die ersten Menschen, die von diesem Ereignis erfuhren, waren
Hirten auf dem Felde11. Ein Engel überbrachte ihnen die Nach-
richt und sagte den zutiefst erschrockenen Männern: "Fürchtet
euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem
Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Retter geboren,
welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt
zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt
und in einer Krippe liegen."
Die Hirten galten als unreine Menschen. Vornehme Leute mie-
den den Kontakt mit ihnen. Sie hätten sich nicht getraut, zu dem
neugeborenen Kind zu gehen, wenn er im Haus einer angesehe-
nen Familie geboren worden wäre. Die Worte des Engels, "Ihr
werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe
liegen", waren für sie aber ein Hinweis: Das Kind, von dem der
Engel sprach, war in einem einfachen Haus von ganz normalen
Menschen. Die Hirten wussten: Wenn wir jetzt hingehen, um
dieses Kind anzuschauen, dann wird man uns nicht wegschi-
cken.
Die Geburt von Jesus im Stall in Bethlehem ist bezeichnend für
sein ganzes Leben. Er kam als einfacher Mensch in eine Welt, in

11
Lukas 2, 8-20
Seite 17

der die Mächtigen und die Reichen das Sagen haben. Seine
wahre Größe äußerte sich nicht in Macht und Reichtum, sondern
im Dienen. Die Geburtsgeschichte von Jesus, wie sie der Evan-
gelist Lukas uns überlieferte, sagt auch etwas über Gott aus: Er
schreibt Geschichte mit einfachen Menschen. Mit einer jungen
Frau vom Land und ihrem Mann, einem Handwerker, mit Hirten
ohne große Bildung oder Ansehen und mit einem Kind, das in
einfachen Verhältnissen in einer kleinen Stadt geboren wird.
Und doch hat kein anderer die Weltgeschichte so geprägt wie
dieses kleine Kind von Bethlehem.
Matthäus berichtet in seinem Evangelium, dass Sterndeuter aus
dem Osten – vermutlich aus dem persischen Reich – durch einen
besonderen Stern auf die Geburt eines Königs in Israel aufmerk-
sam wurden. Sie machten sich auf den Weg und nahmen Ge-
schenke mit, um dem neugeborenen König die Ehre zu erweisen.
Dieser Stern war Anlass für viele Spekulationen. Thomas Boll,
Professor für Astrophysik am Max-Planck-Institut – nach eige-
ner Aussage kein besonders religiöser Mensch – interessierte
sich für die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Geschichte
über den Stern, der die Weisen aus dem Morgenland nach Beth-
lehem führte. Er stellte sorgfältige Recherchen an und fand her-
aus, dass hinter dem Weihnachtsstern eine seltene Planetenkon-
stellation steckt – und zwar eine Konjunktion von Jupiter und
Saturn. Dabei kommen sich diese zwei Planeten am Firmament
so nahe, dass sie sich zu berühren scheinen, weshalb sie von der
Erde aus gesehen wie ein einziger Stern leuchten. Bei seinen Re-
cherchen zum Stern von Bethlehem, entdeckte Thomas Boll,
dass eine solche Konjunktion von Jupiter und Saturn, die nur
etwa alle zweihundert Jahre vorkommt, im Jahr 7 vor Christus
Seite 18

zu sehen war. Diese Beobachtungen von Thomas Boll werden


von anderen Astronomen geteilt. Und so liegt es nahe, dass Jesus
schon um das Jahr 7 vor unserer Zeitrechnung geboren wurde.
Diese Vermutung wird durch die Tatsache gestützt, dass die
Volkszählung, von der Lukas in seinem Evangelium berichtet,
auch in diesem Jahr stattfand. Der Abt Dionysius aus Rom, der
im Jahr 532 das Geburtsdatum von Jesus festlegte, hat sich also
um sieben Jahre verrechnet, weil er die Informationen, die uns
heute zur Verfügung stehen, nicht kannte.
König Herodes erfuhr von den Sterndeutern aus dem Osten den
Grund ihres Besuches in Israel und war entschlossen, das neu-
geborene Kind töten zu lassen. Er konnte es nicht dulden, dass
ein potentieller Thronanwärter seine Stellung bedrohen könnte.
Ein Engel warnte Josef in der Nacht vor diesem geplanten An-
schlag auf das Leben des Kindes12. Er packte eilends das Nö-
tigste zusammen und floh mit Maria und dem Kind nach Ägyp-
ten. Dort blieb er eine Weile, bis er die Nachricht erhielt, dass
Herodes gestorben sei. Er kehrte dann zurück nach Bethlehem,
in der Absicht, sich dort niederzulassen. Doch als er hörte, dass
Archelaus, der Sohn von Herodes, an dessen Stelle als König
herrschte, zog er vor, mit Frau und Kind nach Nazareth zu zie-
hen. Dort konnten sie vor Archelaus sicher sein, denn Galiläa
gehörte nicht zu seinem Herrschaftsgebiet.
Jesus und seine Eltern erlebten das gleiche Schicksal wie viele
Flüchtlinge heute. Die Geschichte von seiner Geburt und seinen
ersten Lebensjahren passt in die Wirklichkeit unserer Welt. Un-
zählige Menschen sind heute auf der Flucht vor grausamen Herr-

12
Matthäus 2, 13-15
Seite 19

schern oder vor Terroristen, die nicht davor zurückschrecken,


wehrlose Kinder umzubringen. Das Kind von Bethlehem, der
von Gott gesandte Retter, ist ihnen viel näher als ein Prinz der
im Luxus eines Königshauses aufwachsen darf.
Seite 20

Kapitel 3: Die Kindheit und Jugend von Jesus


Jesus und seine Familie
Die vier Evangelien berichten hauptsächlich über die letzten drei
Jahre aus dem Leben von Jesus. Das ist die Zeit, in der er öffent-
lich auftrat. Über die Zeit vor seinem dreißigsten Lebensjahr, mit
den für die Charakterbildung so wichtigen Kindheits- und Ju-
gendjahren, wissen wir wenig. In welcher Welt ist Jesus aufge-
wachsen? Wie waren die Lebensumstände in seinem Eltern-
haus? Welche Ereignisse haben ihn als jungen Menschen beein-
flusst und geprägt? Aus den Evangelien wissen wir, dass Naza-
reth – damals eine kleine Stadt mit einer geschätzten Einwoh-
nerzahl von 200-500 Personen – die Heimat von Jesus war, bis
zu seinem dreißigsten Lebensjahr. Wir erfahren auch, dass Jesus
vier Brüder hatte: Jakobus, Josef, Judas und Simon. Dazu einige
Schwestern, die nicht namentlich genannt sind13.
Jesus wuchs in einer typisch jüdischen Handwerkerfamilie auf.
Bei der Namensgebung seiner vier Brüder – Jakobus, Josef, Ju-
das und Simon – orientierten sich die Eltern an den Namen der
jüdischen Erzväter. Man kann also davon ausgehen, dass Jesus
in einem gläubigen Elternhaus aufwuchs, in dem die religiöse
Tradition Israels eine wichtige Rolle spielte und ihn auch prägte.
Sein Name – Jeschua auf Hebräisch – war zu jener Zeit weit ver-
breitet. Jesus lebte mit seinen Eltern und Geschwistern – wie die
meisten Bewohner Nazareths – in einfachen Verhältnissen. Ihr
Haus hatte nur einen einzigen Raum. Es gab keine Möbel; man
saß auf Strohmatten, groben Teppichen oder Decken. Lebens-
mittel und Wasser wurden in Tonkrügen aufbewahrt, die Kleider

13
Matthäus 13, 55-56
Seite 21

in Kisten. Nachts wurden Matten zum Schlafen ausgerollt. Ölla-


mpen, die man in Nischen in den Wänden aufstellte, dienten zur
Beleuchtung. Im Vergleich dazu sind selbst einfachste Wohnun-
gen heutzutage luxuriös ausgestattet.
Jesus wurde nach den damaligen Sitten und Gebräuchen erzo-
gen. Er wurde am achten Tag als Säugling beschnitten, wie es
das Gesetz von Mose vorschreibt. Von seiner Kindheit ist nur ein
einzelner Vorfall im Evangelium nach Lukas überliefert. Er war
damals zwölf Jahre alt und durfte seine Eltern auf eine Pilger-
fahrt nach Jerusalem begleiten. Lukas schreibt14: "Nach den
Festtagen machten sich die Eltern wieder auf den Heimweg. Je-
sus aber blieb in Jerusalem, ohne dass sie es bemerkten. Sie
dachten, er sei mit anderen Reisenden unterwegs. Nachdem sie
einen Tagesmarsch weit gekommen waren, begannen sie, bei ih-
ren Verwandten und Freunden nach ihm zu suchen. Als sie ihn
aber dort nicht fanden, kehrten sie besorgt um und suchten ihn
überall in Jerusalem. Endlich, nach drei Tagen, entdeckten sie
Jesus im Tempel. Er saß mitten unter den Gesetzeslehrern15,
hörte ihnen aufmerksam zu und stellte Fragen. Alle wunderten
sich über sein Verständnis und seine Antworten. Die Eltern wa-
ren fassungslos, als sie ihn dort fanden. "Kind", fragte ihn Ma-
ria, "wie konntest du uns nur so etwas antun? Dein Vater und
ich haben dich überall verzweifelt gesucht!" "Warum habt ihr
mich gesucht?", erwiderte Jesus. "Habt ihr denn nicht gewusst,

14
Lukas 2, 41-52
15
Der Begriff Gesetzeslehrer (auf Hebräisch Rabbi) wurde als respektvolle
Anrede für die jüdischen Schriftgelehrten verwendet. Sie hatten die Heiligen
Schriften Israels studiert und konnten sie für die anderen auslegen. Übrigens
wurde Jesus auch Rabbi genannt.
Seite 22

dass ich im Haus meines Vaters sein muss?"


Das war der erste – wenn auch kleine – Konflikt zwischen Jesus
und seinen Eltern, zwischen der Loyalität seiner Familie gegen-
über und seiner Berufung, die er von Gott empfangen hatte16.
Nach dieser Episode kehrte Jesus mit seinen Eltern nach Naza-
reth zurück und blieb dort bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr.
Über die Zeit von seinem zwölften bis zu seinem dreißigsten Le-
bensjahr gibt es nur eine kleine Randnotiz im Evangelium des
Lukas17: "So wuchs Jesus heran, und seine Weisheit nahm zu. Je
älter er wurde, desto mehr Ansehen fand er bei Gott und bei den
Menschen."
Schule und Berufsausbildung
Im Alter von etwa sechs Jahren wurde Jesus, wie die anderen
Kinder in seinem Alter, zu einem Thoralehrer18 geschickt. Der
Unterricht fand in der Synagoge, dem Gebets- und Versamm-
lungshaus der Juden, statt. Die Kinder lernten dort lesen und
schreiben in ihrer Muttersprache Aramäisch und in Hebräisch,
die Sprache der jüdischen Bibel. Der Schulunterricht dauerte
sechs Jahre. Die Kinder sollten am Ende die Thora möglichst
auswendig können. Die Begabten unter ihnen konnten weiter
lernen. Ihr Traum war eines Tages selber ein "Rabbi"19 zu wer-

16
Als Jesus später mit dreißig Jahren sich ausschließlich seiner göttlichen
Berufung widmete, kam es häufiger zu Auseinandersetzungen mit seiner
Familie.
17
Lukas 2, 52
18
Die Thora besteht aus den ersten fünf Büchern der Bibel. Manchmal wird
dieser Begriff auch für die ganze hebräische Bibel verwendet.
19
Ursprünglich wurde mit dem hebräischen Wort rab (=groß) der
Höhergestellte angeredet. Zur Zeit von Jesus wurde dieser Titel für die Lehrer
der Thora verwendet. Sie wurden nach dem Studium der Thora und ihrer 613
Gebote ordiniert. Ihre Aufgabe war, über die rechte Auslegung und
Seite 23

den.
Jesus gehörte zu den aufmerksamen und fleißigen Schülern,
sonst hätte er nicht schon im Alter von zwölf Jahren mit den
Schriftgelehrten im Tempel diskutieren und ihnen kluge Fragen
stellen können. Wir wissen aber nicht, ob er über das zwölfte
Lebensjahr hinaus noch in den Unterricht ging, oder ob er sei-
nem Vater zur Hand gehen musste.
Mit dem Erreichen des dreizehnten Lebensjahres wurde Jesus
religionsmündig. Am ersten Sabbat nach seinem 13. Geburtstag
hatte er, wie jeder jüdischer Junge, seinen großen Auftritt in der
Synagoge, denn er war nun ein Bar Mitzwa20, ein "Sohn des Ge-
bots". Er war für die Beachtung und Einhaltung der jüdischen
Gebote (Mitzwot, Einzahl Mitzwa) verantwortlich und musste
von da an alle religiösen Pflichten erfüllen, etwa in der Synagoge
aus der Thora vorlesen. Dazu gehörte auch das Anlegen von Te-
fillin. Das sind Lederkapseln, die Worte aus der Thora auf Per-
gament enthalten und mit Lederriemen an Hand und Kopf be-
festigt werden.
Diese Details aus dem Leben von Jesus erscheinen uns heute
vielleicht nicht so wichtig, weil die Christenheit Jesus aus sei-
nem jüdischen Hintergrund herausgelöst hat. Uns ist nicht mehr
bewusst, dass Jesus – sowohl im Kindesalter, wie auch als Er-
wachsener – ein Angehöriger seines Volkes war. Und als solcher
war er tief verankert im Glauben und in den Traditionen Israels.

Handhabung des Gesetzes zu wachen.


20
Diese Worte bezeichnen sowohl den Status als auch den Tag und die Feier,
an dem die Religionsmündigkeit eintritt. Für Mädchen, die etwas früher reif
werden wird es bereits nach dem zwölften Geburtstag gefeiert. Sie heißen
dann Bat Mitzwa (Tochter des Gebots).
Seite 24

Nach Abschluss der Schulbildung lernte Jesus den Beruf seines


Vaters. Josef wird in den Evangelien zuletzt erwähnt, als Jesus
zwölf Jahre alt war. Wahrscheinlich starb er als Jesus noch ein
Teenager war. Jesus musste dann als ältester Sohn an Stelle des
Vaters die Verantwortung für seine Mutter und die jüngeren Ge-
schwister tragen. Seine Arbeit als Bauhandwerker war körper-
lich anstrengend. Sie war eine gute Vorbereitung für sein späte-
res Leben als Wanderprediger, denn dafür brauchte er eine starke
Physis und eine gute Kondition.
Diese harte Arbeit im Alltag ruhte, nach Gottes Gebot, am Sab-
bat. Die Bewohner Nazareths zogen ihre Feierkleider an und
gingen gemeinsam in die Synagoge. Dort wurden Worte aus der
Heiligen Schrift vorgelesen und ausgelegt. Auch Gebete und
Lieder aus den Psalmen gehörten zum jüdischen Gottesdienst.
Der Gottesdienst der christlichen Gemeinde mit Schriftlesung,
Predigt, Liedern und Gebete folgt bis heute diesem Muster.
Dreimal im Jahr gab es große religiöse Feste. Zuerst das Passa-
fest im Frühjahr zur Erinnerung an die Befreiung aus der Skla-
verei in Ägypten. Sieben Wochen danach, zu Beginn der Wei-
zenernte, feierte man das Pfingstfest21. Es war ein Erntedankfest
und zugleich eine Erinnerung an den Empfang der Zehn Gebote
auf dem Berg Sinai. Im Herbst, nach Abschluss der Weinlese,
wurde das Laubhüttenfest gefeiert. Besonders bei diesem letzten
Fest ging es sehr fröhlich und lebhaft zu. Die Israeliten waren
angehalten, soweit es ihnen möglich war, diese Feste gemeinsam
in Jerusalem zu feiern. Aus dem Evangelium nach Johannes er-
fahren wir, dass Jesus nach seiner Taufe mehrmals zu diesen Fes-

21
Shawuot auf Hebräisch
Seite 25

ten nach Jerusalem pilgerte.


Es gab auch andere Gelegenheiten, bei denen die Bewohner Na-
zareths zusammenkamen und fröhlich feierten: Hochzeiten und
Richtfeste. Jesus war kein Kind von Traurigkeit. Er nahm gerne
an diesen Festen Teil. Die frommen Pharisäer22, mit denen er
später manche Konflikte auszutragen hatte, warfen ihm deshalb
vor, ein "Fresser und Weinsäufer" zu sein.
Neben seinem Bauhandwerk arbeitete Jesus auch auf dem Feld.
Jede Familie hatte damals Grundbesitz und baute das an, was sie
für den eigenen Bedarf brauchte. So kannte Jesus die Arbeit der
Bauern aus eigener Erfahrung. Und er war ein großer Kenner
und Liebhaber der Natur. Er nahm sich Zeit für Spaziergänge
und Wanderungen, weil er draußen die nötige Ruhe fand, um mit
Gott, seinem himmlischen Vater, zu reden. Dabei hat er die Na-
tur im Lauf der Jahreszeiten genau beobachtet und sich beson-
ders an der Blumenpracht des Frühlings erfreut. Auch heute
noch gibt es in Galiläa eine große Vielfalt von wild wachsenden
Blumen: Tulpen, Anemonen, Alpenveilchen, Adonisröschen und
Lilien.
Jesus hat die Eindrücke aus der Natur und aus seinem Beruf spä-
ter als Anschauungsmaterial für die Unterweisung der Jünger
verwendet. Seine Gleichnisse erzählen vom Hausbau, von der
Arbeit auf dem Feld und von den Beobachtungen, die er in der
Natur machte. Und Jesus hatte die Gabe, die wichtigsten Wahr-
heiten über den Glauben mit ganz einfachen Bildern aus dem

22
Die Pharisäer waren eine große religiöse Partei, eine Laienbewegung. Ihre
Mitglieder waren im Volk hochgeachtet. Sie nahmen ihren Glauben sehr
ernst. Ihr Anliegen war, die Gebote und die Gesetze aus der Heiligen Schrift
für jede alltägliche Situation bis ins Detail auszulegen und streng zu befolgen.
Seite 26

Alltag der Menschen und aus der Natur zu erklären. Die Arbeit
des Bauern bei der Aussaat wird zu einem Bild dafür, wie der
ausgestreute Same des Wortes Gottes im Leben von Menschen
Wurzeln schlägt und Früchte bringt. Von den Vögeln und Blu-
men sollen die Jünger lernen, wie Gott für seine Schöpfung
sorgt, und ihm die Sorge für ihr Leben überlassen. An anderer
Stelle sagt er einem Menschen, der ihm nachfolgen will: "Über-
schlage zuerst die Kosten, bevor du dich entscheidest. So wie
ein Hausbauer die Kosten überschlagen soll, bevor er mit dem
Bauen anfängt." Wahrscheinlich machte Jesus bei seiner Tätig-
keit auf dem Bau die Erfahrung, dass mancher Bauherr sein Vor-
haben nicht zu Ende führen konnte, weil ihm das Geld dazu
fehlte.
Das soziale und politische Umfeld
Interessant ist natürlich auch die Frage nach dem sozialen und
politischen Umfeld in der Heimat von Jesus in jener Zeit. Naza-
reth lag in einem kleinen Landstrich, der als Galiläa bekannt war.
Er wurde vom Litanifluss im Norden und der Jesreelebene im
Süden begrenzt. Der See Genezareth, der später eine wichtige
Rolle im Leben von Jesus spielen sollte, lag im Osten Galiläas.
Mehrere Jahrhunderte waren Juden hier in der Minderheit. Der
Name Galiläa geht zurück auf die hebräische Bezeichnung
"Galil Hagoijim" und bedeutet "Region der Heiden." Etwa ab
dem Jahr 100 vor Christus wurde das Land wieder von Juden
neu besiedelt. Fromme Familien aus Judäa zogen nach Norden
und ließen sich in Galiläa nieder. Wahrscheinlich hat sie die
fruchtbare Hügellandschaft, in der Datteln, Oliven und Wein ge-
diehen, angezogen. Etwa 150000-200000 Menschen lebten zur
Zeit von Jesus dort. Sie waren, ähnlich wie die jüdischen Siedler
in der Westbank heute, eifrige Nationalisten.
Seite 27

Als Jesus geboren wurde, stöhnte das Land unter der römischen
Besatzung. Die Römer setzten den von den Juden verhassten He-
rodes als König über Israel ein. Sein Reich umfasste weite Teile
des heutigen Israels, Jordaniens und des Libanon. Herodes hatte
eine große Vorliebe für extravagante Bauvorhaben. Er baute
Tempel, Amphitheater, Pferde- und Wagenrennbahnen, Aquä-
dukte und Palastfestungen mit luxuriösen Badehäusern. Die
Kosten dafür trieb er von der eigenen Bevölkerung durch hohe
Steuern ein. Hinzu kamen die Steuern, die die Israeliten an die
römische Besatzungsmacht entrichten mussten und die Abgaben
für den Tempel. Viele Menschen waren nicht in der Lage, diese
mehrfache Steuerlast zu tragen. Sie mussten sich verschulden
und verloren dadurch Haus und Hof. Ihre Söhne, die keine Zu-
kunftsperspektive für sich sahen, flohen oft in die Berge Galiläas
und schlossen sich den Zeloten an, einer Gruppe von Unter-
grundkämpfern gegen die Römer und ihre Helfershelfer. Der
Kampf der Zeloten gegen die Römische Herrschaft hatte noch
einen religiösen Hintergrund: Die Juden konnten sich nicht da-
mit abfinden, von einer heidnischen Macht regiert zu werden.
Die Verehrung des Kaisers als göttliche Person, die von seinen
Untertanen verlangt wurde, widersprach dem ersten Gebot23 und
war ihnen zuwider. Galiläa tat sich besonders hervor im Wider-
stand gegen Rom. In den ersten zwölf Lebensjahren von Jesus
gab es in seiner Heimat zwei große Aufstände gegen die Römer.
Beide wurden blutig niedergeschlagen. Jedes Mal wurden Tau-
sende von Aufständischen entlang den Straßen von Galiläa an
Kreuze genagelt. Die Hauptstadt Galiläas, Sepphoris, wurde zer-
stört und niedergebrannt. Man konnte von Nazareth aus den ro-

23
Ich bin der Herr dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.
Seite 28

ten Schein der Flammen am Himmel sehen. Die schrecklichen


Bilder von den gekreuzigten Landsleuten und brennenden Ort-
schaften schürten den Hass der Bürger Galiläas gegen Rom noch
mehr. Auch Jesus hat als Kind und Heranwachsender dies alles
mitbekommen.
Als er etwa achtundzwanzig Jahre alt war, wurde der berüchtigte
Pilatus römischer Gouverneur über Israel. Er war ein unbere-
chenbarer Herrscher und schreckte nicht vor grausamen Taten
zurück. So hat er einmal sich über Pilger geärgert, die aus Gali-
läa nach Jerusalem gekommen waren. Er ließ sie kurzerhand
umbringen, als sie dabei waren, ihr Opfer im Tempel darzubrin-
gen. Überall im Volk wurde der Ruf nach einem Erlöser, dem
Messias24, laut. Die Israeliten hofften, er würde die Römer aus
dem Land verjagen und das Reich Israel, wie es in seiner Blüte-
zeit unter David war, wiederherstellen. Jesus hat zu diesem Zeit-
punkt sicherlich schon von seiner Berufung zum Messias ge-
wusst. Aber er ließ sich nicht dazu verleiten, einen Aufstand ge-
gen die Römer anzuzetteln. Aus dem Gespräch mit seinem
himmlischen Vater wurde ihm klar, dass es nicht seine Bestim-
mung war, sein Volk durch Gewaltanwendung von den Römern
zu befreien. Die Botschaft, die ihm aufgetragen wurde, war eine
Botschaft der Liebe und Versöhnung. Hass und Rachsucht hatten
keinen Platz darin. Für dieses Ziel, die Versöhnung der
Menschen mit Gott, war er sogar bereit, sein Leben hinzugeben.

24
Messias (Hebräisch: Maschiach, Griechisch: Christós – daraus abgeleitet
"Christus"), bedeutet "Gesalbter". Im alten Israel wurden Könige und
Propheten bei ihrer Amtseinsetzung mit Öl gesalbt. Später bekam dieser
Begriff eine spezielle Bedeutung: Ein von den Propheten im Alten Testament
verheißener königlicher Heilsbringer.
Seite 29

Kapitel 4: Jesus lässt sich im Jordan taufen


Zur gleichen Zeit, als Jesus diese Gewissheit über seine Sendung
bekam, trat Johannes der Täufer am Jordan auf, in der Nähe der
Stadt Jericho. Lukas macht in seinem Evangelium genaue Zeit-
angaben über dieses Ereignis25: "Im fünfzehnten Jahr der Herr-
schaft des Kaisers Tiberius, als Pontius Pilatus Statthalter in Ju-
däa war und Herodes Landesfürst von Galiläa und sein Bruder
Philippus Landesfürst von Ituräa und der Landschaft Trachoni-
tis und Lysanias Landesfürst von Abilene, als Hannas und
Kaiphas Hohepriester waren, da geschah das Wort Gottes zu Jo-
hannes, dem Sohn des Zacharias, in der Wüste. Und er kam in
die ganze Gegend um den Jordan und predigte die Taufe der
Buße zur Vergebung der Sünden." Mit diesen Angaben über die
maßgeblichen Autoritäten in Rom und Israel in jener Zeit macht
Lukas klar: Das Wirken von Jesus ist kein Mythos. Es ist ein
genau datierbares historisches Ereignis.
Viele Menschen aus Jerusalem, Judäa und der ganzen Gegend
am Jordan kamen zu Johannes. Sie bekannten öffentlich ihre
Sünden und ließen sich taufen. Die Nachricht, dass am Jordan
ein mächtiger Prophet aufgetreten war, verbreitete sich wie ein
Lauffeuer überall in Israel.
Die führenden Männer der Juden in Jerusalem schickten eine
Abordnung zu Johannes, um ihn zu fragen, ob er sich für den
erwarteten Messias, den Retter Israels, hielte. Er aber verneinte
dies. Der Apostel Johannes berichtet über dieses Gespräch im
ersten Kapitel seines Evangeliums: "Ich bin nicht der Christus,
der von Gott versprochene Retter." "Wer bist du dann?", fragten

25
Lukas 3, 1-3
Seite 30

sie weiter. "Bist du Elia?26" Johannes verneinte auch das. "Bist


du der Prophet, den Mose uns angekündigt hat?" "Nein!", ent-
gegnete Johannes. "Dann sag uns doch, wer du bist. Welche Ant-
wort sollen wir denen geben, die uns hergeschickt haben?" Da
sagte Johannes: "Ich bin die Stimme, die in der Wüste ruft:
'Macht den Weg frei für den Herrn!' So hat es der Prophet Jesaja
schon angekündigt." Unter den Abgesandten waren auch Phari-
säer. Sie fragten Johannes nun: "Wenn du nicht der Christus,
nicht Elia und auch nicht der von Mose angekündigte Prophet
bist, mit welchem Recht taufst du dann?" Darauf erwiderte Jo-
hannes: "Ich taufe mit Wasser. Aber mitten unter euch lebt schon
der, auf den wir warten. Ihr kennt ihn nur noch nicht. Er kommt
nach mir – und ich bin nicht einmal würdig, ihm die Schuhe aus-
zuziehen" Dieses Gespräch führten sie in Betanien, einem Dorf
östlich des Jordan, wo Johannes taufte.
Johannes der Täufer hat sich nicht angemaßt, der Messias zu
sein. Er sah seine Aufgabe darin, den Weg für Jesus zu bereiten.
Sein Auftritt am Jordan war für Jesus ein Zeichen, aus seiner
Heimat aufzubrechen. Er hatte nun die Gewissheit: Jetzt ist
meine Zeit gekommen, an die Öffentlichkeit zu treten und mei-
nen Auftrag, zu dem mich der Vater berufen hat, wahrzunehmen.
Der erste Schritt auf diesem Weg führte ihn von Nazareth an den
Jordan bei Jericho, an die Stelle, wo Johannes taufte. Er wollte
sich wie alle anderen taufen lassen. Johannes sah Jesus kommen
und sprach: "Siehe, das ist Gottes Lamm, das die Sünde der Welt
trägt!" Und als Jesus sich von ihm taufen lassen wollte, wehrte
Johannes ab: "Ich hätte es nötig von dir getauft zu werden und

26
Elia war ein großer Prophet im Alten Testament. Gläubige Juden erwarteten
seine Rückkehr als Wegbereiter des Messias.
Seite 31

du kommst zu mir?" Jesus antwortete: "Lass es jetzt so gesche-


hen, denn wir müssen alles tun, was Gott will." Johannes wehrte
sich nicht länger und taufte Jesus. Dann öffnete sich der Him-
mel27 und der Heilige Geist kam sichtbar auf Jesus herab, anzu-
sehen wie eine Taube. Eine Stimme sagte vom Himmel her:
"Dies ist mein geliebter Sohn, über den ich mich von Herzen
freue."
Diese Taufe stand an der Schwelle zwischen dem bisherigen Le-
ben von Jesus in Nazareth, fern von den Augen der Öffentlich-
keit, und seinem öffentlichen Auftreten. Das Wort von Johannes,
"Siehe, das ist Gottes Lamm, das die Sünde der Welt trägt!", gab
Jesus noch einmal einen klaren Hinweis über seine Bestimmung.
Das Lamm, von dem Johannes hier spricht, war das Opfertier,
das die Juden als Sühne für ihre Schuld im Tempel opferten. Je-
sus sollte durch die Hingabe seines eigenen Lebens die Opfer,
die nach dem alten Bund vorgeschrieben waren, ein für alle Mal
ablösen. Die Menschen sollten ab jetzt nicht mehr durch Tierop-
fer, sondern durch ihn mit Gott versöhnt werden.
Das Herabkommen des Heiligen Geistes auf ihn in der Gestalt
einer Taube hatte auch eine tiefe Bedeutung. Die Taube war ein
Symbol für Frieden und Sanftmut. Jesus wurde mit dem Heili-
gen Geist am Anfang seines Dienstes erfüllt, nicht um politische
Macht zu demonstrieren. Er sollte vielmehr den Menschen Frie-
den mit Gott und untereinander bringen.
Die Stimme Gottes aus dem Himmel, "Dies ist mein geliebter

27
Der Himmel ist in der Sprache der Bibel kein geografischer Ort, sondern
die für uns unsichtbare Welt Gottes. In der englischen Sprache unterscheidet
man deshalb zwischen sky und heaven.
Seite 32

Sohn, über den ich mich von Herzen freue", bestätigte Jesus in
seiner Entscheidung, diesen schweren Weg bis ans Kreuz zu ge-
hen und gab ihm das Versprechen, dass Gott zu ihm halten wird.
Trotz der göttlichen Vollmacht, die Jesus bei seiner Taufe erhielt,
blieb er immer bescheiden und lebte in der völligen Abhängig-
keit von seinem Vater. Er ließ sich, solange er auf Erden lebte,
von Gottes Stimme leiten und sich den nächsten Schritt zeigen.
Es war diese Stimme, die ihn dann nach seiner Taufe in die
Wüste führte, wo er eine harte Bewährungsprobe zu bestehen
hatte, bevor er seine Aufgabe in der Öffentlichkeit wahrnehmen
konnte.
Seite 33

Kapitel 5: Die Versuchung in der Wüste


Nach seiner Taufe – so erzählen uns die Evangelisten28 – wurde
Jesus vom Geist Gottes in die Wüste geführt, wo er vom Teufel
versucht werden sollte. Gemeint ist hier die Wüste Juda, die sich
von der fruchtbaren Ebene bei Jericho als kahles Gebirge bis fast
nach Jerusalem ausdehnt. Nachdem er vierzig Tage und Nächte
lang gefastet hatte, war er sehr hungrig. Da trat der Versucher an
ihn heran und sagte: "Wenn du Gottes Sohn bist, dann befiehl
doch, dass diese Steine zu Brot werden!"
Die Zahl vierzig erinnert an einige markante Ereignisse in der
Geschichte Israels. Mose fastete vierzig Tage auf dem Berg Si-
nai, bevor Gott ihm die Zehn Gebote übergab. Der Prophet Elia
ging vierzig Tage durch die Wüste bis zum Berg Horeb auf Sinai,
wo Gott ihm begegnete. Das Volk Israel verbrachte vierzig Jahre
in der Wüste auf dem Weg von Ägypten in das gelobte Land.
Die persönliche Erfahrung von Jesus in der Wüste ist also fest in
der religiösen Tradition seines Volkes verankert. Trotzdem,
kommt mir die Frage in den Sinn: Warum schickt Gott Jesus,
den er bei dessen Taufe seinen geliebten Sohn nannte, gleich da-
nach in eine Wüste, in der es weder schattenspendende Bäume
noch etwas Essbares gab, und dies nicht nur für eine kurze Zeit,
sondern für vierzig Tage?
Mir fällt dazu ein – zugegebenermaßen etwas hinkender – Ver-
gleich aus meiner eigenen Schulzeit im Libanon ein. Mein Bru-
der und ich gehörten schon als junge Teenies der Pfadfinder-
gruppe in unserer Schule an. In den Sommerferien machten wir
mit unseren Freunden längere Wandertouren in den Bergen des

28
Matthäus 4, 1-11; Markus 1, 12-13; Lukas 4, 1-13
Seite 34

Libanon. Unser Vater gab uns damals nur wenig Geld mit auf
den Weg. Nicht dass er geizig gewesen wäre, aber er wollte uns
abhärten. Wir sollten lernen, dass wir mit knappen Ressourcen
zurechtkommen können und nicht so schnell vor Schwierigkei-
ten kapitulieren müssen. Unsere Mutter machte sich große
Sorgen um uns, bis wir wieder zu Hause waren. Wir waren aber
im Nachhinein dankbar für diese Erfahrungen. Sie statteten uns
mit einem gesunden Maß an Selbstvertrauen aus, um uns später
den Herausforderungen des Lebens zu stellen. So kann ich mir
vorstellen, dass Gott diese harte Bewährungsprobe Jesus zumu-
tete, um ihn auf die späteren Prüfungen in seinem Leben vorzu-
bereiten.
Nun kommt die nächste schwierige Frage: Wer ist dieser Teufel,
von dem hier die Rede ist? In der religiösen Kunst des Mittelal-
ters wird er oft als ein hässliches Wesen mit Hörnern, Bocksbei-
nen und einem Pferdefuß dargestellt. Die Bibel sagt uns über-
haupt nicht, wie der Satan aussieht. Sie beschreibt nur sein We-
sen und sein Wirken. Er begegnet uns schon auf den ersten Sei-
ten der Bibel, in der Geschichte von Adam und Eva, als kluger
Stratege. Die biblische Schöpfungserzählung schließt mit den
Worten: "Gott sah alles an, was er geschaffen hatte und siehe, es
war gut." Ganz unvermittelt erscheint dann der Versucher in der
Gestalt der Schlange und verführt Adam und Eva, gegen Gott zu
rebellieren. Woher kam er und wer hat ihn geschaffen? Die Bibel
macht keine eindeutigen Angaben darüber. Sie spricht von einer
bösen Macht als Person und als Gegenspieler Gottes. Jesus sagt
von ihm: Er ist ein Mörder und Lügner von Anfang an und ein
Vater der Lüge.
Die Frage nach dem Bösen ist heute so aktuell und bedrängend,
Seite 35

so ungelöst, wie in allen Jahrhunderten der Menschheitsge-


schichte. Das Böse ist, nach dem biblischen Verständnis, alles
was gegen Gottes Willen geschieht. Alles, was Leben kaputt
macht und Beziehungen zerstört, was Hass und Unfrieden stiftet.
Unsere aufgeklärte Welt kann heute mit der Idee vom Bösen als
Person nicht viel anfangen. Sie hat andere Erklärungen dafür,
dass Menschen einander Leid zufügen: eigene Gewalterfahrung
in der Kindheit, negative Einflüsse der Gesellschaft oder krank-
hafte Veränderungen in der Psyche. Vieles, das in unserer Welt
an Bösem geschieht, lässt sich auf dieser menschlichen Ebene
erklären. Wir müssen nicht immer dem Teufel diese Dinge an-
lasten. Aber kann man dadurch auch erklären, dass ein zivilisier-
tes Volk, wie die Deutschen, sich von Hitler dazu verführen ließ,
unvorstellbare Verbrechen zu begehen? Dass Menschen sich an-
maßen, ein ganzes Volk auszurotten? Oder – wie es heute viel-
fach geschieht –, dass Eltern ihre eigenen Kinder missbrauchen
und ihre grausame Tat auf Videos festhalten, um sie später im
Internet zu veröffentlichen? Die Liste von Grausamkeiten, zu
denen wir Menschen fähig sind, ließe sich beliebig lange fortset-
zen. Es scheint, als ob eine dämonische Macht hier am Werk ist,
die es darauf anlegt, Gottes Schöpfung ins Chaos zu stürzen. Der
Mensch wird dadurch nicht der Verantwortung für sein Handeln
entbunden, denn es bleibt ihm freigestellt, auf welche Stimme er
hört und für welchen Weg er sich entscheidet.
Die Geschichte der Versuchung von Jesus in der Wüste erinnert
an die Versuchung des ersten Menschenpaares im Garten Eden.
Adam und Eva fielen in der Prüfung durch, obwohl sie keinem
äußeren Stress ausgesetzt waren. Anders als in der Wüste, gab
es im Garten Eden reichlich Nahrung für sie. Jesus war in einer
Seite 36

viel schwierigeren Lage, nachdem er schon vierzig Tage und


Nächte in der Wüste gefastet hatte. Er war körperlich ge-
schwächt und litt unter Hunger. Satan nutzt diese Lage aus, um
ihn zu Fall zu bringen: "Wenn du wirklich Gottes Sohn bist, dann
befiehl doch, dass diese Steine zu Brot werden!" Der Versucher
verfolgt die gleiche Taktik wie bei Adam und Eva: Zweifel an
Gottes Zusagen zu nähren. "Wenn es stimmt, was Gott dir bei
deiner Taufe zugesagt hat, dass du sein Sohn bist, dann wäre es
doch ein Leichtes für dich, Steine in Brot zu verwandeln. Be-
weise es doch dir selbst und den anderen durch ein Wunder.
Wenn du in der Lage bist, die Brotfrage zu lösen, dann wirst du
die Menschen im Handumdrehen für dich gewinnen. Das wäre
der echte Nachweis für einen Erlöser der Welt, dass er ihr Brot
gibt und dem Hunger ein Ende setzt."
Jesus antwortet: "Es steht in der Heiligen Schrift: Der Mensch
lebt nicht allein von Brot, sondern von einem jeden Wort, das
aus dem Mund Gottes hervorgeht!"29 Das will heißen: Der
Mensch wird nicht alleine durch die Befriedigung seiner materi-
ellen Bedürfnisse glücklich, sondern durch die vertrauensvolle
Beziehung zu seinem Schöpfer. Der Marxismus trat mit dem An-
spruch auf, die Brotfrage zu lösen. Er versprach Wohlstand für
alle Menschen, die sich seiner Herrschaft unterordneten. Dafür
mussten sie ihre persönliche Freiheit und ihren Glauben an Gott
ihm opfern. Statt des versprochenen Paradieses für Arbeiter und
Bauern führte der Marxismus am Ende zum wirtschaftlichen
Niedergang der Länder, in denen er herrschte. Er hinterließ eine
geistig und geistlich ausgehungerte Bevölkerung, die nach Ori-
entierung und Wertmaßstäben suchte. Damit hat er selber den

29
5. Mose 8,3
Seite 37

Beweis für die Richtigkeit von Jesu Worten geliefert: Der


Mensch lebt nicht vom Brot allein.
Die zweite Versuchung, die Jesus widerfährt, ist etwas schwieri-
ger zu verstehen. Manche Ausleger fassen das als eine Art Vision
auf. Der Teufel führt Jesus nach Jerusalem und stellt ihn auf die
höchste Stelle des Tempels: "Wenn du Gottes Sohn bist, dann
spring hinunter", forderte er Jesus auf. "In der Schrift steht doch:
Gott wird dir seine Engel schicken. Sie werden dich auf Händen
tragen, so dass du dich nicht einmal an einem Stein stoßen
wirst!"
Satan kennt sich auch in der Heiligen Schrift sehr gut aus und
kann ihre Worte zitieren, wenn sie seinem Zweck dienen. Er
weist Jesus auf ein Wort aus Psalm 91 hin und sagt: "Es wird dir
schon nichts passieren. Gott hat doch verheißen, dich zu schüt-
zen, selbst wenn du dich von einer hohen Mauer in die Tiefe
hinabstürzen solltest. Stelle ihn nun auf die Probe. Er soll bewei-
sen, dass er wirklich zu seinem Wort steht."
Bei dieser zweiten Versuchung geht es darum, Gott auf die Probe
zu stellen. Er wird zum Objekt degradiert, mit dem wir unsere
Labortests durchführen können, um herauszufinden, ob man ihm
vertrauen kann.
Jesus antwortet auf diese zweite Versuchung wieder mit einem
Wort aus der Schrift: "Es steht auch geschrieben: Du sollst den
Herrn, deinen Gott nicht versuchen."30 Jesus wurde später von
Skeptikern oft mit dem Wunsch konfrontiert: "Zeige uns ein
Wunder, damit wir an dich glauben." Aber er ist nie darauf ein-
gegangen, weil er wusste: Glaube, der sich auf Wunder gründet,

30
5. Mose 6,16
Seite 38

hat weder Tiefe noch Bestand.


Der Versucher nimmt einen dritten und letzten Anlauf, Jesus zu
Fall zu bringen: "Schließlich führte ihn der Teufel auf einen sehr
hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt mit ihrer ganzen
Pracht. Das alles gebe ich dir, wenn du vor mir niederfällst und
mich anbetest."
Bei dieser dritten und letzten Versuchung geht es um Macht.
Macht an sich muss ja nicht böse sein. Man kann sie auch für
gute Zwecke einsetzen. Nach seiner Auferstehung versammelte
Jesus seine Jünger und sagte ihnen: "Mir ist gegeben alle Macht
im Himmel und auf Erden." Diese Macht wurde ihm von Gott
verliehen und sie setzt das Kreuz voraus. Jesus ist den Weg in
die Tiefe gegangen, den Weg des Dienens und der Lebenshin-
gabe. Darum kann Gott ihm diese Autorität verleihen, weil er
weiß, dass er sie nicht missbrauchen wird.
Satan schlägt Jesus einen einfacheren Weg zur Macht vor. Er soll
sich die Schmach und die Schmerzen des Kreuzes ersparen und
sich gleich zum König der Welt krönen lassen. Satan bietet Jesus
unbegrenzte Macht an über alle Reiche der Welt. Damit hätte er
seine Ziele erreichen können. Der Preis dafür: Er muss vor Satan
niederfallen und ihn anbeten. Das bedeutet nichts anderes als die
Absage an Gott und den Verrat an den Auftrag, den er in der Welt
zu erfüllen hatte. Jesus durchschaute diese Absicht Satans und
erteilte ihm eine klare Abfuhr: "Weg mit dir, Satan, denn es heißt
in der Schrift: Bete allein den Herrn, deinen Gott, an und diene
nur ihm!"
Macht hat schon immer eine große Faszination auf Menschen
ausgeübt. Auch heute lassen sich politische Führer in vielen Län-
dern mit einer großen Machtfülle ausstatten. So fällt es ihnen
Seite 39

leicht, ihre Gegner auszuschalten und ihre Vorstellungen durch-


zusetzen. Solche Führer werden von ihren Untertanen als Heils-
bringer begeistert gefeiert. Am Ende aber führen sie ihr Volk
meistens ins Unglück. Von ihnen sprach Jesus warnend zu sei-
nen Jüngern:31 "Ihr wisst, wie die Großen und Mächtigen dieser
Welt ihre Völker unterdrücken. Wer die Macht hat, nutzt sie rück-
sichtslos aus. Aber so soll es bei euch nicht sein! Im Gegenteil:
Wer groß sein will, der soll den anderen dienen, und wer der
Erste sein will, der soll sich allen unterordnen. Denn auch der
Menschensohn32 ist nicht gekommen, um sich bedienen zu las-
sen. Er kam, um zu dienen und sein Leben als Lösegeld hinzuge-
ben, damit viele Menschen aus der Gewalt des Bösen befreit
werden."
Jesus kannte die Gefahren einer unbegrenzten Machtfülle und
darum hat er, allen Verlockungen des Versuchers zum Trotz, be-
wusst darauf verzichtet. Er entschied sich für einen anderen
Weg: dienen statt herrschen, das eigene Leben hingeben statt
über Leichen zu gehen, um seine Ziele durchzusetzen.
Leider ist die christliche Kirche im Laufe ihrer Geschichte oft
genug diesem Vorbild von Jesus nicht gefolgt. Sie ist der Verlo-
ckung, Macht auszuüben, erlegen und hat damit schwere Schuld
auf sich geladen: Ketzerprozesse, Hexenverbrennungen und
Kreuzzüge sowie das dunkle Kapitel des Judenhasses. Zweitau-
send Jahre Kirchengeschichte zeigen nicht nur Licht- sondern
auch viele Schattenseiten. Sie sind auch geprägt vom Streben

31
Markus 10, 42-45
32
Jesus hat oft von sich als den "Menschensohn" gesprochen. Mit diesem
Titel knüpfte er an eine alttestamentliche Messiaserwartung, deren Ursprung
sich im Buch des Propheten Daniel befindet (Daniel 7,13).
Seite 40

nach Macht und Machtmissbrauch. Dies alles geschah im Na-


men des Jesus von Nazareth. Durch diese Taten hat die Kirche
nicht nur ihren eigenen Ruf beschädigt, sondern den christlichen
Glauben in Misskredit gebracht.
Seite 41

Kapitel 6: Jesus kehrt nach Galiläa zurück


Der Umzug nach Kapernaum33
Jesus kehrte nach seiner Taufe und dem vierzigtägigen Aufent-
halt in der Wüste nach Galiläa zurück. Vor seiner Rückkehr hatte
er schon den Plan gefasst, von Nazareth wegzuziehen. Um sich
seiner neuen Aufgabe widmen zu können, musste er eine breite
Öffentlichkeit erreichen. Das kleine, abgelegene Nazareth eig-
nete sich nicht dazu. Er musste in eine größere Stadt ziehen, in
deren Straßen das Leben pulsierte. Seine Wahl für den neuen
Wohnort fiel auf Kapernaum am Nordwestufer des Sees Geneza-
reth. Kapernaum war ein Grenzort und es herrschte dort um die
Zeitenwende ein reger Handelsverkehr. Die Stadt lag an der
Straße von Syrien an das Mittelmeer und darüber hinaus nach
Ägypten.
Einige von den jungen Männern, die Jesus in seine Nachfolge
berufen hatte, waren Fischer und stammten aus Kapernaum. Zu
ihnen gehörten die beiden Brüderpaare Johannes und Jakobus,
Petrus und Andreas, sowie Philippus. Das war ein weiterer
Grund, der Jesus die Wahl von Kapernaum als neuen Wohnort
nahegelegte. Mit ihm zogen auch seine Mutter und seine vier
Brüder um. Seine Schwestern waren offenbar bereits verheiratet
und blieben mit ihren Familien in Nazareth. Eine Möbelspedi-
tion stand natürlich nicht zur Verfügung für den Umzug. Esel
waren die Transportmittel der damaligen Zeit. Jesus und seine
Angehörigen packten ihre Habseligkeiten zusammen, beluden
ihre Esel damit und verließen Nazareth. Wenn sie die Reise am

33
Der Hebräische Name für Kapernaum ist Kfar Nahum und bedeutet
Nahums Dorf
Seite 42

frühen Morgen antraten, dann erreichten sie Kapernaum am


Abend desselben Tages und konnten ihr neues Zuhause einrich-
ten. Die Häuser in Kapernaum waren ebenso schlicht wie in Na-
zareth und wurden hier aus dem dunklen Basaltstein, das in je-
nem vulkanischen Gebiet vorkam, gebaut. Eine Außentreppe
führte zum flachen Dach, auf dem man sich an den Abenden der
heißen Sommertage aufhalten konnte. Eine kühle Brise blies
vom Mittelmeer herüber und machte den Aufenthalt auf dem
Dach sehr angenehm.
Während ich diese Zeilen schreibe, kann ich aus dem Fenster
beobachten, wie neue Nachbarn in das Haus neben uns einzie-
hen. Drei Möbeltransporter werden für diesen Umzug benötigt.
Die Möbelpacker brauchen zwei Tage für das Ausladen der
Fahrzeuge. Und ich denke mir dabei: Wie hat sich die Welt seit
der Zeit von Jesus verändert! Ihm und seiner Familie genügten
ein paar Esel für den Umzug. Vielleicht könnten wir von ihm
lernen, etwas einfacher zu leben und mit weniger auszukommen.
Das würde uns von manch unnötiger Last und Sorge befreien.
Jesus war nach seiner Ankunft in Kapernaum ein weitgehend un-
bekannter Mann. Doch es dauerte nicht lange, bis sein Name in
aller Munde war. Die Stadt hatte eine schöne Synagoge, für de-
ren Bau der römische Hauptmann das Geld gestiftet hatte34.
Gleich am ersten Sabbat nach seiner Ankunft besuchte Jesus
diese Synagoge und saß dort mit seinen Jüngern. Als der Syna-
gogenvorsteher nach der Schriftlesung fragte, ob jemand von
den anwesenden Männern etwas dazu sagen möchte, ergriff Je-
sus das Wort. Der Evangelist Markus beschreibt die die Wirkung

34
Siehe Lukas 7,5
Seite 43

seiner Worte auf die Zuhörer35: "Die Zuhörer waren von seinen
Worten tief beeindruckt. Denn Jesus lehrte sie mit einer Voll-
macht, die Gott ihm verliehen hatte – ganz anders als ihre
Schriftgelehrten. In der Synagoge war ein Mann, der von einem
bösen Geist beherrscht wurde. Der schrie: 'Was willst du von
uns, Jesus aus Nazareth? Bist du gekommen, um uns zu vernich-
ten? Ich weiß, wer du bist: Du bist der Heilige, den Gott gesandt
hat!' Jesus befahl dem bösen Geist: 'Schweig und verlass diesen
Menschen!' Da zerrte der böse Geist den Mann hin und her und
verließ ihn mit einem lauten Schrei. Darüber erschraken und
staunten alle in der Synagoge; einer fragte den anderen: 'Was
hat das zu bedeuten? Dieser Jesus verkündet eine neue Lehre,
und das mit Vollmacht! Seinen Befehlen müssen sogar die bösen
Geister gehorchen!' Schnell wurde Jesus in ganz Galiläa be-
kannt."
Dieser erste Auftritt in der Synagoge machte Jesus in der ganzen
Stadt bekannt. Nach dem Gottesdienst besuchte Jesus das Haus
seines Jüngers, Simon Petrus. Dessen Schwiegermutter lag mit
einer fiebrigen Erkrankung im Bett. Jesus fasste sie an und rich-
tete sie auf. Das Fieber verließ sie augenblicklich. Sie konnte
aufstehen und den Gästen eine Mahlzeit zubereiten. Am Abend,
als es kühl wurde, versammelten sich die Bewohner der Stadt
vor dem Haus des Petrus und brachten ihre Kranken mit, damit
Jesus sie berührte und heilte.
Früh am Morgen verließ Jesus die Stadt. Er suchte einen einsa-
men Ort auf, um zu beten und Weisung von seinem himmlischen
Vater für die nächsten Schritte zu empfangen. Als Petrus und die

35
Markus 1, 21-28
Seite 44

anderen Jünger am Morgen merkten, dass er nicht im Haus war,


suchten sie nach ihm, bis sie ihn fanden und Petrus sagte fast
vorwurfsvoll zu Jesus: "Warum bist du weggegangen? Alle su-
chen dich." Die Begeisterung über die Taten von Jesus am Vor-
abend hatte die Jünger ergriffen. Sie waren stolz, dass sie zu ihm
gehörten, denn etwas von seiner Bekanntheit färbte auch auf sie
ab. Jesus sollte die Gunst der Stunde nutzen und eine Volksbe-
wegung in Kapernaum entfachen. Doch Jesus enttäuschte ihre
Erwartungen: "Wir müssen auch noch in die umliegenden Ort-
schaften gehen, um dort die rettende Botschaft zu verkünden.
Das ist meine Aufgabe."
Von Kapernaum aus besuchte Jesus viele benachbarte Ortschaf-
ten: "Und er zog umher in ganz Galiläa, lehrte in ihren Synago-
gen und predigte das Evangelium von dem Reich36 und heilte
alle Krankheiten und alle Gebrechen im Volk. Und die Kunde
von ihm erscholl durch ganz Syrien. Und sie brachten zu ihm
alle Kranken, mit mancherlei Leiden und Qualen behaftet, Be-
sessene, Mondsüchtige und Gelähmte; und er machte sie ge-
sund. Und es folgte ihm eine große Menge aus Galiläa, aus den
Zehn Städten, aus Jerusalem, aus Judäa und von jenseits des
Jordans."37
Jesus war schon binnen kurzer Zeit nach seinem ersten
öffentlichen Auftreten ein im ganzen Land bekannter Rabbi. Die
Krankenheilungen und seine eindrucksvollen Predigten zogen
Menschen sogar aus dem fernen Jerusalem an.

36
Reich Gottes: siehe dazu die Erklärungen im Kapitel unter der Überschrift:
Was hat Jesus gelehrt?
37
Matthäus 4, 23-25
Seite 45

Die Berufung der Jünger


Eine der ersten Handlungen von Jesus nach seiner Rückkehr in
die Heimat war, einen kleinen Kreis von Jüngern zu berufen.
Jünger waren damals die Schüler der religiösen Lehrer, der Rab-
bis. Das Ziel eines Rabbis war, seinen Schülern biblisches Wis-
sen zu vermitteln und sie durch eine enge Lebensgemeinschaft
zu prägen. Sie sollten später das, was sie bei ihrem Lehrmeister
lernten und sahen, selber vorleben und an andere weitergeben.
Jesus hat Zeit seines Lebens sein Wirken auf Israel beschränkt:
"Ich bin gesandt zu den verlorenen Schafen auf dem Hause Is-
rael." Abgesehen von kurzen Abstechern nach Samarien und in
das Gebiet von Sidon und Tyrus, hielt sich Jesus an diese Strate-
gie. Er wusste, dass ihm nur drei Jahre für sein öffentliches Wir-
ken zur Verfügung standen und wollte sich nicht verzetteln. Die
weitere Ausbreitung seiner Botschaft über die Grenzen Israels
hinaus sollte dann die Aufgabe der Jünger sein. Darum hat er so
viel Zeit in sie investiert. Man kann sich allerdings über die Aus-
wahl, die er bei der Berufung der Jünger traf, ganz schön wun-
dern. Sie waren weder gebildet noch besonders qualifiziert. Ei-
nige von ihnen – Petrus und sein Bruder Andreas, sowie die Brü-
der Jakobus und Johannes – waren Fischer. Die Geschichte ihrer
Berufung durch Jesus steht im Evangelium nach Matthäus38:
"Als nun Jesus am Galiläischen Meer entlangging, sah er zwei
Brüder, Simon, der Petrus genannt wird, und Andreas, seinen
Bruder; die warfen ihre Netze ins Meer; denn sie waren Fischer.
Und er sprach zu ihnen: Kommt, folgt mir nach! Ich will euch zu
Menschenfischern machen. Sogleich verließen sie ihre Netze

38
Matthäus 4,18-22
Seite 46

und folgten ihm nach. Und als er von dort weiterging, sah er
zwei andere Brüder, Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Jo-
hannes, seinen Bruder, im Boot mit ihrem Vater Zebedäus, wie
sie ihre Netze flickten. Und er rief sie. Sogleich verließen sie das
Boot und ihren Vater und folgten ihm nach."
Es war natürlich nicht die erste Begegnung, die Jesus mit diesen
vier jungen Männern hatte. Sie hatten schon mehr als einmal Ge-
legenheit gehabt, ihn zu hören und zu erleben und fühlten sich
zu ihm hingezogen. Sie spürten: Dieser Mann ist kein gewöhn-
licher Rabbi. Darum waren sie bereit, alles hinter sich zu lassen
und sich auf das Abenteuer der Jüngerschaft einzulassen. Sie
mussten, wie Jesus schon vor ihnen, alles aufgeben, was einem
Menschen Sicherheit und Halt gab – Familie, Beruf und Heimat
– und zogen mit ihm durch das Land, ohne zu wissen, wo sie die
nächste Mahlzeit bekamen oder wo sie eine Unterkunft für die
nächste Nacht finden konnten. Von Jesus lernten sie, dass Gott
für ihre Bedürfnisse sorgt, wenn sie ihn und seine Anliegen an
die erste Stelle in ihr Leben setzten.
Ein anderer, der später in den Jüngerkreis berufen wurde, hieß
Matthäus. Er war ein Zollbeamter im Dienst der römischen Be-
satzung. Ein Kollaborateur, der vom eigenen Volk deshalb ver-
achtet und gemieden wurde. Ein weiterer hieß Simon mit dem
Beinamen Zelot, ein ehemaliger Widerstandskämpfer gegen die
römische Besatzung. Und schließlich gehörte auch Judas, der
ihn später verriet, zum Kreis der von Jesus Berufenen. Es war
eine bunt zusammengewürfelte Truppe, mit der man, mensch-
lich gesehen, keinen großen Staat machen konnte. Aber gerade
an ihnen wollte Jesus das Prinzip demonstrieren: "Meine Kraft
ist in den Schwachen mächtig." Nicht die Begabten werden be-
Seite 47

rufen, sondern die Berufenen werden begabt.


Jesus wird in seiner Heimatstadt abgelehnt
Jesus besuchte auf seinen Wanderungen durch Galiläa auch
seine frühere Heimatstadt Nazareth. Die Nachrichten von den
Krankenheilungen, die er andernorts vollbrachte, waren ihm vo-
rausgeeilt. Man munkelte schon darüber, ob er nicht der von Gott
verheißene Retter sein könnte. Und nun war Jesus nach einer
Abwesenheit von einigen Monaten wieder zurück in Nazareth.
Vielleicht hat er mehrere Tage dort verbracht und war bei seinen
Schwestern zu Gast. Viele Erinnerungen wurden in ihm wieder
wach. Hier hatte er die ersten dreißig Jahre seines Lebens ver-
bracht. Hier hatte er mit den anderen Kindern gespielt und war
zur Schule gegangen. Er kannte jede Gasse und jedes Haus.
Am Sabbat besuchte Jesus den Gottesdienst in der Synagoge, die
ihm seit der Kindheit vertraut war. Diesmal jedoch nicht als Zu-
hörer, sondern als Überbringer einer frohen Botschaft. Wie jeder
erwachsene Gottesdienstbesucher, konnte er, mit Erlaubnis des
Synagogenvorstehers, etwas aus der Heiligen Schrift vorlesen
und auslegen. Man überreichte ihm die Schriftrolle des Prophe-
ten Jesaja und Jesus las daraus einen Text aus dem einundsech-
zigsten Kapitel vor. Dieser Text spricht von dem kommenden
Messias, auf dem der Geist Gottes in besonderer Weise ruht:
"Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und
gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predi-
gen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden,
dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die
Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn." Jesus
hörte an dieser Stelle auf, gab die Schriftrolle dem Diener zurück
und setzte sich. Es war in der Synagoge üblich, dass man aus
Seite 48

Achtung vor dem Wort Gottes zur Schriftlesung aufstand. Da-


nach setzten sich alle wieder und hörten auf die Auslegung.
"Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn." So beschreibt
Lukas die gespannte Erwartung auf das, was Jesus zu diesem
Text sagen würde. Die Zuhörer sehnten sich danach, dass Gott
diese Verheißung, die er durch den Propheten Jesaja seinem Volk
gab, endlich erfüllt. Dass er sich den Armen, den Gefangenen
und Kranken wieder zuwendet und den Menschen in Israel ihre
Freiheit wiederschenkt. Jesus begann seine Auslegung mit dem
Satz: "Heute ist dieses Wort der Schrift vor euren Ohren erfüllt."
Die Zuhörer reagierten zuerst mit Zustimmung und Verwunde-
rung auf diese Worte. Als sie weiter darüber nachdachten, be-
griffen sie die Tragweite dieses "Heute" und ihre Zustimmung
verwandelte sich in Skepsis: Jesus erhebt den Anspruch, der ver-
heißene Messias zu sein. Das heißt, mit ihm kommt das Heil
Gottes zum Volk Israel. Das war der Punkt, an dem sie anfingen
zu murren. Sie tuschelten untereinander: "Ist das nicht Josefs
Sohn? Hat er nicht dreißig Jahre unter uns gelebt? Wir kennen
seine Mutter Maria und seine Brüder und Schwestern. Hier ging
er zur Schule und auf unseren Gassen spielte er mit anderen Kin-
dern. Nun war er gerade mal ein paar Monate abwesend und tritt
jetzt mit diesem Anspruch auf, der Messias zu sein."
Jesus erkannte die Gedanken seiner Zuhörer und sprach: "Sicher
werdet ihr mir das Sprichwort vorhalten: 'Arzt, hilf dir selbst!'
In Kapernaum hast du offenbar große Wunder getan. Zeig auch
hier, was du kannst! – Aber ich versichere euch: Kein Prophet
gilt etwas in seiner Heimat. Denkt doch an Elia! Damals gab es
genug Witwen in Israel, die Hilfe brauchten; denn es hatte drei-
einhalb Jahre nicht geregnet, und alle Menschen im Land hun-
gerten. Aber nicht zu ihnen wurde Elia geschickt, sondern zu ei-
Seite 49

ner nichtjüdischen Witwe in Zarpat bei Sidon. Oder erinnert


euch an den Propheten Elisa! Es gab zu seiner Zeit unzählige
Aussätzige in Israel, aber von ihnen wurde keiner geheilt.
Naaman, der Syrer, war der Einzige." Jesus erzählte Beispiele
aus dem Leben der beiden Propheten Elia und Elisa. Die Bot-
schaft dahinter lautete: Weil Israel im Unglauben verharrte,
schickte Gott seine Boten, Elia und Elisa, zu den heidnischen
Nachbarn. Sie erhielten Hilfe, während Israel leer ausging.
Das war eine ungeheure Provokation für die Zuhörer. Die Hei-
den waren nicht nur ihre, sondern auch Gottes Feinde. Von dem
Messias erwarteten sie, dass er Rache an ihnen übt. Jesus dage-
gen spricht davon, dass diese Feinde die volle Teilhabe am Heil,
das eigentlich dem Volk Israel zugedacht war, bekommen sollen.
Dass sie sogar den Vorzug vor Israel bekämen, sollte Israel in
seinem Unglauben verharren. Jesus war in ihren Augen nun ein
Verräter seines Volkes und ein Gotteslästerer, der den Tod ver-
diente.
Innerhalb von wenigen Minuten kippte die Stimmung gegen ihn.
Die andächtig zuhörenden Gottesdienstbesucher verwandelten
sich in einen wütenden Mob. Sie stürzten sich auf Jesus, beför-
derten ihn mit Gewalt zur Stadt hinaus und wollten ihn den Ab-
hang hinunterstürzen, um ihn anschließend durch Steinigung zu
töten. So bestrafte man damals Gotteslästerer in Israel. Jesus
entging dem Mordanschlag. Er ging mitten durch die Menge
hindurch und verließ danach für immer seinen Heimatort. Eine
traurige Erkenntnis nahm er mit: "Nirgendwo gilt ein Prophet
weniger als in seiner Heimat, bei seinen Verwandten und in sei-
ner eigenen Familie."
Das Wort aus dem Johannes Evangelium, "Er (Jesus) kam in sein
Seite 50

Eigentum und die seinen nahmen ihn nicht auf", erfüllte sich hier
auf traurige Weise. Die Menschen aus seinem Heimatort, die
ihm am nächsten standen, lehnten ihn ab. In dieser Ablehnung
und dem versuchten Anschlag auf Jesus wirft das Kreuz seinen
Schatten bereits voraus, als der aufgestachelte Mob vor dem rö-
mischen Statthalter Pilatus schrie: "Weg mit diesem, gib uns
Barabbas frei. Kreuzige ihn, kreuzige ihn!"
Seite 51

Kapitel 7: Besuch in Jerusalem


Die Vertreibung der Händler aus dem Tempel
Einige Wochen nach diesem Vorfall machte sich Jesus mit seinen
Jüngern auf den Weg nach Jerusalem, um dort das Passafest zu
feiern. Jerusalem war während des Passafestes überfüllt mit
Pilgern, die aus dem ganzen Land und aus der Diaspora im Aus-
land dorthin kamen, um gemeinsam im Tempel das Fest zu fei-
ern. Der erste Tempel, den König Salomo gebaut hatte, war im
Jahr 587 vor Christus zerstört worden als die Babylonier die
Stadt nach einer langen Belagerung eroberten. Viele Bewohner
Israels wurden damals als Kriegsgefangene nach Babylonien
verschleppt. Siebzig Jahre nach der Verschleppung durften die
Israeliten in die Heimat zurückkehren und bauten in mühsamer
Arbeit die Stadtmauern Jerusalems und den Tempel wieder auf.
Dieser neue Tempel war viel bescheidener als der erste, weil die
Heimkehrer nur über begrenzte finanzielle Mittel verfügten.
König Herodes der Große, der etwa vierzig Jahre vor der Geburt
von Jesus an die Macht kam, begann zwanzig Jahre nach seiner
Thronbesteigung mit dem Umbau des Tempels, der einem Neu-
bau gleichkam. Der neue Tempel wirkte in seiner Pracht auf zeit-
genössische Betrachter wie eines der Weltwunder. Die Plattform
des Tempelberges wurde aufgeschüttet und so künstlich vergrö-
ßert. Sie nahm etwa ein Fünftel der Fläche der Stadt ein. Um den
Tempel herum baute Herodes großzügige Vorhöfe und Hallen.
Die Pilger durften das eigentliche Tempelgebäude nicht betre-
ten. Das war den Priestern vorbehalten. Sie konnten sich aber in
den Vorhöfen und Hallen aufhalten. Das schönste Gebäude auf
dem Tempelplatz war die königliche Halle. Sie war dreißig Me-
ter hoch und doppelt so lang wie der Kölner Dom. Korinthische
Seite 52

Säulen im Innern teilten die Halle in drei mächtige Schiffe.


Doch gerade in und vor dieser Halle hatten sich Händler und
Geldwechsler breit gemacht. Viehhändler boten ihre Ware feil:
Tauben, Schafe und Ochsen. Tauben waren die Opfertiere der
Armen. Die Reichen konnten sich ein Schaf oder einen Ochsen
als Opfertier leisten. Diese wurden den Priestern gebracht und
am Altar vor dem eigentlichen Tempelgebäude Gott als Opfer
dargebracht.
Jesus betrat mit seinen Jüngern den Tempelplatz. Er sah sich um
und war über das Treiben der Viehhändler und Geldwechsler
entsetzt. Der Apostel Johannes war als Augenzeuge dabei und
beschreibt in seinem Evangelium, was dann geschah39: "Und er
machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle zum Tempel
hinaus samt den Schafen und Rindern und schüttete den Wechs-
lern das Geld aus und stieß die Tische um und sprach zu denen,
die die Tauben verkauften: Tragt das weg und macht nicht mei-
nes Vaters Haus zum Kaufhaus!" Die anderen drei Evangelisten
berichten ebenfalls über dieses Ereignis, geben die Worte von
Jesus in einer etwas anderen Formulierung wieder: "Mein Haus
soll ein Bethaus für alle Völker sein; ihr aber habt eine Räuber-
höhle daraus gemacht."40
Niemand wagte, sich Jesus in den Weg zu stellen. Weder die
Tierhändler und Geldwechsler, noch die Tempelpolizei, die für
die Einhaltung der Ordnung zuständig war. Die Geldwechsler
hoben ihre Münzen vom Fußboden auf und die Viehhändler lie-
fen ihren Tieren hinterher, um sie wieder einzusammeln. Dann

39
Johannes 2, 15-16
40
Markus 11, 17
Seite 53

verließen alle fluchtartig den Tempelplatz. Eine wohltuende


Ruhe, in der es wieder möglich war, sich dem Gebet zu widmen,
kehrte ein.
Dieser Vorfall wurde dem Hohen Rat in Jerusalem gemeldet. Als
oberste religiöse und weltliche Behörde war er für den Tempel
verantwortlich. Der Handel mit Tieren dort geschah mit seiner
Billigung. Wahrscheinlich verdienten die ehrwürdigen Mitglie-
der – Priester und Schriftgelehrte – mit am Verkauf. Die Mitglie-
der des Hohen Rates waren empört: "Was maßt sich dieser junge
Galiläer an, im Tempel so aufzutreten, als wäre er der Boss? Wir
müssen diesem Spuk ein Ende setzen." Sie trachteten danach,
ihn umzubringen, konnten aber ihren Plan nicht durchführen. Je-
sus war zu diesem Zeitpunkt beim Volk sehr beliebt.
Diese Geschichte passt nicht so gut in unser Bild vom friedfer-
tigen Sünderheiland, der keiner Fliege etwas zuleide tun kann.
Hier tritt ein furchtloser und starker junger Mann gegen eine
ganze Horde auf und treibt sie in die Flucht. Dieser Jesus, der
sich in großer Liebe und Geduld den Kranken und Armen zu-
wenden konnte, war kein konfliktscheuer Softie. Er stellte sich
mutig gegen Menschen, die den Glauben zu ihren Zwecken
missbrauchten und anderen dadurch den Blick für Gott verstell-
ten. Der Tempel war für ihn ein heiliger Ort. Er war dazu be-
stimmt, dass Menschen aus allen Nationen – nicht nur Juden –
zum Gebet zusammenkommen. Er war das Haus seines Vaters.
Jesus konnte nicht zulassen, dass dieser heilige Ort in ein Kauf-
haus verwandelt wurde.
Was er heute wohl sagen würde zum geschäftigen Treiben an
den "heiligen Orten" der Christenheit, wie etwa die Grabeskir-
che in Jerusalem, die Geburtskirche in Bethlehem und manche
Seite 54

Wallfahrtsorte?
Das nächtliche Gespräch mit Nikodemus
Jesus blieb nach diesem Ereignis im Tempel für einige Monate
in Jerusalem und Judäa. Nur wenige Details sind uns aus dieser
Zeit in Jerusalem überliefert. Das erste ist das nächtliche Ge-
spräch mit einem Pharisäer, der auch ein angesehenes Mitglied
des Hohen Rates war. Er hieß Nikodemus. Dieser Mann hatte
Jesus bei dessen öffentlichen Auftritten in Jerusalem beobachtet
und war offensichtlich zu einer anderen Meinung gelangt als
seine Kollegen im Hohen Rat, die in Jesus einen Ketzer sahen
und ihn so schnell wie möglich aus dem Verkehr ziehen wollten.
Nikodemus zeigte dagegen eine große Offenheit gegenüber Je-
sus und suchte eine Gelegenheit, ihn näher kennenzulernen. Er
wollte wissen, was es mit dem Reich Gottes, von dem Jesus oft
sprach, auf sich hat. Er hatte jedoch Angst, seine Kollegen im
Hohen Rat könnten davon erfahren und ihn als Abtrünnigen be-
handeln. Also beschloss er, Jesus bei Nacht aufzusuchen. Da
konnte er unentdeckt bleiben. Er schlich im Dunkeln durch die
Gassen Jerusalems, immer wieder hinter sich schauend, ob auch
keiner ihm folgte, bis er das Haus erreichte, in dem Jesus wäh-
rend seines Aufenthaltes in Jerusalem wohnte. Das Gespräch
zwischen den beiden Männern ist im dritten Kapitel des Johan-
nesevangeliums überliefert. Sehr wahrscheinlich war Johannes
ein Zeuge dieses Gesprächs, denn er hatte mit den anderen Jün-
gern Jesus auf seiner Reise nach Jerusalem begleitet.
Nikodemus eröffnete das Gespräch mit einem erstaunlichen Be-
kenntnis, das man von einem Mitglied des Hohen Rates nicht
erwarten konnte: "Rabbi – das heißt Lehrer –", sagte er, "wir
wissen, dass Gott dich als Lehrer zu uns gesandt hat. Denn nie-
Seite 55

mand kann die Wunder tun, die du vollbringst, wenn Gott sich
nicht zu ihm stellt." Das war keine Höflichkeitsfloskel. Ni-
kodemus erkannte in Jesus einen von Gott gesandten Lehrer und
fragte ihn: "Du sprichst oft davon, dass das Reich Gottes nahe
herbeigekommen ist. Auch wir Pharisäer sehnen uns danach.
Ich hätte gerne gewusst, was ich tun muss um in dieses Reich
hineinzukommen?"41
Jesus gab ihm eine Antwort, die fast wie ein Rätsel klingt: "Ni-
kodemus, du willst wissen, was du tun musst, um in das Reich
Gottes hineinzukommen? Ich sage es dir: Du musst von neuem
geboren werden." Nikodemus war ziemlich irritiert und fragte
zurück: "Wie soll das geschehen? Ich bin ein alter Mann. Soll
ich etwa wieder in den Mutterleib zurück und noch einmal auf
die Welt kommen?" Jesus versuchte zu erklären, was er mit die-
ser neuen Geburt meinte: "Nur wer durch Wasser und durch Got-
tes Geist neu geboren wird, kann in Gottes Reich kommen!"
Diese Worte von Jesus stehen im Widerspruch zu allem, was Re-
ligionen lehren. Der Grundtenor bei ihnen lautet: "Wenn Du
Gottes Gunst erringen willst, dann musst du seine Gebote halten
und die Verbote beachten. Du musst beten und fasten. Du musst
zu den Heiligen Stätten pilgern, um dort Gott anzubeten und ihm
Opfer darzubringen."
Jesus aber sagt: "Das Reich Gottes kann man nur als Geschenk
empfangen." Nikodemus hatte noch Schwierigkeiten, Jesus rich-

41
Diese Frage von Nikodemus steht nicht im Bibeltext, aber aus der Antwort,
die Jesus ihm gab, kann man schließen, dass er so oder ähnlich gefragt haben
muss. Eine andere mögliche Erklärung wäre, dass Jesus spürte, welche Frage
Nikodemus umtrieb und ihm eine Antwort gab, bevor dieser Gelegenheit
hatte, seine Frage zu stellen.
Seite 56

tig zu verstehen und fragte nach: "Wie kann dies – die neue Ge-
burt aus Wasser und Geist – aber geschehen?" Jesus antwortete
ihm: "Du bist ein anerkannter Lehrer in Israel und weißt das
nicht?" Die Rede von der neuen Geburt aus Wasser und Geist
stand bereits in der hebräischen Bibel. Nikodemus hätte es wis-
sen müssen. Der Prophet Hesekiel, der in der Zeit des babyloni-
schen Exils lebte, hatte eine Verheißung von Gott für das Volk
Israel empfangen: "Mit reinem Wasser besprenge ich euch und
wasche so die Schuld von euch ab, die ihr durch euren abscheu-
lichen Götzendienst auf euch geladen habt. Ich will euch ein
neues Herz und einen neuen Geist geben. Ja, ich nehme das ver-
steinerte Herz aus eurer Brust und gebe euch ein lebendiges
Herz. Mit meinem Geist erfülle ich euch, damit ihr nach meinen
Weisungen lebt, meine Gebote achtet und sie befolgt."
Da stand es also schwarz auf weiß in dieser Jahrhunderte alten
Prophetie: Gott wird sein Volk von ihren Sünden reinwaschen
und sie mit seinem Geist erfüllen, damit sie nach seinem Willen
leben und in sein Reich kommen können.
Das Gespräch zwischen Nikodemus und Jesus dauerte bis spät
in die Nacht. Jesus nahm sich Zeit für diesen ehrlichen und su-
chenden Mann. Bevor sich Nikodemus verabschiedete, gab ihm
Jesus ein Wort mit auf den Weg, das ihn noch lange beschäftigen
sollte: "Gott hat aus Liebe zu den Menschen seinen einzigen
Sohn für sie hergegeben. Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht
verloren gehen, sondern das ewige Leben haben. Gott hat näm-
lich seinen Sohn nicht zu den Menschen gesandt, um über sie
Gericht zu halten, sondern um sie zu retten." 42

42
Johannes 3,16-17
Seite 57

Konnte Nikodemus glauben, dass Jesus nicht nur ein begnadeter


Lehrer, sondern Gottes Sohn war, den Gott in die Welt sandte,
um sie zu retten?
Nikodemus machte sich auf den Weg zurück in sein Haus im
vornehmen Viertel der Stadt. Das Gespräch mit Jesus hatte ihn
aufgewühlt und er wollte in aller Ruhe darüber nachdenken. So-
weit wir wissen, gab es keine weiteren Treffen zwischen ihm und
Jesus. Aber er scheint einer der heimlichen Anhänger von dem
Rabbi aus Nazareth geworden zu sein. Dafür gibt es Hinweise
im Evangelium nach Johannes: Als Jesus im Herbst desselben
Jahres wieder in Jerusalem war, um das Laubhüttenfest dort zu
feiern, kam es erneut zu Auseinandersetzungen zwischen ihm
auf der einen Seite und den Mitgliedern des Hohen Rates und
den Pharisäern auf der anderen. In ihren Augen war Jesus ein
gefährlicher Ketzer. Darum schickten sie die Tempelpolizei, um
ihn zu verhaften. Nikodemus wagte es, als einziger aus dieser
Gruppe, sich für Jesus einzusetzen. Er forderte von seinen Kol-
legen, dass sie Jesus fair behandelten: "Seit wann verurteilt denn
unser Gesetz einen Menschen, ehe man ihn verhört und ihm
seine Schuld nachgewiesen hat?" Dafür zog er sich den Spott
seiner Kollegen zu: "Bist du etwa auch aus Galiläa? Du
brauchst nur in der Heiligen Schrift nachzulesen. Dann weißt
du: Kein Prophet kommt aus Galiläa!"
Das nächtliche Gespräch mit Jesus brachte eine Wende im Leben
von Nikodemus. Es wäre sicher nicht falsch anzunehmen, dass
er später zu den ersten Mitgliedern der christlichen Gemeinde in
Jerusalem gehörte.
Jesus und seine Jünger taufen am Jordan
Das Jordantal liegt im Süden Israels etwa 300 Meter unter dem
Seite 58

Meeresspiegel und es wird dort in den Sommermonaten uner-


träglich heiß. Deshalb blieb Jesus in Jerusalem bis die kühlere
Jahreszeit begann, bevor er mit seinen Jüngern an den Jordan
ging. Viele Menschen kamen zu ihm und ließen sich taufen. Je-
sus – so schreibt der Evangelist Johannes – hat nicht selber ge-
tauft. Er überließ diese Tätigkeit seinen Jüngern. Jesus war nun
kein Unbekannter in Jerusalem und Umgebung. Er trat während
seines Aufenthalts in Jerusalem oft im Tempel auf und lehrte
dort. Von Jerusalem aus besuchte er auch nahgelegene Ortschaf-
ten, wie Bethanien. Dort war er ein gern gesehener Gast im Haus
der beiden Schwestern Martha und Maria und ihrem Bruder La-
zarus. Als es sich herumsprach, dass er sich am Jordan aufhielt,
strömten viele Menschen dorthin, um ihn zu hören und sich tau-
fen zu lassen.
Auch Johannes, der Jesus etwa ein Jahr zuvor getauft hatte, be-
fand sich zur gleichen Zeit mit seinen Jüngern in der Nähe und
setzte seine Predigt- und Tauftätigkeit fort. Einige Jünger von
Johannes hörten von den Versammlungen, die Jesus abhielt, und
waren etwas irritiert darüber. Sie machten sich auf den Weg
dorthin, wo Jesus war, und sahen, dass der Andrang des Volkes
bei ihm viel mächtiger war als bei ihrem Meister Johannes. Das
gefiel ihnen gar nicht, dass Jesus ihnen nun die Schau stahl. Sie
liefen zurück zu Johannes und sagten ihm: "Rabbi, der bei dir
war jenseits des Jordans, von dem du Zeugnis gegeben hast,
siehe, der tauft, und alle kommen zu ihm." Sie erwarteten, dass
Johannes sich über die Konkurrenz durch den neuen Rabbi em-
pört zeigt. Doch Johannes sah in Jesus keinen Rivalen. Er wuss-
te, dass Gott ihn als Wegbereiter für Jesus gesandt hatte und
freute sich über das, was ihm berichtet wurde: "Ein Mensch kann
nichts nehmen, wenn es ihm nicht vom Himmel gegeben ist. Ihr
Seite 59

selbst seid meine Zeugen, dass ich gesagt habe: Ich bin nicht der
Christus, sondern ich bin vor ihm her gesandt. Wer die Braut
hat, der ist der Bräutigam; der Freund des Bräutigams aber, der
dabeisteht und ihm zuhört, freut sich sehr über die Stimme des
Bräutigams. Diese meine Freude ist nun erfüllt. Er muss
wachsen, ich aber muss abnehmen."43
Die Pharisäer erfuhren von dieser Geschichte. Wahrscheinlich
hatten sie ihre Späher ausgeschickt, um diese neue Bewegung zu
beobachten. Sie sahen darin eine Gelegenheit, Zwietracht zwi-
schen Johannes und Jesus zu säen. Als Jesus dies merkte, verließ
er die Gegend am Jordan und ging zurück nach Galiläa.44

43
Johannes 3, 27-29
44
Johannes 4,1
Seite 60

Kapitel 8: Der kurze Aufenthalt in Samarien


Jesus war im Frühjahr zum Passafest nach Jerusalem gekommen
und kehrte am Anfang des darauffolgenden Jahres durch
Samarien nach Galiläa zurück, obwohl ihm bewusst war, dass
Juden nicht sehr willkommen waren in Samarien.
Samariter und Juden waren sich nämlich spinnefeind. Diese
Feindschaft hatte tiefe Wurzeln in der Geschichte der beiden
Völker. Samarien lag zwischen Judäa und Galiläa am Westufer
des Jordans und hatte einmal zum Nordreich Israels gehört. Als
Israel im 8. Jahrhundert vor Christus von der damaligen Groß-
macht Assyrien erobert wurde, verschleppten die Assyrer den
größten Teil der jüdischen Bevölkerung und siedelten auf dem
frei gewordenen Land Menschen aus anderen Ländern an. Mit
dieser Taktik wollten sie ein Wiedererstarken der besiegten Be-
völkerung und damit zukünftige Aufstände verhindern. In Sama-
rien lebte nun eine Mischbevölkerung aus verbliebenen Israeli-
ten und Fremden. Sie verehrten sowohl den Gott Israels als auch
die Götter aus den verschiedenen Herkunftsländern.
Von den aus dem babylonischen Exil zurückgekehrten Juden
wurden die Samariter nicht als Israeliten anerkannt und ihr An-
gebot, beim Wiederaufbau des Tempels mitzuhelfen, wurde zu-
rückgewiesen. Die Samariter bauten dann ihr eigenes Heiligtum
auf dem Berg Garizim, weil sie in Jerusalem unerwünscht wa-
ren. Jesus ließ sich durch diese überkommenen Vorurteile nicht
beirren und entschied sich bewusst für den Weg durch Samarien.
Seite 61

Das Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen45


Der Fußmarsch vom Jordantal nach Samarien ist selbst für ge-
übte Wanderer anstrengend. Jesus und seine Jünger erreichten
als erste Ortschaft die Stadt Sychar. Am Rande dieser Stadt gab
es einen Brunnen, der vom Stammvater der Israeliten, Jakob,
ausgegraben worden war. Jesus war müde von der Reise. Er
setzte sich auf den Rand des Brunnens und schickte seine Jünger
in die Stadt, um Essen einzukaufen. Es war um die Mittagszeit.
Da kam eine Frau aus der Stadt. Sie trug einen Wasserkrug auf
ihrem Kopf, den sie mit Wasser füllen wollte. Es war recht merk-
würdig, dass sie sich in der heißen Mittagszeit alleine auf den
Weg dorthin machte. Die Frauen kamen sonst gemeinsam in den
frühen Morgenstunden oder abends, wenn es wieder kühl wurde,
um Wasser zu holen. Das Treffen am Brunnen war eine Gele-
genheit zu plaudern und die Neuigkeiten aus der Stadt zu erfah-
ren. Wenn diese Frau allein unterwegs war, dann konnte das nur
bedeuten, dass sie einen Grund hatte, die Begegnung mit den
anderen Frauen zu vermeiden.
Nach den damaligen Sitten hätte Jesus sich vom Brunnenrand
entfernen müssen, als die fremde Frau näherkam. Denn ein
Mann durfte sich nicht in der Nähe einer fremden Frau aufhal-
ten. Jesus blieb jedoch sitzen. Das war schon ein erster
Tabubruch, dem gleich ein zweiter folgte. Er blieb nicht nur sit-
zen, sondern sprach die Frau an: "Gib mir zu trinken." Sie ant-
wortete ganz irritiert: "Wie kannst du mich um etwas Wasser bit-
ten, obwohl du ein Jude bist und ich eine Samaritanerin?" Sie
reagierte höchst verwundert, dass Jesus sie ansprach und um

45
Diese Begegnung ist im Johannes Evangelium, Kapitel 4 überliefert.
Seite 62

Wasser bat. Es war für einen jüdischen Rabbi ungewöhnlich,


eine Frau anzureden. Ja, er sollte sie nicht einmal ansehen. Und
dann gab es doch zwischen Juden und Samaritern einen tiefen
Graben, dass selbst so eine harmlos scheinende Bitte fehl am
Platz war. Jesus wusste natürlich über all diese Hindernisse Be-
scheid, aber sie hielten ihn nicht davon ab, mit der Frau ins Ge-
spräch zu kommen. Er war an Menschen interessiert und suchte
das Gespräch mit ihnen. Gerade auch mit solchen, die ausge-
grenzt waren, weil sie nicht innerhalb der anerkannten Normen
lebten. Und das war bei dieser Frau offensichtlich der Fall.
Noch etwas anderes wird uns bei dieser Geschichte an Jesus
deutlich: Obwohl er von Gott mit der Vollmacht ausgestattet
war, Wunder zu tun und Kranke zu heilen, so war er andererseits
ganz und gar Mensch wie wir. Er war manchmal müde, litt unter
Hunger und Durst. Er zeigte sich in den Begegnungen mit ande-
ren nicht als der Überlegene, der immer etwas zu geben hat und
selber nicht auf andere angewiesen ist. Er trat oft als Bitsteller
auf, der selber etwas brauchte, das andere ihm geben konnten.
Dadurch gab er seinem Gegenüber ein Gefühl von Würde und
zeigte ihm Wertschätzung.
Obwohl die Frau eine scheinbar abweisende Antwort gab, ließ
Jesus nicht locker: "Wenn du wüsstest, wer der ist, der dich um
einen Trunk bittet, dann hättest du ihn gebeten und er hätte dir
lebendiges Wasser gegeben." Lebendiges Wasser meint frisches
Quellwasser im Gegensatz zu dem abgestandenen Wasser von
Zisternen. Die Frau war verblüfft über diese Worte: "Herr, du
hast doch nichts womit du schöpfen kannst – wer Wasser aus
dem Brunnen holen wollte, musste seinen eigenen Eimer mit-
bringen – und der Brunnen ist tief. Woher hast du denn lebendi-
Seite 63

ges Wasser? Bist du etwa größer als unser Vater Jakob, der uns
diesen Brunnen gegeben hat."
Jesus antwortete ihr in ziemlich rätselhaften Worten: "Wer dieses
Wasser trinkt, wird bald wieder durstig sein. Das Wasser, das ich
dir geben will, ist von einer ganz anderen Art. Wer davon trinkt,
der wird nie wieder Durst bekommen. Dieses Wasser wird in ihm
zu einer nie versiegenden Quelle." Die Frau verstand den Sinn
dieser Worte nicht. Lebendiges Wasser war in Israel ein Bild für
das Leben aus Gott, das die Bedürfnisse der Menschen nach
Liebe, Annahme und Geborgenheit stillen konnte. Sie aber
dachte an das Trinkwasser, das sie jeden Tag mühevoll aus dem
Brunnen holen musste. Sie bat Jesus nun: "Gib mir solches Was-
ser, dann brauche ich nicht mehr jeden Tag hierher kommen um
Wasser zu schöpfen."
Das Gespräch zwischen den beiden nahm nun eine unerwartete
Wende. Jesus sagte zu der Frau: "Geh und ruf deinen Mann,
dann komme wieder hier her." Die Frau antwortete: "Ich habe
keinen Mann." Worauf Jesus erwiderte: "Du hast recht, wenn du
das sagst. Fünf Männer hast du gehabt und der, mit dem du jetzt
lebst ist nicht dein Mann." Jesus legte seinen Finger in die
Wunde Stelle im Leben dieser Frau. Sie hatte große Probleme in
ihrer Beziehung mit Männern. Fünfmal war sie schon verheiratet
und wieder geschieden gewesen. Jetzt lebte sie mit dem Sechs-
ten in einer Ehe ohne Trauschein. Diese Reihe von gescheiterten
Beziehungen bescherten ihr einen schlechten Ruf in ihrer Stadt.
Sie wurde von den "anständigen" Leuten gemieden. Nun kann
man verstehen, warum sie in der Mittagshitze alleine zum Brun-
nen kam, um Wasser zu holen. Die Frau fühlte sich von Jesus
durchschaut und dachte bei sich: "Dieser Mann muss ein Prophet
Seite 64

sein. Woher sollte er sonst diese Details aus meinem Leben ken-
nen." Ihre Reaktion auf die Worte von Jesus ist typisch für Men-
schen, die durch Gottes Wort in ihrem Gewissen getroffen wer-
den. Sie lenkt von ihrem Problem ab und weicht auf allgemeine
religiöse Fragen aus: "Herr ich sehe, du bist ein Prophet. Unsere
Väter haben hier auf diesem Berg gebetet und ihr sagt, Jerusa-
lem sei die Stätte, wo man anbeten soll. Wer hat nun Recht?"
Jesus durchschaute natürlich ihr Ablenkungsmanöver, aber er
nahm ihre Frage trotzdem ernst und antwortete: "Glaub mir, die
Zeit kommt, – ja, sie ist schon da –, in der die Menschen den
Vater überall anbeten werden. Man braucht keinen bestimmten
Ort dafür. Denn Gott ist Geist. Er ist überall. Man muss nur mit
einem aufrichtigen Herzen zu ihm kommen."
Die Begegnung zwischen Jesus und der Frau begann mit einer
schlichten Bitte um Wasser und mündete in tiefes Gespräch ein,
bei dem es um grundsätzliche Lebensfragen ging. Die Frau er-
kannte, dass die Begegnung mit ihrem Gesprächspartner sie vor
eine Entscheidung stellte, aber sie zögert noch immer: "Ja, ich
weiß, dass einmal der Messias kommen wird. Der wird uns alles
erklären." Jesus antwortete ihr: "Du sprichst mit ihm, ich bin der
Messias." Und da glaubt die Frau. Sie begreift sich als bedürfti-
gen Menschen und erkennt Jesus als einen, durch den Gott
spricht. Sie, die lange Zeit beschämt und isoliert gelebt hatte, eilt
nun ins Dorf zurück und erzählt in glühender Begeisterung alles,
was Jesus ihr gesagt hatte. Dort sah man ihr die Veränderung an,
und manche glaubten schon aufgrund ihres Zeugnisses. Andere
wollten Jesus selbst hören. Sie folgten ihr zum Brunnen und ba-
ten Jesus, bei ihnen einzukehren. Er willigte ein und blieb ein
paar Tage in Sychar. Jesus beging mit diesem Schritt wieder ei-
nen Tabubruch. Ein jüdischer Rabbi, der bei den heidnischen Sa-
Seite 65

maritern einkehrte und sich mit ihnen an einen Tisch setzte,


machte sich damit unrein. Jesus fühlte sich an diese von from-
men Gesetzeslehrern aufgestellten Regeln nicht gebunden. Er
sah in den Samaritern Menschen, die ebenso wie die Juden, von
Gott geliebt waren. Darum kehrte er in Sychar ein und nahm sich
Zeit für die Bewohner der Stadt. Die Menschen waren von Jesus
und seinen Worten so beeindruckt, dass sie zum Glauben an ihn
kamen. Die Frucht dieser Begegnung zeigte sich später nach
dem Tod und der Auferstehung von Jesus. Als seine Jünger in
Samarien das Evangelium verkündigten, standen alle Türen
ihnen offen.
Der Evangelist Johannes berichtet sehr ausführlich über diese
Begegnung, weil sie Wesentliches über Jesus und seinen Um-
gang mit Menschen zeigt. Jeder Mensch – egal, ob er eine weiße
Weste oder einen schlechten Ruf hatte – war für ihn wertvoll. Ja,
gerade solchen Menschen, die ausgegrenzt und verachtet waren
– Arme, Sünder, Kranke –, wendete er sich in Liebe zu. Er gab
ihnen ihre Würde und Selbstachtung zurück. Die Frommen und
Anständigen regten sich oft darüber auf. Sie meinten: Man
müsse doch unterscheiden zwischen Menschen, die sich Mühe
geben, Gottes Gebote zu halten und den anderen, die sich nicht
darum scheren. Jesus riskierte sogar seinen Ruf als Rabbi, weil
er mit Menschen, die ein moralisch zweifelhaftes Leben führten,
oder – wie in diesem Fall – mit den Feinden Israels, an einem
Tisch saß und mit ihnen feierte.
Seite 66

Kapitel 9: Der Galiläische Sommer


Nach dem kurzen Aufenthalt in Samarien setzte Jesus seine
Reise nach Galiläa fort. Er war nun wieder in seiner Heimat und
verbrachte die Zeit von Januar bis Oktober dort. Er nahm sich
Zeit für seine Landsleute, um ihnen von dem Gott zu erzählen,
an den sie eigentlich glaubten und dennoch sich von ihm ent-
fremdet hatten. Pfarrer Ludwig Schneller prägte in seinem Buch
"Kennst Du Ihn?" für diese Zeit den Begriff "Der galiläische
Sommer." Obwohl die Wintermonate von Januar bis März in
diese Zeit hineinfielen, war das Wetter selbst dann so mild, dass
man es durchaus mit dem Sommer in Mitteleuropa vergleichen
kann. Ab April konnte es am See Genezareth, der 200m. unter
dem Meeresspiegel liegt, sehr heiß werden. Wer unterwegs war
oder auf den Feldern arbeiten musste, bekam die Hitze ganz
schön zu spüren. Die Anwohner waren froh, wenn der kühlende
Wind abends vom Mittelmeer herüber wehte.
Man kann auch vom galiläischen Sommer sprechen, weil diese
Monate ein Höhepunkt im öffentlichen Wirken von Jesus waren.
Eine Welle der Sympathie und Begeisterung schlug ihm entge-
gen in den Ortschaften, die er besuchte. Die Jünger machten sich
große Hoffnungen, dass diese Welle eines Tages auch Jerusalem
erreichen würde und ihre Landsleute in der Hauptstadt Jesus als
den von Gott gesandten Retter anerkennen würden. Sie liebäu-
gelten schon mit dem Gedanken, dass man Jesus zum König krö-
nen würde und sie dann seine Minister sein könnten.
Jesus war während dieser neun Monate meistens unterwegs in
den Städten und Dörfern Galiläas. Er sprach vor großen Men-
schenansammlungen. Sein Ruf als Prediger und Wundertäter
zog viele an. Die Menschen kamen nicht nur aus Galiläa, son-
Seite 67

dern auch aus anderen Gebieten in Israel und aus dem nahen
Ausland, um den inzwischen sehr bekannten Rabbi zu hören. Je-
sus stand oft am Ufer des Sees Genezareth und sprach von dort
aus zu den Menschen, die ihn dicht umdrängten. Und wenn der
Andrang zu heftig wurde, dann stieg er in das Boot von Petrus
und sprach von dieser schwankenden Kanzel aus zu den Men-
schen, die am Ufer standen.
Der Evangelist Matthäus fasst diese Zeit in Galiläa in wenigen
Sätzen zusammen46: "Jesus zog durch Galiläa, lehrte in den Sy-
nagogen und verkündete überall die rettende Botschaft, dass
Gottes Reich nun begonnen hatte. Er heilte alle Kranken und
Leidenden. Bald wurde überall von ihm gesprochen, sogar in
Syrien. Man brachte alle Kranken zu ihm, Menschen mit den un-
terschiedlichsten Leiden: solche, die unter schrecklichen
Schmerzen litten, Besessene, Menschen, die Anfälle bekamen,
und Gelähmte. Jesus heilte sie alle. Große Menschenmengen
folgten ihm, wohin er auch ging. Leute aus Galiläa, aus dem Ge-
biet der Zehn Städte, aus Jerusalem und dem ganzen Gebiet von
Judäa liefen ihm nach. Auch von der anderen Seite des Jordan
kamen sie."
Matthäus stellt in dieser kurzen Beschreibung des Wirkens von
Jesus in Galiläa drei Schwerpunkte heraus:
1. Lehren in den Synagogen: Jesus legte in einer einfachen
Sprache und in Bildern aus dem täglichen Leben die biblischen
Schriften aus. Die Zuhörer konnten ihn dadurch gut verstehen
und den Bezug zum ihrem Leben erkennen. Sie waren fasziniert
von seiner Lehre, weil Jesus sich nicht mit kleinlichen Details

46
Matthäus 4, 23-25
Seite 68

über Gebote und Vorschriften aufhielt, sondern über die wesent-


lichen Fragen des Lebens sprach.
2. Predigt des Evangeliums vom Reich Gottes: Diese Predigt
vom Reich Gottes war keine Auslegung der biblischen Schrif-
ten, sondern die Ausrufung einer Freudenbotschaft. Ihr Inhalt
war, dass mit dem Kommen von Jesus Gottes Herrschaft in die-
ser Welt angebrochen sei. Dieses Reich Gottes war ein zentraler
Punkt in der Predigt von Jesus und wird Thema eines späteren
Abschnitts in diesem Buch sein.
3. Heilung von Krankheiten: In diesen Krankenheilungen
zeigte sich Gottes Liebe zu den Leidenden und Schwachen.
Dort, wo Gottes Herrschaft im Leben von Menschen Raum ge-
winnt, da geschieht Heilung und Befreiung. Viele Menschen, die
Jesus geheilt hatte, wollten gerne bei ihm bleiben und ihm auf
seinen Wanderungen in Galiläa folgen. Jesus aber sagte ihnen:
"Geht zurück in eure Dörfer und erzählt von den Wohltaten, die
Gott an euch getan hat."
Das Leben auf der Wanderschaft
Eines Tages kam ein junger Mann zu Jesus und sagte: "Rabbi,
ich will mit dir gehen, ganz gleich wohin." Jesus antwortete ihm:
"Die Füchse haben ihren Bau und die Vögel ihre Nester; aber
der Menschensohn hat keinen Platz, an dem er sich ausruhen
kann." Diese Antwort gibt uns einen Eindruck von dem Leben,
das Jesus während dieser Zeit führte: Ständig auf Achse, ohne
zu wissen, ob er für die kommende Nacht eine Unterkunft finden
würde oder unter freiem Himmel übernachten müsste. Manch-
mal fuhr er mit seinen Jüngern im Boot an das Ostufer des Sees,
um sich den Menschenmassen zu entziehen und ein wenig Ruhe
zu haben. Da konnte es dann passieren, dass er gleich im Boot
einschlief, weil er so müde war. Einmal setzte plötzlich ein hef-
tiger Sturm ein und das Boot drohte zu kentern, aber Jesus
Seite 69

schlief weiter. Die Jünger weckten ihn auf und schrien: "Rabbi,
ist es dir egal, dass wir bald untergehen?" Die erfahrenen Fi-
scher, die mit ihren Booten oft auf dem See unterwegs waren,
fühlten sich völlig machtlos bei diesem wilden Sturm. Jesus
stand auf, bedrohte Wind und Wellen und der Sturm legte sich.
Eine große Furcht überkam die Jünger: "Was ist das für ein
Mensch, dass selbst Wind und Wellen ihm gehorchen." Sie waren
schon eine ganze Weile mit ihm unterwegs, hatten einiges mit
ihm erlebt und meinten, ihn schon gut zu kennen. Aber die
Erfahrung von der Sturmstillung hatte eine ganz neue Dimen-
sion, die ihnen Furcht einflößte.
Jesus beruft den Zöllner Matthäus in seine Nachfolge
Matthäus war ein hochgestellter Beamter im Zollamt von Ka-
pernaum. Viele Handelswege verliefen damals durch diese
Grenzstadt. Aus dem Osten kamen Kamelkarawane beladen mit
kostbaren Gewürzen und Weihrauch, der schon im alten Ägyp-
ten für kultische Zwecke verwendet wurde. Vom Ostufer des
Sees kamen auch Boote, mit Waren aller Art beladen. Alle Händ-
ler mussten am Zollamt von Kapernaum ihre Waren verzollen,
bevor sie ihre Reise fortsetzen konnten. Es war ein einträgliches
Geschäft für Matthäus. Er musste einen bestimmten Betrag an
die römische Besatzung abliefern. Alles, was er darüber hinaus
an Zollgebühren erhob, konnte er für sich behalten. Matthäus
gehörte zu jener Berufsgruppe, deren Mitglieder in Israel ver-
hasst und verachtet waren. Sie waren Kollaborateure, die ihre
Seelen an die Besatzungsmacht verkauft hatten und sich auf
Kosten ihrer Landsleute bereicherten. Sie trugen Mitschuld an
der Verarmung und Verelendung großer Teile der Bevölkerung
in Israel. Kein anständiger Bürger wollte etwas mit den Zöllnern
zu tun haben.
Seite 70

Matthäus juckte das wenig. Er hatte sein gutes Auskommen und


verkehrte mit seinesgleichen. Als Jesus aber nach Kapernaum
einzog, muss Matthäus wohl aus Neugierde bei seinen Ver-
sammlungen gewesen sein und dort hörte er etwas ganz Neues:
Gottes Liebe gilt auch Menschen, die in den Augen der anderen
als Sünder galten, die ein moralisch verwerfliches Leben führ-
ten. Keine Scheltworte oder Drohungen mit der Hölle waren aus
dem Munde von Jesus zu hören, sondern der Ruf, in das Vater-
haus Gottes umzukehren. Matthäus war in seinem innersten von
dieser Botschaft getroffen und wünschte, er könnte sein Leben
ändern, wusste aber nicht, wie er das anstellen sollte. Welchen
Beruf sollte er ausüben, wenn er seine Arbeit im Zollamt aufge-
ben würde? Für die harte Arbeit auf dem Feld taugte er nicht.
Ein Handwerk hatte er auch nicht gelernt. So befand er sich in
einer Zwickmühle und sein Gewissen quälte ihn.
Eines Tages sah er, wie Jesus mit seinen Jüngern auf das Zollamt
zulief. Jesus blieb davorstehen, sah Matthäus an und sagte ihm:
"Komm, folge mir nach!" Das war eine echte Alternative für ihn.
Er musste sich nur dazu entschließen, auf die materielle Sicher-
heit, die sein bisheriger Beruf ihm brachte, zu verzichten. Mat-
thäus zögerte nicht lange. Dieser Rabbi aus Nazareth hatte sein
Herz erobert. Dass Jesus ihm nun das Angebot machte, mit ihm
durch das Land zu ziehen, zu seiner Mannschaft zu gehören, das
haute ihn um. Das war eine große Wertschätzung, die er bisher
nirgends erfahren hatte. Matthäus zögerte nicht lange. Er stand
von seinem Stuhl auf, ließ sein altes Leben hinter sich und folgte
Jesus nach.
Matthäus wollte diesen Neuanfang gebührend feiern. Er lud Je-
sus und seine Jünger zu einem Abendessen bei sich ein. In sei-
Seite 71

nem großen Haus war viel Platz für weitere Gäste. Und es kamen
noch viele Freunde von ihm zur Feier. Menschen, die nicht den
besten Ruf in der Stadt hatten: Berufskollegen von Matthäus und
andere, die einfach als Sünder bezeichnet wurden. Das waren
Menschen deren Leben ganz offensichtlich nicht im Einklang
mit Gottes Geboten stand. Zu ihnen zählten auch die Prostituier-
ten. Damals gab es in der Gesellschaft eine tiefe Kluft zwischen
den Frommen und den sogenannten Sündern. Die Frommen
mieden jeden Kontakt mit den anderen, um nicht unrein zu wer-
den. Sie wollten sich bewusst von den Sündern absondern, um
nicht an ihren Sünden teilhaftig zu werden.
Zu diesen Frommen gehörten vor allem die Pharisäer, die Gottes
Gebote sehr ernst nahmen. Sie fasteten regelmäßig und zahlten
den Zehnten von ihrem Einkommen für wohltätige Zwecke.
Kurzum, sie ließen sich den Glauben etwas kosten. Sie standen
nun vor der Haustür von Matthäus und schauten genau hin, wel-
che "illustren" Gäste das Haus betraten und sich mit Jesus an
einen Tisch setzten. Das rief bei ihnen Entsetzen hervor. Wenn
dieser Rabbi aus Nazareth wirklich von Gott gesandt war, dann
durfte er sich nicht an einen Tisch mit solchen Leuten setzen.
Tischgemeinschaft bedeutete damals mehr als nur eine Mahlzeit
gemeinsam einzunehmen. Man zeigte dadurch gegenseitige
Wertschätzung und Nähe.
Als ein paar Jünger von Jesus kurz vor das Haus traten, um fri-
sche Luft zu schnappen, traten die Pharisäer sofort an sie heran
und sagten: "Warum isst euer Lehrer mit Zöllnern und Sündern,
mit dem Abschaum der Gesellschaft?" Die Jünger gaben diese
Frage an Jesus weiter. Vielleicht war ihnen selber nicht ganz
wohl zumute in dieser Gesellschaft. Jesus antwortete den Phari-
Seite 72

säern: "Die Gesunden brauchen keinen Arzt, sondern die Kran-


ken. Geht aber und lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich
und nicht Opfer.47 Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen,
sondern Sünder."
Die Ernennung der Zwölf Apostel
Während dieses längeren Aufenthalts in Galiläa erfolgte die Be-
rufung der zwölf Apostel aus dem größeren Jüngerkreis durch
Jesus. Von den meisten der zwölf Apostel wissen wir sehr wenig.
Der innere Zirkel um Jesus bestand aus Petrus, Jakobus und Jo-
hannes. Petrus war der Sprecher der Zwölf. Andreas war sein
Bruder, der ihn zu Jesus brachte, aber ab dann eine untergeord-
nete Rolle spielte. Andreas und Petrus haben mit Jakobus und
Johannes im Fischereigeschäft gemeinsam gearbeitet. Jakobus
war der erste Märtyrer unter den Aposteln, während sein Bruder
Johannes der einzige Apostel war, der nicht als Märtyrer starb.
Zu den Aposteln gehörten auch Simon der Zelot und Matthäus
der ehemalige Zöllner. Sie vertraten extrem entgegengesetzte
politische Pole. Matthäus war als Zöllner und Steuereintreiber
ein Werkzeug zur Ausbeutung der Israeliten in der Hand der rö-
mischen Besatzung gewesen. Die Zeloten hingegen waren glü-
hende Nationalisten. Sie kämpften gegen die römische Besat-
zungsmacht und ihre Handlanger. Es passierte oft, dass sie den
Zöllnern auflauerten und mit einem Dolchstoß zwischen den
Rippen töteten. Doch die gemeinsame Berufung durch Jesus
machte es möglich, dass Simon und Matthäus Freunde wurden.
Jesus verbrachte die meiste Zeit während der drei Jahre seines
öffentlichen Wirkens als Wanderprediger mit den Aposteln und

47
Jesus zitiert hier ein Wort aus dem Buch des Propheten Hosea (Hosea 6,6)
Seite 73

einem erweiterten Kreis von Jüngern. Er nahm sich viel Zeit für
ihre Unterweisung, denn diese kleine Gruppe von Nachfolgern
sollte später das Evangelium in alle Ecken der damals bekannten
Welt tragen.
Konflikte mit der Familie
Maria, die Mutter von Jesus, und seine Brüder konnten die Be-
geisterung der Menschen in Galiläa für Jesus nicht teilen. Sie
beobachteten diesen Hype um ihn mit großer Sorge. Sein Le-
benswandel passte nicht in ihre Vorstellung von einem ordentli-
chen und pflichtbewussten jungen Mann: "Was denkt er sich ei-
gentlich? Er reist durch die Gegend und vernachlässigt seine
Pflichten zu Hause, vor allem gegenüber seiner verwitweten
Mutter." Wer – wie ich – in der nahöstlichen Kultur aufgewach-
sen ist, weiß, welche Verantwortung der älteste Sohn gegenüber
seiner verwitweten Mutter trägt. Sie ist eine heilige Pflicht. Wer
sie vernachlässigt, verstößt gegen das Gebot, Vater und Mutter
zu ehren. Die Mutter von Jesus und seine Brüder hielten ihn für
übergeschnappt und beschlossen, ihn mit Gewalt nach Hause zu-
rückzubringen. Darüber berichtet der Evangelist Markus48:
"Jesus ging in ein Haus und wieder kamen so viele Menschen
zusammen, dass sie nicht einmal mehr essen konnten. Als seine
Angehörigen davon hörten, machten sie sich auf den Weg, um
ihn mit Gewalt zurückzuholen; denn sie sagten: Er ist von
Sinnen."
Bei einer anderen Gelegenheit versuchten es seine Mutter und
Geschwister auf die sanfte Tour. Sie blieben vor dem Haus ste-
hen, in dem Jesus wieder einmal vor vielen Menschen sprach,

48
Markus 3, 20-21
Seite 74

und ließen ihn rufen. Wir hören wieder aus dem Bericht von
Markus in diese Geschichte hinein: "Und es kamen seine Mutter
und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und
ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu
ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwes-
tern draußen fragen nach dir." Jesus aber antwortete: "Wer ist
meine Mutter, und wer sind meine Geschwister? Dann sah er
seine Zuhörer an, die rings um ihn saßen, und sagte: Das hier
sind meine Mutter und meine Geschwister. Denn wer Gottes Wil-
len tut, der ist für mich Bruder, Schwester und Mutter!"
Jesus wehrt sich gegen den Versuch seiner Mutter und seiner
Brüder, ihn zu vereinnahmen. In der orientalischen Kultur, in der
er zu Hause war, hat die Familie bis heute den Vorrang vor allen
anderen Verpflichtungen. Wenn sie ruft, dann muss man zur
Stelle sein. Für Jesus hatte aber der Ruf Gottes die höchste
Priorität. Dafür war er bereit, Konflikte mit seiner Familie in
Kauf zu nehmen. Es gehört zum Phänomen "Jesus von Naza-
reth", dass er weder bei seiner eigenen Familie, noch in seiner
Heimatstadt Anerkennung fand. Erst nach seiner Auferstehung
zogen seine Mutter und Brüder nach Jerusalem um und wurden
Mitglieder der Urgemeinde.
Seite 75

Kapitel 10: Die Lehre von Jesus und ihre Auswirkung49


Manche Christen machen den Fehler, die Bedeutung von Jesus
auf seinen Tod am Kreuz und seine Auferweckung zu reduzie-
ren. Sie interessieren sich weniger für seine Lehre. Andere sa-
gen: "Ich bin fasziniert vom historischen Jesus, von seiner Lehre
und von seiner Ethik. Das andere – sein Tod und seine Auferwe-
ckung – interessieren mich nicht." Ohne die Auferweckung gäbe
es aber das Neue Testament nicht. Wenn Jesus im Alter von sieb-
zig Jahren einen normalen Tod gestorben wäre, dann hätte die
Welt ihn vergessen. Wir wüssten nichts über ihn. Das Geheimnis
der Person Jesu steckt zu gleichen Teilen in seinem öffentlichen
Wirken und in seinem Tod und seiner Auferweckung. Wir kön-
nen deshalb die Lehre von Jesus nicht losgelöst von seiner Per-
son, insbesondere vom Geschehen am Karfreitag und Oster-
sonntag, sehen.
Wann immer Jesus in der Öffentlichkeit sprach, dann waren die
Zuhörer "außer sich", "entsetzt", "tief beeindruckt", denn "er
predigte mit Vollmacht und nicht wie ihre Schriftgelehrten." Mit
diesen Worten beschreiben die Evangelisten die Wirkung der öf-
fentlichen Reden von Jesus auf die Zuhörer. Was war nun anders
an Jesus und an seiner Rede? Worin hat sie sich unterschieden
von dem, was andere Rabbis lehrten?
Jesus befreite die Menschen vom Joch einer falschen Religio-
sität
Religion, wie sie oft gelehrt und gelebt wird, dreht sich um Ge-

49
Viele Impulse für diesen Abschnitt über die Lehre von Jesus verdanke ich
einem Vortrag von Professor Siegfried Zimmer, der an der PH Ludwigsburg
Religionspädagogik lehrte.
Seite 76

und Verbote, an die man sich halten muss, um Gott zu gefallen,


und auch um Dogmen, die man nicht hinterfragen darf. Zur Zeit
von Jesus stöhnten seine jüdischen Landleute unter der Last der
vielen Vorschriften. Und heute empfinden die meisten Men-
schen diese als eine Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit
und wenden sich deshalb von den traditionellen Religionen ab.
Jesus hat keine christliche Religion verkündet, sondern den
Glauben an einen liebenden und barmherzigen Gott, der Men-
schen in die Freiheit führt. Das zeigt Gottes Handeln am Volk
Israel. Die Bibel erzählt, wie Gott das Volk Israel aus der Skla-
verei in Ägypten befreite und in das Land führte, das er ihrem
Urahn Abraham und seinen Nachkommen verheißen hatte. Auf
dem Weg in das gelobte Land gab Gott seinem Volk durch Mose
die Zehn Gebote. In den einleitenden Worten dazu heißt es: "Ich
bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus
der Knechtschaft." Gott befreite sein Volk aus der Sklaverei in
Ägypten, nicht um es in eine neue Knechtschaft zu führen. Das
Sabbatgebot garantierte allen – auch Sklaven und Haustieren –
einen Tag der Ruhe in der Woche. Das war damals überhaupt
nicht selbstverständlich.
Die Zehn Gebote waren knapp gefasst und enthielten keine de-
taillierten Weisungen, wie man sie in konkreten Situationen im
Alltag umsetzen soll. Der verstorbene CSU-Politiker Franz Josef
Strauß sagte einmal scherzhaft: "Das Vaterunser hat 56, die
Zehn Gebote haben 297 Wörter. Aber eine Verordnung der
EWG-Kommission über den Import von Karamellen und Kara-
mellprodukten zieht sich über 26 911 Wörter hin." Bürokraten –
auch solche in den Diensten der Religion – haben scheinbar eine
Schwäche für ausufernde Regelwerke, die alles bis ins kleinste
Seite 77

Detail festlegen. Sie trauen den Menschen kein selbständiges


Denken zu. Ähnlich verhielten sich die Rabbis damals. Sie
trauten den Gläubigen nicht zu, selber die Zehn Gebote in die
Praxis umzusetzen. Deshalb leiteten sie aus diesen Geboten 613
einzelne Vorschriften ab für alle denkbaren Situationen. Sie leg-
ten unter anderem fest, wie viele Schritte man sich am Sabbat
von seinem Haus entfernen darf, ob es am Sabbat erlaubt sei,
Feuer anzuzünden oder Kranke zu behandeln. Auch gab es eine
große Zahl von Reinheitsvorschriften, die darüber befanden,
was man essen darf und wie die Speisen zubereitet werden soll-
ten. Man musste ständig auf der Hut sein, um nicht gegen diese
Vorschriften zu verstoßen. Der ursprüngliche Sinn der Gebote
wurde ins Gegenteil verkehrt.
Die Schriftgelehrten und Pharisäer wachten mit Argusaugen
über die Einhaltung ihrer Vorschriften. Sie übersahen dabei das
Wesentliche am Glauben. Jesus sagte ihnen einmal in einem
Streitgespräch: "Geht hin und lernt, was es heißt: Barmherzig-
keit will ich und nicht Opfer." Jesus hielt sich nicht an diese über-
kommenen Vorschriften. Er heilte Kranke auch am Sabbat. Das
war, nach Auffassung der Schriftgelehrten, nur bei Lebensgefahr
für die kranke Person erlaubt. Sie warfen Jesus vor, er würde das
Sabbatgebot übertreten. Seine Antwort auf ihre Kritik lautete:
"Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, nicht der
Mensch um des Sabbats willen."
Jesus setzte die Zehn Gebote nicht außer Kraft. Er brachte nur
ihren ursprünglichen Sinn wieder ans Licht: Sie sind für den
Menschen gemacht und nicht umgekehrt. Auf die Frage nach
dem wichtigsten Gebot gab Jesus als Antwort: "Du sollst Gott
den Herrn lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit
Seite 78

all deiner Kraft und deinen Nächsten wie dich selbst." Der
Glaube, den Jesus verkündete, gründet in liebevolle Beziehun-
gen zu Gott und zum Nächsten und macht frei von falscher Re-
ligiosität.
Jesus trat mit einer Autorität auf, die kein anderer sich an-
maßte
In der Bergpredigt, der längsten überlieferten Rede von Jesus,
sagt er an mehreren Stellen: "Ihr habt gehört …, ich aber sage
euch". Damit stellte er die gängigen Auslegungen der Gebote
durch die Schriftgelehrten und Ältesten in Frage und setzte dem
entgegen seine eigenen. Man muss schon staunen, mit welchem
Selbstbewusstsein Jesus als dreißigjähriger auftrat und den Aus-
legungen der Schriftgelehrten und Ältesten widersprach, obwohl
er keine offizielle Rabbinerschule besucht hatte.
Menschen, die als Sünder abgestempelt waren – Prostituierte
und korrupte Finanzbeamte – sprach er die Vergebung zu und
schenkte ihnen damit Freiheit und den Mut zu einem Neuanfang.
Die Pharisäer und Schriftgelehrten waren darüber entsetzt: "Wie
kann er sich so etwas anmaßen? Sünden vergeben steht allein
Gott zu."
Im Johannesevangelium sind einige Worte von Jesus überliefert,
in denen er sich auf die gleiche Stufe wie Gott stellt: "Ich und
der Vater sind eins.", "Wer mich sieht der sieht den Vater.", "Ich
bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, bleibt nicht in der
Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben."
Bei solchen Äußerungen muss man sich die Frage stellen: War
Jesus ein Hochstapler? Litt er an einem übertriebenen Selbstbe-
wusstsein oder war seine Autorität von Gott her legitimiert? Je-
sus wies auf seine Taten hin als Beweis dafür, dass er diese Au-
Seite 79

torität sich nicht selber anmaßte, sondern, dass Gott sie ihm ver-
liehen hatte. Selbst seine Gegner konnten die Krankenheilungen
und die Befreiung von okkult belasteten Menschen nicht leug-
nen. Sie versuchten sie jedoch als Werk des Teufels hinzustellen.
Die neue Anrede Gottes als "Abba"
Für die Anrede Gottes im Judentum verwendeten die Gläubigen
Juden solche Begriffe wie Schöpfer, Herr, Herrscher, Gebieter
und gelegentlich auch Vater. Jesus hat eine neue Anrede für Gott
gebraucht, die sonst keiner vor ihm in den Mund nahm: "Abba".
Abba ist ein aramäisches Wort, das die vertrauensvolle Anrede
eines Kindes gegenüber seinem Vater ausdrückt. Kein Jude hätte
damals gewagt, dieses Wort für Gott anzuwenden. Wenn Jesus
Gott mit Abba anredet, dann weist das auf seine einzigartige Be-
ziehung zu Gott hin, die nur mit der eines wirklichen Sohnes
verglichen werden kann. Jesus lehrte seine Jünger auch, dass sie
im Gebet Gott mit Abba anreden dürfen. Bei diesem Gott, den
Jesus als Vater vorstellt, findet man Nähe, Geborgenheit und
Zärtlichkeit. Vor ihm muss man keine Angst haben. Man kann
sich frei und spontan verhalten. Diese Anrede Gottes ist der erste
wichtige Schlüssel, der uns hilft Jesus zu verstehen. Der zweite
wichtige Schlüssel ist seine Verkündigung vom Reich Gottes –
"Malkut Jahwe" auf Hebräisch.
Die Nähe des Reiches Gottes
Diese Verkündigung stand von Anfang an im Mittelpunkt des
öffentlichen Wirkens von Jesus: "Nachdem Johannes der Täufer
von König Herodes verhaftet worden war, kam Jesus nach
Galiläa, um dort das Evangelium vom Reich Gottes zu
verkünden: 'Jetzt ist die Zeit gekommen, Gottes Reich ist nahe
herbeigekommen. Kehrt um zu Gott und glaubt an das
Seite 80

Evangelium.'" "Nahe herbeigekommen" heißt: Es kommt von


wo anders her. Es entsteht nicht in der Welt und ist auch nicht
ein Teil von ihr. Über hundertmal ist die Rede vom Reich Gottes
in den drei ersten Evangelien. Man kann sagen: Das Reich
Gottes war das Lebensthema von Jesus.
Reich Gottes war damals ein spezifisch jüdischer Begriff. Es
kam in keiner anderen Kultur vor und es musste den Juden nicht
erklärt werden, was damit gemeint ist. Es taucht zum ersten Mal
bei den Propheten auf, die das babylonische Exil erlebt hatten:
Jesaja, Hesekiel und Sacharja. Israel war am Boden. Der Tempel
war zerstört, viele Bewohner nach Babylon verschleppt. Das jü-
dische Volk und sein Glaube an Gott drohten unterzugehen bei
dieser Katastrophe. Die Propheten, die im Exil auftraten, setzten
ein Zeichen der Hoffnung gegen diese negative Stimmung. Die-
ses Zeichen war eine Vision auf ein anderes, gerechtes Reich, in
dem Gott selber die Herrschaft ausübt.
Gott war schon immer der Schöpfer, aber sein Wille wird nicht
überall vollzogen. Die Erde ist noch nicht sein Reich. Deshalb
lehrt Jesus im Vaterunser die Jünger zu beten: "Dein Reich
komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden." Die
Reiche dieser Welt sind korrupt, machtgierig und ungerecht ge-
genüber den Armen. Es gibt viel Hass und Machtgier. Es ist eine
Ellenbogengesellschaft. Diese Welt ist nicht in Ordnung und sie
kann ihren Schaden nicht selber beheben. Der Realismus der
Exilpropheten lautet im Angesicht dieser Tatsache: Wir setzen
unsere Hoffnung nicht auf Menschen, sondern auf Gott. Er wird
einmal in die Geschichte eingreifen. Sein Reich wird fundamen-
tal anders. Es ist in erster Linie für die Armen und nicht auf ihre
Kosten.
Seite 81

Jesus tritt mit dem Anspruch auf: Jetzt geht es los. Mit meinem
Kommen bricht das Reich Gottes in die Welt ein. Das hatte bis-
her kein anderer Prophet von sich behauptet. Es ist eine sehr
kühne Aussage. Dahinter steht ein großer Anspruch. Mit dem
Reich Gottes ist nicht der Himmel, die Seligkeit nach dem Tod,
gemeint. Es ist eine reale Änderung der Lebensverhältnisse auf
Erden und sie beginnt mit Jesus.
Die Botschaft vom Reich Gottes hatte ganz konkrete Auswir-
kungen auf den Lebensstil von Jesus. Die erste war die Über-
windung von tiefen Gräben zwischen Menschengruppen, die
fast jede menschliche Gesellschaft kennzeichnen. Es gibt viele
Klüfte im Alltag, die Menschen voneinander trennen: Arm und
Reich, Mann und Frau (insbesondere in der orientalischen Ge-
sellschaft), Kinder und Erwachsene (Kinderfeindlichkeit), Ge-
sunde und (chronisch) Kranke, gesellschaftlich Anerkannte (Ge-
rechte) und gesellschaftlich Geächtete (Sünder), Ortsansässige
und Fremde.
Jesus hat die Menschen, die abgewertet waren – Arme, Frauen,
Kinder, Kranke, Sünder, Fremde – durch seine Zuwendung wie-
der aufgewertet. Damit hat er gezeigt: Im Reich Gottes sind alle
Menschen gleichwertig. Die trennenden Unterschiede werden
aufgehoben. Eine kurze Episode aus seinem Leben soll hier,
stellvertretend für viele andere, als Beispiel dafür dienen. Als Je-
sus einmal durch einen Ort ging, brachten Eltern ihre Kinder zu
ihm und baten ihn, sie zu segnen50. Seine Jünger waren ungehal-
ten und wollten sie wegschicken. Sie dachten: Wir sind mit einer
wichtigen Mission unterwegs. Die Kinder stören nur. Sie haben

50
Markus 10, 13-16
Seite 82

hier nichts zu suchen. Doch Jesus wies seine Jünger scharf zu-
recht und sagte: "Lasst die Kinder zu mir kommen und hindert
sie nicht daran; denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Got-
tes. Ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein
Kind, der wird nicht hineinkommen." Dann umarmte er die
Kinder und segnete sie. Kinder waren für Jesus kein Störfaktor
im Leben der Erwachsenen, sondern von Gott geliebte vollwer-
tige Mitglieder der Gesellschaft. Die Erwachsenen sollten sogar
von ihnen lernen, wie man dankbar und ohne Argwohn ein Ge-
schenk annimmt, denn nur so kann man das Reich Gottes emp-
fangen.
Die zweite Auswirkung der Botschaft vom Reich Gottes war die
praktisch gelebte Nächstenliebe, die sich für das Ergehen des an-
deren interessiert. Das Verblüffende an Jesus ist sein großes In-
teresse an Menschen. Es war nicht vorgespielt, sondern ent-
stammte einer tiefen Empathie. Er saß mit den sogenannten Sün-
dern an einem Tisch. Diese Tischgemeinschaft hatte eine große
Bedeutung damals. Sie war ein Zeichen von Wertschätzung und
Anerkennung. So hat Jesus diese Menschen für den Glauben ge-
wonnen. Diese Zuwendungskraft findet man bei keinem atheis-
tischen Philosophen oder Literaten. Hat sich je einer von ihnen
Zeit genommen für Aussätzige, für Kranke, für weinende Kin-
der?
Die Gleichnisse
Gleichnisse sind ein zentraler Bestandteil der Verkündigung von
Jesus. An Stelle von tiefschürfenden philosophischen und theo-
logischen Gedanken, die kaum einer versteht, greift Jesus alltäg-
liche Erfahrungen der Menschen – Bauern, Handwerker und
Hausfrauen – auf, um vom Reich Gottes und von Gott selber zu
Seite 83

reden. Vertraute Bilder, wie Saat und Ernte, Heimat und Fremde,
Vögel und Blumen, bilden den Erzählstoff aus dem Jesus
schöpft bei seinen Gleichnissen. Das Senfkorn und der Sauerteig
dienen als Bild dafür, wie das Reich Gottes ganz unscheinbar
anfängt und doch eine große Wirkung erzielt. Die Vögel unter
dem Himmel und die Lilien auf dem Feld sind ein Hinweis auf
Gott, der für seine Schöpfung sorgt und sie ernährt.
Jesus erzählte Gleichnisse oft als Antwort auf Fragen von Zuhö-
rern. Einmal fragte ihn ein Schriftgelehrter, wer denn mit dem
Nächsten gemeint sei im Gebot, "Du sollst deinen Nächsten lie-
ben, wie dich selbst". Jesus erzählte daraufhin das Gleichnis
vom barmherzigen Samariter. Dieser war auf einer Geschäfts-
reise unterwegs und sah einen Juden, der von Räubern überfallen
worden war und halbtot am Straßenrand lag. Vor dem Samariter
waren ein Priester und ein Tempeldiener an dem Opfer des Über-
falls vorbeigegangen. Doch, statt ihrem Landsmann zu helfen,
machten sie einen weiten Bogen um ihn. Nur der Samariter –
Angehöriger eines Volkes, das mit den Juden verfeindet war –
war von der Not des verletzten Mannes bewegt. Er versorgte
seine Wunden, setzte ihn auf seinen Esel und nahm ihn mit in
die nächste Herberge. Als er am nächsten Morgen weiterreisen
wollte, gab er dem Wirt Geld und sagte ihm: "Pflege ihn; und
wenn du etwas mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich
wiederkomme." Der Nächste ist – so Jesus – derjenige, den Gott
mir vor die Füße legt und meine Hilfe braucht. Selbst wenn er
mein Feind sein sollte.
Zwei Brüdern, die sich um das Erbe stritten, erzählte Jesus das
Gleichnis vom reichen Kornbauern: "Es war ein reicher Mensch,
dessen Land hatte gut getragen. Und er dachte bei sich selbst
Seite 84

und sprach: Was soll ich tun? Ich habe nichts, wohin ich meine
Früchte sammle. Und sprach: Das will ich tun: Ich will meine
Scheunen abbrechen und größere bauen und will darin sammeln
all mein Korn und meine Güter und will sagen zu meiner Seele:
Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe
nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut! Aber Gott sprach zu
ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir for-
dern. Und wem wird dann gehören, was du bereitet hast? So geht
es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott."
Dieses Gleichnis ist auch eine Anfrage an unseren Lebensstil
heute, bei dem die materielle Absicherung an oberster Stelle
steht.
Jesus zog mit seiner freundlichen Art Menschen an, die einen
schlechten Ruf hatten: Außenseiter der Gesellschaft, verhasste
Zollbeamte und Prostituierte. Sie fühlten sich bei ihm angenom-
men. Darüber murrten die frommen Pharisäer und sagten: "Die-
ser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen." An statt sich auf
eine hitzige Diskussion mit ihnen einzulassen, erzählte Jesus
ihnen drei Gleichnisse51: vom verlorenen Groschen, vom verlo-
renen Schaf und vom verlorenen Sohn. In diesen Gleichnissen
zeichnet er ein Bild von Gott, das völlig konträr war zu dem, wie
die Frommen damals sich ihn vorstellten. Er ist der barmherzige
und gütige Vater, der sich auf die Suche nach den Verlorenen
aufmacht und nicht Ruhe gibt, bis er sie gefunden und in das
Vaterhaus zurückgeführt hat. Oder – wie im Gleichnis vom ver-
lorenen Sohn – sehnsüchtig darauf wartet, dass der Sohn, der
sein Glück in der Fremde suchte, wieder zurückkehrt. Und als
dieser, nachdem er das väterliche Erbe verprasst hatte, sich auf

51
Lukas 15
Seite 85

den Weg ins Vaterhaus macht, erblickt ihn der Vater schon aus
der Ferne. Er läuft er ihm entgegen und umarmt ihn. Dass der
Sohn in dreckigen und stinkenden Lumpen gehüllt war, stört den
Vater nicht. Statt dem Sohn eine Standpauke zu halten, lässt er
ein großes Fest feiern, denn "dieser mein Sohn war tot und ist
wieder lebendig; er war verloren und ist wiedergefunden wor-
den." Jesus gab dann noch eine kurze Erklärung zu diesen drei
Gleichnissen: "So wird auch Freude im Himmel (bei Gott) sein
über einen Sünder, der umkehrt, mehr als über neunundneunzig
Gerechte, die der Umkehr nicht bedürfen."
Die Autoren der Evangelien haben uns vierzig Gleichnisse von
Jesus überliefert. Sie halten uns einen Spiegel vor, in dem wir
uns selber erkennen und unser Verhalten hinterfragen können,
und sie sagen in wenigen Worten mehr über Gott, als viele Bände
von klugen Philosophen und Theologen. So kann nur einer er-
zählen, der Gott ins Herz geschaut hat: sein eigener Sohn, Jesus.
Die Bergpredigt
Der Evangelist Matthäus52 überliefert uns die längste Rede von
Jesus. Möglicherweise handelt es sich hierbei um eine Zusam-
menfassung von mehreren Reden, in denen Jesus die Grundla-
gen für seine Lehre vom Reich Gottes darlegt. Matthäus schreibt
in der Einleitung zu dieser Rede: "Als Jesus das Volk sah, ging
er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm.
Und er begann, sie zu unterweisen" Bei diesem Berg, von dem
hier die Rede ist, handelt es sich wahrscheinlich um eine Anhöhe
oberhalb des Sees Genezareth in der Nähe von Kapernaum. Die
meisten Bibelausleger sind sich darin einig, dass es bei diesen

52
Matthäus, Kapitel 5-7
Seite 86

Worten um Originalton von Jesus handelt. Umstritten ist die


Frage: Wer sind die Adressaten und welches Ziel verfolgt Jesus
bei dieser Predigt? Aus dem Text des Evangeliums ist es leicht
zu erkennen, dass Jesus sich an seine Jünger wendet, an Men-
schen, die seine Worte hören und annehmen. Doch geht die Wir-
kung der Bergpredigt über diesen kleinen Kreis hinaus. Denn Je-
sus verheißt den Jüngern: "Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid
das Licht der Welt." Menschen, die in Verbindung mit Jesus
Christus leben und seinen Weisungen folgen, haben Einfluss auf
die Gesellschaft. Sie sind wie Salz, das dem Essen Geschmack
verleiht und Fäulnis verhindert. Und sie sind wie ein Licht auf
einem Berg, das Orientierung in der Dunkelheit schenkt.
Viele herausragende Persönlichkeiten der Geschichte haben sich
bei ihrem Einsatz für Menschenrechte und Gerechtigkeit von der
Bergpredigt inspirieren und beeinflussen lassen. Unter ihnen
Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Dietrich Bonhoeffer.
Sie haben positive Veränderungen in der Gesellschaft bewirkt
und damit bewiesen, dass die Bergpredigt kein "Opium für das
Volk" ist, wie viele Kritiker des christlichen Glaubens behaup-
ten. Ihr Vorwurf lautet: Die Worte von Jesus in der Bergpredigt
hindern Arme und Unterdrückte daran, aufzustehen und für ihre
Rechte zu kämpfen. Stattdessen würden sie auf eine Belohnung
im Himmel vertröstet. Dahinter steht ein falsches Verständnis
des Wortes Himmelreich oder Reich Gottes. Jesus meint damit
nicht das Leben nach dem Tod, sondern die Lebensverhältnisse
unter der Herrschaft Gottes.
In Gesprächen mit Skeptikern höre ich oft auch den Einwand:
"Der christliche Glaube ist nicht mehr zeitgemäß. Er eignet sich
nicht für das Leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, weil die
Seite 87

Lebensumstände sich seitdem total verändert haben." Die Berg-


predigt zeigt aber, dass Jesus grundsätzliche Fragen anspricht,
die heute genauso aktuell sind wie vor zweitausend Jahren: Ehe
und Scheidung, Rache und Vergebung, Streit und Versöhnung,
Umgang mit Geld und Sorgen. Er spricht auch einen wunden
Punkt im Leben der Frommen an, die Heuchelei, die sich in vie-
len Handlungen zeigt: Etwa darin, dass sie beim Beten, Fasten
und Almosen geben Wert darauf legen, von anderen gesehen und
gelobt zu werden. Oder darin, dass sie über andere lieblos urtei-
len und gleichzeitig blind sind für die eigenen Fehler: "Was
siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders und nimmst
nicht den Balken in deinem Auge wahr? Oder wie kannst du zu
deinem Bruder sagen: Halt, ich will die den Splitter in deinem
Auge ziehen, während ein Balken in deinem Auge steckt? Du
Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh
zu, wie du den Splitter aus dem Auge deines Bruders ziehst."53
Ausführlich setzt sich Jesus in der Bergpredigt mit der Macht
des Geldes auseinander: "Niemand kann zwei Herren gleichzei-
tig dienen. Wer dem einen richtig dienen will, wird sich um die
Wünsche des anderen nicht kümmern können. Er wird sich für
den einen einsetzen und den anderen vernachlässigen. Auch ihr
könnt nicht gleichzeitig für Gott und das Geld leben."54 Und er
zeigt einen Weg auf, wie wir frei werden von Sorgen, die uns
belasten und die Kraft zum Leben rauben: "Darum sollt ihr nicht
sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trin-
ken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten
die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all des-

53
Matthäus 7, 3-5
54
Matthäus 6, 24
Seite 88

sen bedürft. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach
seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum
sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine
sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat." 55
Damit ruft Jesus seine Nachfolger nicht dazu auf, sich auf die
faule Haut zu legen, sondern ihre Kraft ganz auf das "Heute" zu
konzentrieren und die Sorge um die Zukunft Gott zu überlassen.
Die Seligpreisungen56
Die Bergpredigt beginnt mit Verheißungen für Menschen, die in
ihrem Verhalten sich nicht nach den Maßstäben dieser Welt rich-
ten. Diese einleitenden Worte sind als Seligpreisungen bekannt:
Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmel-
reich. Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden.
Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land erben. Selig,
die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie wer-
den gesättigt werden. Selig die Barmherzigen; denn sie werden
Erbarmen finden. Selig, die rein sind im Herzen; denn sie wer-
den Gott schauen. Selig, die Frieden stiften; denn sie werden
Kinder Gottes genannt werden. Selig, die verfolgt werden um der
Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig
seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse
über euch redet um meinetwillen. Freut euch und jubelt: Denn
euer Lohn wird groß sein im Himmel. So wurden nämlich schon
vor euch die Propheten verfolgt.
Jesus verheißt Freude und Heil für die Armen und Trauernden.
Für die Barmherzigen, die mit Notleidenden mitfühlen und sich

55
Matthäus 6, 31-34
56
Matthäus 5, 3-12
Seite 89

für sie einsetzen. Für Menschen, die auf Gewalt verzichten und
sich aktiv für Frieden und Versöhnung einsetzen. Für Menschen,
die sich für die Gerechtigkeit einsetzen und dafür verfolgt wer-
den. Und schließlich für Menschen, die verfolgt, gehasst und
verleumdet werden, weil sie an ihn glauben.
Diese Seligpreisungen sind eine Provokation, weil sie in kein
Denkschema passen. Glücklich sind – nach unseren Maßstäben
– Menschen, die ganz oben auf der Erfolgsleiter stehen. Selbst,
wenn sie dafür unlautere Mittel eingesetzt haben. Menschen bei
denen Gerechtigkeit keine große Rolle spielt, wenn sie ihren per-
sönlichen Zielen im Wege steht. Die Seligpreisungen stellen un-
ser Verständnis vom Glücklichsein auf den Kopf. Die eigentlich
Glücklichen, so sagt Jesus, sind Menschen, die in seiner Nach-
folge leben. Sie bekommen eine neue Perspektive von Gott ge-
schenkt für das, was wirklich zählt. Und das sind eben nicht
Macht, Ruhm und materieller Erfolg. Und darum können wir die
Seligpreisungen als eine "Weisung für das Glücklich werden in
der Nachfolge Jesu" bezeichnen.
Die Ethik der Bergpredigt
Nicht nur die Seligpreisungen sind eine Zumutung für unseren
Verstand, sondern auch viele ethische Maßstäbe, die Jesus in der
Bergpredigt setzt. Etwa, wenn er von der Feindesliebe spricht:
"Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lie-
ben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure
Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder
seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufge-
hen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Un-
gerechte."
Feinde zu lieben und denen zu vergeben, die uns Unrecht getan
Seite 90

haben, das halten wir für nicht praktikabel. In der Welt gilt die
Maxime, "Wie du mir, so ich dir". Diese führt oft zu einem Teu-
felskreis von Hass und Feindschaft. Jesus gibt uns eine neue Ori-
entierung für unser Handeln: "Wie Gott mir, so ich dir." Das
heißt, so wie er mich liebt und mir vergibt, auch wenn ich ihn
oft enttäusche, so soll ich gegenüber anderen handeln. Ich soll
das Geschenk der Liebe, das ich von Gott empfange, weiterge-
ben. Auch an die, die es meiner Meinung nach nicht verdienen.
Das Risiko, das ich dabei eingehe, zu kurz zu kommen, ist viel
geringer als die Chance, durch solches Handeln, Konflikte zu
entschärfen und zerbrochene Beziehungen zu heilen.
Die hohen ethischen Maßstäbe der Bergpredigt sind unerfüllbar,
solange wir sie als eine vom Glauben losgelöste Morallehre be-
trachten. Wir können den Willen Gottes erst erfüllen, wenn wir
den eigenen Willen, das Herz, von ihm bestimmt sein lassen.
Wenn wir aus dem Glauben die Kraft empfangen, um danach zu
handeln. Und wenn wir wissen, dass wir im Falle eines Versa-
gens es mit einem barmherzigen Gott zu tun haben, der uns
vergibt und wieder auf die Beine stellt, wenn wir auf die Nase
fallen. Auf diesem Hintergrund einer vertrauensvollen Bezie-
hung zu Gott erweist sich die Bergpredigt nicht als Überforde-
rung, sondern als ein festes Fundament auf dem wir unser Leben
bauen können: "Wer diese meine Rede hört und tut sie, der
gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baute. Als
nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde
wehten und stießen an das Haus, fiel es doch nicht ein; denn es
war auf Fels gegründet." 57

57
Matthäus 7, 24-25
Seite 91

Kapitel 11: Jesus und die Frauen


Die Rolle der Frau in der Kirche hat in den letzten Jahren sehr
viel Beachtung gefunden und auch zu kontroversen Diskussio-
nen geführt. Das Alte Testament berichtet von einigen Frauen,
die ein hohes Ansehen im Volk Israel hatten und eine wichtige
Rolle in seiner Geschichte spielten. Beispiele dafür gibt es viele:
Sara, Rebekka und Rahel. Sie waren bereit, ihre sichere Heimat
zu verlassen, um ihre Männer auf gefahrvollen Wanderungen zu
begleiten und wurden wichtige Stützen für sie. Aus ihren Nach-
kommen stammt das Volk Israel. Andere herausragende Frauen
im Alten Testament sind Rut und Ester, sowie die Prophetin De-
borah, die das Amt einer Richterin innehatte. Richter waren, be-
vor das Königtum eingeführt wurde, die wichtigsten Autoritäts-
personen in Israel. Doch später scheinen die Stellung der Frau
und ihr Ansehen in der israelischen Gesellschaft sich wesentlich
verschlechtert zu haben. Das zeigt uns das Weisheitsbuch von
Ben Sirach, einem aristokratischen Gelehrten, der in Jerusalem
im frühen zweiten Jahrhundert vor Christus lebte.
Ben Sirach lobt zwar tüchtige und verständige Hausfrauen. Zu-
gleich ist die Frau seiner Ansicht nach schuld daran, dass die
Sünde und der Tod in die Welt kamen: "Die Sünde nahm ihren
Anfang bei einer Frau, und um ihretwillen müssen wir alle ster-
ben. Lass dem Wasser keinen Weg noch einer bösen Frau ihren
Willen! Will sie dir nicht folgen, verstoße sie!"58
Töchter sind für Ben Sirach eine schwere Hypothek. Sie können
durch einen Fehltritt dem Vater Schande bereiten: "Eine Tochter
bereitet dem Vater schlaflose Nächte, und die Sorge um sie raubt

58
Sirach 25, 24-26
Seite 92

ihm den Schlaf: Wenn sie jung ist, dass sie nicht verblühe, wenn
sie mit einem Mann lebt, dass er ihrer nicht überdrüssig werde,
wenn sie noch Jungfrau ist, dass sie nicht geschändet und im
Hause ihres Vaters nicht schwanger werde; wenn sie bei ihrem
Mann ist, dass sie keinen Fehltritt tue, und wenn sie mit einem
Mann lebt, dass sie nicht kinderlos bleibe. Über eine verstockte
Tochter wache scharf, dass sie dich nicht vor deinen Feinden
zum Spott mache noch zum Gerede in der Stadt und zum Ge-
schwätz der Leute und dass sie dich nicht vor allen beschäme."59
Ben Sirach versteigt sich sogar zu der Aussage, dass ein schlech-
ter Mann besser sei als eine rechtschaffene Frau: "Für alle gilt:
Blicke nicht auf Schönheit und suche nicht die Gesellschaft von
Frauen! Denn aus Kleidern kommen Motten und aus Frauen
nichts als weibliche Schlechtigkeit. Besser die Schlechtigkeit ei-
nes Mannes als eine rechtschaffene Frau und als eine, die
Schimpf und Schande bringt."60
Jüdische Männer pflegten, in einem täglichen Gebet Gott zu
danken, dass sie nicht als Heide, nicht als Frau und nicht als
Unwissender erschaffen wurden! Wie dachte Jesus über die
Frauen? Hat er die damals gängige – eher negative – Meinung
über sie geteilt? Die Evangelien berichten über viele Begegnun-
gen von Jesus mit Frauen. Sein ungezwungener Umgang mit
ihnen war für die damalige Zeit äußerst ungewöhnlich. Auffällig
ist auch, dass Jesus oft mit Frauen sprach, die am Rande der Ge-
sellschaft standen. Er verteidigte sie, obwohl sie einen zweifel-
haften Ruf hatten.

59
Sirach 42, 9-11
60
Sirach 42, 12-14
Seite 93

Der Evangelist Lukas berichtet auch von Frauen, die Jesus nach-
folgten. Sie zogen mit ihm und den Aposteln von Ort zu Ort.
Einige von ihnen waren wohlhabend und trugen, mit dem was
sie besaßen, zum Unterhalt von Jesus und den Aposteln bei.61
Das war damals ein ganz ungewöhnlicher Vorgang. Kein anderer
Rabbi hatte Frauen als Jüngerinnen, die ihm nachfolgten und bei
ihm lernen durften. Diese Rolle war den Männern vorbehalten.
Eine andere Begebenheit aus dem Lukasevangelium zeigt uns,
wie Jesus zu den Frauen stand: "Als Jesus mit seinen Jüngern
weiterzog, kam er in ein Dorf, wo er bei einer Frau aufgenom-
men wurde, die Martha hieß. Maria, ihre Schwester, setzte sich
zu Füßen von Jesus hin und hörte ihm aufmerksam zu. Martha
aber war unentwegt mit der Bewirtung ihrer Gäste beschäftigt.
Schließlich kam sie zu Jesus und fragte: "Herr, siehst du nicht,
dass meine Schwester mir die ganze Arbeit überlässt? Sag ihr
doch, dass sie mir helfen soll!" Doch der Herr antwortete ihr:
"Martha, Martha, du bist um so vieles besorgt und machst dir so
viel Mühe. Nur eines aber ist wirklich wichtig und gut! Maria
hat sich für dieses eine entschieden, und das kann ihr niemand
mehr nehmen."62
Martha, Maria und ihr Bruder Lazarus waren gute Freunde von
Jesus. Sie lebten in Bethanien, einem kleinen Dorf nahe bei Je-
rusalem. Jesus war ein gern gesehener Gast in ihrem Haus. Als
er unangemeldet dort auftauchte, machte sich Martha sofort an
die Arbeit, um ihn und seine Jünger zu bewirten. Maria aber saß
bei den Männern und hörte Jesus zu. Sie überließ die Arbeit in
der Küche ihrer Schwester. Kein Wunder, dass Martha ärgerlich

61
Lukas 8, 1-3
62
Lukas 10, 38-42
Seite 94

wurde und von Jesus verlangte, Maria in die Küche zu schicken,


um ihrer Schwester zur Seite stehen, statt bei den Männern zu
sitzen. Zur Überraschung der Anwesenden gab Jesus in seiner
Antwort jedoch Maria Recht und tadelte Martha. Maria handelte
klug in dieser Situation. Ihr war es wichtiger, Jesus zuzuhören
und von ihm zu lernen, als ihm ein tolles Essen zuzubereiten.
Das war ihre Art, den Gast zu ehren. Ihr Verhalten entsprach
nicht den Normen der Gesellschaft und erregte vielleicht An-
stoß, aber Jesus nahm sie in Schutz. So hat Jesus bei vielen Ge-
legenheiten Normen und Regeln, die die Frauen in ihren Rechten
einschränkten, oft durchbrochen. Er behandelte sie mit Respekt
und Wertschätzung.
Diese positive Einstellung von Jesus zu den Frauen spiegelt sich
in den Berichten der Evangelien wider. Er lobte oft ihren starken
Glauben.63 Gerade als es darauf ankam, zu Jesus zu stehen, wa-
ren es die Frauen, die Mut und Treue bewiesen. Sie standen am
Fuße des Kreuzes, während die männlichen Jünger aus Angst
und Enttäuschung die Flucht ergriffen hatten und sich versteckt
hielten. Die Frauen waren auch die ersten, die das Grab besuch-
ten und dem auferstandenen Jesus begegneten. Sie wurden
dadurch zu den ersten Zeugen der Auferstehung.
Diese Wertschätzung der Frau durch Jesus war damals alles an-
dere als üblich. Sie fand ihren Niederschlag im Leben der ersten
Christen. Viele Frauen begegnen uns in der Apostelgeschichte
und in den Briefen des Apostels Paulus als wichtige Mitarbeite-
rinnen in christlichen Gemeinden. Die Türen für verantwortliche
Aufgaben standen ihnen offen.

63
Matthäus 15, 21-28; Markus 5, 25-34
Seite 95

Kapitel 12: Der Konflikt mit den Obersten des jüdischen


Volkes spitzt sich zu
Nach diesem Exkurs über die Lehre von Jesus und über seinen
Umgang mit Frauen kehren wir zurück zu den Ereignissen der
letzten Monate in seinem irdischen Leben.
Jesus unterbrach seinen letzten und längeren Aufenthalt in Gali-
läa durch zwei Besuche in Jerusalem: im Oktober zum Laubhüt-
tenfest und im Dezember zum Tempelweihfest. Das Laubhütten-
fest ist das letzte der drei Wallfahrtsfeste in Israel. Es wird we-
nige Tage nach dem höchsten Feiertag Jom Kippur (Versöh-
nungstag) gefeiert. Kurz vor dem Fest forderten seine Brüder ihn
auf, mit ihnen nach Judäa zu gehen: "Komm mit und zeig deinen
Anhängern dort, welche Wunder du tun kannst! Kein Mensch
versteckt sich, wenn er bekannt werden will. Wenn du schon
Wunder vollbringst, dann tu es vor aller Welt!" Die Brüder
drängten Jesus dazu, Präsenz in Jerusalem zu zeigen, denn nur
so könne er etwas erreichen. Jesus wies dieses Ansinnen zurück.
Er wusste, dass er sich mit der Reise nach Jerusalem einer gro-
ßen Gefahr aussetzte. Kurze Zeit darauf, entschied sich Jesus
doch noch ihnen zu folgen, trat aber zunächst nicht öffentlich
auf. Das Laubhüttenfest dauerte eine ganze Woche. Jesus war-
tete ein paar Tage ab. Dann, in der Mitte der Festzeit, trat er im
Tempel auf und lehrte dort. Sobald seine Anwesenheit bekannt
wurde, suchten seine Gegner – die Lehrer der Heiligen Schrift,
die Pharisäer und die obersten Priester –, ihn in Streitgespräche
zu verwickeln, damit sie etwas gegen ihn hätten, um ihn vor Ge-
richt zu verklagen.
Seite 96

Jesus und die Ehebrecherin64


Da kam ihnen ein Fall von Ehebruch zu Ohren und sie sahen
darin eine Gelegenheit, Jesus eine Falle zu stellen. Sie ließen die
Frau, die auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt wurde, in den
Tempel bringen und stellten sie vor Jesus. Mit vorgeheuchelter
Ehrerbietung fragten sie ihn dann: "Meister, diese Frau ist auf
frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose hat uns im
Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du?"
Diese Falle, so dachten sie, war schlau eingefädelt. Stellt er sich
schützend vor die Frau und sagt: "Ihr dürft sie nicht steinigen!"
– darauf hofften seine Gegner insgeheim –, dann widerspricht er
Moses Gesetz und kann vor Gericht gestellt werden. Gibt er
ihnen Recht und sagt: "Ja, steinigt sie!", dann glaubt ihm keiner
mehr, was er die ganze Zeit über den liebenden und barmherzi-
gen Gott lehrte. Gerade diese Lehre faszinierte die Menschen an
ihm. Wie ernst meint es Jesus mit seiner Verkündigung, dass
Gott sogar die "Sünder" liebt?
Jesus antwortete nicht sofort auf die Frage seiner Gegner. Er
schaute sie nicht einmal an, sondern bückte sich und schrieb mit
dem Finger etwas auf die Erde. Es wird viel darüber gerätselt,
warum er das tat und was er denn wohl geschrieben haben
könnte. Das verrät uns der Text nicht. Wollte er damit etwas Zeit
gewinnen, um einen Ausweg aus dieser Falle zu finden, oder hat
er vielleicht die Zehn Gebote auf die Erde geschrieben, um die
Pharisäer daran zu erinnern, dass auch sie gegen diese Gebote
verstoßen?
Die Schriftgelehrten drangen auf Jesus weiter ein und forderten

64
Johannes 8, 1-11
Seite 97

ihn auf, ihnen eine Antwort zu geben. Jesus richtete sich auf,
schaute seinen Gegnern in die Augen und sagte: "Wer unter euch
ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein." Dann bückte er sich
wieder und schrieb mit seinem Finger auf die Erde. Eine ge-
spannte Ruhe trat ein. Die Augen der Menschenmenge richteten
sich auf die Pharisäer und Schriftgelehrten. Ihr Plan, Jesus eine
Falle zu stellen, war total danebengegangen. Nicht Jesus saß in
einer Falle, sondern sie selber. Jesus hatte nicht – wie sie wohl
hofften – der Forderung des Gesetzes widersprochen. Sie könn-
ten die Frau jetzt steinigen, aber Jesus hatte ihnen eine hohe
Hürde in den Weg gestellt: ihre eigene Schuld. Wie würden sie
jetzt reagieren? Das Schicksal der Frau war immer noch in ihren
Händen, aber bevor sie das Urteil vollstrecken konnten, mussten
sie ihr eigenes Gewissen zum Schweigen bringen. "Wer unter
euch ohne Sünde ist …" Sie waren gezwungen, innezuhalten und
über ihr eigenes Leben nachzudenken. Keiner von ihnen konnte
mit gutem Gewissen von sich behaupten, ohne Sünde zu sein.
Und so schlichen sie sich langsam mit gesenkten Köpfen wieder
aus dem Tempel hinaus. Die Alten zuerst, dann die Jungen.
Die Frau blieb nun allein mit Jesus zurück. Was mag in ihr vor-
gegangen sein bei dieser schrecklichen Geschichte? Man hatte
sie beim Ehebruch ertappt. Ihre heimliche Tat wurde ans Licht
der Öffentlichkeit gezerrt. Sie wurde beschimpft und gedemü-
tigt. Wo aber war der Mann, der auch an diesem Ehebruch betei-
ligt war? Nach dem Gesetz hatte auch er die gleiche Strafe ver-
dient. Hatte er einflussreiche Freunde, die ihn schützten, oder
konnte er sich gerade noch rechtzeitig aus dem Staub machen?
Die Frau musste als die Schwächere allein die Last der Schuld
und das Urteil der Steinigung tragen. Aber Jesus trat zwischen
ihren Anklägern und sie und rettete sie vor dem grausamen Tod
Seite 98

durch Steinigung. Und nun stand sie allein vor ihm da. Augusti-
nus schreibt über diese Szene: "Zwei wurden zurückgelassen,
die Erbärmliche und das Erbarmen." Die zum Tode Verurteilte
stand vor ihrem Retter. Bis vor ein paar Augenblicken musste sie
damit rechnen, gesteinigt zu werden. Tief erschüttert, aber mit
einem Herzen voller Dankbarkeit schaute sie auf Jesus. Er rich-
tete sich auf und fragte sie: "Frau, wo sind sie? Hat dich keiner
verurteilt?" Alle Ankläger waren beschämt weggegangen. Jesus
hatte sich schützend vor die Frau gestellt und die Meute daran
gehindert, sie zu steinigen.
Mit großer Erleichterung antwortete die Frau: "Niemand, Herr."
"So verurteile ich dich auch nicht." Jesus sprach die Frau von
ihrer Schuld frei. Es war niemand mehr da, der sie hätte verur-
teilen können. Aber er blieb nicht bei diesen Worten stehen. Er
fügte noch hinzu: "Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr."
Gehe hin! Das heißt: Du bist jetzt ein freier Mensch. Die Verge-
bung öffnet dir die Tür zu einem neuen Leben. Jesus verharmlost
den Ehebruch nicht. Aber er weiß, dass die Frau nach der erfah-
renen Vergebung nicht mehr so leicht in das alte, sündige Leben
zurückkehren wird.
Diese Geschichte hat – wie so viele Geschichten in den Evange-
lien – ein offenes Ende. Sowohl die frommen Hüter der Moral,
als auch die Frau erlebten eine Begegnung, die ihr Leben verän-
dern könnte. Ob sie etwas für ihr Leben daraus machten, blieb
ihre Verantwortung. Leider haben viele von den frommen Geg-
nern Jesu die Gelegenheit versäumt, etwas aus dieser Begeg-
nung zu lernen. Ihr Hass auf Jesus und ihre Entschlossenheit, ihn
zu töten, wurden durch diese Blamage nur noch größer.
Seite 99

Jesus und der Blindgeborene Bettler


Blinde hatten ein schweres Schicksal nicht nur in Israel, sondern
im ganzen Orient damals. Und es gab nicht wenige von ihnen in
den Städten und Dörfern. Einfache Augenkrankheiten konnten
zur Erblindung führen, weil es keine Medikamente zu ihrer Be-
handlung gab. Es gab auch keinerlei Hilfsmittel für die Blinden.
Niemand bemühte sich darum, sie in die Gesellschaft zu integ-
rieren. Durch ihre Behinderung konnten sie nicht arbeiten und
waren auf das Betteln angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu
verdienen. Während meiner Kindheit und Jugend im Libanon
war das ein gewohnter Anblick. Entweder saßen diese Blinden
an einer belebten Straßenecke und bettelten, oder sie liefen an
der Hand eines Helfers und baten die Passanten um Almosen.
Blindheit wurde oft als Strafe Gottes für Sünden angesehen. Das
hat das ohnehin schwere Schicksal der Blinden noch verschlim-
mert.
Jesus widersprach diesem Vorurteil und nahm sich der Blinden
oft an. Er gab vielen Blinden das Augenlicht wieder, um ihnen
die Möglichkeit zu geben, ein würdiges Leben zu führen. Wäh-
rend seines Aufenthaltes in Jerusalem aus Anlass des Laubhüt-
tenfestes hatte er eine denkwürdige Begegnung mit einem Blind-
geborenen. Johannes berichtet in seinem Evangelium über diese
Begebenheit65:
Jesus war mit seinen Jüngern in den Straßen von Jerusalem un-
terwegs, als sie einen Blindgeborenen am Straßenrand sitzen sa-
hen. Die Jünger fragten: "wer ist schuld daran, dass dieser Mann
blind ist? Hat er selbst Schuld auf sich geladen oder seine El-

65
Johannes 9, 1-26
Seite 100

tern?" "Weder noch", antwortete Jesus. "Vielmehr soll an ihm


die Macht Gottes sichtbar werden." Diese Geschichte bestätigt
zunächst den Befund, dass die Menschen damals – sogar die Jün-
ger von Jesus – Blindheit als eine Strafe Gottes sahen. Entweder
für eigene Sünden oder für die Sünden der Eltern. Jesus wider-
spricht dieser Auffassung und wendet sich dem Blinden zu. Ich
zitiere wieder aus dem Bericht von Johannes: "Dann spuckte er
auf die Erde, rührte mit dem Speichel einen Brei an und strich
ihn auf die Augen des Blinden. Dann forderte er ihn auf: "Geh
jetzt zum Teich Siloah und wasch dich dort. Der Blinde ging hin,
wusch sich, und als er zurückkam, konnte er sehen." Jesus hat
viele andere Blinde geheilt, ohne die Hilfe durch den Brei aus
Spucke und Erde in Anspruch zu nehmen. Vielleicht diente die-
ses äußere Zeichen als Hilfe für den Blinden, um seinen Glauben
an eine Heilung zu stärken. Er darf sogar etwas zu seiner eigenen
Heilung beitragen, indem er zum Teich Siloah läuft und die Au-
gen dort wäscht.
Die Heilung des Blindgeborenen erregte großes Aufsehen bei al-
len, die ihn kannten. Sie sahen ihn ungläubig an. Einige fühlten
sich verpflichtet, die Angelegenheit vor die Pharisäer zu bringen
und zerrten den Geheilten zu ihnen. Sie sollten darüber befinden,
ob diese Heilung im Einklang mit den religiösen Vorschriften
war. Die Pharisäer fragten ihn: "Wie kommt es, dass du jetzt se-
hen kannst?" Der Mann erzählte: "Jesus strich einen Brei auf
meine Augen. Ich wusch meine Augen dann, und nun kann ich
sehen." Einige der Pharisäer meinten: "Von Gott kann dieser
Mann nicht kommen, denn er hält sich nicht an die Sabbatge-
bote." Andere widersprachen: "Wie kann ein Sündiger Mensch
solche Zeichen tun?"
Seite 101

Wieder andere zweifelten daran, dass er wirklich blindgewesen


war und ließen seine Eltern holen um sie zu verhören: "Ist das
euer Sohn? Stimmt es, dass er von Geburt an blind war? Wie
kommt es, dass er jetzt sehen kann?" Die Eltern antworteten:
"Ja, das ist unser Sohn, und er war von Geburt an blind. Das
wissen wir genau. Aber wie es kommt, dass er jetzt sehen kann,
wissen wir nicht. Wir haben auch keine Ahnung, wer ihn geheilt
hat. Fragt ihn doch selbst! Er ist alt genug und kann euch am
besten selbst Auskunft geben." Diese ausweichende Antwort ga-
ben die Eltern, weil sie vor den führenden Juden Angst hatten.
Denn die hatten bereits beschlossen, jeden aus der Synagoge
auszuschließen, der sich zu Jesus als dem Christus, dem von
Gott gesandten Retter, bekannte.
Aus unserer Sicht heute ist die Reaktion der Pharisäer schwer
nachvollziehbar. Hätten sie sich nicht eher über die Heilung
freuen sollen? Doch für die Juden war das Sabbatgebot sehr hei-
lig. Die Einhaltung dieses Gebotes war ein wichtiger Bestandteil
der Identität des Volkes Israel. Darum wachten die Pharisäer mit
Argusaugen darüber, dass niemand gegen das Gebot verstieß.
Jegliche Art von Arbeit war am Sabbat verboten. Ein Arzt durfte
nur in Notfällen eingreifen, um Menschenleben zu retten. Dies
war aber kein Notfall. Die Blindheit war eine chronische Krank-
heit und folglich hätte Jesus mit der Heilung bis nach dem Sab-
bat warten müssen. Er verstieß sogar doppelt gegen das Gebot:
Einmal, weil er selber einen Brei rührte und ihn auf die Augen
des Blinden strich. Und dann, weil er dem Blinden befahl zum
Teich Siloah zu gehen und sich die Augen zu waschen. Beide
Handlungen waren in den Augen der Pharisäer am Sabbat ver-
boten.
Seite 102

Selbst im modernen Staat Israel gibt es heftige Konflikte, um die


Auslegung des Sabbatgebotes. Dieser Konflikt ist am deutlichs-
ten zu spüren in der Hauptstadt Jerusalem, wo der Anteil der or-
thodoxen Juden rasant wächst. Am Sabbat steht in Jerusalem das
öffentliche Leben still. Straßenbahnen und Busse stellen ihren
Betrieb ein. Ultraorthodoxe Stadtteile werden für den Autover-
kehr abgeriegelt. Die allermeisten Restaurants und Cafés schlie-
ßen. Wer sich nicht daran hält, der riskiert, Ziel von gewalttäti-
gen Angriffen seitens der Ultraorthodoxen zu werden. Säkulare
Juden fühlen sich in ihrer Lebensweise bedroht und eingeengt.
Jesus war kein säkularer Jude. Er hielt sich an die religiösen Ge-
bote und Vorschriften, aber der Wille Gottes, zu heilen und zu
helfen, hatte bei ihm Vorrang. Wenn jemand seine Hilfe
brauchte, dann hat er sich – sehr zum Ärger der Pharisäer – über
das Sabbatgebot hinweggesetzt.
Die Gegner von Jesus hatten die Niederlage, die sie im Fall der
Ehebrecherin, erlitten hatten, noch nicht ganz verdaut, da kam
die Heilung des Blindgeborenen am Sabbat als weiterer Grund
hinzu, der ihre Wut gegen Jesus noch mehr anheizte. Sie waren
nun umso fester entschlossen, ihn zu töten.
Jesus verließ Jerusalem wieder und kehrte erst im Dezember
zum Tempelweihfest66, vier Monate vor seinem Tod am Kreuz,
in die Stadt zurück. Bei diesem Besuch kam es zu einer heftigen
Auseinandersetzung mit den Pharisäern und Schriftgelehrten.
Der Streit entzündete sich an dem Anspruch von Jesus, Gottes

66
Tempelweihfest (Chanukka auf Hebräisch) ist ein acht Tage dauerndes,
jährlich gefeiertes jüdisches Fest zum Gedenken an die Wiedereinweihung
des zweiten Tempels in Jerusalem im Jahr 164 v. Chr.
Seite 103

Sohn zu sein. Seine Worte, "Ich und der Vater sind eins", waren
für viele Juden ein klarer Fall von Gotteslästerung. Sie hielten
ihm vor: "Du bist ein Mensch und machst dich selbst zu Gott".
Dann nahmen sie Steine in die Hand und wollten ihn steinigen,
als Strafe für dieses Vergehen. Jesus konnte aber entkommen. Er
ging mit seinen Jüngern über den Jordan an die Stelle, wo Jo-
hannes früher getauft hatte und blieb eine Zeitlang dort.
Die Auferweckung des Lazarus
Einige Wochen später erkrankte sein Freund Lazarus, der Bruder
von Martha und Maria, schwer. Die beiden Schwestern zögerten
lange, bevor sie Jesus baten, zu ihnen zu kommen. Seine Anwe-
senheit in Bethanien würde den Gegnern eine Gelegenheit bie-
ten, ihn zu ergreifen. Martha und Maria wussten, welche Gefahr
Jesus drohte, wenn er in die Nähe Jerusalems käme. Als aber der
Zustand von Lazarus von Tag zu Tag schlimmer wurde, schick-
ten sie einen Boten zu Jesus, der ihm folgende Nachricht über-
bringen sollte: "Herr, siehe, den du lieb hast ist sehr krank." Je-
sus wartete ein paar Tage und dann beschloss er, nach Bethanien
zu gehen. Lazarus war inzwischen gestorben. Die Jünger wuss-
ten es nicht. Sie waren nur besorgt, diese Reise könnte Jesus in
Lebensgefahr bringen. Sie wunderten sich über seinen Ent-
schluss: "Eben wollten dich die Juden steinigen und du willst
jetzt wieder dorthin gehen?" Thomas, der Pessimist unter ihnen,
sah schon den Tod vor Augen und sagte: "Lasst uns mit Jesus
gehen, um mit ihm zu sterben."
Als die ersten Bewohner Bethaniens Jesus erblickten, rannten
sie sofort zum Haus der drei Geschwister und berichteten von
seiner Ankunft. Martha sprang auf und ließ die Gäste, die ge-
kommen waren, um sie und ihre Schwester zu trösten, in ihrem
Seite 104

Haus zurück. Sie eilte Jesus entgegen und sagte zu ihm: "wärst
du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben, Aber
auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir Gott
geben." Welche Erwartung hatte Martha an Jesus? Hat sie etwa
gehofft, dass er Lazarus wieder zu neuem Leben erwecken
würde? Inzwischen war Maria auch eingetroffen. Alle Trauer-
gäste folgten ihr.
Jesus ließ sich zum Grab führen. Es war eine Höhle, deren Ein-
gang mit einem Stein verschlossen war. Dann befahl er: "Hebt
den Stein weg!" Martha war ganz erschrocken: "Herr, er stinkt
schon; denn er liegt seit vier Tagen im Grab." Jesus ließ sich
aber nicht von seinem Vorhaben abbringen. Da rollten sie den
Stein vom Eingang des Höhlengrabs weg. Der Evangelist Johan-
nes beschreibt was dann geschah67: "Jesus aber hob seine Augen
auf und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast.
Ich wusste, dass du mich allezeit hörst; aber um des Volkes wil-
len, das umhersteht, sagte ich's, damit sie glauben, dass du mich
gesandt hast. Als er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme:
Lazarus, komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus, ge-
bunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Ge-
sicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu
ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen! Viele nun von den
Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat,
glaubten an ihn. "
Bethanien wurde nach diesem Ereignis zu einem Wallfahrtsort.
Viele Menschen gingen dorthin, um den Toten zu sehen, der wie-
der lebendig geworden war, und kamen zum Glauben an Jesus.

67
Johannes 11, 41-45
Seite 105

Bei den Pharisäern und Hohenpriestern in Jerusalem schrillten


die Alarmglocken, als sie von diesen Ereignissen erfuhren. Sie
versammelten den Hohen Rat und sprachen: "Was tun wir? Die-
ser Mensch tut viele Zeichen. Lassen wir ihn gewähren, dann
werden sie alle an ihn glauben, und dann kommen die Römer
und nehmen uns Tempel und Volk."68 Die Beliebtheit von Jesus
beim einfachen Volk war ihnen ein Dorn im Auge. Sie hatten
auch Sorge, dass seine Anhänger einen Aufruhr beim Passafest
in Jerusalem anstiften könnten. Das würde die Römer veranlas-
sen, ihnen den letzten Rest von Eigenständigkeit wegzunehmen.
Der Hohe Rat fasste abermals den Beschluss, Jesus zu töten und
ließ per Haftbefehl nach ihm fahnden, wie nach einem Schwer-
verbrecher. Er sollte möglichst noch vor dem Passafest verhaftet
und zum Tode verurteilt werden. Jesus musste sich wieder in Si-
cherheit bringen. Er ging mit seinen Jüngern in eine einsame Ge-
gend am Rande der Wüste nordöstlich von Jerusalem. Dort war
er vor dem Zugriff der Oberen in Jerusalem sicher. Spannung lag
in der Luft vor dem großen Fest. Die Menschen in Jerusalem
fragten einander: "Was meint ihr? Wird Jesus es wagen, zum
Fest nach Jerusalem zu kommen?"
Der Einzug in Jerusalem
Jesus kam! Nicht bei Nacht, im Schutz der Dunkelheit, sondern
am helllichten Tag. Er wurde von seinen Anhängern begleitet.
Die Nachricht darüber breitete sich aus wie ein Lauffeuer durch
Jerusalem und viele kamen aus der Stadt heraus, um ihm einen
begeisterten Empfang zu bereiten.69 Eine dicht gedrängte Men-
schenmenge säumte den Weg vom Ölberg hinunter ins Kidrontal

68
Johannes 11, 47-49
69
Johannes 12, 12-26
Seite 106

und hinauf bis zum Tempelberg. Sie brachten Palmzweige mit.


Einige breiteten ihre Kleider vor Jesus auf die Straße, andere
schwangen die Zweige und sangen im Takt dazu dieses Lied:
"Hosianna, gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn, der
König von Israel." Hosianna, das heißt eigentlich: hilf doch! Aus
diesem Ruf nach Hilfe wurde ein Jubelruf und ein Ausdruck der
Hoffnung, dass die Stunde der Rettung für Israel gekommen sei.
Die Begeisterung der Menschen, die mit Jesus unterwegs waren,
riss auch andere mit, die aus der Stadt ihm entgegenkamen.
Jesus ließ es zu, dass die Menschen ihn als den König von Israel
willkommen heißen. Er erhob bei seinem Einzug in Jerusalem
tatsächlich den Anspruch, König zu sein. Er bestätigte diesen
Anspruch ein paar Tage später während des Verhörs durch den
römischen Statthalter Pilatus: "Ich bin ein König. Ich bin dazu
geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit be-
zeuge." Sein Königreich ist von einer ganz anderen Art als die
Königreiche dieser Welt. Jesus verfügt über keine Armee, die für
ihn kämpft. Nicht Macht, sondern Liebe und Wahrheit sind die
Fundamente seines Reiches. Er ist ein König des Friedens, der
Demut und ein König der Armen. Jesus kam nicht mit Rossen
und Reitern wie die Machthaber damals, die ihre Untertanen be-
eindrucken und einschüchtern wollten, sondern auf einem Esel,
dem Reittier der Armen. Er schaute nicht von oben herab auf die
Menschen, die ihn begeistert empfingen, sondern war auf Au-
genhöhe mit ihnen. Jesus ist der sanftmütige und demütige Kö-
nig, der seinem Volk dient. Erst im Rückblick verstanden seine
Jünger, dass mit diesem Geschehen vom Palmsonntag sich ein
Wort des Propheten Sacharja über den Messias erfüllte: "Du,
Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem,
jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein
Seite 107

Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Ese-
lin."70
Die Menschen, die Jesus hier begeistert empfangen, hatten ihm
viel zu verdanken. Einige von ihnen hatte er von Krankheit ge-
heilt, andere von dämonischer Besessenheit befreit. Seine Pre-
digten und Gleichnisse über Gott als liebevollen Vater hatten
ihre Herzen tief berührt. Jetzt wollten sie ihre Dankbarkeit ge-
genüber Jesus zum Ausdruck bringen. Sie wollten ihn als König
und Retter feiern und er ließ sie gewähren.
Die Pharisäer standen mit finsterer Miene am Straßenrand und
schauten missbilligend auf das, was sich vor ihren Augen ab-
spielte. Dann forderten sie Jesus auf: "Rabbi, weise deine Jünger
zurecht!" Jesus antwortete ihnen: "Wenn diese schweigen wer-
den, dann werden die Steine schreien."
Warum haben diese Menschen – allen voran die Jünger –, die
Jesus begeistert empfingen, kurz danach versagt, als er ihren
Beistand brauchte: in Gethsemane und auf dem Weg nach Gol-
gotha, wo er gekreuzigt wurde? Die Jünger hatten ihre eigenen
Vorstellungen, wie die Geschichte von Jesus weiter gehen sollte.
Als sie und auch viele andere aus der großen Menschenmenge
später sahen, wie Jesus scheinbar hilflos seinen Peinigern gegen-
überstand und wie er danach sein schweres Kreuz durch die Gas-
sen von Jerusalem trug, wandten sie sich enttäuscht von ihm ab.
Jemand, der so jämmerlich endet, konnte nicht der Messias sein.

70
Sacharja 9,9
Seite 108

Kapitel 13: Die letzten Tage im Leben von Jesus


Jesus nimmt Abschied von seinen Jüngern
Der vierzehnte Tag des jüdischen Monats Nisan war gekommen.
Es war der Tag der Zurüstung für das Passamahl. Dies war eine
heilige Tradition in Israel und erinnerte an die Befreiung des Vol-
kes aus der Sklaverei in Ägypten. Das Passamahl wurde zu einer
festgesetzten Stunde gefeiert. Alle Einzelheiten dieses Fest-
mahls – jedes Wort, jede Geste – waren genau festgelegt und seit
1500 Jahren unverändert geblieben. Das Passalamm wurde im
Tempel geopfert und dann im Kreis der Hausgemeinschaft ver-
zehrt. Das durfte aber nur in Jerusalem geschehen. Deshalb
wuchs die Zahl der Einwohner dieser Stadt um das Vielfache
durch die vielen Pilger, die dort das Passafest feiern wollten.
das Passafest wird im Judentum noch immer in der gleichen
Form gefeiert wie zu biblischer Zeit. Zu Beginn der Feier wird
in jeder Familie die Geschichte vom Auszug aus Ägypten er-
zählt. Dabei wird ein Becher mit Wein gereicht. Dann eröffnet
der Hausvater das Festmahl, indem er ein kurzes Lobgebet über
einem Stück Brot spricht, das Brot bricht und an alle austeilt.
Das Brot muss ungesäuert sein, d.h. ohne Sauerteig gebacken.
Das erinnert daran, dass die Israeliten Ägypten so eilig verlassen
haben, dass keine Zeit mehr blieb, um Sauerteig für das Brot an-
zusetzen. Auch alle anderen Bestandteile der Mahlzeit, z.B. eine
Art bitterer Salat und Fruchtmus, haben eine besondere Bedeu-
tung und erinnern an Einzelheiten des Geschehens beim Auszug
aus Ägypten. Das Passamahl wird dadurch beschlossen, dass der
Hausvater über einem Becher mit Wein das Dankgebet spricht
und dieser Becher dann die Runde macht. Zum Abschluss wer-
den die Psalmen 114–118 gesungen.
Seite 109

Jesus wusste, dass seine Stunden gezählt waren, deshalb ent-


schloss er sich dazu, das Mahl einen Tag vor der festgelegten
Zeit zu feiern. Eine befreundete Familie stellte ihm einen schö-
nen Saal dafür zur Verfügung. Jesus schickte zwei seiner Jünger
voraus, um das Mahl zu bereiten. Er selber kam in der Abend-
dämmerung mit den anderen Jüngern dazu. Im Orient war es üb-
lich, dass ein Diener den Gästen beim Betreten des Hauses die
Sandalen auszog und ihnen die Füße wusch. Wenn kein Diener
da war, dann übernahm der Hausvater diese Aufgabe. Die Jünger
betraten den Saal, schauten sich um und dann setzten sie sich auf
die Polster, um einen niedrigen Tisch. Niemand dachte daran,
den Dienst der Fußwaschung zu übernehmen. Das tat Jesus. Er
band sich einen Schurz um, füllte eine Schüssel mit Wasser und
fing an, den Jüngern, der Reihe nach, die Füße zu wachsen und
abzutrocknen. Den Jüngern war es komisch zumute, dass ihr
Lehrer und Meister diesen Dienst tat, aber keiner von ihnen
wagte, etwas zu sagen, bis Petrus an die Reihe kam. Er protes-
tierte heftig: "Herr, du wäschst mir die Füße?" Jesus antwortete
ihm: "Was ich jetzt tue, dass verstehst du nicht. Du wirst es aber
später erfahren." Petrus beharrte auf seinen Protest: "Herr, nie-
mals sollst du mir die Füße waschen!" Jesus sagte dann: "Wenn
ich dich nicht wasche, dann hast du keinen Anteil an mir." Petrus
kapierte zwar immer noch nicht, was Jesus meinte, aber er ließ
es geschehen. Jesus erklärte den Jüngern dann den Sinn seiner
Handlung: "Ihr nennt mich Herr und Meister und habt recht da-
mit, denn ich bin es auch. Wenn nun ich, euer Herr und Meister
euch die Füße gewaschen habe, dann sollt auch ihr euch gegen-
seitig die Füße waschen." Damit meinte er, dass sie einander die-
nen sollen.
Nach der Fußwaschung setzte sich Jesus zu den Jüngern und
Seite 110

sagte: "Mich hat es herzlich danach verlangt, dieses Mahl mit


euch zu feiern." Es war ihm eine Herzensangelegenheit, vor sei-
ner Verhaftung dieses letzte Passamahl mit seinen Jüngern in
Ruhe zu feiern. Aber es saß noch einer dabei, der nicht mehr in
den Kreis der Jünger passte: Judas Ischariot, der beschlossen
hatte, Jesus zu verraten. Tief erschüttert, sprach Jesus: "Einer
von euch wird mich heute verraten." Die Jünger schauten einan-
der ratlos an und wussten nicht, von wem Jesus redet. Johannes,
der neben Jesus saß, fragte ihn: "Wer ist das, Herr?" Jesus ant-
wortete: "Der ist es, dem ich den Bissen Brot eintauche und
gebe." Dann nahm er einen Bissen, tauchte ihn und gab ihn Ju-
das. Damit war Judas entlarvt. Er stand auf, verließ die Gruppe
und ging in die Nacht hinaus.
Jetzt konnte Jesus die Mahlfeier mit den Jüngern beginnen. Er
hielt sich an das vorgeschriebene Ritual aber fügte an zwei Stel-
len etwas Neues hinzu. Als er das Matzenbrot auf dem Teller
brach und den Jüngern darreichte sprach er: "Nehmt und esst,
das ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Das tut zu meinem
Gedächtnis".
Der mit Wein gefüllte Segensbecher bildete den Abschluss der
Feier. Jesus hob ihn hoch und sprach das große Tischgebet, in
dem es unter anderem heißt: "Der Barmherzige, er würdige uns
der Tage des Messias und des Lebens in der zukünftigen Welt."
Dann folgten wieder Worte, die nicht zur ursprünglichen Litur-
gie gehörten: "Trinkt alle daraus. Das ist das Blut des Neuen
Bundes, das vergossen wird für viele. Solches tut, so oft ihr dar-
aus trinkt, zu meinem Gedächtnis."
Das Passamahl ist eine Erinnerung an den Auszug aus Ägypten
und an den Bund, den Gott mit dem Volk Israel damals schloss.
Seite 111

Christen feiern im Abendmahl den neuen Bund, den Jesus durch


seinen Tod am Kreuz gestiftet hat, den Bund der Versöhnung mit
Gott. Der Apostel Paulus erklärt es folgendermaßen: "Gott war
in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber." Das Brot und
der Wein, die beim Abendmahl ausgeteilt werden, sind mehr als
nur eine Erinnerung an das, was Jesus damals für uns tat. Jesus
sichert den Gläubigen seine Nähe in diesem Abendmahl. Brot
und Wein sind Zeichen seiner Gegenwart.
Der Weg nach Gethsemane
Jesus und seine Jünger beendeten das Mahl mit dem Lobgesang
der Psalmen 115-118. Es war schon Nacht geworden. Dann lie-
fen sie über das Kidrontal in Richtung Ölberg. Am Fuß des Öl-
bergs lag ein Landgut namens Gethsemane. Der Name leitet sich
vom hebräischen Begriff Gath-Schmanim (Ölpresse) ab. In bib-
lischer Zeit wurde hier das Öl für die Rituale im Tempel gewon-
nen. Heute stehen noch einige Olivenbäume dort. Drei von ihnen
sind mindestens tausend Jahre alt. Einige Forscher sind sogar der
Meinung, sie würden aus dem dritten Jahrhundert vor Christi
Geburt stammen. Sie könnten also Zeugen des Dramas gewesen
sein, das sich in jener Nacht in Gethsemane abspielte.
Jesus kehrte mit seinen Jüngern dort ein und sprach zu ihnen:
"Setzt euch hierher, während ich dorthin gehe und bete." Er
nahm die drei von ihnen mit, die ihm am nächsten standen: Pet-
rus und die beiden Brüder Jakobus und Johannes. Die anderen
ließ er zurück. Jesus war schon oft in Lebensgefahr gewesen,
aber zum ersten Mal heißt es jetzt: "Es ergriff ihn Angst und
Trauer". Dann sagte er zu den drei Jüngern: "Meine Seele ist be-
trübt bis an den Tod. Bleibt hier und wacht mit mir"
Jesus suchte Klarheit und Trost im Gebet zu erlangen. Er ent-
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fernte sich einige Schritte von den drei Jüngern, ging auf die
Knie und betete: "Abba, wenn es möglich ist, dann gehe dieser
Kelch an mir vorüber, doch nicht wie ich will, sondern, wie du
willst." Gott bleibt für ihn, auch in diesem schweren Augenblick,
sein Vater, an den er sich vertrauensvoll wendet. Nach diesem
Gebet ging er zurück zu den Jüngern und fand sie schlafend.
Enttäuscht und traurig sagte er ihnen: "Könnt ihr nicht eine ein-
zige Stunde mit mir wachen. Wacht und betet, damit ihr nicht in
Versuchung fallt."
Die Stunden in Gethsemane zeigen Jesus als wirklichen Men-
schen. Er erlitt die ganz normale menschliche Angst vor dem
Tod. Darum bat er die drei Jünger, die er mitnahm, mit ihm zu
wachen und zu beten. Er brauchte in diesem Augenblick den
Beistand seiner Freunde. Sie aber ließen ihn im Stich und schlie-
fen ein. Wir können nur erahnen, was in Jesus in diesem Augen-
blick vorging und was ihn bedrückte. War es das Versagen der
Jünger, oder doch die Angst vor dem, was ihm bevorstand: die
Verhaftung, Verspottung und der Tod am Kreuz? Betet er viel-
leicht deshalb zu seinem himmlischen Vater, er möge diesen
Kelch des Leidens ihm ersparen?
Vielleicht war es auch die Sorge um die Fortführung seines Le-
benswerks nach seinem Tod durch die Jünger. Sie hatten sich
bisher als schwankend und wenig zuverlässig erwiesen. Und ob-
wohl sie schon drei Jahre als seine Schüler und Freunde bei ihm
waren, hatten sie ihn doch nicht richtig verstanden. Sie sahen in
Jesus immer noch den politischen Führer, den verheißenen Kö-
nig und warteten auf den großen Aufstand gegen Rom. Noch bei
der Feier des Abendmahls stritten sie darüber, wer der größte
von ihnen sei. Nun, da die Dinge in eine andere Richtung zu lau-
Seite 113

fen schienen, waren sie müde und enttäuscht, unfähig, ihrem


Freund und Meister in dieser schweren Stunde zur Seite zu ste-
hen.
Jesus hätte immer noch sich seiner Verhaftung entziehen kön-
nen. Er hätte im Schutz der Dunkelheit mit seinen Jüngern sich
nach Osten absetzen können und wäre in Sicherheit gewesen.
Wenige Kilometer östlich des Ölbergs beginnt die Wüste Juda
mit ihren vielen Schluchten und Höhlen. Hier wäre Jesus vor den
Greiftrupps der Tempelbehörde und den Römern sicher gewe-
sen. Aber nachdem er dreimal seinen Vater gebeten hatte, wenn
möglich, den Kelch des Leides von ihm zu nehmen, bekam er
die Kraft, den schweren Weg, der vor ihm lag, zu gehen. Er
sprach zu den Jüngern: "Wollt ihr jetzt weiterschlafen und ru-
hen? Siehe, die Stunde ist da: Der Menschensohn wird in die
Hände der Sünder ausgeliefert. Steht auf, lasst uns gehen. Er ist
schon da, der mich verrät." Mutig und gefasst trat er dem Trupp
entgegen, der gekommen war, um ihn festzunehmen.
Der Verrat des Judas
Der Beschluss der leitenden jüdischen Autoritäten stand schon
lange fest: Jesus muss noch vor dem Passafest verhaftet und aus
dem Verkehr gezogen werden. Sie trauten sich aber nicht, ihn am
helllichten Tage im Tempel zu verhaften. Das hätte einen Auf-
ruhr unter seinen zahlreichen Anhängern zur Folge gehabt. Das
wollten sie unter allen Umständen vermeiden. Sie mussten also
herausfinden, wo Jesus übernachtete. Aber das war nicht ein-
fach: Während des Festes hielten sich über zweihunderttausend
Pilger in Jerusalem auf. Viele von ihnen übernachteten in extra
errichteten Zeltstädten am Rande der Stadt – so wie man das
heute in Mekka sieht.
Seite 114

Und hier spielte Judas eine entscheidende Rolle. Er ging zu den


hohen Priestern und erklärte sich bereit, Jesus zu verraten. Über
sein Motiv ist viel gerätselt worden: War es Geldgier – er bekam
dreißig Silbermünzen für seinen Verrat –, oder war es die Ent-
täuschung, dass Jesus nicht seiner Vorstellung vom Messias ent-
sprach? Manche Ausleger meinen, Judas wollte mit seinem Ver-
rat Jesus dazu zwingen, seine Macht als Messias zu zeigen. Ju-
das bleibt eine rätselhafte und tragische Gestalt. Er bereute spä-
ter seine Tat und erhängte sich. Über seine wahren Motive kön-
nen wir nur spekulieren.
Judas kannte den Ort, an dem Jesus und seine Jünger während
der Feiertage übernachteten und führte die Truppe aus jüdischen
Tempelwächtern und römischen Soldaten nach Gethsemane. Da
die ihn begleitenden Soldaten Jesus nicht kannten, vereinbarte
Judas mit ihnen ein Zeichen: Der Mann, den ich küssen werde,
das ist er. Und so geschah es auch. Jesus sah Judas an und sprach
zu ihm: "Mein Freund, mit einem Kuss verrätst du den Men-
schensohn?" Der Kuss auf die Wange – damals ein Zeichen der
Wertschätzung und Zuneigung– wurde von Judas als Mittel zum
Verrat benutzt.
Dann wandte sich Jesus an die Soldaten, die ihn gefangen neh-
men wollten, und sagte: "Mit Schwertern und Knüppeln seid ihr
ausgezogen, als wäre ich ein Verbrecher. Dabei war ich doch
Tag für Tag bei euch im Tempel, und ihr habt nichts gegen mich
unternommen. Aber jetzt ist eure Stunde gekommen, jetzt übt die
Finsternis ihre Macht aus."
Es war die schwärzeste Stunde im Leben der Jünger. Alles
schien verloren. Die Finsternis triumphierte. Jesus schien erle-
digt, eliminiert, als falscher Messias entlarvt. Nun kann man ver-
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stehen, warum sie alle geflohen sind: Nicht nur aus Angst um ihr
Leben, sondern aus der bitteren Enttäuschung, die ihre Hoffnung
auf Jesus ein Ende machte. Gott hatte nicht eingegriffen, um Je-
sus vor der Verhaftung zu bewahren.
Jesus wurde gefesselt und von Gethsemane in das Haus des Ho-
hen Priesters Kaiphas gebracht. Für den Weg über das Kidrontal
zum Palast des Hohen Priesters brauchte man etwa zwanzig Mi-
nuten zu Fuß.
Petrus verleugnet seinen Freund und Meister
Die Verleugnung des Petrus fügt sich gut in das beschämende
Bild, dass die Jünger insgesamt bei diesem Geschehen abgaben.
Die Jünger waren nach der Verhaftung von Jesus verzweifelt in
die Nacht hineingelaufen. Sie wollten nur Weg vom Ort ihrer
größten Enttäuschung. Nur zwei von ihnen, Petrus und Johan-
nes, hielten inne und kehrten um. Sie folgten heimlich dem Fa-
ckelschein der Kolonne durch die dunklen Straßen Jerusalems.
Sie sahen die Soldaten mit dem Gefangenen in das Haus des Ho-
hen Priesters verschwinden. Johannes war dort bekannt und
konnte sich Zutritt zum Verhandlungsraum verschaffen. Er
sorgte auch dafür, dass Petrus durch das eiserne Tor in den Hof
hineingelassen wurde. Da stand Petrus nun, enttäuscht, einsam
und verlassen. Plötzlich trat die Türhüterin an ihn heran und
sagte: "Du gehörst doch auch zu Jesus." Petrus wurde auf dem
falschen Fuß erwischt. Ohne lange zu überlegen, antwortete er:
"Ich weiß nicht, was du meinst" und leugnete vor allen anderen,
die im Hof standen, Jesus zu kennen. Dann entfernte er sich von
der Stelle und ging in die Torhalle. Da sah ihn eine andere Frau
und sprach zu den anderen, die dort waren: "Der war auch bei
Jesus von Nazareth." Wieder leugnete Petrus und schwor noch
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dazu: "Ich kenne diesen Menschen nicht." Andere, die dort wa-
ren, traten hinzu und sagten zu ihm: "Du bist ganz sicher einer
von denen. Deine Sprache verrät, dass du aus Galiläa kommst."
Petrus war nun ganz verzweifelt und fing an sich zu verfluchen
und zu schwören: "Ich kenne den Menschen nicht." In dem Au-
genblick krähte der Hahn. Petrus wurde an das Wort von Jesus
erinnert: "Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleug-
nen." Voller Scham über seine Verleugnung, verließ er den Hof
vom Haus des Hohen Priesters und ging in das Dunkel hinaus.
Er dachte an sein Verspechen, das er Jesus gegeben hatte, "wenn
alle sich von dir abwenden, ich halte zu dir", und weinte bitter-
lich.
Die Verhandlung vor dem Hohen Rat
Die Mitglieder des Hohen Rates –Sanhedrin auf Hebräisch –
wurden frühmorgens benachrichtigt und eilten zum Palast von
Kaiphas. Angetan mit ihren weißen Amtsroben betraten sie den
Verhandlungsraum und nahmen dort ihre Plätze ein. Jesus
wurde, wie ein Schwerverbrecher gefesselt, in die Mitte geführt
und auf einen Podest gestellt. Obwohl das Todesurteil bereits be-
schlossene Sache war, wollte man zumindest den Anschein eines
fairen Verfahrens wahren. Nach jüdischem Recht, das auf Zeu-
genaussagen basierte, mussten mindestens zwei Zeugen eine
übereinstimmende Aussage machen, um einen Angeklagten zu
verurteilen. Viele falsche Zeugen traten gegen Jesus auf, aber
ihre Aussagen waren widersprüchlich. Man konnte Jesus kein
Fehlverhalten nachweisen. Schließlich traten zwei Männer vor
und erklärten: "Dieser Mensch hat behauptet: 'Ich kann den
Tempel Gottes abreißen und in drei Tagen wieder aufbauen.'" Da
stand der Hohepriester auf und fragte Jesus: "Warum antwortest
du nicht? Hast du nichts gegen diese Anschuldigungen zu sa-
Seite 117

gen?" Der Angeklagte rührte sich nicht. Er schwieg weiter.


Das Gericht war jetzt in Verlegenheit. Die Stunden vergingen.
Kaiphas wollte zum Tagesanbruch das fertige Urteil dem römi-
schen Statthalter vorlegen. Aber man kam mit diesem Menschen
nicht weiter. Er verteidigte sich nicht, gab überhaupt keine Ant-
wort und es gab keine belastbaren Zeugenaussagen gegen ihn.
Kaiphas hatte sich bisher zurückgehalten, wie es die Prozessord-
nung vom Vorsitzenden verlangte. Nun aber stand er erregt auf
und drang auf Jesus heftig ein: "Ich nehme dich vor dem leben-
digen Gott unter Eid: Sag uns, bist du der Christus, der von Gott
erwählte Retter? Bist du der Sohn Gottes?" "Ja, du sagst es",
antwortete Jesus, "und ich versichere euch: Von jetzt an werdet
ihr den Menschensohn an der rechten Seite des allmächtigen
Gottes sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen."
Das war in den Augen seiner Richter eine Gotteslästerung. Denn
Jesus sagte mit anderen Worten: "Ich werde auf dem himmli-
schen Thron neben Gott sitzen und vom Himmel her als Welten-
richter über euch kommen." Endlich hatten sie aus seinem eige-
nen Mund eine Aussage, die ihnen den Grund für ein Todesurteil
lieferte.
Der Hohe Priester Kaiphas war außer sich vor Wut. Er stand auf,
zerriss sein Kleid als Zeichen des Entsetzens und sagte: "Das ist
Gotteslästerung! Wozu brauchen wir noch weitere Zeugen? Ihr
habt es ja selbst gehört, wie er Gott gelästert hat! Wie lautet euer
Urteil?" Die anderen Mitglieder des Hohen Rates antworteten:
"Er ist schuldig! Er muss sterben!" Die Vornehmen Herren ver-
loren die Selbstbeherrschung und benahmen sich wie Pöbel. Sie
spuckten Jesus an als Zeichen ihrer Verachtung und schlugen ihn
mit Fäusten ins Gesicht.
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Prozess und Verurteilung vor Pilatus


Vom Haus des Hohen Priesters, wo der nächtliche Prozess gegen
Jesus stattfand, marschierten die Mitglieder des Sanhedrins71 mit
ihrem gefesselten Gefangenen, Jesus, zum Statthalter Pilatus. Er
hatte seinen Amtssitz in Cäsarea am Mittelmeer. Während seines
Aufenthaltes in Jerusalem wohnte er im Palast, der einst von He-
rodes erbaut worden war. Ein Prachtbau, luxuriöser als der Pa-
last des Kaisers in Rom. Man kann davon ausgehen, dass die
Verhaftung von Jesus bereits vorher mit ihm abgesprochen
wurde, denn es waren neben der jüdischen Tempelpolizei auch
römische Soldaten dabei gewesen. Der römische Statthalter
musste das Todesurteil bestätigen, bevor es auf seinen Befehl
durch seine Soldaten vollstreckt werden konnte.
Pilatus hatte sein Amt im Jahre 25 nach Christus als Günstling
des einflussreichen Gardegenerals Sejanus erlangt. Doch dieser
war inzwischen beim Kaiser in Ungnade gefallen. Im Januar des
Jahres 31 wurde er verhaftet und hingerichtet. Das brachte Pila-
tus in eine prekäre Position und er musste aufpassen, keine Feh-
ler zu begehen, um nicht dasselbe Schicksal wie Sejanus zu er-
leiden. Einen Aufruhr in der Provinz Judäa war das letzte, was
er nun gebrauchen konnte. Das nutzten die Mitglieder des San-
hedrins, um ihr Ziel zu erreichen.
Jesus wurde in den Palast hineingeführt. Die Mitglieder des San-
hedrins blieben aber davorstehen. Denn durch das Betreten des
Hauses eines Heiden wären sie kultisch unrein geworden und
hätten nicht mehr am Passafest teilnehmen können. Das ergab
eine merkwürdige Situation: Unten am Fuß der hohen Treppe

71
Sanhedrin ist die jüdische Bezeichnung für den Hohen Rat
Seite 119

standen die Ankläger, die Herren des Sanhedrins mit ihrem gro-
ßen Gefolge. Vor ihnen, oben auf der Terrasse, ging Pilatus un-
ruhig auf und ab. Er pendelte zwischen den Klägern vor dem
Haus und dem Angeklagten im Haus hin und her. Das war eine
ziemliche Zumutung für den stolzen Römer.
Pilatus konnte das Urteil einfach unterschreiben und vollziehen
lassen. Er hatte aber auch die Möglichkeit, den ganzen Prozess
noch einmal aufzurollen. Er war nicht überzeugt, dass der Ange-
klagte eine Gefahr für die Sicherheit des Landes darstellte. Der
Vorwurf der Gotteslästerung – der Grund für das Todesurteil ge-
gen Jesus – war für ihn als Straftatbestand irrelevant und be-
rührte nicht die Interessen Roms. Dem römischen Statthalter ge-
genüber, musste Jesus als politischer Aufrührer gegen die römi-
sche Herrschaft hingestellt werden. Streitigkeiten über Glau-
bensfragen wären für ihn kein Grund gewesen, einen Angeklag-
ten zum Tode zu verurteilen. Darum sagten die Ankläger beim
Verhör vor Pilatus: "Wir haben gefunden, dass dieser unser Volk
aufhetzt und verbietet, dem Kaiser Steuern zu geben, und
spricht, er sei Christus, ein König."
Pilatus musste diesem Vorwurf nachgegen und prüfen, ob Jesus
tatsächlich den Anspruch erhebt, König zu sein. Er ging wieder
hinein in seinen Palast und fragte ihn: "Bist du der Juden Kö-
nig?" Jesus antwortete: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt.
Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum
kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; aber
nun ist mein Reich nicht von hier." Da sprach Pilatus zu ihm: "So
bist du dennoch ein König?" Jesus antwortete: "Du sagst es: Ich
bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen,
dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört
Seite 120

meine Stimme."
Pilatus war nach diesem Gespräch überzeugt: Dieser Jesus hat
nichts getan, das den Tod verdient. Von ihm geht keine Gefahr
aus für Rom. Er suchte nach einer Möglichkeit, Jesus das Leben
zu retten. Die Römer hatten den Brauch, jedes Jahr zum Passa-
fest einen zum Tod verurteilten jüdischen Gefangenen freizulas-
sen. Er sprach zu der vor dem Palast versammelten Menge: "Ich
finde keine Schuld an ihm. Ihr habt aber die Gewohnheit, dass
ich euch einen zum Passafest losgebe; wollt ihr nun, dass ich
euch den König der Juden losgebe?" Pilatus hoffte, dass die
Mehrheit der Anwesenden für die Freilassung von Jesus stim-
men würde. Darin hatte er sich aber getäuscht. Der Hohe Rat
hatte es geschafft, die Massen gegen Jesus aufzuwiegeln. Selbst
diejenigen, die am Palmsonntag ihm vor den Toren von Jerusa-
lem einen begeisterten Empfang bereitet hatten, wandten sich
enttäuscht von ihm ab. Einen gefangenen und gedemütigten
Messias konnten sie sich nicht vorstellen. Sie schrien laut "Nicht
diesen, sondern Barabbas!" Barabbas, ein zum Tode verurteilter
Aufrührer und Mörder, wurde von vielen als Kämpfer gegen die
römische Herrschaft bewundert.
Da versuchte Pilatus noch einmal, Jesus freizulassen. Er ließ ihn
geißeln und hoffte, mit dieser brutalen Strafe die aufgehetzte
Menschenmenge zu besänftigen. Die Geißelung kam fast einer
Todesstrafe gleich. In den Enden der Peitschenriemen waren
scharfe Metallstücke eingeflochten, die das Fleisch in Fetzen
vom Rücken herunterrissen. Das führte zu einem hohen Blutver-
lust und zu inneren Verletzungen. Viele überlebten diese grau-
same Folterung nicht. Die Soldaten flochten nach der Geißelung
eine Dornenkrone und setzten sie Jesus auf das Haupt. Dann zo-
Seite 121

gen sie ihm einen roten Mantel an und trieben ihren Spott mit
ihm: "Sie gegrüßt, König der Juden!" und schlugen ihm ins Ge-
sicht.
Pilatus trat wieder vor die versammelte Menschenmenge und
sprach: "Seht, ich bringe ihn zu euch hinaus, damit ihr erkennt,
dass ich keine Schuld an ihm finde." Da stand nun der fast ver-
blutete Jesus vor seinem Volk. Die Dornenkrone zerriss die
Kopfhaut. Das Blut lief am blassen Gesicht herunter und bildete
eine Lache unter ihm. Aber die Hohenpriester und ihre Anhänger
zeigten keine Spur von Mitleid. Sie schrien: "Kreuzigen, kreuzi-
gen." Pilatus zögerte immer noch, das Todesurteil gegen Jesus
auszusprechen. Da fuhren die Mitglieder des Hohen Rates ein
schweres Geschütz auf: "Wenn du den laufen lässt, bist du kein
Freund des Kaisers; denn wer sich selbst zum König macht,
lehnt sich gegen den Kaiser auf." Das war eine versteckte Dro-
hung, Pilatus wegen Begünstigung eines Aufständischen beim
Kaiser in Rom anzuklagen. Pilatus wusste, dass dies keine leere
Drohung war. Er war stolz auf seinen Ehrentitel "Freund des
Kaisers – Amicus Caesaris". Das war eine besondere Auszeich-
nung und garantierte eine glanzvolle Laufbahn. Dieser Titel
konnte aber aberkannt werden und als Folge hätte er auch seine
Stellung als Gouverneur verloren. Pilatus war geschlagen. Die
Angst um seine Position und um sein Leben waren stärker als
sein Gefühl für Gerechtigkeit. Er war nicht bereit, so viel zu ris-
kieren, um einen Mann zu retten, von dessen Unschuld er über-
zeugt war. Also gab er dem Drängen der Ankläger nach.
Er ließ Jesus hinausführen an die Stelle, die man "Steinpflaster"
nannte, auf Hebräisch: "Gabbata", nahm eine Schüssel mit Was-
ser und in einer theatralischen Handlung wusch er sich die
Seite 122

Hände und sprach: "Ich bin unschuldig an seinem Blut. Das ist
eure Sache." Dann setzte er sich dort auf den Richterstuhl und
sprach das Urteil über Jesus: Tod durch Kreuzigung. Die Kreu-
zigung war – nach den Schilderungen des römischen Staatsman-
nes und Anwalts Cicero – die grausamste und fürchterlichste To-
desstrafe. Die Römer hatten sie von den Karthagern übernom-
men. Sie wandten diese Form der Hinrichtung nur bei Sklaven
und gemeinen Verbrechern an. Auch Aufständische, die es wag-
ten, sich gegen die römische Herrschaft zu stellen, wurden ge-
kreuzigt. Bei römischen Bürgern durfte diese Strafe nicht ange-
wandt werden.
Pilatus gefiel es nicht, dass er bei diesem Prozess von den Mit-
gliedern des Sanhedrins blamiert worden war. Also suchte er
nach einer Möglichkeit, sich zu rächen und seine Gegner zu de-
mütigen. Dabei benutzte er den Spott als Waffe: "Hier ist euer
König!" Dieser blasse, zerschlagene und fast verblutete Mann,
zum Spott mit einem roten Mantel angetan und mit einer Dor-
nenkrone auf dem Haupt – das ist euer König. "Weg mit ihm!",
brüllten sie. "Ans Kreuz mit ihm!" "Soll ich wirklich euren König
kreuzigen lassen?", fragte Pilatus, wieder in einem spöttischen
Unterton. Die obersten Priester riefen: "Wir haben keinen König,
nur den Kaiser!" Dieses Bekenntnis von den obersten Priestern
war ein kleiner Sieg für Pilatus in dem Pokerspiel mit dem Ho-
hen Rat, bei dem er bisher ziemlich schlecht ausgesehen hatte.
Die Obersten des jüdischen Volkes hatten sich stets geweigert,
öffentlich die Herrschaft Roms anzuerkennen. Endlich hatte er
nun ihnen dieses Bekenntnis abgerungen: "Wir haben keinen
Anspruch auf einen eigenen König. Der Kaiser ist unser König."
Pilatus nutzte noch eine weitere Möglichkeit, die Obersten des
Seite 123

jüdischen Volkes zu verhöhnen. Es war üblich, dass der zum Tod


Verurteilte auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte eine Tafel um
den Hals trug. Auf dieser Tafel standen sein Name und das Urteil
in Kurzform. Sie wurde später über dem Haupt des Verurteilten
am Kreuz befestigt. Pilatus schrieb das Urteil auf: "Iesus Naza-
renus Rex Iudaeorum" Das bedeutet: Jesus von Nazareth, König
der Juden, und ließ eine Tafel in lateinischer, griechischer und
hebräischer Sprache ausfertigen, damit alle es lesen konnten.
Die Herren des Sanhedrins waren darüber schwer verärgert und
versuchten, Pilatus zu einer Änderung des Textes zu bewegen,
aber er blieb bei seiner Entscheidung: "Was ich geschrieben
habe, das habe ich geschrieben."
Die Kreuzigung
Die Soldaten hängten Jesus diese Tafel und den Hals, legten ihm
den schweren Querbalken des Kreuzes auf die geschundenen
Schultern und marschierten mit ihm zur Hinrichtungsstätte. Mit
ihm liefen zwei andere Männer, gewöhnliche Verbrecher, die zur
gleichen Strafe verurteilt worden waren. Schaulustige und Spöt-
ter, aber auch Menschen, die Mitleid mit Jesus hatten, folgten
ihm und den Soldaten. Jesus wurde vom Pöbel verhöhnt, ausge-
lacht und angespien. Völlig entkräftet durch den Blutverlust bei
der Geißelung, brach er auf dem Weg zusammen. Die Soldaten
schlugen auf ihn ein, mussten aber einsehen, dass er nicht mehr
in der Lage war, den schweren Balken zu tragen. Da ergriffen sie
einen Mann – er war ein Auslandsjude aus Kyrene in Nordafrika
und hieß Simon – und zwangen ihn, den Balken zu tragen. Wir
wissen nicht, welche Auswirkung diese Begegnung mit Jesus
auf Simon hatte. Seine beiden Söhne, Rufus und Alexander, wer-
Seite 124

den im Markusevangelium erwähnt72, weil sie sehr wahrschein-


lich später zur jungen christlichen Gemeinde gehörten.
Die Hinrichtungsstätte lag auf einem Hügel namens Golgotha –
das heißt übersetzt Ort des Schädels – außerhalb der Stadtmauer.
Die genaue Lage lässt sich heute nicht mehr bestimmen. Vieles
spricht jedoch dafür, dass sie unter der heutigen Grabeskirche in
Jerusalem liegt. Jerusalem wurde mehrfach zerstört und wieder-
aufgebaut. Die historischen Stätten aus der Zeit von Jesus liegen
einige Meter unter den heutigen Straßen und Gebäuden.
In Golgotha angekommen, wurden die Querbalken auf die Erde
gelegt. Die Verurteilten wurden zuerst entkleidet und an diesen
Balken mit ausgespannten Armen angenagelt. Man trieb die lan-
gen Nägel durch ihre Handgelenke. Oft wurden durch die Nägel
Nerven verletzt, was große Schmerzen verursachte. Dann wur-
den sie an einem ungefähr drei Meter hohen Pfahl, der auf der
Hinrichtungsstätte stand, hochgezogen. Das fertige Kreuz hatte
somit die Form eines "T". Danach trieb man einen langen Nagel
durch die übereinanderliegenden Füße. Es war gegen zwölf Uhr
mittags als die Soldaten ihr grausames Werk vollendeten. Da
hingen nun die drei Männer an ihren Kreuzen: Jesus in der Mitte;
zu seiner Rechten und Linken die beiden Verbrecher.
Die Hängelage verursachte beim Gekreuzigten rasende Kopf-
schmerzen, Fieber, Angstzustände und Atemnot. Der Verurteilte
konnte dem Erstickungstod nur entgehen, indem er sich, gestützt
auf den Nagel, der durch die Füße getrieben war, etwas aufrich-
tete. Durch die abnorme Körperhaltung sackte das Blut in die
unteren Gliedmaßen ab. Wenn es das Herz nicht mehr erreichte,

72
Markus 15,21
Seite 125

dann brach der Kreislauf zusammen und der Tod trat ein. Um
diese Qual zu verlängern, wurde ein Brett in Sitzhöhe ange-
bracht. Es war zu schmal, um sich länger darauf ausruhen zu
können. Der Gekreuzigte konnte aber für kurze Augenblicke
sich darauf setzen. Das brachte den Kreislauf wieder in Gang
und der Todeskampf begann wieder von neuem.
Die Hohenpriester, die Schriftgelehrten und die Ältesten des
Volkes spotteten über Jesus und sagten: "Andern hat er geholfen
und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König von Israel, so
steige er vom Kreuz herab. Dann wollen wir an ihn glauben. Er
hat Gott vertraut; der soll ihn erlösen, wenn er vertrauen zu ihm
hat". Trotz der schrecklichen Schmerzen und des Spotts, den Je-
sus durch seine Peiniger über sich ergehen lassen musste, war
sein erstes Wort, das er am Kreuz sprach: "Vater, vergib ihnen,
denn sie wissen nicht, was sie tun." Unter dem Kreuz stand seine
Mutter mit anderen Frauen und als einziger Jünger Johannes. Je-
sus war der älteste Sohn von Maria und trug die Verantwortung
für seine Mutter nach dem Tod des Vaters. Nun übertrug er diese
Verantwortung dem Jünger, der ihm am nächsten stand. Er
sprach zu Maria: "Siehe, das ist dein Sohn!" Und zu Johannes
sagte er: "Siehe, das ist deine Mutter!" Von dem Tag an nahm
Johannes Maria zu sich.
Der Todeskampf von Jesus dauerte drei Stunden: von zwölf Uhr
mittags bis fünfzehn Uhr. Kurz bevor er starb rief er laut: "Mein
Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Diese Worte
stehen am Anfang von Psalm 22, den man als das Leidenspsalm
des Messias bezeichnet. In einer prophetischen Vorschau be-
schreibt König David, tausend Jahre vor diesem Ereignis, ziem-
lich genau die Leiden und Schmerzen, die Jesus am Kreuz ertra-
Seite 126

gen musste: "Sie haben meine Hände und Füße durchgraben.


Ich kann alle meine Knochen zählen; sie aber schauen zu und
sehen auf mich herab. Sie teilen meine Kleider unter sich und
werfen das Los um mein Gewand.73"
In seiner dunkelsten Stunde am Kreuz fand Jesus Trost in den
Psalmen. Selbst wenn Gott sich in diesem Augenblick scheinbar
von ihm abgewandt hat, so wendet sich Jesus mit seiner Klage
an ihn: "Mein Gott, mein Gott." Der Evangelist Lukas überliefert
uns ein weiteres Wort von Jesus am Kreuz – diesmal aus Psalm
31 –, das sein Vertrauen in seinen himmlischen Vater zum Aus-
druck bringt: "Vater in deine Hände befehle ich meinen Geist."
Gott war immer sein Vater, den er mit dem kindlichen "Abba
(Papa)" anredete und das blieb er auch für Jesus bis zuletzt.
Selbst das Leiden am Kreuz konnte dieses Band der Liebe zwi-
schen Jesus und seinem himmlischen Vater nicht zerreißen.
Jesus litt unter einem quälenden Durstgefühl und sprach zu den
Soldaten: "Mich dürstet!" In der Nähe stand ein Krug mit Essig-
wasser. Die Soldaten tauchten einen Schwamm hinein, steckten
ihn auf eine Stange und hielten Jesus den Schwamm an den
Mund. Nachdem Jesus ein wenig davon genommen hatte, rief
er: "Es ist vollbracht!" Dann ließ er den Kopf sinken und starb.
Die Grablegung
In der Regel durften die Hingerichteten nicht bestattet werden.
Ihre Körper endeten zumeist als Tierfutter oder auf den Müllkip-
pen der Stadt. Dieses Schicksal hätte dem Leichnam von Jesus
nach seinem Tod am Kreuz widerfahren können. Das wäre nichts
Ungewöhnliches gewesen. Zwei mutige Männer sorgten aber

73
Psalm 22,17-19
Seite 127

dafür, dass es anders kam: Nikodemus, ein Mitglied des Hohen


Rates, der Jesus früher einmal bei Nacht aufgesucht hatte, und
Josef von Arimathäa, ein vornehmer Ratsherr. Beide waren
heimliche Anhänger von Jesus. Sie hielten ihren Glauben an ihn
aber geheim, um nicht bei den Hohen Priestern und den Phari-
säern in Ungnade zu fallen.
Sie gingen gemeinsam zu Pilatus und baten um den Leichnam
von Jesus. Pilatus schickte Soldaten, um sich zu vergewissern,
dass Jesus tatsächlich gestorben war, dann gab er den Leichnam
frei. Nikodemus und Josef stellten sicher, dass Jesus ein würdi-
ges Begräbnis nach den damaligen Sitten bekam. Josef stellte
sein eigenes Grab – eine in den Felsen behauene Kammer –, in
dem er später selber begraben werden wollte, dafür zur Verfü-
gung. Nikodemus spendete eine Mischung aus Myrrhe und Aloe,
ein wertvolles Geschenk für seinen toten Freund. Der Leichnam
von Jesus wurde damit einbalsamiert und in das Grab gelegt.
Danach wurde die Eintrittsöffnung durch einen schweren runden
Stein verschlossen. Es war am späten Freitagnachmittag, am
Vorabend des Passafestes.
Einige Frauen aus Galiläa, die zum engeren Personenkreis um
Jesus gehörten, sahen dabei zu. Dann gingen fort und bereiteten
wohlriechende Öle und Salben zu. Vielleicht dachten sie, dass
die in aller Eile von den beiden Männern durchgeführte Einbal-
samierung nicht ganz ordnungsgemäß war und wollten dies am
ersten Tag der Woche, nach der Sabbatruhe nachholen.
Seite 128

Kapitel 14: Wer ist schuld am Tod von Jesus?


Dass Jesus am Kreuz gestorben ist, wird heute von keinem seri-
ösen Geschichtsforscher angezweifelt. Aber es ist ein heftiger
Streit über die Frage nach der Schuld an seinem Tod entbrannt.
Wer trägt die Verantwortung dafür: seine jüdischen Mitbürger
oder die römische Besatzungsmacht, vertreten durch den Statt-
halter Pilatus? Die Berichte der Evangelien legen nahe, dass zu-
mindest die religiöse und politische Elite – vor allem die jüdi-
sche Priesteraristokratie – in Jerusalem eine erhebliche Mitver-
antwortung trägt. Jesus hat mit seiner Verkündigung und seinem
Verhalten Widerspruch und Ablehnung bei ihnen hervorgerufen.
Aus diesem Grund ergriffen sie die Initiative bei der Gefangen-
nahme und traten als Ankläger bei Pilatus auf.
Pilatus sei nicht davon überzeugt gewesen, dass Jesus ein todes-
würdiges Verbrechen begangen hätte und habe ihn freilassen
wollen. Die von den obersten Priestern und Pharisäern aufgesta-
chelte Menschenmenge habe aber immer lauter gerufen: Kreu-
zige ihn, kreuzige ihn. Das Angebot von Pilatus, Jesus im Rah-
men der Passa Amnestie zu begnadigen, sei abgelehnt worden
und stattdessen die Freilassung des Freiheitskämpfers Barabbas
gefordert. Pilatus sei schließlich eingeknickt und habe der Hin-
richtung von Jesus zugestimmt. Leider hat diese Schilderung des
Prozesses gegen Jesus später dazu geführt, dass das jüdische
Volk in Sippenhaft genommen wurde. Man bezeichnete die Ju-
den als "Gottesmörder" und fachte damit den latenten Antisemi-
tismus in Europa noch weiter an. Die Folge war eine lange und
traurige Geschichte der Judenverfolgung im christlichen Abend-
land.
Auf diesem Hintergrund kann man verstehen, dass Geschichts-
Seite 129

forscher und Theologen spätestens seit dem Holocaust sich da-


rum bemühen, die religiösen Wurzeln des Antisemitismus aus-
zumerzen und zu einer Versöhnung zwischen Christen und Ju-
den beizutragen. Um dies zu erreichen, ist es aus ihrer Sicht not-
wendig, den Prozess gegen Jesus neu zu deuten, mit dem Ziel,
die Verantwortung für seinen Tod am Kreuz auf den römischen
Statthalter Pilatus zu legen. Der Prozess sei politisch motiviert.
Pilatus hätte in Jesus einen gefährlichen Aufrührer gesehen und
in einem kurzen Prozess ihn zum Tode verurteilt. Pilatus war ja
bekannt für seine Brutalität und Willkür. So etwas wäre ihm
ohne Weiteres zuzutrauen. Eine Beteiligung der Juden hätte es
nicht gegeben.
Soweit die neue Sicht auf den Prozess gegen Jesus, die natürlich
im Widerspruch zu den Berichten der vier Evangelien steht. Das
wird von den Protagonisten dieser Sicht folgendermaßen erklärt:
Die Evangelien seien in einer Zeit geschrieben worden, als die
Christen im ganzen römischen Imperium verfolgt wurden. Ihre
Autoren hätten das Ziel verfolgt, die römische Obrigkeit gegen-
über den Christen freundlich zu stimmen. Darum hätten sie die
Fakten über den Prozess gegen Jesus auf den Kopf gestellt, in-
dem sie Pilatus entlastet und die Verantwortung für den Tod von
Jesus auf die Juden gelegt hätten.
Diese neue Deutung des Prozesses gegen Jesus steht jedoch auf
schwachen Füßen. Die Autoren der Evangelien waren – mit Aus-
nahme von Lukas – alle Juden gewesen. Sie betrachteten sich
immer noch als Angehörige dieses Volkes, als Juden, die an Je-
sus als den von Gott gesandten Messias glaubten. Ihr größter
Wunsch war, die Botschaft des Evangeliums ihren Landsleuten
zu verkündigen. Man kann sich schwer vorstellen, dass sie ihrem
Seite 130

Volk die Schuld am Tod von Jesus aufbürdeten, um die Römer


zu entlasten.
Die Evangelien sehen die Schuld nicht beim ganzen jüdischen
Volk, sondern bei den obersten Priestern, den Schriftgelehrten
und Pharisäern. Sie beschreiben sehr glaubwürdig, wie sich der
Konflikt zwischen Jesus und diesen führenden Männern der jü-
dischen Gesellschaft entstand und schließlich soweit eskalierte,
dass die Gegner von Jesus eine Möglichkeit suchten, ihn zu be-
seitigen. Sie waren es auch, die die Menschenmenge vor dem
Palast von Pilatus aufstachelten, die Kreuzigung von Jesus und
die Freigabe von Barabbas zu verlangen.
Pilatus hat zwar buchstäblich seine Hände in Unschuld gewa-
schen, aber auch er trägt eine große Verantwortung am Tod von
Jesus, denn ohne seine Einwilligung hätte Jesus nicht gekreuzigt
werden können.
Warum musste Jesus sterben?
Die Evangelien erzählen uns, dass Jesus viele Gegner bei den
einflussreichen Gruppen in Israel hatte: den Pharisäern, den
Schriftgelehrten und dem Hohen Rat in Jerusalem. Die Pharisäer
und Schriftgelehrten betrachteten sich als die Hüter des wahren
Glaubens in Israel. Sie warfen Jesus vor, sich nicht an das Sab-
batgebot zu halten und Gott zu lästern, weil er sich als Sohn Got-
tes bezeichnete. Jeder dieser beiden Vorwürfe war nach dem mo-
saischen Gesetz ausreichend, um Jesus zum Tode zu verurteilen.
Dieser Beschluss stand schon ziemlich früh bei ihnen fest. Im
Johannesevangelium lesen wir (Johannes 5,18): "Darum trach-
teten die Juden noch mehr danach, ihn zu töten, weil er nicht
allein den Sabbat brach, sondern auch sagte, Gott sei sein Vater,
und machte sich selbst Gott gleich."
Seite 131

Dann gab es noch politische Gründe, die den Hohen Rat in Jeru-
salem mit seinen 71 Mitgliedern veranlasste, in Jesus eine Ge-
fahr zu sehen. Diese Versammlung verfügte während der römi-
schen Herrschaft in Judäa über einen erheblichen Einfluss und
eine gewisse Autonomie. Die Mitglieder des Hohen Rates waren
darauf bedacht, diese Autonomie zu bewahren und betrachteten
jeden potentiellen Störer der öffentlichen Ordnung als Gefahr.
Sie fürchteten sich davor, dass die Anhänger von Jesus versu-
chen könnten, einen Aufstand gegen die Römer anzuzetteln, um
ihn zum König über Israel auszurufen. Nach der Auferweckung
von Lazarus durch Jesus versammelten die Hohenpriester und
die Pharisäer den Hohen Rat und sprachen: "Was tun wir? Dieser
Mensch tut viele Zeichen. Lassen wir ihn gewähren, dann wer-
den sie alle an ihn glauben, und dann kommen die Römer und
nehmen uns Land und Leute."74 Diese Sorge bestätigte sie in ih-
rem Ansinnen, Jesus zu verhaften und an die Römer auszulie-
fern.
Welche Bedeutung hat der Tod von Jesus am Kreuz?
Aus der juristischen Perspektive waren es also religiöse und po-
litische Gründe, die zur Verurteilung und Kreuzigung von Jesus
führten. Jesus selber aber sah darin einen Ratschluss Gottes. Er
wusste im Voraus, welches Ende in Jerusalem auf ihn wartete
und sprach mehrmals mit seinen Jüngern darüber, damit sie nicht
von den Ereignissen der Karwoche überrumpelt wurden: "Er
nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir ge-
hen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden,
was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschen-

74
Johannes 11,47-48
Seite 132

sohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er


wird verspottet und misshandelt und angespien werden, und sie
werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auf-
erstehen."75 Jesus sah sein Leiden und seinen Tod als Erfüllung
prophetischer Worte aus der Heiligen Schrift. Vom Heiligen
Geist erfüllt, haben Propheten das Geschehen auf Golgatha
schon viel früher geschaut. Im Gegensatz zur vorherrschenden
Meinung über den Messias als mächtigen Herrscher, sahen sie
in ihm den leidenden Gottesknecht, der sein Leben für andere
hingibt, um sie zu retten.
Doch selbst die Jünger von Jesus konnten und wollten das nicht
begreifen. Das Lukasevangelium erzählt die Geschichte der
zwei Jünger aus Emmaus, die nach der Kreuzigung von Jesus
unterwegs waren von Jerusalem zu ihrem Heimatdorf. Auf ih-
rem Weg tauschten sie sich aus über ihre Erinnerungen an Jesus.
Sie waren total niedergeschlagen. In ihren Augen war alles
schiefgelaufen. Die Hoffnung, die sie in Jesus als den Messias
gesetzt hatten, war mit seinem Tod geplatzt. Der auferstandene
Jesus gesellte sich zu ihnen, blieb aber unerkannt. Er hörte sich
ihr Gespräch eine Weile an und dann sagte er: "Ihr unverständi-
gen Leute! Wie schwer fällt es euch, all das zu glauben, was die
Propheten gesagt haben! Musste denn der Messias nicht das al-
les erleiden, um zu seiner Herrlichkeit zu gelangen?" Dann ging
er mit ihnen die ganze Schrift durch und erklärte ihnen alle Stel-
len, die sich auf ihn bezogen. Hinter dem Tod von Jesus steht ein
göttlicher Ratschluss, der an vielen Stellen in der Heiligen
Schrift bezeugt ist.

75
Lukas 18, 31-34
Seite 133

Bleibt noch die Frage nach dem Sinn von Jesu Leiden und Tod
zu klären. Die Bibel verwendet dafür verschiedene Begriffe:
Rechtfertigung, Erlösung, Vergebung, Versöhnung, Sühnung.
Vielleicht kann man sie in einem einfachen Satz zusammenfas-
sen: Jesus hat sein Leben am Kreuz hingegeben, um unsere Be-
ziehung zu Gott, die durch die Sünde76 zerrüttet war, zu heilen.
Und gerade an diesem Punkt entzündet sich der Widerspruch.
Viele Christen – Theologen und Laien – wehren sich heute ge-
gen den Gedanken, dass Jesus unsere Schuld am Kreuz gesühnt
habe. Sie sagen, dies sei der Ausdruck einer überholten Opfer-
theologie. An einen Gott, der den Tod eines Menschen als Sühne
für die Schuld anderer verlangt, können sie nicht glauben. Die
Kritik richtet sich besonders gegen die Lehre, Jesus habe sterben
müssen, um Gottes Zorn zu besänftigen und ihm Genugtuung zu
verschaffen. Eine Lehre, die übrigens in der Bibel nicht vertreten
wird. Die Kritik am Opfertod Jesu übersieht einen entscheiden-
den Punkt: Nicht wir Menschen sind es, die Gott ein Opfer brin-
gen, um seinen Zorn zu besänftigen, sondern in Jesus Christus
gibt Gott sich selbst hin, um die Menschen zu versöhnen: "Denn
Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und
rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerich-
tet das Wort von der Versöhnung."77 Gott selber ergreift die Ini-
tiative zur Versöhnung. Er liefert sich der Feindschaft und dem
Hass der Menschen aus. Er stellt sich am Kreuz unter die Schuld
und das Elend der Menschen und überwindet sie durch seine
Liebe. Sein Motiv ist nicht Vergeltung, sondern Vergebung und

76
Das griechische Wort, das im Neuen Testament für Sünde verwendet wird,
Hamartia, bedeutet Zielverfehlung. Wer sich von Gott abkehrt, lebt am Ziel
vorbei.
77
2. Korinther 5,19
Seite 134

Versöhnung.
Das Kreuz Jesu ist der Beleg für die Ernsthaftigkeit seiner Bot-
schaft. Er sprach nicht nur von unbedingter Liebe, er lebte sie,
auch als sie ihn das eigene Leben kostete. Das Kreuz ist Aus-
druck einer grenzenlosen Liebe, die alles einsetzt und sei es auch
das eigene Leben.
Seite 135

Kapitel 15: Die Auferstehung


Am frühen Sonntag machten sich die Frauen zum Grab auf und
stellten mit Entsetzen fest, dass der Stein weggerollt war von der
Öffnung. Der Leichnam von Jesus befand sich nicht mehr darin.
Zwei Männer in strahlenden Kleidern – so beschreibt sie der
Evangelist Lukas – traten zu den Frauen und sagten ihnen: "Was
sucht ihr den Lebenden bei den Toten. Er ist nicht hier, sondern
er ist auferstanden." Die Frauen rannten vom Grab weg und gin-
gen zu den Jüngern, die sich aus Angst in einem Haus in Jerusa-
lem versteckt hielten. Die Jünger reagierten mit Skepsis und Un-
glauben auf den Bericht der Frauen. Lukas schreibt: "Es erschie-
nen ihnen diese Worte als leeres Gerede, und sie glaubten den
Frauen nicht."
Es war dann Petrus, der sich – trotz aller Skepsis – zum Grab
aufmachte und sich überzeugen konnte, dass es tatsächlich leer
war. Die vier Evangelisten berichten, dass der auferstandene Je-
sus danach mehrmals den Jüngern erschienen ist und sie beauf-
tragte, das Evangelium in Judäa, Samaria und in allen Ländern
der Erde zu verkündigen.
Natürlich taucht hier sofort die Frage nach der Glaubwürdigkeit
dieser Berichte auf: Waren die Begegnungen der Jünger mit dem
Auferstandenen echt, oder handelt es sich um Halluzinationen
oder gar erfundene Geschichten? Zunächst sollte man klären,
was die Bibel unter Auferstehung versteht. Eigentlich sollte man
hier besser den Begriff Auferweckung verwenden, denn nicht
der Tote steht aus eigener Kraft aus dem Tod wieder auf, sondern
Seite 136

es handelt sich um eine Tat, die Gott vollbringt78. Auferweckung


ist nicht die Belebung einer Leiche, zurück ins alte Leben. Sie
ist auch kein Durchbrechen von Naturgesetzen, sondern der
Wechsel in ein ganz anderes Leben, in dem die uns bekannten
Naturgesetze nicht gelten. In eine andere Realität, die nicht mehr
Raum und Zeit unterliegt. Sie ist ein kreativer Akt Gottes – wie
bei der ersten Schöpfung.
Auferweckung ist kein Weiterleben nach dem Tod. Sie ist auch
nicht die Unsterblichkeit der Seele. Diese Vorstellung kommt
aus der griechischen Philosophie: Der Körper ist das Gefängnis
der Seele. Im Tod stirbt der Körper und die Seele wird frei. Diese
Leibfeindlichkeit ist der Bibel fremd. Nicht die Seele lebt weiter,
sondern Gott wird die Toten in einem neuen schöpferischen Akt
auferwecken. Die Auferweckung lässt sich auch nicht mit der
Lehre von der Wiedergeburt (Reinkarnation) in den fernöstli-
chen Religionen vergleichen. Sie kann nur leiblich verstanden
werden. Die Toten bekommen einen neuen Leib, der nicht mehr
sterben kann.
Die Frage, die sich uns stellt, ist: Wie glaubwürdig ist das Zeug-
nis der Jünger über die Auferweckung? Es gibt einen Einwand,
den man durchaus ernst nehmen muss: Die Jünger hätten diese
Vorstellung entwickelt, weil sie durch den Tod von Jesus trau-
matisiert waren. Sie brauchten einen Strohhalm, an den sie sich
wieder aufrichten konnten. Es gibt jedoch einige stichhaltige
Gründe, die für die Auferweckung sprechen:

78
Die nachfolgenden Erläuterungen stammen aus einem Vortrag von Prof.
Siegfried Zimmer: "Wie glaubwürdig ist die Botschaft von der Auferweckung
Jesu?"
Seite 137

1. Das Leere Grab: Ausgangspunkt für die Verkündigung der


Auferweckung von Jesus ist die Erfahrung vom leeren Grab am
Ostermorgen. Diese Verkündigung von der Auferweckung hätte
sich keine Woche in Jerusalem halten können, wenn das Grab
nicht leer gewesen wäre. Der Hohe Rat in Jerusalem hatte Pila-
tus gebeten, das Grab bewachen zu lassen. Mehrere Soldaten
wurden damit beauftragt. Die Mitglieder des Hohen Rates
brachten das Gerücht in Umlauf, dass die Jünger den Leichnam
gestohlen hätten. Die Jünger waren aber nach der Kreuzigung
von Jesus eingeschüchtert und hielten sich versteckt. Sie hatten
Angst, ihnen könnte dasselbe Schicksal ereilen. Wie sollten sie
dann gewagt haben, den Leichnam aus dem bewachten Grab zu
stehlen?
2. Es gibt in der jüdischen Religion keine Vorstellung, dass ein
einzelner alleine auferweckt werde. Die frommen Juden glaub-
ten: Am Ende der Geschichte werden alle auferweckt (Daniel
12). Sie erwarteten dieses Ereignis für den Jüngsten Tag und
rechneten damit, dass alle Toten (oder zumindest alle Gerechten)
gemeinsam zur Auferstehung gelangen würden. An die Aufer-
stehung würde sich unmittelbar das Jüngste Gericht anschließen
und dann käme die ersehnte ewige Seligkeit, und zwar hier, auf
der verwandelten und wiederhergestellten Erde. Wir wissen aus
dem Neuen Testament, dass dies die Überzeugung der Pharisäer
war, die im Volk den größten Einfluss hatten. Wie sollen die
Jünger die Vorstellung entwickelt haben, dass ein einzelner –
Jesus – schon lange vor dem Endgericht allein auferweckt
würde, wenn sie in ihrer Welt gar nicht existierte?
3. Die erstaunliche Rolle der Frauen. Sie waren die ersten Zeu-
gen, die vom leeren Grab erzählten. Dabei wurden Frauen da-
mals als Zeugen nicht anerkannt. Wenn die Geschichte erfunden
Seite 138

worden wäre, warum haben die Evangelien ausgerechnet Frauen


als erste Zeugen benannt?
4. Die Verwandlung der Jünger: Die Kreuzigung war die
schlimmste Katastrophe für die Jünger. Sie waren schwer ent-
täuscht und hatten Angst. Auf der Gegenseite war Triumph.
Aber es blieb nicht dabei. Wenige Tage nach der Kreuzigung
überraschten die Jünger alle durch ihren mutigen Auftritt in Je-
rusalem. Der Hohe Rat hatte ihnen unter Androhung drastischer
Strafen verboten, zu lehren, dass Jesus auferstanden sei. Petrus
und die anderen Apostel antworteten darauf: "Man muss Gott
mehr gehorchen als den Menschen. Der Gott unsrer Väter hat
Jesus auferweckt, den ihr an das Holz gehängt und getötet habt.
Den hat Gott durch seine rechte Hand erhöht zum Fürsten und
Heiland, um Israel Buße und Vergebung der Sünden zu geben.
Und wir sind Zeugen dieses Geschehens."79 Wären die Erschei-
nungen des auferstandenen Jesus tatsächlich nur Halluzinatio-
nen der Jünger gewesen, wie können wir dann diese Verwand-
lung von verängstigten und enttäuschten Nachfolgern in mutige
Zeugen der Auferstehung erklären?
5. Die Bekehrung des Saulus von Tarsus: Saulus war ein grie-
chisch gebildeter Jude und gesetzestreuer Pharisäer. Er sah in
der neuen Lehre der Apostel eine Gefahr für das Judentum und
verfolgte die junge christliche Gemeinde in Jerusalem. Saulus
sorgte dafür, dass viele Christen ins Gefängnis kamen und war
am Tod des ersten christlichen Märtyrers, Stephanus, maßgeb-
lich beteiligt. Wenige Jahre nach dem Tod von Jesus war Saulus
mit Begleitern unterwegs nach Damaskus. Er hatte sich Briefe
vom Hohen Priester an die Synagogen in Damaskus geben las-

79
Apostelgeschichte 5, 29-32
Seite 139

sen, um die Anhänger der neuen Lehre aufzuspüren und sie als
Gefangene nach Jerusalem zu nehmen. Als er nahe bei Damas-
kus war, erschien ihm ein helles Licht am Himmel, das ihn blen-
dete. Er stürzte von seinem Pferd zu Boden und hörte eine
Stimme, die ihm sagte: "Saul, Saul, was verfolgst du mich?"
Paulus fragte: "Herr, wer bist du?" Und Jesus antwortete: "Ich
bin der Jesus, den du verfolgst." Dieses Ereignis führte zu einer
grundlegenden Umkehr bei Saulus. Aus dem Verfolger der
Christen wurde der größte christliche Missionar der frühen
Christenheit. Er bereiste große Teile des römischen Reiches und
gründete viele christliche Gemeinden. Seine Briefe gehören zu
den frühesten schriftlichen Zeugnissen im Neuen Testament.
Saulus hatte, als entschiedener Gegner und Verfolger der Chris-
ten, bestimmt kein Interesse daran, die Geschichte von der Be-
gegnung mit dem auferstandenen Jesus zu erfinden.
6. Alle vier Evangelien berichten von der Auferweckung und
von Begegnungen mit dem Auferstandenen. Dabei widerspre-
chen sie sich zum Teil in den Details. Dieses Phänomen erlebt
man oft bei außergewöhnlichen Ereignissen: Die Berichte der
Zeugen sind unterschiedlich. Die ersten Christen haben sich gar
nicht darum bemüht, diese Berichte zu harmonisieren. Wenn die
Auferweckung eine Erfindung der Jünger gewesen wäre, dann
hätten sie eine einheitliche Geschichte herausgebracht.
Die Botschaft von der Auferweckung ist schwer zu begreifen,
weil es keine Analogien in der Geschichte gibt. Eins steht jedoch
zweifelsfrei fest: Sie bildete das Zentrum der Verkündigung der
Apostel und war ein unverzichtbarer Teil des christlichen Glau-
bens. In einem der frühesten schriftlichen Zeugnisse im Neuen
Testament über dieses Ereignis schreibt der Apostel Paulus an
Seite 140

die Gemeinde in Korinth80: "Zuerst habe ich euch weitergege-


ben, was ich selbst empfangen habe: Christus ist für unsere Sün-
den gestorben. So steht es schon in der Heiligen Schrift. Er
wurde begraben und am dritten Tag vom Tod auferweckt, wie es
in der Heiligen Schrift vorausgesagt ist." Mit diesen Worten for-
muliert Paulus so etwas wie ein erstes Glaubensbekenntnis der
Christen. Und dann fährt er fort: "Er hat sich zuerst Petrus ge-
zeigt und später allen aus dem engsten Kreis der Jünger. Dann
haben ihn mehr als fünfhundert Brüder und Schwestern zur glei-
chen Zeit gesehen, von denen die meisten heute noch leben; ei-
nige sind inzwischen gestorben. Später ist er Jakobus und
schließlich allen Aposteln erschienen. Zuletzt hat er sich auch
mir gezeigt, der ich es am wenigsten verdient hatte. Ich bin der
unbedeutendste unter den Aposteln und eigentlich nicht wert,
Apostel genannt zu werden; denn ich habe die Gemeinde Gottes
verfolgt. Alles, was ich jetzt bin, bin ich allein durch Gottes
Gnade." Paulus zählt eine Reihe von Zeugen auf, denen der auf-
erstandene Jesus erschienen ist. Auffallend ist dabei, dass die
Frauen in dieser Liste fehlen. Das liegt allerdings daran, dass das
Zeugnis von Frauen damals nicht anerkannt wurde. Dann
schreibt er noch ein paar Sätze an die Skeptiker in der Gemeinde,
die ihre Probleme mit dem Glauben an die Auferstehung hatten:
"Wir verkünden alle übereinstimmend, dass Gott Christus von
den Toten auferweckt hat. Wie können da einige von euch be-
haupten: 'Eine Auferstehung der Toten gibt es nicht!?' Wenn es
keine Auferstehung der Toten gibt, dann kann ja auch Christus
nicht auferstanden sein. Wäre aber Christus nicht auferstanden,
so hätte unsere ganze Predigt keinen Sinn, und euer Glaube

80
1. Korinther 15
Seite 141

hätte keine Grundlage. …. Wenn aber Christus nicht von den To-
ten auferweckt wurde, ist euer Glaube nichts als Selbstbetrug,
und ihr seid auch von eurer Schuld nicht frei. Ebenso wären
auch alle verloren, die im Glauben an Christus gestorben sind.
Wenn der Glaube an Christus uns nur für dieses Leben Hoffnung
gibt, sind wir die bedauernswertesten unter allen Menschen."
Hätte die Geschichte von Jesus am Karfreitag geendet, dann
wäre er ein vorbildlicher Mensch, wie es sie in der Geschichte
immer wieder gab. Menschen, die viel Gutes taten und bereit
waren, mit ihrem Leben für ihre Überzeugungen einzustehen.
Das Wichtigste für die Frauen und Männer, die damals Jesus
nachfolgten, war, dass Gott das Lebenswerk von Jesus dadurch
bestätigte, dass er ihn vom Tod auferweckte. Jesus durfte erfah-
ren: Gott ist treu. Er lässt uns nicht im Tod. Die Auferstehung
steht für die Hoffnung, dass Christen wohl sterben können, aber
sie werden – wie Jesus selbst – nicht im Tod bleiben.
Seite 142

Kapitel 16: Wer war Jesus: Menschenfreund, Wunder-


täter, Revolutionär, Gottes Sohn?81
Die Frage nach der wahren Identität einer Person ist nicht leicht
zu beantworten. Je nachdem, wen wir fragen – seine Freunde,
Familienangehörige oder gar seine Feinde – bekommen wir sehr
unterschiedliche Antworten. Nicht anders verhielt es sich damals
bei Jesus. Für seine Feinde – die religiöse und politische Ober-
schicht des Volkes Israel – war er ein Ketzer und ein gefährlicher
Brandstifter. Seine Familienangehörige hielten ihn zunächst für
einen übergeschnappten religiösen Träumer, den man zur Räson
bringen müsste. Erst nach seiner Auferstehung haben sie ihre
Meinung über ihn geändert. Das Volk, das seine Heilungswun-
der und Predigten erlebte, hielt ihn für einen großen Propheten.
Und Petrus antwortete auf die Frage von Jesus an seine Jünger,
"Und ihr, für wen haltet ihr mich?" mit einem Bekenntnis: "Du
bist Christus82, der Sohn des lebendigen Gottes."
Zweitausend Jahre danach gibt es immer noch viele – zum Teil
sich widersprechende – Antworten auf die Frage: Wer war, wer
ist Jesus? Ein Menschenfreund, ein Wundertäter, ein Revolutio-
när, Gottes Sohn? Welche Berechtigung haben diese unter-
schiedlichen Sichtweisen auf Jesus?
War Jesus ein Menschenfreund? Das erste, was bei Jesus – nach
den Berichten der Evangelien – auffällt, ist seine Freundlichkeit
und seine Nähe zu den Menschen. Seine Rede war anschaulich

81
Dieses letzte Kapitel basiert auf einem Vortrag von Hans Joachim Eckstein,
Professor für Neues Testament an der Universität Tübingen
82
"Christus" kommt aus dem altgriechischen Wort "Χριστός=Christos" und
bedeutet "der Gesalbte". Es ist ein biblischer Hoheitstitel und entspricht dem
hebräischen Begriff Messias.
Seite 143

und lebensorientiert. Die Menschen waren von seinem ersten öf-


fentlichen Auftreten an von ihm fasziniert. Er lehrte nicht von
irgendwelchen Geboten und Rechten; er hatte die Menschen im
Blick. Jesus konnte jeden abholen, da wo er war. Er wurde den
Menschen gerecht, selbst denen, die sich ungerecht verhielten.
Er hat sich denen zugewandt, die ausgegrenzt waren: Kranke,
Behinderte, Aussätzige und Menschen, die auf Grund ihrer Le-
bensführung einen schlechten Ruf hatten. Er nahm seine theolo-
gischen Gegner, die Schriftgelehrten und die Pharisäer, ernst und
führte viele Gespräche mit ihnen, in der Hoffnung, sie für seine
Sicht von Gott zu gewinnen. Jesus nahm auch gerne Einladun-
gen an. Er feierte Tischgemeinschaft mit vielen unterschiedli-
chen Menschen, auch mit den verhassten Zollbeamten und mit
Prostituierten. Seine frommen Gegner warfen ihm vor: "Er
speist mit Sündern und Zöllnern." Tischgemeinschaft bedeutete
damals Wertschätzung und Anerkennung. Er konnte Menschen
aufrütteln, einfach durch die Aufmerksamkeit, die er ihnen
schenkte, und sie zu einer Änderung ihrer Lebensführung bewe-
gen. Bei ihm fühlten sich die Menschen aufgehoben und ange-
nommen, so wie sie sind. Und damit wollte er zeigen: So ist
Gott. Ein gütiger Vater, der seine Sonne aufgehen lässt über Böse
und Gute und es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte. Er
ist der Schöpfer, der Beziehung will zu den Menschen.
Wer war Jesus? Ja, er war eindeutig ein Menschenfreund. War er
auch ein Wundertäter? Das ergibt sich zunächst von selbst. Was
geschieht, wenn Menschen, die ausgegrenzt, verachtet und iso-
liert waren, krank an Leib und Seele, plötzlich Liebe und An-
nahme erfahren? Jesus begegnet diesen Menschen, spricht ihnen
Gottes Nähe, Vergebung und Heil zu und ihre Ketten werden ge-
sprengt. Lahme können gehen und Blinde sehen. Liebe, die ganz
Seite 144

voraussetzungslos geschenkt wird, kann nicht folgenlos bleiben.


Menschen, die Jesus begegnet sind, haben Gott neu gesehen, ha-
ben seine Freundlichkeit geschmeckt. So wurden sie verändert.
Ihre Lasten fielen ab und sie konnten in der Gemeinschaft mit
Jesus ein neues Leben beginnen. Die Medizin erkennt heute die
Zusammenhänge zwischen seelischem Wohlbefinden und Ge-
sundheit. Auf Grundlage dieser Erkenntnis kann man einiges er-
klären, was manche damals an Heilung und Befreiung bei sich
erlebten.
Es geschahen aber auch viele Wunder durch Jesus, die sich nicht
erklären lassen. Diese Wunder sind kein Ersatz für den Glauben.
Jesus lehnte es ab, Wunder als Beweis seiner Gottessohnschaft
auszugeben. Er hat diese Wunder nicht instrumentalisiert, um für
seine Person zu werben. Im Gegenteil: Er hat oft den Geheilten
verboten, von ihrer Erfahrung mit ihm weiter zu erzählen. Jesus
war nicht ein Wundertäter, der Sensation suchte, aber es ist un-
bestritten, dass er Kranke heilte. Das mussten sogar seine Geg-
ner zugeben.
War Jesus ein Revolutionär? In den siebziger Jahren des letzten
Jahrhunderts hat man Jesus als Vorbild genommen für den Wi-
derstand und den politischen Ungehorsam. Das hat man an der
Austreibung der Händler aus dem Tempel festgemacht. Da hat
Jesus richtig hingelangt. Aber man wird ihm in dieser Hinsicht
am wenigsten gerecht, wenn man einen Revolutionär als jemand
versteht, der mit Gewalt gegen Personen und Sachen seine Ziele
durchsetzt. In der Bergpredigt wird die Ethik von Jesus deutlich:
Wir verändern die Welt weder durch Gewalt noch mit Waffen,
sondern durch die praktisch gelebte Liebe, durch Wahrhaftigkeit
und Aufrichtigkeit. Durch die Bereitschaft, zu vergeben und sich
Seite 145

zu versöhnen. Es gibt viele Beispiele in der Geschichte von


Menschen, die sich am Beispiel von Jesus orientierten. Sie ha-
ben durch ihren Verzicht auf Gewalt große Veränderungen be-
wirkt.
Weil Jesus auf Macht und Ehre verzichtete, weil er Liebe und
Vergebung lebte, hat er die Mächtigen seiner Zeit aus Religion
und Politik provoziert. Einfach durch sein Anderssein. Er wurde
gefangen genommen, gefoltert und schließlich gekreuzigt, ob-
wohl er nichts Böses getan hatte.
Aber Jesus blieb nicht im Tod. So lautet das einhellige Zeugnis
der Evangelien. Und sie gründet auf die Aussagen vieler Zeugen.
Darum feierten die ersten Christen Jesus als den Erstgeborenen
aus den Toten. Er – so bekannten sie – ist der Sohn Gottes. Der
Ausdruck Sohn Gottes oder Gottessohn war als ein Ehrentitel in
einigen Religionen schon früher geläufig. Im Judentum bezeich-
net er das Volk Israel, Könige Israels und einzelne gerechte Isra-
eliten. Doch in Bezug auf Jesus hat dieser Titel eine andere Be-
deutung: Gott hat durch sein Leben, seinen Tod am Kreuz und
durch seine Auferweckung in einer einzigartigen Weise gehan-
delt. Der Apostel Johannes bezeichnet ihn als das menschgewor-
dene Wort Gottes, durch das Gott in dieser Welt handelt. Dieses
Wort war schon seit Anbeginn der Welt bei Gott und hat in Jesus
menschliche Gestalt angenommen: "Das Wort wurde Mensch
und lebte unter uns. Wir selbst haben seine göttliche Herrlichkeit
gesehen, eine Herrlichkeit, wie sie Gott nur seinem einzigen
Sohn gibt. In ihm sind Gottes Gnade und Wahrheit zu uns ge-
kommen."83 Johannes gelangte zu dieser Erkenntnis durch die

83
Johannes 1, 14
Seite 146

drei Jahre, die er mit Jesus verbrachte und im Lichte der Aufer-
stehung.
Wer war, wer ist Jesus: Menschenfreund, Wundertäter, Revolu-
tionär, Sohn Gottes? Das ist eine Frage, die viele sich immer
wieder stellen: Theologen, Historiker, Gläubige und Skeptiker.
Wer ist der Wahrheit näher? Diese Frage können wir am ehesten
beantworten, wenn wir uns auf den Weg der Nachfolge begeben.
Aus der Distanz einer neutralen Beobachterposition lässt sich
das Geheimnis einer Person nicht entschlüsseln. Und so verstehe
ich diese Biografie als eine Einladung, sich unvoreingenommen
auf den Menschen Jesus von Nazareth, wie die Zeitzeugen ihn
beschreiben, einzulassen. Vielleicht entdecken wir dabei, dass er
uns auch heute manches zu sagen hat, was unser Leben verän-
dert.
Seite 147

Der Berg der Seligpreisungen mit dem See Genezareth im Hintergrund

Das "Jesusboot", rekonstruiert aus den Resten eines 2000 Jahre alten
Bootes, das auf dem Grund des Sees Genezareth gefunden wurde

Modell des herodianischen Tempels


Seite 148

Der Garten Gethsemane mit den uralten Olivenbäumen

Blick vom Kidrontal gen Osten auf den Ölberg

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