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Was ist Aufklärung?

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Auszug aus Horst Möller: ,,Vernunft und Kritik" (1986)

Im vorliegenden Textauszug aus „Vernunft und Kritik" spürt der Münchner Professor für Neuere und Neueste Ge-
schichte, Horst Möller, der Frage nach, was der Begriff „Aufklärung" historisch eigentlich bedeutete. Er setzt sich
mit den Antworten auseinander, die Zeitgenossen der Aufklärung (allen voran der Philosoph Immanuel Kant) auf
diese Frage formuliert haben, und arbeitet ausgehend davon wesentliche Grundzüge der Aufklärung heraus.

,, Was ist Aufklärung? Diese Frage beschäftigte die Auf- Gott zu erforschen, das eigentliche Studium der
klärer noch, als der Begriff längst zum Schlagwort Menschheit ist der Mensch." [ ... ] Und in der franzö-.
geworden war, vor dem sich alles, was die aufgeklär- sischen Aufklärung findet sich ein verwandtes Prin-
ten Zeitkritiker zur Finsternis zählten, zu rechtferti- zip: ,,Unser Heil ist unser eigens Werk, mithilfe der
s gen hatte. Den Anlass zu erneuter Beschäftigung mit Gnade."[ ... ] Beide Sätze zeigen, in welcher Richtung
diesem Problem lieferte der Theologe Johann Fried- die Anthropozentrik offensiv wurde: Die Diesseitig-
rich Zöllner, als er 1783 in der Berlinischen Monats- keit des Menschen wird gegen seine religiös verstan-
schritt, einem führenden Diskussionsforum der deut- dene Jenseitigkeit ausgespielt. Und auch Kants Defi-
schen Aufklärung, schrieb. ,, Was ist Aufklärung? nition der Aufklärung von 1783 implizierte diesen
10 Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als was ist Zusammenhang, wenn er seine Reflexionen mit den
Wahrheit, sollte doch wohl beantwortet werden, ehe berühmten Sätzen einleitete:
man aufzuklären anfinge! Und noch habe ich sie nir-
gends beantwortet gefunden!" [ ... ] Die beiden be- „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner
rühmtesten Antworten gaben im Jahre 1784 der Kö- selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das
1s nigsberger Philosoph Immanuel Kant und der Berliner Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines
Kaufmann Moses Mendelssohn, Protagonist der jü- anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmün-
dischen Aufklärung. [ ... ] Mendelssohn bemerkte: digkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des
Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes
11Die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung sind in unsrer liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.
Sprache noch neue Ankömmlinge. Sie gehören vor der Sapere audel Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes
20 Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe verste- zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.•
het sie kaum. Sollte dieses ein Beweis sein, dass auch die [... ]
Sache bei uns noch neu ist? Ich glaube nicht."
Sapere aude! Dieser Imperativ der Aufklärung gilt für
Mendelssohn sah in den drei erwähnten Worten alle Lebensbereiche, gilt für Religion und Kirche,
,,Modifikationen des geselligen Lebens". Bildung zer- Staat und Gesellschaft, Philosophie und Wissen-
2s falle in Kultur und Aufklärung; während Kultur mehr schaft, Geschichte und Gegenwart. Selbstdenken, ein
auf das Praktische gehe, scheine sich Aufklärung mehr anderes Schlüsselwort der Aufklärung, zielte auf die
auf das Theoretische zu beziehen. ,,Auf vernünftige ebenso verstandene Mündigkeit des Menschen, und ~
Erkenntnis (objekt.) und Fertigkeit (subj.) zum ver- es war im Sinne dieses Grundsatzes nur konsequent,
nünftigen Nachdenken, über Dinge des mensch- dass für Kant Freiheit die Voraussetzung der Aufklä-
30 liehen Lebens, nach Maßgebung ihrer Wichtigkeit rung bildete - die Freiheit nämlich, ,,von seiner Ver-
und ihres Einflusses in die Bestimmung des Men- nunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu
schen." Und an diesen schon für sich genommen die machen."[ ... ] Wenngleich Kant hier auch Einschrän- -
Aufklärung charakterisierenden Satz schließt sich[ ... ] kungen formulierte, [ ... ] sah er doch zweifelsfrei den
der Schlüsselsatz aller Aufklärung an: ,,Ich setze alle- Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschul-
35 zeit die Bestimmung des Menschen als Maß und Ziel deten Unmündigkeit „vorzüglich in Religionssa-
aller unserer Bestrebungen und Bemühungen." [ ... ] chen". [ ... ] Aber dieser zentrale Bezug aufgeklärten
Das Denken der Aufklärung ging in der Tat vom Men- Denkens weitete sich bald aus, wie Kant selber in der
schen aus, war anthropozentrisch 1 [ ••• ].Die von Men-
delssohn formulierte Maxime2 war weder neu noch
40 auf die deutsche Aufklärung beschränkt. Schon Alex-
1
anthropozentrisch = den Menschen in den Mittelpunkt
ander Pope3 hatte in seinem zwischen 1732 und 1734
stellend
publizierten Essay on Man ähnliche Überlegungen 2
Maxime = Hauptgrundsatz, Leitsatz, Lebensregel
formuliert: ,,Erkenne dich selbst. Maße dir nicht an, 3 englischer Dichter (1688-1 744) E
IAB~
Vorrede zur Kritik der reinen vemunft 1781 klar erken- Die den Menschen erkennbare Wahrheit ist allemal
nen ließ: relativ, niemals absolut - so lautete die Botschaft der 135
Ringparabel aus Lessings und der deutschen Aufklä-
„ Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der rung reifstem Werk Nathan der Weise. Und nur kon-
sich alles unterwerfen muss. Religion, durch ihre Heilig- sequent war es, von dieser Position aus, dass die To-
5 keit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich leranz - und das bedeutete zunächst die Toleranz
gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen unter den verschiedenen Religionen, den christli- 140
sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unver- chen und außerchristlichen - zu einem Hauptziel der
stellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunfr Aufklärung wurde. Die Aufklärer begründeten die
nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Forderung nach Toleranz aber keineswegs nur nega-
o Prüfung hat aushalten konnen."], .. ] tiv mit der Begrenztheit menschlichen Erkenntnis-
vermögens, sondern ebenso als positives menschen- 145
Für das Verhältnis der Aufklärung zum Staat gilt also rechtliches Postulat: ,,Der wahre Grund der Toleranz
im Prinzip das Gleiche wie gegenüber den Kirchen: ist: dass ein jeder Mensch ein angeborenes Recht hat,
Freie und öffentliche Prüfung durch die selbstden- in Glaubenssachen seiner Überzeugung zu folgen."
kende, nicht außengeleitete oder fremdbestimmte [ ... ]
5 menschliche Vernunft bildeten die Richtschnur, ih- Aufklärung bezeichnete also zunächst keine festste- 150
rem Richtspruch sollten sich weder Traditionen noch henden Inhalte, sondern ein prozessual verstandenes
Institutionen noch Individuen entziehen dürfen, Denkprinzip. [ )
Vernunft galt als letzte Instanz für alles Menschliche, Vernunft ist[ ] zunächst eine formale Kategorie, sie
ihr Mittel war die Kritik. bezeichnet ein menschliches Vermögen, das sich von
-o Wie Vernunft zählte Kritik zu den Schlüsselwörtern göttlicher Offenbarung unterscheidet. [ ... ] Der „Ge- 1s5
der Aufklärung. [ ... ] Tatsächlich hatte sich das Wort, danke der „Aufklärung" setzt, historisch wie sachlich
das zunächst die Kunst sachgemäßen Urteils in Kunst gesehen, die Idee einer „allgemeinen Menschenver-
und Wissenschaft meinte[ ... ], schnell verbreitet und nunft" voraus, die auf die verschiedenen Subjekte
bereits bei Goethe findet sich neben dem positiven verteilt ist" [Hinske]. [ ... ]
5 Gebrauch - nämlich durch Kritik das Wahre vom Vernunft ist also nur als Vermögen gegeben, nicht 160
Falschen zu scheiden - der Hinweis auf eine destruk- aber als vollendete Befindlichkeit. Dieses Vermögen
tive Form der Kritik. Aus Kritik wurde nur allzu leicht jedoch ist die Bedingung der Möglichkeit ihrer Ver-
Krittelei[ ... ].[ ... ] wirklichung, und hieraus folgt logisch der Prozess-
Der kritische Grundzug blieb [ ... ] über weite Strecken charakter der Aufklärung. Das galt auch für die Epo-
o ein Charakteristikum der Aufklärung, deren Verfech- che ihrer Blüte. Auf die Frage „Leben wir jetzt in 165
ter oft mit einer Vehemenz kritisierten, als gelte es, einem aufgeklärten Zeitalter?" antwortete Kant denn
das Falsche überhaupt aus der Welt zu schaffen. Kritik auch folgerichtig: ,,Nein, aber wohl in einem Zeitalter
allein mag für eine Methode stehen, für ein Prinzip der Aufklärung." [ ... ] Aufklärung ist nicht, sondern
des Denkens, ist an sich aber formal, sagt über Inhalt wird. Indem die Aufklärer sowohl von der Bildungs-
15 nichts aus. Und auch das ist kennzeichnend: Selten fähigkeit des Menschen überzeugt waren als auch ihr 110
ließen die Aufklärer einen Inhalt unkritisiert stehen. eigenes Zeitalter als aufgeklärter beurteilten denn die
Darin äußerte sich ihr vorbehaltloser Wille zur Refle- Zeit ihrer Väter und Vorväter, gingen sie von der
xion, zur Prüfung auch des scheinbar Selbstverständ- Möglichkeit des Fortschritts in der Geschichte aus.
lichen und Feststehenden. An dem heute modischen Bei nicht wenigen verdichtete sich diese Prämisse1
120 Begriff des „Hinterfragens" hätten sie ihre Freude ge- zur Deutung der Geschichte als Fortschritt. 115

habt. Aber eine solche Verselbstständigung der Kritik Allerdings waren sich die zeitgenössischen Autoren
birgt auch die Tendenz zur Auflösung des Inhalts in keineswegs in der Beurteilung ihrer eigenen Zeit ei-
die Methode und zur Überzeugung, der Weg sei alle- nig. Selbst Kant hatte noch ein Jahr zuvor anders
mal wichtiger als das Ziel. Daher verwundert es kaum, gesprochen und ( ... ] das eigene Zeitalter als „aufge-
125 wenn der den Höhepunkt deutscher Aufklärung ver- klärt" bzw. ,,denkend" charakterisiert. [ ... ] Friedrich rao
körpernde Lessing 1778 zu dem Schluss gelangte: Schiller hielt auch noch 1794 an dieser Überzeugung
fest. Er fragte: Woher diese „noch so allgemeine Herr-
„Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch schaft der Vorurteile und diese Verfinsterung der
ist, oder zu sein vermeint, sondern die aufrichtige Mühe, Köpfe bei allem Licht, das Philosophie und Erfahrung
die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, aufsteckten?" Und er antwortete: ,,Das Zeitalter ist 1s5
130 macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den aufgeklärt, das heißt, die Kenntnisse sind gefunden
Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit
erweitern sich seine Kratte, worin allein seine immer
wachsende Vollkommenheit besteht. 11
{. •• ] 1 Prämisse = Voraussetzung as1
~
und öffentlich preisgegeben, welche hinreichen wür- Kants späterer Bewertung seiner Epoche als eines 200
den, wenigstens unsre praktischen Grundsätze zu Zeitalters der Aufklärung zugrunde. [ ... ]
berichtigen." [ ... ] Offensichtlich erfolgte die Beurtei- Erst die von Kant geforderte „Reform der Denkungs-
190 lung der eigenen Zeit mit unterschiedlichen Begriffen art", die das Selbstdenken ermöglichen solle, erlaubte
von Aufklärung: Der eine orientierte sich an der Exis- es, Aufklärung zu realisieren und durch die Aufklä-
tenz aufgeklärter Kenntnisse und Prinzipen, war also rung Aufgeklärtheit, also einen Zustand, herbeizu- 20s
material; der andere bezog sich auf die Durchsetzung führen. Ein solcher Zustand der Aufklärung aber be-
dieser aufgeklärten Denkansätze und Methoden, durfte der Definition durch Inhalte. Solange das
19s fragte nach dem Grad ihrer Wirkung in Religion, Kul- nicht geschah, blieb bei Kant und anderen Autoren
tur, Gesellschaft und Staat, fragte vielleicht auch der Begriff Aufklärung tatsächlich auf eine oft irritie-
nach den Folgen der Aufklärung: Zur Intention von rende Weise mehrdeutig. [ ... ] 210

Aufklärung trat hier ihre Funktion. Und dieser funk- Aus: Horst Möller: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahr-
hundert. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1986
tionale Begriff von Aufklärung lag offensichtlich

• Benennen Sie anhand von Möllers Text die Schlüsselwörter" der Aufklärung und erläutern
II

Sie diese.

• Welche unterschiedlichen Definitionen von Aufklärung" führt Möller an? Worin unterscheiden
11

sich diese Auslegungen?

• Erläutern Sie, was Möller unter dem Prozesscharakter" der Aufklärung versteht.
II

• Beantworten Sie, ausgehend von Möllers Text, in eigenen Worten die Frage Was ist Aufklä- II

rung?"

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