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Epikur – Lust ist das höchste Lebensziel

Wer jung ist, soll nicht zögern zu philosophieren, und wer alt ist, soll nicht müde werden im Philosophieren.
Denn für keinen ist es zu früh und für keinen zu spät, sich um die Gesundheit der Seele zu kümmern. Wer
behauptet, es sei noch nicht Zeit zu philosophieren oder die Zeit sei schon vorübergegangen, der gleicht
einem, der behauptet, die Zeit für die Glückseligkeit1 sei noch nicht oder nicht mehr da. […]
Um dessentwillen tun wir nämlich alles: damit wir weder Schmerz noch Verwirrung empfinden. [...] Das
Lebewesen braucht sich dann nicht mehr aufzumachen nach etwas, was ihm noch fehlt, und nach etwas
anderem zu suchen, durch welches das Wohlbefinden von Seele und Leib erfüllt würde. Dann nämlich
bedürfen wir der Lust2, wenn uns die Abwesenheit der Lust schmerzt. Wenn uns aber nichts schmerzt, dann
bedürfen wir der Lust nicht mehr.
Darum nennen wir auch die Lust Anfang und Ende des seligen Lebens. Denn sie haben wir als das erste und
angeborene Gut erkannt, von ihr aus beginnen wir mit allem Wählen und Meiden, und auf sie greifen wir
zurück, indem wir der Empfindung als Maßstab jedes Gut beurteilen.
Und eben weil sie das erste und angeborene Gut ist, darum wählen wir auch nicht jede Lust, sondern es
kommt vor, dass wir über viele Lustempfindungen hinweggehen, wenn sich für uns aus ihnen ein Übermaß
an Lästigem ergibt. Wir ziehen auch viele Schmerzen Lustempfindungen vor, wenn uns auf das lange
dauernde Ertragen der Schmerzen eine größere Lust nachfolgt.
Jede Lust also, da sie eine uns angemessene Natur hat, ist ein Gut, aber nicht jede ist zu wählen. Wie auch
jeder Schmerz ein Übel ist, aber nicht jeder ist in sich so angelegt, dass er immer vermeidenswert wäre.
Durch wechselseitiges Abmessen und durch die Beachtung des Zuträglichen und Abträglichen vermag man
dies alles zu beurteilen. [...]
Wir halten auch die Selbstgenügsamkeit für ein großes Gut, nicht um uns in jedem Falle mit wenigem zu
begnügen, sondern damit wir, wenn wir das viele nicht haben, mit dem wenigen auskommen, in der echten
Überzeugung, dass jene den Überfluss am süßesten genießen, die seiner am wenigsten bedürfen, und dass
alles Naturgemäße leicht, das Sinnlose aber schwer zu beschaffen ist, und dass bescheidene Suppen ebenso
viel Lust erzeugen wie ein üppiges Mahl. [...]
Sich also zu gewöhnen an einfaches und nicht kostspieliges Essen verschafft nicht nur volle Gesundheit,
sondern macht den Menschen auch unbeschwert gegenüber den notwendigen 30 Verrichtungen des Lebens,
bringt uns in eine zufriedenere Verfassung, wenn wir in Abständen uns einmal an eine kostbare Tafel
begeben, und erzeugt Furchtlosigkeit vor den Wechselfällen des Zufalls.
Wenn wir also sagen, dass die Lust das Lebensziel sei, so meinen wir nicht die Lüste der Wüstlinge und das
bloße Genießen, [...] sondern wir verstehen darunter, weder Schmerz im Körper noch Beunruhigung in der
Seele zu empfinden. Denn nicht Trinkgelage [...] und nicht Genuss von Knaben und Frauen und von Fischen
und allem anderen, was ein reich besetzter Tisch bietet, erzeugt das lustvolle Leben, sondern die nüchterne
Überlegung, welche die Ursachen für alles Wählen und Meiden erforscht und die leeren Meinungen
austreibt, aus denen die schlimmste Verwirrung der Seele entsteht.
Für all dies ist der Anfang und das größte Gut die Einsicht. Darum ist auch die Einsicht noch kostbarer als
die Philosophie. Aus ihr entspringen alle übrigen Tugenden.

Aus: Epikur: Von der Überwindung der Furcht. Artemis Verlag, Zürich 1968, S. 100–105.
Anmerkungen:
1 Griechisch: eudaimonia: Glückseligkeit
2 Griechisch: hedoné: Freude
Aufgaben (M 5)
1. Erläutern Sie das Ziel allen menschlichen Handelns nach Epikur!
2. Mit welchen Mitteln lässt es sich seiner Ansicht nach erreichen?
3. Beschreiben Sie den von Epikur angestrebten Zustand!
4. Erläutern Sie anhand eines Beispiels, warum es nach Epikur manchmal nötig ist, Schmerzen in Kauf
zu nehmen!
Hans Jonas: Das Prinzip der Verantwortung

Der endgültig entfesselte Prometheus1, dem die Wissenschaft nie gekannte Kräfte und die Wirtschaft den
rastlosen Antrieb gibt, ruft nach einer Ethik, die durch freiwillige Zügel seine Macht davor zurückhält, dem
Menschen zum Unheil zu werden. [...]
Die dem Menschenglück zugedachte Unterwerfung der Natur hat im Übermaß ihres Erfolges, der sich nun
auch auf die Natur des Menschen selbst erstreckt, zur größten Herausforderung geführt, die je dem
menschlichen Sein aus eigenem Tun erwachsen ist. Alles daran ist neuartig, dem Bisherigen unähnlich, der
Art wie der Größenordnung nach: Was der Mensch heute tun kann und dann […] weiterhin zu tun
gezwungen ist, das hat nicht seinesgleichen in vergangener Erfahrung. […] Das Neuland kollektiver Praxis,
das wir mit Hochtechnologie betreten haben, ist für die ethische Theorie noch ein Niemandsland.
Was kann als Kompass dienen? Die vorausgesagte Gefahr selber! In ihrem Wetterleuchten aus 15 der
Zukunft, im Vorschein ihres planetarischen Umfanges und ihres humanen Tiefganges, werden allererst die
ethischen Prinzipien entdeckbar, aus denen sich die neuen Pflichten neuer Macht herleiten lassen. Dies nenne
ich die „Heuristik2 der Furcht“: Erst die vorausgehende Verzerrung des Menschen verhilft uns zu dem davor
zu bewahrenden Begriff des Menschen. […]
Da es dabei nicht nur um das Menschenlos, sondern auch um das Menschenbild geht, nicht nur um
physisches Überleben, sondern auch um Unversehrtheit des Wesens, so muss die Ethik, die beides zu hüten
hat, über die der Klugheit hinaus eine solche der Ehrfurcht sein.
Entnehmen wir dem Vorangegangenen diejenigen Merkmale menschlichen Handelns, die für einen
Vergleich mit dem heutigen Stand der Dinge bedeutsam sind.
1. Aller Umgang mit der außermenschlichen Welt, das heißt der ganze Bereich der techne
(Kunstfertigkeit) war – mit Ausnahme der Medizin – ethisch neutral – im Hinblick auf das Objekt sowohl
wie auf das Subjekt solchen Handelns: im Hinblick auf das Objekt, weil die Kunst die selbsterhaltende Natur
der Dinge nur unerheblich in Mitleidenschaft zog und somit keine Frage dauernden Schadens an der
Integrität ihres Objektes, der natürlichen Ordnung im Ganzen, aufwarf; und im Hinblick auf das handelnde
Subjekt, weil techne qua3 Tätigkeit sich selbst als begrenzten Tribut an die Notwendigkeit verstand und
nicht als selbstrechtfertigenden Fortschritt zum Hauptziel der Menschheit, in dessen Verfolgung des
Menschen höchste Anstrengung und Teilnahme engagiert sind […]. Kurz, Wirkung auf nichtmenschliche
Objekte bildete keinen Bereich ethischer Bedeutsamkeit. Ethische Bedeutung gehörte zum direkten Umgang
von Mensch mit Mensch [sic], einschließlich des Umgangs mit sich selbst; alle traditionelle Ethik ist
anthropozentrisch.4
2. Für das Handeln in dieser Sphäre wurde die Entität5 „Mensch“ und ihr fundamentaler Zustand als im
Wesen konstant angesehen und nicht selber als Gegenstand umformender techne (Kunst).
3. Das Wohl oder Übel, worum das Handeln sich zu kümmern hatte, lag nahe bei der Handlung,
entweder in der Praxis selbst oder in ihrer unmittelbaren Reichweite und war keine Sache entfernter Planung.
[…] Ethik hatte es demgemäß mit dem Hier und Jetzt zu tun, mit Gelegenheiten, wie sie zwischen Menschen
sich einstellen, mit den wiederkehrenden, typischen Situationen des privaten und öffentlichen Lebens. Der
gute Mensch war ein solcher, der die Fähigkeit dazu in sich selbst kultivierte und im Übrigen sich mit dem
Unbekannten abfand. […]
Aus: Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1984, S. 7, 22–24.

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