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COMING OUT!
mobiles Stück für Theater im Klassenzimmer
© THEATERSTÜCKVERLAG · Brigitte Korn-Wimmer & Franz Wimmer, München 2002
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des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung und/ oder Übertragung durch Rundfunk und
Fernsehen sowie der öffentlichen Zugänglichmachung im Ganzen oder in Teilen.
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als Aufführungsmaterial erworben werden, nur kurzfristig zur Ansicht entliehen werden
können. Die Vervielfältigung und Verbreitung des Manuskripts – bei pdf-Dateien
insbesondere auch die elektronische Weitergabe – an nicht dem Theater angehörende Dritte
ist nicht gestattet.
***
Sollte das Manuskript in irgendeiner Weise fehlerhaft sein, melden Sie das bitte dem Verlag.
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Personen
1H
Empfohlene Altersgruppe
13+ und für Erwachsene
Anmerkung
Das Stück dauert etwa 40 Min. Nach einer kurzen Pause sollte sich in der zweiten Schulstunde ein
Gespräch zwischen dem Schauspieler und den Schülern über das Gesehene und das Thema
anschließen.
Uraufführung
01.03.02, theater im zentrum, Stuttgart; R: Jutta Schubert; Spiel: Horst Emrich; seither viele v
Gastspiele; 18.07.04: 100. Vorstellung in Stuttgart; v 15.-17.10.19, Spielstark, Ottweiler/ Saarlouis
Schweizer Erstaufführung
10/2007, Theater für den Kanton Bern; R: Hans Peter Incondi; Spiel: Christoph Matti
Weitere Aufführungen
ð 10.10.03, Theater der Jungen Welt, Leipzig; R: Bernd Schlenkrich ð 10.12.05, Brandenburger
Theater; R: Christiane Ziehl ð 28.10.13, Schleswig-Holsteinisches Landestheater, Schleswig; R:
Konrad Schulze ð 25.02.17, Theater Schloss Massbach; R: Uwe Reichwaldt/ Julia Kren
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Auftritt Mathelehrer Konrad durch die Klassenzimmertür mit Aktentasche.
Ich war deshalb auch schon beim Rektor (ggf. Name des jeweiligen
Rektors/der Rektorin einfügen). Und er meint, ich soll jetzt einfach Mathe mit
euch machen!
(unterbricht sein Schreiben nach dem Wort ist, dreht sich zur Klasse um)
Da war – nasses Laub. Wahnsinnig viel nasses Laub. Ich weiß nicht mehr.
Ich bin ausgerutscht. Es war so verdammt – rutschig da – und ich bin gerannt.
Ich bin einfach weggelaufen, wie ein Blöder, wie benommen, durch die halbe
Stadt. Ich hab nur Lichter gesehen, verrutschte Lichter, die haben getanzt vor
meinen Augen. Es war so – glitschig – verflucht nass alles, so ein
Scheißnovember und ich war nass. Der Regen hat mir ins Gesicht gepisst und
ich bin gerannt. Die Luft war kalt beim Atmen, tat weh in der Lunge.
Aber das in meinem Gesicht war ganz bestimmt nur der Regen, nur der
Scheißregen, ganz bestimmt. (Pause)
Ich hab mich gefühlt wie ein Stein, wie ein Stein, der in den Gully fällt, platsch
und weg in die Schwärze, ach, Quatsch, blöder Vergleich.
Jedenfalls bin ich nach Hause, auf dem direkten Weg, den ganzen Weg zu
Fuß, gehetzt, an den Autos vorbei, Abgase einatmen, direkt heim und unten
stand Freddy von nebenan, und ich dachte, Mann, das hat mir gerade noch
gefehlt, dass der mich jetzt sieht, dass mich überhaupt einer SO sieht und ich
hab getan, als wenn ich völlig außer Puste wär und nass bis auf die Haut und
ausgerutscht auf den nassen Blättern und – war ich ja auch – er hat gesagt,
biste in den Regen gekommen und ich hab gesagt, blöde Frage das, siehst du
doch, oder. Und er, entschuldige, biste schlecht drauf und ich nö nö, das
Übliche und er, hast du Lust was zu kiffen. Und ich hab mitgeraucht und die
halbe Nacht überm Balkongeländer gehangen und gekotzt und die ganze Zeit
hab ich mir geschworen, nie wieder, nie wieder, nie wieder, nie wieder.
Nie wieder.
Verdammte Scheiße das. (Pause)
Angefangen hat alles im – ach, was, wo‘s halt immer anfängt, im Grunde
genommen fängt es da an, wo man ausgespuckt wird, in die Welt gesetzt,
oder? (schreit wie ein Baby)
Was ist es denn? Ein Junge oder ein Mädchen? Was wissen die eigentlich?
Was haben die verdammt noch mal begriffen, hä? Wenn sie dir einen Namen
geben: Caroline, Martin, Martina – ich hätte gerne Agnes geheißen, also zum
Beispiel Agnes. Ach, warum erzähl ich euch das.
Jedenfalls an dem Abend, also ich hab mich allein gefühlt, kennt ihr das?
So, als wenn zwischen dir und den anderen lauter Abgründe wären, Sprünge
im Boden, aufgerissene Erde, ich hätte die Hände ausstrecken können und
um mich greifen immer ins Leere, ich hätte runterspringen können vom
Fernsehturm und um mich herum wäre alles so leer gewesen, dass ich nicht
aufgeschlagen wär sondern geflogen, immer weiter geflogen. Ins Nichts.
Kein Halt. Keiner, der einen auffängt. Es gibt nicht so viel, was man machen
kann, wenn man so alleine ist. Bier trinken. Vor der Glotze hocken. Sinnlos auf
den Bildschirm starren, auf Emails warten oder immer wieder aufs Display
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vom Handy gucken, ob nicht doch einer angerufen hat. Faule Tricks.
Ich weiß nicht, was andere machen, wenn sie allein sind. Was macht ihr?
Suppe kochen? Ins Bett kriechen und sich einen runterholen? Was machen
eure Eltern? Lehrer? Polizisten? Können die genauso allein sein.
Geht das überhaupt? So ein Loch im Bauch, tief unten – in dem die Tränen
zusammenlaufen – ach, Quatsch, Papa würde sagen, jetzt dichtet er sich
wieder was zurecht. Unserem Sohn fehlt der Blick für die Realität. (lacht)
Unserem Sohn!
Ich war allein an dem Abend und ich hab mich nach Dany gesehnt, ja, okay,
gesehnt ist vielleicht nicht das richtige Wort, er hat mir gefehlt, er war nicht da
und deshalb war da ein großes Nichts neben mir, ich kann es nicht anders
sagen. Ich hab versucht, ihn anzurufen, weiß der Geier warum, hätt ich auch
sein lassen können, ich meine, es war nach neun, keine Ahnung, was ich mir
dabei gedacht habe, jedenfalls nahm er nicht ab oder er war auf dem Klo oder
was weiß ich. Ich weiß nicht, warum ich mir immer vorstelle, dass er mit
jemandem schläft, wenn ich anrufe und er nimmt nicht ab, das macht mich
ganz verrückt, aber jedes Mal habe ich so Visionen, also Vorstellungen davon,
er liegt mit jemandem im Bett und nimmt deshalb nicht ab, so ein Quatsch
das, aber es hat mich wirklich völlig durcheinander gebracht, denn bei
anderen Leuten, die ich so anrufe, denke ich das ja auch nicht! Das muss man
sich mal vorstellen, wenn man immer denken würde, wenn einer nicht
abnimmt ...
Ach, was weiß ich, man sagt ja, das gehört zum Wichtigsten im Leben, oder?
Und dass man vielleicht in einer klitzekleinen Ecke seines Bewusstseins
immer daran denkt. Immer. Schrecklich. Vielleicht wär ein Leben ohne Sex
besser. Also auch ohne die Vorstellung davon. Einfach ohne. Seine Arbeit
machen, Fußball spielen, Schule, Kino – na ja, da sieht man‘s ja auch – also
kein Kino, Waldspaziergänge, fernsehen, nee, geht auch nicht, also kein
Fernsehen, einfach so durch den Regen laufen ..., einfach so. Wär doch
schön, oder? Kommt einem so ein nasser Typ entgegen und schon denkt
man‘s wieder. Ist nicht so einfach, nicht dran zu denken. Wo ist man eigentlich
sicher davor? Wie schützt man sich am besten?
Dany ist mir zum ersten Mal in der Umkleide aufgefallen, nach dem
Basketballspiel. Mann, das war vielleicht ein schlechtes Spiel. Und wir waren
gefrustet und ich glaube, Micha hatte ein paar Dosen Bier in seiner
Sporttasche und hat die ausgepackt und Dany hat sein T-Shirt ausgezogen,
das vollkommen verschwitzt war und der Schweiß lief ihm in unglaublich
kleinen Perlen an seinem Oberkörper runter, ich konnte gar nicht wegsehen
und Micha hat die Dosen geschüttelt und das Bier ist gespritzt und ich hab das
nasse T-Shirt aufgehoben, das war vielleicht ein komisches Ding, ich hab
nicht richtig gewusst, was mit mir passiert, ich kam mir auf einmal ganz
langsam vor, wie in einem Traum, in einem anderen Tempo als die anderen,
und Micha hat Dany was von dem Bier übergeschüttet und was getrunken und
die Bierdose zu Dany geworfen und er hat was getrunken und hat sie weiter
zu mir geworfen und ich hab das T-Shirt fallen lassen und die Dose gefangen
und auch getrunken und Dany hat mich angelacht, obwohl wir doch frustriert
waren wegen dem verlorenen Spiel. Jedenfalls von da an hab ich irgendwie
gedacht, dass wir Freunde sind, Dany und ich, es war etwas in seinem Blick –
ich weiß nicht, wenn man ihn danach fragen würde, könnte er sich
wahrscheinlich nicht mal dran erinnern. Alle sind dann unter die Dusche und
ich bin alleine sitzen geblieben in der Umkleide, ich konnte irgendwie nicht mit
den andern duschen in dem Moment, das ging einfach nicht.
Hat sich auch niemand was dabei gedacht, Gott sei Dank.
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Ein paar Tage später zeigt mir Tom so ‘ne Zeitschrift, Modezeitschrift oder so
was und deutet auf ein Photo mit einer Gruppe von Leuten, Mädels in
Badeanzügen mit Pumps an, irgendwie sexy und dazwischen ein Typ in
Badehose, an irgendeinem Strand irgendwo und ich sage: Fernweh?
Und er: Wie find‘ste die? Und ich: Na ja, okay. Ganz süß die Mädels, vor allem
die zweite. Und er sagt: Und wie find‘ste den Typen? Und ich merke, wie ich
zusammenzucke, irgendwas in mir macht plopp und ich sag:
Bist du schwul oder was?
Und dann hab ich mich erschrocken umgeguckt, ob Dany das gehört hat, aber
er war nicht in der Nähe.
Also der Abend, der verregnete, es hat schon geregnet, als ich aus dem Haus
bin, nachdem ich Dany nicht erreicht hatte bin ich trotzdem los zu ihm, keine
Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe, jedenfalls hab ich die Straßenbahn
genommen und bin zu ihm gefahren und hab schon von weitem gesehen, kein
Licht, natürlich nicht, war ja klar, oder er ist da und hat das Licht aus und liegt
mit jemandem im Bett – Himmel Herrgott noch mal, was wollte ich da, bei ihm
an dem beschissenen Abend? Als wenn er mir über mein Alleinsein weghelfen
könnte. Kann einem ja keiner.
Ich hab geklingelt, trostlos, du hörst das Klingeln im Treppenhaus, es hört sich
hohl an und so, als ob er nicht aufmachen WOLLTE und ich war irgendwie
sauer, traurig, irgendwas in mir war total verzweifelt. Ich hab gewartet.
Ich hab mich allen Ernstes da auf die Treppe vor der Haustür gesetzt und
gewartet, war nicht mal ein Vordach da und nach einer Dreiviertelstunde kam
der Typ an, der über ihm wohnt, der hat aufgeschlossen und ich bin mit rein
und hab mich vor Danys Tür gesetzt. Ich wusste, dass seine Eltern verreist
waren, das muss ich noch dazu sagen, denn das wär das Allerletzte gewesen,
wenn die mich da gefunden hätten, aber es kam keiner und alles war still und
ich hab manchmal an die Tür geklopft, leise, um die Nachbarn nicht
aufzuschrecken, aber es blieb alles ganz still drinnen und ich hab meinen Kopf
gegen die Tür gelehnt und hätte fast zu heulen angefangen.
Ich weiß noch, als ich das erste Mal bei Dany zu Hause war, das war die Party
zu seinem Geburtstag. Da waren seine Eltern auch verreist gewesen und alle
waren da, Tom und Micha und Birgit und Gabi und Stefan und alle. Ich kam
rein, mit meinem Geschenk, ein Riesenberg aufgeblasener Luftballons in allen
Regenbogenfarben, der ging kaum durch die Tür und Dany hat sich gefreut,
aber Stefan hat gesagt: Hast du ihm die alle geblasen?
Alle haben gelacht, die Mädchen am lautesten und ich fand das einfach –
unpassend und stand wie ein begossener Pudel da. Später, wir haben alle ein
bisschen was getrunken, Bier und irgendeiner hat noch eine Flasche
Cointreau aufgetrieben – hat Dany dann mit seiner Zigarette alle Ballons
platzen lassen, einen nach dem anderen, und alle fanden das sauwitzig.
Und Stefan hat zu allem Überfluss auch noch gesagt: Musst du ihm halt
wieder mal einen blasen.
Ich hab versucht, mitzulachen. Aber es wurde, glaube ich, eine ganz miese
Fresse daraus. Die Birgit hat sich den ganzen Abend an ihn rangemacht, das
wusste eh jeder, dass die in ihn verknallt war, das war ein offenes Geheimnis.
Und Dany hat sie wochenlang abblitzen lassen, aber an dem Abend, da ist er
auf einmal auf sie eingestiegen, wahrscheinlich, weil er auch ein bisschen was
getrunken hatte, jedenfalls, ich weiß auch nicht, wie es kam, auf einmal lagen
sie knutschend auf dem Sofa und er machte ihr so unter dem T-Shirt rum, so
ein bauchfreier Fummel – es war irgendwie schon so, als ob sie gar nichts
mehr anhätte.
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Ich war sprachlos. Micha kam und brachte mir ein Bier und sagte:
Junge, mach den Mund zu, es zieht, hast du noch nie zwei knutschen
gesehen oder was? Und ich war ganz verdaddert und hab das kalte Bier
reingeschüttet, es lief sofort in den Magen, eiskalt, wie ein Klumpen und ich
hab gemerkt, wie mir schlecht wird. Ich glaub, mir ist nicht gut, hab ich gesagt
und bin raus und irgendwie war das Letzte, was ich gesehen habe, zwischen
den Rauchschwaden der Zigaretten die bunten Reste von den Luftballons auf
dem Boden und ich bin raus an die frische Luft, das war wie ein Schlag ins
Gesicht und ich hab immerzu nur einen einzigen Satz gedacht, auf dem
ganzen Heimweg, immer nur gedacht, aber ich hab doch gedacht, er wär ...
Na ja, wie ich daheim war, hat sich‘s gelegt, Papa war noch wach und guckte
irgend eine Schnulze im Fernsehen an und rief: Hallo Junge! und ich hatte das
Gefühl, er hat sich irgendwie gefreut, mich zu sehen, aber vielleicht hab ich‘s
mir auch eingebildet, ich bin direkt auf mein Zimmer und hab mich aufs Bett
geschmissen und an die Decke gestarrt und dann hab ich mir eine Strafarbeit
aufgegeben: Schreibe hundertmal: Männer lieben Frauen. Männer lieben
Frauen. Männer lieben Frauen. Solange, bis du‘s begriffen hast.
Papa hat übrigens bis heute nichts dazu gesagt. Kein einziges Wort.
Gemerkt haben sie es erst, als Mama die Zeitschriften unter meinem Bett
gefunden hat. Verdammt noch mal, sie hatte da wirklich nichts zu suchen.
In ihrem ewigen Putzfimmel ist sie mit dem Staubsauger dran gestoßen und
der hat das Papier halb aufgesaugt. So hat sie die Zeitschriften unterm Bett
vorgezerrt. Und hat sie Papa gezeigt. Ich weiß nicht wieso. Der weiß
schließlich, wie nackte Männer aussehen, oder? Als ich heim kam, haben sie
mich „zur Rede gestellt“, wie sie das genannt haben. Der Hinrichtungsort war
die Küche. Wo ich die her hätte und der und der hätte einen schlechten
Einfluss auf mich, das ging immer so weiter. Quatsch, habe ich irgendwann
einfach gesagt, Tatsache ist, ich steh auf Männer. Eigentlich ist es mir mehr
so rausgerutscht. Wenn ich drüber nachgedacht hätte, ob ich mit ihnen
darüber reden könnte und wie ich‘s anfangen sollte, das wär schlimm
geworden. Aber für mich war von Anfang an klar, dass ich sie da raushalten
wollte. Ist schließlich mein Leben. Das hab ich mir gesagt und mich dabei
ganz mutig gefunden. Es wusste niemand. Eigentlich. Mit wem soll man auch
reden. Hat man ja keinen.
Und so waren es ausgerechnet die beiden am Küchentisch, die‘s zuerst
erfahren haben. Papa hat, wie gesagt, gar nichts gesagt. Bis heute.
Und Mama hat gefragt, was wohl die Nachbarn denken werden. Allen Ernstes!
Ich hab gesagt, sag ihnen die Wahrheit. Einfach, weil alles andere viel zu
anstrengend wäre. Und außerdem, habe ich gesagt, das interessiert die
sowieso nicht. Ich meine, mich interessiert doch auch nicht, mit wem die
Müller aus dem dritten Stock ins Bett geht.
Da ist Papa aufgestanden und hat wortlos die Küche verlassen. Mama hatte
den Impuls ihm nachzulaufen. Aber sie hat‘s nicht gemacht. Ich hab
befürchtet, dass sie mir jetzt so eine Moralpredigt halten würde. Kennt man ja.
Dass das nur so eine Phase wäre und auch nicht SO schlimm und ich soll nur
warten, bis die „richtige“ Frau kommt, dann würde sich das alles schon
zurecht laufen. Oder so ein Blödsinn. Aber sie hat gar nichts gesagt.
Sie hat ganz lange geschwiegen. Dann ist sie aufgestanden und hat sich
einen Apfel und ein Messer geholt und angefangen, den Apfel zu schälen.
So in langen Ringen fiel die Schale runter, das kann sie besonders gut.
Ganz fachmännisch. Quälend langsam. Ich fand das irgendwie – unpassend.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte und bin einfach erst mal so eine Weile am
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Tisch sitzen geblieben. Und dann hat sie auf einmal gesagt:
Die Hauptsache ist, dass du glücklich bist.
Einfach so.
Und dann haben wir den Apfel gegessen. Hat ziemlich mehlig geschmeckt.
Jedenfalls an dem besagten Abend habe ich also vor Danys Tür gehockt und
wusste eigentlich selbst nicht warum. Seit dem Blick in der Umkleide waren
mehrere Monate vergangen, in denen hatten wir Fußball gespielt, bisschen
Englisch gelernt, paar mittelmäßige Filme im Kino gesehen, viel über Frauen
gequatscht, viel geraucht – Dany war Raucher, so eine Art Kettenraucher, ich
konnte ihn mir ohne Zigarette gar nicht richtig vorstellen, außer beim Sport,
Zigaretten standen ihm einfach irgendwie, wenn er sie so zwischen die Lippen
nahm ...
Ich hab also auch angefangen zu rauchen, obwohl es mir nicht geschmeckt
hat. Erträglich war es eigentlich nur, wenn man Bier dazu getrunken hat oder
weil es eben alle machten und man da nicht auffiel. Ich wollte nicht auffallen.
Ich wollte wie alle anderen sein, ganz normal. Wenn mir mal einer hätte
verraten können, was normal ist. Das war übrigens ein Lieblingswort von Dany
– normal. Alles war „normal“ bei ihm. Oder „im grünen Bereich“. Oder „kein
Thema“. Dany redete gerne über Frauen und ich dachte, das ist bei ihm
Tarnung. Ich hab schnell gemerkt, dass das was war, womit ich großen
Eindruck bei ihm schinden konnte. Ich kannte viele Mädchen. Ich war ein
guter Kumpel und sie haben gespürt, dass sie bei mir nichts Besonderes sein
müssen. Dass ich sie nicht anmache oder so. Das fanden sie toll. Und Dany
hat gesagt, wie machst du das bloß, dass die dich alle mögen? Magst du mich
denn auch? habe ich gefragt und war sehr erschrocken über meine Frage.
Aber er hat nur gesagt: Klar, Mann, was denkst du? und damit war es für ihn
erledigt. Und ich war glücklich.
Ja, wenn man das so sagen kann. Innerlich seltsame Luftsprünge machen.
Irgendwie kann ich Gefühle nicht so besonders beschreiben. Immer wenn ich
das versuche, kommt was Komisches dabei raus. Das ist es, was Papa
„dichten“ nennt. Na ja, er versucht erst gar nicht, über Gefühle zu sprechen.
Weder über seine noch über andere. Ich hab‘s jedenfalls nie von ihm gehört.
Als es so auf Elf zuging, in der Nacht im November, da wollte ich eigentlich
gehen. Ich war blau gefroren vor Danys Tür und fand, dass es irgendwie reicht
und dass ich mich nicht weiter für ihn opfern könnte. Da hat das Handy
geklingelt. Jaaa?? Irgendwie hab ich gedacht, er müsste es sein. Aber es war
Inge. Also das mit Inge. Das gehört jetzt eigentlich nicht hierher, aber so ist es
ja immer, alles Mögliche kommt einem dazwischen im Leben. Inge war in mich
verliebt. So richtig, glaube ich. Nicht nur ein bisschen verknallt, sondern echt.
Der Hammer war, dass sie den Mut hatte, es mir zu sagen. Obwohl ich‘s
schon längst wusste. Inge und ich sind in dieselbe Klasse gegangen.
Wir kannten uns aber auch vorher schon, weil wir in einer Siedlung wohnten.
Für mich war sie wie eine Schwester. Aber für sie war das doch – irgendwie
anders. Wir haben auch schon mal zusammen im Gras gelegen oder so und
sie hat immer auf was gewartet. Das von mir hätte kommen sollen.
Glaube ich. Ich hab sie auch schon mal umarmt oder sie im Spaß über die
Schwelle getragen. Aber mehr war nie. Sie hat nicht zu erkennen gegeben,
dass sie enttäuscht ist. Aber gewartet hat sie doch. Ich habe versucht, es zu
ignorieren und mich ganz normal zu verhalten. Aber ich kam mir immer
weniger normal ihr gegenüber vor. Irgendwie gestelzt. Wahrscheinlich hat sie
das falsch verstanden und gedacht, ich bin besonders schüchtern.
Irgendwann hat sie mal ganz direkt gefragt, ob ich abends noch mit zu ihr
komme. Ich konnte ja schlecht sagen, ich muss nach Hause. Also habe ich
gesagt: Du, ich habe eine Freundin. Dann konnte ich zusehen, wie ihre Augen
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sich mit Tränen gefüllt haben. Das war ein endloser Augenblick. Und ich habe
gedacht, oh Gott, jetzt macht sie mir eine Szene und ich muss irgendwas
erfinden. Vielleicht eine entfernte Cousine, die zu Besuch kam und in die ich
mich verliebt habe, oder was. Die in Prag lebt. Ich überlegte fieberhaft.
Als ihre Augen ganz nass waren, sagte sie sehr laut: Du lügst! Und rannte
weg.
Da ging es mir wirklich schlecht. Ich glaube, das war das erste Mal in meinem
Leben, dass ich gebetet habe. Ich sprach mit Gott. Ja, tatsächlich. Ich sagte
zu Gott: Ich will normal werden. Bitte lass mich normal werden. Ganz normal.
Und dann kam Dany vorbei. Da war er wieder: Der Riesenluftsprung.
Irgendwo zwischen Brust und Bauch. Und auch tiefer.
Inge sagte am Telefon: Wo bist du, du klingst so hohl. Ich bin unterwegs,
gerade im Treppenhaus hier. Im Treppenhaus? In welchem Treppenhaus?
Und irgendwie war genau das der Moment, ich durchgefroren, enttäuscht,
müde, wütend und traurig, wo ich es satt hatte, zu lügen. Inge, sagte ich,
weißt du, ich, ich habe mich verliebt – aber nicht in eine Frau. Das weiß ich
schon lange, sagte sie. Mach‘s gut. Ich dachte, so, jetzt ist es aus. Endgültig.
Der Boden unter mir öffnet sich und ich versinke. Ich falle. Falle.
Inge, verdammt, hab ich in den Hörer gerufen. Lass mich doch jetzt nicht
allein. Das hat doch alles nichts mit dir zu tun. Ich mag dich. Ich mag dich
wirklich. Ich kam mir vor wie meine Oma. Aber Inge war sowieso nicht mehr
dran. Ich dachte, ich könnte mich nie wieder irgendwo blicken lassen.
Und in dem Moment ging das Treppenhauslicht an.
Es war Dany. Was machst‘n du hier um die Zeit? Ich – wenn mein Herz nicht
so verflucht schnell geschlagen hätte – wollte dich besuchen. Wartest du
schon lange. Nö. ‘Ne Weile. Wer hat dich reingelassen? Der Typ von oben.
Komm rein. Willst du was trinken? Nee. Ja. Doch. Wo warst du denn? Kino.
Bist du nicht gut drauf. Nicht so besonders. Kann ich dir irgendwie helfen?
Geh mir nicht auf die Nerven. Du und dein ewiger Helferfimmel. Wie meine
Mutter. Fehlt nur noch, dass du dir ‘ne Schürze anziehst und durch die
Wohnung turnst. Warum nicht? – Ich weiß nicht, welcher Teufel mich geritten
hat. – Wie meinst‘n das? Na ja, für dich würd ich alles anziehen. He, bist du
‘ne Tunte oder was? Ich musste unwillkürlich an Mama und den Apfel denken.
Vor allem an das Messer. Es schnitt. Ich nahm wirklich allen Mut zusammen:
Wenn du‘s genau wissen willst, ich ... Ich will‘s nicht wissen. Hey, fass mich
nicht an. Mach, dass du rauskommst. Das Messer. Weißt du, was du bist?
Es sticht. Du mieser Schwanzlutscher. Du Arschficker. Hau ab.
Da war – nasses Laub. Wahnsinnig viel nasses Laub. Ich bin gerannt.
Wie ein Blöder, wie benommen, durch die halbe Stadt. Verflucht nass alles, so
ein Scheißnovember und ich war nass. Aber das in meinem Gesicht war nicht
nur der Regen. Nie wieder. Nie wieder. Nie wieder. Verdammte Scheiße das.
Das Messer. Es steckte noch lange drin und ich dachte, alle können es sehen.
Ich hab es langsam rausgezogen. Langsam dauert länger, aber verringert den
Schmerz.
Diese Nacht war die Hölle. Ich habe danach lange gebraucht. Ich war erst
einmal mit mir selbst beschäftigt, herauszufinden, wer ich bin, was ich bin, wer
ich sein möchte.
Ich wünschte, ich hätte damals mehr Courage gehabt, zu sagen, was ich
empfinde, zu riskieren, dass man abgelehnt wird, dass die Welt
zusammenbrechen kann. Die Angst, sich lächerlich zu machen, wenn man
sagt, was man fühlt.
(geht zur Tafel, nimmt die Kreide, schreibt im Folgenden den Satz zu Ende)
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‘ne schwule Sau!
Als ich meinen ersten Freund hatte, haben wir uns zu Fasching als Putzfrauen
verkleidet und die Straßenbahn unsicher gemacht. In Mamas Schuhen.
Ich weiß nicht, was sie der Nachbarin erzählt hat. Und ich weiß auch nicht, ob
die Nachbarin erfahren hat, dass ich Mamas Lippenstift aufgebraucht habe.
Aber meine Schwester, die immer auf die Bäume geklettert ist, wurde dafür
bestraft.
(nimmt seine Aktentasche, schaut den Satz an der Tafel an, schaut in die
Klasse)
Und der Rektor meint, ich soll einfach mit euch Mathe machen!
(geht durch die Klassenzimmertür ab)
ENDE
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Jutta Schubert: COMING OUT!
Pressestimmen zur Uraufführung in Stuttgart
„Ein leises, poetisches Stück um erste sinnliche Erfahrungen, um Verletzlichkeit, Verwirrung, Angst
und Anderssein.
Horst Emrich als Mathelehrer Konrad spielte bei der Uraufführung im Klassenzimmer der 8b in
Feuerbach vor höchst interessiertem Publikum. Denn Ort der Handlung ist ein Klassenzimmer, der
Auslöser für den Monolog ein neues Graffito im Schulhof. ’Und der Rektor sagt einfach, ich soll mit
euch Mathe machen’, sagt der Lehrer. Doch wie soll er zur Tagesordnung übergehen, wenn er selbst
von dem Graffito betroffen ist?
’Konrad ist ‘ne ...’ schreibt der Schauspieler deshalb an die Wandtafel [...] ’... schwule Sau’ wird er
später ergänzen, wenn die Handlung fortgeschritten ist und Mathelehrer Konrad von seinen
verwirrenden Jugenderlebnissen erzählt hat. Von Danny, einem Macker, der die Mädchen ’aufriss’
und die Signale nicht verstand. Von der Vulgärsprache seiner Mitschüler, die wie heute das Wort
’schwul’ als Schimpfwort benutzen. Von kleinen Lebenslügen, dem Adressbuch zum Beispiel mit den
vielen Mädchennamen. Dem Schweigen des Vaters, als Konrad gestand, dem Verstehen wollen der
Mutter und ’der Angst, sich lächerlich zu machen, wenn man sagt, was man fühlt’.
Horst Emrich ist ein lebhafter, nachdenklicher Erzähler, der Klassenzimmer und Lehrertisch als Bühne
so benutzt, als täte er das jeden Tag. Fiktiv, aber lebensnah nennt Autorin und Regisseurin Jutta
Schubert ihr mobiles Theaterstück, das sie für Klassenzimmer, Jugendzentrum, Kneipen konzipiert
hat.” (Stuttgarter Nachrichten, 14.03.02)
„’Indem wir mit dem Stück raus aus dem Theater hinein in die Schulen und vor die Klasse gehen,
machen wir uns verletzlich’, sagt die Regisseurin Jutta Schubert. Ganz bewusst liefern sich
Schauspieler und Regisseurin den Schülern aus, indem sie sich nach dem Stück der Diskussion
stellen. Dann geht es um Normalität, Toleranz, Sprüche wie, ’Das ist doch abnormal’, werden laut.
Und ganz verquere Vorurteile und Ansichten treten zutage. Ein Schüler würde seinen Sohn in eine
Klinik stecken, würde er erfahren, dass er schwul sei, ein Mädchen ihren Sohn dafür schlagen.
Protestrufe der anderen ... Und die Sprache kommt auf eine Schülerin, die angeblich lesbisch sei. Den
Schülern hat das Stück sichtlich gefallen: ’Ich fand toll, dass der Lehrer seine Gefühle gezeigt hat. [...]
Toll wäre es, wenn unsere Lehrer auch so offen mit uns über ihre Gefühle sprechen würden.’” (LIFT,
Stuttgart, 04/2002)
„Ganz dicht erleben die 15- bis 17-jährigen die kraftvolle Darstellung des Stuttgarter Schauspielers
Horst Emrich im Jugendstück ‘Coming Out!‘ von Jutta Schubert. Kein Wunder, denn das ganze
Theater spielt sich schließlich mitten unter ihnen ab. [...]
Ein Lehrer sagte [...] nach der Diskussion: ’So engagiert habe ich meine Klasse noch nie gehört.
Heute nehmen sie was fürs Leben mit, das vergessen sie nie wieder.’“ (theater im zentrum
Dokumentation, 12/2003)
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Pressestimmen zu weiteren Aufführungen
„Gleich als erste Premiere der neuen Spielzeit bringt das Theater der jungen Welt in Leipzig [...] ein
schwules Stück auf die Bühne. Erzählt wird die „fast normale Liebesgeschichte“ des Mathelehrers
Konrads, der auf recht spektakuläre Weise unfreiwillig geoutet wird – denn ein Graffiti schreit es von
der Schulhauswand: ’Konrad ist ’ne schwule Sau.’ Danach, als sei nichts geschehen im Stoff
fortzufahren vermag der Mensch Konrad nicht. Statt Mathe zu pauken, wird er seinen Schülern von
Dany und Schmetterlingen im Bauch erzählen, von Ignoranz und Einsamkeit, aber auch von Mut und
Liebe.“ (Gegenpol, 10/2003)
„Und Konrad erzählt ganz auf die Kumpelhafte, von seiner Kindheit, davon wie er sich offensichtlich in
seinen Kollegen verliebt hat, ohne dass dieser oder andere es merken sollten, von Gefühlen und
Erwartungen, von wenigen Glücksmomenten, mehr Enttäuschungen und nicht zuletzt vom
Rausschmiss durch den vermeintlichen Geliebten. Positiv ist nicht nur anzumerken, dass das Theater
mit einem solchen Stück sicher auch Signale setzt, sondern vielmehr auch, dass es anders als vom
Titel zu erwarten, kein verzweifeltes Flehen um Anerkennung des Andersseins, kein pathetisches
Credo pro Homosexualität ist.“ (Gegenpol, 11/2003)
„Nicht um Zeitgeist schert sich Jutta Schuberts ’Coming Out!’ (ab 13), ein leises Stück, das ohne
Anklagen für die Akzeptanz von Homosexuellen wirbt. Im Mittelpunkt des Solos steht ein Lehrer, der
statt Mathe zu unterrichten, seine Geschichte erzählt, den langen Weg zum Coming Out. Eine um
Wahrhaftigkeit bemühte Inszenierung [...] geschaffen zur Aufführung und Diskussion im
Klassenraum.“ (LVZ, 13.10.03)
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sondern die massive, mehr oder weniger unbewusste Diskriminierung, der er jeden Tag ausgesetzt
ist.
Einige der Probendurchläufe wurden ja bereits vor Testpublikum aus Schülern und Lehrern
gespielt – gab es wiederkehrende Reaktionen und welche kamen dir – im Positiven wie
Negativen – zeittypisch?
Oft steckt hinter den einfachsten Aussagen unbewusst doch Diskriminierendes. Entweder sind sie der
Meinung, dass Homosexualität kein Thema sein sollte, das Sexualität ins Private gehöre und das
doch jeder mit sich ausmachen müsse oder sie geben zu, dass sie zu einem Lehrer, der sich
tatsächlich vor ihnen outen würde, erst einmal Abstand einnehmen würden. Immer aber wird
Homosexualität gleichzeitig als ‘völlig normal‘ bezeichnet. Die Diskrepanz zwischen Behauptung und
eigener Reaktion zeigt wie groß der Handlungsbedarf wirklich ist.“ (HAJO93, 12/2013-02/2014)
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13