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Theodor W Adorno

Nachgelassene Schriften

Herausgegeben vom
Theodor W. Adomo Archiv

Abteilung IV:
Vorlesungen
Band 10
Theodor W Adorno
Probleme der Moralphilosophie
(1963)

Herausgegeben von Thomas Sehröder

Suhrkamp
Zweite Auflage 1997
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1996
Alle Rechte vorbehalten
Druck: MZ-Verlagsdruckerei GmbH, Memmingen
Printed in Germany

Die Deutsche Bibliothek - Cl!'-Einheitsaufnahme


Adorno, Theodor W:
Nachgelassene Schriften I Theodor W. Adorno.
Hrsg. vom Theodor-W.-Adorno-Archiv. -
Frankfurt (Main) : Suhrkamp.
Abt. 4, Vorlesungen.
NE: Adorno, Theodor W.: [Sammlung]
Bd. ro, Adorno, Theodor W.:
Probleme der Moralphilosophie
(1963).- 2. Aufl. - 1997

Adorno, Theodor W:
Probleme der Moralphilosophie (1963) I Theodor W. Adorno.
Hrsg. von Thomas Schröder. - 2. Aufl. -
Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1997
(Nachgelassene Schriften I Thcodor W. Adorno :
Abt. 4, Vorlesungen ; Bd. 10)
ISBN 3-518-58225-9
NE: Schröder, Thomas I Hrsg.l
Inhalt

Vorlesungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Anmerkungen des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

Editorische Nachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 15
.Probleme der Moralphilosophie
I. VORLESUNG
7· s. 1963

Meine sehr verehrten Damen und Herren!


In so großer Zahl sehe ich Sie versammelt zu einer Vorle­
sung, deren Thema ja ftirjunge Menschen nicht gerade primär
das Anziehendste sein sollte, daß ich das Gefühl habe, Ihnen
zunächst ei11:e kleine Rechenschaft schuldig zu sein und zu­
gleich auch mich zu entschuldigen und Sie vor falschen Erwar­
tungen zu warnen. Wenn Sie in eine moralphilosophische
Vorlesung von jemandem kommen, der ein Buch über das
richtige oder vielmehr das falsche Leben geschrieben hat, 1
dann liegt es ja sehr nahe anzunehmen, daß Sie von dieser
Vorlesung - oder jedenfalls, daß viele von Ihnen von dieser
Vorlesung - sich erwarten, daß Sie nun etwas über das richtige
Leben erfahren; daß Sie also aus dieser Vorlesung unmittelbar
etwas entnehmen können für die eigene Existenz, sei es für
die private Existenz oder sei es auch ftir die öffentliche, will
sagen: ftir die politische Existenz, die Sie führen. Die Frage
nach dem moralischen2 Leben selbst wird, so hoffe ich we­
nigstens, im Laufe dieser Vorlesung selber gestellt werden.
Sie wird gestellt werden in der Form, ob ein solches richtiges
Leben heute überhaupt möglich sei, oder ob es bei dem blei­
ben muß, was ich in jenem Buch gefaßt habe in dem Satz:
>daß es kein richtiges Leben im falschen gibt<3. Ein Satz übri­
gens, der - wie ich erst später entdeckt habe - in einer höchst
verwandten Formulierung bereits bei Nietzsche einmal vor­
kommt.4 Aber ich kann Ihnen in dieser Vorlesung nicht ir­
gend etwas wie unmittelbare Anweisungen zum richtigen
Leben geben; und Sie dürfen sich für Ihre eigenen unmittel­
baren Probleme, seien es die privaten, seien es die politischen­
und das Politische hängt mit der Sphäre des Moralischen sehr
tief zusammen -, so etwas wie direkte, unmittelbare Hilfe
nicht erwarten. Moralphilosophie ist eine theoretische Diszi­
plin und ist als solche immer von der Unmittelbarkeit des
moralischen Lebens unterschieden worden. Bei Kant etwa in

9
der Form, daß er gesagt hat, daß man, um ein anständiger
oder ein guter Mensch oder ein gerechter Mensch zu sein,
nicht etwa die Moralphilosophie studiert haben müßte.5
Oder ich zitiere gerade etwas aus späterer Zeit, das mir dazu
einfällt. In dem ja Kant diametral entgegengesetzten Ethik­
buch von Max Scheler über den »Formalismus in der Ethik
und die materiale Wertethik« wird unterschieden zwischen
Ethik als unmittelbarer - wie er es nennt: gelebter - Weltan­
schauung, wie sie sich etwa in den Gnomen und Sentenzen
und Sprichwörtern niedergeschlagen habe, und der Moral­
philosophie, die damit unmittelbar gar nicht zu tun habe. 6
Die Probleme, die ich hier behandele und die ja in den Um­
kreis Ihrer philosophischen Bildung gehören, die sind also
durchaus und dezidierterweise solche der Moralphilosophie
als einer theoretischen Disziplin. Also, wenn ich Ihnen sozu­
sagen Steine an den Kopf werfe, dann ist es besser, wenn ich
Ihnen das von vornherein sage, als wenn ich Sie in der Erwar­
tung lasse, daß Sie Brot bekämen; und wenn das erwartete
Brot dann ausbleibt, dann ist es vielleicht so, daß die Steine,
wenn sie geworfen werden, entweder Sie nicht treffen oder,
und das möchte ich eigentlich hoffen, daß die Steine nicht so
schrecklich hart sind. Denn die Theoreme jedenfalls, die Sie
erfahren werden, das sind keine rigoristischen Theoreme.
Wenn ich sage, daß die Steine Sie entweder nicht treffen
mögen oder daß sie vielleicht nicht so furchtbar hart sind,
diese Steine, so denke ich dabei allerdings an etwas Bestimm­
tes, was doch die Beziehung zu Ihrem eigenen und lebendi­
gen Interesse in einem gewissen Sinn vielleicht wiederher­
stellt. Denn so sehr ich mir darüber klar bin, daß eine solche
moraltheoretische Vorlesung Ihnen nicht unmittelbar in Ih­
rer Existenz helfen kann, so klar bin ich mir andererseits auch
darüber, daß Sie ein berechtigtes Interesse daran haben, et­
was über das richtige Leben zu erfahren - nur daß ich eben in
gar keiner Weise mich für legitimiert halte, darüber etwas
Unmittelbares Ihnen zu sagen. Und gerade weil ich weiß,
daß sehr viele von Ihnen mir ein großes Vertrauen entgegen-

IO
bringen, deshalb möchte ich dieses Vertrauen am allerletzten
so mißbrauchen, daß ich - wäre es auch nur durch die Form
des Vortrags - mich in die verlogene Situation eines Gurus,
eines Weisen hineinmanövriere. Das möchte ich Ihnen erspa­
ren; aber ich möchte die Unredlichkeit einer solchen Haltung
vor allem auch mir selber ersparen. Trotzdem, wenn ich
sage, daß eine Beziehung zu Ihnen und zu Ihren lebendigen
Interessen, wie ich hoffe, nicht fehlen soll, dann möchte ich
an dieses Moment gleich anknüpfen, was ich Ihnen nicht ge­
ben werde. Denn so berechtigt auch Ihr Interesse ist, etwas
für die eigene Existenz aus einer moralphilosophischen Vor­
lesung zu entnehmen, so groß ist doch gerade heute die Ge­
fahr dessen, was man vielleicht mit einem Kurzschluß zur
Praxis bezeichnen kann. Und Moralphilosophie, um das
gleich an den Anfang zu stellen, hat ja mit Praxis etwas We­
sentliches zu tun. Man nennt im Aufbau der philosophischen
Disziplinen die Moralphilosophie auch praktische Philo­
sophie, und das Hauptwerk Kants, das der Moralphilosophie
gewidmet ist, führt den Namen einer »Kritik der praktischen
Vernunft «. Ich sage Ihnen dabei en passant, daß der Begriff
des Praktischen hier nicht zu verwechseln ist mit dem depra­
vierten Begriff, zu dem er geworden ist, wenn man heutzu­
tage etwa von einem praktischen Menschen redet, das heißt:
einem Menschen, der weiß, wie man geschickt die Dinge an­
faßt und geschickt mit dem Leben fertig wird. Sondern daß
im terminologisch-philosophischen Sinn hier neal;u; und
nearuw durchaus auf die griechische Bedeutung des Tuns,
des Handeins zurückgeht; wie denn auch die Thematik der
praktischen Philosophie von Kant - in dem zweiten Teil der
» Kritik der reinen Vernunft«, der >transzendentalen Metho­
denlehre< - in Gestalt der berühmten und Ihnen allen sicher
bekannten Frage: >Was sollen wir tun?/ formuliert worden
ist. Diese Frage: >Was sollen wir tun?< - die also nach Kant,
der, weiß Gott, nicht der schlechteste Zeuge für das ist, was
man sich unter solchen Problemen vorzustellen hat, als die
eigentlich wesentliche Frage der Moralphilosophie und, wie

li
ich hinzufügen darf, sogar als die entscheidende Frage der
Philosophie überhaupt, betrachtet worden ist; denn es gibt
bei Kant einen eindeutigen Primat der praktischen Vernunft
über die theoretische,8 und Fichte war darin gegenüber Kant
gar nicht ein solcher Neuerer, wie er geglaubt hat9 -, diese
Frage hat sich heute in einer merkwürdigen Weise verscho­
ben. Ich mache immer wieder die Erfahrung, daß man, wenn
man theoretische Analysen macht - und theoretische Analy­
sen sind ja wesentlich Analysen kritischer Art -, daß man
dann gefragt wird: >Ja, aber was sollen wir denn tun?<, und
zwar mit einem gewissen Oberton der Ungeduld, mit einem
Oberton, der sagt: >Ja, was soll uns denn diese ganze Theorie,
das dauert ja alles viel zu lang, wir wissen nicht, was wir real
tun sollen, und wir sollen unmittelbar etwas tun!< Ich ver­
kenne gar nicht die Motiviertheit dieses Verhaltens angesichts
des Ungeheuerlichen, das in der Nazizeit verübt worden ist,
aber auch angesichts der Abgeschnittenheit von unmittelba­
rer, eingreifender politischer Praxis heute, die die Menschen
geradezu zwanghaft in dieses Fragen hereintreibt: >Ja, wenn
überall Mauern sind und jeder Versuch zu einer richtigen
Einrichtung des Ganzen uns verrammelt ist, ja, was sollen
wir denn dann eigentlich tun?< Aber es ist so, daß, j e unge­
wisser die Praxis geworden ist, je weniger wir tatsächlich
wissen, was wir tun sollen, je weniger verbürgt uns ein rich­
tiges Leben ist, wenn es denn je verbürgt gewesen sein sollte,
daß dann um so hastiger danach gegriffen wird. Und es ver­
bindet sich das dann sehr leicht mit einer gewissen Art von
Ranküne gegen das Denken überhaupt, mit einer Art Denun­
ziation der Theorie, von der es dann gar nicht weit ist bis zu
der Denunziation des Intellektuellen. Golo Mann zum Bei­
spiel hat in einer Reihe von Publikationen - auch in einer, die
unmittelbar gegen mich gerichtet ist - geradezu gegen den
Theoretiker qua Intellektuellen den Vorwurf erhoben, daß
man mit Theorie - er zog die Theorie der Halbbildung10 heran,
die Frage: >Was ist Halbbildung?< -, daß man damit sozusa­
gen »nichts anfangen« könne.11 Und dieser Einwand des

12
Nichts-damit-anfangen-Könnens, diese Hast, sofort zur Pra­
xis zu schreiten, die die Theorie abschneidet, die hat in sich
selber, teleologisch, wie wenn das in ihr bereits mitgesetzt
wäre, eine Beziehung zur falschen, nämlich zur unterdrük­
kenden, zur blinden und zur gewaltsamen Praxis.
Meine Damen und Herren, wenn ich Sie also um eine ge­
wisse Geduld ersuche gegenüber der Beziehung von Theorie
und Praxis, dann ist dieses Ersuchen um Geduld deshalb viel­
leicht gerechtfertigt, weil in einer Situation wie der gegen­
wärtigen, über die ich nicht die geringsten Illusionen hege
und Ihnen nicht die geringsten Illusionen bereiten möchte, es
möglicherweise davon abhängt, ob man überhaupt einmal
wieder zu einer richtigen Praxis kommt, daß man nicht so­
fort jedem Gedanken den Paß abverlangt: was man nun da­
mit anfangen könne, sondern daß man sich rücksichtslos und
mit aller Kraft des Widerstands dem Gedanken und seiner
Konsequenz überläßt und sieht, was dann daraus vielleicht
hervorgeht. Ich würde sogar sagen, daß diese Rücksichtslo­
sigkeit, die Kraft des Widerstands, die im Gedanken selbst
steckt, der nicht sofort im Sinn seiner Verwendbarkeit für
wie immer auch geartete Zwecke sich manipulieren läßt ­
wenn Sie mir diese Paradoxie erlauben -, daß diese theoreti­
sche Rücksichtslosigkeit selber eigentlich bereits ein prakti­
sches Moment in sich hat; daß heute die Praxis - ich scheue
mich nicht davor, auch das so extrem zu sagen - in einem
weiten Maß in die Theorie, also in die Sphäre des neuen
Durchdenkens der Möglichkeit eines richtigen Verhaltens,
hineingeschlüpft ist. Auch dieser Gedanke ist nicht so para­
dox und nicht so irritierend, wie er vielleicht klingt, wenn ich
Ihnen diesen Gedanken zunächst einmal entgegenhalte, denn
das Denken selber ist schließlich auch eine Form des Verhal­
tens. Denken ist ja ursprünglich nichts anderes gewesen als
die Form, unter der wir versucht haben, die Umwelt zu mei­
stern und mit der Umwelt fertig zu werden - Realitätsprü­
fung hat die analytische Psychologie diese Funktion des Ichs
und des Denkens genannt -, und es ist durchaus möglich, daß

13
die Praxis in bestimmten Situationen weit mehr auf diese
Denkposition zurückgeworfen worden ist als in anderen Zei­
ten und als in anderen Situationen. Jedenfalls, glaube ich, ist
es schon einmal gut, wenn man diese Frage so aufwirft. Es ist
kein Zufall, daß die berühmte Einheit von Theorie und Pra­
xis, wie sie die Marxsche Theorie impliziert hat und wie sie
dann vor allem von Lenin theoretisch entwickelt worden ist,
unterdessen im >Diamat< zu einer Art von blindem Dogma
geworden ist, das nur noch dazu da ist, die theoretische Ge­
sinnung überhaupt abzuschneiden. Man kann da den Um­
schlag des Praktizismus in den Irrationalismus direkt studie­
ren und damit auch den Umschlag dieses Praktizismus in eine
repressive und unterdrückende Praxis. Das allein dürfte wohl
ein hinreichender Grund sein, wenn man an dieser Stelle eine
Art von Hemmung einschaltet und auf die berühmte Einheit
von Theorie und Praxis sich nicht so verläßt, als ob die ver­
bürgt und als ob die zu jeder Zeit gleich gegeben wäre. Sonst
kommt man in die Situation dessen, den man auf amerika­
nisch a joiner12 nennt, also eines Mannes, der sich immer an
irgend etwas anschließen muß, der irgendeine Sache haben
muß, für die er fechten kann und der - aus lauter Begeiste­
rung, nur daß irgend etwas getan wird, daß irgendwie ein
Betrieb gemacht wird, von dem man die Illusion hegt, daß
sich die Dinge dadurch verändern - dadurch in eine Art von
Geistfeindschaft hereingetrieben wird, die dann notwendig
selber auch sich wieder gegen eine richtige Einheit von Theo­
rie und Praxis kehrt.
Meine Damen und Herren, es kommt also darauf an, daß
Sie zunächst einmal sich dessen versichern, daß der berühmte
Satz von Fichte: >daß das Moralische sich von selbst ver­
stehe<13, daß derjedenfalls so ohne weiteres, wie er von Fichte
vorgetragen worden ist, nicht gilt, obwohl dieser Satz sicher
auch sein Wahrheitsmoment hat - und zwar spielt hier ganz
gewiß ein geschichtsphilosophisches Moment herein. Das
heißt, in einer Welt, in der man sich selber als der Exponent
einer aufsteigenden Klasse mit all ihren zu verwirklichenden

14
und konkreten Idealen fühlt, wie es bei den großen bürgerli­
chen Denkern um die Wende des 1 8 . und 19 . Jahrhunderts
der Fall gewesen ist, da entsteht allerdings der Anschein einer
solchen Selbstgewißheit des Moralischen ganz anders als in
einer Situation, in der unter anderem jede wichtige Praxis,
deren Gedanken man schöpft, in sich selbst bereits die unse­
lige und verhängnisvolle Tendenz hat, daß man eigentlich
gegen sich selbst - das heißt: gegen die eigenen unmittelbaren
und realen Interessen - denken muß. Es kommt also in dem,
was ich Ihnen sagen werde, darauf an, daß wir über moral­
philosophische Probleme reflektieren - und es kommt nicht
etwa darauf an, daß ich Ihnen unmittelbar irgendwelche
Normen, Werte oder wie die grauslichen Wörter alle heißen
mögen, hinsetze. Man könnte das auch so ausdrücken, daß
eigentlich der Gegenstand von Moralphilosophie heute der
;ci, daß man solche Fragen wie die eines normativen Verhal­
tens, wie die des Verhältnisses von Allgemeinem und B��on-
9.S:S!!Üm..Verhalten, wie die der Möglichkeit der Verwirkli­
chung eines Guten unmittelbar und alle diese Fragen, nicht
naiv einfach hinnimmt, wie sie einem dargeboten werden
oder wie sie dem angeblichen Gefühl erscheinen, das da oft
ein sehr schlechter Steuermann ist, sondern daß man alle
. .

d!es.�Ding,e, soweit es nur geht, ins Bewu,ßtsein,b.ebt. Moral­


philosophie in diesem Sinn heißt, daß man sich die Proble­
matik der moralischen Kategorien, daß man sich die Fragen,
die sich auf das richtige Leben und die Praxis in jenem höhe­
ren Sinn beziehen - und zwar unerschrocken und unge­
hemmt -, wjrklich�<:in�.a]J?.S:..\Y.\lßt macht, ;mstatt daß man
��?t, qie�e.&\1Q?:.e Z:<Jne wäw eben .als praktische �lern. the()­
retjschen Denken enthoben. Denn wenn man sich so be­
nimmt, dann läuft es im allgemeinen nur darauf hinaus, daß
die Praxis, die man für etwas Höheres und Reineres gegen­
über der Theorie hält, dann von irgendwelchen autoritären
Mächten, sei es von der Tradition des eigenen Volkes oder
von irgendeiner verordneten Weltanschauung her, als etwas
Fertiges übernimmt, und daß es zu dem, was Kant zufolge

15
überhaupt der Ort des richtigen Handeins ist, nämlich zu
dem Moment der Freiheit, ohne das so etwas wie richtiges
Leben gar nicht gedacht werden kann, dann überhaupt nicht
kommt. Eine solche Formulierung der Aufgabe von wie im­
mer auch fragmentarischen moralphilosophischen Überle­
gungen wie die, die ich Ihnen eben gegeben habe, wäre im
übrigen auch in Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen
Stand der fortgeschrittenen - und das will sagen: der psycho­
analytischen - psychologischen Erkenntnis, dieja im wesent­
lichen darin besteht, daß, >wo Es ist<, also wo Unbewußtes,
Dunkles herrscht, >Ich sein soll<, also Bewußtsein sein soll;
und daß nur durch Bewußtsein hindurch, also wenn Sie wol­
len: nur durch Theorie hindurch, überhaupt so etwas wie
richtige Praxis möglich ist. 1 4
Meine Damen und Herren, ich möchte sogleich hier an
dieser Stelle Ihnen zeigen - oder besser: ich möchte etwas
aussprechen, was in Ihnen selber vielleicht in diesem Augen­
blick mehr oder minder artikuliert sich regt -, daß es nämlich
ganz so einfach, wie daß man, um zur richtigen Praxis zu
gelangen, nur der richtigen Theorie bedürfe, nicht ist. Und
diejenigen von Ihnen, die die Freundlichkeit hatten, mir ge­
nau zugehört zu haben, die werden bemerkt haben, daß ich
eine solche Formulierung auch nicht gebraucht habe, son­
dern daß ich nur gesagt habe, daß in der gegenwärtigen Phase
es jedenfalls der Zwischenschaltung des theoretischen Mo­
ments in einem erhöhten und in einem besonderen Maß be­
darf Auf der anderen Seite aber ist es so - und ich glaube, das
muß man an dieser Stelle auch genau so schroff sagen, wie ich
zunächst das theoretische Moment hervorgehoben habe -,
daß Theorie und Praxis nicht rein ineinander aufgehen, daß
sie nicht ohne weiteres dasselbe sind, sondern daß, "":enn Sie
mir das abgedroschene Bild nicht übelnehmen, zwischen bei­
den eine Art von Spannungsverhältnis herrscht. Theorie, die
keine Beziehung zu irgend möglicher Praxis enthält- und das
gilt übrigens auch für Kunst, mag diese Beziehung noch so
vermittelt, noch so indirekt und noch so verborgen sein, aber

16
sie muß da sein -, wird entweder wirklich zu einem leeren
und selbstgefälligen und gleichgültigen Spiel, oder, noch
schlimmer, sie wird zu einem Element der bloßen Bildung,
also zu einem toten Wissensstoff, der für uns als lebendige
Geister und lebendig handelnde Menschen völlig gleichgül­
tig ist. Umgekehrt ist es so, daß Praxis - und das deutete ich
bereits an-, die im Namen ihrer Übermacht über die Theorie
sich nun einfach selbständig macht und den Gedanken von
sich wegscheucht, herabsinkt zur Betriebsamkeit. Eine sol­
che Praxis verharrt innerhalb des Gegebenen {sie führt zu sol­
chen Erscheinungen wie etwa den organisierfreudigen Men­
schen, die glauben, damit, daß man irgend etwas organisiert,
irgendwelche praktischen Kundgebungen veranstaltet, wäre
schon etwas Wesentliches getan, ohne daß man dabei in die
Reflexion aufnimmt, ob denn nun tatsächlich das, was man
so organisiert, überhaupt nur die Möglichkeit hat, in die Rea­
lität wirklich einzugreifen.}5 Womit ich übrigens ein moral­
philosophisches Grundth�a bereits berührt habe, nämlich
die Frage nach solchen Normen, die sich lediglich auf den
reinen Willen als solchen beziehen, wie es bei Kant gelehrt ist,
und die nach solchen, die, indem über Moralisches nachge­
dacht wird, die objektive Möglichkeit der Verwirklichung
einbegreifen, wie es Hegel gegen Kant vertreten hat. Es ist
das Problem, das man terminologisch unter dem Gegensatz
von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik bezeichnet,
und ich glaube, wir werden zu gegebener Zeit darüber auch
einiges zu sagen haben.1 6
Aber wie immer es auch sein mag, und wie immer diese
beiden getrennten Disziplinen Theorie und Praxis, weil sie ja
schließlich doch in der Einheit desselben Lebens entspringen,
nicht ohneeinander sein können, so bedarf es doch zur Praxis
noch eines Moments - und das möchte ich einmal gleich fest­
stellen, weil ich glaube, daß das für die Bestimmung des Mo­
ralischen fundamental ist -, das nicht in der Theorie aufgeht
und das sehr schwer zu bezeichnen ist, das man vielleicht
doch am besten mit dem Ausdruck Spontaneität, mit dem

I7
Ausdruck des unmittelbar tätigen Reagierens aufbestimmte
Situationen angibt. Wo dieses Moment nicht vorhanden ist,
man könnte auch sagen, wo Theorie nicht schließlich doch
etwas will, da ist so etwas wie richtige Praxis nicht möglich.
Und zur Aufgabe einer Theorie des Moralischen gehört we­
sentlich auch hinzu, an dieser S telle den Umfang der Theorie
selbst zu begrenzen, mit anderen Worten: zu zeigen, daß in
der Sphäre des moralischen Handeins noch etwas hinzu­
kommt, was in dem Gedanken sich nicht erschöpft, was aber
nun selber auch nicht wieder verabsolutiert werden darf, was
man nun nicht selber wieder so behandeln darf, als ob es das
Absolute unmittelbar wäre, sondern was dann doch wieder
in einer Relation steht zu der theoretischen Einsicht, wenn es
nicht in bloße Narrheit ausarten will. - Meine D amen und
Herren, ich kann das Moment, um das es hier geht, außeror­
dentlich schwer ausdrücken, und das ist kein Zufall, denn es
handelt sich hier wirklich um das Moment im Moralischen,
um das theoretisch zu fassende Moment im Moralischen, das
eigentlich atheoretisch ist - und es in der Theorie aussprechen
zu wollen, hat deshalb von vornherein so ein bißchen etwas
Absurdes. Aber ich glaube, daß ein Stichwort dafür in dieser
Stunde schon gefallen ist, als ich vorhin einmal Ihnen etwas
über den Begriff des Widerstandes sagte, von dem ich aller­
dings da meinte, er sei heute viel mehr in der Kraft zur Theo­
rie zu suchen. Denn, daß man was tun soll, darüber sind die
Menschen sich alle heute einig; aber das eigentlich Bedenkli­
che ist, wenn einmal jemand nichts tun will und wenn er sich
zunächst einmal so weit zurücknimmt aus dem herrschenden
Zusammenhang der Praxis, daß er erst einmal über etwas
Wesentliches dabei nachdenken will. Nun, ich meine, im
Moment des Widerstands, im Moment des Nicht-Mitma­
chens bei dem herrschenden Unwesen, das ja immer ein Wi­
derstand gegen etwas Stärkeres ist und das deshalb in sich
eigentlich in jedem Augenblick auch das Moment des Hoff­
nungslosen hat, in diesem Begriff des Widerstands können
Sie vielleicht am ehesten das erkennen, was ich meine, wenn

I8
ich davon spreche, daß die Sphäre des Moralischen in der
Sphäre der Theorie eben tatsächlich nicht aufgeht und daß
das selbst eine philosophische Grundbestimmung der Sphäre
der Praxis ist.
Ich darfihnen das vielleicht mit einer Erfahrung erläutern,
einer ganz einfachen Erfahrung, die ich gemacht habe in den
ersten Monaten, als ich - das sind nun fast I 4 Jahre her - aus
der Emigration nach Deutschland zurückgekommen bin. Ich
hatte damals Gelegenheit einen der wenigen maßgebenden
Männer des 20. Juli kennenzulernen und habe mich mit ihm
unterhalten, habe ihn gefragt: >Ja, Sie haben aber doch gerrau
gewußt, die Chance, daß Sie Erfolg haben mit der Ver­
schwörung, ist minimal, und Sie mußten doch auch wissen,
daß, wenn Sie erwischt werden, daß Ihnen weit Schreck­
licheres als der Tod bevorsteht - unausdenkbar Schreckli­
ches. Wie ist es Ihnen möglich gewesen, trotzdem so zu han­
deln?< - Und darauf sagte dieser Mann mir - Sie alle werden
seinen Namen kennen, ich möchte ihn aber jetzt nicht nen­
nen 1 7 -: >Es gibt aber Situationen, die so unerträglich sind,
daß man sie einfach nicht weiter mitmachen kann, ganz
gleich, was dann geschieht, und auch ganz gleich, was bei
dem Versuch, es anders zu machen, dann aus einem selber
wird.< Er hat mir das ohne jedes Pathos - und ich möchte
sagen: auch ohne jeden theoretischen Anspruch - gesagt,
sondern einfach so, daß er mir damit erklären wollte, was ihn
zu dem scheinbar Absurden jener Aktion am 2o. Juli bewog.
Ich glaube, gerrau dieses Moment des Widerstandes - daß es
also ein so Unerträgliches geben kann, daß man versuchen
muß, es zu ändern, ganz gleich, welche Folgen es für einen
und unter Umständen, die man theoretisch sogar vorherzu­
sehen vermag, auch für andere haben kann -, das ist gerrau
der Punkt, an dem die Irrationalität, oder lassen Sie mich sa­
gen: das irrationale Moment des moralischen Handeins zu
suchen ist, wo es lokalisiert ist. Sie sehen dabei aber gleichzei­
tig, daß diese Irrationalität deshalb nur ein Moment ist, weil
dieser Offizier ja zugleich auch theoretisch sehr gerrau wußte,

19
wie schlecht, wie grauenhaft dieses Dritte Reich ist und auf
Grund der kritischen und theoretischen Einsicht in die Lüge
und das Verbrechen, mit denen er es zu tun hatte, dann dazu
gebracht worden ist zu handeln. Hätte er diese Einsicht nicht
gehabt, hätte er nicht die E rkenntnis des Schlechten und
Schändlichen gehabt, das damals über Deutschland ge­
herrscht hat, dann wäre es zu jenem Widerstand ganz gewiß
nicht gekommen. Aber es tritt eben dann doch noch dieses
andere Moment hinzu, dieses - ganz gleichgültig, wie es ist-:
>Das geht nicht weiter, das darf ich nicht erlauben, ganz
gleich, was mit mir und anderen dabei geschieht.< - Das gibt
Ihnen vielleicht eine erste Vorstellung von dem Zusammen­
gewachsensein, von der Konkretion dessen, was man mit
Moralphilosophie bezeichnen kann. Durch dieses Moment,
das ich Ihnen eben bezeichnet habe, kommt in den Begriffder
Moralphilosophie ein Moment jedenfalls des Ungemäßen,
des nicht so ganz Adäquaten herein, eben deshalb, weil sie als
Theorie sich darüber hinwegsetzt. Es liegt etwas -ja, wie soll
man sagen -, etwas die Scham Verletzendes darin, daß man
über solche Situationen wie die der Männer vom 20. Juli -
und das ist, weiß Gott, der S chauplatz der moralischen Dia­
lektik heute gewesen - so nachdenkt, wenn man ganz behag­
lich auf einem Katheder steht, und wenn Sie auch mehr oder
minder behaglich in Ihren Reihen da sitzen. Gegenüber dem,
was hier nun wirklich Praxis heißt - und Praxis ist's halt,
wenn's weh tut, und wenn es verteufelt weh tun kann -, liegt
darin ja fast ein Moment des Zynischen, dem man sich
schwer entziehen kann. Und dem Begriff von Moralphiloso­
phie als einer theoretischen Disziplin, von dem ich zu Anfang
gesprochen habe, dem ist also etwas von dieser Art von Zy­
nismus doch wohl auch anzuhören, eben deshalb, weil Mo­
ralphilosophie notwendigerweise über jenes Moment, das
ich versucht habe, Ihnen eben zu bezeichnen - das in Theorie
nicht zu erschöpfende Moment -, fast zwanghaft sich ja hin­
wegsetzt. Man könnte insofern sagen, daß die moralphiloso­
phische Kontemplation, daß das Nachdenken über morali-

20
sehe Fragen insofern, als das Moralische als ein Handeln im­
mer auch mehr als ein Denken ist, eigentlich in einen gewis­
sen Widerspruch gerät zu dem Gegenstand, über den dabei
nachgedacht wird. Und es gibt Situationen - und ich glaube,
wir leben heute noch immer in einer solchen Situation -, in
denen dieser Widerspruch: über das nachzudenken, was
eigentlich nur getan werden könnte, ganz besonders flagrant
ist. Auf der anderen Seite ist die Situation aber auch wieder
so, daß wir über diesen Widerspruch nicht hinweggehen
können. Und wenn ich Ihnen sagte, es kommt darauf an, daß
man sich die Dinge bewußt macht - und die Aufgabe einer
Moralphilosophie heute ist die Herstellung von Bewußtsein
vor allem anderen -, dann habe ich genau solche Dinge damit
gemeint, nämlich: daß, wo Widersprüche gelten, wo also
Widersprüche in der Sache liegen, die man nicht durch theo­
retische Manipulationen und Begriffsbildungen irgendwie
wegräumen kann, daß man dann auch dieser in der Sache
liegenden Widersprüche sich bewußt wird, daß man die
Kraft lernt, ihnen ins Gesicht zu sehen, anstatt daß man sie
mehr oder minder durch >auslogisierendes< Verfahren aus der
Welt schafft.
Dieses Ungernäße nun, von dem ich Ihnen gesprochen
habe, das ist ganz besonders stark in dem Ausdruck Moral
und Moralphilosophie enthalten, der ja, wie Sie alle wissen,
von Nietzsche aufs vernichtendste kritisiert worden ist, nach
dem allerdings das Unbehagen an dem Wort Moral schon
viel weiter zurückdatiert. Ich habe gerade jetzt in den letzten
Tagen zu meinem größten Erstaunen den Ausdruck >morali­
stisch< als einen abwertenden Ausdruck bereits bei Hölderlin
gefunden, 18 so sehr datiert auch diese Problematik auf die
Zeit des sogenannten klassischen deutschen Idealismus zu­
rück. Moral hängt ja ab von dem lateinischen Wort >mores<,
und mores heißt - ich hoffe, daß Sie das alle wissen - Sitte.
Infolgedessen hat man also die Moralphilosophie übersetzt
mit >Sittenlehre< oder auch mit der >Lehre von der Sittlich­
keit<. Wenn man diesen Begriff von der Sitte nicht von vorn-

21
herein so entleeren will, daß man sich schlechterdings nichts
mehr darunter vorstellen kann, dann muß man dabei ja doch
wohl an die Sitten denken, die innerhalb je gegebener Ge­
meinschaften, die also innerhalb von bestimmten Völkern
herrschen. Nun würde ich sagen, der Grund, warum heute
die Fragestellung der Moralphilosophie so radikal proble­
matisch geworden ist, ist zunächst einmal der, daß die Sub­
stantialität der Sitte, also daß die Möglichkeit eines richtigen
Lebens in den Formen, in denen die Gemeinschaft existiert,
bereits vorgegeben und gegenwärtig wäre, daß die radikal
hinfällig geworden ist, daß es das nicht gibt, und daß man
sich heute darauf in gar keiner Weise mehr verlassen kann.
Und wenn man so tut, als ob das noch so wäre, dann wird
man im allgemeinen nur den Provinzialismus von Lebensbe­
reichen erhalten - als ob der nun wirklich selber bereits die
Bürgschaft eines richtigen oder eines guten Lebens wäre -, in
denen scheinbar von der alten Ordnung noch so ein bißeben
etwas übrig ist. Das Widerstreben gegen das Wort Moral qua
moralistisch, das Sie alle sicherlich in sich haben, das gründet
gerrau an dieser Stelle; es gründet also darin, daß wir alle füh­
len, daß das Enge und das Beschränkende in der Beziehung
auf geltende Vorstellungen und jeweils geltende Verhältnisse
so unterschoben wird, als ob es bereits das richtige Leben in
irgendeinem Sinn wäre.
Meine Damen und Herren, man hat infolgedessen an Stelle
dieses Begriffs der Moral schon seit langem den Begriff der
Ethik praktiziert, und ich habe einmal formuliert, daß der
Begriff der Ethik eigentlich das schlechte Gewissen der Mo­
ral sei oder daß die Ethik eine Art Moral sei, die sich des
eigenen Moralismus schämt und infolgedessen so gebärdet,
als ob sie zwar eine Moral, aber gleichzeitig doch nicht eine
moralistische Moral sei.19 Und wenn ich ehrlich sein darf,
dann scheint mir die Unaufrichtigkeit, die darin liegt,
schlimmer und bedenklicher zu sein als die schroffe Unver­
einbarkeit unserer Erfahrung mit dem Wort Moral, die es
wenigstens noch gestattet - dadurch, daß man den Inhalt des-

22
sen, was bei Kant etwa oder bei Fichte der Begriff des Mora­
lischen meint, weitertreibt und weiterdenkt -, daß man zu
verbindlicheren und härteren Einsichten kommt, während
der Begriff der Ethik in sehr vielfacher Hinsicht zu verfließen
droht - vor allem dadurch, daß er sich seinem Wesen nach
bezieht auf den Begriff der sogenannten Persönlichkeit.
Ethos, das griechische Wort �{}oc;, wovon der Ausdruck
Ethik abgeleitet ist, ist ein sehr schwer zu übersetzender Aus­
druck, den man im allgemeinen, aber doch wohl korrekt
wiedergibt als Wesensart - also: wie einer ist, wie einer be­
schaffen ist. Der neuere Begriff des Charakters kommt dem
Begriff des �{}oc; recht nahe, und das griechische Sprichwort
i}ßoc; avfJQwlup oa[p,wv19a - also: daß das Ethos der Dämon
oder, man könnte sagen, das Schicksal des Menschen sei,
führt auch auf diese Linie. Mit anderen Worten, durch die
Nivellierung der Problematik von Moral auf Ethik wird von
vornherein das entscheidende Problem der Moralphiloso­
phie, nämlich das Verhältnis des einzelnen Individuums zu
dem Allgemeinen, eskamotiert, es wird weggeschafft. Es
steckt darin schon das: daß, wenn man nur seinem eigenen
Ethos, seiner eigenen Beschaffenheit nach lebe - wenn man,
wie man so schön sagt: sich selbst verwirkliche oder wie diese
Phrasen alle lauten mögen -, dabei schon das richtige Leben
herauskomme; was eine pure Illusion und eine pure Ideologie
ist. Eine Ideologie im übrigen, die sich mit einer zweiten
paart, nämlich mit der Ideologie, daß die Kultur und das
Sichanpassen an die Kultur die Selbstveredelung, Selbstkulti­
vierung des Individuums eigentlich dort leiste, wo die Kultur
selbst gegenüber der Moralphilosophie zur Diskussion steht
und eigentlich ein zu Kritisierendes wäre. Aus all diesen Grün­
den glaube ich, daß es besser ist, wie sehr auch kritisch an dem
Begriff der Moral festzuhalten, als die Problematik von
vornherein wegzuwischen und aufzuweichen, indem man sie
durch den sentimentalen Kulturbegriff der Ethik ersetzt. -
Aber ich glaube, die letzten Erwägungen werde ich in der
nächsten Stunde etwas mehr präzisieren müssen, damit Sie
alle sehen, was ich damit meine.
2. VORLESUNG
9- 5· 1963

Meine Damen und Herren,


ich hatte in der letzten Stunde Ihnen versprochen, das, was
ich sehr hastig in den letzten Minuten über die Begriffe Moral
und Ethik zusammengerafft hatte, Ihnen doch etwas einge­
hender auseinanderzusetzen, weil wir dadurch, daß wir uns
zunächst einmal ein wenig über das Bereich verständigen, in
dem unsere Betrachtungen stattfinden sollen, vielleicht doch
auch das Verständnis der Intention des Ganzen uns etwas er­
leichtern können. Sie werden sich erinnern, daß der Begriff
der Moral vor allem deshalb problematisch ist, weil er von
mores herrührt, also weil er eine Übereinstimmung der öf­
fentlichen Sitten in einem Lande mit der moralischen, der
sittlich richtigen Verhaltensweise, dem richtigen Leben des
einzelnen Menschen postuliert. Und ich hatte Ihnen gesagt,
daß eben diese Übereinstimmung oder, wie Hegel es genannt
haben würde, diese >Substantialität des Sittlichen<, daß also
die Normen des Guten unmittelbar und verbürgt in dem Le­
ben einer bestehenden Gemeinschaft gegenwärtig sind, heute
nicht mehr angenommen werden kann; vor allem auch des­
wegen, weil die Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen eine
solche Übermacht angenommen hat, weil wir durch unzäh­
lige Prozesse in jedem Augenblick so sehr zur Anpassung ge­
zwungen werden, daß jene Übereinstimmung unserer eige­
nen individuellen Bestimmung mit diesem uns durch die
Objektivität des Zusammenhangs Aufgezwungenen gar
nicht mehr hergestellt werden kann. Aber wenn ich über das
nachdenke, was ich Ihnen in der letzten Stunde zur Kritik
dieses Begriffes von Moral gesagt habe, dann finde ich, daß
das zunächst aus einem Grunde noch unbefriedigend ist, daß
es eigentlich gar nicht recht das hergibt, was jenes Unbeha­
gen an der Moral verursacht. Es handelt sich dabei gar nicht
so sehr um die wörtlichen, etwa sprachgeschichtlich oder
philologisch verbrieften Zusammenhänge zwischen Sitte
und individueller Sittlichkeit, sondern es handelt sich dabei ­
Simmel würde gesagt haben: um das >Cachet< des Wortes
Moral. Ein solcher philosophischer Begriff - und es ist viel­
leicht gut, wenn Sie sich das vergegenwärtigen - wie etwa
der der Moral geht ja nicht ohne weiteres auf in seiner reinen
Bedeutung, sondern hat darüber hinaus eine Aura oder eine
Schicht, die sich mitteilt, ohne daß man sie auf diese Bedeu­
tungen festlegen kann. Und der Begriff des Moralischen ist
eben durch eine bestimmte Vorstellung des Rigorismus, der
konventionellen Enge und der Anpassung an eine ganze
Reihe einfach vorgegebener Vorstellungen gebunden, die
problematisch geworden sind. Also, wenn Sie einfach daran
denken, daß im unreflektierten allgemeinen Sprachgebrauch
die Begriffe moralisch und unmoralisch mit Vorstellungen
des erotischen Lebens assoziiert werden, die ihrerseits unter­
dessen längst durch die Psychoanalyse und überhaupt durch
die Psychologie eigentlich überholt sind, dann werden Sie
ungefähr einen Hinweis schon für das haben, worinjenes Be­
schränkte des Begriffs des Moralischen liegt, wie es von Ge­
arg Büchner in einer sehr tiefsinnigen und witzigen Stelle im
»Woyzeck« zum Ausdruck gebracht ist, wo der Hauptmann
dem Woyzeck vorwirft, diesem grundanständigen Men­
schen, daß er ein uneheliches Kind hat und nun immer hin­
und herschwankt zwischen der Beteuerung: >er sei unmora­
lisch< und der: >er sei ein guter Mensch<. Und wenn er nun
erklären soll, warum Woyzeck eigentlich unmoralisch sei, so
sieht er sich dabei zu der Tautologie gezwungen zu sagen:
>daß man unmoralisch sei, weil man eben keine Moral hat< -
und das hat sich bei diesem Hauptmann von der in ihm noch
ganz lebendigen Vorstellung des sittlich Guten völlig abge­
spalten. Er sieht gar keinen Widerspruch darin, Woyzeck zu
attestieren, daß er ein guter Mensch sei, aber gleichzeitig, daß
er unmoralisch sei?0 Der gesamte Widerspruch etwa von
Nietzsche gegen das, was man so Moral nennt, ist an diesen
Vorstellungen orientiert. Wenn ich es in den Nietzscheschen
Ausdrücken sagen sollte, so würde es wohl so sein, daß der

25
Begriff der Moral dadurch so schwer kompromittiert ist, daß
er bewußt oder nicht bewußt >asketische Ideale< mit sich
führt, für die ein Rechtsgrund im Bewußtsein, ein in sehr
weitem Maße vernünftiger Rechtsgrund, eigentlich gar nicht
aufzufinden ist, sondern hinter denen sich im allgemeinen
nur alle möglichen mehr oder minder trüben Interessen ver­
schanzen. 21 Das also gibt vielleicht wahrhaftiger den Wider­
stand wieder, den wir gegen das Wort Moral empfinden, als
die Beziehung auf die Sitte, von der ich das letzte Mal ausge­
gangen bin und über die ich heute übrigens noch einiges
nachtragen möchte.
Aus diesem Widerspruch gegen die Gleichsetzung des Sitt­
lichen mit einem beschränkten und engen und überflüssig ge­
wordenen asketischen Ideal sind die Bestrebungen hervorge­
gangen, den Begriff Moral durch den der Ethik zu ersetzen.
Ich habe Ihnen bereits angedeutet, daß in diesem Begriff der
Ethik das drinsteckt, daß man sozusagen der eigenen We­
sensbeschaffenheit nach leben soll, und daß insofern dieser
Begriff der Ethik gegen das von außen Gesetzte, Zwanghafte
so etwas wie ein Remedium jedenfalls zu versprechen
scheint. Ich hatte Ihnen auch bereits angedeutet, daß es trotz­
dem mit diesem Gegengift, das von dem Wort Ethik verhei­
ßen wird, eine etwas problematische Bewandtnis hat. Vor
allem, um an das Allereinfachste zu erinnern, liegt in diesem
ganzen Begriff der Ethik bereits etwas, was heute in dem Be­
griff des Existentialismus - der ja wesentlich als eine ethisch­
moralische Bewegung, wenn auch im negativen Sinn, sich
verstanden hat - erst offen zutage kommt. Es wird nämlich
dann eigentlich die Vorstellung des richtigen Lebens, des
richtigen Tuns darauf reduziert, daß man so handle, wie man
ohnehin ist. Es wird also, indem man seinem Ethos, seiner
Wesensbeschaffenheit nach handeln soll, das bloße So-Sein,
daß man so und nicht anders >geartet< ist, zum Maßstab des­
sen gemacht, wie man sich verhalten soll. 22 Die Wurzeln da­
von gehen merkwürdigerweise bis aufKaut zurück, bei dem
ja der Begriff der Persönlichkeit - der· allerdings etwas ande-

26
res bei ihm bedeutet, wir werden darüber noch eingehend zu
sprechen haben - als entscheidende ethische Kategorie zum
ersten Mal auftritt. Ich möchte gleich hier anmerken, daß bei
ihm Persönlichkeit soviel bedeutet wie die abstrakte, die all­
gemein begriffliche Einheit dessen, was Person ist, oder man
könnte auch sagen: alle die Bestimmungen der handelnden
Person, die nicht die Person als ein bloß empirisches, als ein
bloß daseiendes, natürliches Wesen betreffen, sondern der
Kautischen Lehre zufolge darüber hinaus sein sollen. Persön­
lichkeit ist also das an der Person, was überempirisch ist und
zugleich die Allgemeinheit, die fur jede Person oder, wie
Kant es ausdrückt, für jedes vernunftbegabte Wesen über­
haupt verbindlich sein soll.23 Daraus ist dann erst im Laufe
einer Entwicklung, die zu verfolgen interessant wäre, dieser
Begriff der Persönlichkeit als des starken, mit sich selbst
identischen, in sich gefügten Menschen geworden, die dann
dem Begriff des Ethischen gleichsam die Norm ersetzt, sich
an die Stelle der Norm rückt. Das tief Problematische liegt
also darin, daß in einem Bereich, in dem es von vornherein
um Spannungsverhältnisse, Widersprüche geht, nämlich um
die Frage, wie die individuellen Interessen und Glücksan­
sprüche mit irgendwelchen objektiven, für die Gattung ver­
bindlichen Normen in Übereinstimmung zu bringen seien,
daß dieses Spannungsverhältnis weggeschafft wird, eskamo­
tiert wird, und daß es so aussieht, als ob man nur gewisser­
maßen man selber und nur mit sich selber identisch zu sein
brauche, um auf diese Weise eben ein richtiges Leben zu füh­
ren. Und, ich deutete Ihnen auch das bereits an, da nun diese
Identität, diese bloße Identität des Einzelmenschen mit sich
selbst, nicht ausreicht, so wird dann korrelativ als ein in ganz
analoger Weise Vorgegebenes und nicht kritisch Bewertetes
der Begriff der Kultur hinzugenommen, und dann ist, im
Sinne dieser Vorstellung von Ethik, etwa >der Mensch< - und
ich drücke das mit Absicht so phrasenhaft aus, weil man hier
im Bereich der Phrase tatsächlich sich bewegt -, dann ist das
der Mensch, der aus Identität mit sich selbst, in Übereins tim-

27
mung mit seinem eigenen Wesen, irgendwelche Kulturwerte
verwirklicht. Auch durch diesen Begriff der Ethik wird
eigentlich das abgeschnitten, was die Thematik einer jeden
tiefergreifenden Besinnung auf moralische oder ethische Fra­
gen ausmachen sollte, nämlich die Frage, ob die Kultur und
das, wozu diese sogenannte Kultur geworden ist, überhaupt
so etwas wie richtiges Leben zuläßt oder ob sie ein Zusam­
menhang von Institutionen ist, der in zunehmendem Maß ein
solches richtiges Leben geradezu verhindert. Durch diesen
Begriff der Ethik wird gleichsam die ganze Problematik, die
in die Welt gekommen ist durch die Schriften von Jean-Jac­
ques Rousseau und die dann mit besonderem Nachdruck
auch von Fichte verfochten worden ist, 24 die wird einfach
weggeschafft, die wird zugunsten von solchen barmonisti-
.
schen Vorstellungen eskamotiert.
Wenn ich das, was ich Ihnen gesagt habe über diesen Be­
griff der Ethik, nun ein wenig anspruchsvoller, philoso­
phisch ausdrücken sollte, dann müßte ich wohl sagen - ich
habe das letzte Mal den Ausdruck gebraucht -, daß das Wort
��hJk.ßas schlechte Gewissen des Gewissens sei. Wenn ich
Ihnen diesen Satz interpretieren sollte, so würde das bedeu­
ten, daß - da die Moral, wie vor allem Nietzsche dargetan
hat, aus verblaBten theologischen Vorstellungen gespeist
wird - man den Versuch gemacht hat, nach dem Verblassen
der theologischen Kategorien doch irgend etwas Ähnliches
herzustellen, und daß man dabei dazu gekommen ist, in blo­
ßen Immanenzkategorien, also in Naturkategorien, in Kate­
gorien des bloßen Daseins, in dem wir uns befinden, ohne
Transzendenz, ohne etwas, was über unsere eigene Natur­
wüchsigkeit und Naturbestimmtheit hinausginge, gleich­
wohl das Sittliche zu fassen. Das Sittliche wird dann selbst zu
einer Naturbestimmung gemacht. Aber genau das, die un­
mittelbare, primitive Identität von Naturkategorien, von na­
türlichem So-Sein und von Gutem, gilt nicht - und wenn
Humanität überhaupt einen Sinn hat, dann besteht sie genau
darin, daß sie die Entdeckung ist, daß die Menschen in ihrem

28
Handeln, in ihrer unmittelbar naturwüchsigen Bestimmtheit
eben nicht aufgehen. Sie verstehen vielleicht nach dem, was
ich Ihnen auseinandergesetzt habe, ein bißchen besser, war­
um ich sagen würde - auf die Gefahr hin, daß Ihnen das
etwas altmodisch vorkommt -, daß Betrachtungen der Art,
wie wir sie hier anstellen wollen, viel eher doch getroffen
werden von dem Begriff der Moral als von dem Begriff der
Ethik. Nicht etwa, als ob ich die überkommene Moral in ir­
gendeiner Weise rechtfertigen oder wieder herstellen wollte;
ich glaube, ich bin durch meine Publikationen einigermaßen
vor dem Verdacht gesichert, daß ich irgend etwas derartiges
im Sinn habe. Aber in dem Begriff des Moralischen, wie er
vor allem und mit der äußersten Schärfe in der Kautischen
Philosophie formuliert worden ist, wird jedenfalls das Span­
nungsverhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem,
zwischen empirischer Existenz und Gutem, das Moment
also, daß wir in unserer Bestimmung als Menschen in unse­
rem unmittelbaren So-Sein nicht aufgehen, kurz: werden alle
die wirklichen Probleme und Schwierigkeiten, die den Um­
kreis eines richtigen Lebens, eines richtigen Tuns betreffen,
unvergleichlich viel aufrichtiger und viel härter und, wenn
ich so sagen darf, unvergleichlich viel reiner dargestellt, als
das im Begriff von der Ethik der Fall ist. Und da es mir
darum zu tun ist, Ihnen wirklich hier eine Reihe von moral­
philosophischen Problemen zu entwickeln, also Ihnen wirk­
liche Schwierigkeiten zu entwickeln - denn in der Philo­
sophie hat es keinen Sinn über das z� reden, �as nicht
Schwierigkeiten bereitet -, deshalb, weil es sich also um
Schwierigkeiten, um genuine Widersprüche handelt, glaube
ich, daß die Dinge, die wir behandeln, besser unter den Titel
der Moral gehören als unter den barmonistischen Begriff der
Ethik. Hinzu kommt noch ein anderes, nämlich daß ja gerade
für die Frage, die man bezeichnen könnte als die Frage nach
einem richtigen Leben, der Begriff des Moralischen mit einer
großen und sehr unverächtlichen und keineswegs nun klein­
lichen und kleinbürgerlichen Tradition behaftet ist, nämlich

29
der der sogenannten französischen Moralisten, die sich ja zu­
rückdatieren bis auf Schriftsteller wie Montaigne, die aber
ihren berühmtesten Repräsentanten in dem Herzog La Roche­
foucauld haben, von dem man nun sicherlich sagen kann, daß
er ein Moralist ist in dem Sinn, daß er die mores, die Verhal­
tensweisen und Sitten der Menschen kritisch analysiert hat,
der aber sicherlich kein Moralist gewesen ist in dem verrufe­
nen Sinn des Moralpredigers oder - um noch einmal Nietz­
sche zu nennen: des »Moraltrompeters von Säckingen«25. -
Soviel zur Wahl der Nomenklatur, mit der wir es hier zu­
nächst einmal zu tun gehabt haben.
Ich habe Ihnen gesagt, daß es, um moralische Probleme,
um das �ro�km .des Moralischen, welches das Verhältnis
von Gesetz und Freiheit ist, im Ernst als Problem zu fassen,
nur darauf ankommt, dieses nicht in irgendeiner Weise zu
glätten, sondern sich gerade der Widersprüche bewußt zu
machen, bei denen das Gemütliche und das Glättende aufhö­
ren. Ich glaube nun, daß ich gerade darin mich in Überein­
stimmung mit der geschichtlichen Fragestellung nach mora­
lischen Problemen überhaupt befinde. Man kann nämlich
wohl sagen, daß so etwas wie die moralische Problematik
überhaupt immer dann entsteht, wenn jene fraglose und
selbstverständliche Vorgegebenheit von sittlichen Normen
des Verhaltens im Leben einer Gemeinschaft nicht mehr vor­
handen ist. Also Moral als theoretische Disziplin - und ich
erinnere Sie daran, daß wir uns ja vorgesetzt haben, über
theoretische Dinge nachzudenken - entsteht genau in dem
Augenblick - und damit komme ich auf den Begriff der Sitte
noch einmal zurück -, wo die Sitten, die Gebräuche, die in­
nerhalb eines Volkslebens gelten und eingespielt sind, keine
unmittelbare Geltung mehr haben. Der Hegeische Satz, daß
>die Eule der Minerva am Abend ihren Flug beginnt<26 , gilt
sicherlich nirgends so sehr wie ftir das Nachdenken über mo­
ralische Fragen, und es ist kein Zufall, daß die Platonische
Philosophie, die die erste gewesen ist, von der man sagen
kann, daß die moralischen Probleme, in dem Sinn, in dem

30
wir eben von ihnen reden, das gesamte philosophische Inter­
esse eigentlich beherrschen, ihrem geschichtlichen Augen­
blick nach genau zusammenfällt mit dem Zerfall der Atheni­
schen Polis. Darüber hinaus, glaube ich, wird man dem Platon
kein besonderes Unrecht tun, wenn man sagt: daß seine Phi­
losophie einen restaurativen Charakter hat, das heißt, bis zu
einem gewissen Gradjedenfalls den Versuch darstellt, aus der
Reflexion heraus jene Ordnungen für das Verhalten im Le­
ben und jene Ideale - wenn man es so nennen will - noch
einmal hervorzubringen, die einmal die tradierten Tugenden
der attischen Gemeinschaft gewesen sind. Ordnungen, die
nun aber nicht mehr gegenwärtig sind, und gegen deren Ab­
senz diese Philosophie polemisch - denken Sie nur an die ein
Leben lang dauernden Streitigkeiten Platons mit den Sophi­
sten - gemünzt ist.27 - In dem Formalismus-Buch von Max
Scheler findet sich, wie ich Ihnen das letzte Mal schon sagte,
bereits der Unterschied zwischen Ethik als einem substan­
tiellen, gegenwärtigen Korpus von Maximen und Vorschrif­
ten, über die nicht reflektiert wird, und Ethik als philo­
sophischer Disziplin. Und er sagt sehr drastisch: » Während
Ethik im ersten Sinne« - nämlich in dem der Substantialität
solcher Vorschriften - » eine konstante Begleiterscheinung
alles Ethos zu sein pflegt,« - wie sich das damit verhält, dar­
über werde ich gleich einiges sagen - »ist Ethik im letzteren
Sinne eine verhältnismäßig selten auftretende Erscheinung. <<
Nun, ich würde nicht sagen >selten<, aber: eine jeweils in ge­
schichtlichen Abläufen spät auftretende - so würde ich es for­
mulieren. »Ihr Ursprung «, sagt er, »ist überall an Zersetzungs­
prozesse eines bestehenden Ethos geknüpft «, und er macht darauf
aufmerksam, daß bereits in der Ethik von Steinthai dieser
Gedanke eingehend entwickelt worden ist. 28 Das ist aber -
und ich glaube, das hat man hier bereits zu ergänzen - nun
nicht einfach so zu verstehen, als wäre nun ein Altes, Gutes
verloren, nicht mehr substantiell gegenwärtig und als wäre es
die Aufgabe der Philosophie, es zu beschwören. An dieser
Stelle, glaube ich, ist die Theorie von Scheler selber, wie in

3I
vieler anderer Hinsicht auch, einfach restaurativ und nicht
genügend in sich reflektiert. Man muß wohl hier hinzufügen,
daß die Sitten eines Volkes im Augenblick, wo sie sich ge­
genüber der freigewordenen, der verselbständigten Refle­
xion am Leben erhalten - in Gestalt dessen, was die Nazis
Brauchtum genannt haben, wo es also t;i10re_� gibt, d_ipfo.rt­
wesen<, obwohl das Bewußtseind_er:f:_in��i;;en und die kriti­
sche Arbeit des Begriffs damit nicht mehr einig sind -, nun
nicht etwa mehr bloß Relikte eines Alten, Guten und Wahren
sind, sondern daß sie dann selber etwas Vergiftetes und Böses
av.rs:!uncn. Wenn Scheler an der Stelle, die ich herangezogen
habe, mit einem Ausdruck, der mir wenig sympathisch ist,
von >Zersetzung< der ethischen Vorstellungen spricht, die
durch die Philosophie gleichsam thematisch gemacht wird ­
und diese Redeweise ist ja unendlich häufig, und Sie werden
sie in ethischen Betrachtungen immer wieder finden -, dann
wird dabei unterschlagen, daß wahrscheinlich nichts >zer­
setzter< ist als dic..Art von E thik oder von M.Qtal, die fortkJ>t
in. Gestalt_ von kollektivep. Vorstell!-!Pgen, n�chdem - wenn
ich es Hegelianisch und einmal sehr abgekürzt ausdrücken
darf: der Weltgeist nicht mehr mit ihnen ist. Wenn der Stand
des Bewußtseins der Menschen und auch der Stand der ge­
sellschaftlichen Produktivkräfte sich von diesen kollektiven
Vorstellungen entfernt hat, dann nehmen diese Vorstellun­
gen etwas Gewalttätiges und B,epressives an; und gerrau die­
ser Zwang, der dann in den Sitten liegt·, dieses Gewalttätige
und Böse in den Sitten, das sie selber in Gegensatz zu Sittlich­
keit bringt - und nicht etwa der bloße Verfall der Sitten, wie
etwa die Dekadenztheoretiker ihn beklagen -, das nötigt
dann allerdings die Philosophie zu solchen Besinnungen, wie
die es sind, die wir hier anstellen wollen.
Es hat wohl zum ersten Mal der bedeutende amerikanische
Soziologe Sumner, der in Deutschland kaum bekannt ist und
der gegen Ende des 1 9 . Jahrhunderts, etwa gleichzeitig mit
Veblen; gelehrt hat, in seinem Buch »Folkways « auf diesen
repressiven Charakter hingewiesen29 - und der repressive

32
Charakter ist überhaupt gerade den Soziologen weniger ent­
gangen als den Moralphilosophen. Wenn Durkheim, der ja
das Moralische mit dem Sozialen geradezu gleichgesetzt hat,
gesagt hat, daß das Soziale eigentlich immer daran zu erken­
nen sei, daß es >weh tue<, also immer daran, daß irgendwel­
che kollektiven Normen in Gegensatz zu den Interessen und
Ansprüchen der Individuen treten, dann ist das gar nichts an­
deres.30 Also wenn es heute noch etwa Volksbräuche gibt wie
das sogenannte Haberfeldtreiben oder derartige Dinge in
ländlichen Gegenden, wo irgendwelche Außenseiter oder ir­
gendwelche Menschen, die den allgemeinen Gebräuchen sich
nicht fügen, verspottet oder angegriffen oder molestiert wer­
den, so gehört das dahin. Und es führt genau von diesen Sit­
ten dann ein unmittelbarer Weg über die Maßnahme etwa,
daß man Mädchen, die in den jeweils okkupierten Ländern
mit der Besatzungsmacht - sie mag welcher Nation immer
angehören - Beziehungen unterhalten, dann die Haare ab­
schneidet, bis zu der Verfolgung von Menschen wegen >Ras­
senschande< und bis zu all diesen anderen Ausschreitungen.
Man kann eigentlich sagen, daß das Grauen, das der Faschis­
mus verübt hat, in einem sehr weiten Maße gar nichts ande­
res ist als eine Verlängerung von Volkssitten, die eben da­
durch, daß sie von der Vernunft sich abgelöst haben, dieses
Widervernünftige und Gewalttätige angenommen haben -
und das eben nötigt zu den theoretischen Besinnungen.
Sie können bereits an diesem Beispiel - in einer vielleicht
sehr krassen und drastischen Weise - das erkennen, was, ja
ich würde doch sagen, eigentlich das Zentralproblem jeder
Moralphilosophie ausmachen muß: nämlich das Verhältnis
zwischen dem Besonderen, den besonderen Interessen, den
Verhaltensweisen des einzelnen, besonderen Menschen und
dem Allgemeinen, das dem gegenübersteht. Lassen Sie mich
Ihnen hier gleich sagen - damit Sie mich nicht falsch verste­
hen-, es wäre ganz schlecht und ganz primitiv gedacht, wenn
man iq diesem Konflikt von Allgemeinem und Besonderem
in den Verhaltensweisen der Menschen nun von vornherein

33
das Schlechte dem Allgemeinen aufbürden würde und das
Gute dem Individuum. Es erscheint allerdings in den gesell­
schaftlichen Konflikten fast immer so, daß das Unterdrük­
kende, Niederschmetternde das allgemeine Gesetz ist, wäh­
rend das Humane sich in den Ansprüchen und Normen des
Individuums manifestiert. Aber wir werden Gelegenheit ha­
ben zu sehen, daß auf der anderen Seite in dem Allgemeinen
auch immer der Anspruch auf eine verwirklichte richtige Ge­
sellschaft mit enthalten ist, in der Zwang und Gewalt nicht
mehr wären; und wir werden auf der anderen Seite sehen,
daß auch im Besonderen, also auch in den Ansprüchen des
Individuums und in dem Sich-selbst-Setzen des Individu­
ums, gerrau die gleichen gewaltsamen und repressiven Mo­
tive am Werk sind, auf die dann das Individuum in seinem
Verhältnis zu der Gesellschaft zu stoßen pflegt. Jedenfalls
aber ist dieses Problem, wie Gesamtinteresse und besonderes
Interesse im Verhalten der Menschen sich zueinander zu ver­
halten haben, eigentlich ja das Grundproblem der Ethik und
verkappt auch das Grundproblem der Karrtischen Ethik, ob­
wohl es Kant nicht mit den Worten ausdrückt, mit denen ich
es Ihnen eben ausgedrückt habe. Es ist deshalb das Grund­
problem der Karrtischen Ethik - Sie müssen verzeihen, wenn
ich manchmal zwischen den Ausdrücken Ethik und Moral
alterniere, einfach weil mir die ewige Wiederholung des
Wortes Moral auf die Nerven fällt, aber ich glaube, nach
dem, was ich Ihnen gesagt habe, bin ich vor Mißverständnis
an dieser Stelle einigermaßen geschützt -, weil, wenn bei
Kant die moralischen Probleme immer um die Frage des Ver­
hältnisses des empirischen, natürlichen Einzelmenschen zu
dem intelligiblen Menschen kreisen, der bestimmt ist durch
nichts anderes als durch die eigene Vernunft, welche ja we­
sentlich charakterisiert ist durch Freiheit, dann steckt darin
das Verhältnis des Allgemeinen und des Besonderen als ein
Zentrales drin. Und da ja das ethische Verhalten oder das
moralische oder unmoralische Verhalten immer ein gesell­
schaftliches Phänomen ist - das heißt, da es überhaupt keinen

34
Sinn hat, vom ethischen und vom moralischen Verhalten un­
ter Absehung der Beziehungen der Menschen zueinander zu
reden, und da das rein für sich selbst seiende Individuum eine
ganz leere Abstraktion ist -, so steckt darin eben, daß das
gesellschaftliche Problem des Auseinanderweisens des Ge­
samtinteresses und des Partikularinteresses, des Interesses
der einzelnen Individuen, zugleich eben auch das ethische
Problem ist, und daß man beide voneinander gar nicht tren­
nen kann - wobei die Frage nach der Genese dabei gar nicht
einmal so entscheidend ist, wie man vielleicht denken mag.
Das Besondere stellt sich im Allgemeinen nun zunächst unre­
flektiert, in der ethischen Betrachtung als das Zufällige, das
Kontingente, das Psychologische, dar, das die Tendenz hat,
eben deshalb, weil es sich auf die Besonderung des Menschen
als Naturwesen kapriziert, den normativen Charakter auf­
zuweichen und aufzulösen. Während umgekehrt das All­
gemeine, insofern als es mit dem Besonderen nicht über­
einstimmt, zu einem Abstrakten, das Besondere nicht in
sich Aufnehmenden wird und dadurch - dem Besonderen
unrechttuend - sich darstellt als ein Gewaltsames und
Äußerliches, das ftir die Menschen selber eigentlich keine
Substantialität hat. Und wie das Verhältnis dieser beiden On­
möglichkeiten: die Zufälligkeit des bloß psychologisch ver­
einzelten Menschen, der so sehr bedingt ist durch sein Seelen­
leben, daß es in ihm zu etwas wie Freiheit kaum kommt, und
auf der anderen Seite die abstrakte Norm, die gegenüber den
lebendigen Menschen so vergegenständlicht ist, daß sie sie
gar nicht lebendig mehr sich zuzueigenen vermögen, im ein­
zelnen beschaffen ist, wie es zu durchdenken ist und welche
Lösungen von beiden Seiten aus als mögliche sich anbieten,
das eigentlich macht den Problemkreis dessen aus, wovon
der Begriff der Ethik oder der Moral als eine theoretische
Disziplin handelt.
Meine Damen und Herren, soviel möchte ich nur sagen
zur allgemeinen Einleitung in die Problematik, mit der wir
uns befassen. Ich könnte Ihnen nun so etwas wie eine Liste

35
oder wie eine Übersicht über das Gebiet geben und könnte
nach guter wissenschaftlicher Sitte, also klassifizierend, klas­
sifikatorisch verfahren und von einem allgemeinsten Begriff
ausgehen und systematisch Ihnen die einzelnen Kategorien
entwickeln. Es ist nicht meine Absicht, das zu tun. Die
Rechtfertigung, warum ich das nicht so machen will, würde
den Rahmen dessen, was ich Ihnen in dieser Vorlesung geben
kann und will, überschreiten; es würde das dann nämlich
wirklich zu einer erkenntniskritischen und metaphysischen
Vorlesung, und es würde mich, weiß Gott, locken, Ihnen das
zu sagen, aber wir kämen dann zu den versprochenen Proble­
men der Moralphilosophie überhaupt nicht. Ich muß Sie also
einfach bitten, mir - wenn ich es so vulgär ausdrücken darf­
als Arbeitshypothese vorzugeben, daß ich lieber von Ner­
venpunkten rede, an denen ich Ihnen etwas von den Proble­
men und notwendigen Widersprüchen bezeichne, die die
.Sphäre des Moralischen ausmachen, als daß ich Ihnen nun
eine sogenannte Übersicht über das Problem der Moralphi­
losophie gebe. Vielleicht sind manche unter Ihnen, die ihren
unmittelbaren intellektuellen Nerven nach bereits so reagie­
ren werden, daß sie finden, daß eine solche Übersicht über
die Gebiete, über die logischen Hierarchien moralischer Sätze,
in der gegenwärtigen Situation etwas leicht Komisches hat.
Aber ich möchte nun doch nicht etwa in dem, was wir tun,
mich einfach dem Zufall überlassen; und meine Vorliebe
möchte nicht einfach so, wie Kant sagen würde, >rh�psodi­
stisch< eine Reihe von Problemen herausgreifen, sondern es
gibt ja doch ein gewisses Organisationsbedürfnis, das Sie alle
ftihlen. Ich weiß, daß, so seltsam das klingt, junge Menschen
dieses Organisationsbedürfnis, also dieses Bedürfnis nach ei­
ner gewissen Art von Systematik, gerade heute stärker füh­
len, als ich es etwa fühle, der ich einer Generation angehöre,
die im heftigsten Widerspruch gegen den Begriff der philo­
sophischen Systematik überhaupt aufgewachsen ist und die
in ihren ganzen Denkformen von diesem Widerspruch ge­
prägt ist. Sie, bei denen ja überhaupt das Bewußtsein einer
jeglichen Ordnung und Sekurität gerade das Problematische
ist, während wir von zu viel Ordnung und zu viel Sekurität
uns abstoßen mußten, Sie haben, wenn ich mich nicht täu­
sche, im allgemeinen ein größeres Ordnungsbedürfnis - viel­
leicht ist es auch ein bloßes Sicherheitsbedürfnis, ich weiß es
nicht - als ich es verspüre; aber ich glaube jedenfalls, Ihnen
die Ehre antun zu müssen, wenigstens über dieses Bedürfnis
nicht hinwegzugehen. Da ich selber aber nun nicht etwa ein
System der Ethik vortragen kann und will - ich könnte es
vielleicht, aber sicher will ich es nicht -, so ist es wohl das
Beste, wenn wir uns so verhalten, daß wir uns doch bis zu
einem gewissen Grad orientieren an den Fragestellungen des
Denkers, bei dem das Moralische als eine im schroffen Ge­
gensatz zu anderen Bereichen des Lebens stehende Sphäre am
schärfsten herausgearbeitet ist und bei dem deshalb die Anti­
nomien, die Widersprüche, von denen ich Ihnen geredet
habe, am drastischsten hervortreten. Ich möchte also die
Vorlesung doch in einem recht erheblichen Maß an Kant
orientieren und an gewissen Kantischen Bestimmungen, die
ich dann mit Ihnen erörtere. Und ich werde erst, wenn wir
über eine Reihe der Kantischen Kategorien der Moralphi­
losophie gesprochen haben, dann in dem zweiten Teil der
Vorlesungen, gegen Ende, über eine Reihe von scheinbar un­
mittelbareren Problemen wie der Frage nach dem Normen­
charakter heute, nach der Möglichkeit eines richtigen Lebens
heute oder nach dem Problem des sogenannten Relativismus
und Nihilismus Ihnen etwas sagen; dann erst, wenn wir uns
in der Auseinandersetzung mit Kant - ein bißchenjedenfalls ­
Kategorien zunächst einmal vorgegeben haben, die wir dann
kritisch reflektieren.
Es wäre in diesem Zusammenhang gut, wenn Sie die bei­
den moralischen Hauptschriften von Kant möglichst alle le­
sen würden. Ich weiß nicht, ob Ihnen allen das zugemutet
werden kann. Die Anforderungen dieser Lektüre sind im
Vergleich zur ))Kritik der reinen Vernunft« nicht unmäßig.
Es handelt sich um zwei Schriften: um die ))Grundlegung zur

37
Metaphysik der Sitten« und um die >>Kritik der praktischen
Vernunft « . Den Unterschied dieser beiden Schriften zu be­
zeichnen, ist, wenn man in sie selber eindringt, gar nicht so
leicht. Kant selber hat es so dargestellt, als ob die >>Grundle­
gung« gleichsam zu dem kritischen Standpunkt erst hinfüh­
ren solle, während die >>Kritik der praktischen Vernunft«,
nachdem dieser reflektierende, kritische Standpunkt erreicht
ist, nun die systematische Ausführung sei;31 aber man wird
finden, daß beides sich überschneidet. Es ist aber auch hier
wie sehr häufig in der Philosophie mit sogenannten einfachen
Texten; es sieht nämlich dann so aus, daß die einfachen Texte
nur zum Schein einfach sind, weil sie über die wirklichen
Probleme hinweggehen und einen dann an unzähligen Stel­
len ratlos lassen. Ich würde Ihnen also - und ich denke dabei
vor allem auch an gewisse Examensgewohnheiten, wo also
Kandidaten glauben, daß die >>Grundlegung zur Metaphysik
der Sitten« eine Art von erleichtertem Weg zur Kautischen
Moralphilosophie sei - allen doch sehr dringend raten, wenn
irgend möglich sich nicht auf die >>Grundlegung« zu be­
schränken, sondern auch die >>Kritik der praktischen Ver­
nunft« zu lesen; ja, ich möchte Ihnen beinahe raten, wenn Sie
schon nur eines lesen können, dann lesen Sie lieber erst die
>>Kritik der praktischen Vernunft«, die eben doch das unver­
gleichlich viel tiefere und reichere Werk ist. Im übrigen wer­
den Sie gerade auch aus der >>Grundlegung« eine ganze Reihe
von Formulierungen bei mir finden. - Das nächste Mal wol­
len wir uns dann ein wenig beschäftigen mit der Ausgangs­
bestimmung des Moralischen bei Kant, nämlich mit der For­
mulierung: >>Was soll ich tun?« und mit den Problemen, die
an diese Formulierung, die übrigens aus der >>Kritik der rei­
nen Vernunft«, aus der >Transzendentalen Methodenlehre<
stammt, anschließen. Wir werden darüber nachzudenken ha­
ben, ehe wir in die Fragestellungen der sogenannten prakti­
schen Philosophie selber eintreten. - Ich danke Ihnen.
3· VoRLESUNG
1 4 . 5· 1963

Meine Damen und Herren,


ich hatte Ihnen in der letzten Stunde versprochen, daß wir
die Betrachtungen, die wir hier durchführen, ein bißchen
skelettieren wollen dadurch, daß wir sie an die Behandlung
der Moralphilosophie bei Karrt anschließen, und ich werde
dieses Versprechen auch halten. Aber ich möchte in diesem
Zusammenhang doch vielleicht ein paar Worte sagen über die
Methoden - und zwar nicht über die Methode im allgemei­
nen, sondern mehr ad homines, wobei ich unter den hornirres
ebenso Sie meine wie mich selber, nämlich eine gewisse
Schwierigkeit, die offenbar sich gerade bei den Dingen, die
ich so vortrage, ergibt. Diese S chwierigkeit drückt sich ganz
äußerlich darin aus, daß - ich habe das verschiedentlich ge­
hört und beobachtet, und es ist neuerdings sogar, kaum ver­
hüllt, in einem Roman diese Tatsache ausgesprochen wor­
den32 - man bei meinen Vorlesungen, wie man so sagt, nicht
so mitschreiben kann, wie es in anderen Vorlesungen der Fall
zu sein pflegt, und daß man infolgedessen also das, was man
hier erfährt, nicht ebenso nach Hause tragen kann. Ich
möchte eine Sekunde wenigstens auf diesen Punkt doch ein­
gehen. Ich verstehe auf der einen Seite sehr gut, daß Sie das
Bedürfnis haben, etwas Festes in die Hand zu bekommen,
zumal Sie j a, gerade wenn Sie in das Studium hineingeraten,
sehr vielfach über den Unterschied zwischen einem bloßen
Lernen und dem, Philosophie zu lernen - das ist ja Karrt zu­
folge nichts anderes, als Philosophieren zu lernen33 -, noch
gar nicht so sehr viel nachgedacht haben werden. Auf der
anderen Seite aber müssen Sie sich auch darüber klar sein, daß
es hier an dieser Stelle wirklich sehr ernste und erhebliche
Schwierigkeiten gibt; und Sie können mir glauben, daß das
Verfahren, das ich dabei anwende, nicht rhapsodistisch oder
zufällig ist, sondern daß - wenn ich hier nicht nach >erstens<,
>zweitens<, >drittens< vorgehe und Ihnen diese und jene Dinge

39
nicht definitiv an die Hand gebe - das selber etwas Wesentli­
ches zu tun hat mit dem Inhalt dessen, was ich philosophisch
vertrete. Und diejenigen von Ihnen, die mit meinen Sächel­
chen sich vertraut machen außerhalb dessen, was Sie in der
Vorlesung erfahren, die werden auch rasch genug einsehen,
warum das so ist und warum das nicht anders sein kann. Aber
ich möchte dabei doch auf zwei Dinge hinweisen, vielmehr
auf eine ganze Reihe von Dingen. Es ist, glaube ich, gut,
wenn diese Dinge zwischen uns zur Sprache kommen, wenn
wir also dem einfach ins Auge sehen, als wenn sich das so in
einer Sphäre fortsetzt, die, ich möchte sagen, zwischen dem
Getuschel und der Faszination in einer Trübe mitten inne­
hält.34 Ich meine also folgendes. Zunächst einmal, daß die
Philosophie ja überhaupt in der Reflexion von Wissen besteht
und nicht in der Übermittlung von Wissensstoff unmittelbar;
und daß, wer im Ernst mit der Philosophie sich einläßt - und
das setze ich bei Ihnen allen voraus -, sich eben wesentlich
doch der Reflexion und zwar der freien, der nicht gegängel­
ten Reflexion überlassen muß und nicht von der Philosophie
in einer ähnlichen Weise festen Stoff erwarten darf, wie das
sonst der Fall ist. Nun gilt das in besonderem Maß in der
gegenwärtigen philosophischen Situation, in der ja der Be­
griff des sogenannten Systems tief problematisch geworden
ist. Ich kann Ihnen die Problematik des Systems hier nicht
entwickeln, einfach deshalb, weil wir sonst in dieser Vorle­
sung zu nichts anderem mehr kämen, aber ich nehme an, daß
Sie alle dieser Problematik irgendwie auch gewahr geworden
sind, die ja im übrigen schon bei Nietzsche sehr drastisch sich
ausgesprochen findet in der Formel von der >Unredlichkeit
des Systems< oder der >Unredlichkeit zum System<35. Aber
jedenfalls in einer solchen Lage, und gar, wenn die eigenen
Gedanken in besonderem Maß dem Begriff des Systems kri­
tisch gegenüberstehen, wäre es unangemessen, wenn man
von außen her an die Gedanken eine Form herantragen
würde, die in Wirklichkeit nichts anderes wäre, als daß sie ein
nicht existentes, nicht vorhandenes System nachäfft. Son-

40
dern ich jedenfalls halte es für die Aufgabe auch der philo­
sophischen Darstellung, daß sie auch als Darstellung, also
auch im Wie, im Modus der Präsentation - so gut es eben
gehen will - das auszudrücken versucht, was inhaltlich in ihr
gesagt werden soll. Es gehört auch das zur Philosophie
hinzu, daß in ihr Form und Inhalt nicht voneinander sich
trennen lassen, wie das angeblich in Einzelwissenschaften der
Fall ist, obwohl ich sagen würde, daß zum Beispiel ein Ger­
manist, der in seinen Texten >in etwa< schreibt, dadurch
ebenso sich disqualifiziert wie irgendein sogenannter Philo­
soph, der sprachliches Gewäsch von sich gibt und der sich
mit Phrasen und Allgemeinheiten begnügt. Ich sagte Ihnen,
ich verschmähe es, eine Form von >erstens<, >zweitens< und
>drittens< der Darstellung zu geben, die einen systematischen
Charakter heucheln würde, der der Sache selber nicht zu­
kommt, sondern ich versuche statt dessen über Stock und
Stein, mit Ihnen selber die Reflexionen, die Bewegungen zu
vollziehen, von denen ich nun einmal meine, daß sie eigent­
lich die Bewegung des philosophischen Geistes seien.
Es kommt schließlich noch etwas anderes hinzu, was sich
bezieht auf die Form der philosophischen Vorlesungen, der
Vorlesungen überhaupt. Ich bin es gewohnt, Formen streng
zu nehmen und so auch die Form der Vorlesung, und ich
würde sagen: die Vorlesung, die ja entstanden ist in einer
Zeit, als längst die Druckerei erfunden war, ist in gewisser
Weise - Horkheimer hat das einmal sehr hübsch ausgeführt ­
>eine archaische Form<36, das heißt, sie ist in gewissem Sinn
durch das, was man lesen kann, überholt. Wenn man aber
überhaupt an dieser Form noch festhält, wenn man also
wirklich Vorlesungen hält, so hat das nur dann einen Sinn,
wenn man in den Vorlesungen Dinge sagt, auf eine Weise,
die man in einer analogen Weise in der gedruckten Darstel­
lung, vor allem auch in den sogenannten autoritativen Tex­
ten der Philosophie, nicht vorfinden kann. Also, wiederzu­
käuen, was in einem Buch einfach steht, verschmähe ich, und
es widerstrebt mir. Es wäre im übrigen auch deshalb sehr

41
töricht, weil ja, wenn es sich lediglich um die Kenntnis von
Theoremen handelt, von überlieferten, philosophiehisto­
risch überlieferten Lehrmeinungen, dann können Sie sich im
allgemeinen gerade diese Dinge viel besser aneignen, wenn
Sie sie lesen; wobei Sie dann die Möglichkeit haben, irgend­
welche schwierigen Stellen - und Philosophie pflegt nun ein­
mal nicht so einfach zu sein - sich nach Belieben vorzuneh­
men und sich darein verbeißen zu können, als wenn ich sie
Ihnen hier notwendig denn doch gedrängt vortrüge und sie
dann an Ihnen vorüberrauschten. Das ist auch einer der
Gründe, warum ich diese Form wähle, die manche von Ihnen
befremdet; aber wie es beim Befremdenden von Formen oft
ist, es rühren die Schwierigkeiten ja dann sehr häufig einfach
daher, daß man an das Phänomen, dem man konfrontiert
wird, mit falschen Erwartungen herangeht; daß Sie also mit
der Erwartung herangehen, etwa doch ein System der Ethik
oder ein System der Philosophie oder irgend etwas Ähnliches
von mir vorgetragen zu finden - und daß Sie dann an dieser
Ihrer Erwartung das, was vorgeht, messen und sich dann
enttäuscht finden. Dieses Befremden ist ganz ähnlich wie das
an der modernen Musik, die von vielen Menschen einfach
deshalb nicht verstanden wird, weil sie von ihr etwa Sym­
metrien erwarten wie in >Hänschen klein ging allein<, und
wenn dann diese Symmetrien nicht vorkommen, dann ant­
worten sie: >Ja, das ist dann eben keine Musik. <37 Ich glaube
deshalb, wenn ich Ihnen einen Rat �u unserer Verständigung
geben darf, an der mir natürlich genausoviel gelegen sein
muß wie Ihnen, dann würde es der sein, daß Sie also von
vornherein nicht mit solchen Erwartungen an diese Vorle­
sungen herangehen, mit irgendwelchen festen Erwartungen,
wie Sie sie auch aus dem anderen philosophischen Lehrbe­
trieb etwa hegen mögen, sondern daß Sie versuchen, sich
einfach der Sache selbst und dem, was ich, so gut oder
schlecht wie ich nun einmal kann, Ihnen vortrage, rein zu
überlassen und dabei mitzukommen und spontan mitzuden­
ken, anstatt nun darauf zu lauern: >Ja, was kann ich dabei nun

42
festhalten?< Daß im übrigen, wenn Sie das tun, dabei auch an
Stoff genügend ftir Sie abfallen wird, ich glaube, das kann ich
Ihnen doch versprechen, denn ich bin weit davon entfernt,
den Stoffhunger zu unterschätzen oder gering zu bewerten.
Es ist vielmehr so, daß immer auch in allen geistigen Dingen
die bloß stofflichen Momente - also das, was nicht bereits
reflektiert ist - so einen gewissen Vitamingehalt, möchte ich
fast sagen, haben, an dem dann der Gedanke erst recht sich
entzündet; und das Bedürfnis, das danach geht, hat insofern
sicher auch noch seine erhebliche Berechtigung. Aber der
Kompromiß, den ich suche, ist einer, den im übrigen - >>si
parva licet componere magnis«38 - Kant selber gewählt hat,
der nämlich in seinen Vorlesungen nie seine Philosophie
unmittelbar vorgetragen hat, sondern eigentlich im wesent­
lichen im Zusammenhang mit den überlieferten Lehrmei­
nungen eben jener Leibniz-Wolffischen Philosophie, deren
Kritik ja eigentlich ausgedrückt wird durch den Titel >>Kritik
der reinen Vernunft «. Ich benutze Kant in einer ähnlichen
Weise als Vehikel, um auf der einen Seite an seinen Proble­
men und den Fragestellungen von ihm Sie in die moralphilo­
sophischen Fragestellungen einzuleiten, andererseits aber
auch durch kritische und andere Reflexionen, die sich an die
Kantischen Texte anschließen, Sie darüber hinauszubringen.
Jedenfalls ist das die Absicht, die ich für den ersten Teil der
Vorlesung habe, während ich dann - ich glaube, ich habe
Ihnen das schon angezeigt - im zweiten Teil der Vorlesung
versuchen möchte, wenigstens einige besonders brennende
und aktuelle Probleme der Moralphilosophie in der Gegen­
wart mit Ihnen zu behandeln.
Wenn wir uns der Kantischen Moralphilosophie zuwen­
den, stößt man da zunächst auf etwas recht Erstaunliches,
nämlich daß ihr Ansatz sich findet in der theoretischen Philo­
sophie, in der >>Kritik der reinen Vernunft «. Es hängt das zu­
sammen mit dem Kantischen Zug - lassen Sie mich sagen ­
zum theoretischen System, also mit dem Zug, aus gewissen
Grunderkenntnissen, die als solche festgehalten und unum-

43
stößlich sein sollen, eben aus den Grundeinsichten der von
ihm sogenannten Tran�zendentalphilosophie mehr oder min­
der doch alles andere, was jedenfalls unter dem Namen von
Philosophie laufen soll, abzuleiten. Dadurch wird auch die
Moralphilosophie in gewissem Sinn bei ihm in Erkenntnis
fundiert; und wenn Sie so wollen, steht dadurch der Karrti­
sche Ansatz in einem gewissen Gegensatz zu dem, was ich
Ihnen wenigstens angedeutet habe in unseren vorgreifenden
Betrachtungen, als ich Ihnen nämlich sagte, daß die Sphäre
der Praxis, also die von der Moralphilosophie gedeckte
Sphäre des Handelns, ihre spezifische Differenz eben gerade
darin hat, daß sie in der theoretischen Reflexion nicht rein
aufgeht. Nun, dieses zweite Moment äußert sich wenigstens
indirekt bei Karrt auch, und zwar in der These - in der, bei
einem Denker, der den Primat der Vernunft so streng festhält
wie er, erstaunlichen, etwas paradoxen Weise, daß er eigent­
lich der Moralphilosophie gegenüber der theoretischen Phi­
losophie den Primat zuerteilt -: daß die sogenannten obersten
Fragen der Metaphysik als einer theoretischen Disziplin, also
die Fragen, die sich nach herkömmlicher Liste beziehen auf
Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, eigentlich relevant seien
überhaupt nur als Fragen der Praxis, während die theoreti­
sche Vernunft an ihnen, ja, ein bißchen desinteressiert sei.39
Das Einheitsmoment, um Ihnen das gleich zu sagen, denn ich
glaube, das ist ein Schlüssel ftir das Verständnis der Karrti­
schen Moralphilosophie insgesamt, zwischen der theoreti­
schen und der praktischen Philosophie bei Karrt besteht nun
aber in dem Begriff der Vernunft selber. Und ich glaube, Sie
tun gut daran, wenn Sie das vorweg sich klar machen, um
Einsicht in die Konzeption von Theorie und Praxis zu gewin­
nen, wie sie bei Kant nun einmal vorliegt. Die Vernunft als
das Vermögen des richtigen, korrekten Denkens, also das
Vermögen richtig Begriffe zu bilden, das Vermögen richtig
zu urteilen und das Vermögen exakt zu folgern, wie es in der
traditionellen Logik heißt, ist also bei ihm konstituierend
gleichzeitig für die Theorie und ftir die Praxis. Daß es das für

44
die Theorie ist, ist klar, denn diese Vernunft selber ist ja
eigentlich die Instanz, die über die Theorie entscheidet, und
der Kant, ohne übrigens darin im einzelnen sich so arg viele
Gedanken schon zu machen, sogar die Fähigkeit zutraut, sich
selbst und ihren eigenen Geltungsbereich zu bedenken und,
wenn Sie so wollen, ihn auch einzuschränken. Auf der ande­
ren Seite aber ist diese Vernunft, die immer dieselbe ist, die
Vernunft in allen Teilen der Kantischen Philosophie, wie
verschieden diese Teile auch sind. Die Vernunft, die darin
vorkommt, das Organon der Vernunft, das dann zuweilen
Urteilskraft, zuweilen Verstand heißt, das - also einfach das
Organon des richtigen Denkens - ist bei Kant überall das­
selbe. Und es hat nun im Bereich der praktischen Vernunft,
mit dem wir es hier zu tun haben, deshalb seine eigentümli­
che Vormachtstellung, weil die praktischen Handlungen, so­
weit sie Gegenstand der moralischen Reflexion sein sollen,
eben diejenigen sind, die lediglich der Vernunft entspringen,
die also auf Grund der reinen Gesetzmäßigkeit der Vernunft
sich konstituieren - unabhängig von irgendwelchen An­
schauungen, von irgendwelchem empirischen Material, von
irgend etwas, was dieser Vernunft von außen zukommt.40
Das moralische Verhalten ist in diesem Sinne eines, das im
buchstäblichen Sinne rein ist. Der Ausdruck >rein< hat hier bei
Kant einen sehr tiefen Doppelsinn, nämlich daß das rein ver­
nunftgemäß ist und daß es von irgendwelchem sinnlichen
Material unentstellt sein soll, das aber deshalb, weil es eben
eigentlich gar nichts anderes ist als das Handeln rein nach Ge­
setzen der Vernunft, auch notwendig jenen Charakter des
Formalen und Abstrakten hat, den man - wie Sie ja wohl alle
wissen - gerade der Kantischen Ethik immer wieder vorge­
worfen hat. Das macht Ihnen vielleicht verständlich, warum
bei Kant, bei dem der Primat der Vernunft in einer so mächti­
gen Weise herrscht wie nur je bei einem aufklärerischen Den­
ker, trotzdem der Primat der praktischen Philosophie
herrscht: nämlich als derjenigen Philosophie, die rein ver­
nunftgemäß ist, ohne daß sie in ihren gesetzmäßigen Bestim-

4- 5
mungen jedenfalls Rücksicht nehmen müßte auf irgendein
dem erkennenden und handelnden Subjekt von außen zu­
kommendes Material. Moralisch ist das Material und mora­
lisch ist dadurch auch die Folge meiner Handlungen gegen­
über dieser reinen Adäquatheit an die Gesetze der Vernunft
bei Kant etwas Gleichgültiges. Wenn ich Ihnen sage, daß auf
der einen Seite bei Kant die Moral fundiert wird in der Er­
kenntnistheorie und zwar in einem sehr exakten Sinn in der
Erkenntnistheorie - Sie werden gleich hören, in welchem
Sinn -, daß aber auf der anderen Seite sie den Primat auch
über das Erkenntnisinteresse der Vernunft hat, dann schlägt
sich darin der ganze Doppelcharakter von Kant nieder, von
dem ich Ihnen wohl auch schon wenigstens einiges gesagt
habe. Man könnte vielleicht zur Charakteristik der Kanti­
schen Philosophie insgesamt sagen, daß sie die Paßhöhe bil­
det zwischen dem Motiv des erkenntnistheoretisch Aufkläre­
rischen und dem Versuch einer metaphysischen Rettung,
einer Restitution des metaphysischen Sinnes, der für ihn sich
eben wesentlich konzentriert in den obersten Allgemeinhei­
ten nicht nur der Erkenntnis, sondern der Ideen und eben
damit im wesentlichen der Gesetze der MoraL Das also er­
klärt Ihnen vielleicht dieses eigentümliche Schwanken in der
Stellung von Theorie und Praxis. Man könnte sicherlich ver­
suchen, das irgendwie wegzuerklären und zu sagen, daß die
Theorie es zwar fundiere, aber daß dann die Moral trotzdem
als das Höhere und Menschliche über der Erkenntnis stünde
oder etwas Ähnliches. Aber ich halte es im allgemeinen - um
auch darin ein wenig Farbe zu bekennen - für fruchtbarer,
wenn man in sehr komplexen Denkgebilden, wie das Kanti­
sche System nun einmal eines ist, die Brüche ausspricht, sie
bezeichnet und gerade versucht, das Verständnis an die Not­
wendigkeit und die Bedeutung dieser Brüche anzuschließen,
als wenn man versucht, auf eine mehr oder minder elegante
Weise, im Interesse eines nur möglichst einstimmigen Ober­
flächenzusammenhangs, diese Brüche und diese Antagonis­
men wegzuerklären - und auch darin, glaube ich, befinde ich
mich auf ganz gutem Karrtischen Boden, denn gerade die Be­
gründung der Moralphilosophie bei Kant geht ja vom Be­
wußtsein notwendiger und unvermeidlicher Widersprüche
ihrerseits aus, nämlich den sogenannten Antinomien.
Nun, das Problem der Moralphilosophie bei Karrt ganz all­
gemein, und das ist wohl auch das erste, was Sie dazu festhal­
ten müssen, ist das der Freiheit, das der Freiheit des Willens,
und das heißt zunächst einmal - damit Sie hier gerade bei
Kant und bei diesem Begriff der Freiheit zunächst gar nicht
mit übertriebenen Vorstellungen an die Sache herangehen -
gar nichts anderes als ein Verhalten, das seinerseits nicht in
die Naturkausalität fällt. Daß dieses Problem der Freiheit die
eigentliche Grundfrage der Moralphilosophie ist, das leuch­
tet wohl ohne weiteres ein; weniger ohne weiteres - oder nur
mit sehr viel weiterem - leuchtet dann allerdings ein, wie
man sich die Bestimmung dieser Freiheit, die Bestimmung
von Kausalität und ihr Verhältnis zueinander vorzustellen
habe. Aber das wollen wir dann erst behandeln, wenn wir
zunächst über diese einfachsten Kategorien, die hier im Spiel
sind, uns einmal andeutend verständigt haben. Ich sage, es
leuchtet ein: daß das Problem der Moral bei Kant die Freiheit
- . -
ist. Sehr einf;�h; ;;·--l�Üchtet deshalb ei�: ·d;�i�h-..:. u�d ich
-b-�
;;-uche den Ausdruck >ich< hier mit einer gewissen kava­
liershaften Largesse, deren Karrt sich im gleichen Zusam­
menhang auch befleißigt, der bei dem, was mit diesem >ich<
gemeint sei, zunächst sich gar nicht so furchtbar aufhält, son­
dern sich dabei an den vorphilosophischen Sprachgebrauch
einfach hält - nur dann, wenn ich frei handeln kann - und
wenn ich nicht so blind der Kausalität unterliege wie dieses
Buch, das, wenn ich es jetzt loslasse, dann auf den Tisch fällt
und womöglich, weil es schon so alt ist, aus dem Leim geht-,
von so etwas wie moralischem Handeln, von gutem, von
gerechtem, von richtigem oder von sittlichem Handeln, wie
immer diese Einzelbestimmungen nun lauten mögen, über­
haupt reden kann. Denn wenn ich selber lediglich im Sinn der
Kausalität mich verhalte, dann bin ich als der, der über die

47
Handlung zu entscheiden hat, ja dabei eigentlich gar nicht im
Spiel; und daß alle Vorstellungen der Sittlichkeit oder der
Moral sich beziehen auf ein Ich, welches da handelt, das ist
wohl ohne weiteres verständlich. Ich meine, ich erinnere Sie
hier nur an etwas, was sogar in der Strafrechtspraxis sich
durchgesetzt hat, daß, wenn zum Beispiel ein Mensch gei­
steskrank ist und in seiner Geisteskrankheit irgendwelches
Unheil anrichtet, aber einfach deshalb, weil er dabei blinden
Mechanismen unterliegt, die von seiner Vernunft unabhän­
gig sind und an die eine Idee von Freiheit überhaupt nicht
mehr herangebracht werden kann, daß man dann sagt, dieser
Mensch sei wegen seiner Handlungen nicht zur Verantwor­
tung zu ziehen, er sei nicht verantwortlich; er ist dann gewis­
sermaßen diesseits der gesamten Problematik von Gut und
Böse. Dieses Problem der Freiheit nun ist bei Kant zugespitzt
in der Lehre von den Antinomien, und zwar, um das aus­
drücklich Ihnen zu sagen, in der dritten Antinomie. Ich füge
hinzu, daß es eigentlich in der vierten Antinomie ebenfalls
vorkommt, aber daß die vierte Antinomie, wenn man sie ge­
nau betrachtet, mit der dritten Antinomie zusammenfällt,
gar nicht wesentlich von ihr verschieden ist, so daß es sich
empfiehlt, in der Betrachtung der Antinomie von Freiheit
und Kausalität sich auf die Behandlung der dritten Antino­
mie zu beschränken.
Nach dem, was ich Ihnen über den Doppelcharakter der
Kantischen Philosophie gesagt habe, können Sie vielleicht
auch schon diese Antinomienlehre von Kant, auf die wir nun
doch kurz eingehen müssen, in einem etwas weiteren Zu­
sammenhang, nicht ganz so eng verstehen, als sie Ihnen le­
diglich an Ort und Stelle erscheinen würde. Diese Antino­
mienlehre besteht nämlich im wesentlichen darin, daß der
Konflikt dargestellt wird zwischen jener aufklärerisch ver­
nunftkritischen Intention, von der ich Ihnen gesprochen
habe, und, auf der anderen Seite, von der errettend metaphy­
sischen Intention. Weil beide Intentionen Kant zufolge - er
spricht nicht von diesen Intentionen, aber die prägen in seiner
Philosophie sich aus -jedenfalls in der Vernunft gleich mäch­
tig sind, weil sie gleichermaßen in der Vernunft sich geltend
machen, deshalb fuhrt die Ambivalenz zwischen diesen bei­
den Intentionen zu unauflöslichen Widersprüchen. Sie finden
ein ganz schönes Resümee dieser Antinomienlehre insge­
samt, eine recht elegante und einfache Formulierung der An­
tinomienlehre in dem Kaut-Kommentar meines alten Leh­
rers Cornelius, und ich darf Ihnen vielleicht gerade die paar
einschlägigen Sätze vorlesen, die Ihnen sehr luzid zeigen,
worum es eigentlich geht. Es handelt sich hier um den Text
innerhalb der »Kritik der reinen Vernunft «, der heißt: »Der
transzendentalen Dialektik I Zweites Buch I Zweites Haupt­
stück I Die Antinomie der reinen Vernunft «. Ich zitiere also
diese Sätze von Cornelius: » Wo immer ein Bestandstück der
erfahrbaren Welt sich als bedingt durch eine unsererseits
nicht bis zum Ende zu durchlaufende Reihe von Bedingun­
gen erweist, verwickelt sich unser Denken in einen unlösba­
ren Widerspruch, sobald diese Reihe der Bedingungen als
eine an und für sich bestehende« - und, wir müssen ergänzen: ·

nicht als eine von unserem eigenen Bewußtsein je erst produ­


zierte - »vorausgesetzt wird. Da dies« - also daß wir die
Reihe der unendlichen Ursachen in unserem Problem als eine
an und für sich bestehende voraussetzen - »bei Vorausset­
zung der gewöhnlichen Weltansicht« - was bei Kant >tran­
szendentaler Realismus< heißt - »unweigerlich eintritt,
vermag diese Weltansicht keinen Ausweg aus den Wider­
sprüchen zu finden, in welche sie sich verwickelt. «41 Nun,
Sie können sich das ganz einfach daran demonstrieren, daß,
wenn Sie vorphilosophisch denken, also wenn Sie vorkri­
tisch denken, wenn Sie also die Kausalität nicht ihrerseits als
eine Funktion unserer Vernunft, sondern die Ursache als eine
einfach in den Dingen an sich objektiv liegende Tendenz an­
nehmen, daß Sie dann immer wieder von einer Ursache zu
einer Ursache des Zustandes gelangen, der hier als Ursache
angesehen wird und so weiter bis ins Unendliche; und dieser
unendliche Regreß fUhrt dann eben zu den Widersprüchen,

49
von denen Kant in der Antinomienlehre handelt. Die ge­
samte Lehre von diesen Widersprüchen in der » Kritik der rei­
nen Vernunft « nennt Kant die >transzendentale Antithetik<,
als die Lehre der Antithesen, in welche die Vernunft in ihrem
naiv realistischen Gebrauch, also in der positiven Setzung ei­
nes Unendlichen, das selbst nur vom Bewußtsein hervorge­
bracht ist, sich verwickeln soll. Ich lese Ihnen auch das gerade
zur Orientierung: » Die Antithetik beschäftigt sich« - das
steht im zweiten Abschnitt der >Antinomie der reinen Ver­
nunft< - » also gar nicht mit einseitigen Behauptungen, son­
dern betrachtet allgemeine Erkenntnisse der Vernunft nur
nach dem Widerstreite derselben unter einander und den Ur­
sachen desselben. Die transzendentale Antithetik« - und mit
der haben wir es zu tun - »ist eine Untersuchung über die
Antinomie« - also über den notwendigen Widerspruch -
» der reinen Vernunft, die Ursachen und das Resultat dersel­
ben. Wenn wir unsere Vernunft nicht bloß, zum Gebrauch
der Verstandesgrundsätze, auf Gegenstände der Erfahrung
verwenden, sondern jene« - die Verstandesgrundsätze -
» Über die Grenze der letzteren« - also der Gegenstände der
Erfahrung - » hinaus auszudehnen wagen, so entspringen« ­
wie er es nennt - II Vernünftelnde Lehrsätze, die in der Erfah­
rung weder Bestätigung hoffen, noch Widerlegung fürchten
dürfen, und deren jeder nicht allein an sich selbst ohne Wider­
spruch ist, sondern so gar in der Natur der Vernunft Bedin­
gungen seiner Notwendigkeit antrifft, nur daß unglücklicher
Weise der Gegensatz eben so gültige und notwendige Gründe
der Behauptung auf seiner Seite hat.«42
Meine Damen und Herren, ich möchte dabei dieses Motiv
der Notwendigkeit der Widersprüche, in welche die Ver­
nunft sich entwickelt, unterstreichen. Kant selber ist an die­
sem Punkt gar nicht so eindeutig gewesen. Es gibt bei ihm
auch in der » Kritik der reinen Vernunft« sehr starke Motive,
die mit dem Gedanken der Notwendigkeit der Widersprü­
che, in welche sich die Vernunft verwickle, eigentlich nicht
recht zu vereinigen sind. Denn wenn es wirklich in einem

50
ganz strengen Sinn eine Notwendigkeit ist, dann wäre ja eine
solche Auflösung der Antinomien, wie Kant sie versucht,
und deren Grundgedanken ich Ihnen ja angedeutet habe,
überhaupt gar nicht möglich. Es folgt aus dieser zweiten An­
sicht, also daraus, daß die Widersprüche eigentlich ein Weg­
zuräumendes wären, daß bei Kant der Name Dialektik - also
die Lehre von den notwendigen Widersprüchen oder die
Lehre von den Widersprüchen von Grundsätzen überhaupt ­
ein negatives Wort, ein Schimpfwort ist. Dialektik bei Kant
ist immer und notwendig etwas Falsches. Er nennt deshalb
auch die Dialektik an einer anderen Stelle » die Logik des
Scheins«43 und macht sich anheischig, die Antinomien weg­
zuräumen. Natürlich gewinnt diese ganze Betrachtung ihre
Tiefe tatsächlich nur durch die Notwendigkeit des Wider­
spruchs, in den man hier gerät. Das heißt, nur wenn man
diesen Widerspruch selbst versteht als eine Notwendigkeit,
dann versteht man auch das eigentliche Problem der Moral­
philosophie, das Grundproblem der Moralphilosophie, näm­
lich das der Freiheit oder Unfreiheit, als ein wirkliches Pro­
blem, das heißt: als etwas, was in der Sache selber entspringt,
und nicht als einen losen Trug, den man so wegnehmen
kann. Nebenbei bemerkt, ist dieses Motiv von der Notwen­
digkeit der Widersprüche, das bei Kant zwar auf der einen
Seite aus der Vernunft und ihrer Natur abgeleitet, dann aber
in der Behandlung dieser Widersprüche nicht streng durch­
gehalten ist, eines der Motive, und ich würde sagen, weiß
Gott, nicht das geringfügigste Motiv, an dem der Begriff
einer philosophischen Dialektik überhaupt seinen Ansatz­
punkt hat. Das heißt, nur wenn die Vernunft in Widersprü­
che notwendig gerät und wenn sie fortschreitet im Prozeß
der Auflösung dieser Widersprüche, anstatt daß diese Wi­
dersprüche ein für allemal und so wie bloße Denkfehler sich
wegräumen ließen, nur dann wird ja der Gedanke einer Dia­
lektik als des Mediums des Denkens und der objektiven
Wahrheit selber überhaupt zureichend motiviert, und des­
halb möchte ich gerade auf dieses Moment so einen großen

51
Wert legen. Es wäre im übrigen eine sehr fesselnde Aufgabe ­
und eine Aufgabe, die meines Wissens noch gar nicht richtig
in Angriff genommen worden ist -, diese eigentümliche
Zweisträhnigkeit der Kantischen Dialektik als eines auf der
einen Seite Notwendigen und auf der anderen Seite eines
bloß Fehlerhaften zu entfalten und zu einer Theorie der philo­
sophischen Dialektik in Beziehung zu setzen. 44 Ich nenne Ih­
nen hier nur dieses Problem, mit dem wir uns, zumindest auf
dieser Stufe dieser Vorlesung, natürlich noch nicht abgeben
können.
Die Methode, die Kant nun in dieser Dialektik, in dieser
Antithetik benutzt, die nennt er selber » die skeptische Me­
thode« - und zwar diese skeptische Methode im äußersten
Gegensatz zu dem Skeptizismus -; und Kant begründet das
damit, daß die skeptische Methode, also der Zweifel an blo­
ßen dogmatischen Setzungen und am bloß dogmatischen,
unreflektierten Gebrauch der Begriffe, auf Gewißheit geht.
Der zuständige, sehr interessante Satz heißt: » Die skeptische
Methode geht auf Gewißheit, dadurch, daß sie, in einem sol­
chen, auf beiden Seiten redlichgemeinten und mit Verstande
geführten Streite, den Punkt des Mißverständnisses zu ent­
decken sucht, um, wie weise Gesetzgeber tun, aus der Verle­
genheit der Richter bei Rechtshändeln ftir sich selbst Beleh­
rung, von dem Mangelhaften und nicht genau Bestimmten
in ihren Gesetzen, zu ziehen.«45 Sie können also auch hier an
diesem Ansatz der Moralphilosophie erkennen, daß die
Blickrichtung der ganzen Kantischen Philosophie objektiv
ist, und daß die Vorstellung von der Transzendentalphiloso­
phie als Subjektivismus insofern zu kurz greift, als gerade im
Gegenteil die Kantische Philosophie den Versuch darstellt,
durch die reductio ad subjectum, durch die Reduktion auf das
Subjekt, die objektive Gültigkeit der höchsten und obersten
Gesetze und Aussagen zu retten. Das stimmt nun ganz genau
und aufs schärfste vor allem auch mit der Intention der Kanti­
schen Moralphilosophie überein, die ja darauf hinausläuft,
durch Reduktion auf das reine subjektive Prinzip der Ver-

52
nunft selber gleichzeitig die absolute und unangreifbare Ob­
jektivität des moralischen Gesetzes zu erretten, so daß man in
diesem Sinn sagen kann, daß der oberste Grundsatz der Mo­
ral, nämlich der kategorische Imperativ, eigentlich über­
haupt gar nichts anderes sei als die subjektive Vernunft selber
als ein schlechterdings und als ein objektiv Gültiges. Der
äußerste Gegensatz dazu ist die skeptische Betrachtung, die
ein solches objektiv Gültiges bestreitet, und Sie mögen be­
reits aus dieser Differenz der skeptischen Methode - zu der
Kant an dieser Stelle sich bekennt - zu der Skepsis als philo­
sophischer Skepsis auch etwas von seiner moralischen Posi­
tion wahrnehmen, die nämlich nun nicht wie die Sophistik
und die Skepsis darauf hinausgeht, durch Beziehung auf das
Subjekt und den Menschen die allgemeine Notwendigkeit
und die Verbindlichkeit moralischer Gesetze zu bestreiten,
sondern, gerade im Gegensatz dazu, sie wiederherzustellen.
Es ist also demzufolge die Aufgabe, den Grund des Mißver­
ständnisses in einem falschen Gebrauch der Vernunft zu ent­
decken. Und wenn man diesen Grund nun also gefunden hat,
dann soll dadurch - und das erinnert nun wirklich sehr an das
Verfahren einer dialektischen Philosophie -, indem man die
Negativität von These und Antithese bestimmt hat, indem
man also das ihnen gemeinsame, Kantisch gesprochen, Miß­
verständnis aufgedeckt hat, durch diese Wegräumung des
Mißverständnisses, soll dann einfach positiv gewandt, die
höhere Wahrheit, in diesem Fall al�o der Grund eben jenes
Widerspruchs in der Vernunft selber, offenbar werden und
dadurch auch die Möglichkeit, ihn durch die Vernunft weg­
zuräumen. Sie mögen daran bereits sehen, daß Kant von der
Dialektik, obwohl er, wie ich Ihnen sagte, in der » Kritik der
reinen Vernunft« so wenig freundlich von ihr spricht, in
Wirklichkeit, eben vermöge dessen, was hier >skeptische Me­
thode< heißt, einen viel positiveren Gebrauch macht, als nach
dieser Ansicht von der Dialektik bei ihm eigentlich voraus­
zusetzen ist. Dieses vorausgesetzt, werden wir das nächste
Mal unmittelbar übergehen zu der dritten Antinomie. - Ich
danke Ihnen.
53
4. VoRLESUNG
I 6. 5 · I 963

Meine Damen und Herren,


ich möchte heute zur Behandlung der dritten Kantischen
Antinomie übergehen. Da es sich immerhin um einen nicht
ganz einfachen Text dabei handelt, den ich Ihnen in einem so
verhältnismäßig frühen Stadium der Vorlesung als eine Art
von Grundlegung interpretiere, so muß ich Sie dabei um
einige Konzentration bitten, nämlich um die Konzentration,
die der Kantische Text nun einmal von uns verlangt. Lassen
Sie mich zunächst etwas über die Methode sagen, die Kant in
der Antinomienlehre insgesamt verfolgt. Diese Methode ist,
wie die alte rhetorische Figur lautet, die argumentatio e con­
trario. Das heißt, es wird so verfahren, daß sowohl die These
wie die Antithese, die einander widersprechen und die beide
gleich evident oder nicht evident sein sollen, bewiesen wer­
den durch den Nachweis der Ungereimtheiten, auf welche
die Antithese zu ihnen führe. Also beide werden negativ, von
ihrem Gegenteil her, von dem ihnen kontradiktorisch entge­
gengesetzten Satz her bewiesen.46 Das Verfahren, das Ihnen
vielleicht zunächst im wörtlichen Sinne etwas überzwerch
vorkommt bei Kant, dieses Verfahren ist selber - wie ge­
wöhnlich in anständiger Philosophie sogenannte formale
Veranstaltungen - inhaltlich motiviert, nämlich dadurch,
daß, nach der an einer Stelle der Antithetik aufgeführten An­
sicht von Kant, der positive Beweis der beiden Thesen des­
halb nicht möglich ist, weil sie eben als Aussagen über ein
Unendliches oder als Aussagen über eine unendliche Reihe ­
nun nicht im mathematischen Sinn, sondern in dem Sinn der
vormathematischen Menschenvernunft - auf Unendliches
führen, über das positive Aussagen nicht gemacht werden
können. Wohl aber ist es Kant zufolge umgekehrt möglich,
an der Gegenthese in zeigen, daß sie zu Ungereimtheiten
ftihre, mit der Implikation, daß dadurch die auf diese Weise
indirekt herausspringende These auch als gesichert zu gelten

54
habe. 47 Ich merke nur gerade en passant an, daß dieser
Schluß: daß aus dem Beweis der Untriftigkeit der Gegen­
these zu dem je Entwickelten die Gültigkeit der in Rede ste­
henden These selbst folgt, logisch keineswegs so unmittelbar
hervorspringt. Aber darüber werden wir dann später noch zu
reden haben.
Ich muß Ihnen weiter sagen - und das werden wir nun sehr
eingehend behandeln müssen, zunächst einmal zur Vorver­
ständigung -, daß, wenn in der Antinomienlehre von Kant
die Rede ist von Kausalität, dabei der Begriff der Kausalität
zunächst einmal gar nichts anderes bedeutet - ich glaube, Sie
stellen sich das am einfachstenjedenfalls so vor - als die Kau- ,
salität, mit der in den Naturwissenschaften im allgemeinen
operiert wird. Wobei ich Sie daran erinnern darf oder Sie dar­
auf aufmerksam machen darf- eigentlich kann ich Sie nicht
daran erinnern, weil wir das hier nicht behandeln -, daß es zu
den Eigentümlichkeiten der »Kritik der reinen Vernunft« ge­
hört, daß die mathematischen Naturwissenschaften ihrer­
seits nicht etwa abgeleitet, sondern in einem gewissen Sinn
vorausgesetzt, nämlich als gültig vorausgesetzt werden und
dann den Bedingungen ihrer Gültigkeit nachgefragt wird, so
daß deshalb der naturwissenschaftliche Kausalitätsbegriffzu­
nächst der maßgebende ist. Das ist nun ftir den Kausalitätsbe-,
griff gar nicht so wesentlich wie zunächst einmal für den Frei­
heits begriff, der hier dem Kausalitätsbegriff entgegengestellt
wird und der, wenn ich mich so unakademisch ausdrücken
darf, in der Tat einen ganzen Rattenkönig von Problemen in
sich einschließt. Dieser Begriff der Freiheit - und ich bitte
Sie, das zunächst einmal festzuhalten, wir werden das dann
sehr modifizieren müssen, aber Sie müssen ja zunächst ein­
mal in einer relativ einfachen und handfesten Weise wissen,
wovon die Rede ist; die schwierigen Differenzierungen, zu
denen werden Sie rasch genug kommen-, dieser Freiheitsbe-,
griff ist hier zunächst lediglich negativ bestimmt, nämlich als'
die Unabhängigkeit in der Folge aufeinanderfolgender Zu­
stände, als die Unabhängigkeit von jener Regelhaftigkeit in

55
� der Folge, die Kant sonst beansprucht. Ein positiver Begriff
der Freiheit, also etwa Freiheit im Sinn der >ursprünglich ab- ·

• soluten Erzeugung< - wie man das dann später im deutschen


Idealismus genannt hat -, ist zunächst nicht im Spiel; obwohl
Sie finden werden, daß in einem bestimmten Begriff, der
sehr bald an dieser Stelle bei Kant auftaucht - durch den Be­
griff der Spontaneität -, der Übergang zu einem solchen po­
sitiven F;eiheitsbegriff schon recht früh erfolgt. Ein Begriff,
der übrigens, wenn ich Ihnen das sagen darf, an der hier in
Rede stehenden Stelle deshalb besondere Schwierigkeiten be­
reitet, weil er auf den vorher von Kant verwandten Begriff
der Spontaneität, als der Erzeugung von Vorstellungen aus
dem Subjekt, so ohne weiteres gar nicht anwendbar ist.48
Aber davon wollen wir zunächst einmal absehen. Ich möchte
Sie hier nur, ehe wir zu der Behandlung der Antinomie selber
übergehen, wenigstens auf eines aufmerksam machen, damit
Sie hier schon etwas von dem Horizont der Problematik se­
hen, denn ich habe Ihnen ja versprochen, Sie in Probleme der
Moralphilosophie einzuweihen, und das bedeutet nun nicht
bloß, daß ich Ihnen hier diesen fundamentalen Kantischen
Gedankengang vortrage und ihn, so gut ich kann, erläutere,
sondern das beweist eben doch - ich möchte Ihnen zeigen,
wie ich das so zu nennen pflege -, daß hinter diesen Argu­
mentationen, sie mögen nun einleuchten oder sie mögen
nicht einleuchten, aneinander sich abarbeitende, oft sehr
schwierige und oft miteinander inkompatible Motive stehen.
Ich halte es eigentlich für die Hauptaufgabe des philo­
sophischen Verständnisses - und eine jede solche Vorlesung
muß ja auf das philosophische Verständnis hinarbeiten -, daß
Sie unterhalb der scheinbar logisch plausiblen und in sich ein­
stimmigen Theoreme das Kräfteparallelogramm gewahren,
das dann eben zu der jeweils vorgetragenen Lehrmeinung
vergleichsweise in dem Verhältnis steht wie das Kräfteparal­
lelogramm der Physik zu seiner Resultante. Und deshalb
möchte ich Sie hier auf das eine aufmerksam machen, daß der
von Kant hier bereits in der Antinomienlehre eingeftihrte Be-
griff einer Kausalität aus Freiheit, die auf der einen Seite der
Antinomie steht, eigentlich dem Prinzip des Kritizismus,
dem allgemeinen Prinzip der Vernunftkritik widerspricht,
dem zufolge ja die Kausalität eine Kategorie, also nicht etwas 1
ist, was den Dingen an sich, was der Sphäre des Intelligiblen ·
zukommt; während nun diese Kausalität aus Freiheit ja doch
tatsächlich ein Kausalitätsbegriff wäre, der jenseits des Be­
reichs der Phänomene, der Phänomenalität gilt, auf welche
der Begriff der Kausalität überhaupt zugeschnitten ist. Und
das zu verstehen, mit anderen Worten, zu verstehen, wie es
zu der höchst merkwürdigen, ja, ich muß sthon sagen, Syn­
kopierung, also dem Ineinanderschlagen des Motivs der Ge­
setzmäßigkeit und der Freiheit, kommt, und was Kant
eigentlich dazu veranlaßt, das ist nicht nur der Angelpunkt
zum Verständnis der Kantischen Ethik, sondern gleichzeitig,
möchte ich sagen, auch der zum Verständnis des Gefüges der
Kantischen Philosophie insgesamt und wahrscheinlich sogar
der Punkt, von dem aus das, was man mit ethischer Proble­
matik zu bezeichnen pflegt, überhaupt erst sich enthüllt.
Denn dieses Ineinander von Freiheit und Notwendigkeit und
die Auflösung der darin liegenden Widersprüche, das ist ja
nun nicht bloß die erkenntnistheoretische, sondern auch die
höchst reale Frage, mit der es eine jede philosophische Be­
gründung der sogenannten Moral nun einmal zu tun hat.
Dieses vorausgeschickt, ist es wohl das einfachste, wenn
ich Ihnen zunächst einmal These und Antithese, wie sie bei
Kant einmal vorgetragen und dann bewiesen sind, verlese
und einfach an die einzelnen Sätze soviel Erläuterung an­
schließe, wie ich es für notwendig halte, damit Sie den Ge­
dankengang verstehen, und dabei zunächst die kritische
Problematik außer acht lasse und erst dann, wenn ich den
Eindruck habe, daß das Gemeinte hinlänglich klargestellt
ist, wollen wir in diese Problematik eindringen, dann wollen
wir die Reflexion Kants selbst reflektieren. Die Thesis dieses
sogenannten >Dritten Widerstreits der transzendentalen
Ideen< - und Freiheit und totale Determiniertheit sind deshalb

57
Ideen, weil ja ihre Behauptung über die Grenzen der Möglich:­
keit der Erfahrung ins Unendliche hinausgeht, und deshalb
gehören sie der Architektonik der Vernunftkritik zufolge
zu den Ideen, daher der )Widerstreit der transzendentalen
Ideen< - lautet: ))Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist
nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt
insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausa­
lität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen not­
wendig. « 49 Ich gestatte mir, Sie nur auf die kleine Pointe auf­
merksam zu machen, die Ihnen vielleicht beim sorgfältigen
Lesen dieser Thesis ebenfalls auffällt, daß nämlich hier so un­
ter der Hand zur Einführung gerade des Prinzips der Freiheit
der Ausdruck >notwendig< eingeführt wird, der doch seiner­
seits der Sphäre der Kausalität abgeborgt ist. Das weist dar­
aufhin, daß eben der Kausalitätsbegriff bei Kant so weit ist,
daß er verschiedenen Interpretationen Raum läßt und über
die naturwissenschaftliche Kausalität hinausgeht, von der ja
Kant ausdrücklich handelt. Es zeigt sich aber andererseits
eben doch, es ist ein Symptom für die Unausrottbarkeit des
Widerspruchs, um den es sich hier handelt, daß es ihm ein­
fach nicht möglich ist, das, was hier ausgedrückt werden soll,
oder das, was hier bewiesen werden soll, zu beweisen, indem
das zu Beweisende, nämlich das Prinzip der Notwendigkeit
selbst, in gewissem Sinn bereits vorausgesetzt wird. Diese
Struktur ist übrigens eine der Kantischen Philosophie recht
allgemeine, und, da ich Ihnen ja angeraten habe, die ))Kritik
der praktischen Vernunft« zu lesen, und froh bin, wenn sie
auch die ))Kritik der reinen Vernunft« lesen, so ist Ihnen das
vielleicht für das Verständnis dieser Texte eine gewisse Hilfe.
Sie werden nämlich gerade Kant - in schroffem Gegensatz zu
Denkern vom Typus Spinoza oder Fichte - nur dann gerecht,
wenn Sie bei ihm nicht glauben, daß man sozusagen alles ab­
leiten kann. Der Begriff des Gegebenen hat bei Kant eine
über die sinnliche Gegebenheit weit hinausgehende Bedeu­
tung - es wird allerhand bei ihm als gegeben vorausgesetzt
und dann nicht abgeleitet oder bewiesen noch expliziert - in-

58
sofern es sich um die Gültigkeit des betreffenden Begriffs für
unsere Erkenntnis handeln soll. Das ist zwar, wenn Sie wol­
len, gegenüber dem ungeheueren Raffinement der an Kant
anschließenden Idealisten, vor allem von Fichte und von He­
gel, ein bißchen ein primitives und ein krudes Verfahren,
aber es steckt darin doch etwas, was mit dem Wesen der Kau­
tischen Philosophie, mit ihrem innersten Anspruch sehr zu­
sammenhängt, nämlich eben dieses: daß bei Kant das Subjekt
noch nicht das Prinzip ist, welches sich anmaßt, die Totalität
überhaupt alles Seienden, auch alles Geistigen, aus sich her­
aus entwickeln zu können. Sondern der Inhalt der Kautischen
Philosophie, soweit sie einen negativen Inhalt hat, ist ja ge­
rade die Begrenzung des Absolutheitsanspruchs des Sub­
jekts, und diese Begrenzung drückt sich nun auch aus in einer
gewissen Begrenztheit des deduktiven Anspruchs dieser Phi­
losophie selber, obwohl sie gleichzeitig wieder als ein deduk­
tives System auftritt. Und nun ist das Eigentümliche an
Kant, das möchte ich dazu noch sagen, daß dieses merkwür­
dige Hinnehmen von Momenten, die ihrerseits nicht rein de­
duzibel, also nicht rein aus dem Begriff oder aus irgendwel­
chen obersten axiomatischen Setzungen abzuleiten sind, daß
sich diese merkwürdige Methode nun nicht bloß, wie man
zunächst denken könnte, aufdas sogenannte Material unserer
Erkenntnis beschränkt, sondern daß sich das ebenso auch er­
streckt auf die Formen des Bewußtseins selber, die trotz ihrer
Deduziertheit bei Kant in gewisser Weise als solche hinge­
nommen, respektiert werden müssen, so daß er also hier von
Notwendigkeit - und Notwendigkeit ist ja Kant zufolge ein
kategorialer Sachverhalt - gleichwohl so spricht, als ob es
sich um eine Art von Gegebenheit handelt. Ich kann Ihnen
jetzt im einzelnen nicht belegen, daß das so ist, das würde uns
zu weit führen. Ich mache Sie nur darauf aufmerksam, daß in
der sogenannten >Deduktion der reinen Verstandesbegriffe<
bei Kant sich eine Reihe von Formulierungen finden, die
diese Gegebenheit auch gerade dessen, was eigentlich nun
nicht gegeben, sondern was reine Funktion, also reine Tätig-

59
keit ursprünglicher Erzeugung sein sollte, ausdrücklich be­
stätigen.
Nun gehen wir über zu dem Beweis der These e contrario.
Also, man nehme das Gegenteil an, )) man nehme an, es gebe
keine andere Kausalität, als nach Gesetzen der Natur: so setzt
alles, was geschieht, einen vorigen Zustand voraus, auf den es
unausbleiblich nach einer Regel folgt. «50 - Meine Damen und
Herren, Sie haben hier in diesem Satz eigentlich die berühmte
Kantische Definition der Kausalität selber vor sich, die Sie
vielleicht doch als den nun eigentlich prägnanten Gegensatz
zu der Kantischen Lehre von der Freiheit festhalten mögen.
Kausalität ist nämlich in dem Sinn, in dem hier von ihr ge­
handelt wird, die Aufeinanderfolge von Zuständen nach Re­
geln. Dieser Kausalitätsbegriff ist also, Sie werden das be­
merkt haben, zunächst von einer ganz außerordentlichen
Weite, von einer so großen Weite, daß er den verschiedensten
Interpretationen Raum läßt, daß man sogar - ich überlasse
das den Naturwissenschaftlern unter Ihnen - sich Gedan­
ken darüber machen kann, ob nicht sogar die jüngste Kritik
der Kausalität in der Naturwissenschaft, nämlich in der
Quantenmechanik, in diesem allerallgemeinsten Begriff von
Kausalität noch ihren Raum hat; und ob der angebliche
Widerspruch, der hier zwischen Kant und der modernen Na­
turwissenschaft herrscht, nicht bereits auf einer zu materia­
len, zu inhaltlichen Auslegung der Kantischen Vorstellung
von Kausalität beruht. Aber dies nur für diejenigen, die sich
nun gerade über Kausalität besondere Gedanken machen.
))Nun muß aber« - fährt Kant fort - ))der vorige Zustand
selbst etwas sein, was geschehen ist (in der Zeit geworden, da
es vorher nicht war), weil, wenn es jederzeit gewesen wäre,
seine Folge auch nicht allererst entstanden, sondern immer
gewesen sein würde.«51 Das ist sehr scharfsinnig von Kant
argumentiert, man könnte fast sagen spitzfindig, aber es ist
doch von einer großen Stringenz. Der vorhergehende Zu­
stand, aus dem der jetzige kausal folgen muß - nach dem
Satz: daß immer, wenn ein Zustand von der Form A ist, dann

6o
ein Zustand von der Form B auf ihn folgen muß -, muß also
Kant zufolge seinerseits selbst ein gewordener, ein entsprun­
gener sein. Denn wenn er das nicht wäre, sondern von allem
Anfang an dagewesen wäre, dann müßte das jetzige Phäno­
men, das aus diesem Zustand erklärt wird, ja ebenfalls ein A
ursprüngliches und schlechthin seiendes sein, mit anderen"�'" ..:;
Worten, es würde der kausalen Ableitung aus diesem Zu­
stand gar nicht erst bedürfen, was offenbar nicht zu denken
sei, weil dadurch ja die Beobachtung des Phänomens als eines
hic et nunc, als eines jetzt und hier Gegebenen annulliert
würde. » Also« - fährt Kant fort - »ist die Kausalität der Ursa­
che, durch welche etwas geschieht, selbst etwas Geschehenes,
welches nach dem Gesetze der Natur wiederum einen vori-
gen Zustand und dessen Kausalität, dieser aber eben so einen
noch älteren voraussetzt u.s. w. «52 \Es handelt sich hier um die
Bezeichnung des Sachverhaltes-;-fier Ihnen allen unter dem
Namen der Kausalkette vertraut ist. » Wenn also alles nach
bloßen Gesetzen der Natur geschieht, so gibt es jederzeit nur
einen subalternen, niemals aber einen ersten Anfang, und
also überhaupt keine Vollständigkeit der Reihe auf der Seite
der von einander abstammenden Ursachen.«53 Der Aus­
druck >subaltern<, der so ein bißchen qualitativ wertend
klingt, der bedeutet hier nichts anderes, wenn man das Wort
erweitern darf, als sekundär oder abgeleitet. Es gibt also
dann, sagt Kant, überhaupt nichts anderes als sekundäre, als
abgeleitete Ursachen, die ihrerseits, ihrem eigenen Sinn
nach, notwendig auf eine erste und primäre Ursache zurück­
weisen. Und das begründet er dann so, und diese Begrün­
dung ist vielleicht nicht ganz zwingend: » Nun besteht aber
eben darin das Gesetz der Natur: daß ohne hinreichend
a pr�or1 he�timmte Ursache nichts geschehe. «54 Gemeint ist
damit offenbar - und das ist j a wohl der Nerv der Argumen­
tation -, daß diese subalterne Ursache, weil sie selber ihrer­
seits auch wieder der kausalen Erklärung bedürftig ist, weil
sie also unvollständig ist, eine hinreichend bestimmte Ursa-
che nicht sei, weil sie eine hinreichend bestimmte Ursache

6r
erst dann wäre, wenn sie ihrerseits, ohne daß immer weiter
zurückgefragt werden müßte auf eine weitere Ursache, so
reduziert werden könnte, daß die Frage nach ihrer Bedin­
gung verstummen würde. Und daran schließt er an: » Nun
besteht aber eben darin das Gesetz der Natur: « - und das
glaubt er in der Kategorienlehre abgeleitet zu haben55 - » daß
ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache« - das heißt 1

also, würde er hier sagen: ohne daß eine vollständige Be­


stimmtheit der Ursache vorliege - »nichts geschehe.«56 Es
würde sonst sozusagen die Naturerklärung in einem Va­
kuum enden oder die gesamte Naturerklärung im Sinn einer
Notwendigkeit, wie Kant sie ja noch unproblematisch für
gegeben gehalten hat, auf ein Moment der bloßen Zufällig­
keit zurückführen. »Also« - argumentiert er - »widerspricht
der Satz, als wenn alle Kausalität nur nach Naturgesetzen
möglich sei,« - das heißt: der Satz, daß » alle Kausalität nur
nach Naturgesetzen möglich sei « (das ist ganz einfach ge­
meint und nur ein bißeben verquer ausgedrückt) - » sich
selbst in seiner unbeschränkten Allgemeinheit, und diese
kann also nicht als die einzige angenommen werden. «57
Nämlich wenn ich diesen Satz so annehme, wie er hier aus­
gesprochen wird, bleibt dadurch die von diesem Satz selber
eingeführte Forderung der Vollständigkeit der kausalen Be­
stimmung notwendig unerfüllt, und er gerät dadurch in Wi­
derspruch mit sich selbst. Und nun kommt die Folgerung,
die er daran anschließt: » Diesemnach muß eine Kausalität an­
genommen werden, durch welche etwas geschieht, ohne daß
die Ursache davon noch weiter, durch eine andere vorherge­
hende Ursache, nach notwendigen Gesetzen bestimmt sei,
d.i. eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von
Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzu­
fangen, mithin transzendentale Freiheit, ohne welche« - und
geben Sie darauf acht, er begründet hier die transzendentale
Freiheit gerade aus der Naturkausalität, weil die nämlich
sonst selber ungereimt sei - » selbst im Laufe der Natur« -
und das faßt das Ganze noch einmal zusammen - » die Rei-
henfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen nie­
mals vollständig ist.«58 Sie finden hier zunächst schon einmal
die erstaunliche Erweiterung des Begriffs Kausalität auf die
Freiheit, daß auch Freiheit eine Kausalität, eine Kausalität sui
genens se1.
Sie können sich zunächst diesen sehr merkwürdigen und
überraschenden Sprachgebrauch aber vielleicht am ehesten
dadurch klarmachen, daß Sie an die doch etwas beschrän­
kende Formulierung denken, die Kant hier wählt, das heißt:
daß es Reihen von Erscheinungen gibt, die von selbst wieder,
quasi erneut anfangen, ohne daß sie der Erkenntnis dieser
unendlichen Bedingungen der Naturkausalität bedürfen. Ich
glaube, es ist gut, wenn ich Ihnen dazu sage, woran Kant
allein hier gedacht hat, denn es gehört zu den Prinzipien des
philosophischen Verständnisses, daß man auch solche
scheinbar so sehr formalen Ableitungen wie die, die ich Ihnen
eben vorgetragen habe, eigentlich nur dann wirklich kapiert
- und das ist eine Regel, die, nebenbei gesagt, in besonderem
Maß für die späteren Idealisten, vor allem für Hegel gilt -,
wenn man nun nicht etwa bloß den Gedankengang verfolgt,
der zu solchen Konsequenzen führt, sondern wenn man es
vermag, irgend doch den Sachverhalt sich vorzustellen, auf
den dabei angespielt wird, der gewissermaßen das Modell
sein soll. Dieser Sachverhalt ist aber ohne Frage die Selbster­
fahrung des Individuums von sich, nämlich ganz einfach das,
daß ich zunächst einmal an mir - ganz gleich, wie sich das nun
innerhalb eines universalen Determinismus verhalten mag ­
erfahren kann, daß ich bestimmte Reihen aufeinander gesetz­
mäßig folgender Zustände neu stiften kann durch einen Akt,
der, wie immer er auch objektiv mit der Naturkausalität zu­
sammenhängen mag, zunächst ihr gegenüber ein Moment ­
wie Kant es hier ausdrückt - von Selbständigkeit hat. Wenn
ich also dieses arme Buch wieder einmal in die Höhe hebe
und fallen lasse, dann ist ganz gewiß die Tatsache, daß es
danach hinfällt, eine Sache der Naturkausalität und die voll­
zieht sich ja, da sie sich im Makrobereich abspielt, noch nach
den Regeln der guten alten Kausalität. Aber damit, daß ich,
indem ich den wie immer auch törichten Entschluß fasse,
dieses Buch in die Höhe zu heben und fallen zu lassen, hier
eingreife, wir,d zugleich in diese Determination noch ein an­
deres, ein Selbständiges hereingebracht, es fängt, könnte
man sagen, mit diesem Entschluß eine neue Kausalreihe an.
Und wie die nun ihrerseits wieder in die Totalität der kausa­
len Bedingungen verflochten ist, ja, da würde der Kant sa­
gen, vielmehr er würde es nicht sagen, sondern er sagt es
tatsächlich: >Das ist eine cura posterior, das gehört dann ins­
gesamt zu einer Theorie der menschlichen Wesen, soweit
ihre Charaktere ebenfalls der empirischen Welt angehören.<59
Aber jetzt zunächst und unmittelbar für die Selbsterfahrung
ist also dieses Moment gegenüber der Kausalkette das Setzen,
das Anheben einer zweiten Determinantenreihe, die jeden­
falls für die Selbsterfahrung in ihrer Identität mit oder ihrer
Abhängigkeit von der allgemeinen Kausalkette nicht ohne
weiteres durchgängig empirisch bestimmt ist.60 Das ist also
das, was Kant an dieser Stelle im Auge hat, und nun spricht er
hier von einer >absoluten Spontaneität der Ursachen<, ohne
im übrigen den Begriff der Spontaneität an dieser Stelle zu
erläutern. Spontaneität heißt hier aber ebensoviel wie eine
ursprüngliche Tätigkeit, eben eine selbständige Tätigkeit,
ftir die weitere Bedingungen zunächst positiv gar nicht ange­
geben werden können, wie denn überhaupt in der »Kritik der
reinen Vernunft« Spontaneität das Vermögen zunächst ein­
mal der Produktion von Vorstellungen und damit eigentlich
das produktive Vermögen des Bewußtseins und damit des
menschlichen Geistes durchgängig bezeichnet. Kant, der ja,
wie Sie in der >Transzendentalen Methodenlehre< nachlesen
können, von Verbaldefinitionen wie alle anständigen Philo­
sophen nicht so arg viel gehalten hat,61 führt diesen Begriff
zwar zunächst in einem relativ engen Sinn, nämlich auf die
Vorstellungen bezogen ein; er nimmt sich - weil es sich hier
überhaupt um eines der Grundmomente der Subjektivität,
man könnte sagen: um das Grundmotiv der Subjektivität
handelt - also mit Recht die Freiheit, diese Tätigkeit des Gei­
stes über diesen Begriff hinaus auch anzuwenden. 62 Das ist
die Argumentation, die Kant hier anstellt gegen die univer­
sale Kausalität und ftir Kausalität aus Freiheit und damit also
für den Freiheitsbegriff als den Grundbegriff der Ethik.
Die Antithese lautet folgendermaßen: »Es ist keine Freiheit,
sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der
Natur. « 63 Sie sehen hier in der Formulierung der Antithese,
daß Kausalität im Gegensatz zur Freiheit ausdrücklich von
Kant - wie ich es Ihnen vorher schon angezeigt habe - mit
\
\
Naturkausalität gleichgesetzt wird. Der Beweis lautet: » Set­
zet: es gebe eine Freiheit im transzendentalen Verstande,« -
mit anderen Worten also das, was aus dem Beweis der Thesis
. hervorgegangen ist - »als eine besondere Art von Kausalität,
nach welcher die Begebenheiten der Welt erfolgen könnten,
nämlich ein Vermögen, einen Zustand, mithin auch eine
Reihe von Folgen desselben, schlechthin anzufangen: so wird
nicht allein eine Reihe durch diese Spontaneität, sondern die
Bestimmung dieser Spontaneität selbst zur Hervorbringung
der Reihe [ . . ] « . 64 Nun, ich möchte nur gerade erläutern,
.

daß Freiheit im transzendentalen Verstande hier soviel heißt


wie, daß unter dieser Annahme, die er nun kritisiert, Freiheit
wie sonst Kausalität eine Kategorie ist, das heißt: Freiheit,
also das Handeln und der Verlauf von Dingen unabhängig
von Gesetzen, würde dann selber zu einer Grundbestim­
mung werden, nach der die Erkenntnis und damit die Orga­
nisation der phänomenalen Welt überhaupt organisiert ist.
Und der Gedankengang ist nun, um das an diese Erläuterung
des Wortes transzendental hier schon anzuknüpfen, ganz ein­
fach der: die Kategorien, also die Grundbegriffe, die Stamm­
begriffe meines Geistes, durch die ich so etwas wie geordnete
Erfahrung überhaupt zustandebringe, die sind allesamt
eigentlich nichts anderes als die Bedingungen, durch die ich
die Welt nach Gesetzen organisiere und die Welt korrelativ
dazu als eine gesetzmäßige erfahre. Würde nun Freiheit - und
das ist der nervus probandi - ihrerseits zu einer Kategorie, zu
einem Transzendentalen, also zu einer Grundbedingung
meiner Erkenntnis von Gegenständen überhaupt gemacht,
dann würde sich daraus ergeben, daß das Gegenteil von Ge­
setzmäßigkeit selber zu einer der Kategorien gemacht würde,
daß es die Gesetzmäßigkeit begründen und daß Freiheit ih­
rerseits der Inbegriff von Gesetzmäßigkeit sein soll, und das
wäre ungereimt. Das ist der Grundgedanke. Wenn Sie den
festhalten, glaube ich, können Sie zunächst die weitere Argu­
mentation verhältnismäßig leicht verstehen - auf die zweite
Stufe der Reflexion, wie gesagt, werden wir rasch genug
kommen. Also, wenn ich die Freiheit im transzendentalen
Verstande, Freiheit als Kategorie, annehmen würde, dann,
fährt Kant fort, würde das darauf fUhren, daß >die Kausalität
schlechthin anfangen würde<, » so daß nichts vorhergeht, wo­
durch diese geschehende Handlung nach beständigen Geset­
zen bestimmt sei. «65 Es würde hier also ein Prinzip angenom­
men werden, das seinerseits mit gesetzmäßiger Erkenntnis
und mit einer in der Natur waltenden Gesetzmäßigkeit nichts
mehr zu tun haben soll. » Es setzt aber ein jeder Anfang zu
handeln einen Zustand der noch nicht handelnden Ursache
voraus, und ein dynamisch erster Anfang der Handlung
einen Zustand, der mit dem vorhergehenden eben derselben
Ursache gar keinen Zusammenhang der Kausalität hat, d.i.
auf keine Weise daraus erfolgt.«66 Es würde also diese Ge­
setzmäßigkeit, die Kant zufolge hier aus dem Prinzip der
Freiheit folgen soll oder die mit dem Prinzip der Freiheit
hier eingeführt werden soll, ihrerseits dem Begriff der Ge­
setzmäßigkeit widersprechen. » Also «, sagt er, »ist die tran­
szendentale Freiheit« - nämlich als die eines absoluten An­
fangs der Handlung - » dem Kausalgesetze entgegen, und
eine solche Verbindung der sukzessiven Zustände wirkender
Ursachen, nach welcher keine Einheit der Erfahrung mög­
lich ist, die also auch in keiner Erfahrung angetroffen wird,
mithin ein leeres Gedankending.«67 Wobei er natürlich die
alten, von der Scholastik und von Aristoteles überlieferten
Vorstellungen von einem letzten, ursprünglich schaffenden

66
Prinzip im Auge hat. Die letzte Wurzel ist die Aristotelische
Lehre von dem a:x[VYJTOV navra XtvoiJv, von dem unbeweg­
ten Beweger aller Dinge, 68 der würde dann angenommen
werden, der fiele dann, um die Kausalität zu begründen, sei­
nerseits aus der Kausalreihe heraus und würde dadurch dem
Prinzip der Gesetzmäßigkeit entgegenstehen. In dieser Argu­
mentation hier, in der Argumentation für die Antithese also,
spricht Kant durchaus und streng als der Aufklärer, der ver­
sucht, die letzten Reste von scholastischen und von letztlich
also aristotelisch-ontologischen Vorstellungen aus der Philo­
sophie auszurotten, während korrelativ dazu die Argumen­
tation für die Thesis die ist, die nun ihrerseits wieder auf die
Rettung des metaphysischen Prinzips eigentlich hinaus will.
Und wenn ich Ihnen das letzte Mal gesagt habe, daß diese
beiden Momente in Kant in einem permanenten Konflikt
liegen, dann ist dieser Konflikt in der Antinomienlehre
thematisch geworden, das heißt, er spitzt sich eben hier
buchstäblich zu dem Verhältnis zwischen der Thesis und der
Antithesis zu. Kant fährt fort, nun wieder im Sinne dieses
aufklärerischen Prinzips: »Wir haben also nichts als Natur, in
welcher wir den Zusammenhang und Ordnung der Weltbe­
gebenheiten suchen müssen. Die Freiheit (Unabhängig­
keit), « - und das ist nun sehr interessant, und ich bitte Sie,
genau darauf aufzupassen, das werden wir in der nächsten
Stunde eingehend interpretieren müssen - » von den Gesetzen
der Natur, ist zwar eine Bifreiung vom Zwange, aber auch
vom Leiifaden aller Regeln.«69 Mit anderen Worten, in dem
Augenblick, wo ich das Prinzip der Freiheit positiv einführen
würde, wo ich des Zwanges mich entäußern würde, den das
kategoriale System der Kausalität bewirkt, würde, das steht
eigentlich dahinter, die Natur selbst ein Chaotisches sein,
und genau dagegen ist ja eigentlich der ganze Anspruch der
» Kritik der reinen Vernunft « gerichtet. »Denn man kann
nicht sagen, daß, anstatt der Gesetze der Natur, Gesetze der
Freiheit in die Kausalität des Weltlaufs eintreten, weil, wenn
diese nach Gesetzen bestimmt wäre, sie nicht Freiheit, son-
dem selbst nichts anderes als Natur wäre. Natur also und
transzendentale Freiheit« - sagt er nun sehr extrem - »unter­
scheiden sich wie Gesetzmäßigkeit und Gesetzlosigkeit,
davon jene« - nämlich die Gesetzmäßigkeit - »zwar den Ver­
stand mit der Schwierigkeit belästigt, die Abstammung der
Begebenheiten in der Reihe der Ursachen immer höher hin­
auf zu suchen, weil die Kausalität an ihnen jederzeit bedingt
ist,« - also mit anderen Worten: noch zu einer weiteren Ursa­
che führt - »aber zur Schadloshaltung durchgängige und
gesetzmäßige Einheit der Erfahrung verspricht, da hinge­
gen« - sagt nun wieder der Aufklärer und Determinist in
Kant - » das Blendwerk von Freiheit zwar dem forschenden
Verstande in der Kette der Ursachen Ruhe verheißt,« - so
wie die Metaphysik verheißt, daß man des Absoluten selber
sich bewußt werden könne und in ihm Ruhe finde - »indem
sie ihn zu einer unbedingten Kausalität führet, die von selbst
zu handeln anhebt, die aber, da sie selbst blind ist,« - und
blind heißt hier soviel wie, daß sie selber nicht dem gesetz­
mäßigen Zusammenhang der Erkenntnis eingefügt ist - » den
Leitfaden der Regeln abreißt, an welchem allein eine durch­
gängig zusammenhängende Erfahrung möglich ist«70 - mit
anderen Worten: die Erfahrung dem Zufall überläßt. - Ich
denke, Sie haben das nach meinen Erläuterungen alle ver­
standen, so daß wir dann das nächste Mal mit den unter die­
sem Text liegenden Schwierigkeiten uns abgeben können.

68
s. VoRLESUNG
28. 5 · 1 96 3

Meine Damen und Herren,

ich befinde mich noch im Stadium der Rekonvaleszenz/' wollte


aber trotzdem die Vorlesung heute und am Donnerstag nicht
ausfallen lassen, weil ja das Semester sowieso arg kurz ist und
viel ausfällt, und bitte Sie deshalb um Ihre N achsicht, ebenso,
was vielleicht die Präzision des Ausdrucks, vor allem auch,
was die Deutlichkeit der Aussprache anlangt, denn ich hatte
eine Kehlkopfaffektion, und es fällt mir also noch ein bißeben
schwer zu sprechen.

Meine Damen und Herren, wir wollen zurückfinden zu der


Behandlung der dritten Antinomie, und ich möchte versu­
chen, zunächst einmal die Fäden dort aufzunehmen, wo wir
sie in der letzten Vorlesung gelassen haben. Der Hauptge­
danke dieses Kapitels ist ja sehr plausibel, und ich möchte
sogar sagen, verhältnismäßig einfach, nämlich: nimmt man
eine letzte und absolute Ursache an, so vergeht man sich ge­
gen die im Begriff der Kausalität selber liegende Forderung
ihrer Universalität. Das heißt also, man bricht die Reihe der
aufzusuchenden Ursachen willkürlich ab und vergeht sich
damit gegen das Prinzip der Kausalität selber, daß man für
alles, was da überhaupt gegeben sei, eine weitere Ursache
angeben müßte, weil es ja nur vermöge der Universalität der
Kausalbeziehung überhaupt in so etwas wie einen gesetzmä­
ßigen Zusammenhang der Erfahrung fällt. Ist das nicht der
Fall, fällt also irgend etwas aus diesem universalen und ge­
setzmäßigen Zusammenhang heraus, dann ist das sozusagen
eine Störung der von Kant quasi als göttliche oder vielmehr
menschliche Weltordnung proklamierten Gesetzmäßigkeit
und wirft im Grunde überhaupt die Vorstellung einer geord­
neten Erfahrung über den Haufen. Wie Sie denn überhaupt
als eines der Motive der » Kritik der reinen Vernunft«, die
man vielleicht gewöhnlich gar nicht so richtig hervorhebt,
schon jetzt das festhalten sollten - das ist auch für die ganze
Begründung der Moralphilosophie bei Kant sehr wichtig -,
was man >die Angst vor dem Chaos< nennen könnte.72 Also
es soll gewissermaßen nichts draußen bleiben, es soll nichts so
sein, daß dadurch der gesetzmäßige totale Zusammenhang
gestört würde. Umgekehrt aber, nimmt man nun eine solche
letzte Ursache nicht an, so gibt es keine vollständige, sondern
- wie Kant das ausdrückt, vielleicht erinnern Sie sich an die
Passage noch - immer nur >subalterne<, das heißt: abgeleitete
Kausalität; und man vergeht sich dann dagegen, daß ohne
zureichenden Grund überhaupt nichts geschehe, man bricht
also in gewissem Sinn ebenfalls ab, indem man nicht weiter­
fragt nach einer solchen letzten Ursache. Beide Male soll also
der Fehler der sein, daß dem Sinn des Kausalitätsprinzips
selbst nicht genügt werde. Das erste Mal insofern, als in die­
sem Prinzip auf der einen Seite die Forderung der Universali­
tät liegt: daß man also eine letzte und absolute Ursache nicht
finden kann, eben weil man dadurch die Universalität abbre­
chen würde, während, auf der anderen Seite, wenn man eine
solche Ursache nicht annimmt, es überhaupt nicht etwas wie
eine wirklich zulängliche, sondern eine immer nur bloß ab­
geleitete Begründung gibt, und der Begriff der Kausalität in
sich selbst unerftillt bleibt. Es ist also wichtig, ich lege darauf
sehr großen Wert, und ich möchte das unterstreichen - Sie
mögen das zunächst als eine etwas formalistische Betrach­
tung ansehen und deshalb ein bißeben in den Wind schlagen,
aber glauben Sie mir, daß ich meinen guten Grund habe, dar­
auf so herumzureiten -, es kommt mir nämlich darauf an,
daß Sie von vornherein sehen, daß der Widerspruch, um den
es sich handelt, eben nicht bloß, wie Kant es in der Auflösung
darstellt, ein Widerspruch ist, der durch unseren unzulängli­
chen Gebrauch der Kausalität sich ergibt, sondern vielmehr
ein Widerspruch, der daraus hervorgeht, daß die Sachen
selbst, ihrem eigenen Sinn nach, notwendig in diesen Wider­
spruch sich verwickeln.73 Und deshalb habe ich Ihnen eben
versucht zu zeigen und unter diesem Aspekt die Kautische

70
Beweisführung nach beiden Seiten noch einmal zusammen­
gerafft, daß man sich beide Male, also in den Fällen der bei­
den antinomischen Thesen beziehungsweise Antithesen, ge­
gen den Sinn des Kausalitätsprinzips selbst vergeht. Ich habe
mich dabei keiner Sünde gegen Kant schuldig gemacht, weil
Kant selber ja, nur ohne es zu sagen, genau so verfährt, wie
ich es eben ausgeführt habe. Das heißt, die Methode ist
eigentlich die, daß er beide Male das Verfahren mit dem kon­
frontiert, was im Sinn von Kausalität selber liegt, und daß er
zeigt, daß beide Male gegen den Sinn dieses Begriffs gefrevelt
wird. Gleichgültig nun, ob man ins Unendliche weitergeht
und dadurch auf ein letztes und damit bündig Verursachen­
des verzichtet, oder ob man das nicht tut und damit eben
willkürlich abbricht: die Hypostase einer absoluten Ursache
ebenso wie die einer absoluten Verursachung führt auf solche
Widersprüche.
Kant hat nun geglaubt - und das ist der eigentlich sprin­
gende Punkt -, daß es sich hier in Wirklichkeit sozusagen nur
um einen falschen Gebrauch handelt, also darum, daß wir die
Kausalität über die Grenzen der Möglichkeit der Erfahrung
hinaus anwenden und daß, wenn wir nur hübsch bescheiden
sind und dermaßen unmäßige Ansprüche nicht stellen, wir
dann in diese Antinomie nicht hereinkommen. Das ist übri­
gens eine Denkgewohnheit, die Kant hier zeigt, die dann
nach ihm dem Positivismus eigentlich insgesamt eigen ist,
der dann etwa sagt: >Na j a, wenn ihr so unmäßige Ansprüche
an die Erkenntnis stellt, dann kommt ihr an allen möglichen
Ecken und Enden in Schwierigkeiten; dann bescheidet euch
lieber von Anfang an und nehmt also sozusagen mit dem täg­
lichen Brot vorlieb; verhaltet euch in geistigen Dingen von
vornherein gleich wie Angestellte, die nicht mehr zu tun ha­
ben als das, was ihnen in ihrem Ressort zugewiesen ist, dann
kann euch nicht so arg Schlimmes passieren. < Wenn aber das
zutrifft, was ich Ihnen eben gezeigt habe und was, wie ich
denken möchte, im Sinn der Kautischen Interpretation selber
liegt, daß nämlich diese Antinomien tatsächlich daraus her-

71
vorgehen, daß man die Anwendung, die mögliche Anwen­
dung der Kausalitätskategorie mit ihrem Sinn konfrontiert,
dann würde das allerdings zeigen, daß diese etwas behagliche
Auslegung, die Kant der Sache gibt - und die so ein bißchen
sich im Rahmen der nun einmal geltenden Arbeitsteilung hält
und sagt: >Bleibe im Lande und nähre dich redlich!< -, daß die
eigentlich der Tiefe der Einsicht, die er selber an dieser Stelle
gewonnen hat, widerspricht. 74 Die stärkste Stütze, die diese
Interpretation in dem Kantischen Text selber hat, ist eben
die, daß Kant, sozusagen von der Wahrheit weiter getrieben,
als es ihm im System recht gewesen wäre, wiederholt davon
spricht, daß die Vernunft notwendig in diese Widersprüche
hineingerate; und es gibt dann eine spätere Stelle, von der
dann im übrigen die ganze praktische Philosophie, also die
ganze »Kritik der praktischen Vernunft « abhängt, an der
diese Nötigung ins Unendliche, in die intelligible Sphäre hin­
einzugehen, von ihm selber geradezu mit der Sphäre des
Praktischen gleichgesetzt wird. 75 Kant ist hart bis an die
Grenze des Bewußtseins dieses Problems gestoßen, von dem
ich Ihnen heute spreche, nur hat er sozusagen aus architekto­
nischem Bedürfnis, um die beiden Sphären der theoretischen
Vernunft und der praktischen Vernunft fein säuberlich von­
einander getrennt zu halten, die ganze Konsequenz daraus
nicht gezogen. Und anstatt diesen Widerspruch selber nun zu
reflektieren und von ihm aus weiterzugehen, ist er bei diesem
Widerspruch als einem zwischen zwei voneinander prinzi­
piell unabhängigen Sphären stehengeblieben. Diese Diffe­
renz zwischen einem solchen Verfahren, das Widersprüche
gewissermaßen departemental auf zwei verschiedene Sphä­
ren verteilt, und einem solchen, das die Widersprüche aus­
trägt und durch den Austrag des Widerspruchs selbst in den
Sachverhalt zu dringen sucht, ist im übrigen genau der Wi­
derspruch zwischen traditionellem Denken - oder wie He­
gel das nennt: Reflexionsdenken - und eigentlich dialekti­
schem Denken; und wenn Sie sich des Problems versichert
haben, auf das ich jetzt versucht habe Sie hinzuweisen, dann

72
werden Sie ohne weiteres darauf stoßen. Es geht also bei
Kant um die Konfrontation des strengen Gehalts eines Be­
griffs, oder lassen Sie mich lieber sagen: um die Konfronta­
tion der Forderung, die in dem Begriff der Kausalität selber
gelegen ist, mit der Konsequenz - und gerät beides notwen­
dig in Konflikt, so liegt eine Dialektik vor. Kant sagt nun:
>Diese Dialektik, die besteht in einem Fehler./6 Hegel dage­
gen würde sagen: >Wenn diese Dialektik, dieser Widerstreit
als unvermeidlicher sich ergibt, so wie es im Sinn der Kanti­
schen Beweisführung liegt, dann handelt es sich hier nicht
um einen Fehler, sondern es handelt sich um einen Wider­
spruch dem selbst Notwendigkeit innewohnt.<77 Und das be­
deutet eben, daß dem Widerspruch selbst, ebenso in der
Wirklichkeit wie auch in dem Fortgang unserer Kenntnis, bei
ihm eine ganz andere Dignität zukommt als bei Kant, der ja
einfach im Sinn der traditionellen Logik ganz harmlos und
naiv sagt: >Wo ein Widerspruch ist, da muß es halt falsch
sein/8 - wie wenn es uns verbrieft wäre, wie wenn wir es in
der Tasche hätten, daß die Welt a priori so widerspruchslos
organisiert ist wie das System der Umfangslogik, das wir
über diese ja reichlich chaotische und schwierige Welt zu
Zwecken ihrer wissenschaftlichen Beherrschung einmal ge­
stülpt haben.
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie hier noch auf
etwas aufmerksam machen. Kant ist hier nämlich noch an die
Schwelle eines anderen Problems geraten, das man vielleicht
bezeichnen könnte mit dem Problem der prima philosophia
oder besser noch mit dem Problem des schlechterdings Er­
sten. Denn darin, daß er zeigt, daß ebenso die Annahme einer
absolut ersten Ursache auf Widersprüche führt, wie umge­
kehrt, daß das Problem ohne eine solche Annahme auch nicht
aufgeht, liegt ja bereits, daß der Begriff eines solchen absolu­
ten Ersten selber auf sehr große Schwierigkeiten fUhrt. Auf
der anderen Seite war aber Kant darin ganz und gar Cartesia­
ner, also hat, ganz und gar wie Descartes nach einem Resi­
duum des absolut Gewissen, ein zweites - freies - gesucht/9

73
das man fest in der Hand hat und von dem aus alles andere
sich ergibt, als daß er nun die Konsequenz gezogen hätte, die
eigentlich in der Antinomienlehre selber drin steckt, daß
nämlich die Frage nach einem solchen absolut Ersten selber
eine Trugfrage sein könnte. 80 Sie haben hier wieder den
eigentümlichen Januscharakter der Kantischen Philosophie,
und zwar gerade am Ursprung der praktischen Philosophie:
daß er auf der einen Seite durch seine durchgeführten Analy­
sen dazu gedrängt wird, zu sehen, daß eine solche Verabsolu­
tierung des Ersten - sei es nun die der Kategorie der Kausali­
tät als solcher oder sei es die der Freiheit als solcher, welche
der Kausalität vorausgehen soll - notwendig auf Widersprü­
che führt und sich nicht auflösen läßt, daß er aber trotzdem an
der Idee eines Absoluten und Primären festhält.81 Und das
bringt ihn dazu, deshalb ist das für die praktische Philosophie
so wichtig, mit einem Gewaltstreich eben dann doch die Frei­
heit als ein Gesetz sui generis zu etablieren, das dann im Sinn
des Primats der praktischen Vernunft schlechterdings am
Anfang überhaupt stehen soll. Denn Sie werden bald erfah­
ren, daß innerhalb des Kantischen Systems schließlich eben
doch bereits das herrscht, was dann bei Fichte ganz krass her­
vorgetreten ist: daß nämlich der praktischen Vernunft, also
der Tat, gegenüber der theoretischen Erkenntnis ein absolu­
ter Vorrang zugesprochen wird. Kant ist also auch darin -
ganz ähnlich übrigens wie Hegel - in einer prekären Situa­
tion, daß er auf der einen Seite, durch die ungeheure Konse­
quenz mit der er die Ursprungsphilosophie weitertreibt, auf
ihre eigene Grenze stößt, also darauf, daß der Begriff des
schlechterdings Ersten antinomisch ist, er auf der anderen
Seite aber daran festhält und sich deshalb dagegen sträubt,
eine solche Antinomik wirklich auszutragen. Diejenigen von
Ihnen, die sich mit Hege! beschäftigen werden, die werden
finden, daß dieser Widerspruch, und zwar als ein nicht be­
wältigter, als ein einfach so hingenommener Widerspruch,
bei Hege! stehenbleibt, bei dem ja schließlich trotz aller Dia­
lektik am Ende - ganz ähnlich wie bei Kant - so etwas wie ein

74
absolut Erstes, nämlich das in sich unendliche Subjekt, der
absolute Geist eben, herrschen soll.82 Man könnte dem viel­
leicht im Augenblick etwas allgemeiner die Wendung geben,
daß es zwar ein Erstes als ein Moment von Unmittelbarem
gebe, aber wirklich nur als ein Moment - denn das Kausierte,
Gewordene ist durch sein Gewordensein immer ja schon ver­
mittelt, und ebenso ist die causa vermittelt, denn die causa ist
immer nur Ursache, insofern sie Ursache von dem ist, was
sie kausiert und nicht von etwas schlechthin -, daß aber dieses
Moment von Unmittelbarkeit oder von einem Ersten von
Gegebenem nicht als eine absolute und positive Unmittel­
barkeit gesetzt werden kann. Und auch diese dialektische
Konsequenz könnten Sie aus der Kautischen Antinomien­
lehre ziehen.
Aber wenn Sie einmal von diesen Lehren, die ich versucht
habe aus der Antinomienlehre abzudestillieren, absehen, so
bleibt eben doch ein großes Maß an Schwierigkeiten beste­
hen. Zunächst beziehen sich diese Schwierigkeiten auf das
Verhältnis der bei Kant zur Diskussion gestellten und zur
Konstellation gebrachten Begriffe Kausalität, Gesetz und
Freiheit. Und ich glaube, die meisten von Ihnen werden die
Schwierigkeiten, die ich hier meine, schon ganz einfach und
mit Recht registriert haben an dem absonderlichen Kauti­
schen Sprachgebrauch, der darauf hinausläuft, von einer be­
sonderen Kausalität, nämlich von Kausalität aus Freiheit zu
reden, während doch nach den Vorstellungen, die wir zu­
nächst allesamt an diese Begriffe heranbringen, Kausalität,
also die strikte gesetzmäßige Determiniertheit durch Ursa­
chen, gerade der Gegensatz sein soll zu eben jenem anderen,
das wir im allgemeinen mit Freiheit meinen. Tatsächlich ist
der punctum saliens - und zwar nicht nur für die Kautische
Philosophie, sondern, man könnte sagen, überhaupt ftir je­
den Begriff der Moralphilosophie - wie diese Begriffe von
Gesetz und Freiheit miteinander zusammengebracht werden.
Zunächst ist - damit Sie nicht glauben, daß in dieser Lehre
von Kant, wo mit den Begriffen Freiheit, Gesetz und Kausa-

75
lität so merkwürdig umgegangen wird, nun die pure Willkür
herrsche - daran zu erinnern, daß bei Kant der Begriff der
Kausalität außerordentlich weit gefaßt ist. Ich glaube, das ist
mit Hinsicht auf das ganze Determinismusproblem in der
modernen Naturwissenschaft auch wichtig sich einmal zu
vergegenwärtigen. Man hat wohl in den an Kant anschlie­
ßenden naturwissenschaftlichen Diskussionen, zum Beispiel
bereits in denen über die Einsteinsehe Relativitätstheorie
und sicherlich gar mit Hinblick auf die Quantentheorie, den
Kautischen Kausalitätsbegriff, die Kautische Lehre von der
Kausalität immer viel zu eng gefaßt. Auch dieser Begriff der
Kausalität ist bei Kant außerordentlich weit, das heißt, er ist
außerordentlich formal, und ich würde denken, daß seiner­
zeit Ernst Cassirer in der berühmten Auseinandersetzung mit
der Einsteinsehen Relativitätstheorie gar nicht so Unrecht
hatte, wenn er geglaubt hat, daß auf Grund eben dieses for­
malen Charakters der Kautischen Philosophie diese auch
etwa der Relativitätstheorie Raum lassen würde.83 Sie erin­
nern sich vielleicht an die Formulierung, die ich Ihnen verle­
sen habe, daß ))alles, was geschieht, einen vorigen Zustand
voraus[ setze], auf den es unausbleiblich nach einer Regel
folgt«84• Dieses >>Unausbleiblich nach einer Regel folgt« kann
hier gar nichts anderes heißen, als daß uns ein allgemeines
Gesetz angibt, daß jedesmal, wenn ein Zustand oder ein Er­
eignis von der Form A vorliegt, darauf ein Zustand von der
Form B folgen müsse; und Kant würde der erste sein, dem
hinzuzufügen - damit sind wir auf ganz strikt Kautischern
Boden-: >Wenn das nicht klappt, also wenn etwas anderes
geschieht, dann müssen wir nach einer weiteren, höheren
Regel suchen, die angibt, warum dies nicht der Fall ist.<
An diesem Kausalitätsbegriff fällt zunächst einmal - und
ich appelliere hier sozusagen an Ihr naives, von Philosophie
nicht verdorbenes Bewußtsein - eine bestimmte Art der
Äußerlichkeit auf. Ich meine dieses Moment der Äußerlich­
keit gar nicht kritisch oder polemisch gegen Kant, sondern es
ist das eine Intention, die in der >>Kritik der reinen Vernunft«
sehr stark ist und die man verstehen muß, wenn die Kauti­
sche Philosophie überhaupt verstanden werden will. Kant ist
kritisch gegen den Rationalismus der Leibnizschen und der
Wolffischen Observanz in dem Sinne gewesen, daß er gegen
das Prinzip einer inneren Verursachung - also einer Verursa­
chung von Dingen an sich oder Gegenständen an sich, unab­
hängig von dem Subjekt, das ihnen erst die Gesetzmäßigkeit
der Kausalität verleiht - außerordentlich kritisch gewesen ist;
und er hat vor allem in dem Kapitel über die >Amphibolie der
Reflexionsbegriffe<, in einer sehr wichtigen Anmerkung, ge­
radezu gegen den Begriff, daß man das Innere der Gegen­
stände und ebenso ihre innere Determiniertheit erkennen
könne, aufs heftigste polemisiert.85 Wenn Sie sich eine Se­
kunde lang daran erinnern, daß es zunächst einmal eine der
Generalthesen der Kautischen Philosophie ist, die Ihnen allen
gegenwärtig ist, auch soweit Sie nicht an die dynamischen
Kategorien denken, daß die Dinge an sich uns unerkennbar
und dunkel seien - und daß wir statt dessen nur vermöge
unseres kategorialen Apparates und des Sinnenmaterials
diese Gegenstände uns aufbauen, daß wir also auch die Ge­
genstände sozusagen von außen her und mit Hilfe unseres
eigenen Bewußtseins komponieren und nicht etwa in sie
eindringen -, dann wird es Ihnen ohne weiteres auch schon
evident sein, daß Kant die Vorstellung, daß man die Verur­
sachung oder die Dynamik der Dinge in ihnen selbst wahr­
nehmen könne, ebenfalls verworfen hat. Es würde wahr­
scheinlich sogar bereits die Reflexion auf diese Kautische
Bestimmung des Gegenstands als eines erst von uns konstitu­
ierten hinreichen, um auszuschließen, daß wir nun diesen
Gegenständen, die selbst unsere Produkte sind und von deren
Inwendigem wir gar nichts wissen, ein solches Inneres zu­
schreiben könnten, wie das in der vorhergehenden rationali­
stischen Philosophie eben der Fall war. Aber genau diese
Äußerlichkeit hat nun natürlich auch deshalb ein Moment
des Unbefriedigenden, weil unter einem solchen ganz forma­
len Zusammenhang von Regelhaftigkeit alles mögliche auch

77
zu subsumieren ist, was dem, was man sich unter Kausalität
vorerst einmal vorstellt, gänzlich widerspricht, und es ist ja
doch wohl keine schlechte Regel des philosophischen Den­
kens, daß man nicht einfach und ohne weiteres den Begrif­
fen, die man verwendet, ganz andere, nämlich nur vom eige­
nen System her definierte Bedeutungen unterlegt, als diese in
der Sprache haben und die man gewissermaßen von ihnen
verlangt. Also, im Sinne eines solchen Zusammenhangs nach
Regeln würde die heute in der Quantenmechanik behauptete
statistische Gesetzmäßigkeit - an Stelle der einer Folge nach
Regeln - in die Kantische Kausalität ebensogut hereinfallen
wie alles andere auch.86 Es würde aber dadurch natürlich das,
was wir uns alle zunächst einmal unter Kausalität vorstellen,
verlorengehen. Die Antwort, die die fortschreitende Wissen­
schaft darauf gegeben hat, ist keine andere als die, daß unser
Bewußtsein an dieser Stelle gleichsam mythologisch sei, daß
wir in unserem alltäglichen Bewußtsein der Entwicklung der
wissenschaftlichen Kritik hinterherhinken und immer noch
mit einer im Grunde animistischen Vorstellung einer inwen­
digen Beseeltheit und inwendigen Determiniertheit der
Dinge operieren, die, nachdem man diese Erkenntnisbegriffe
einmal so gefiltert hat, wie es in der Erkenntniskritik gesche­
hen ist, eigentlich gar nicht mehr gehalten werden kann.
Diese sogenannte Äußerlichkeit der Kausalität, die im übri­
gen ja die gesamte spätere positive Wissenschaft und vor al­
lem der gesamte Positivismus mit Kant gemein hat, und die,
wie bei Hume, noch unvergleichlich viel weitergetrieben ist
als bei Kant, die rührt daher, daß Kausalität nicht in den Din­
gen an sich waltet, sondern ein Ordnungsprinzip ist, nach
dem das Subjekt die aufeinander folgenden Zustände mitein­
ander vereinigt. 87 Es hätte also somit die Kausalität nichts mit
der Erklärung der Motivation zu tun, die sich anheischig
macht, aufeinander folgende Zustände von innen her ver­
ständlich zu machen, nämlich aufGrund unseres inneren Sin­
nes, in dem ja Subjekt und Objekt, also unsere Erfahrung
von uns selbst und wir selbst als das, was wir erfahren, mit-
einander koinzidieren oder koinzidieren sollen, so daß jenes
Problem des Gegensatzes von innen und außen dabei gar
nicht bestehen soll. Und infolgedessen - und das ist ein Mo­
tiv, das besonders von Schopenhauer dann gegen Kant zur
Geltung gebracht worden ist88 - hat man als eine besondere
und von Kant eigentlich gar nicht berücksichtigte, ausge­
zeichnete Art der Kausalität, nämlich einer Kausalität, die
doch als eine von innen her möglich sei, eben die Motivation
bezeichnet.89 Nun ist aber bei Kant - und deshalb habeich auf
diese merkwürdige Weite des Begriffs der Kausalität Wert
gelegt - der Kausalitätsbegriff, das heißt also einfach dieses
Aufeinanderfolgen von zwei Zuständen nach Regeln, so ge­
artet, daß - obwohl im Sinn dieser naturwissenschaftlichen
Gesetzmäßigkeit dabei an eine solche Koinzidenz von innen
und außen nicht gedacht ist - innerhalb dieses Entwurfs von
Kausalität eben doch Raum bleibt für das, was man Motiva­
tion nennen kann, das heißt, für die Selbstgewißheit oder un­
mittelbare Evidenz dessen, warum zwei Zustände aufeinan­
der folgen sollen. Darauf, daß das so ist, wird zwar von Kant
nicht reflektiert, aber es wird trotzdem bei ihm bis zu einem
gewissen Grade daraus die Konsequenz gezogen, indem er
nämlich sagt, daß es bestimmte Möglichkeiten von Kausali­
tät - man könnte sagen, wenn man in der Sprache der Natur­
wissenschaft reden wollte -, einen Spezialfall von Kausalität
gibt, in dem diese Art der Äußerlichkeit, von der ich Ihnen
gesprochen habe, nicht existiert, sondern eine Kausalität, wo
wir selber innerhalb unseres Bewußtseinslebens eine Kausal­
reihe absolut beginnen. Kant denkt dabei - er führt das nicht
aus, aber das ist ohne alle Frage gemeint - einfach an den
elementaren Tatbestand irgendeines Entschlusses. 90 Ich erin­
nere Sie an das unselige Buch, das ich gelegentlich auf diesen
Tisch fallen lasse, wo ich also dadurch, daß ich selber, von
mir aus irgend etwas dazwischenschalte, eine neue Kausal­
reihe beginne, in die da an dieser Stelle eine Art von Zäsur
gelegt wird. - Ich spreche hier sehr vorsichtig,91 denn in die­
sem äußerst schwierigen und dunklen Gebiet hat Kant selber,

79
und zwar mit gutem Grund, alles andere getan denn sich
wirklich sehr klar und eindeutig ausgedrückt, weil das tat­
sächlich auch sehr schwer möglich ist. Kant hat also offenbar
angenommen, daß es im Rahmen dieser allgemeinen Kausa­
lität so einen Punkt gibt, wo das Subjekt jedenfalls eingreift
und von sich aus primäre Bedingungen setzt, von denen aus
die Kausalreihe dann abläuft, und er hat geglaubt, daß in die­
sem Bereich der Praxis, des praktischen Handelns, jedenfalls
der Punkt, an dem eine solche neue Kausalreihe beginnt, an­
zugeben sei, und daß deshalb in der Praxis, nämlich in dem
motivierten Verhalten des Menschen, so etwas wie eine Aus­
nahmesituation gegeben sei. Kant, der nun ungeheuer red­
lich gewesen ist und ebenso scharfsinnig, hat keineswegs das
Problem übersehen, das Ihnen an dieser Stelle allen auf den
Lippen liegen wird, daß nämlich eine aus Freiheit kommende
Verhaltensweise, wie die, daß ich also an einer bestimmten
Stelle selbständig eingreife, ihrerseits auch in einen weiteren
Kausalzusammenhang hineingeht. Wenn ich also, um noch
einmal auf das blödsinnige Beispiel zu kommen, das Buch
fallen lasse, so ist mir das zwar zunächst als mein freier Ent­
schluß bestimmt, aber es liegen dabei doch eine ganze Reihe
von weiteren Bedingungen vor, aus denen man das erschlie­
ßen kann. Zum Beispiel, ich sehe mich veranlaßt, Ihnen die­
ses Phänomen einer sogenannten Handlung aus Freiheit ir­
gendwie zu demonstrieren und habe nichts anderes zur Hand
als dieses verflixte Buch, ja, dann laß ich's dann halt eben
fallen, und das kann man dann wieder weiter zurückführen
auf alle anderen Dinge, die sich auf die Verinnerlichung des
Pflichtbegriffs und Gott weiß auf was noch alles beziehen ­
ich meine, so hängen die großen und die kleinen Dinge halt
auf eine etwas sonderbare Weise zusammen.
Kant würde das alles gar nicht leugnen, und es gibt eine
Stelle - wir werden zur Behandlung dieser Stelle kommen -,
bei der Kant durchaus einräumt, daß es eine solche allgemei­
nere Determination auch der sogenannten freien Handlun­
gen geben sollte. 92 Aber Kant verhält sich in diesem Problem

So
und übrigens auch in einer Reihe von analog gelagerten Pro­
blemen in anderen Teilen seiner Philosophie so, daß er dabei,
ja, man würde mit einer viel späteren Terminologie sagen,
phänomenologisch vorgeht. Das heißt, es kommt ihm dabei
gar nicht darauf an, nun etwas über das letzte und absolute
Wesen einer solchen Handlung auszusagen - auch darin
würde er sich einer gewissen Äußerlichkeit befleißigen,
wenn Sie so sagen wollen -, sondern statt dessen nur darauf,
daß ich in diesem Augenblick das so erfahre: jetzt kann ich das
Ding fallen lassen - und das ist etwas ganz anderes, als wenn
ich einen Wasserhahn aufdrehe, und solange er aufgedreht
ist, dann halt das Wasser herausläuft -, das ist zunächst ein­
mal ein unmittelbar gegebener Tatbestand. Und ganz gleich­
gültig, wie sich das um die absolute Stellung der beiden Ge­
schehen innerhalb der totalen oder universalen Kausalität
auch verhalten mag, im Sinn der unmittelbaren Erfahrung
liegt eben an dieser Stelle ein Unterschied. Es gibt bei Kant
eben - ich habe Ihnen das schon gesagt, Sie können hier
vielleicht sehen, warum das so wichtig ist für das Verständ­
nis der Kantischen Philosophie - keineswegs nur das syste­
matische Motiv, aus bestimmten Einheitsmomenten einen
möglichst lückenlosen Zusammenhang zu konstruieren,
sondern an allen möglichen Ecken und Enden immer auch
diesen Respekt vor dem, was gegeben, was - wenn Sie so
wollen - selber nicht weiter ableitbar ist. Und er hat tatsäch­
lich dann in der praktischen Philosophie die Freiheit oder
vielmehr deren oberstes Prinzip, nämlich das Sittengesetz -
das nichts anderes erheischt, als daß ich rein vernunftmäßig
handle - selbst als eine Gegebenheit behandelt und als etwas,
was man in einem gewissen Sinn gar nicht weiter ableiten
kann, eben deshalb, weil es nämlich mit dem Prinzip der
Vernunft selber identisch ist, welche ja allein eine solche
Ableitung überhaupt erst vollziehen konnte. - Meine Da­
men und Herren, ich lege deshalb so großen Wert darauf,
Ihnen diese etwas verwickelten Dinge hier auseinanderzu­
setzen, weil die wirklich für die Begründung einer Moralphi-

Sr
losophie wichtig sind, weil, wenn man einfach beharrte zu
sagen: es gibt zwar irgendwie im Absoluten so etwas wie
Freiheit, aber sobald ich mich in das beschränkte Reich der
Erfahrung, in die endliche Erfahrung hineinbegebe, da
herrscht nur Kausalität und da ist von der Freiheit gar nichts
zu finden, dann wäre mit der Angabe dieses Prinzips der Frei­
heit für die Praxis selber überhaupt gar nichts getan. Denn die
Praxis ist ja immer auch Praxis empirischer Menschen und
Praxis, die sich auf empirische Gegebenheiten bezieht. Kant
findet sich auch hier in einem gewissen Widerspruch. Er muß
auf der einen Seite die Trennung des Intelligiblen und des
Empirischen sehr streng durchhalten, denn es ist natürlich
so, daß, wenn er das Intelligible oder Absolute selbst an em­
pirischen Bedingungen festmachen würde, es diesen Charak­
ter der Absolutheit und der absoluten Verbindlichkeit verlie­
ren würde. Wenn aber auf der anderen Seite diese beiden
Sphären absolut getrennt sind, absolut nichts miteinander zu
tun haben sollten - wie es in manchen Formulierungen von
Kant allerdings den Anschein hat -, dann wäre es überhaupt
unmöglich, von irgendeiner Sittlichkeit und irgendwelchen
Unterscheidungen wie dem richtigen und dem falschen Ver­
halten zu reden, weil ja dann alles, was überhaupt auftatsäch­
liches Handeln sich bezöge, vollständig in den empirischen
Bedingungen aufginge. Und deshalb muß Kant wie ein Ver­
zweifelter danach suchen, etwas wie eine Sphäre zu finden,
die, ja ich will nicht sagen, beides gleichzeitig wäre, aber in
der ich doch mit einem gewissen Recht von der Gegebenheit
eben dessen reden kann, was als ein in sich Unendliches, die
Grenzen der Möglichkeit der Erfahrung Überschreitendes,
als eine solche Gegebenheit innerhalb der Erfahrung eigent­
lich gar nicht vorgestellt werden kann. Und das ist ebenjene
Möglichkeit, eine Kausalreihe in irgendeinem Sinn, in jedem
Fall positiv anzusetzen. Ich sage Ihnen das deshalb und gehe
auf diese Punkte im Zusammenhang mit den einschlägigen
Kapiteln der » Kritik der reinen Vernunft « ein, weil das dann
in der ausgeführten praktischen Philosophie von Kant die
sehr große Konsequenz hat, daß dann bei Kant die höchst
merkwürdige Theorie auftritt - über die wir dann noch zu
reden haben werden -, daß zwar alle meine Handlungen be­
dingt seien im Sinn meines Charakters, aus dem sie notwen­
dig fließen sollen, daß ich mir aber diesen Charakter selbst
durch einen Akt von Freiheit geben soll. 93 Mit diesem Akt
von Freiheit kann gar nichts anderes gemeint sein als jenes,
ich möchte sagen, zunächst rein epistemologische, erkennt­
nistheoretische, Verhältnis, daß man als Mensch jedenfalls
fähig ist, Kausalreihen zu beginnen, deren Einbegriffensein
in die universale Kausalität nicht ohne weiteres eingeschlos­
sen ist. Daß dabei dann wieder die Theorie, daß ich mir mei­
nen Charakter selbst gegeben haben soll, angesichts dessen,
was wir nun empirisch heute vom Charakter wissen, der in
einem weiten Maß durch unsere frühkindlichen Erfahrungen
bestimmt und geformt wird, auf die größten Schwierigkei­
ten führt, das ist eine Sache für sich. Aber ich wollte zunächst
hier gar nichts anderes, als Ihnen zeigen, erstens: warum
Kant überhaupt zu dieser Konstruktion einer Kausalität aus
Freiheit kommt, und zweitens: in welcher Weise er dann ge­
drängt ist und woran er sich anlehnt für die Lösung, die er
gibt.
Lassen Sie mich schließen, indem ich Ihnen nur noch mit
ein paar Worten vielleicht noch einmal ins Gedächtnis rufe,
warum er nun tatsächlich auf einer solchen Kausalität aus
Freiheit besteht. Man könnte ja zunächst sagen: >Nun ja,
Kausalität deshalb, weil die Kausalität aufGrund der Katego­
rienlehre ein allgemeines Gesetz ist, dem schlechterdings al­
les unterworfen sein kann und das keine Ausnahme duldet;
und Freiheit deshalb, weil es ohne Freiheit ja eigentlich so
etwas wie Vernunft und wie Menschheit überhaupt nicht
gäbe.< Aber ich glaube, diese Darstellung ist doch noch zu
vordergründig, es steht doch wohl in Wirklichkeit das dahin­
ter - und das ist angedeutet in einer Stelle aus der Antino­
mienlehre, auf die ich vielleicht in der nächsten Stunde doch
noch mit ein paar Worten zu sprechen kommen werde -, daß
ein Verhalten, das überhaupt keine Kausalität kennt, das also
absolut frei wäre, das ein Verhalten ohne jede Regel wäre,
daß ein solches Verhalten das schlechterdings Chaotische
wäre, und daß dann tatsächlich die amorphe, ungeformte
Natur über jenes Vernunftprinzip triumphieren müßte, das
ja von Kant in der » Kritik der Urteilskraft« ganz eindeutig an
einigen Stellen gerade als die Kraft bestimmt wird, eben die­
sem Chaotischen der Natur zu widerstehen. Ist auf der ande­
ren Seite aber das Gesetz universal, so hört dadurch ebenso
die Möglichkeit von Übernatur auf, das heißt, dann ist der
Mensch seinerseits auch wieder nichts anderes als ein Stück
dieser blinden Natur und kann nicht heraus. Die Vernunft
fordert also in sich ebenso etwas wie eine universale Gesetz­
mäßigkeit, weil sie nur als Gesetzmäßigkeit überhaupt die­
sem Blinden und Amorphen zu widerstehen vermag, wie sie
andererseits Freiheit fordert, weil Freiheit gegenüber diesem
Amorphen der einzig mögliche Gegensatz überhaupt ist.
Und diese doppelte Schwierigkeit, daß es so etwas wie die
Sphäre des Humanen weder in absoluter Gesetzlichkeit noch
in absoluter Freiheit geben kann, die ist eigentlich der tiefste
Grund dafür, daß Kant zu dieser paradoxalen Konstruktion
einer Kausalität aus Freiheit sich gedrängt sieht. 94 - Ich danke
Ihnen.
6. VoRLESUNG
30. 5 · 1 963

Meine Damen und Herren,

ich muß zunächst etwas ansagen. Die Vorlesung heute in vier­


zehn Tagen muß ich ausfallen lassen wegen der Teilnahme an
dem Europa-Gespräch in Wien.95 Der darauffolgende Don­
nerstag fällt sowieso aus wegen Fronleichnam, so daß wir
uns erst wiedersehen heute in drei Wochen.%

Ich möchte zunächst noch einmal ein wenig die Dinge zu­
sammenfassen, die ich vielleicht am Ende der letzten Vorle­
sung etwas gar zu hastig formuliert hatte, und möchte dann
die Stunde heute wesentlich dazu benutzen, anhand von rela­
tiv nahen Interpretationen des Kantischen Textes Ihnen eini­
ges zu sagen über das Verhältnis von theoretischer und prak­
tischer Philosophie bei Kant. Zunächst ist es also so, daran
darf ich Sie erinnern, daß die Schwierigkeit, mit der wir es
hier in der Antinomienlehre von Kant zu tun haben, darauf
zurückgeht, daß die Kautische Philosophie selbst einen Dop­
pelcharakter hat. Dem kritischen Moment, also der Auflö­
sung dogmatischer Vorstellungen, die einfach so übernom­
men sind und die er durch den Rekurs auf die konstitutive
Subjektivität überwindet - wobei er aber zugleich auch die
Grenzen bestimmt, die dadurch gesetzt sind, daß Erkennt­
nisse, die das naive Bewußtsein als Erkenntnisse von Dingen
an sich zu verstehen geneigt ist, in Wirklichkeit solche sind,
die eben bloß in Subjektivität selber entspringen und deshalb
nicht dem Sein unmittelbar zugeschrieben werden können -,
dieser einen Intention Kants steht die andere und mindestens
ebenso starke gegenüber, daß er nun versuchen möchte,
nicht nur durch diese subjektive Analyse hindurch den objek­
tiven Charakter der Erkenntnis zu retten, sondern daß er
überhaupt versuchen möchte, das, was man vor ihm Ontolo­
gie genannt hat, und was man heute ja wieder Ontologie zu
nennen geneigt ist, in einer Sphäre, nämlich der Sphäre des

ss
Intelligiblen - und das will bei ihm vorab heißen: in der
Sphäre des Moralischen oder der Freiheit - zu erretten. Die­
ser Doppelcharakter motiviert eigentlich die seltsame Stel­
lung, die Kant dem Problem der Freiheit gegenüber ein­
nimmt. Wenn man sagt, daß die Lehre von Kausalität und
Freiheit in der » Kritik der reinen Vernunft << antinomisch dar­
gestellt sei, so gibt das eigentlich den ganzen Sachverhalt des­
halb nicht wieder, weil ja als das Resultat der Analyse der
dritten Antinomie nun nicht übrig bleibt: es kann so sein und
es kann auch so sein, sondern im Sinn der Analyse der » Kritik
der reinen Vernunft << ist es eigentlich so, daß die Frage nach
Freiheit und Bedingtheit selber eigentlich abgeschnitten
wird, daß gesagt wird, wenn ich überhaupt so frage, dann
begehe ich damit bereits einen Fehler, über den ich nicht hin­
auskomme. In der Konsequenz heißt das, daß, wenn ich die
Frage nicht aufwerfen darf, ich dann eigentlich verbleibe in
dem empirischen Bereich, in dem die Kausalität herrscht,
und daß ich nur von dieser Kausalität selber nicht behaupten
darf, daß sie ein absolut im Bereich der Dinge an sich Gelten­
des sei. Aber die Entscheidung ist doch in der » Kritik der
reinen Vernunft<< , jedenfalls in der Antinomienlehre, im Sinn
des theoretischen Vernunftgebrauchs, zugunsten der Kausa­
lität eigentlich gefallen - nur mit diesen Einschränkungen,
die wir behandelt haben. 97 Im Gegensatz dazu nun drückt die
andere Seite - die ontologische oder die, wie soll man sagen,
rettende oder bewahrende Seite von Kant oder auch die Seite,
die der universalen Skepsis des konsequenten Nominalismus
sich entgegensetzt - sich nun in einer Lehre aus, die in der
Antinomienlehre in dieser Weise eigentlich gar nicht vor­
kommt, nämlich in der Lehre, daß die Sphäre des Morali­
schen als eine von der Erkenntnissphäre prinzipiell verschie­
dene Sphäre nun allerdings positiv die Sphäre der Freiheit sei,
oder wie es an einer sehr exponierten Stelle von Kant heißt:
>daß im moralischen Bereich die Freiheit ihrerseits eine Tat­
sache der Erfahrung sei.<98 Welchen Sinn man dieser sonder­
baren These von der Erfahrung der Freiheit zu geben hat, das

86
habe ich ja versucht Ihnen das letzte Mal auszuführen, als ich
mit Ihnen Erwägungen über den Begriff der Motivation und
über den Doppelcharakter des Gesetzes anstellte. Aber man
kann jedenfalls folgendes noch einmal zusammenfassen als
den Sinn der Lehre von der dritten Antinomie, also der Anti­
nomie von Kausalität und Freiheit. Herrscht Kausalität abso­
lut, gibt es also nichts anderes als das Kausalgesetz, so würde
man damit die von den Menschen den Dingen an sich, von
denen sie eigentlich nichts wissen, auferlegte gesetzmäßige
Ordnung, also das, was zu der Beherrschung der außer­
menschlichen und auch der innermenschlichen Natur not­
wendig ist, zu einem Absoluten machen. Man würde dem
Absoluten selbst den gleichen Charakter der Blindheit und
der Äußerlichkeit verleihen, der, wie ich Ihnen das letzte Mal
unter Bezugnahme auf Kant auseinandergesetzt habe, auch
im Sinn von Kant selbst, der Naturkausalität und der Er­
kenntnis nach Kategorien überhaupt zukommt. Die Natur­
beherrschung - und damit könnte man sagen: als blinde
Herrschaft eigentlich bloße Natur - würde dann zu einem
Absoluten werden.99 Gäbe es aber andererseits nun nichts an­
deres als Freiheit, so wie Kant sich ausdrückt: >Freiheit ohne
einen Leitfaden< oder ohne ein Gesetz, nach dem der Zusam­
menhang der Erscheinungen konstituiert wird, dann wäre
das eine solche Freiheit, der das Moment der Gesetzmäßig­
keit ganz abgeht, und ebenfalls ein Rückfall in ein bloßes Na­
turverhältnis, nämlich in den chaotischen Zustand der Natur
als einer bloßen Beliebigkeit. Und es ist interessant, daß auf
der rechten Seite, also in der Kritik der Konsequenzen, die die
Lehre von der absoluten Freiheit hätte, Kant gerade von die­
ser Möglichkeit den Ausdruck » blind« 100 ebenso braucht,
wie er ihn gebrauchen könnte, wenn auf der anderen Seite
nichts anderes als Kausalität herrschen würde. Und seine
Philosophie insgesamt steht gegen beides, also ebenso gegen
die Verabsolutierung des mechanischen Prinzips - und die
Kritik dieser Verabsolutierung des mechanischen Prinzips ist
wesentlich der Inhalt der » Kritik der Urteilskraft« - wie auf
der anderen Seite auch gegen das Amorphe, Zufällige und
Beliebige, demgegenüber Kant keine Sekunde abläßt von
dem Gedanken, daß die Einheit, die in unserer Vernunft zu
finden ist, selber auch den Dingen an sich zugeschrieben wer­
den muß, wenn die Dinge an sich nicht wirklich chaotisch,
ein Rückfall in das völlig Blinde und Unorganisierte sein sol­
len. Über den Gedanken, daß die von der Organisation des
vernünftigen Logos der Welt aufgezwungene Einheit not­
wendig auch eine Bestimmung der Welt selber sein muß,
darüber möchte ich jetzt nicht reden. Es will mir allerdings
scheinen, als ob an dieser Stelle in der Kantischen Philosophie
selbst ein entscheidender Fehlschluß stecke, der dann in der
ganzen nachkantischen Philosophie sehr verhängnisvoll sich
geltend gemacht hat, indem nämlich nun doch die Kategorie
der absoluten Einheit hypostasiert und dem Absoluten zuge­
schrieben wird. Und dagegen haben ja nun gerade die bedeu­
tendsten und freiesten der deutschen Idealisten - ich denke da
vor allem an das, was man den philosophischen Gehalt von
Hölderlin nennen könnte - aufs allerschroffste sich aufge­
lehnt, und diesen Gedanken der Verabsolutierung des Einen
und der Einheit so interpretiert, daß die wahre Einheit
eigentlich die Versöhnung des Vielen sei und nicht eine Identi­
tät, die indem sie sich herstellt, eigentlich bereits dem Gewalt
antut, worüber sie ergeht. 101 Das ist eine Wendung des Gedan­
kens, die selbstverständlich auch für die Moralphilosophie
von der allergrößten Bedeutung ist, weil sie eben wirklich
über jenes Kantische und Fichtesche Motiv hinausführt, daß
das, was wirklich ist, eigentlich nichts anderes als ein Rohma­
terial für die Verwirklichung der Einheit der bloß menschli­
chen Vernunft ist. Aber dieses sehr weit führende moralphilo­
sophische Moment möchte ich jetzt nur anführen.
Die Kantische Konstruktion jedenfalls, das können Sie
vielleichtjetzt erkennen, ist eine Konstruktion vom terminus
ad quem her, das heißt, die ganze Antinomienlehre geht
eigentlich darauf hinaus, so etwas wie das Moment von Ge­
setzmäßigkeit und Einheit auf der einen Seite und von Frei-

88
heit zusammenzubringen. Und von dieser im Grunde in sich
selbst widerspruchsvollen These aus, die bewiesen werden
soll, erklären sich dann die Aufweise der Widersprüche, in
die die Lehre von Kausalität und Freiheit führt, wobei es aber
andererseits das sehr Großartige wiederum an Kant ist, daß er
diese Widersprüche vollkommen uneingeschränkt zutage
bringt. Daß diese Dialektik tatsächlich nicht nur eine Dialek­
tik unseres falschen Vernunftgebrauchs ist, sondern daß sie in
der Sache selbst steckt, das nun allerdings zeigt sich dann in
einem späteren Kapitel der »Kritik der reinen Vernunft«, auf
das ich auch deshalb eingehen möchte, weil es im allgemei­
nen, würde ich denken, in seiner sehr grundsätzlichen Be­
deutung ftir die Kantische Begründung der Moralphiloso­
phie außerordentlich unterschätzt wird. Es steht nämlich in
der >Methodenlehre< der »Kritik der reinen Vernunft «, im
» Kanon der reinen Vernunft « , und dieser ganze zweite Teil
der »Kritik der reinen Vernunft « wird sowieso viel zu wenig
berücksichtigt, und heißt: » Von dem letzten Zwecke des rei­
nen Gebrauchs unserer Vernunft «. Diese Lehre von dem letz­
ten Zweck der reinen Vernunft, die trägt deshalb so Ent­
scheidendes bei zu der Lehre von dem Widerspruch und der
Erkenntnis des Widerspruchs, mit dem wir uns in den letzten
Stunden abgegeben haben, weil nun als dieser letzte Zweck
des reinen Gebrauchs unserer Vernunft die Praxis hervor­
tritt, weil also der letzte Zweck der reinen Vernunft die Pra­
xis, das Handeln und nicht die theoretische Erkenntnis oder,
wie es in diesem Abschnitt bei Kant durchgängig heißt, nicht
die > Spekulation< sein soll.102 Und dadurch kommt nun das
Merkwürdige und wirklich Widerspruchsvolle, das über die
Antinomienlehre hinaus Widerspruchsvolle zustande, daß
zwar im Sinn der Antinomienlehre, kann man sagen, doch
die Kausalität triumphiert, weil wir im Bereich der Erfah­
rung nur kausal denken dürfen - weil, wenn wir über das
Bereich der Erfahrung hinausgehen, gleich, ob wir da nun
Kausalität lehren oder leugnen, wir eben in unauflösliche An­
tinomien geraten -, während nun hier unter dem Gesichts-
punkt des Primats der Praxis eigentlich in einer genau so ein­
deutigen Weise, wenn Sie mir die strategische Redeweise ge­
statten, der Triumph der Freiheit herausschaut. Man könnte
also sagen, daß, während Kant zwar die Antinomik der rei­
nen Vernunft kritisiert, die Notwendigkeit dieser Antinomik
dadurch in der Kantischen Theorie selber doch hervortritt,
als seine eigene Philosophie eigentlich daraufhinausläuft, daß
er sagt: in dem theoretischen Bereich gilt eigentlich nur Kau­
salität und in dem praktischen Bereich gilt also nur Freiheit,
ohne daß dieser Widerspruch dann noch einmal von ihm an­
ders als in einer fernen und vagen Hypothese aufgelöst
würde. So daß also dann doch die zunächst einmal glücklich
aufgelösten Antinomien, die scheinbar nur durch einen fal­
schen Gebrauch unserer Vernunft sich ergeben, das letzte
Wort dadurch behalten, daß in der Konstitution der beiden
Hauptsphären der Philosophie überhaupt, nämlich in der
theoretischen und der praktischen Philosophie, jeweils die
eine und die andere Seite dieser Antinomik sich bekunden.
Dieses vorausgeschickt, darfich mich nun also diesem Ka­
pitel der >Methodenlehre< zuwenden. Da ist also zunächst die
Rede >von dem letzten Zwecke des Gebrauchs unserer Ver­
nunft<. Kant sagt: ))Die Vernunft wird durch einen Hang ih­
rer Natur getrieben, über den Erfahrungsgebrauch hinaus zu
gehen, sich in einem reinen Gebrauche und vermittelst blo­
ßer Ideen zu den äußersten Grenzen aller Erkenntnis hinaus
zu wagen, und nur allererst in der Vollendung ihres Kreises,
in einem für sich bestehenden systematischen Ganzen, Ruhe
zu finden.« 103 Wenn man hier bei Kant von dem ))Hang ihrer
Natur« liest, dann ist, wenn anders man den Naturbegriff
richtig versteht, wie ihn Kant aus dem 18. Jahrhundert und
vor allem von Rousseau ja übernommen hat, mit Natur hier
nicht etwas bloß Psychologisches gemeint - daß wir halt so
>geartet< seien, daß wir unsere Vernunft bis ins Absolute sel­
ber treiben -, sondern >Natur< muß man hier doch wohl so
streng nehmen, daß damit gemeint ist, daß die Vernunft
durch ihr eigenes Wesen dazu getrieben wird, über die Gren-

90
zen der Möglichkeit der Erfahrung hinauszugehen. Dieser
Gedanke nun, meine Damen und Herren, ist tatsächlich
außerordentlich plausibel und außerordentlich einleuchtend.
Wenn Sie sich erinnern an die Behandlung der dritten Anti­
nomie, dann läuft ja eigentlich diese Behandlung darauf hin­
aus, daß der Fortgang ins Unendliche abgeschnitten wird. Es
ist, wenn man sich so volkstümlich ausdrücken möchte, wie
Kant es im Zusammenhang mit diesen Problemen zuweilen
nicht verschmäht, ein bißchen so, wie wenn er hier - und das
ist nun sehr bürgerlich karg, halt so ein Moment von bürger­
licher Sparsamkeit - der Vernunft sagen wollte: >Bleibe im
Lande und nähre dich redlich!< und: >Treibe nur gar keinen zu
großen Aufwand, denn sonst machst du gewissermaßen
Schulden, die du in der Erfahrung nicht einlösen kannst, und
dann gehst du schließlich bankrott. < Dieses Einschränkende
selber hat nun aber objektiv deshalb ein Unbefriedigendes,
weil es ja der Vernunft gewissermaßen gewaltsam wider­
fährt, das heißt: weil das Abbrechen der Vernunft der Forde­
rung der Vernunft, sich nun wirklich nicht aufhalten zu las­
sen, sich nicht von einem ihr Äußerlichen sistieren zu lassen,
widerspricht - weil die Vernunft ja als ihr Korrelat die Idee
der Wahrheit hat. Vernunft ist eben der Inbegriff des Be­
wußtseins, das sich auf Wahrheit richtet - so könnte man sie
vielleicht im emphatischen Sinn definieren. Und wenn sie
nun stillgestellt, abgeschnitten, sistiert wird und ihr gesagt
wird: das, was deine eigene Idee ist, nämlich die Wahrheit,
darauf mußt du verzichten, dann wird die Vernunft aus lauter
Vernünftigkeit, um sie zur Räson zu bringen sozusagen, an
dem behindert, in dem beschnitten, was ihr eigener Begriff
eigentlich von ihr fordert. Und das ist nun tatsächlich genau
das, was in der Antinomienlehre erfolgt, und wenn die Anti­
nomienlehre darum doch nicht voll befriedigt, und wenn
Kant zu den Erwägungen übergeht, mit denen wir uns jetzt
beschäftigen, dann liegt darin im Grunde nichts anderes als
die Erinnerung, daß ein solches willkürliches Abbrechen, ein
in der Bestimmung der Wahrheit einen Block setzen, 104 dem

91
Begriff der Vernunft, die in sich die Idee der Wahrheit als
eines Absoluten meint, eigentlich nicht angemessen ist. Des­
halb, meine Damen und Herren, meine ich, müssen wir also
gerade diese - bei Kant übrigens wiederholt vorkommende ­
Formulierung von dem >Hang der Natur< oder von den >Wi­
dersprüchen, in welche die Vernunft sich verwickelt<, außer­
ordentlich schwer nehmen. Das heißt, das Abbrechen im
Fortgang der Vernunft, das Kant eigentlich fordert, ist mit
ihr genau so wenig vereinbar wie auf der anderen Seite ihr
unbeschränkter Fortgang, wie er uns sehr plausibel gezeigt ·
hat, mit ihr auch unvereinbar ist, das heißt, auf Widersprüche
ftihrt. Und ich glaube, nur wenn man diese andere Seite
überhaupt des ganzen Antinomienproblems mitdenkt, nur
dann versteht man eigentlich so recht, worum es hier in die­
ser ganzen Sache geht.
Er spricht nun hier stillschweigend von dem >spekulativen
Interesse< der Vernunft dort, wo es sich um das theoretische
Interesse handelt, wobei man wohl terminologisch sagen
darf, daß bei ihm die theoretische Vernunft immer dann spe­
kulativ heißt, wenn sie über die Grenzen der Möglichkeit
hinausgeht, wenn sie also transzendent gebraucht wird; wo­
bei aber bei ihm nun der Begriff des Spekulativen durchaus
schon einen abschätzigen, einen geringschätzigen Charakter
hat, während der Begriff des Spekulativen von seinen Nach­
folgern wieder zu Ehren gebracht worden ist - und Sie kön­
nen vielleicht an dieser Stelle auch verstehen warum -, weil
die eben gesehen haben, Fichte und Hegel, daß genau jenes
Sichbescheiden, das hier Kant der Vernunft zumutet, eigent­
lich mit ihrem eigenen Begriff überhaupt nicht wirklich zu
vereinbaren ist. Er fahrt dann damit fort, daß er sagt, er wolle
»bei Seite setzen,« was » die reine Vernunft in spekulativer
Absicht« , also in Absicht auf die transzendenten Ideen, er­
reicht hätte und will statt dessen nur sich danach fragen, ob
diese letzten Bestimmungen: Gott, Freiheit und Unsterblich­
keit eigentlich von einem theoretischen Interesse überhaupt
seien oder ob sie das nicht seien. Er bringt nun hier folgende
Formulierung, die Ihnen vielleicht das zeigt, was ich Ihnen
vorhin unter dem Begriff der Hypostase der Einheit bei Kant
zu charakterisieren versucht habe: »Ich will das Glück, wel­
ches die reine Vernunft in spekulativer Absicht macht, jetzt
bei Seite setzen, und frage nur nach denen Aufgaben, deren
Auflösung ihren letzten Zweck ausmacht, sie mag diesen nun
erreichen oder nicht, und in Ansehung dessen alle andere
bloß den Wert der Mittel haben.«105 Und nun sagt er hier
einen erstaunlichen Satz, um den er sich dann später nicht
mehr kümmert: » Diese höchste Zwecke werden, nach der
Natur der Vernunft, wiederum Einheit haben müssen, um
dasjenige Interesse der Menschheit, welches keinem höheren
untergeordnet ist, vereinigt zu befördern. << 106 Sie sehen also,
daß er hier doch das Einheitsprinzip, das in der Vernunft und
damit auf der Subjektseite liegt, in Gestalt eines Postulats auf
das Absolute, auf die Dinge an sich überträgt, das heißt, im
Grunde steckt darin eben doch so etwas wie eine einheitliche
und auf einen einheitlichen Schöpferwillen zurückgehende
Weltordnung. Es ist das gewissermaßen die Nahtstelle zwi­
schen der Kautischen Philosophie und der christlichen Theo­
logie, in welche ja in ihren Schlußteilen die » Kritik der prak­
tischen Vernunft« bei Kant tatsächlich übergeht. Er sagt also,
daß die Endabsicht der Spekulation auf die » drei Gegen­
stände: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele
und das Dasein Gottes« hinausliefe, und er fügt daran nun die
sehr merkwürdige Konsequenz an, die ich Ihnen doch verle­
sen möchte: »In Ansehung aller dreien ist das bloß spekula­
tive Interesse der Vernunft nur sehr gering, und in Absicht
auf dasselbe würde wohl schwerlich eine ermüdende, mit un­
aufhörlichen Hindernissen ringende Arbeit transz[enden­
taler] Nachforschung übernommen werden, weil man von
allen Entdeckungen, die hierüber zu machen sein möchten,
doch keinen Gebrauch machen kann, der in concreto, d.i. in
der Naturforschung, seinen Nutzen bewiese. « 107
Diese Stelle ist deshalb so merkwürdig, weil sie in die Kau­
tische Philosophie, soweit sie nämlich theoretische Philo-

93
sophie ist, einen höchst eigentümlichen pragmatischen Ton
bringt, den Sie bei Kant am allerletzten erwarten werden und
der vielleicht aber sich damit zusammenreimt, daß ja die
» Kritik der reinen Vernunft« ein Motto von Bacon hat, bei
dem Sie solche Sätze wie den, den ich Ihnen eben verlesen
habe, viel eher gewärtigen würden. Es ist so, und das ist ein
bißeben paradox, daß die von Kant als theoretisch bestimmte
Sphäre, die ja bei ihm im Grunde in der »Kritik der reinen
Vernunft « definiert ist durch die theoretische Physik und
durch die Mathematik, also insgesamt durch die mathemati­
schen Naturwissenschaften, eigentlich gleichbedeutend ist
mit Praxis, in dem nun etwas engeren und beschränkten,
wirklich etwas, man muß schon sagen, spießbürgerlichen
Sinn des: >Was habe ich davon? Was kann ich damit machen?
Wie kann ich dabei in der Technik der Naturbeherrschung
fortschreiten?< - ganz ähnlich wie empirische Wissenschaft
und die Möglichkeit von Naturbeherrschung in dem »No­
vum Organum« von Bacon bestimmt sind, über das ich Sie
in diesem Zusammenhang sich zu orientieren bitte. Diese
beiden Vorstellungen von Praktizismus und Naturbeherr­
schung konvergieren, so daß also - um Ihnen das Paradox zu
zeigen - gerade die theoretische Vernunft, insoweit sie es
nämlich nur mit Naturerkenntnis zu tun hat, bei Kant an den
Maßstab der Praxis in einem gewissen Sinn gebunden ist,
nämlich in dem Sinn: >Was kann ich damit anfangen? Wie
führt mich das weiter? Was habe ich sozusagen davon?< Und
das ist, glaube ich, ganz gut, daß man auch Kant gegenüber
die Freiheit gewinnt, solche Konsequenzen sich klarzuma­
chen, die zu der höchst sonderbaren These führen - über die
man so hinwegliest, und die doch eigentlich etwas Ungeheu­
erliches ist -, daß er sagt: >Also die Existenz Gottes, die Mög­
lichkeit der Unsterblichkeit und die Freiheit, ja, da ich damit
in der Welt der Erfahrung doch nichts anfangen kann, kann
mir das ja nun vollkommen gleichgültig sein.< Diese Ansicht
setzt doch zunächst einmal sich ganz einfach darüber hinweg,
daß, wenn der Tod das Letzte ist, wenn nichts anderes ist als

94
dieses bißchen Leben, das wir da haben, und wenn wir einem
blinden Prinzip oder einem Nichtprinzip, einem Blinden
völlig ausgeliefert sind, dadurch unsere ganze Existenz einem
Maß an Sinnlosigkeit unterworfen wird, von dem ja nun ge­
rade die moderne Philosophie auch in ihren weniger strengen
Versionen einen nur allzu ausgiebigen und allzu populären
Gebrauch gemacht hat. Ich meine, die Tatsache, daß ich mit
Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nichts anfangen kann, die
kann doch mich und uns, meine Damen und Herren, nicht
darüber betrügen, daß unser ganzes Leben, jeder Augen­
blick, den wir überhaupt leben, einen vollkommen anderen
Aspekt gewinnt, je danach, ob das nun wirklich alles ist oder
ob es nicht alles ist. Und es ist kaum zu verstehen, daß ein
Denker von metaphysischem Ingenium wie Kant über dieses
doch zunächst einmal Allerelementarste sich hinweggesetzt
hat, während der böse, antimoralische und antichristliche
Nietzsche allein in dem Satz: » Doch alle Lust will Ewig­
keit« 108 genau auf dieses Moment hingewiesen hat, wie ent­
scheidend also nun wirklich von Unsterblichkeit - um es ein­
mal so auszudrücken - auch das abhängt, was sich in der Welt
hier bewegt, und wie umgekehrt, könnte man hinzufügen,
auch die Lehre von diesen Ideen verklammert ist mit dem,
was wir hier erfahren. Aber das ist nun wirklich der Nerv
dieser ganzen Kantischen Argumentation, daß diese Ideen,
weil wir mit ihnen im Sinn der Naturerkenntnis und der Na­
turbeherrschung nichts anfangen können, für uns gleichgül­
tig sind. Es gibt also bei Kant eigentlich nur auf der einen
Seite die Sphäre der Naturerkenntnis im Sinn eines hem­
mungslosen Pragmatismus: >Was kann ich damit machen?<
und auf der anderen Seite die Sphäre der Moral als die Sphäre
der absoluten Gültigkeit von Vernunftgesetzen. Aber diese
Dinge klaffen so vollkommen auseinander, daß dadurch
selbst solche doch wirklich einfachen und sich aufdrängen­
den Fragen, wie die, die ich Ihnen eben genannt habe, einfach
durch diesen Schnitt wie in einem Graben versinken und
nicht mehr sichtbar werden.

95
Meine Damen und Herren, es ist vielleicht manchem von
Ihnen schon so gegangen, daß Sie an die Philosophie nun tat­
sächlich mit der Erwartung herangegangen sind, daß Sie hof­
fen, auf solche Fragen wie: )Ist denn das nun alles?< oder: )Was
wird denn dann?< - ich meine: auf diese Fragen, die von Kant
hier als theoretisch irrelevant abgeschoben werden - Ant­
wort zu bekommen; und darin werden Sie enttäuscht. Ich
maße mir nicht an, Ihnen etwas Besseres hier zu geben, aber
ich kann Ihnen wenigstens an dieser Stelle den Mechanismus
zeigen, der dazu führt, daß Sie an dieser Stelle enttäuscht
werden: nämlich daß selbst bei Kant, als einem der Denker,
von dem Sie doch mit Recht hier nun das Äußerste erwarten,
durch diese sonderbare Aufteilung in die reine Praxis und die
reine Naturwissenschaft als reine Naturbeherrschung einfach
dieses wesentliche Interesse eskamotiert wird; daß er es gar
nicht sieht und sogar ausdrücklich sagt: >Ja Gott, soweit wir
rein theoretisch interessiert sind, geht uns das eigentlich gar
nichts an, aber für unser praktisches Verhalten brauchen
wir's, na j a, sozusagen als Arbeitshypothcse. Aber soweit
wir uns praktisch verhalten, handelt es sich ja nicht mehr um
die Erkenntnis, sondern nur noch<, wie er dann später sagt,
)Um die Frage: Was sollen wir tun?< So daß man also wirklich
an diesem Punkt, wo nun überhaupt das entscheidendste In­
teresse der Vernunft schlechterdings vorliegt, durch die Kon­
struktion einer solchen Philosophie einfach enttäuscht und
aufs Trockene gesetzt wird. Sie können vielleicht hier, wenn
Sie sich schon und mit Recht über die Philosophie beklagen,
wenigstens erkennen, durch welche Motive, durch welche
Mechanismen innerhalb der Philosophie - ich meine, Kant
und Hegel sind schließlich die Philosophie - und warum es
zu dieser Enttäuschung kommt. Und deshalb bin ich auf die­
sen Punkt so ganz besonders eingegangen, denn es ist etwas
anderes, ob man an diesen Dingen nun einfach naiv ent­
täuscht wird oder ob man selber noch über diese Enttäu­
schung reflektiert und kritisch an der Philosophie erkennt,
wieso sie nun hier wirklich einem, um in diesem theoreti-
sehen Bilde zu bleiben, Steine statt Brot gibt. Kant redet nun
ganz im Sinne des Naturwissenschaftlers deterministisch
weiter: » Der Wille mag auch frei sein,« - das heißt soviel wie:
selbst wenn der Wille frei ist - »so kann dieses doch nur die
intelligibele Ursache unseres Wollens angehen. << 1 09 Wobei die
»intelligibele Ursache unseres Wollens« ja ihrerseits wieder
schon, aber darüber haben wir bereits eingehend gesprochen,
mit dem Begriff der Freiheit unvereinbar ist. » Denn, was die
Phänomene der Äußerungen desselben, d.i. die Handlungen
betrifft, so müssen wir, nach einer unverletzlichen Grund­
maxime, ohne welche wir keine Vernunft in empirischem
Gebrauche ausüben können, sie niemals anders als alle übrige
Erscheinungen der Natur, nämlich nach unwandelbaren Ge­
setzen derselben, erklären.« 1 10 Ich möchte auch dem doch
noch etwas hinzufügen, meine Damen und Herren. Es
scheint mir nämlich hier doch in der Struktur der Erwägung,
die Kant an dieser Stelle uns vorträgt, ein mechanistisches
Moment enthalten zu sein. Er tut so wie: >Na ja, selbst wenn
ich also an irgendeiner Stelle, sei es in einer ursprünglich
freien Handlung des intelligiblen Charakters oder in der ur­
sprünglich freien Setzung Gottes, das Moment der Freiheit
hereinbringe, bleibt für das ganze Bereich der Erfahrung das
Prinzip der Kausalität ja doch lückenlos intakt.< Man könnte
doch hier zunächst einmal fragen, ob, wenn wirklich das
Prinzip der Kausalität jene Universalität beansprucht, welche
Kant ihm zugesprochen hat, dann nicht die kleinste Lücke,
die kleinste Ausnahme, die wir gezwungen wären dann zu
machen, das Ganze über den Haufen rennen würde. Wenn es
nur ein bißeben Freiheit, nur ein ganz kleines Eckchen Frei­
heit geben würde, dann bedeutet das doch eigentlich, daß die
ganze Geschichte mit der Kausalkette ein Loch hat, dann
kann ich der diese Universalität gar nicht mehr zusprechen.
Und es ist gar nicht einzusehen, warum dann nicht genauso­
gut mit Freiheit an ungezählten anderen Momenten einge­
setzt werden kann. Aber diese Frage, die doch nun zunächst
wirklich eine Frage der Erkenntnis oder, wie er es nennt, der

97
Spekulation wäre, die wird hier einfach so vom Tisch herun­
tergefegt, indem er sagt: >Die Kausalität bleibt ja doch im
Reich der Erscheinungen in Geltung, auch wenn irgendwo ­
fern in der Türkei, wo die Völker auf einander schlagen111 -
im Absoluten, so ein Moment von Freiheit sich finden sollte.<
Nun, die moderne Naturwissenschaft scheint ja genau an der
Stelle Kant sozusagen die Quittung erteilt zu haben für dieses
sonderbare Verfahren, indem sie ihm nun tatsächlich gezeigt
hat, daß gerade im Bereich der fortschreitenden Naturer­
kenntnis, also genau dort, wo er die Kausalität als schlech­
terdings geltend supponiert hat, eben dieser Begriff der uni­
versalen Kausalität in der üblichen Weise gar nicht mehr
gilt.
Über die Gleichgültigkeit des spekulativen Interesses, die
Kant behauptet, habe ich Ihnen bereits einiges gesagt; und ich
habe Ihnen dazu auch bereits gesagt, daß, ganz gleichgültig
wie wir handeln, nichts ftir uns wichtiger ist, als eben jene
Ideen, von denen Kant behauptet, daß sie wichtig seien nur
ftir unser Handeln. Unter Umständen können sie zum Bei­
spiel die Konsequenz haben, daß wir gar nicht mehr handeln,
daß der Begriff des Handeins uns dann überhaupt nicht mehr
interessiert, wie es etwa bei Mönchen in der verschiedensten
Richtung, bei quietistischen Richtungen und auch in der
Schopenhauerschen Philosophie der Fall ist. Also das sind
Dinge, die so gar nicht mehr zu halten sind. Kant gibt dann
weiter an: » Es mag zweitens auch die geistige Natur der Seele
[ . . . ] eingesehen werden können, « - und in dem Paralogis­
men-Kapitel der » Kritik der reinen Vernunft « hat er ja nun
gerade das sehr bezweifelt, daß das möglich ist - » so kann
darau[s] doch, [ . . . ] in Ansehung der Erscheinungen dieses
Lebens,« 112 und so weiter, nicht irgendwie eine bestimmte
Folgerung gezogen werden, nämlich eben deshalb, weil ja
die Seele, soweit sie Gegenstand unserer Erkenntnis ist, sel­
ber auch ein Stück der raumzeitlichen Welt ist, in die raum­
zeitliche Welt verflochten ist, und deshalb als ein Absolutes
nicht gedacht werden kann. Nun könnte man aber doch sa-
gen, es macht einen ungeheueren Unterschied, etwa auch ftir
die theoretischen Aussagen über eine Möglichkeit von Un­
sterblichkeit, ob wir nun zu der Einsicht kommen, daß
überhaupt die Vorstellung der Seele eine bloße, eine Art Hy­
postase ist, daß wir bloß die Vereinheitlichung, die begriffli­
che Vereinheitlichung von Phänomenen absolut setzen, oder
ob wir dazu kommen, daß eine solche Einheit ihrerseits die
notwendige Bedingung der Mannigfaltigkeit des Seelischen
selber ist. Von der theoretischen Bestimmung dessen, was
Seele heißt, hängen, mit anderen Worten, eben doch diese
sogenannten metaphysischen Fragen sehr entscheidend ab,
und es herrscht hier gar nicht jene Gleichgültigkeit zwischen
den Ideen und der Theorie, diese Gleichgültigkeit von beiden
Seiten her, die Kant unterstellt .
Und schließlich sagt er dann noch mit Richtung auf Gott,
daß man sich zwar aus einer solchen Idee wie der der » höch­
sten Intelligenz«, wie er es etwas schamhaft ausdrückt, >das
Zweckmäßige in der Welteinrichtung und Ordnung im all­
gemeinen begreiflich machen könnte, aber keineswegs eine
besondere Anstalt und Ordnung daraus ableiten oder, wo sie
nicht wahrgenommen wird, darauf kühnlich schließen
könnte.<113 Nun, diese dritte Annahme ist eine sehr legitime
Kritik, die aber hier außer Betracht bleiben kann, weil sie sich
wirklich gegen eine sehr beschränkte Form des Rationalis­
mus richtet, wie er sie vor allem in der sogenannten Wolffi­
schen Philosophie, also in der schulmäßigen, systematischen
Zurichtung des Leibnizschen Rationalismus vorgefunden
hat, wo nun wirklich aus der Annahme der Zentralmonade
und der höchsten Intelligenz die Zweckmäßigkeit aller mög­
lichen Einrichtungen der Natur ftir die Menschen ganz un­
mittelbar und naiv und beschränkt abgeleitet worden ist; so,
wie denn tatsächlich bei Wolff der Satz sich findet: >daß
nachts der Mond scheint, damit die Menschen es in der Nacht
nicht so dunkel haben.< 1 14 Wenn also derartige Dinge hier ab­
gewehrt sind, dann ist das selbstverständlich von einer gro­
ßen Evidenz und einer großen Plausibilität, aber an die Frage,

99
ob nun für die theoretische Vernunft die Existenz Gottes
gleichgültig sei, reicht das selbstverständlich nicht heran.
Wieder müssen Sie das, was hier geschehen ist, vom ter­
minus ad quem her verstehen, denn diese ganzen, wirklich
etwas sonderbaren und über wahre Abgründe hinwegtän­
delnden Ausführungen von Kant erklären sich eigentlich nur
daraus, daß er über Stock und über Stein sagen will, daß zu
unserem Wissen, also theoretisch, diese drei Kardinalsätze:
die Existenz von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nicht nö­
tig seien, mit anderen Worten, daß sie uns auch theoretisch
gar nicht so interessieren brauchten, daß sie uns aber gleich­
zeitig dringend durch unsere Vernunft empfohlen würden,
und so, sagt er nun: »wird ihre Wichtigkeit wohl eigentlich
nur das Praktische angehen müssen. « 1 15 Und da sind Sie nun
an einem der entscheidendsten Angelpunkte der Kautischen
Philosophie überhaupt: daß er nämlich die sogenannten me­
taphysischen Ideen, von denen er glaubt, daß er die für die
Theorie weder retten kann noch daß sie für die Theorie von
einer konstitutiven Bedeutung seien, eigentlich nur deshalb
einführt, weil sie Postulate der praktischen Vernunft sind.
Das heißt also: das Sittengesetz ist der Kantischen Lehre zu­
folge mir gegeben, es ist ein Faktum; ich mache die Erfah­
rung, daß ich sittlich handeln soll. Aber in dieser Erfahrung
selber ist, damit sie nicht auf Ungereimtheiten führt, enthal­
ten, daß ich auf die Existenz jener metaphysischen Entitäten
setze, so daß also, und das ist eine der großen Paradoxien der
Kantischen Philsosophie, ich nicht eigentlich um der Exi­
stenz Gottes willen frei handeln kann, sondern daß Gott nur
dazu da ist, damit ich frei handeln kann. 116 Es hat sich dieses
Verhältnis dabei vollkommen verkehrt, und die Praxis er­
langt dadurch den absoluten Primat, und das ist die eigentli­
che Rechtfertigung für die These, die ich Ihnen entwickelt
habe, daß nämlich in der Kantischen Philosophie überhaupt
der Vorrang der Praxis über die Theorie eigentlich doch herr­
sche. - Aber damit wollen wir dann in der nächsten Stunde
fortfahren. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und
wünsche Ihnen schöne Ferien.
7· VORLESUNG
I 8. 6. 1 963

Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen!


Ich hoffe, daß jetzt dieses Semester ohne irgendwelche
Unterbrechungen in einer sehr konzentrierten Arbeit zu
Ende geht. An mir soll es jedenfalls nicht fehlen. Ich glaube,
es ist das Beste - nachdem nun die Pfingstferien dazwischen
liegen, und ich eine Stunde zu meinem größten Bedauern
dann doch ausfallen lassen mußte, wegen einer Verpflich­
tung, die von langer Hand geplant war1 1 7 -, wenn ich, um
anzuknüpfen, aber gleichzeitig doch nicht wiederzukäuen,
diese Stunde zunächst einmal dazu benutze, Ihnen noch ein­
mal - oder nicht noch einmal, sondern prinzipiell - die Kon­
struktion der Kautischen Moralphilosophie klar zu machen
in dem Sinn, in dem ich sie hier interpretieren möchte, und
mich dabei gleichzeitig zu beziehen auf den Text aus der >Me­
thodenlehre<, den wir angefangen haben zu interpretieren,
aber noch nicht interpretiert haben - also sozusagen ein Ko­
lumbus-Ei zu produzieren, nämlich gleichzeitig das noch
einmal unter einem anderen Gesichtspunkt darzustellen, wo­
mit wir uns abgegeben haben, und doch dabei weiterzuge­
hen. Ich möchte Sie zunächst daran erinnern, daß die drei
sogenannten Kardinalsätze, von denen Kant als den eigentli­
chen Kardinalsätzen der Ethik redet, sind: die Behauptung der
Freiheit des Willens, die der Unsterblichkeit der Seele und die
des Daseins Gottes. Diese drei Sätze haben ihre entschei­
dende Bedeutung Kant zufolge nicht in der theoretischen
Philosophie, mit anderen Worten: nicht in der Erkenntnis
dessen, was ist, sondern in der praktischen Philosophie. Das
heißt, sie sind der Kautischen Lehre zufolge stringent ver­
bunden, notwendig verbunden mit der Frage: >Was wir tun
sollen?< und sind überhaupt nur in dem Bezirk dessen, was
wir tun sollen, wirklich zu begründen und zu begreifen. Ich
habe Ihnen in der letzten Stunde ziemlich eingehend entwik­
kelt, daß die Abtrennung dieser Frage von der theoretischen

IOI
Einsicht mir sehr gewaltsam erscheint, das heißt, daß der
Kantische Satz, daß kein theoretisches Interesse an diesen
Sätzen bestünde, doch wohl nicht gerade sehr zwingend ist,
denn wenn etwas ftir einen Menschen wichtig ist in seiner
eigenen Existenz, ganz unabhängig davon, was er tut, dann
ist es ja nun ganz gewiß die Frage, ob mit dem Tode alles zu
Ende ist oder nicht. Aber ich möchte diesen ganzen Komplex
jetzt nicht noch einmal wiederholen, sondern Sie nur bitten,
sich noch einmal zu erinnern, daß ich diese Unterscheidung
in der letzten Stunde oder einer der letzten Stunden kritisiert
hatte. Kant sagt, daran werden Sie sich erinnern, daß das
theoretische Interesse an diesen Sätzen sehr gering sei. Ich
möchte nun doch versuchen, auch diese Behauptung von
Kant vielleicht etwas loyaler zu interpretieren, als ich es in der
letzten Stunde getan habe. Man kann diesen Satz, daß das
theoretische Interesse oder das spekulative Interesse an diesen
drei Kardinalsätzen gering sei, vielleicht so interpretieren,
daß zwischen diesen Sätzen und der wissenschaftlichen Er­
fahrung und auch den Grundlagen der wissenschaftlichen
Erfahrung kein Zusammenhang eigentlich besteht. Das In­
teresse bezieht sich hier also einfach darauf, daß diese Sätze
sich dem Zusammenhang der theoretischen Erkenntnis ent­
ziehen sollen, daß es ftir uns tatsächlich gleichgültig sein soll,
zu wissen, wie es um diese Dinge bestellt ist. Wozu die For­
mulierung von Kant verführt, das kann man zwar in einen
gewissen Zusammenhang mit dem Tenor der Kantischen
Philosophie bringen, nämlich mit dem Vorrang der Praxis,
dem also die Erkenntnis, die zu keiner Konsequenz fUhrt,
eitel dünkt. Aber wahrscheinlich würde Kant doch nicht so
rigoros gerade zu diesem Punkt geredet haben, wie ich es
vielleicht ein bißeben allzu pointiert in der letzten Stunde Ih­
nen dargestellt hatte, sondern es soll dabei einfach gesagt
sein, daß die theoretische Vernunft, also die Naturerkenntnis
an diesen Sätzen relativ desinteressiert sei, weil sie doch keine
Hoffnung hat, sie zu ergründen. Es steckt so irgendwie in
dieser Kantischen Struktur- von der wir hier geredet haben -

102
auch das, daß man sich um eitle Fragen nicht bekümmern
soll, daß man also eigentlich sein Interesse nicht solchen Fra­
gen zuwenden soll, die von vornherein sich in dem Bereich
dessen, in dem man sie stellt, als unlösbar darstellen. Ich halte
diesen Gedankengang für im Grunde sehr problematisch. Er
ist es ja eigentlich, der dann im Lauf der Entwicklung der
neueren Philosophie dazu geführt hat, daß eigentlich immer
mehr von den menschenwürdigen Fragen, von den Fragen,
um derentwillen man eigentlich philosophiert, aus der Philo­
sophie ausgeschieden worden sind. Und während auf diese
Weise - wenn Sie so wollen - die Verwissenschaftlichung der
Philosophie immer weiter fortgeschritten ist, hat die Philo­
sophie, um den Ausdruck von Kant aufzunehmen, dadurch
an >Interesse< selber immer mehr verloren, das heißt: sie wei­
gert sich immer mehr, in diesen Richtungen überhaupt etwas
über die Dinge zu sagen und über die Dinge zu urteilen, von
denen man erwartet, daß die Philosophie zu ihnen etwas zu
sagen hätte. Nun bezieht sich diese Abwehr der drei ent­
scheidenden Sätze, der drei Kardinalsätze, sowohl auf die
Erfahrung selbst wie auf die konstitutiven Formen, die sie
organisieren; mit anderen Worten: nicht nur kann uns unsere
Erfahrung Kant zufolge keine Antwort auf diese Fragen ge­
ben, sondern auch in unserem kategorialen Apparat, also als
Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, kommen sie
ihm zufolge nicht wirklich vor.
Das involviert nun abermals eine gewisse Schwierigkeit,
nämlich die, daß auch die praktische Philosophie, indem sie
sich auf unser reales Handeln bezieht, das immer mit Erfah­
rungsmaterial zu tun hat, nicht von Erfahrung absolut ge­
trennt werden kann. Sie alle werden zunächst einmal auch
hier den Einwand auf den Lippen haben: >Ja, wenn überhaupt
etwas mit Erfahrung zu tun hat, dann ist es doch das, was
mein eigenes Handeln betrifft< - und Sie alle wissen ja, daß
man auch im Bereich des praktischen Verhaltens, in dem
Sinn, in dem man überhaupt so etwas wie eine Unterschei­
dung wie die von Gut und Böse macht, von Erfahrung redet.

1 03
Das heißt, wenn man unerfahren ist, wie man so sagt, so
kann man alle möglichen Dinge tun, die sich als recht be­
denklich herausstellen, während es zumindest die fable con­
venue ist, daß man, wenn man also erfahren ist und alle Inte­
grationen übersieht, dann auch richtiger - selbst in einem
höheren Sinn - soll handeln können. Ich lasse dahingestellt,
ob an dieser populären Weisheit etwas dran ist oder nicht, ich
erinnere Sie nur daran, daß Sie sehen, daß an dieser Stelle wie
an vielen anderen Stellen auch die Begründung der Moral­
philosophie bei Kant uns so einiges zumutet. Aber Kant wäre
gegen diese Argumentation. Doch, man könnte etwa den­
ken, genauso wie es Form und Inhalt der Erkenntnis gibt, die
ja Kant unterscheidet, so gibt es auch Form und Inhalt im
praktischen Verhalten. Das heißt, ich kann überhaupt keine
Handlung mir vorstellen, die nicht, indem sie Handlung
wird, sich auf empirisch Existierendes, seien es Dinge oder
Menschen, in irgendeiner Weise bezieht. Ich meine, noch die
edelste, erhabenste Handlung ist nur möglich dadurch, daß
sie, wenn sie vielleicht ein Opfer des Menschen ist, der sie
vollbringt, ein Opfer eben seiner eigenen empirischen Person
voraussetzt; und die schlechteste Handlung involviert ebenso
Empirisches. Das heißt, wenn irgendjemand einen Mord be­
gehen will, dann braucht er dazu erstens ein Objekt, das er
umbringen kann, und zweitens einen Hammer oder sonst ir­
gend etwas, womit er das macht, dessen er sich dabei be­
dient. Also mit der Trennung von Form und Inhalt, mit die­
ser absoluten Trennung scheint es zunächst einmal doch auch
im praktischen Bereich genauso wenig weit her zu sein wie
im theoretischen, wo auch gerade Kant zufolge die Formen
der Erkenntnis ja nur so weit gelten, wie sie sich auf Inhalt,
also aufErfahrungsmaterial, auflebendige Empfindung eben
beziehen. Es gibt - um es etwas weniger populär auszudrük­
ken und etwas weniger salopp und unverantwortlich, als ich
das eben getan habe - auch Form und Inhalt des Handelns.
Man kann von Form und Inhalt des moralischen Handeins
auch in dem viel ernsthafteren Sinn sprechen, als es ja auch

1 04
hier den Unterschied gibt zwischen der allgemeinen Gesetz­
lichkeit, zwischen den allgemeinen, wie immer auch proble­
matischen Normen, nach denen wir handeln, und der spezifi­
schen Handlung, die erfolgt und die dann, eben dadurch, daß
sie überhaupt zu einer spezifischen Handlung wird, notwen­
dig auch das Prinzip von Individuation ist, also irgendwel­
ches konkrete Erfahrungsmaterial in sich einbegreift. Wenn
diese Erwägung zuträfe, dann wäre der von Kant hier ge­
machte Unterschied von spekulativem oder theoretischem
und praktischem Interesse gar nicht radikal. Und in diesem
Zusammenhang ist es vielleicht gut, wenn ich Sie daran erin­
nere, daß Kant auf diese radikale Trennung auch nur wirklich
dadurch hinauskommen kann, daß er auf Biegen oder Bre­
chen das theoretische Interesse an jenen Kardinalsätzen ein­
fach einmal abgestritten hat. Es ist immer gut, wenn man
eine solche aporetische Situation zunächst einmal konstru­
iert, also wenn man sich klar darüber wird, was .die Schwie­
rigkeiten sind auf der einen Seite und was das thema pro­
bandum ist, also was der Kant eigentlich hier herausstellen,
was er dabei eigentlich beweisen will. Ich glaube, das beides
haben Sie nach dem, was ich Ihnen jetzt kurz angedeutet
habe, doch wohl verstanden.
Das, worauf es nun ankommt, ist, daß Sie verstehen, wie
in dieser ganzen Konstellation der Kant sich hilft, und diese
Hilfskonstruktion ist nun die, daß Praxis - und Sie müssen
hier immer bedenken, daß Kant, wenn er von der Kritik der
praktischen Vernunft redet, einen ungeheuer emphatischen
und belasteten Begriff von Praxis hat -, daß die praktische
Vernunft bei ihm so viel heißt wie die praktische reine Ver­
nunft, also das apriorische Vermögen über Richtig und
Falsch, über Gut und Böse zu urteilen und nicht das, was wir
so meinen, wenn wir davon reden: es ist einer ein praktischer
oder es ist einer ein unpraktischer Mensch. In diesem, sage
ich, äußerst belasteten Sinn, den das Wort Praxis und prak­
tisch bei Kant nun einmal hat, ist bei ihm von vornherein
gefordert, gewissermaßen stipuliert, festgesetzt, daß diese

1 05
Art von Praxis mit Erfahrung nichts zu tun haben soll. Der
Ausschluß der Erfahrung, von dem wir hier gesprochen ha­
ben und dessen Schwierigkeiten ich Ihnen gezeigt habe, wird
von ihm also in der philosophischen Konstruktion so ge­
handhabt, daß er, wenn er jetzt hier zugegen wäre und es
nicht verschmähen würde, auf derartige Dinge Rede und
Antwort zu stehen - und ich glaube, gerade der Kant würde
es nicht verschmähen -, uns dann wahrscheinlich darauf sa­
gen würde: >Ja, das, was Ihr hier Praxis nennt, das ist eigent­
lich alles überhaupt nicht das, was ich mit Praxis meine, son­
dern dieser emphatische Begriff von Praxis, von dem ich
eben spreche - ja, lassen Sie mich einmal ganz schlicht sagen
-, der wird gerade dadurch definiert, daß er von der Erfah­
rung schlechterdings unabhängig sein soll.< Und ich glaube,
es ist, damit Sie diese ganze Problematik, mit der wir uns ja
nun i n diesem Semester wesentlich abgeben, verstehen,
wichtig, daß Sie sich einmal kurz Rechenschaft darüber abge­
ben, was diese, wenn Sie so wollen, Unterbewertung der Er­
fahrung, wie sie sich übrigens bei Kant auch im Bereich der
theoretischen Vernunft in einem gewissen Sinn nachweisen
läßt, eigentlich besagt, das heißt, welchen Sinn sie in der
Konstruktion der Kautischen Philosophie hat. Das Material,
die Empfindungen, alles das also, was mir irgendwie von
außen zukommt, was nicht ich selber in dem äußerst nach­
drücklichen Sinn meiner eigenen Vernunft bin, das ist, im
Grunde schon bei Kant, wie es dann viel schroffer und radi­
kaler von seinem unmittelbaren Nachfolger Fichte formu­
liert worden ist, eigentlich nur ein Anstoß. Die Handlung
selbst soll rein aus meiner Vorstellung heraus erfolgen und
soll unabhängig sein von irgendwelchem Material, an das sie
gebunden ist, und nur, soweit sie davon unabhängig ist, so­
weit sie also meine eigene Tat ist, die an nichts gebunden ist,
was ich nicht selber als denkendes, vernünftiges Wesen be­
stimme, nur insoweit kann ich sie als eine praktische denken.
Gesellschaftlich gesprochen bedeutet das soviel wie - und das
hilft Ihnen vielleicht, diese zunächst für Sie etwas abstrus

! 06
klingenden Erwägungen doch ein bißchen zu konkretisieren
-, daß aus der Idee der Befreiung des bürgerlichen Individu­
ums - und ich gebe nun das Stichwort der Autonomie - so
etwas wie ein höchstes metaphysisches Prinzip gemacht
wird. Es ist so wie wenn der Kampf der Menschheit des aus­
gehenden 1 8. Jahrhunderts um die bürgerliche Befreiung von
der Bevormundung in der Weise von der Philosophie reflek­
tiert würde, als ob nun tatsächlich diese Freiheit, diese herzu­
stellende Freiheit selber überhaupt das schlechterdings höch­
ste Prinzip wäre, in dem die Philosophie eigentlich terminiert
und das gleichgesetzt wird mit der Vernunft. Sie können den
Kant und die Kantische praktische Philosophie zumal nur
dann ganz richtig verstehen, wenn Sie sich darüber klar sind,
daß bei ihm Freiheit und Vernunft eigentlich dasselbe sind.
Auch die ganze Konstruktion des kategorischen Imperativs,
über die wir dann vielleicht im Zusammenhang heute doch
auch noch einiges sagen können, ist nur dann zu verstehen,
wenn diese höchst merkwürdige Verkoppelung von Freiheit
und Gesetzlichkeit, die in dem kategorischen Imperativ
steckt, dadurch abgeleitet wird, daß eben das Prinzip der
Freiheit nichts anderes sein soll als Vernunft, als reine Ver­
nunft, die ihre Begrenzung nicht findet an irgend etwas, was
ihr äußerlich, was ihr fremd, was nicht selbst vernünftig
wäre. Der Kern des Kantischen Gedankens ist dabei der, daß
eigentlich alles, was ich nicht als reines Vernunftwesen er­
kenne, und alle Gesetzmäßigkeit, die ich nicht aus meiner
eigenen Vernunft schöpfe, dadurch, daß sie mich an etwas
bindet, was nicht in diesem emphatischen Sinn ich selber bin,
sondern was heteronom ist, wovon ich mich abhängig ma­
che, eigentlich das Prinzip der Freiheit unterbindet. Der so­
genannte Kantische Rigorismus, also die ungeheuere und fast
unmenschliche Härte und Strenge, mit der Kant aus seiner
Moralphilosophie das Glück und alles das ausschließt, was in
der philosophischen Arbeit nach ihm seinerseits als ein we­
sentliches Moment der Praxis anerkannt worden ist, ge­
schieht bei ihm eigentlich nur um der Freiheit willen. Sie ha-

1 07
ben diese sehr merkwürdige und paradoxe Konstruktion bei
Kant, daß in einem gewissen Sinn die beiden einander wider­
sprechenden Momente der Moralphilosophie, nämlich die
Idee der Freiheit und die Idee der, ja man muß schon sagen,
der Unterdrückung, vor allem der Unterdrückung eines jeg­
lichen natürlichen Impulses - die Unterdrückung der Nei­
gung, die Unterdrückung der Sympathie - eigentlich beide
doch wieder nur um der Freiheit willen erfolgen; der ganze
Bereich des Triebs und der Interessen, all das wird unter­
drückt und zwar mit einer theoretisch sehr grausamen Härte
von Kant unterdrückt, eigentlich nur deshalb, damit ich
mich nicht von etwas soll abhängig machen, was mit dem
Prinzip meiner eigenen Freiheit, meiner eigenen Vernunft
unvereinbar ist. Ich mache Sie en passaut darauf aufmerk­
sam, daß in dieser Konstruktion eigentlich bereits die Vor­
aussetzung drinsteckt, daß wir in einer Welt leben, in der die
Erftillung meiner natürlichen Impulse oder was immer man
so nennen mag: des Bedürfnisses nach Glück, der Neigung,
alles dessen, mit der Vernunft als einem allgemeinen Prinzip
unvereinbar ist - ohne daß bei ihm die Frage so recht sich
stellt, ob denn die absolute Verwirklichung der Vernunft
nicht so etwas wie die Erfüllung genau alles dessen hieße, was
bei ihm unterdrückt wird. Und nur in einer höchst indirekten
und verklausulierten Weise kommt dieses Problem bei Kant
vor, nämlich eben in der Konzeption der Unsterblichkeit, 1 18
welche ja einer der drei Kardinalsätze ist, weil Kant eben
doch dann zugesteht, daß die Welt die Hölle wäre, 1 1 9 wenn es
nicht doch eben, und wäre es auch in der Transzendenz, so
etwas wie eine Einheit der Vernunft und des von ihr zu unter­
drückenden Triebes gäbe, wenn also nicht doch in einem ab­
soluten Sinn der Dualismus verschwände, in dem bei Kant
selbst die antagonistische, die dualistische Verfassung der
Welt, in der wir leben, sich spiegelt. Also wenn wir uns als
handelnde Menschen irgend von dem Material abhängig ma­
chen, wenn die Handlung nicht rein von meiner Vorstellung,
und zwar meiner Vorstellung von dem allgemeinen Gesetz

ro8
abhängt, so ist die Handlung eigentlich gar nicht mehr prak­
tisch, sie ist nicht mehr frei. Und durch diese Konstruktion
ist bei Kant die Sphäre der Moral überhaupt gesetzt als die
Sphäre der Freiheit, weil sie nämlich sonst im Grunde in die
bloße Natur gehörte, in der ja, wie Sie ausführlich gehört
haben, Kant zufolge nichts anderes gilt als die Kausalität, in
der solche Freiheit nicht ist und die deshalb bloß zur theoreti­
schen Vernunft und nicht zur reinen praktischen Vernunft
gehört. Dieses vorausgeschickt, meine Damen und Herren,
werden Sie vielleicht nun einen Satz aus dem Abschnitt, den
wir hier behandeln: » Von dem letzten Zwecke des reinen Ge­
brauchs unserer Vernunft «, aus dem I . Abschnitt des >Ka­
nons der reinen Vernunft<, besser verstehen, der Ihnen, wenn
Sie nicht all das mitdenken, was ich Ihnen jetzt auseinander­
gesetzt habe, vielleicht doch gewalttätig vorkäme, der aber,
so bilde ich mir ein, nach dem, was wir uns nun erarbeitet
haben, vielleicht für Sie ganz durchsichtig sein wird. »Prak­
tisch« - heißt es da - » ist alles, was durch Freiheit möglich
ist . « 120 Wenn Sie all das mitdenken, was ich Ihnen gesagt
habe, dann ist Ihnen dieser Satz geradezu als ein"!Grundsatz
der Karrtischen Philosophie überhaupt verständlich. Nun
gibt es auch hierbei natürlich gewisse Schwierigkeiten, logi­
sche Schwierigkeiten, denn bei Kant ist es ja so, daß auch das
Material der theoretischen Vernunft, soweit es bloßes Mate­
rial ist, eigentlich ganz unbestimmt sein soll, es wird ja be­
stimmt ebenfalls nur durch mich als ein denkendes Wesen,
nämlich durch den Apparat der Kategorie. Man kann diesen
Widerspruch selber nun eigentlich nur aus der Spannung er­
klären, von der ich Ihnen wiederholt gehandelt habe, näm­
lich der Spannung zwischen der aufklärerischen Intention
von Kant, die den Bereich der Natur möglichst weit aus­
dehnt, und der wiederherstellenden Intention in Kant, die
versuchen möchte, dem Moment an der Aufklärung Einhalt
zu gebieten, in der dann wirklich nichts anderes als blinde
Natur und blinde Naturbeherrschung übrig bliebe.
Das ganze Problem, dem sich nun die Karrtische Moralphi-

1 09
losophie gegenübersieht, ist das, jene drei Kardinalsätze oder
Prinzipien, von denen ich Ihnen zu Ausgang der Stunde ge­
sprochen habe, ihrerseits aus der praktischen Philosophie zu
erweisen. Ich mache Sie dabei darauf aufmerksam, daß sich
hier geschichtlich eine Tendenz fortsetzt, die schon ihr gro­
ßes Vorspiel hatte in Descartes, nämlich, daß das Absolute
selber, also das Dasein Gottes, nicht etwa an den Anfang der
ersten Philosophie gerückt wird, sondern daß es aus der er­
sten Philosophie seinerseits abgeleitet, daß Gott eigentlich
bewiesen werden soll; mit der höchst merkwürdigen und für
ein unbefangenes Denken außerordentlich paradoxalen Kon­
sequenz, daß das, was nun wirklich das :n:Qon:ov wäre, was
nun wirklich das Erste wäre im Sinne der Hierarchie der
Ideen, daß das nun zu einem Abgeleiteten und zu einem Se­
kundären gemacht wird. 1 2 1 Wenn Sie hier nun einmal wirk­
lich reflektieren auf das, wie ich es vorhin angedeutet habe,
was hinter diesem Vernunftbegriff von Kant eigentlich
steckt, nämlich die Freiheit der realen handelnden Menschen,
dann kann man wohl sagen, daß in dieser gesamten Philo­
sophie eigentlich die Existenz der Gottheit von dem mensch­
lichen Prinzip, nämlich dem Prinzip der menschlichen
Vernunft eigentlich abhängig gemacht wird. Und seit Philo­
sophie überhaupt sich damit beschäftigt, ihre obersten meta­
physischen Prinzipien zu beweisen, also der Vernunft kom­
mensurabel zu machen, so wie das bereits in der klassischen
Thomistischen Lehre von der >analogia entis< der Fall gewe­
sen ist, seit der Zeit steckt eigentlich in der Philosophie ten­
denziell schon dieses drin, daß sie ihr eigenes Erstes und Ab­
solutes wieder von einem abhängig macht, das nach dem
Sinn dieses Ersten und Absoluten eigentlich ein Sekundäres
wäre, denn diese Vernunft ist ja ihrerseits wieder gar nicht zu
denken, es sei denn, daß man sie ebenfalls sich vorstellt als ein
von den endlichen Menschen Abstrahiertes undjeweils in ih­
nen Verkörpertes. Sie können unter diesem Aspekt nun das
Programm verstehen, das Kant sich setzt, daß, wenn » diese
drei Kardinalsätze uns zum Wissen gar nicht nötig sind, und

I IO
uns gleichwohl durch unsere Vernunft dringend empfohlen
werden: so wird ihre Wichtigkeit wohl eigentlich nur das
Praktische angehen [können]. « 1 22 Dieser merkwürdige Satz,
..
daß >ihre Wichtigkeit nur das Praktische wird angehen kön­
nen<, besagt eigentlich gar nichts anderes, wenn das auch
nicht so unverblümt ausgedrückt wird, wie ich es hier tue, als
daß sie, weil sie eben für die praktische Vernunft wichtig
sind, aus der praktischen Vernunft selbst folgen oder, wie es
an einer späteren Stelle desselben Kapitels heißt: daß sie aus
ihr sollen »bewiesen werden« können. 1 23 Nun kommt aber
Kant jetzt wirklich in eine schrecklich schwierige und unan­
genehme Situation, wie es uns Philosophen ja überhaupt zu
gehen pflegt, wenn wir uns mit derartigen Dingen herum­
schlagen. Erinnern Sie sich daran, daß er diese drei Kardinal­
sätze oder Prinzipien ja nicht aus reinem Denken erschließen
darf, er darf sie nicht ableiten - und hier müssen Sie nun doch
eine Sekunde an den Aufbau des Kautischen Systems sich
erinnern, das ja in seinem negativen Teil wesentlich die Kri­
tik der Leibnizschen und Wolffischen Philosophie gewesen
ist, die sich anheischig gemacht hat, aus reinem Denken, also
aus den reinen Prinzipien der Vernunft, die Existenz gerade
solcher Entitäten wie Gott, Freiheit und Unsterblichkeit
schließlich zu folgern. Nun hat Kant in dem ganzen negati­
ven Teil der »Kritik der reinen Vernunft« mit größter Um­
ständlichkeit nachgewiesen, daß das nicht möglich ist, daß
man dabei auf Widersprüche stößt. Und den entscheidenden
Widerspruch, nämlich den, der sich auf die Idee der Freiheit
bezieht, habe ich Ihnen ja anband der dritten Antinomie in
der »Kritik der reinen Vernunft« eingehend dargestellt. Auf
der anderen Seite aber dürfen diese Prinzipien - und das be­
darf kaum mehr eines Wortes - auch nicht aus der Erfahrung
entnommen werden, denn es handelt sich ja hier um absolute
Prinzipien, und diese absoluten und schlechterdings gültigen
Prinzipien aus der Erfahrung abzuleiten, würde ja nichts an­
deres heißen, als sie, die als schlechthin dauernd, ewig, not­
wendig und beständig vorgestellt werden, von den zufälligen

III
und selber bedingten Erfahrungen abhängig zu machen, was
im Sinn der ganzen Tradition, in welche diese Philosophie
fällt, und auch im Sinne der Kautischen Philosophie selber
eine durchaus paradoxale Zumutung wäre, der Kant also un­
ter gar keinen Umständen sich stellen darf. Um die Konstruk­
tion der Ethik bei Kant als eine aporetische Konstruktion,
also als eine Konstruktion, die durch die Schwierigkeiten ih­
rer Ausgangssituation gezeitigt wird, sich klar zu machen,
müssen Sie versuchen zu begreifen, wie Kant sich hier aus der
Affäre zieht. Er gewinnt nämlich das Prinzip der Ethik so ­
und hier möchte ich vordeutend sagen, dieses Prinzip der
Ethik ist ja seinerseits gar nichts anderes als das Sittengesetz,
also der kategorische Imperativ -, daß er es weder eigentlich
aus der Vernunft ableitet, denn sonst würde er ja wirklich
wieder als Rationalist sich verhalten, noch es aus der Erfah­
rung nimmt, sondern daß er sagt: >Das Sittengesetz ist eine
Tatsache, das Sittengesetz ist ein Gegebenes.<124 Und diese
Wendung ist eigentlich das entscheidende Scharnier. Ich habe
schon über eine Reihe solcher Scharnierpunkte bei Kant mit
Ihnen gesprochen, aber das ist doch wohl das Allerwichtig­
ste, das ist der entscheidende Angelpunkt in der ganzen Kon­
struktion der Moralphilosophie von Kant; und Sie können
die » Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« und auch die
» Kritik der praktischen Vernunft « überhaupt nur dann ver­
stehen, wenn Sie zunächst einmal sich klar machen können,
warum er es als gegeben betrachten muß und mit welchem
Rechtsgrund er es als gegeben tatsächlich ansieht. Die wei­
tere Konstruktion ist die, daß, wenn das Sittengesetz selber
gegeben ist, das heißt: wenn es schlechterdings da ist, jeder
Frage nach seinem Ursprung, seiner Herkunft sich über­
haupt entzieht, sondern wirklich ein Letztes ist, auf das alle
Erkenntnis zu rekurrieren hat, so bedarf es, um gültig zu
sein, jener drei Prinzipien oder jener drei Entitäten: Gott,
Freiheit und Unsterblichkeit. Und das ist eben genau jener
Punkt, bei dem ich Sie schon an Descartes erinnert habe, wo
ja ebenfalls Gott bewiesen wird wesentlich aus der Idee der

1 12
logischen Einstimmigkeit der Vernunft, weil es nämlich mit
dieser logischen Einstimmigkeit der Vernunft unvereinbar
sein soll, wenn wir betrogen würden - und dazu bedarf es
eben Gottes. Das ist natürlich nur eine Seite der sehr kompli­
zierten Konstruktion des göttlichen Prinzips bei Descartes,
der an dieser Stelle auch noch ein anderes Traditionelles,
nämlich den ontologischen Gottesbeweis mit aufgenommen
hat.125 Aber jedenfalls ist das der Punkt, an dem dann Kant
doch wieder in die rationalistische Tradition der Philosophie
unmittelbar hineinfällt. Wenn wirklich das Sittengesetz ge­
geben ist, wenn es also wirklich eine eindeutige absolute Nö­
tigung ist, >so zu handeln, daß das Prinzip oder der oberste
Grundsatz meines Handeins zugleich jederzeit zum Grund­
satz einer allgemeinen Gesetzgebung soll gemacht werden
können<126, dann liegt darin tatsächlich - und ich möchte, daß
Sie sehen, daß diese Dinge dann doch auch wieder eine sehr
starke Stringenz in sich haben, wenn man sich dieser Kauti­
schen Tradition einmal anvertraut - deshalb der Schluß auf
die Freiheit in einer sehr stringenten Weise, weil ja diese un­
widerstehliche Gebotenheit, nach dem kategorischen Impe­
rativ zu handeln, ganz sinnlos wäre, wenn ich nicht zugleich
die Möglichkeit hätte, auch tatsächlich so zu handeln, wie es
mir von diesem nun einmal gegebenen, schlechterdings da­
seienden Sittengesetz abverlangt wird. Es wäre sonst, würde
Kant sagen, tatsächlich die Existenz dieses Sittengesetzes,
wenn ich nicht die Möglichkeit hätte ihm nachzukommen,
dann ja eine dämonische, blinde Zufälligkeit.
Das Problem, ob es - und das ist ein für uns heute sehr
ernstes und naheliegendes Problem - nicht möglich wäre,
daß zwischen einem solchen Gesetz, daß zwischen der Idee
des guten und des richtigen Handeins und der Möglichkeit
ihm überhaupt nachzukommen ein wirklicher Widerspruch
herrscht, daß also diese Möglichkeit unter Umständen nicht
gegeben sein kann, dieser Horizont - wenn man Kafka ein­
mal als einen philosophischen Dichter betrachten will, einer
der Hauptgegenstände seiner Dichtung ist von dort in die

1 13
sogenannte Existentialphilosophie hineingegangen - er­
scheint in der Kautischen Theorie überhaupt nicht. Es er­
scheint nicht die Möglichkeit des Absurden: daß es zwar die
Idee des Guten und die Verpflichtung, das Gute zu tun und
das Gesetz zu erfüllen, gibt, daß aber gleichzeitig den Men­
schen die Möglichkeit, es zu erfüllen, etwa durch die Totali­
tät des gesellschaftlichen Zusammenhangs, in den sie einge­
spannt sind, verweigert ist. Und wenn Kant sagt: >Ich muß,
damit das Sittengesetz, das da ist, erfüllt werden kann, frei
sein<, so liegt darin ein unbeschreiblicher und ein für uns
heute fast naiver Optimismus, eben der Optimismus dieses
jungen Bürgertums, wie er etwa auch in der Musik des frü­
hen Beethoven wiederzufinden ist, wo also noch dieses: >Ja,
es ist alles möglich, und wenn das Gute sein soll, dann muß
auch möglich sein, daß es sich tatsächlich verwirklicht<127 da
ist. Sie stoßen dabei ebenso auf das Großartige, Faszinierende
und man möchte fast sagen, das Begeisternde, das in dieser
Kautischen Philosophie gelebt hat, wie auch auf eben jenes
Moment der Naivetät, aufjenes Moment der Schranke, das
diese Philosophie heute findet, und Sie können hier sehen,
wie die allerernsteste Philosophie, und die Philosophie, die es
sich selbst am allerschwersten macht, eben trotzdem nun mit
der Geschichte in einen furchtbaren Konflikt gerät, der gar
nichts mit der billigen Relativierung nun etwa dieser Prinzi­
pien zu tun hat, sondern vielmehr damit, daß zwischen die­
sen Prinzipien selbst - wie also zwischen dem Prinzip der
Freiheit und dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit - sich dann
eben doch Widersprüche verstärken und reproduzieren, von
denen Kant geglaubt hat, daß er sie durch die Vereinigung
von Freiheit und Notwendigkeit im Begriff der Vernunft sel­
ber ein für allemal aus der Welt geräumt hätte. Er schließt
also ab ovo all das, die Möglichkeit aus, daß die Forderung
eines richtigen Lebens in unauflösliche Widersprüche uns
führen könnte.
Mit dieser Gegebenheit des Sittengesetzes ist es nun eine
merkwürdige Sache. Sie werden ja nun, vor allem, soweit Sie

I I4
schon ein bißeben in Philosophie und gar in Erkenntnistheo­
rie erfahren sind, wahrscheinlich alle hier den Einwand auf
den Lippen haben: >Du hast uns jetzt erzählt oder vielmehr
Du hast den Kant so interpretiert< - und glauben Sie mir, ich
habe ihn darin loyal interpretiert -, >daß das Praktische das
Verhalten ist, das reine Freiheit ist, also ein solches Verhal­
ten, das von aller Erfahrung schlechterdings unabhängig sein
soll. Ja, aber zum Teufel noch einmal, ist denn der Begriff der
Gegebenheit nicht der Erfahrungsbegriff schlechterdings,
hat nicht der ganze Empirismus, die ganze empiristische Phi­
losophie immer wieder darauf herumgeritten, daß sie aus­
geht von den Tatsachen, die mir gegeben sind, den Daten der
unmittelbaren sinnlichen Erfahrung, an die sie sich halten
will und denen gegenüber nun gerade das, was nicht gege­
ben, sondern vom Subjekt gemacht ist, was erst hergestellt
worden ist, so eine Art von Zutat sein soll?< Dieser Einwand
drängt sich Ihnen allen auf, und Sie werden also alle hier sa­
gen: >Erst wirft der Kant mit einem fürchterlichen Umstand
die ganze Erfahrung heraus und dann, indem er nun sagt: daß
ein der Erfahrung gegenüber schlechterdings transzendentes
Sittengesetz doch wieder ein bloß Gegebenes sei, schmuggelt
er sie durch die Hintertür wieder ein.< Und wenn Sie ganz
bös' sind, dann werden Sie sagen: >Na, das sind schöne Leute,
diese Philosophen, die uns mit derartigen Geschichten auf­
warten und uns darüber womöglich hinweg betrügen.< -
Meine Damen und Herren, es ist darauf allerhand zu sagen.
Es fehlt bis heute noch eine wirklich zureichende Arbeit über
den Begriff des Gegebenen bei Kant. Ich glaube, daß bei mei­
nem Kollegen Sturmfels128 einmal eine solche Arbeit im Ent­
stehen gewesen ist. Wenn ich recht unterrichtet bin, ist diese
Arbeit nicht fertig geworden. Es wäre von größter Wichtig­
keit, möchte ich hier anmerken - wenn es so etwas wie wirk­
liche Kautinterpretation gäbe, die mehr ist als bloße Philolo­
gie -, diesem Begriff der Gegebenheit einmal nachzugehen.
Schon Schopenhauer hat darauf hingewiesen, daß dieses Ge­
gebene ja nicht nur die Daten der Sinne sind, sondern daß in

115
diesem Gegebenen auch immer die Gottheit drinstecken soll,
die mir etwas gegeben haben soll.129 Also insofern hat der
Begriff der Gegebenheit selbst nicht nur eine empiristische,
sondern auch seinerseits noch eine ganz andere Wurzel. Und
ich möchte damit schließen, daß ich Sie darauf aufmerksam
mache, daß dieser Begriff der Gegebenheit hier natürlich
nicht der der sinnlichen Gegebenheit in seiner Unmittelbar­
keit ist, sondern daß es sich hier um Gegebenheit im Sinn
einer ganz anderen Ordnung handelt, ohne daß das eine Spie­
gelfechterei wäre, und ich will dann am Donnerstag zunächst
versuchen, diesen Begriff der Gegebenheit Ihnen eingehend
zu erläutern. - Ich danke Ihnen.

II6
8. VORLESUNG
20. 6. 1963

Meine Damen und Herren,


Sie erinnern sich vielleicht, daß wir in der letzten Stunde
wenigstens angefangen hatten, uns über den Begriff der Ge­
gebenheit bei Kant und dessen Mehrdeutigkeit zu unterhal­
ten und vor allem über das Problem, das sich daraus ergibt,
daß das Sittengesetz, das ja bei ihm in einer höchst allgemei­
nen Form ausgedrückt ist, als eine Gegebenheit anklingt.
Nun erinnern Sie sich vielleicht, daß ich zunächst einmal aus­
geführt hatte, daß das, was bei Kant in der Moralphilosophie
>gegeben< genannt wird, in Wahrheit gar nichts anderes ist als
die Vernunft selber und insofern der Widerpart von Erfah­
rung, obwohl ich von der Existenz oder der Gegebenheit die­
ser Vernunft nur durch Erfahrung weiß. Das ist das be­
rühmte Problem - das ja dann in der Kantischen Philosophie
immer wiederkehrt - der Aufspaltung in das zu beobach­
tende Bewußtsein, die zu beobachtende Vernunft und die be­
obachtende Vernunft; ein Problem, das erst in der nachkanti­
schen Philosophie wirklich ganz thematisch geworden ist. -
Sittlich handeln heißt bei Kant soviel wie aus reiner Vernunft
handeln. Was gemeint ist in dieser Sphäre der Gegebenheit
des Sittengesetzes und schließlich der Vernunft, läßt sich
vielleicht am besten ausdrücken in Bestimmungen der Sy­
stemstruktur als einer Art Zone der Indifferenz zwischen dem
Apriori und der Erfahrung. Es ist gemeint dieses Gegeben­
sein der Vernunft auf der einen Seite, die Gegebenheit von
Vernunft selber als eines Nicht-weiter-zu-Verfolgenden, als
eines Irreduziblen, es ist aber auf der anderen Seite eben auch
der Versuch gemeint, sie damit zu rechtfertigen, daß ich wie
in anderer Erfahrung auch dieser Vernunft und ihrer Gesetz­
mäßigkeit unmittelbar soll habhaft werden können. Es ist
also sozusagen damit - wenn Sie mir das Bild gestatten - eine
Art von Niemandsland zwischen dem Apriori und dem
Aposteriori bezeichnet, 130 und es liegt darin bereits die ganze

I I7
Thematik des nachkantischen Idealismus beschlossen, der ja
versucht hat, das Apriori und das Aposteriori in eins zu set­
zen, und der ganz konsequent ebenso versucht hat, die beiden
bei Kant voneinander getrennten Bereiche der theoretischen
und der praktischen Vernunft eben kraft ihrer gemeinsamen
Wurzel in dem, was man dann Geist genannt hat, ebenfalls in
eins zu setzen. Es steht dahinter bei Kant ein abgründiges
Problem, nämlich das des Ausweisens der Apriorität selber,
das Problem, woher ich also von der Apriorität weiß. Ein
Problem, das dadurch mit einer solchen Schwierigkeit ver­
bunden ist, weil ich ja nur durch Erfahrung, also nur durch
ein Gewahrwerden irgendeiner Form, von diesem Apriori
überhaupt wissen kann, während doch andererseits diese
Rechtsquelle des Apriori, nämlich die Erfahrung, eben dem
Apriori selber widerstreitet. Man könnte sagen, daß unter
den sehr vielen Nötigungen, die es zu einem dialektischen
Denken innerhalb der Kantischen Philosophie bereits gibt,
diese nicht die geringfügigste ist. Daß also, sage ich, auf der
einen Seite der Begriff des Apriori die Erfahrung ausschließt,
weil ja die apriorische Erkenntnis eine solche Erkenntnis ist,
die von aller Erfahrung schlechterdings unabhängig sein soll,
daß ich aber andererseits doch nur durch eine Art von Erfah­
rung, durch ein Gewahrwerden, dieses Aprioris soll habhaft
werden können. Und es ist ein Widerspruch, der eben nach
dem Verfahren der gewöhnlichen traditionellen Logik gar
nicht aufzulösen ist, so daß die Philosophie dann eigentlich
gar keinen anderen Weg gehabt hat, als diesen Widerspruch
selber thematisch zu machen. Dialektisches Denken heißt ja
überhaupt, wenn ich es einmal von dieser Seite her versuchen
darf zu bestimmen, soviel wie: nicht mit dem Verleugnen
oder dem Wegschaffen von Widersprüchen - wenn diese Wi­
dersprüche zwangvoll auftreten - sich zu begnügen, sondern
statt dessen den Widerspruch zum Gegenstand, zum Thema
der philosophischen Reflexion zu erheben - und Sie können
hier sehen, wie stark diese Nötigung nun tatsächlich ist.
Es heißt bei Kant sittlich handeln soviel wie aus reiner Ver-

118
nunft handeln; und die oberste Bestimmung von reiner Ver­
nunft ist ja bei Kant das Apriori, das synthetische Urteil
a priori. Ein synthetisches Urteil a priori und damit also
eigentlich die Gestalt, in der wir des Apriorischen überhaupt
habhaft werden, die wird von Kant bezeichnet - Sie müssen
mir verzeihen, wenn ich hier auf eine elementare Bestim­
mung der » Kritik der reinen Vernunft« zurückgreife, aber
Sie werden gleich sehen, daß das in einem sehr zwangvollen
Zusammenhang mit der praktischen Vernunft steht - durch
zwei Qualitäten, durch zwei Merkmale, nämlich durch Not­
wendigkeit und durch Allgemeinheit.131 Wenn Sie diese bei­
den Prinzipien von Allgemeinheit und von Notwendigkeit
auf die praktische Vernunft übertragen, dann kommen Sie
gewissermaßen von selbst zu dem, was in der praktischen
Philosophie von Kant als der kategorische Imperativ einge­
führt worden ist. Der kategorische Imperativ ist unter die­
sem Gesichtspunkt also nichts anderes als die Maxime des
Handelns, das oberste Prinzip eines jeden praktischen Han­
delns, das die beiden Momente der Notwendigkeit und der
Allgemeinheit miteinander vereinigt. Allgemein soll er des­
halb sein und allgemein ist das Apriori deshalb, weil es durch
nichts Individuiertes, durch nichts Einzelnes eingeschränkt
werden darf Wobei man daran erinnern darf, daß die be­
stimmte Einzelheit ja ihrerseits eine bestimmte Einzelheit
wird nur als ein eben in Raum und Zeit Individuiertes, das
heißt als etwas, was Material, was Empfindung bereits in sich
hat und was insofern dem Prinzip der Reinheit bereits wider­
spricht, als es daran gebunden ist, daß mir irgend etwas Ma­
teriales gegeben ist, was von mir als reiner Form des Bewußt­
seins unterschieden ist. Der Begriff der Notwendigkeit, der
steckt nun in dem Begriff der Gesetzgebung drin. Das heißt,
die Vernunft tritt überhaupt mit dem Charakter deduktiver
Notwendigkeit auf, mit dem Charakter, daß alle Bestim­
mungen aus ihr nach den Sätzen der Logik folgen sollen; und
dieses Moment der Notwendigkeit hat in sich bereits eine
merkwürdige, lassen Sie es mich vorsichtig sagen, Affinität

I I9
zu eben jener Kausalität, die ja nun eigentlich erst in dem
Bereich der Erscheinungen herrschen soll. Wenn Kant das
Prinzip der Notwendigkeit auf die Vernunft selbst als auf ein
Schließen nach Regeln überträgt, dann wird dadurch das
Prinzip der Kausalität, das er in der ))Kritik der reinen Ver­
nunft« auf die Erscheinungen einschränkt, in gewissem Sinn
bereits in der intelligiblen S phäre, also innerhalb der erfah­
rungsunabhängigen Sphäre aufgesucht; und das mag dazu
helfen, meine Damen und Herren, daß Sie den sonst sehr
schwer verständlichen Widerspruch bei Kant richtig begrei­
fen können, daß in der Moralphilosophie, in der Moral, dieja
von ihm definiert wird geradezu als die Sphäre der Freiheit,
trotzdem immerzu von Gesetzmäßigkeit die Rede ist. Und
das mag auch helfen, Ihnen verständlich zu machen, daß die
ganze Moralphilosophie von Kant eigentlich festgemacht ist
an dem Begriff der Autonomie als der, könnte man mit
einem späteren Begriff sagen, Indifferenz von Freiheit und
Notwendigkeit, insofern als die sittlichen Gesetze zwar Ge­
setze der Freiheit sind - weil ich als vernünftiges Wesen sie
mir selbst gebe, ohne von irgendeinem Äußeren mich dabei
abhängig zu machen -, zugleich aber doch den Charakter der
Gesetzmäßigkeit haben, weil vernünftig handeln und nach
Vernunft schließen überhaupt anders als gesetzmäßig, nach
Regeln schließen und handeln, gar nicht begriffen werden
kann. Das also wäre zunächst einmal zu der Interpretation
der Gegebenheit des Sittengesetzes zu sagen, die eben zu fas­
sen ist als eine Gegebenheit zweiten Grades: nämlich als das
Dasein der Vernunft - das Vorhandensein und Registrieren
der Vernunft als solcher, und nicht etwa als deren Erfah­
rungsinhalt -, das dabei als seine beiden Momente Notwen­
digkeit und Allgemeinheit impliziert, und im Begriff der
Notwendigkeit sofort auch das Gegenteil der Freiheit impli­
ziert, als deren Organon zugleich eben diese Vernunft von
Kant bestimmt wird.
Nun hat aber - und das hängt damit zusammen, daß Kant
ja nun sagt, es sei diese Freiheit und es sei das Sittengesetz

1 20
doch etwas Vorfindliebes - das Ganze auch bei Kant selbst
noch eine andere Seite; es changiert dieser Begriff. Sie wer­
den sogleich sehen, daß diese zweite Bedeutung mit der er­
sten zusammenhängt, aber sie stellt sich doch wesentlich pro­
blematischer dar als die außerordentlich luftige und deshalb
auch entsprechend schwer angreifbare Konstruktion des
Apriori, die ich Ihnen eben versucht habe ein wenig ausein­
anderzufalten. Er stützt nämlich in der praktischen Philo­
sophie Gegebenheit aufNötigung, das heißt: den Zwang, der
von den moralischen Prinzipien ausgeht; und wenn er an der
entscheidenden Übergangsstelle der » Kritik der reinen Ver­
nunft << , mit der wir uns im Augenblick noch beschäftigen,
immer wieder solche Sätze gebraucht, wir werden darauf
noch kommen, wie >daß wir die Tatsache der Freiheit oder
das Grundprinzip der praktischen Philosophie als ein Gege­
benes hätten<, so liegt dem nicht nur die Erinnerung an diese
Gegebenheit zweiten Grades zugrunde, also daran, daß wir
halt so etwas wie Vernunft haben, sondern es liegt dem noch
etwas Spezifischeres und etwas Sachhaltigeres zugrunde. Er
denkt nämlich dabei doch - ich glaube, er würde es leugnen,
und doch, wenn Sie die Texte lesen, werden Sie darum
schwer herumkommen - an den Zwangscharakter, der von
den moralischen Prinzipien ausgeübt wird, also ganz einfach
daran, daß wir als empirische Wesen, möchte ich hier sagen,
die Nötigung zunächst einmal erfahren, bestimmte Hand­
lungen zu unterlassen und andere Handlungen zu tun. Er
denkt dabei einfach an das, was wir uns zunächst einmal em­
pirisch-psychologisch mit der Tatsache des Gewissens be­
zeichnen könnten. Wenn wir immer wieder von dem Fak­
tum des Sittengesetzes reden, dann spielt dabei sicher eine
sehr erhebliche Rolle die phänomenologische oder deskrip­
tive Entdeckung, daß die Menschen durchweg, sie mögen
noch so sehr im Widerspruch zu bestimmten Moralvorstel­
lungen oder Ordnungen sich befinden, sich nach irgendwel­
chen derartigen Nötigaugen richten, daß sie vor etwas Ach­
tung haben. Ich brauche Sie hier nur an die ad nauseam und

I 2I
mit spießbürgerlichem Behagen wiedergekäute Tatsache zu
erinnern, daß es selbst in der sogenannten Unterwelt einen
bestimmten Ehrenkodex geben soll und daß es für den, der so
ein richtiger Verbrecher ist - so liest man es jedenfalls in Bü­
chern -, auch bestimmte Verhaltensweisen gibt, die nach sei­
nem Kodex schlechterdings ausgeschlossen sein sollen, wor­
aus dann jeder Moralist sozusagen eine Rechtfertigung ftir
seinen eigenen Moralismus zieht; denn auch die schlechter­
dings Amoralischen sollen eine Moral haben, wie wenn diese
Moral eine Rechtfertigung der anderen und erhabeneren lie­
fern könnte; aber das nur nebenbei.
Es ist hier zu sagen, da man ja an dieser Stelle in dem Be­
reich des Empirischen sich wirklich befindet, daß Kant empi­
risch recht hat, wenn er sich auf die Nötigung beruft, wie es
in der » Kritik der praktischen Vernunft « immer wieder der
Fall ist, 1 32 die ja dann das stärkste Argument daftir sein soll,
daß wir das Sittengesetz anerkennen, daß tatsächlich so etwas
wie Gewissen vorliegt. Nur ist die Sache so, daß die Faktizi­
tät des Gewissens - und hier fängt sich Kant in seiner eigenen
Schlinge - und die Faktizität solcher zwanghaften Verhal­
tensweisen, wie sie vielfach von dem Begriff des Gewissens
gedeckt werden, über die Legitimität dieser Instanz als sol­
cher noch gar nichts sagen. Wenn ich Kant an dieser Stelle
vorwerfe, daß er sich in seiner eigenen Schlinge fängt, so will
ich damit nichts anderes sagen als: wenn er schonjedes Empi­
rische ausschließen will aus der Begründung der Moralphi­
losophie - und das ist die eigentliche Konzeption -, dann
kann er natürlich sich nicht wieder auf die empirische Gege­
benheit des sogenannten sittlichen Zwanges im Menschen
selber berufen, weil dieser Zwang ja selber auch eine empiri­
sche Tatsache, das heißt, weil er, Kautisch gesprochen, eine
Sache der bloßen Psychologie ist und deshalb die Dignität
nicht hat, die er ihm geben muß. >Geben muß<, weil ja die
Tatsache, daß es so etwas wie diese sittliche Nötigung gibt,
nun doch das stärkste Argument daftir ist, daß etwas da ist,
was ich respektieren muß. Das ist nun eine der Stellen, an der

1 22
die empirische Wissenschaft Kant gegenüber entscheidende
Fortschritte gemacht hat, und er wäre als der Aufklärer, der
er gewesen ist, ganz sicher der Letzte gewesen, der diese
Fortschritte verleugnet hätte. Die Psychoanalyse in ihrer
strengen Gestalt - und ich meine bei Psychoanalyse immer
nur ihre strenge Freudsche Gestalt und nicht die Verwässe­
rungen, nicht die Verflachung durch Tiefe, die sie dann
durch Leute wie Jung und Adler erfahren hat - hat nachge­
wiesen, daß diese Mechanismen des Zwanges, denen wir un­
terliegen, ihrerseits phylogenetisch sind, das heißt, Verinner­
lichungen von tatsächlicher Macht, Verinnerlichungen der
jeweils herrschenden gesellschaftlichen Normen sind, die
uns durch die Natur der Familie überliefert werden und die
wir im allgemeinen durch Identifikation mit Vaterfiguren
uns zu eigen machen. Darüber hinaus aber hat die Psycho­
analyse nun etwas gezeigt, was Kant wenig behagt hätte,
nämlich daß genau diese Instanz - die die Psychoanalyse mit
Zwangscharakter bezeichnet oder wohl auch etwa in der
späteren Phase von Freud mit Über-Ich - soweit sie als pa­
thogene zu bezeichnen ist, irrational ist, das heißt, daß diese
Nötigung eine Tendenz hat, sich auf Dinge zu übertragen,
die mit Vernunft gar nicht mehr vereinbar sind; also daß
Menschen, was weiß ich, nur noch schlafen können, wenn
sie ein bestimmtes Ritual vollzogen haben, wie sie die Kissen
glattstreifen, oder die ganzen Zwangshandlungen, wie sie
besonders pedantische, sadistische und geizige Menschen un­
ablässig im Namen eines möglichst geordneten Lebens voll­
führen.133 Kurzum also, die von Kant stipulierte Einheit der
sittlichen Nötigung mit der Vernunft selber ist, wenn man
dieser Nötigung nachgeht, gar nicht unproblematisch, son­
dern wird im Gegenteil sehr fragwürdig. Kant würde selbst­
verständlich an dieser Stelle argumentieren, Kant würde
selbstverständlich sagen: >Das alles kann ich zugeben, soweit
es sich um die Empirie handelt und soweit es sich nicht eben
um die schlechterdings geltende formale Gestalt des Sitten­
gesetzes überhaupt handelt. < Aber diese formale, abstrakte

1 23
Gestalt des Sittengesetzes ist ja ihrerseits doch wieder abge­
zogen von diesen tatsächlichen Nötigungen, und wenn sie
bei Kant in der » Kritik der praktischen Vernunft« hinter dem
Namen der >Pflicht< schon eine etwas konkretere Gestalt an­
nimmt, dann kann man ihr diese Abkunft nur allzu deutlich
anmerken. Wenn eine jegliche Beziehung zu den realen Ver­
haltensweisen, die durch das Pflichtideal ausgedrückt wer­
den, entfiele, dann entfiele damit auch tatsächlich die Sub­
stanz dessen, was bei Kant überhaupt unter dem Begriff der
Nötigung aufgeführt wird. Andererseits kann man nicht
leugnen, daß mittlerweile die bei Kant absolut gesetzte, näm­
lich als ein formales Prinzip absolut gesetzte Nötigung,
nicht, wie sie bei ihm erscheint, ein Unbedingtes, sondern
ihrerseits ein Bedingtes ist, und daß sie deshalb nicht, so wie
sie bei ihm erscheint, eine absolute Rechtsquelle des Sittli­
chen abgeben kann. Im übrigen sind das Einsichten, die kei­
neswegs erst der neuen Psychologie sich verdanken, sondern
die mit großem Radikalismus in rein philosophischer Ana­
lyse ausgesprochen zu haben, sicherlich nicht das geringste
Verdienst von Friedrich Nietzsche gewesen ist, der ja genau
gegen diesen Pflichtbegriff das Beschränkende angeführt hat
und der ein unbeschreibliches Organ hatte für das Moment
des Heteronomen inmitten der sogenannten Kantischen Au­
tonomie.134
Dieses vorausgeschickt, möchte ich jetzt noch versuchen,
meine Damen und Herren, mit Ihnen den Text, an dem wir
halten, kurz zu Ende zu besprechen. Ich glaube, daß er da­
durch Ihnen sehr viel verständlicher werden wird, das heißt,
daß ich mich ohne weiteres jetzt auf die durchgeführten Ana­
lysen beziehen kann, wenn ich Ihnen die Stellen verlese, um
die es sich hier im besonderen Maß handelt. Zunächst wer­
den Sie jetzt verstehen, was der Satz heißt: »Praktisch ist al­
les, was durch Freiheit möglich ist« 1 35; weil nämlich Freiheit
nichts anderes bedeutet als ein Verhalten, das nach nichts an­
derem als nach reiner Vernunft sich richtet, und weil Han­
deln in nachdrücklichem Sinn eben überhaupt nur dadurch

1 24
charakterisiert wird; während es so etwas wie Handeln im
vollen Sinn des Subjektiven, des bloß von Subjektivität Be­
stimmten, in dem Augenblick gar nicht mehr gibt, wo dieses
Handeln von etwas anderem als der Subjektivität selber sich
abhängig machen soll. Kant fährt nun so fort: »Wenn die Be­
dingungen der Ausübung unserer freien Willkür aber empi­
risch sind, so kann die Vernunft dabei keinen anderen als re­
gulativen Gebrauch haben, und nur die Einheit empirischer
Gesetze zu bewirken dienen, wie z. B. in der Lehre der Klug­
heit die Vereinigung aller Zwecke, die uns von unseren Nei­
gungen aufgegeben sind [ . . . ]. « 1 36 Die Stelle ist deshalb nicht
ganz leicht zu verstehen, weil man zunächst meinen könnte,
es sei dabei daran gedacht - was sehr viel Sinn gibt -, daß >die
Bedingungen der Ausübung unserer freien Willkür über­
haupt empirisch sind<. Denn tatsächlich - und, meine Damen
und Herren, das ist der große moralphilosophische Kontro­
verspunkt zwischen Kant und Hege! - sind ja die Bedingun­
gen der Ausübung unserer freien Willkür empirisch. Das
heißt, wenn meine freie Willkür mich dazu treibt, ein Haus
anzustecken, dann ist die Realisierung dieser Willkür an empi­
rische Bedingungen wie die Existenz des Hauses, die meiner
Courage, das Verbrechen auszuführen, das Vorhandensein
von Brennstoff und ähnliche empirische Momente geknüpft.
Aber Kant wäre mißverstanden, wenn Sie ihn hier so inter­
pretieren wollten, sondern es ist gerade das eigentlich der
Kern der Kantischen Vorstellung von der moralischen Sphäre
überhaupt: daß das Moralische etwas ist, was von empiri­
schen Bedingungen schlechterdings unabhängig ist. Kant
würde sagen: >Soweit meine moralischen oder unmorali­
schen Handlungen bezogen sind auf empirische Bedingun­
gen, kann das den Effekt meiner Willkür beeinträchtigen.<
Also wenn ich ins Wasser springe, um einen Menschen aus
dem Wasser zu ziehen, der Selbstmord begehen wollte und
selbst nicht schwimmen kann, so kann es passieren, daß
beide dabei ertrinken. Aber er würde sagen: >Dieser Effekt,
der abhängt von den empirischen Bedingungen, ist selber

125
bloß etwas Empirisches und hängt mit der Tatsache des Mo­
ralischen überhaupt gar nicht zusammen, sondern die Tatsa­
che des Moralischen ist lediglich eine Sache des reinen Wil­
lens,< - also meiner absoluten Autonomie oder wie man das
wohl auch, wie Kant selber es genannt hat - >eine Sache mei­
ner Gesinnung.< Und daran können Sie verstehen, in wel­
chem prägnanten Sinn die Kantische Ethik, mit der wir uns
zu beschäftigen haben, eine Gesinnungsethik ist, im Gegen­
satz etwa zu dem, was man dann mit Verantwortungsethik
bezeichnet hat, bei der die empirischen Bedingungen einbe­
griffen werden müssen, als der Effekt der Handlungen dabei
seinerseits zu einem mitbestimmenden Moment des morali­
schen Aktes der Freiheit gemacht werden soll. Kant unter­
scheidet also in diesem Sinn die pragmatischen Gesetze des
freien Verhaltens, also alles das, was man als eine bloße
Zweck-Mittel-Relation bezeichnen könnte, von dem eigent­
lichen moralischen Gesetz; und die ganze Sphäre des Pragma­
tischen, also die ganze Sphäre, in der moralisches Handeln,
sei es der edelsten Absicht, sich abhängig macht von empiri­
schen Bedingungen und empirischen Zwecken, wird von
ihm verworfen. Es darf nur darum gehen, daß das Sittenge­
setz als solches erftillt werde, und der Effekt der dabei heraus­
kommenden Handlungen wird in dieser Ethik ausgeschlos­
sen von der Betrachtung. Das ist der innerste Grund daftir,
nebenbei bemerkt, warum man mit einem gewissen Recht
die Kantische Moralphilosophie als eine rigoristische be­
zeichnet hat. »Dagegen« - sagt er nun - » würden reine prak­
tische Gesetze, deren Zweck durch die Vernunft völlig a
priori gegeben ist, und die nicht empirisch bedingt, sondern
schlechthin gebieten, Produkte der reinen Vernunft sein.« 137
Ich glaube, nach dem, was ich Ihnen gesagt habe, können Sie
nun wirklich diese entscheidenden Formulierungen ohne
weitere Interpretation verstehen. » Dergleichen aber« - wie
solche reinen praktischen Gesetze - »sind die moralischen Ge­
setze, mithin gehören diese allein zum praktischen Gebrau­
che der reinen Vernunft, und erlauben einen Kanon. « 138 Das

126
>sie gehören allein zum praktischen Gebrauche der reinen
Vernunft< ist ein bißeben mehrdeutig, man könnte nämlich
denken - in Erinnerung an die früheren Stellen, die wir be­
sprochen haben -, sie gehörten im Gegensatz zur theoreti­
schen Vernunft allein zur praktischen Vernunft, aber nach
dem, was wir jetzt gehört und interpretiert haben, ist etwas
anderes damit gemeint. Nämlich, daß die moralischen Ge­
setze eigentlich allein die sind, die für den praktischen Ge­
brauch der reinen Vernunft gültig sind und deren Kanon er­
lauben, nicht gültig sind dagegen die pragmatischen Gesetze
des Handelns, die schließlich nur solche der Klugheit und he­
teronom sind, weil sie, indem sie uns an die äußeren Bedin­
gungen und den äußeren Erfolg binden, uns gewissermaßen
unfrei machen, abhängig machen von etwas, was nicht un­
sere �igene Vernunft sein soll. Kant fahrt fort: » Die ganze
Zurüstung also der Vernunft, in der Bearbeitung, die man
reine Philosophie nennen kann, ist in der Tat nur auf die drei
gedachten Probleme« - Sie erinnern sich an die Probleme von
Gott, Freiheit und Unsterblichkeit - » gerichtet. Diese selber
aber haben wiederum ihre entferntere Absicht, nämlich, was
zu tun sei, wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine künf­
tige Welt ist. Da dieses nun unser Verhalten in Beziehung auf
den höchsten Zweck« - und der höchste Zweck ist das Sitten­
gesetz - » betrifft, so ist die letzte Absicht der weislich uns
versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft,
eigentlich nur aufs Moralische gestellet. « 139 - Meine Damen
und Herren, Sie haben hier die Ableitung eigentlich dessen,
was man bereits in der » Kritik der reinen Vernunft « und bei
Kant insgesamt mit dem Primat der praktischen Vernunft
bezeichnen kann. Nämlich wenn unsere Vernunft überhaupt
nur auf das Moralische eigentlich eingestellt ist und alles an­
dere nur, ich möchte sagen, einen Anstoß für die Vernunft
bietet, dann hat die praktische Vernunft dieser Theorie zu­
folge über das Theoretische den Vorrang.
Es wird dabei nun der alte Teleologiegedanke, daß die
Welt vernünftig eingerichtet sei, wie er in der Leibnizschen

1 27
Philosophie vorkam, in einer merkwürdigen Weise verin­
nerlicht, nämlich so, daß daraus der Gedanke wird, daß un­
sere Vernunft so eingerichtet ist, daß sie uns zu dem richtigen
Tun anleitet, daß sie ausreichen soll, uns zu sagen, was zu tun
sei. In einer solchen Weise wird dann in dieser zum ersten
Mal radikal nach innen gerichteten, zum ersten Mal in einem
radikalen Sinn subjektiven Ethik das teleologische Denken
des klassischen Rationalismus umfunktioniert. Dabei gibt es
aber nun allerdings eine sehr merkwürdige Unstimmigkeit,
über die ich Sie nicht hinwegtragen möchte, ohne daß ich Sie
darauf aufmerksam mache. Es wird nämlich plötzlich ge­
fragt, was zu tun sei, wenn Gott existiert, wenn ich frei bin,
wenn meine Seele unsterblich ist?140 Das steht nun aber in
einem wirklichen Widerspruch - der sich nicht wegleugnen
läßt - zu dem Kautischen moralphilosophischeil Prinzip,
denn diese drei Momente sollen ja ihrerseits erst als Postulate
der praktischen Vernunft, also wenn man so sagen darf, wie
es an einer Stelle der >>Kritik der praktischen Vernunft« heißt,
als >Garanten des Sittengesetztes<141 folgen. Infolgedessen
kann man sie aber nun nicht wieder so behandeln, als ob sie
eigentlich die Bedingungen eben des Sittengesetzes selber
wären. Sie sind dem Sittengesetz gegenüber das Bedingte,
und ich habe Sie ja bereits darauf aufmerksam gemacht, daß
Kant darin sich durchaus in der Tradition des neuzeitlich ra­
tionalistischen Denkens befindet, daß er sogar die Existenz
Gottes aus der Vernunft, welche eins ist mit dem Sittenge­
setz, ableitet und nicht unbedingt setzt. Wenn das aber so ist,
dann ist es natürlich wieder nicht einzusehen, wieso denn
diese drei Momente etwas Wesentliches darüber besagen sol­
len, was ich tun soll, während: was ich tun soll, ja doch von
dem Unbedingten, nämlich von dem Sittengesetz herrühren
soll und nicht von dem, was dann als dessen mögliches Kom­
pensat oder als dessen mögliche Garantie in einer weiteren
Entfernung sich erst abzeichnet. Ich glaube nun, daß das
einer der ersten Punkte ist, an dem in die Kautische Ethik
sich dieses eigentümliche Moment des Heteronomen ein-

128
schleicht, denn dadurch, daß die Freiheit selber ja von ihm
umgedeutet wird als die Freiheit des losgelassenen und abso­
luten Vernunftgebrauchs und zugleich in das Gesetz, dem ich
zu entsprechen und nach dem ich zu handeln habe, gerät in
diese Philosophie sogleich auch ein autoritäres Moment. Es
ist so, als wenn die Berufung auf die Vernunft allein gewis­
sermaßen nicht ausreichen würde, das Sittengesetz, das ja mit
der Vernunft zusammenfällt, durchzusetzen, und tatsächlich
fehlt es in den ethischen Schriften von Kant, vor allem in der
>>Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« , nicht an Stellen,
wo er darauf hinweist, daß es, um gut zu handeln, eigentlich
der Philosophie gar nicht bedürfte, daß man auch >immer
Treu' und Redlichkeit üben kann<, wenn man die >>Grundle­
gung der Metaphysik der Sitten« nicht studiert hat; wobei
man sozusagen an die alte bäuerliche, ländlich brave Tugend­
haftigkeit verwiesen wird, und in gewisser Weise die Ratio­
nalität wieder eingeschränkt wird, die im Vernunftbegriff
liegt. Denn wenn tatsächlich der Vernunftbegriff die abso­
lute Instanz ist und nichts sittlich ist als die Vernunft, dann ist
alles Handeln, das nicht aus Vernunft erfolgt, tatsächlich un­
sittlich - ich spreche jetzt im Sinne von Kant, im Sinn der
immanenten Kritik -, und in dem Augenblick, in dem er das
nicht anerkennt, bringt er selber in seine eigene Philosophie,
um den Autoritätscharakter des Sittengesetzes zu bewahren,
ein Moment herein, das seinem eigenen Begriff der Autono­
mie widerspricht. Wenn das aber so ist, dann ist das Sittenge­
setz tatsächlich allein nicht zureichend, um die Menschen zu
sittlichem Verhalten zu bewegen. Und auch hier wiederum
befindet sich Kant, soweit wir pragmatisch, also im Bereich,
lassen Sie mich sagen: der sittlichen Erfahrung argumentie­
ren, in Übereinstimmung mit der psychologischen Beobach­
tung, die uns darüber unterdessen belehrt hat, daß zwar so
etwas wie Gewissen in dem vorhin charakterisierten Sinn
existiert, daß es alles das gibt, was wir Nötigung nennen, daß
aber gleichzeitig die Macht der Triebe gegen dieses uns ja
Aufgedrungene, Sekundäre, Abgeleitete des Über-Ichs so

1 29
stark ist, daß unsere eigene Haltung so problematisch ist, daß
demgegenüber dann doch immer wieder die Tendenz be­
steht, auszubrechen. Und Kant ist darin ein richtiger Spre­
cher der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Disziplin, vor
allem eben der bürgerlichen Arbeitsdisziplin - und wo von
bürgerlicher Moral die Rede ist, muß man immer in erster
Linie an die Disziplin der Arbeit denken -, daß er nun gewis­
sermaßen Hilfskräfte mobilisieren muß, um dieses Sittenge­
setz dem Menschen ordentlich einzubläuen, weil der Appell
an die reine Vernunft dabei allein nicht genügt. Und deshalb
nun kommt die merkwürdige Formulierung zustande, die
wahrhaft im Kantischen Sinn heteronome Formulierung:
>was zu tun sei unter den Bedingungen von Gott, Freiheit
und Unsterblichkeit<; was gar nicht so weit entfernt ist von
der heteronomen Gestalt der Religion, die das arme Bauern­
frauchen dazu ermahnt, nun aber auch ja nicht eine Kartoffel
aufzulesen, die ihr nicht gehört, indem sie ihr gleichzeitig
glauben macht, daß, wenn sie das tut, sie in die Hölle
kommt. Sie sehen also, wie in dieser Philosophie die erha­
bensten Motive mit den beschränktesten, und zwar nicht
genetisch, das meine ich nicht, sondern ihrem eigenen imma­
nenten Sinn nach, eben doch aufs allertiefste sich verschrän­
ken. » Freiheit« - heißt es dann weiter - gäbe es eigentlich
»nur im praktischen Verstande« . 1 42 Und an der Stelle sagt
nun Kant schließlich wirklich das, was Ihnen zunächst höchst
paradox klingen mußte, wovon ich aber hoffe, daß ich es
Ihnen nun wirklich durch Interpretation völlig deutlich ge­
macht habe, wie es dazu kommt, nämlich: »Die praktische
Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden.« Und das
führt er nun so aus: »Denn, nicht bloß das, was reizt, d.i. die
Sinne unmittelbar affiziert, bestimmt die menschliche Will­
kür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen
von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schäd­
lich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsver­
mögen zu überwinden [ . . . ] . « 143 Auch hier ist wieder ein ganz
wichtiges Moment registriert, nämlich die psychologische

IJO
Möglichkeit, durch das Ich-Prinzip das Es, die Triebe zu
kontrollieren, wenn sie irgendwie mit der Realität in Wider­
spruch geraten. ••Diese Überlegungen aber von dem, was in
Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswert, d.i.
gut und nützlich ist, beruhen auf der Vernunft .« 144 Also hier
haben Sie ganz klar das ausgesprochen, daß der sogenannte
empirische Beweis für unsere Freiheit damit geliefert werden
soll, daß eben die Vernunft als das Vermögen der Realitäts­
prüfung ein uns Gegebenes ist. Es ist dabei sehr interessant
und beweist wieder die großartige Redlichkeit von Kant, daß
er an dieser Stelle, wo es nun wirklich hart aufhart geht, daß
er da keineswegs die Vernunft irgendwie als ein logisches
Vermögen im leeren Raum postuliert, sondern daß die Über­
legungen, die er hier anstellt, durchaus die empirischen
Überlegungen über den tatsächlichen Gebrauch der Ver­
nunft als des Vermögens sind, durch das wir die Realität prü­
fen und unter Umständen unmittelbare Befriedigungen dann
zurückstellen können, wenn sie mit unserem Interesse insge­
samt in Widerspruch stehen. Sie sehen also, daß hier, wo er ja
nun wirklich argumentieren muß, um die Existenz der Ver­
nunft zu beweisen, daß da der absolute Gegensatz von prag­
matischen Gesetzen der Moral und eigentlich moralischen
Gesetzen von ihm gar nicht respektiert wird, weil er nämlich
tief und wahrhaft genug ist, zu sehen, daß die Vernunft als ein
reines Organ der Wahrheit und die Vernunft als ein Organ
unserer Selbsterhaltung nicht zwei schlechterdings vonein­
ander verschiedene Medien sind, die dann nichts miteinander
zu tun hätten, sondern daß die sich verselbständigende und
auf die Wahrheit sich richtende Vernunft gleichsam ein dia­
lektisches Produkt, gleichsam das Kind eben jener selbster­
haltenden, im üblichen Sinn praktischen Vernunft ist, die er
in jenem vorhergehenden Abschnitt als bloß •pragmatische<
Vernunft ein wenig abgewehrt hat. ••Diese [Vernunft] « -
fahrt er fort - ••gibt daher auch Gesetze, welche Imperativen,
d.i. objektive Gesetze der Freiheit sind, und wq:lche sagen, was
geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht, « - Sie se-

131
hen hier die Gleichgültigkeit gegen den Effekt - »und sich
darin von Naturgesetzen, die nur von dem handeln, was ge­
schieht, unterscheiden, weshalb sie auch praktische Gesetze
genannt werden. « 1 45 Ich habe Ihnen eigentlich jetzt diese et­
was paradoxen Sätze von Kant nur noch vorgelesen gleichsam
als pointierte Bestätigungen der Interpretationen, die ich
vorangezogen habe. Ich hoffe, daß für Sie alle nun diese Ge­
setze so transparent zu werden beginnen und so viel Sinn an­
zunehmen beginnen, wie ich es in meiner Interpretation ver­
sucht habe, Ihnen anzudeuten. - Ich danke Ihnen.

132
9- VORLESUNG
2 7. 6. 1 9 63

Meine Damen und Herren,


vielleicht erinnern Sie sich, nachdem die Vorlesung noch
einmal unterbrochen werden mußte, 1 46 daran, daß wir ste­
hengeblieben waren in der Konstruktion des Ansatzes der
Moralphilosophie von Kant, und ich möchte einfach da fort­
fahren. Zunächst möchte ich Sie erinnern an die Formulie­
rung, daß die Vernunft >Gesetze gibt<, ))welche Imperativen,
d.i. objektive Gesetze der Freiheit sind,« 1 47 wobei in diese eine
Formel gleichsam ein Widerspruch zusammengedrängt ist,
denn nach den Bestimmungen von Kant ist ja gerade Freiheit
das, was nicht Gesetzen unterliegt, und Sie können vielleicht
den Ansatz der Dialektik, auf den ich Sie ja in dieser Vorle­
sung auch vorbereiten helfen möchte, auch daran sich klar­
machen. Ich suche das ja immer wieder und von den ver­
schiedensten Ecken her Ihnen zu zeigen, daß die Dialektik
einen solchen Widerspruch, der einfach hier in eine Formu­
lierung unaufgelöst zusammengedrängt ist, aufzulösen und
zu entfalten versucht. Also Sie können der Kantischen Philo­
sophie gegenüber, und das ist einer der Gründe, warum ich
auf solche widerspruchsvollen und zwar pointiert wider­
spruchsvollen Formulierungen bei Kant einen so großen
Wert lege, die Dialektik sich daran klar machen, daß sie eben
der Versuch ist, solche pointierten und damit freilich stehen­
bleibenden Widersprüche zu entfalten, anstatt daß sie, man
könnte fast sagen, in einer Art von Synkopierung einfach
auftreten. Und diese >> Gesetze der Freiheit sind, « - und da ha­
ben Sie im Grunde schon die ganze Kantische Moralphiloso­
phie wie in einer Nußschale drin - die, >>welche sagen, was
geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht und sich
darin von Naturgesetzen, die nur von dem handeln, was ge­
schieht, unterscheiden [ . . . ]. « 148 Kant sucht, das ist für den
aporetischen Ansatz der Kantischen Moralphilosophie ent­
scheidend, diesen Widerspruch von Gesetz und Freiheit hier

133
- und das bitte ich Sie genau zu beachten, denn das ist wirk­
lich sozusagen das Scharnier der ganzen Kantischen Moral­
philosophie - auf die Weise zu bemeistern, daß er die beiden
Momente Gesetz und Freiheit, die in diesem Satz zusammen­
treffen, so auflöst, daß die Gesetzmäßigkeit eine Gesetzmä­
ßigkeit nicht dessen ist, was geschieht, sondern nur dessen,
was sein soll, als solche aber ihm zufolge absolute Stringenz,
absolute Bündigkeit besitzen soll. Während gleichwohl es
den einzelnen Subjekten, an welche dieser Imperativ ergeht,
frei bleiben soll, ob sie nun diesen Imperativ befolgen, so daß
- und das unterscheidet ihn eben grundsätzlich von der Na­
turgesetzlichkeit - gar nicht ausgemacht zu sein braucht, ob
jemals empirisch etwas diesen Gesetzen Entsprechendes ge­
schieht; während ja die Gesetze der Natur eben gar nichts
anderes waren als die Gesetze, die sich auf das Tatsächliche,
auf den Zusammenhang der Natur bezogen haben. Das bitte
ich Sie also noch einmal festzuhalten, damit Sie das Weitere
nun verstehen. Kant schränkt diese Konstruktion einer
Sphäre der Freiheit im folgenden ein und diese Einschrän­
kung ist ebenfalls sehr merkwürdig, und zwar aus mehreren
Gründen. Erstens, weil sie wieder zeigt, wie sehr Kant eben
doch das Bewußtsein der Probleme, um die es sich hier han­
delt, selbst erreicht hat und wie vollkommen offen er sie dar­
legt, dann aber auch wegen einer gewissen merkwürdigen
Vieldeutigkeit, die in dieser Einschränkung selber enthalten
ist. Ich muß Ihnen das auch verlesen, denn, meine Damen
und Herren, man kann diesen Dingen nur gerecht werden,
wenn man sich an Texte, und zwar meiner Überzeugung
nach an relativ knappe, in sich sehr bündige und beschränkte
Texte anschließt, die man dann allerdings wie durchs Ver­
größerungsglas betrachtet. Ich glaube, daß nur zwischen
einer solchen mikrologischen Verfahrensweise und der Kon­
struktion des Gedankens ein fruchtbares Zusammen besteht,
während das >mittlere< Verständnis sogenannter großer Zu­
sammenhänge innerhalb eines Denkgebildes eigentlich von
vornherein so die Gefahr der Subalternität hat. Kant fährt

134
also fort: Ȇb aber die Vernunft selbst in diesen Handlungen,
dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch an­
derweitige Einflüsse bestimmt sei, und das, was in Absicht
auf sinnliche Triebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und
entfernterer wirkenden Ursachen nicht wiederum Natur sein
möge, das geht uns im Praktischen, da wir nur die Vernunft
um die Vorschrift des Verhaltens zunächst befragen, nichts an,
sondern ist eine bloß spekulative Frage, die wir, so lange als
unsere Absicht aufs Tun oder Lassen gerichtet ist, bei Seite
setzen können. «149 Ich mache Sie zunächst auch hier schon
darauf aufmerksam, daß Kant nicht nur die Lösung, die er
selber vorschlägt, einer Bedingung des Weiterfragens unter­
wirft, darauf werden wir gleich kommen, sondern auch, und
das ist nun ftir Kant außerordentlich bezeichnend, das Wei­
terfragen an dieser Stelle abbricht, daß er hier aufhört weiter­
zufragen. Auch darüber, über diese eigentümliche Tendenz
des Abbrechens von Kant werden wir etwas sagen müssen.
Was Kant mit diesen anderweitigen Einflüssen bestimmt, ob
das »in Ansehung höherer und entfernterer wirkenden Ursa­
chen nicht [doch] wiederum Natur sein möge«, das läßt zwei
Deutungen zu, und zwar zwei einander kontradiktorisch ent­
gegengesetzte. Die eine ist die - und ich würde denken, aus
dem gesamten Zusammenhang, nach dem Wortlaut allein,
ist es nicht zu entscheiden -, die jedenfalls im Sinn der Kanti­
schen Argumentation selber liegt: daß er hier an eine entfern­
tere Absicht der Natur denkt, die eben doch mit dem Reich
der Freiheit derart koinzidieren soll, daß, wenn die Natur
vollständig uns bekannt wäre, wenn also die unabgeschlos­
sene Erkenntnis einer solchen Erkenntnis wiche, wie sie nur
dem absoluten göttlichen Bewußtsein von Kant zugeschrie­
ben wird, dann in dieser Art von Erkenntnis das Reich der
Zwecke, wie es von der Moral dargestellt werden soll, und
das Reich der Ursachen, wie es in der Naturerkenntnis darge­
stellt werden soll, miteinander zusammenfielen, weil die Di­
vergenz zwischen diesen beiden Momenten für Kant uner­
träglich ist. Das wäre, wenn man diese Stelle mit Rücksicht

13 5
auf das Kantische Gesamtsystem interpretiert, wahrschein­
lich das, was gemeint ist. Aber - und das ist oft so - wenn Sie
sich an den Wortlaut dessen halten, was hier zunächst einmal
steht, dann ist eine andere Interpretation auch möglich, die
wir ihrem Gehalt nach schon berührt haben, nämlich die -
und das hängt mit der Doppeldeutigkeit des Wortes Natur
bei Kant zusammen -, daß ihrerseits diese Gesetze der Frei­
heit auch in den Zusammenhang der Natur als eines determi­
nierten Zusammenhangs hineinfallen. Mit anderen Worten
also: daß das Sittengesetz als ein Gegebenes, so wie wir uns
ihm gegenüber finden, seinerseits, wie es Hege! sagen
würde, auch ein Gewordenes, ein Entsprungenes ist, das in
seinen Ursprüngen doch auch wieder der Kausalität der Na­
tur unterliegt; so wie man etwa in der Psychoanalyse das
Über-Ich, die Gewissensinstanz auf Grund der Triebdyna­
mik und Triebökonomik, auf Grund eines Identifikations­
mechanismus, also durch Kategorien, die selber ins Bereich
der Natur hineingehören, erklären könnte. - Es bleibt also
hier offen, ob Kant nun gerade dadurch die »Kritik der prak­
tischen Vernunft«, ich möchte sagen, nach unten oder nach
links öffnet, ob er also bereit ist, hier nominalistisch die All­
gemeinheit des Sittengesetzes doch wieder auf ontische, auf
tatsächlich seiende Determinanten hin zu öffnen, oder ob er
gerade im Gegenteil sich hier vorstellt, daß die Auflösung des
Widerspruchs zwischen der Sphäre der Freiheit und der
Sphäre der Natur in einem höher gearteten Begriff von Na­
tur, nämlich in einer göttlichen und infolgedessen selber gu­
ten Natur, aufgesucht werden kann.
Meine Damen und Herren, Sie könnten mich fragen - und
ich darf darüber vielleicht, über dieses Methodische, doch ein
paar Worte wenigstens verlieren -, warum, wenn ftir den
Kenner des Kantischen Gesamtsystems die Probabilität so
groß ist, daß das an Ort und Stelle von Kant Gemeinte das
erste ist, 150 ich mir dann die Mühe mache, diese zweite Mög­
lichkeit überhaupt heranzuziehen. Abgesehen davon, daß
immerhin die Problematik der Sache in diese Richtung ja

IJ6
ebenso drängt wie in die andere, möchte ich Ihnen darauf
prinzipiell sagen, daß im Gegensatz zu der Anschauung der
Philologie - die sicher sehr viele von Ihnen als absolut geltend
erfahren und die Sie so stark als Lehre empfangen, daß es Sie
eine gewisse geistige Anstrengung kosten wird, davon sich
zu emanzipieren - ich nicht der Ansicht bin, daß geistige Ge­
bilde sich wesentlich erschließen durch den Rekurs auf den
Willen und die Intention ihres Urhebers. Ich glaube, daß da
eine ganze Menge von Fehlerquellen im Spiel sind, von de­
nen die eine und vielleicht gröbste die ist, daß der Wille und
die Intention ja absolut gar nicht sich erschließen lassen, ge­
nau so wenig wie etwa im allgemeinen in der juristischen
Interpretation der sogenannte Wille des Gesetzgebers sich er­
schließen läßt, der, wenn ich recht unterrichtet bin, auch in
der Jurisprudenz immer noch herumgeistert. Aber dahinter
steckt etwas Tieferes: daß es nämlich bei Argumentationen,
in denen es um so außerordentlich ernste und verantwortli­
che Dinge geht, wie die, von denen wir eben bei Kant spre­
chen, sich ja gar nicht bloß handelt um das, was der Kant
gewollt hat, sondern daß die Überlegungen, die er anstellt -
und gerade darin, würde ich sagen, besteht die Größe eines
Denkers wie Kant -, sich in der subjektiven Meinung nicht
erschöpfen, die er dabei verfochten hat, sondern daß ihre
Substanz besteht in der objektiven Bewegung des Begriffs,
also in der objektiven Stringenz, in der objektiven Plausibili­
tät dessen, was verhandelt wird. Ich glaube, daß es überhaupt
so ein Vorurteil aus der, wie soll man sagen, guten Stube des
bürgerlichen geistigen Haushalts ist, daß die geistigen Ge­
bilde das Eigentum der großen Persönlichkeiten, der großen
Denker, Dichter und Komponisten und sonst was sind, die
da in Gestalt von Gipsbüsten in diesen guten Stuben früher
herumzustehen pflegten, aus denen man sie zwar entfernt
hat, in denen sie aber dafür unsichtbar wahrscheinlich immer
noch um so verhängnisvoller herumgeistern. Sondern es ist
doch vielmehr so, daß ein bedeutendes geistiges Gebilde die
Resultante ist aus der Anstrengung dessen, der sie denkt, und

137
dem objektiven Sachverhalt, der dabei gedacht wird, und das
ist gleichsam das Ideal der geistigen Anstrengung, die dabei
überhaupt geübt wird. Und, meine Damen und Herren, das
selber ist ein moralischer Sachverhalt, das selber ist etwas,
was ich Ihnen fast als Maxime vor Augen stellen möchte. Die
Substanz eines geistigen Gebildes besteht wesentlich darin,
daß die Willkür des einzelnen, je Denkenden in der Sache und
in dem Zwang der Sache untergeht, daß sie darin verschwin­
det. Geistige Gebilde sind nicht der Ausdruck von Intention
und dessen, der sie schafft, sondern sie sind das Erlöschen
dieser Intention in der Wahrheit der Sache selbst.151 Und des­
halb glaube ich, daß diese Sache selbst in den Texten ein Ge­
wicht und eine Kraft hat, die gerade in den bedeutenden Fäl­
len größer ist als die Kraft dessen, was der jeweilige Autor
dabei verfolgt hat. Und infolgedessen würde ich sagen, ist es
gerade die Aufgabe einer philosophischen Interpretation
eines Textes, dem gerecht zu werden, was die Sache selbst, so
wie sie formuliert ist, auf einer Resultante einander wider­
streitender Kräfte sagt und nicht dem, was der Autor sich
dabei gedacht haben mag, was demgegenüber nur ein parti­
kulares und ein gewissermaßen ephemeres Element darstellt.
Das ist der Grund, warum ich aufdiese Sache hier so eingehe,
und vielleicht wirft Ihnen das zugleich auch einiges Licht auf
die interpretative Methode, wie ich sie insgesamt verfolge.
Ich habe Ihnen gesagt, was Kant vermutlich meint, näm­
lich die höhere Absicht der Natur selbst, die auf die Einheit
der beiden dualistischen Prinzipien abzielt. Ich habe Ihnen
aber zugleich gesagt, daß auch das andere dabei gemeint wer­
den kann. Sie würden dann darauf stoßen, daß, welche dieser
beiden Interpretationen man nun wählt, abhängt von der Be­
deutung, die man dem Wort Natur gibt. Und es wäre wohl
eine außerordentlich wichtige Untersuchung - zunächst nun
einmal wirklich philologischer Art, die, soviel mir bekannt
ist, noch aussteht -, wenn man einmal die verschiedenen Be­
deutungen des Begriffs Natur in der Kantischen Philosophie
sehr strikt untersuchen und zeigen würde, was mit Natur
überhaupt gemeint ist. Dieser Begriff der Natur ist doppel­
sinnig. Ein Leitfaden für diesen Doppelsinn des Begriffes
Natur bei Kant ist Ihnen vielleicht der Doppelsinn des Wor­
tes Ding bei Kant, das ja auf der einen Seite das Ding an sich
als die unbekannte sogenannte Ursache meiner Erscheinun­
gen, also ein absolut Transzendentes und mir vollständig nie
Gegebenes meint, auf der anderen Seite aber das Ding als
Konstitutum, also den Gegenstand meint, wie er als bleiben­
der durch das Zusammenspiel meiner Empfindungen, also
des Materials, mit meinen Anschauungsformen und mit mei­
nen Denkformen zustande kommen soll. Wenn Natur nichts
anderes heißen soll als der Inbegriff alles dessen, was im Be­
reich der Dinge überhaupt vorkommt, oder wenn Natur ein
Weltbegriff ist, wie es in der Arbeit über die Aufklärung von
Kant heißt, 1 52 dann würde der gleiche Dualismus, der, wie
allbekannt, auf Begriffe wie das Ding an sich bei Kant sich
erstreckt, auch auf den Naturbegriff selber sich erstrecken.
Die Natur wäre dann in seiner Philosophie so doppelsinnig
wie die Welt als die Totalität aller Dinge, die ihrerseits mir ja
vollständig nie gegeben ist. Natur ist also bei Kant einerseits
das Konstituierte, das Bedingte, der Inbegriff der Erfahrung
und ist als ein innermenschliches Prinzip, nämlich als das Be­
gehrungsvermögen, schließlich in der Arbeit über ))Die Reli­
gion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« von Kant
ja mit dem radikal Bösen schlechterdings gleichgesetzt wor­
den. 1 53 Auf der anderen Seite ist sie aber als Ding an sich auch,
wenn Sie mir eine Sekunde lang einmal diesen kitschigen
Ausdruck durchgehen lassen, der Seinsgrund, also jenes Ab­
solute, das in uns selber walten und uns Hinweise darüber
liefern soll, was böse und was gut sein soll. Und diese Hin­
weise selber werden dem Guten gleichgesetzt, weil sie ja ih­
rerseits aus dem stammen sollen, was das Menschenwesen
Kant zufolge charakterisiert, der Vernunft - und Sie müssen
in diesem Zusammenhang sich daran erinnern, daß die Ver­
nunft selber bei Kant ja eigentlich das Organon des Guten ist
und ein anderes Organon des Guten als die Vernunft in dieser

1 39
Moralphilosophie überhaupt nicht vorkommt. Es wäre also
danach die Vernunft von der Selbsterhaltung, von der Erfül­
lung der Bedürfnisse der Menschen gar nicht zu trennen.
Denn die Vernunft, die uns also nun jenes Gesetz liefern soll,
das Kant zufolge als unbedingtes und objektives gilt - und
darüber konnte Kant am wenigsten sich getäuscht haben,
nachdem die ganze Geschichte der Philosophie der neueren
Zeit, ich erinnere nur an Spinoza und an seinen Antipoden
Hobbes, das ausgesprochen hat -, das Wesen dieser Ver­
nunft ist j a Selbsterhaltung. Und noch in dem Kautischen
Begriff des >Ich denke, das alle meine Vorstellungen soll be­
gleiten können<154 schlägt, aufs äußerste sublimiert zu dem
rein logischen Identitätsprinzip, diese Idee der Selbsterhal­
tung, des Sich-als-Eines-identisch-Erhaltenden, durch. Auf
der anderen Seite wird nun aber von ihm die Selbsterhaltung
ja gerade als ein subalterner Grundsatz denunziert. Es gibt
eine berühmte Stelle in der »Grundlegung zur Metaphysik
der Sitten«, wo er die Bemühung um die Erhaltung des eige­
nen Lebens zwar als klug und vernünftig, aber als in einem
höchsten und absoluten Sinn nicht moralisch, das heißt, als
nicht rein aus dem Sittengesetz folgend, bezeichnet.155 Sie
können vielleicht aus dieser Überlegung, aus diesem Wider­
spruch, daß auf der einen Seite Vernunft ihrem eigenen Inhalt
nach, ihrem eigenen Gehalt nach, von dem Interesse an der
Erhaltung des Selbst nicht getrennt werden kann, weil Ver­
nunft selber eigentlich die Identität des sich erhaltenden
Subjekts ist, daß aber auf der anderen Seite die Vernunft in
Gegensatz soll treten können zu den Interessen der Selbster­
haltung, sich vielleicht am einfachsten und flagrantesten klar
machen, warum Kant den Dualismus der beiden Begriffe
von Natur, von denen wir eben handeln, eigentlich nicht er­
tragen kann, und warum er dazu gedrängt wird, sie in einem
höheren Begriff, wie man später gesagt hätte, aufzuheben. Es
spielt dabei gar nicht so sehr das Bedürfnis nach Harmonie
oder nach Ausgleich in einem höheren Prinzip oder nach Ein­
heit oder nach allen diesen Dingen eine Rolle, von denen die
Philosophiegeschichten uns dann so alle möglichen Platitü­
den zu erzählen pflegen, um dieses Verhältnis uns einleuch­
tend zu machen, sondern es geht doch wohl ganz einfach
darum, daß die Doppeldeutigkeit des Vernunftbegriffs selber
- als etwas, was auf der einen Seite gebildet ist am Modell der
Selbsterhaltung, andererseits aber die Partikularität dieser
Selbsterhaltung, die auf verhängnisvolle Konsequenzen und
Widersprüche führt, einschränken muß - dazu nötigt, über
diesen Dualismus hinauszugehen und jedenfalls zu durch­
denken, ob dieser ganze flagrante Widerspruch, an dem der
Gedanke ganz unmittelbar zu laborieren hat, damit wegge­
schafft ist. Ich glaube, mit anderen Worten, für das Motiv der
Versöhnung steht gar nicht so sehr das berühmte Bedürfnis
nach Harmonisierung oder nach systematischer Einheit oder
all das, sondern ganz einfach zunächst einmal, daß ein solcher
Widerspruch wie der, den ich Ihnen eben entfaltet habe, so­
lange der Gedanke bei ihm stehen bleibt, unerträglich ist, daß
er gar nicht geduldet werden kann. Nun aber wehrt Kant,
nachdem er diese Spekulation mit einer Notwendigkeit
durchgeführt hat, von der ich Ihnen vielleicht gezeigt habe,
so hoffe ich wenigstens, woher sie rührt, ab und sagt sozusa­
gen: >Bis hierher und nicht weiter< und sagt dabei wieder so
ein bißchen, und da kommen Sie an dieses spezifisch bürger­
liche Moment an dem Kant heran: >Das geht uns im Prakti­
schen nichts an, und deshalb brauchen wir uns darum nicht
weiter zu bekümmern.<
Nun möchte ich Ihnen doch ein paar Worte über dieses
Abbrechen sagen. Erstens, weil es an allen möglichen Stellen
eine Struktur der Kautischen Philosophie überhaupt ist, und
weil es genau die Struktur ist, gegen die seine Nachfolger
rebelliert haben. Denn ich würde sagen, wenn man den Un­
terschied zwischen Kant und Fichte und allen folgenden Idea­
listen auf einen Gestus bringen wollte, dann würde dieser
Widerspruch genau der sein, daß die dieses Abbrechen, die­
ses: >Aber das geht uns hier nichts an<, daß die das nicht haben
ertragen können, sondern eigentlich gesagt haben: >Gerade
wo Du sagst, das geht uns nichts an, da gehts uns erst recht
was an!< Dabei ist der Grund, den ich Ihnen damit genannt
habe, dafür aber nicht einmal der entscheidende, sondern die
Konstruktion der Moralphilosophie selber beruht in einem
entscheidenden Sinn auf diesem Abbrechen, das heißt, dar­
auf, daß über die Gegebenheit des Sittengesetzes selber nicht
weiter hinausgefragt werden soll, sondern daß ich diese Ge­
gebenheit schlechterdings zu respektieren habe - und darin
erinnert es paradox an die sinnlichen Daten, etwa das >Rot<,
über das ich nicht diskutieren kann, wenn es mir als rot er­
scheint, eben einfach, weil es da ist. Dieses Moment ist so
entscheidend für die gesamte Konstruktion der Kautischen
Moralphilosophie, daß wir über diesen Gestus des Abbre­
chens uns doch einmal kurz unterhalten müssen, weil auch er
sich wieder aus sehr komplexen Momenten komprimiert.
Das, was Ihnen dabei zunächst auffällt, nach dem, was ich
Ihnen schon auseinandergesetzt habe, ist der autoritäre Zug
dabei, der sagt, wenn das Sittengesetz dir gebietet, du mußt
deine Pflicht tun, dann ist es nicht gut zu grübeln, oder wie
Kant das auszudrücken pflegt, dann sollst du darüber nicht
weiter >vernünfteln<, sondern du sollst diese Gegebenheit wie
eine jede andere Gegebenheit respektieren, sozusagen:
>Bleibe im Lande und nähre dich redlich!< Das heißt also nicht
nur, gehorche dem Sittengesetz und grüble nicht darüber,
warum es da ist, sondern daß es da ist, ist eigentlich der stärk­
ste Beweis für seine eigene Gültigkeit. Demgegenüber ist
selbstverständlich die Frage legitim, daß man nicht nur nach
der Vorschrift selber, sondern auch nach ihrem Recht zu fra­
gen hätte; und würde ein Psychologe - horribile dictu - sich
der Kautischen Argumentation an dieser Stelle nähern, so
könnte er nicht ohne Grund sagen, daß an dieser Stelle ein
sogenannter Abwehrmechanismus vorliegt, das heißt, daß
Kant gerade deshalb, weil ihm selber an der Genese der
Pflicht und des Gewissens etwas mulmig ist, weil er selber
merkt, daß hier im Zentrum der Autonomie etwas gewisser­
maßen Heteronomes sich verschanzt, abwehrt und sagt:
>Nur um Gottes Willen nicht weiter, sonst geht mein ganzer
schöner Rettungsversuch der Universalien in der Solleos­
sphäre und damit eigentlich das ganze oberste Stockwerk
meiner so hierarchisch aufgebauten Philosophie kaputt.<
Man könnte dann zum Beispiel zur Kritik all der Zwangsme­
chanismen gelangen, die bei Kant als geltend einfach suppo­
niert werden, und zu der Zeit, wo die Psychoanalyse noch
wirklich etwas wie eine radikale Gesellschaftskritik war und
nicht eine Art Technik der psychologischen Massage, zu die­
ser Zeit ist die Psychoanalyse wirklich auch so weit gegan­
gen, daß sie eine jegliche Anerkennung von sittlichen Nor­
men nur deshalb, weil sie da sind, anstatt daß sie selber
durchsichtig gemacht und vor der Vernunft gerechtfertigt
werden, kritisiert hat. Insofern könnte man sagen, daß der
psychologistische Freud an dieser Stelle päpstlicher als der
Papst und ein konsequenterer Kantianer war als Kant, den er
übrigens vermutlich niemals gelesen hat. Damit aber ist die
Sache nicht getan, sondern in diesem Abbrechen ist auch ein
Wahres. Zunächst einmal hat der Kant - und das ist ftir die
Konstruktion der Kautischen Moralphilosophie wohl sehr
relevant - im Gegensatz zu seinen Nachfolgern das gehabt,
was ich einmal abgekürzt das Bewußtsein der Nichtidentität
nennen möchte. Das Kantische System der Transzenden­
talphilosophie - und ich rede jetzt von der Kautischen Philo­
sophie insgesamt - maßt sich nicht an, alles abzuleiten, so wie
es Fichte in einem ganz strengen Sinn als den obersten
Grundsatz ja prätendiert hat, sondern eben deshalb, weil die
Erkenntnis sich Kant zufolge zusammensetzt aus einem
Nichtableitbaren und aus einem Ableitbaren, deshalb kann
auch das Zusammenspiel dieser Momente und der Inbegriff
der Erkenntnis und der Inbegriff des Handeins selber nicht
rein abgeleitet werden. Also, es steckt in dieser sonderbaren
Resignation vor dem Positiven und Gegebenen nicht nur die­
ses Heteronome drin, sondern auf der anderen Seite auch das
Gefühl der Eingrenzung gegenüber dem Absolutheitsan­
spruch der Vernunft selber, insofern die Vernunft selber be-

1 43
haupten würde, daß alles was ist und ein jegliches Handeln
nichts anderes sei als ihr eigenes Produkt, so daß also paradox
gerade dadurch bei Kant, der das Heteronome so heftig kriti­
siert, das, was Nicht-Ich und in gewisser Weise heteronom
ist, in einem gewissen Sinn mehr geehrt wird und mehr zur
Geltung kommt als in den idealistischen Philosophien, die
zwar das Nicht-Ich viel mehr anerkennen als Kant es tut, aber
dadurch, daß sie es ins Ich selber hineinnehmen, seinerseits
eben doch wieder in Ich auflösen, und es damit auch als ver­
nünftig zu vindizieren, zu rechtfertigen trachten.
Es steckt aber noch etwas anderes, Tieferes in diesem Mo­
ment des Abbrechens drin, und das ist das Moment, auf das
ich ganz im Anfang der Vorlesung Sie einmal aufmerksam
gemacht habe und das hier sozusagen seinen wirklich theore­
tischen Ort eigentlich hätte.156 Ich weiß nicht, ob Sie sich dar­
auf besinnen, ich hatte es sicher zu früh anklingen lassen,
nämlich dieses Moment, daß in der Scheidung der theoreti­
schen und der praktischen Philosophie das drinsteckt, daß
das richtige Handeln in theoretische Bestimmungen nicht
rein aufzulösen ist. Wenn man versuchen würde, etwa ein
absolutes Gesetz aufzustellen und aus reiner Vernunft zu de­
duzieren, warum in der Welt nicht gefoltert werden soll,
dann würde man dabei auf alle möglichen Schwierigkeiten
stoßen - zum Beispiel aufjene Schwierigkeiten, die ganz ge­
wiß manche Franzosen in Algier erfahren haben mögen,
wenn in der furchtbaren Verkettung dieses Krieges ihre Geg­
ner Gefangene gefoltert haben. Sollen sie dann ihre auch fol­
tern oder sollen sie das nicht tun? Man kommt dann aber
wirklich in allen derartigen moralischen Fragen, in dem
Augenblick, in dem man sie überhaupt mit der Vernunft
konfrontiert, in eine furchtbare Dialektik hinein, und dieser
Dialektik gegenüber hat nun das Moment >Halt!<, das Mo­
ment: >Darüber sollst du nicht nachdenken!< auch sein Gutes.
In dem Augenblick, wo also ein Flüchtling zu einem kommt
und Obdach haben will, wenn man in diesem Augenblick
dann also den ganzen Apparat der Erwägungen anstellt, der

1 44
dazu gehört, anstatt zunächst einmal ganz einfach so zu han­
deln: hier ist ein Flüchtling, der soll umgebracht werden oder
irgendeiner Staatspolizei in irgendeinem Land in die Hände
fallen und der muß versteckt und beschützt werden - und
dem alles andere unterzuordnen. Wenn hier die Vernunft an
einer falschen Stelle eintritt, dann wird die Vernunft wider­
vernünftig. Und dieses Moment also, daß die Handlung,
daß, was man tut, in der Theorie deshalb nicht rein aufgeht,
weil es überhaupt zu einem richtigen Handeln gar nicht
käme, wenn nicht gerade dem richtigen Handeln immer et­
was von dem Bodensatz des Absurden beigemischt wäre, das
drückt sich in diesem Kautischen Prinzip eben doch aus, und
ich glaube, daß man überhaupt auch über die gesamte Sphäre
der Moralphilosophie sinnvoll nur dann nachdenken kann,
wenn man eines Doppelten sich bewußt ist: nämlich ebenso,
daß diese ganze Sphäre mit der Vernunft durchdrungen wer­
den muß, wie des anderen, daß sie dabei trotzdem in der Ver­
nunft selber sich nicht rein erschöpft. Das ist ein Moment,
wie es etwa in den religiösen Geboten gegenüber der Philo­
sophie ausgedrückt ist, und ich würde sagen, das ist es aus
rein philosophischem Motiv, nämlich eben deshalb, weil es
die Grenze der Vernunft im Bereich des Moralischen bedeu­
tet. Daß da in den Religionen - es mag im übrigen mit ihren
moralischen Normen noch so problematisch bestellt sein ­
etwas Richtiges ist, und in diesem: >Gehe hin und folge nach!<
stecktjedenfalls der Form nach etwas, was zu der Theorie des
Moralischen so wesentlich dazugehört wie die Vernunft, die
fordert, daß ich soll angeben können, warum ich an dieser
Stelle hingehen und nachfolgen soll. Und ich glaube aller­
dings, daß es gerade einem säkularen und aufgeklärten Den­
ken ansteht - auch durch die Selbstreflexion auf das Denken
-, nicht nur solche Momente durch die Befragung auf ihre
Autorität kritisch aufzulösen, sondern gleichzeitig diese Mo­
mente als ein Ingredienz des richtigen Handeins selber zu ret­
ten und in das, was man tut, hineinzunehmen.
Sie können an der Stelle, die ich Ihnen verlesen habe, sehr

145
deutlich merken, wie bei Kantjenes Moment, das dann in der
» Kritik der Urteilskraft « mit dem Begriff des Erhabenen be­
zeichnet ist, nämlich jenes Moment der Erschütterung und
der absoluten Selbstgewißheit in der reinen Autonomie, mit
einem Moment genau des entgegengesetzten Wesens, näm­
lich mit einem Moment bürgerlicher Beschränktheit, bür­
gerlicher Enge sich verschränkt. Ich würde fast sagen, daß
gerade die Beschränktheit des früheren Bürgertums, dem
Kant angehört, als die Einschränkung des Gefühls der Sou­
veränität, die in der nachkantischen Zeit die Menschen zu
recht oder zu unrecht sich erworben haben, so etwas ist wie
die Bedingung von moralphilosophischem Denken, wie die
Bedingung des Moralischen selber. Man müßte fragen, ob
ohne dieses beschränkende Moment so etwas wie Moralphi­
losophie und so etwas wie richtiges Handeln überhaupt mög­
lich sei, ohne daß man - und ich hoffe, ich brauche das kaum
hinzuzufügen - nun deshalb das Rad der Geschichte zurück­
drehen kann und dieses Beschränkende selber, nachdem es
von der Bewegung des Geistes, von der » Furie des Ver­
schwindens « - wie es bei Hegel heißt1 57 - einmal aufgelöst
worden ist, nun mit Gewalt zitieren und festhalten kann. Wie
es zum Beispiel - und das ist nicht der Ruhmestitel von Hegel
- die Tendenz Hegels gewesen ist, der, indem er das Ver­
hängnis gesehen hat, das in der Hinwegnahme des Beschrän­
kenden gelegen war, nun gesucht hat, das Beschränkende aus
Freiheit zu apologetisieren und damit in einen Widerspruch
geraten ist, den man nicht als einen dialektischen Wider­
spruch wird retten können. Ich erreiche also hier den Punkt,
den Valery wohl aufs großartigste und prägnanteste bezeich­
net hat, mit der Frage: >Üb die Tugend selber veralte?< 1 58, wie
ja in der Tat der Begriff der Tugend für uns einen archaischen
Klang angenommen hat, den sie bei Kant durchaus noch
nicht besessen hat. Und es ergibt sich die Frage, wie über­
haupt diese ganze Kautische Moralphilosophie, nachdem
nun einmal der Begriff der Tugend dahin ist, eigentlich noch
erfahren werden kann. Ich bin Ihnen schuldig, Ihnen den
Grund für diese geschichtliche Dialektik, der der Begriff des
Moralischen selber unterliegt, wenigstens anzudeuten, und
ich sehe dabei von dem Selbstverständlichen und für Sie alle
Absehbaren ab, nämlich von dem fortschreitenden Begriff
der Aufklärung, dem immer mehr vorgeblich ewige, gültige
Kategorien zum Opfer gefallen sind; etwa so wie Nietzsche
den Begriff des ewigen Sittengesetzes abgeleitet und kritisiert
hat.159 Ich glaube, daß deshalb nur in einer begrenzten Um­
welt, im Gegensatz zu der ins Grenzenlose gehenden und der
Erfahrung inkommensurabel erweiterten Umwelt von
heute, so etwas wie Moralphilosophie oder Tugend möglich
ist, weil nur soweit, wie die Umwelt begrenzt ist, es so etwas
wie die berühmte Kantische Freiheit überhaupt gibt. In der
ins Unermeßliche angewachsenen Erfahrungswelt und den
unendlich vielen Verflechtungen der Vergesellschaftung, die
diese Erfahrungswelt für uns bedeutet, ist die Möglichkeit
der Freiheit zu einem solchen Minimum herabgesunken, daß
man sehr ernst die Frage stellen kann oder muß, wieweit die
Kategorien des Moralischen ihr gegenüber einen Sinn haben.
Vor allem auch deshalb, weil, selbst wenn man ganz und gar
als ein Individuum im Sinn nun also des Kantischen Impera­
tivs leben würde, dabei höchst unausgemacht ist, wie weit
selbst ein solches richtiges Leben an die objektive Verfangen­
heit und Verstricktheit des heutigen Daseins überhaupt noch
heranreicht. Lassen Sie mich das gerade noch zum Schluß mit
einem ästhetischen Gleichnis klarmachen. In der Musik ist es
so gewesen, daß, solange es noch so etwas wie vorgezeich­
nete, feste, gegebene Formen gegeben hat, wie sie den vorge­
zeichneten und festen Formen des bürgerlichen Lebens selber
entsprechen würden, es die Möglichkeit von Improvisation
innerhalb dieser vorgegebenen Form gegeben hat. Je weniger
das der Fall war, je weniger es mehr an vorgegebenen For­
men gegeben hat, um so mehr ist auch die Freiheit des künst­
lerischen Subjekts - gerade in der mir sehr nahe liegenden
Musik -, jedenfalls die Freiheit zur Improvisation einge­
schränkt worden, und Versuche, sie wieder zu beleben, wie

1 47
wir sie ja in unserer Zeit verschiedentlich erfahren haben,
sind demgegenüber ganz ohnmächtig geblieben. Die also
heute im Ernst zeitgemäße Musik, die nun nichts mehr an
solcher Vorgeformtheit duldet, die also, wenn Sie so wollen,
auf der Voraussetzung der absoluten Freiheit beruht, die hat
sich gegenüber gar nichts an Bestimmtheit des Objekts
mehr, und diese improvisatorische Freiheit, die Freiheit des
Verhaltens, ist zu einem Nullpunkt geschrumpft. Und ich
glaube, etwas Ähnliches liegt in dem Bereich des Morali­
schen auch vor. Heißt doch, Moralphilosophie heute betrei­
ben und über diese Dinge nachdenken, zugleich auch not­
wendig sich Rechenschaft geben über den geschichtlichen
Stellenwert, den die Fragen nach dem richtigen Handeln und
nach dem richtigen Leben heute besitzen; und der ist gegen­
über dem Stellenwert, den sie in der Zeit der großen Philo­
sophie besessen haben, unendlich eingeschränkt. - Ich danke
Ihnen.
1 0. Vo RLESUNG
2. 7· 1 963

Das 160 Bewußtsein der Paradoxie der Erfahrung sogenannter


Freiheit als einer scheinbaren Naturursache ist in der Formu­
lierung: >daß also zwischen Freiheit und Notwendigkeit,
zwischen dem Reich der Natur und dem Bereich der prakti­
schen Vernunft ein Problem bleibe< 16\ auch von Kant selber
zugestanden worden. Mit anderen Worten, es ist für Kant auf
der einen Seite der Dualismus, von dem wir gehandelt haben,
unbefriedigend, wie andererseits, nach dem, was Kant ge­
zeigt hat, die Auflösung dieses Dualismus unmöglich. Ich
glaube, ich habe ein wenig darauf einzugehen, warum dieser
Dualismus unbefriedigend ist, denn Sie - oder manche von
Ihnen jedenfalls und gerade diejenigen, die ich als meine
Schüler betrachten darf- werden ja und zwar mit Recht an
dieser Stelle sagen: >Ja, warum ist eigentlich der Dualismus
unbefriedigend? Muß das alles in einer Formel aufgehen?
Muß denn alles unter einen systematischen Hut gebracht
werden? Gibt es nicht wirklich so etwas wie zwei voneinan­
der verschiedene Bereiche: auf der einen Seite den Bereich der
Erkenntnis dessen, was ist, und auf der anderen den Bereich
dessen, wie es sein soll? Und warum soll das nun krampfhaft
a tout prix vereinheitlicht werden? Steht dahinter nicht ir­
gendwie der Aberglaube an das System?< Ich glaube, wenn
Sie die Problematik, von der wir hier handeln und derer, wie
gesagt, Kant selber sich bewußt war, so fassen würden, dann
würden Sie doch dem Ernst und der Schwierigkeit dessen,
wovon hier die Rede ist, Unrecht tun. Ich möchte doch ver­
suchen, Ihnen über diese formale Anzeige hinaus inhaltlich
zu sagen, warum nun tatsächlich dieser Dualismus, auf den
Kant gestoßen ist, unbefriedigend ist, was an diesem Dualis­
mus flir die Theorie schwer sich ertragen läßt. Nehmen Sie
einmal an, der Determinismus der Natur sei total, also es
ginge in der Natur alles determiniert nach der Kausalität, ge­
setzmäßig, regelhaft zu, dann würde doch die Kautische For-

1 49
mulierung des Sittengesetzes als eines Gegebenen, als eines
Appells, als eines unwiderstehlich sich uns Aufdrängenden,
selber - wenn ich es extrem formulieren darf- in dem Sinn
etwas tief Unmoralisches annehmen, da dann an die Men­
schen eine Forderung erginge, die sie, da sie ja doch empiri­
sche Wesen sind, gar nicht erfüllen könnten. Und Sie dürfen
hier nicht vergessen, daß Kant ja in der Kritik der psycholo­
gischen Paralogismen an Stelle der rationalen Seelenlehre, die
die Grundbestimmungen der Seele zu einem Außerempiri­
schen gemacht hat, die Seele, soweit sie ein in der Verflech­
tung der raum-zeitlichen Welt tatsächlich Vorfindliches ist,
durchaus auch zu einem Empirischen gemacht hat; und daß
es nun nicht etwa so ist, daß es da einen Seelenanteil gäbe,
wie bei Platon, der nun diesem Naturcharakter des gesam­
ten seelischen Bereiches an sich entrückt wäre. Es gibt nichts
Seelisches, wovon Kant als Wissenschaftler nicht würde zu­
gestanden haben, daß es der Wissenschaft und damit der Psy­
chologie und damit der Kausalität untersteht. Er würde zum
Beispiel, wenn es sich darum gehandelt hätte, etwas wie eine
Denkpsychologie zu geben, also selbst die obersten logischen
Verhaltensweisen des Subjektes, soweit sie reale Verhaltens­
weisen des Subjekts zur Welt sind, in ihren psychologischen
Bedingungen zu studieren, sich geweigert haben, nun etwa
irgendeine Seelenkraft oder ein Seelenvermögen oder einen
Seelenteil als ein positiv Vorfindliches und Gegebenes der in­
telligiblen Welt zuzurechnen. Ist es nun tatsächlich so, daß
diese beiden Bereiche unversöhnlich auseinanderweisen,
dann wäre tatsächlich durch die Gegebenheit des Sittengeset­
zes den Menschen etwas aufgebürdet, was sie von vornherein
gar nicht erfüllen können, und es wäre dann, ich möchte sa­
gen, in dieser Überforderung selbst eine Art von Unvernunft
gelegen, die mit dem schlechterdings unvereinbar ist, was ja
Kant zufolge überhaupt der Erkenntnisort, der r6:n:o� VOTJrt­
x6� des Sittlichen ist, nämlich eben die Vernunft selber. Kön­
nen aber umgekehrt die empirischen Subjekte wirklich aus
Freiheit handeln, so ist, weil sie selber der Natur angehören,

150
die Kantische - durch die Kategorien gestiftete - Einheit der
Natur durchbrachen. Die Natur hat dann gewissermaßen
eine Lücke, und diese Lückenhaftigkeit widerspräche der
Einheit der Naturerkenntnis, auf welche ja die Naturwissen­
schaften Kant zufolge abzielen. Und zwar charakterisiert er
die Wissenschaften von der Natur mit Recht so, da ja die Na­
turwissenschaften auf Vereinheitlichung gerichtet sind, das
heißt darauf, eine möglichst große Mannigfaltigkeit von Er­
scheinungen durch ein Minimum von Funktionsgleichungen
auszudrücken. Lassen Sie mich gleich sagen, daß, wenn ich
Ihnen bei der einen Seite von dieser Begründung des Uner­
träglichen an jenem Dualismus gesprochen habe, nämlich bei
der Seite, wo ich von der Überforderung des Subjekts ge­
sprochen habe, daß ich mich bereits da auf einem Boden be­
finde, der nun tatsächlich dem Kantischen Boden der Erwä­
gung, der Reflexion gar nicht so fern ist. Denn genau diese
Art der Überforderung liegt ja in der gesamtprotestantischen
Tradition, der, wie man mit Recht immer wieder festgestellt
hat, Kant - und zwar gerade der Moralphilosoph Kant - sel­
ber zugehört. Der Begriff der Irrationalität der Gnadenwahl
und in eins damit die Vorstellung, daß nur durch unbe­
schränkte Anstrengung der Pflichterfüllung das Subjekt viel­
leicht der Gnade teilhaftig werde, ohne selber etwas Positives
darüber ausmachen zu können, das ist gewissermaßen das
geheime, unausgesprochene Modell jener Paradoxie, auf die
Kant hier stößt. Aber aufder anderen Seite ist er auch in diesem
Sinn dann doch wieder Kritiker der Theologie, daß er bei
diesem theologisch Paradoxen sich nicht bescheidet, sondern
daß er seine rationale Fragwürdigkeit im Sinn von Aufklärung
erkennt, wie ja überhaupt die Stellung Kants zur Theologie
außerordentlich komplex ist. Denn auf der einen Seite zielt
seine Philosophie gewiß daraufab, die theologischen Gehalte,
die durch die fortschreitende Aufklärung entfallen, zu erret­
ten, aufder anderen Seite aber doch so, daß er diese Gehalte aus
reiner Vernunft retten möchte, also von der Philosophie aus,
vom Gedanken aus; und darin allein, daß die theologische
Transzendenz von der Analyse der Vernunft abhängig ge­
macht wird, liegt in Wahrheit bereits das die Theologie qua
Theologie auflösende Prinzip. Über diese sehr komplexe und
in sich gespannte Stellung Kants zu der Theologie müssen Sie
sich Rechenschaft geben, wenn Sie die Komplexität seiner
Moralphilosophie, mit der wir uns in dieser Vorlesung be­
schäftigen, einigermaßen richtig verstehen wollen.
Wenn wir uns mit solchen Erwägungen nicht bescheiden
wollen, wie denen, die ich Ihnen eben wenigstens kurz ange­
deutet habe, dann muß man wohl auf den Erfahrungskern
dessen rekurrieren, was Kant in dieser Zweiweltentheorie
eigentlich vorgeschwebt hat. Ich bitte Sie dabei den Begriff
Erfahrungskern nicht zu pressen und dabei nicht mehr den
empiristischen Begriff von Erfahrung zu unterschieben. Was
ich damit meine, kann ich Ihnen besser an den Sachen erklä­
ren, als indem ich Ihnen ein methodologisches Prinzip gene­
rell sage. Ich meine - soviel kann ich vielleicht vorher anzei­
gen - eigentlich nichts anderes, als welche Sachverhalte Kant
gesehen, gedacht, gemerkt hat, worauf Kant eigentlich ge­
stoßen ist und was ihn dazu inspiriert, daß er diese merkwür­
dig widerspruchsvolle und dualistische Konzeption nicht nur
erschöpft, sondern sie gleichzeitig auch als solche stehen läßt.
Wenn Sie diese Erfahrung, das Wort richtig verstanden, die
Sie selber unmittelbar von sich als von geistigen Wesen ma­
chen - so etwas gibt es ja, ich hoffe es wenigstens; denken Sie
eine Sekunde lang, um das zugespitzt zu sehen, wirklich bei
Geist an den Geist, den Sie an sich selber als ein Ihnen Inne­
wohnendes erfahren, also denken Sie dabei gar nicht an ein
vom Individuum absolut losgelöstes Prinzip des objektiven
oder absoluten Geistes und nicht einmal an den transzenden­
talen Begriff der konstitutiven Faktoren -, dann mag diese
Erfahrung von Geist, wie immer auch, in dem Naturzusam­
menhang entsprungen sein, trotzdem wird der Geist, so habe
ich es einmal in einem Gespräch mit meinem verstorbenen
Lehrer Gelb1 62 ausgedrückt, um ein ganz kleines bißchen
über den Zusammenhang des Natürlichen hinausragen. Der

152
Geist mag nicht ganz vergeblich sein, er mag nicht einfach ein
Stück Natur sein, sondern das, was wir überhaupt Natur
nennen, bestimmt sich überhaupt selber erst durch den Ge­
gensatz zu eben dem, was wir als geistige Erfahrung besitzen.
Mit anderen Worten, die Vorstellung, die wir hegen, der In­
begriff unserer Vorstellungen kann so beschaffen sein, daß,
obwohl alle Elemente der Vorstellungen aus dem Seienden,
also aus dem Gesamtbereich der Natur stammen, sie in ihrer
Konstellation in diesem Zusammenhang nicht aufgehen; daß
wir uns vorstellen können, was nicht bereits ist; daß unsere
Vorstellung, trotzdem all ihre Momente aus dem Gegebe­
nen, dem Seienden stammen, dadurch, daß sie diese Ele­
mente zusammensetzt, dadurch, daß da ein Moment ist, das ­
wenn Sie so wollen - frei über sie verfügt, in der Gebunden­
heit an den Naturzusammenhang nicht aufgeht. Und ich
glaube, wenn Sie der Urgeschichte dessen nachgehen wol­
len, was bei Kant mit dem Begriff von Freiheit überhaupt
gemeint ist, wenn Sie das Modell sehr präzis greifen wollen,
das dem Begriff der Freiheit zugrunde liegt, mit dem wir ja
im allgemeinen so ein bißeben unbesonnen und unpräzis
schalten, dann ist es vielleicht gar nichts anderes als dieses
eigentümliche Vermögen, daß wir in unserer Vorstellung, in
unserer Imagination mit den von uns imaginierten Elemen­
ten der Natur oder des Seienden schalten können, sie in an­
dere Zusammenhänge setzen können, als diejenigen Zusam­
menhänge sind, in denen wir sie primär erfahren haben und
in denen sie eigentlich stehen. Diese Tatsache, diese ganz
schlicht zu beobachtende Tatsache, daß zwar, was Geist ist,
genetisch und seinem Inhalt nach auf die Natur zurückver­
weist, aber zugleich doch nicht in ihr sich erschöpft, ich
glaube, das ist eigentlich wohl das, was der Kant mit dieser
ganzen Lehre von der Freiheit inmitten des Natürlichen aus­
drücken will; und was allerdings adäquat sich wirklich gar
nicht in einer Logik der reinen Widerspruchslosigkeit, wie
die es ist, die Kant selber vertritt, einer Logik des Entweder­
Oder, ausdrücken läßt, denn in der bliebe es ein Wider-

1 53
spruch, sondern erst in einer dialektischen Logik, in der das,
was entsprungen ist, nicht dem gleicht, woraus es entsprang.
Das übrigens, würde ich sagen, ist der entscheidende Unter­
schied, der zwischen einem dialektischen Ansatz des Den­
kens und einem der prima philosophia oder der Ontologie
eigentlich herrscht; und es liegt darin zugleich auch das be­
schlossen, daß der Primat des Ursprungs, daß der Primat des
Ersten, wenn ich es sehr paradox sagen soll, durch einen sol­
chen Ansatz eben in dem Sinn nicht mehr respektiert wird, in
dem ich es Ihnen an diesem eigentlich ganz einfachen Modell
gezeigt habe. Nun ist aber dieses Entragende, dieses kleine
bißchen an unserer Natur, was nicht Natur ist - im Gegensatz
zu der Verblendung, die die Kategorie der Naturbefangen­
heit schlechthin ist -, eigentlich eins mit der Selbstbesinnung.
Wir sind eigentlich in dem Augenblick nicht mehr selber ein
Stück der Natur, in dem wir merken, in dem wir erkennen,
daß wir ein Stück Natur sind. Ich glaube, zugespitzter kann
man es überhaupt nicht sagen, denn Verblendung ist eigent­
lich nichts anderes als jenes sture Vor-sich-hin, das des Prin­
zips der Selbstbesinnung überhaupt nicht mächtig ist und das
gerade dadurch, daß es nicht selber in seiner natürlichen Be­
dingtheit sich erkennt, nun dieser natürlichen Bedingtheit
gerade durch die bloße Verfolgung von unmittelbaren
Zwecken, von Veranstaltungen der Unmittelbarkeit, eigent­
lich verfällt. Nicht umsonst ist Verblendung denn auch eine
mythische Kategorie, als die Kategorie schlechterdings,
durch die die Menschen, wie es in den Mythen geschieht,
dargestellt werden als solche, die im Naturzusammenhang
aufgehen. Und das, was sich dem entzieht, was man in einem
sehr emphatischen Sinn Subjekt überhaupt nennen könnte,
das ist nichts anderes als jene Selbstbesinnung, jene Besin­
nung auf das Ich, in der das Ich merkt: ich selber bin ja ein
Stück Natur - und gerade dadurch wird es der blinden Ver­
folgung der Naturzwecke ledig und zu etwas anderem. Es
sind das Sachverhalte, wie sie unausgesprochen und objektiv
der Kautischen Ethik zugrunde liegen, wie sie in einer späte-

1 54
ren Stufe des Kantischen Denkens, nämlich bei Schopen­
hauer, nun allerdings in einem bestimmten, selber problema­
tischen Sinn heraufgekommen sind in der Vorstellung, wel­
chedie Ethik an die >Verneinung des Willens zum Leben< bin­
det. Wie es mit der Verneinung des Willens zum Leben sein
mag, darüber möchte ichjetzt lieber nicht reden, ich möchte
nur ebenfalls sagen, daß etwas von dem, was der Schopen­
hauer damit meint, nämlich das den >Schleier-der-Maya­
Wegreißen<, also das sich selber als ein Moment des Blin­
den Erkennen und dadurch dem Blinden zu entragen, 1 63 daß
das eigentlich dem Sachverhalt außerordentlich nahe
kommt, den ich hier meine, ohne daß ich allerdings glaube,
daß man die Schopenhauersche Konsequenz einer daraus
wieder abzuleitenden positiven Identitätsphilosophie oder
Metaphysik teilen müßte.164 Ich möchte Sie dabei nur auf die­
ses eine Moment eben hinweisen. Das, was Natur transzen­
diert, sage ich, ist die ihrer selbst innegewordene Natur. Kant
drückt das in gewisser Weise aus, aber gleichzeitig weiß er
davon nichts - und zwar deshalb, weil für ihn Naturbeherr­
schung vermöge der Kategorie der Vernunft, welche ja die
naturbeherrschende Kategorie schlechthin ist, selber ein Ab­
solutes und Selbstverständliches ist, wie denn auch alle Kate­
gorien, die er in der Ethik gibt, eigentlich nichts anderes sind
als solche der Naturbeherrschung. Man kann sagen, wenn
man mit einiger Freiheit und mit einigem Abgehen von dem
wörtlichen Text, aber ich glaube, ohne daß man dabei allzu­
sehr von dem von Kant Gemeinten sich entfernt, daß der ka­
tegorische Imperativ von Kant gar nichts anderes ist, als das
ins Normative gewendete, zum Absoluten erhobene Prinzip
der Naturbeherrschung selber. Das heißt, wenn ich so han­
deln soll, daß ich mich weder von irgendeinem auswendigen
noch von irgendeinem inwendigen Gegebenen abhängig ma­
chen soll, sondern nur von der Allgemeinheit meiner Ver­
nunft, so läuft das ja auf die Totalität der Naturbeherrschung
hinaus, ebenso wie Vernunft selber das auf die äußerste Ab­
straktion gebrachte Prinzip der Naturbeherrschung tatsäch-

I 55
lieh ist. Und deshalb muß Kant nun doch im Geist - als dem
naturbeherrschenden - Geist qua Freiheit verabsolutieren
und kann den Schritt, den ich versucht habe, Ihnen zu expli­
zieren als eine mögliche Auflösung des Dilemmas, in dem
Kant und die Philosophie sich hier befinden, nämlich den der
Reflexion oder den der Freiheit als des Innewerdens von Na­
tur, eigentlich nicht vollziehen. Das ist gleichsam der Punkt,
auf den die Kautische Philosophie, wie es im Märchen heißen
würde, verzaubert ist. Wenn sie dieses Punktes inne würde,
wenn sie dieses selber wüßte, dann würde das Ganze sich
transfigurieren, würde in ein vollkommen anderes sich ver­
wandeln. Und deshalb hat bei ihm der Begriff der Selbstbe­
sinnung keinen Ort, wie in allen diesen Theorien der Begriff
der Selbstbesinnung eigentlich perhorresziert ist, so zum
Beispiel noch in der Theorie von Heidegger, der ja auch in
dem Begriff der Eigentlichkeit die Reflexion auf das Selbst
und seine Bedingtheit, nämlich auf den Tod, als ein bloßes
Grübeln oder Hinstarren auf den Tod perhorresziert. 165 Und
wo die Eigentlichkeit >eigentlich< in einem blinden >Es selbst
Sein zum Tode hin< bestehen soll, da fällt gerade Heidegger
in einem sehr emphatischen und, möchte ich hinzufügen,
höchst fragwürdigen Sinn in die Tradition des idealistischen
Denkens hinein. 1 66 Also das ist der Grund, warum nun Kaut
doch den Geist als das Prinzip der Naturbeherrschung nicht
dialektisch vermitteln kann als die Selbstreflexion der Natur
im Menschen, sondern diesen Geist - als wäre eben jenes
herrschende Prinzip ein selbständiges - quasi besinnungslos,
blind verabsolutieren muß, und warum er bei diesem Dualis­
mus von Geist und Natur stehenbleibt - man könnte sagen:
weil es bei ihm eben die Vermittlung nicht gibt. Vermittlung
nicht als ein Mittleres verstanden, sondern in dem Sinn. daß
durch die Vermittlung von den beiden einander entgegenge­
setzten Momenten das eine dessen inne wird, daß es das an­
dere in sich notwendig impliziert. Und man kann insofern
also sagen, daß durch diese blinde Naturbeherrschung bei
Kant nun gerade die nichtaufgehellte Natur sich reprodu-
ziert, oder anders gewandt, daß die Kautische Moral ihrcr­
seits eigentlich nichts anderes ist als Herrschaft.
Meine Damen und Herren, nachdem ich mit Ihnen die
vielleicht etwas schwierigen - aber ich glaube doch, zu dem
tieferen Verständnis dessen, womit wir uns hier zu beschäfti­
gen haben, notwendigen - Erwägungen angestellt habe,
möchte ich vielleicht nur ein Wort noch dazu sagen, wie ich
es versprochen habe, warum ich mich bis jetzt an die Texte so
streng angeschlossen habe. Ich glaube nämlich, daß es eine
Art von fruchtbarer Spannung gibt zwischen der Konstruk­
tion einer Philosophie, wie ich sie eben betrieben habe, und
der wörtlichen Interpretation oder der Interpretation wörtli­
cher Stellen, die eben für sich oft sehr viel mehr und anderes
sagen, als sie sagen würden, wenn man sie so in einen allge­
meinen Zusammenhang verflüchtigt. Ich möchte sagen, daß
gerade diejenige philosophische Spekulation, die wirklich
über den sogenannten geistesgeschichtlichen Zusammen­
hang hinausführt und die die Denkgebilde, die man zu unter­
suchen hat, selber zum Sprechen bringt, nicht eine ist, die
sich von der Wörtlichkeit der Texte entfernt, nicht also eine,
wie man so sagt, die den allgemeinen Geist eines Denkers
wiedergibt, wie es in schier unerträglichem Maß bei Dilthey
geschieht, aber etwa auch in dem sonst so schätzbaren >Histo­
rismus-Buch< von Troeltsch,1 67 sondern daß gewissermaßen
eine wirklich genau angesehene, aus der Nähe betrachtete
Formulierung oder Stelle wie das Kapitel von Kant, mit dem
ich Sie nun so lange aufgehalten habe, viel eher den Zugang
zu den sogenannten großen und über die Besonderung hin­
ausgehenden Spekulationen eröffnet als nun einfach so ein
Gesamtreferat dessen, was in der Kautischen Ethik drinsteht.
Ein Referat, das ich Ihnen im übrigen nicht ersparen will,
denn ich sehe ja durchaus auch Ihr legitimes Bedürfnis ein,
daß Sie, wenn auch nur nebenher und sozusagen spielender­
weise, in dieser Vorlesung allesamt genau lernen, was eigent­
lich die ethische Doktrin von Kant ist.

I 57
Nun möchte ich übergehen zu der Darstellung der Kauti­
schen Moralphilosophie selber. Das heißt, ich möchte nun,
nachdem ich Ihnen die prinzipiellen Dinge doch glaube,
ziemlich eingehend entwickelt zu haben, mich mehr aufkon­
krete Teilbemerkungen zu der Kantischen Moralphilosophie
konzentrieren und Ihnen - und ich glaube, das ist der Augen­
blick, wo wir das am besten können in dieser Vorlesung -
auch einmal erklären, warum ich fast gegen meinen Willen in
dieser Vorlesung mich so sehr auf die Kantische Moralphi­
losophie konzentriert habe. Man kann nämlich sagen, daß die
Kantische Moralphilosophie eigentlich überhaupt die Mo­
ralphilosophie par excellence, die Moralphilosophie schlech­
terdings ist. Dadurch, daß sie die Empirie ausschaltet, also
gerade durch diesen Chorismos, diese extreme Trennung
zwischen den Bereichen des Moralischen und der Natur, ist
so etwas wie eine in sich durchgebildete und konsequente
Moralphilosophie eigentlich möglich. Es ist kein Zufall, daß
die Nachfolger Kants allesamt - mit Ausnahme von Scho­
penhauer, den ich Ihnen schon nannte - so etwas wie eine
explizite Moralphilosophie dadurch nicht hatten, daß sie den
Dualismus, mit dem wir uns beschäftigt haben, nicht geson­
nen waren hinzunehmen, sondern daß sie die Schwierigkei­
ten, die ich Ihnen skizziert habe, dazu veranlaßt haben, diese
dualistische Konstruktion zu verlassen; dadurch ist für sie
eigentlich doch die Konstruktion einer moralischen Sphäre
qua moralischer Sphäre in der Philosophie selber unmöglich
geworden. Es ist das in einem späteren Stadium Hegel von
Kierkegaard ganz besonders vorgeworfen worden, der darin
sozusagen einen Makel gesehen hat, ohne daß er erkannt
hätte, daß eben diese Vermittlung der Bereiche, wie sie in
dem totalen Idealismus liegt, so etwas wie Moralphilosophie
in einem eigentlichen Sinn nicht mehr zuläßt. Doch das hat
dann auch das sehr Bedenkliche, daß in der Folge gerade die
Tradition des Idealismus einem Relativismus sich verschrie­
ben hat, der dann schließlich zu sehr finsteren Konsequenzen
das Seine beigetragen hat. Während die Repristinationsver-
suche der Karrtischen Ethik, die Sie finden in dem N eukantia­
nismus, eben als solche Repristinationsversuche das Mal der
Ohnmacht haben, und im übrigen, indem sie sich etwa bei
Hermann Cohen wesentlich an die Konstruktion des Rechts
anschließen, 1 68 gegenüber der Karrtischen Konstruktion der
Autonomie bereits einen Schatten des Heteronomen in sich
enthalten. Wenn bei Karrt im übrigen die Empirie so radikal
ausgeschlossen wird, wie ich es Ihnen dargestellt habe, so
dürfen Sie auch darin nicht nur so etwas wie die Monomanie
eines auf den Begriff des Reinen, wie er ihn in der ))Kritik der
reinen Vernunft« entwickelt hat, des Apriorischen schlech­
terdings und des allgemein Geltenden versessenen Mannes
sehen, sondern Sie müssen sich klar darüber sein, daß der
Empirismus seiner Grundhaltung nach eins ist mit Skepsis.
Wenn Sie Geschichte der Philosophie lernen, wenn Sie sich
etwa darauf vorbereiten, in einem Examen über Hume Aus­
kunft zu geben, da werden Sie alle irgendwie auch darauf
geraten, daß also die Humesche Philosophie eine wesentlich
skeptische Philosophie sei. Aber ich glaube, es ist doch gera­
ten, daß Sie sich eine Sekunde lang einmal klar machen, was
der Begriff der Skepsis in seinem Zusammenhang mit Empi­
rismus bedeutet: daß nämlich, je mehr an empirischen Bedin­
gungen zugelassen wird, eben gleichzeitig auch desto mehr
an Möglichkeiten einer objektiven Bestimmung dessen, was
richtiges Leben und richtiges Verhalten sei, entfällt, nicht
mehr möglich ist. Es ist also zum Beispiel so, daß, wenn man
etwa im Sinn eines vulgären Empirismus zeigt, daß so etwas
wie die Heiligkeit des menschlichen individuellen Lebens in
irgendwelchen empirisch gegebenen Kulturen, bei den be­
liebten Trobriandern oder sonst irgendwo in der Südsee,
nicht gilt, daß daraus dann also die Folgerung gezogen wer­
den kann: )Ja, wenn alle diese Normen ihrerseits bloß empi­
risch sind, dann hat man ihnen gegenüber im Grunde gar
keine Instanz auf ihrer Gültigkeit schlechthin zu bestehen.<
Und der Karrtische Formalismus, den man Karrt immer wie­
der vorgeworfen hat, hat zum Teil auch einfach den Grund,

1 59
daß er die Möglichkeit einer Allgemeinheit der Formulie­
rung des Sittlichen trotz dieses anstürmenden Empirismus
und trotz der damit verbundenen Skepsis hat bewahren wol­
len, indem er sie eben auf einen so hohen Allgemeinheitsgrad
gebracht hat, daß dagegen das skeptische Argument der blo­
ßen empirischen Bedingtheit, der je in Rede stehenden Nor­
men, nicht mehr gelten soll. Nun könnten Sie daraufhin sa­
gen: >Wenn er nun schließlich als Inhalt der Ethik oder als
Ethik überhaupt nichts anderes formuliert, als daß ich im
Sinne einer von mir als allgemein vorauszusetzenden Gesetz­
mäßigkeit handeln soll, dann ist das doch eine furchtbar
dünne Geschichte, mit der man in der Praxis, auf die die
ganze Kantische Philosophie abzielt, wie man in solchen Fäl­
len zu sagen pflegt, keinen Hund hinter dem Ofen hervorlok­
ken kann.<
Sie können vielleicht nun unter diesem Aspekt einen ande­
ren Zug besser verstehen, den man dem Kant kaum weniger
und jedenfalls schon früher als den Formalismus zum Vor­
wurf gemacht hat, nämlich den sogenannten Rigorismus ,
der, wenn ich so sagen darf, korrelativ dazu ist. Die Kauti­
sche Ethik hat ja den Charakter des Rigorosen in dem Sinn,
daß ihre Allgemeinheit und Notwendigkeit zwar keine der
faktischen Natur sein soll, daß aber auf der anderen Seite das
sittliche Gebot schlechterdings keinen Nachlaß dulde, und
daß alles, was demgegenüber auf Neigung zurückgeht, als
heteronom, wenn nicht schlechterdings verdammt, so doch
zum mindesten von den ethischen Bestimmungen ausge­
schlossen worden ist. Und es ist genau dieses Moment an der
Kautischen Ethik gewesen, das am frühesten schon Anlaß zu
Anstoß geboten hat. Wie Sie wahrscheinlich alle wissen, be­
zieht sich ja die Abweichung von Schiller, des Kantianers
Schiller, der ja sonst ein treuer Kantianer gewesen ist, genau
darauf, und es ist bei ihm nun der bei Kant nur visierte Ge­
danke einer Vereinigung der voneinander unterschiedenen
Prinzipien der Natur und der Freiheit in dem Sinn ausgeführt
- und das vollzieht sich sogar noch, wenn Sie so wollen, auf

1 60
Kantischem Boden -, daß auch die Natur selbst, wenn der
Endzweck der Natur die Freiheit sein soll, dann im sittlichen
Verstande nicht das radikal Böse sein kann, daß es auch etwas
wie gute Natur gibt; und daß diese gute Natur, und zwar in
Gestalt der Kunst, auf die Menschen veredelnd und insofern
auch sittlich wirken kann, mit anderen Worten: daß der Na­
tur selbst auch ein Sittliches zugeschrieben wird. Eine These,
die nun allerdings von Kant schroff abweicht, der daraufja
geantwortet hat, und das ist nun wirklich Kantischer Rigo­
rismus, >daß in dem Gefolge der Grazien< - die gegen ihn von
Schiller verteidigt worden sind -, >das Laster und das Böse
nur allzuleicht sich einschlichen.< 1 69 - Mit den Trivialitäten,
daß dieser Kantische Rigorismus - der ihm ja nun ganz be­
sonders von Nietzsche angekreidet worden und seitdem zu
einer Art von Kinderspott geworden ist - mit dem asketi­
schen Ideal des Protestantismus zusammenhängt und außer­
dem eine Reflexionsform der sogenannten Beamtenmoral
ist, wie dann die Wissenssoziologie an dieser Stelle Kant ge­
genüber eingewandt hat, möchte ich weder Sie noch mich
langweilen. Es mag damit sich verhalten wie es will. Ich
glaube, es führt weiter und ist fruchtbarer, wenn man diesen
sogenannten Rigorismus selber nun abzuleiten versucht -
wie ich es mit all diesen Bestimmungen versuche - aus der
Komplexion des Kantischen Denkens selbst. Wenn Sie sich
eine Sekunde lang daran erinnern, daß ich Ihnen den Forma­
lismus Kants, also die äußerste Reduktion auf Allgemeinhei­
ten, als eine Art Rettungsversuch vor der Skepsis dargestellt
habe - sozusagen als den sehr bürgerlichen Versuch, so etwas
wie ein moralisches Minimum in Händen zu halten, daß da
vor aller Relativität geschützt sei -, dann war das philo­
sophische Ingenium in Kant ganz sicher dessen sich bewußt,
daß eine solche Bestimmung wie die, die er an dieser Stelle
gibt, ein bißeben dünn bleibt. Und dazu ist nun der Rigoris­
mus komplementär. Das heißt, das einzige, wodurch diese
formalen Bestimmungen über ihren Formalismus hinaus­
kommen, wodurch sie, ja, ich möchte fast sagen, Kontur ge-

I6I
winnen, ist eben dieses Moment, daß sie eine Ausnahme
schlechterdings nicht dulden sollen, und daß ihnen eben die­
ser Charakter des, wie Kant es nennt, Kategorischen, der
schlechterdings nicht zu überhörenden Aufforderung, zuge­
messen wird. Wenn Sie hier an den Begriff der Pflicht den­
ken, der ja sozusagen der Ausdruck des Sittengesetzes in sei­
ner Rigorosität ist, dann werden Sie sogleich merken, daß
durch dieses Moment des Unabdingbaren, dessen, dem ich
mich nicht entziehen kann, tatsächlich diese äußerste Forma­
lität des Sittlichen eine Art von Konkretion jedenfalls ge­
winnt, nämlich die, daß es sich jeweils bestimmt durch den
Ausschluß all der Neigungen, Impulse, alles dessen, worauf
nun diese Norm trifft. Die Formalität des Sittlichen emp­
fängt dann gewissermaßen ihren Inhalt negativ durch all das,
was vermöge dieses Verbotes alles Heteronomen dem Sitten­
gesetz entgegentritt, und was es selbst konkret ist, das merkt
es dann sozusagen immer an diesem ihm entgegengesetzten
Moment. Die Abstraktheit oder der Formalismus, von dem
wir hier gehandelt haben, das möchte ich schließlich noch
sagen, ist selber der Ausdruck der radikalen Trennung des
Prinzips der Freiheit und der Vernunft von der Natur. Dieser
Formalismus hat selber also einen Grund in dem Inhalt der
Doktrin. Es ist kein formalistisches Denken, sondern der
Formalismus entspringt seinerseits aus dem Inhalt der Theo­
rie, denn die Theorie selber schließt ja jeden besonderen mo­
ralischen Inhalt, weil er aus dem bloß Daseienden, dem bloß
Empirischen kommt, als ein, man könnte sagen, Moralfrem­
des, als ein von außen Kommendes, als etwas, was seinen Ort
nicht lediglich in der Freiheit meiner Vorstellung hat, von
sich aus. Und da schlechterdings nichts vorzustellen ist,
nichts Bestimmtes vorzustellen ist, was nun nicht seinerseits
in diesem Sinn auf die empirische Realität zurückwiese, so
wird vermöge jenes Chorismos, jenes dualistischen Prinzips
in der Kantischen Ethik, das ich Ihnen eingehend entwickelt
habe, es nun selber notwendig, daß dieses Prinzip selber le­
diglich als ein ganz formales aufgestellt werden kann, das

I62
heißt: daß es im Grunde gar nichts anderes ist als die reine
Identität der Vernunft mit sich selber. Auf der anderen Seite
aber ist es dann doch so- und das ist das höchst Merkwürdige
und ein Phänomen, auf das ich Sie jetzt nur noch hinweisen
kann -, daß gerade vermöge der Verflechtung mit dem Rigor
der Kautischen Theorie, also mit der Strenge und Unaus­
weichlichkeit des Pflichtbegriffes, diese Bestimmungen ge­
gen Kants Willen negativ dann doch fast eine Art von Kon­
kretion annehmen, die am Schluß dazu führt, daß diese Ethik
gar nicht so formal ist, wie sie eigentlich aussieht. Es ist das
ein Punkt, auf den von Julius Ebbinghaus mit Recht hinge­
wiesen worden ist;170 nur, daß er nicht genügend Rechen­
schaft sich davon gegeben hat, daß es hier zwischen dieser
Konkretion und dem streng formalen Charakter der Kauti­
schen Ethik eine eigentümliche Dialektik gibt, aber auf die
kann ich nun nicht mehr eingehen. - Ich danke Ihnen.
I I. VORLESUNG
4 · 7· I 96 3

Meine Damen und Herren,


ich habe wiederholt versucht, Ihnen klarzumachen, daß
das Prinzip des sittlichen Handeins bei Kant eigentlich gar
nichts anderes ist als die Vernunft selber, das heißt: eine Ver­
nunft, die von allen Beschränkungen noch partikularer
Zwecke sich befreit hat und die überhaupt nach nichts ande­
rem verfährt als nach ihrem allerallgemeinsten Inhalt. Nun
hat das selbstverständlich eine lange Tradition und damit
auch eine Reihe von Implikationen, über die wir doch wenig­
stens einige Worte verlieren sollten. Die wichtigste der Tra­
ditionen, die darin auf eine freilich gar nicht so unmittelbar
zutage liegende Weise sich ausdrückt, scheint mir doch die zu
sein, die der gesamten Überlieferung nach Sokrates zuge­
schrieben wird, von dem wir ja, wie Sie wissen, keine Texte
haben und dessen Doktrin im einzelnen äußerst kontrovers
ist und die dann immerhin, vermutlich im Anschluß an Pla­
tonische Theoreme, in der Form formuliert worden ist, daß
das richtige Wissen zugleich das richtige Handeln bestimme,
was dann von Platon umgeformt worden ist zu der Lehre,
daß die Tugend oder das richtige Verhalten lehrbar sei.171
Diese Theorie, die man gewöhnlich die rationalistische Be­
gründung der Moralphilosophie nennt, ist in Kant bewahrt,
und wenn irgendwo, dann ist er an dieser S telle - ich würde
sagen, an ihr allein - in einem genauen Sinn als ein rationali­
stischer Denker zu verstehen. Diese These insgesamt ist nun
außerordentlich in Verruf geraten, weil sie der Lehre von
dem reinen Herzen, dem Gefühl, das für sich selber spricht,
zu widersprechen scheint, jener besonders bei uns in
Deutschland sehr virulenten Auffassung, daß eigentlich das
richtige Handeln gerade ein Handeln ist, das durch unmittel­
bare Impulse gegeben und von der Vernunft abgeschieden
ist, eine Anschauung, die ihren letzten, schäbigen Abhub in
dem grauenvollen Begriff der >Herzensbildung< findet, den
einem früher allenfalls Verwandte vorgehalten haben, wenn
man in irgendwelchen Dingen zu sehr auf der Vernunft be­
standen hat, und der wohl heute nur noch in Heiratsannon­
cen sich finden dürfte. Was im übrigen darunter eigentlich zu
verstehen sei, das zu ergründen, ist mir nicht gelungen; es
wäre eine hübsche Aufgabe, freilich mehr eine für die empiri­
sche Sozialforschung als eine für die Philosophie, einmal an
einem repräsentativen Querschnitt zu ermitteln, was diese
Herzensbildung eigentlich sein soll. Es ist von größter Wich­
tigkeit, daß Sie sich darüber klar werden, daß an diesem zen­
tralen Punkt Kant der gesamten deutschen, wahrscheinlich
auf den Pietismus zurückdatierenden Überlieferung, daß das
richtige Verhalten eine Sache des reinen Herzens, der reinen
Unmittelbarkeit sei, entgegengetreten ist, obwohl schon sein
nächster Nachfolger, sein nächster ebenbürtiger Nachfolger,
nämlich Fichte, in der Formulierung, daß das Moralische sich
immer von selbst verstehe, in gewisser Weise wieder auf die­
sen Standpunkt zurückgefallen ist. - Meine Damen und Her­
ren, Sie wissen ja, daß Fichte sich nicht nur ftir den Nachfol­
ger Kants, sondern ftir den strengsten Kantianer gehalten hat
und eigentlich geglaubt hat, daß er den Kant besser verstan­
den hätte als dieser sich selbst, was im übrigen gar kein so
absurder Anspruch ist, wie er dem gemeinen Menschenver­
stand dünkt, denn in vieler Hinsicht ist ja Fichte tatsächlich
der zu sich selbst gekommene, das heißt, ganz konsequente
Kant.172 Und es würde sich lohnen, einmal darüber nachzu­
denken, ob diese beiden, scheinbar einander so kontradikto­
risch widersprechenden Sätze, auf der einen Seite also der,
daß die Vernunft die Garantin und die alleinige Garantin des
Guten sei, und auf der anderen der, daß das Moralische sich
immer von selbst verstehe, einander tatsächlich so radikal
widersprechen. Ich möchte, nachdem ich Sie durch die etwas
engpaßähnlichen Zugänge zu der Kautischen Moralphiloso­
phie zu geleiten versucht habe, das Gedankenexperiment wa­
gen, Ihnen zu erklären, daß diese beiden Prinzipien, wenn
man nun wirklich auf den Kant näher hinblickt, gar nicht so
unbedingt sich ausschließen, wie das aussieht. Denn auf der
einen Seite ist das Kautische Prinzip des Moralischen ja eben
die Vernunft, das absolut und uneingeschränkt vernunftge­
mäße Handeln, das dabei aber auch von der Partikularität der
besonderen Zwecke des je einzelnen absieht und sich auf die
allgemeinste Struktur der vernunftgemäßen Gesetzmäßig­
keiteil beschränkt. Weil aber auf der anderen Seite ja die Ver­
nunft als das Allgemeine, das heißt, als das Vermögen, das in
allen Menschen als ein identisches gegeben ist, vorgestellt
wird, deshalb kann auch gesagt werden, daß diese Vernunft
und ihre Gesetzmäßigkeit, von der wir ja gehört haben, daß
sie Kant zufolge unmittelbar selber gegeben sein soll, auch
wiederum als ein Unmittelbares verstanden wird. So daß es
eigentlich nicht der Reflexion auf die Vernunft, sondern des
unmittelbar vernunftgemäßen Verhaltens und der Konse­
quenz der Vernunft bedarf, um richtig zu handeln; so daß,
wenn Sie wollen, nach der einen Seite hin, Kant auch jener
Auslegung von der Selbstverständlichkeit des Moralischen
fahig ist. Ich möchte annehmen, daß er bei all seinem Wider­
stand gegen die Erkenntnislehre Fichtes gerade an dieser
Stelle nicht Einspruch gegen ihn erhoben hätte. Es ist mir
auch historisch nicht bekannt, daß er einen solchen Ein­
spruch etwa soll erhoben haben.
An dieser Vorstellung von der Identität von Tugend und
Wissen ist natürlich das problematisch, daß in ihr - und ich
glaube, das muß man auch aussprechen, auch wenn man
nicht die Absicht hat, die Herzensbildung damit zu vereini­
gen - dabei ein Entscheidendes, das das richtige Handeln aus­
macht, verschwindet, nämlich das Moment des Übergangs
von dem richtigen Bewußtsein zu dem richtigen Handeln. Es
kann soviel mit Grund gegen diese Identifikation des Morali­
schen mit der Vernunft eingewandt werden, daß gesagt
wird, daß daraus, daß ich das richtige Bewußtsein habe, noch
in gar keiner Weise folgt, daß ich diesem richtigen Bewußt­
sein gemäß überhaupt handle. Und je mehr in der Gesell­
schaft sich ein Antagonismus herstellt zwischen den lnteres-

1 66
sen und Zwecken des je einzelnen Individuums und den In­
teressen und Zwecken des Ganzen, um so weniger wird man
eine solche unmittelbare Identität mehr unterstellen können.
Es ist kein Zufall, daß am Anfang des bürgerlichen Zeitalters
in dem Drama, kann man wohl sagen, in dem die Kategorie
der bürgerlichen, der autonomen selbständigen Individuali­
tät überhaupt zum ersten Mal gestaltet worden ist, in Shake­
speares »Hamlet« nämlich, eine Figur gezeichnet worden ist,
bei der das richtige Bewußtsein und das Handeln in einen
unversöhnlichen Gegensatz miteinander treten: nämlich Po­
lonius, der seinem Sohn die weisesten Ratschläge mit auf den
Weg gibt - wenn es freilich auch weise Ratschläge, wie Kant
sagen würde, nur im Sinne der Klugheit und nicht im Sinn
des kategorischen Imperativs sind - und der gleichzeitig doch
wie ein Tor handelt. Man kann überhaupt sagen, daß diese
Divergenz, dieses Auseinanderreißen von Bewußtsein und
Handeln das Zentralthema des »Hamlet« bildet, das in der
Gestalt des Polonius gleichsam wie in einem Hohlspiegel
dargestellt ist, während Harnlet selber ja nun die Gestalt ist,
die - zwischen dem Bewußtsein des ihm Auferlegten, des­
sen, was nach den Gesetzen, den sittlichen Gesetzen der Zeit,
in die er versetzt ist, ihm kategorisch geboten ist, und der
Möglichkeit der Ausführung der Tat - in diesem Konflikt
zwischen Wissen und Tun zerbricht.173 Ich möchte damit sa­
gen, daß das berühmte Problem von Theorie und Praxis, das
ja heute wieder von einer ungeheueren Aktualität ist, weil
man an allen Ecken und Enden, wo man das richtige theoreti­
sche Bewußtsein hat oder zu haben glaubt, auch sich daran
verhindert findet, daraus, daß dieses Problem selber seine ge­
schichtsphilosophische Implikation hat, die volle K onse­
quenz zu ziehen. Das heißt, daß erst in einer Welt, in der das
Individuum als ein Für-sich-Seiendes von der objektiven ge­
sellschaftlichen Realität, in der es steht, sich so nachdrücklich
und antithetisch gesondert hat, wie es eben in den großen
künstlerischen Zeugnissen der Renaissance uns überliefert
ist, daß erst in diesem Augenblick das Problem des Ausein-
anderweisens von Bewußtsein und Handeln sich stellt und
damit auch alle jene Probleme des Leidens unter dem Wissen,
die sicherlich unter den Wurzeln des späteren gesamteuropäi­
schen Irrationalismus nicht die unwichtigsten sind. Daß
nämlich die Menschen deshalb unter ihrem Wissen leiden,
weil sie die Erfahrung machen, daß von diesem Wissen ein
unmittelbarer Weg in die Praxis nicht mehr führt, sondern es
dabei noch eines Dritten bedarf, eben jenes Einschusses von
Irrationalität, von auf Vernunft nicht rein Reduktiblem, von
dem ich Ihnen in dieser Vorlesung ja verschiedentlich ge­
sprochen habe. Aber dieses Problem, wie gesagt, eröffnet
sich überhaupt erst mit der Neuzeit, also mit der beginnen­
den Antithesis zwischen dem individuellen Bewußtsein und
der Gegebenheit einer Gesellschaft, in die das Bewußtsein
hereintritt. Auf der anderen Seite ist dabei zu bemerken, daß
dieses Problem - von dem ich denken möchte, daß es die
meisten von Ihnen nun wirklich sehr ernst beunruhigt, weil
Sie nämlich wirklich in den unzähligen Dingen nicht wissen:
>Was soll ich nun eigentlich tun?< und es nicht wissen können
- eben seine lange Vorgeschichte hat, und daß es selber in
unserer Gesellschaft und in der Struktur unserer Gesellschaft
entspringt; und daß erst in einer versöhnten Gesellschaft
wahrscheinlich dieses Problem verschwinden würde. Daß
ich dabei unter Versöhnung nicht so eine Art von Frieden
oder Kompromiß zwischen den ihrem Wesen nach notwen­
dig antagonistischen Interessen meine, das ist Ihnen wohl
mehr oder minder deutlich. Auf der anderen Seite ist aber
daran festzuhalten, daß an dieser Kantischen Vorstellung von
der Rationalität des richtigen Handeins - trotzdem da dieser
blinde Fleck ist, dieses Moment, das sich gar nicht absolut
beseitigen läßt - doch soviel Wahres ist, daß nur das Erhellte,
das Nichtblinde, daß, wie ich es Ihnen in der letzten Stunde
versucht habe zu entfalten, nur die Selbstbesinnung das ist,
was die Subjekte über den bloßen Naturzusammenhang hin­
aus erhebt.

r68
Ich wollte noch eines sagen.174 Dieses Moment des Nicht­
identischen zwischen dem Bewußtsein von dem richtigen
Tun und dem richtigen Tun selber, das findet nun allerdings
auch in der Kautischen Philosophie selber seinen Ausdruck
und zwar in einem Theorem, das wir in anderem Zusam­
menhang schon gestreift haben, das ich Ihnen aber hier doch
noch einmal deutlich machen möchte. Es zeigt sich hier näm­
lich, daß die Kautische Unterscheidung des Reiches der Frei­
heit und des Reiches der Natur an etwas außerordentlich
Richtiges gemahnt. 1 75 Das Moment des Nichtidentischen
findet nämlich, spezifischer gesprochen, darin seinen Aus­
druck, daß in der praktischen Philosophie, also in den moral­
philosophischen Schriften von Kant, nun das Sittengesetz
zwar als eine ganz strenge Gesetzmäßigkeit erfaßt wird, aber
als eine Gesetzmäßigkeit, die lediglich vorschreibt, was sein
soll, aber nicht das mindeste über das, was nun tatsächlich ist,
so daß also in der Theorie selber zwischen dieser Gesetzmä­
ßigkeit und der Praxis genau jene Lücke bleibt, die ich im
Augenblick versucht habe, als ein notwendiges Moment der
Theorie Ihnen darzustellen. Das liegt in den Formulierungen
der Kautischen praktischen Philosophie, die den kategori­
schen Imperativ und überhaupt die moralische Gesetzmäßig­
keit als eine Nötigung beschreiben. Das heißt, diese Gesetze
haben zwar den Charakter des Dritten, die Form der Not­
wendigkeit, 176 indem sie uns in einer solchen Weise, das ist
die Kautische Auffassung, gegenübertreten: daß wir als ver­
nünftig Handelnde gar nicht anders handeln können, denn sie
befolgen, und insofern ist der Gesetzescharakter streng ge­
wahrt. Aber, sagt Kant immer wieder, da es ja nicht Natur­
gesetze, nicht Gesetze über Seiendes, sondern Sätze über
Sein-Sollendes sind, so geht daraus in gar keiner Weise her­
vor, ob wir nun diese Gesetze wirklich befolgen oder ob wir
das nicht tun. Und gerade, daß darüber keine Vorentschei­
dung gefallen ist, sondern das, ob wir dieses Gesetz nun be­
folgen oder nicht, von einem Dritten, von etwas nicht auf die
Gesetzmäßigkeiteil der Natur Reduktiblem abhängt, das ist,
wenn Sie so wollen, der Sachverhalt, rein phänomenologisch
gesprochen, deskriptiv gesprochen, der dem Karrtischen Be­
griff der Freiheit eigentlich zugrunde liegt. Und ich glaube,
Sie können erst unter diesem Aspekt die Rolle der Lehre von
der Freiheit und die Konstellation zwischen den Momenten
der Freiheit und der Gesetzmäßigkeit bei Kant richtig verste­
hen.
Wenn wir dabei von solchen Momenten reden wie dem
Aufforderungscharakter der Vernunft, dem Charakter eines
Imperativs etwa, dann müssen Sie sich dabei darüber klar
sein, daß eben doch gegenüber dem antiken Vernunftbegriff
- an den ich Sie erinnert habe in Beziehung auf den Platon ­
sich etwas Entscheidendes gewandelt hat. Daß nämlich nun
die Vernunft nicht mehr bloß das Vermögen der richtigen
Begriffsbildung und der Gliederung der Begriffe nach der
Natur der Sache ist, so wie sie in der Platonischen Dialektik
in engerem Sinn dargestellt wird, sondern daß bei Kant die
Vernunft selber ein - wie soll man sagen - produktives Ver­
mögen, eine Art Tätigkeit ist. Und der gesamte Gedanke der
Autonomie der Gesetzmäßigkeit setzt insofern dieses Mo­
ment der Tätigkeit der Vernunft voraus, als ich ja aus meiner
Vernunft heraus diese Gesetze nicht passiv hinnehmen soll,
sondern sie zugleich aus mir heraus produzieren soll. Auch
darin ist die Lehre von dem Sittengesetz eine Art Indifferenz­
begriff, als das Sittengesetz - wie ich Ihnen gesagt habe - auf
der einen Seite eine Gegebenheit ist, aber nicht in dem pri­
mitiven Sinn wie etwa die Lehre von den sinnlichen Wahr­
nehmungen, von den >Sensations< oder >impressions<, den
Begriff der Gegebenheit faßt, sondern >gegeben< in dem
Sinn, daß es ein von mir selbst notwendig Geschaffenes, von
mir selbst Produziertes sei; was im äußersten Gegensatz zu
dem Wissen bei Platon steht, das ja eigentlich gar nichts ande­
res ist als das Bewußtsein von einem objektiv Vorgegebenen,
nämlich den Ideen. Dieses Ansichsein der Ideen, die dann
von der Vernunft quasi passiv ergriffen werden sollen, ist in
dieser Weise bei Kant gar nicht vorhanden, sondern während
die Ideen gegeben sind, sind sie ihm zufolge zugleich immer
ein von mir selber Geschaffenes, gleichsam das Produkt die­
ser aktiven Vernunft. Und darin nun liegt eigentlich auch die
Affinität dieses Vernunftbegriffs bei Kant zur Praxis. Es ist
dann also nicht mehr einfach so, daß ich auf Grund eines rein
rationalen Vorgangs, eines mehr oder minder in schon vor­
gegebenen Bestimmungen sich abspielenden Schlußverfah­
rens, zu der Erkenntnis des richtigen Tuns gelangen soll,
sondern diese Erkenntnis muß - das heißt: ich muß - die
Prinzipien, auf die sie zurückgeht, eigentlich selber schaffen.
Und wenn bei Kant der Begriff des Willens, auf den wir bald
zu sprechen kommen werden, eine so zentrale Stelle ein­
nimmt, dann müssen Sie von vornherein darüber sich klar
werden, daß dieser Wille seinerseits nun nicht etwa eine an­
dere Kraft, ein Drittes ist, das hinzukommt, sondern selbst ­
metaphysisch gesprochen - identisch ist mit der Vernunft,
insofern die Vernunft selber Kraft, ein Tun, ein eigentlich
Erzeugendes ist, wie es übrigens bereits in der » Kritik der
reinen Vernunft« in der Theorie von der ursprünglichen Ap­
perzeption als einem ursprünglichen Erzeugen enthalten
ist. 177 Insofern also kann man sagen, daß tatsächlich in ihrem
zentralsten Punkt die Kantische Philosophie die spätere Lehre
von Fichte antezipiert hat, in der ja das praktische und das
theoretische Wesen nun miteinander - man muß wohl sagen:
unmittelbar gleichgesetzt sind. Daher bedeutet nun aber
diese Vernunft bei Kant etwas ganz anderes, als was sie in der
Antike bedeutet. Nämlich sie bedeutet doch, und das ist das
Rousseausche Erbe in der Kantischen praktischen Philo­
sophie, die Möglichkeit einer richtigen Einrichtung der
Welt, wie sie in dieser Weise radikal von der Antike, soweit
ich das zu überblicken vermag, außer vielleicht in gewissen
Spekulationen der linken Sokratik, niemals aufgetreten ist,
weil die Vernunft in der Antikeja von vornherein viel zu sehr
doch ein Ordnen von objektiv Vorgegebenem ist, und weil
der Gedanke, daß rein aus Vernunft heraus die gesamte Be­
schaffenheit der Wirklichkeit zu setzen, zu produzieren wäre,
der Antike außerordentlich fremd ist, die ja die Gestaltung
der Wirklichkeit dazu noch viel zu sehr im Sinn einer säkula­
risierten Naturreligion als etwas durch die Beschaffenheit der
vorgegebenen Strukturen Prädeterminiertes gefaßt hat.178
Selbst die Konzeption des Weltstaates, zu der die mittleren
Stoiker, Panaitios vor allem, sich erhoben haben, 179 dürfte
eben doch von dem Kantischen Traktat ))Zum ewigen Frie­
den« in bezug auf die Struktur, die ich Ihnen eben auseinan­
dergesetzt habe, wie durch einen Abgrund des Sinns getrennt
sein. Es ist eben in all diesen Dingen doch so - und ich glaube,
das muß auch einmal gesagt sein -, daß das Christentum oder
die gesamte christlich-jüdische Vorstellungsweise mit dem
Begriff der Nachfolge, mit all dem, was das impliziert, selbst
solche Gedanken, die ihrer bloß rationalen Gestalt nach mehr
oder minder wörtlich aus der Antike überliefert scheinen,
bis in ihre innerste Zusammensetzung so verändert haben,
daß also noch ein Begriff wie der des A.6yo� oder des eloo�
A.oywux6v, des Denkvermögens, und alle Konsequenzen,
die daraus zu ziehen wären, dann in der christlichen Welt
einen vollkommen anderen Charakter haben, daß sie etwas
ganz anderes besagen als an Ort und Stelle, und zwar auch
dann, wenn - wie es bei Kant der Fall ist - aus der Moralphi­
losophie explizit die überlieferten christlichen Vorstellungen
ausgeschlossen sind. Es wäre eine sehr wichtige Aufgabe,
einmal dem nachzugehen, wie die Tradition der neueren Phi­
losophie gerade in den Stücken, in denen sie sich an die An­
tike anschließt, die ja in das ganze Christentum entscheidend
hereingewirkt hat, trotzdem eben durch diese Motive die
antiken völlig verändert hat. Zum Beispiel die antike Vor­
stellung des summ um bonum, als eines sozusagen passiv, ge­
genständlich uns Gegenüberstehenden, ist bei Kant der abso­
luten Verinnerlichung des Guten, des Sittlichen gewichen,
und diese Verinnerlichung ihrerseits setzt eigentlich die ge­
samte christliche Glaubenslehre als das Medium der Innerlich­
keit implizit voraus. - Auch auf diese Dinge muß wenigstens
einmal hingewiesen werden, damit Sie nicht der Ansicht

1 72
sind, daß die Spekulationen über die Moralphilosophie in
einer Art von leerem Raum sich abspielen, sondern damit Sie
sehen, daß noch die subtilsten begrifflichen Differenzierun­
gen tingiert sind von gewissen religiösen und metaphysi­
schen Gehalten, die im Lauf derJahrtausende dann eben in die
Begriffe eingesickert sind.180
Nun muß aber doch gesagt sein, daß es mit dieser Lehre
von dem Vernunftgemäßen des Sittlichen so ganz ernst - ich
sage etwas schrecklich Ketzerisches - denn Kant doch nicht
ist. Und das ist nun genau der Punkt, an dem das Negative,
das Enge und Dogmatische der Lehre von der Selbstver­
ständlichkeit des Moralischen hervortritt. Denn ich glaube,
jeder Mensch, der in diesen Dingen einigermaßen bewußt
sich selber kontrolliert, wird ja erfahren, daß das Moralische
keineswegs selbstverständlich ist, sondern daß es innerhalb
der Komplexitäten des modernen Lebens - und in diesem
Sinn war es in der Zeit Kants nicht um einen Deut anders
bestellt als in unserer eigenen - ungezählte Situationen gibt,
in denen eine solche Selbstverständlichkeit nicht besteht, und
daß man immer wieder in Situationen kommt, wo man der
angespanntesten Reflexion bedarf, nicht etwa, um dem kate­
gorischen Imperativ zu gehorchen - ich möchte, weiß Gott,
den Mund nicht voll nehmen -, sondern wo man, ich möchte
sagen, seinen ganzen Kopf dazu braucht, um auch nur wie ein
leidlich anständiger Mensch sich zu verhalten, und dieses
Moment fällt bei Kant hier unter den Tisch. Und indem es
unter den Tisch fällt, sieht es natürlich dann doch immer wie­
der so aus, als ob man dabei den jeweils geltenden morali­
schen Normen mehr oder minder verpflichtet wäre. Das
heißt, das Problem der Differenz zwischen den kulturell ap­
probierten Normen und den Normen, die aus dem kategori­
schen Imperativ entfließen, diese Unterscheidung würde
Kant zwar in der Theorie uns, wie wir hier versammelt sind,
selbstverständlich konzediert haben, aber sie bleibt für ihn
vollkommen ohne Konsequenz, und das hat auch einen
Grund, ich weiß nicht, ob ich Sie darauf hingewiesen habe.

1 73
Die ganze Kantische Ethik ist, wie Lukacs es einmal zu der
Zeit genannt hat, zu der er über diese Dinge noch selbständig
nachdenken durfte, eine private Ethik, das heißt, es ist eine
Ethik in der eigentlich das Problem möglicher Konflikte zwi­
schen den Normen, die den einzelnen Individuen auferlegt
werden, und den objektiven Normen, wie sie, sei es aus einer
gegebenen Gesellschaft oder aus der Forderung einer Verän­
derung der Gesellschaft sich ergeben, überhaupt nicht be­
steht. 181 Im Grunde ist die Welt, auf die diese außerordentlich
sublimierte Ethik zugeschnitten ist, gar nicht soviel anders
wie die agrarische Welt, sagen wir, von Johann Peter Hebel
oder von Jeremias Gotthelf, in der also jeder einzelne da­
durch, daß er in einer traditionellen, in sich festgefügten und
nicht problematischen Welt steht, so einigermaßen wirklich
in jedem Augenblick weiß, was er zu tun hat. Und wenn Sie
die Beispiele nehmen, die Kant zur Erläuterung seiner sittli­
chen Prinzipien nimmt, dann sind das eigentlich immer so
die Beispiele des ehrlichen Kaufmanns, der zwar seinen Vor­
teil wahrzunehmen hat, dabei aber einfach solcher, wie soll
man sagen, vorbürgerlicher, im schlechten Sinn traditionali­
stischer Mittel wie des Betrugs, des Tricks der Übervortei­
lung sich zu enthalten habe. Es ist sicherlich eine der konkre­
ten Seiten der Rationalität der Kautischen Ethik - also der in
der Kautischen Ethik gelegenen Aufforderung sich streng
vernunftgemäß zu verhalten -, daß nach dem Modell der
bürgerlichen Vernunft, nämlich nach dem Tauschgesetz,
streng zu handeln sei, daß man im Tausch dem anderen das
Seine gibt und für sich auf das Seine dringt, ohne ihn zu über­
vorteilen und ohne sich dabei übervorteilen zu lassen. Da nun
in der Tat dieses Prinzip als das vom gleich und gleich einer
aufgehenden Rechnung sehr nahe an dem Urbild vernunft­
gemäßen Handeins selber ist, da, wie man auch sagen
könnte, der Kalkül das Modell vernunftgemäßen Handeins
ist, so wird Kant ganz selbstverständlich darauf gelenkt, daß
er diese, ich möchte sagen, kaufmännischen Tugenden einer
noch wesentlich agrarischen Gesellschaft mit dem eigentlich

I 74
sittlichen Handeln gleichsetzt, oder etwa auch die Beamten­
tugenden der Pflichterfüllung, der Pünktlichkeit, der Unbe­
stechlichkeit, all diese Tugenden, die natürlich deshalb ein
besonderes Gewicht hatten in der Zeit, in der die Kantische
Philosophie konzipiert worden ist, weil die auf der Paßhöhe
steht zwischen dem kameralistisch-bürokratischen Staat des
Merkantilismus und einer voll entwickelten bürgerlichen
Gesellschaft, deren Normen Kant nun für die selbst noch
weitgehend irrational organisierte Gesellschaft geltend
macht. Aber, wie gesagt, Kant ist an dieser Stelle insofern
inkonsequent, als er lehrt, daß man, um gut zu sein, nicht der
Philosophie bedürfe. Eine These, wie sie nun wieder der So­
krates oder der Platon, bei demjener radikale Bruch zwischen
der Theorie und der praktischen Gestaltung der Wirklichkeit
noch gar nicht bestanden hat, niemals erhoben hätten, son­
dern Sokrates hätte, wenn wir es uns richtig vorstellen, in
aller Unschuld wahrscheinlich seinen Schülern auf dem
Markt von Athen erzählt, daß sie gut handeln können nur
dann, wenn sie Philosophieren gelernt haben. Er hätte an
dieser Stelle den Gedanken der Vernunft viel ernster, viel
schwerer genommen, während bei Kant hier eben doch be­
reits der Übergang ist zu dem, daß man im Lande bleiben und
sich redlich nähren soll. 182
Trotzdem ist natürlich - und auch das möchte ich an dieser
Stelle Ihnen klarmachen - in dieser Lehre von Kant: daß man
wegen der unmittelbaren Gegebenheit des Sittengesetzes der
Philosophie nicht bedürfe, auch ein Moment der Wahrheit.
Die griechische Identität, von der ich Ihnen gesprochen habe,
setzt ja eine relativ in sich homogene Gesellschaft voraus.
Eine Gesellschaft, in der es jedenfalls unter den Freien und
Gleichen - und an andere haben diese griechischen Philo­
sophen im allgemeinen nicht gedacht - solche Differenzen
des Bewußtseins gar nicht gegeben hätte, daß, durch die For­
derung: daß man philosophieren müsse, um gut zu sein, das
Gute zu einer Sache des Bildungsprivilegs geworden wäre,
wie es in unserer eigenen Zeit und in der Kants schon vor 200

1 75
Jahren ohne alle Frage der Fall gewesen ist. Es steckt also
hierin auch ein, ich möchte sagen: bürgerlich revolutionäres,
ein sehr rousseauistisches Element, daß nämlich die Unmit­
telbarkeit des Guten der konventionell gegliederten hierar­
chischen Welt entgegengesetzt wird, und daß das Gute nicht
von der Bildung als einem Privileg und nicht von dem, was,
wie es bei Schiller heißt, » die Mode streng geteilt hat «, 1 83 ab­
hängig gemacht werden soll. Während auf der anderen Seite
an dieser Stelle schon bei Kant die seltsame Einschränkung
der Vernunft sich zeigt - die dann für den ganzen Idealismus
charakteristisch ist, in dem ja an dieser Stelle eine seltsame
Ambivalenz herrscht, die man einmal ganz grundsätzlich
aufrollen sollte -, daß nämlich, je größer das Pathos der Ver­
nunft wird, also je mehr der Versuch gemacht wird, eigent­
lich alles was ist, auf das konkreteste aus der Vernunft selbst
zu entwickeln, um so mehr wird gleichzeitig die Vernunft
selber eingeengt, diffamiert. Und gerade deshalb, weil das
Gegebene selber schließlich auch ein Produkt der Vernunft
sein soll, wird es dann ganz leicht zu fordern, man solle nach
dem Gegebenen sich richten, weil das Gegebene an sich ja
vernünftig sei. Also die späteren, ich muß schon sagen, Hetz­
reden, die sich bei Hegel dann gegen das Räsonieren, gegen
den Weltverbesserer, gegen die bloße Reflexion, gegen alle
diese Kategorien finden - und das ganze Werk vor allem des
späteren Hegel ist von solchen Invektiven durchwachsen -,
die finden sich bis in die Terminologie hinein bei Kant bereits
vorgebildet - bei dem >Vernünfteln< ein bloßes Schimpfwort
ist1 84 -, vor allem eben deshalb, weil er die Widersprüche, in
die die Vernunft in ihrem partikularen Gebrauch gerät, nun
nicht als notwendig erfährt, sondern nur als eine Art Aberra­
tion, von Mißbrauch der Vernunft geißelt, während die Ver­
nunft an sich davon ausgenommen sei, weil sie den Charak­
ter der reinen Gesetzmäßigkeit besitzen soll.
Das Grundproblem der Kantischen Ethik ist Autonomie,
und der Gegensatz dazu ist Heteronomie. Ich glaube, ich
muß Ihnen die beiden Begriffe kaum mehr lange erläutern.
Autonomie ist also das Gesetz, das ich mir selbst gebe, wobei
aber unter diesem Gesetz nicht etwa das zu verstehen ist, was
wir alle irgendwie an uns erfahren, wenn wir uns von den
allgemein geltenden Gesetzesvorstellungen der überkomme­
nen Ethik emanzipieren, aber zugleich doch richtig handeln
wollen, indem wir - und ich glaube, jeder Mensch macht
diese Phase durch - sozusagen für uns einen eigenen Kode
setzen, nachdem wir uns richten wollen. Das ist mit Autono­
mie nicht gemeint, sondern im Begriff der Autonomie bei
Kant steckt nun allerdings die Idee der Allgemeinheit von
Anbeginn in einem höchst belasteten Sinn drin, nämlich so,
daß dieses Gesetz, das ich mir selbst gebe, nicht einfach ein­
geht auf meine individuellen Bedürfnisse oder Neigungen
oder auf die Zufälligkeit meiner eigenen Individualität, son­
dern daß es allgemein sein muß, was dann den konkreten
Inhalt bei Kant hat, daß dieses Gesetz, das ich mir selbst gebe,
zugleich so sein muß, daß ich es mir vorstellen kann als die
Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung, also einer Ge­
setzgebung, die nicht die Freiheit und die Autonomie anderer
Individuen verletzt. Und der Gegenbegriff dazu, und das ist
nun der Inbegriff dessen, was von Kant als Rechtsquelle der
Ethik abgelehnt wird, ist die Heteronomie, das heißt: das Ge­
setz, das von einem anderen mir gesetzt ist, das ich bloß emp­
fange, ohne daß es ein Gesetz meiner eigenen Vernunft sei.
Und Freiheit heißt nun - um das noch einmal mit allem
Nachdruck Ihnen in der Kantischen Philosophie zu unter­
streichen - sich selbst Gesetze geben. Wenn ich mir selbst
nicht Gesetze gebe, wenn ich nicht nach dem Gesetz der eige­
nen Vernunft handle, dann mache ich mich abhängig eben
von dem Heteronomen, von Gesetzmäßigkeiten, die jenseits
von mir herrschen, und werde dadurch unfrei. Dieser Begriff
der Heteronomie ist bei Kant nun nicht bloß die Unfreiheit
im politischen Sinn, also das Sichrichten nach blind mir vor­
gegebenen Normen, sondern er bezieht sich auf alles, wo­
durch überhaupt die Vernunft eingeschränkt wird, also
ebenso auf den eigenen Trieb und das eigene Bedürfnis wie

1 77
auf die Fesselung der bürgerlichen Freiheit durch irgendwel­
che von außen an mich herangebrachte Faktoren. Gerade an
dieser Stelle, meine Damen und Herren, ist Kant in voller
Übereinstimmung mit der antiken Tradition. Schon in der
Aristotelischen Ethik sieht es nämlich so aus, daß der Begriff
der O..t:vfJEQia, also der Freiheit, gefaßt wird in den doppelten
Sinn der Freiheit von Bevormundung, wobei bei dem früh­
hellenistischen Denker Aristoteles natürlich an die Bevor­
mundung durch die TVQavvi�, die Tyrannis seines eigenen
Schülers Alexander, gedacht wird, wie auch an die durch die
Abhängigkeit von den eigenen Affekten.185 Von der sich frei­
zumachen, ist ja in der älteren griechischen Philosophie von
den Kynikern und dann in dem kla.ssischen Zeitalter von der
älteren Stoa gelehrt worden. Also diese doppelte Wendung
des Freiheitsbegriffs als eines Freiheitsbegriffes nach außen
und nach innen ist etwas, was, man kann fast sagen, die ganze
Geschichte der Philosophie durchwaltet, durchherrscht und
worin die einander aufs heftigste widersprechenden Denker
miteinander übereinstimmen. Wenn Sie den >Exkurs überJu­
liette< aus der »Dialektik der Aufklärung« einmal nachlesen,
dann werden Sie finden, daß wir da Belege gerade für dieses
Motiv aus Autoren zusammengetragen haben, die wirklich
nichts anderes miteinander gemein haben als diesen Gedan­
ken, daß die Freiheit in der Unterdrückung der Affekte be­
stehe. Zugleich aber liegt darin an dieser Stelle immer schon
das Potential einer außerordentlich verhängnisvollen Dialek­
tik, daß nämlich im Namen der Freiheit, also im Namen der
Kontrolle über die Affekte durch das Bewußtsein, die Befrie­
digung der Instinkte, überhaupt also schließlichjede Art von
Glück, einer Art von Tabu verfällt und von dem Denken ver­
bannt wird, und diese Intention ist Kant, weiß Gott, auch
nicht fremd, indem er aus seiner Ethik zum Beispiel - und
auch das hat sein Modell, es gibt dasselbe schon bei Spinoza ­
schon die Sympathie, das Mitleid, das unmittelbare Mitge­
fühl ausschließt, weil alle derartigen Regungen als solche der
bloßen Natur, als solche gleichsam triebmäßiger Art, mit der
reinen Vernunft, mit dem Vernunftprinzip unvereinbar sein
sollen. Also diese Überspannung des Freiheitsbegriffs da­
durch, daß er auf die absolute Unabhängigkeit von allem
Seienden, von aller Natur sich gründet, droht zugleich in
Unfreiheit dadurch umzuschlagen, daß den Menschen Ver­
sagung aufgezwungen wird und vor allem, daß sie ja im all­
gemeinen nicht das eigentlich wiederbekommen, worauf sie
nach diesem Imperativ verzichten müssen; aber das möchte
ich in der nächsten Stunde behandeln.

1 79
NACHSCHRIFT DER I 2 . VORLESUNG
VOM 9· 7· 1963 1 86

Zu Autonomie und Heteronomie als Zentralbegriffen kanti­


scher Ethik. Im Autonomie-Begriff sind Freiheit und Gesetz
unmittelbar synkopiert, ineinsgesetzt. avr6�, ich selber als
Subjekt, gebe mir frei meine Bestimmung. Diese Bestim­
mung soll zugleich VOf.lO�, Gesetz sein. Heteronomie: das Ge­
setz stammt von anderen, wobei nicht nur, wie in der Antike,
an andere Personen gedacht ist.
Der Begriff des Wertes hat keinen Raum bei Kant. Es ist
kein Zufall, daß die berühmteste Kritik von Kants Ethik, die
von Max Scheler, geglaubt hat, Werte haben zu sollen, wäh­
rend Werte im Sinne Kants heteronom und darum unver­
bindlich sind.187 Der Kultus der Werte ist reaktiv zu verste­
hen aus der Desorientiertheit und Entstrukturierung einer
Gesellschaft, in der zwar die traditionellen Normen nicht
mehr bestehen, aber die Individuen sich auch nicht selbst be­
stimmen, sondern nach etwas greifen, woran man sich halten
kann. Dabei stammt dieser Kultus wesentlich aus der Sehn­
sucht nach einer Orientierung, die Normen rechtfertigen
sich nicht vor der Vernunft, sondern sind von der Sehnsucht
herbeigezogen. Dies spricht sich auch in den Werten aus.
Einmal sind sie willkürlich gesetzt, zum anderen spricht sich
darin die Schwäche von Menschen aus, die nicht vermögen,
sich wahrhaft selbst zu bestimmen und ihrem Gesetz zu fol­
gen, sondern nach etwas suchen, >was da käme und sie mit­
nähme<. Das Resultat halten sie sich dann auch noch als >Ge­
diegenheit<, >Kernigkeit< zugute.
Zurück zum Autonomie-Begriff. Man könnte sagen,
selbst das bißchen Freiheit, das bei Kant schließlich heraus­
schaut, wird einem in der Bestimmung der Freiheit als dem
Vermögen, sich selbst das Gesetz zu geben, gleich noch weg­
genommen. Aber das ist ernster zu nehmen; die abstrakte
Beteuerung, das Gesetz sei die Negation der Freiheit, wird
dem Sachverhalt nicht gerecht. Denn ein absolut gesetzloser

I SO
Zustand wäre zugleich absolut unfrei, denn darin wäre jeder
der Unterdrückung aller durch alle ausgesetzt. Es wäre das
>bellum omnium contra omnes< der Hobbes'schen Staatsphi­
losophie. Die rein gesetzte, absolute Gesetzlosigkeit und
Freiheit ist unmittelbar eins mit Unfreiheit. Dasselbe gilt in­
nerlich. Folgen die Menschen ihren Bedürfnissen ohne Reali­
tätsprüfung und Ich-Kontrolle, so werden sie abhängig von
sich selber und damit unfrei. Der süchtige Mensch ist der
Extremfall, er kann sich Bedürfnisse nicht versagen, die un­
mittelbar der Selbsterhaltung widersprechen. Der Gedanke,
daß die absolute Freiheit, die nicht auch in sich bestimmte
Freiheit ist, der Negation der Freiheit gleichkommt, ist keine
Erfindung puritanischer Schulmeister, sondern hat ein
Wahrheitsmoment. Kants Verschränkung von Freiheit und
Gesetz hat man schwer zu nehmen; sie ist nicht bloße Ideolo­
gie. Andererseits liegt in der Idee des Gesetzes immer schon
ein Potential gegen die Freiheit. Das Gesetz als umfassende
Bestimmung, die keine Ausnahme duldet, hat in sich selbst
etwas Totalitäres, tut den Menschen auch dort Zwang an,
wo der Zwang kein Moment von Vernunft hat. Indem Frei­
heit eingeschränkt wird, ist sie auf des Messers Schneide,
ganz zu verschwinden. Die Sphäre des Rechts, auch da, wo
sie formaliter unter der Idee steht, Freiheit zu schützen, zu
garantieren, hat in sich die Tendenz, Freiheit abzuschaffen.
Das Verhältnis Freiheit-Gesetz ist kein wohlbalanciertes,
kein vernünftiger Ausgleich, sondern auf beiden Seiten sind
dynamische Momente im Spiel. Was vom Gesetz erfaßt
wird, ist die Triebenergie des Menschen, die notdürftig zu
bändigen, aber nicht restlos zu sublimieren ist. Andererseits
hat eine psychologische Instanz, die von abgetrennten Ener­
gien wie dem Über-Ich gespeist wird, in sich die Tendenz,
sich zu verabsolutieren, Freiheit abzuschneiden, also keine
Balance. Da das Gesetz die Tendenz hat, sich stärker geltend
zu machen als die Freiheit, kommt es darauf an, aufzupassen,
aufs äußerste wachsam zu sein gegenüber einer Fetischisie­
rung des Gesetzes, der Rechtsnormen, etwa im Namen der

181
Unwiderruflichkeit einmal gefaßter Beschlüsse. Man kann
sich nicht bei einer sogenannten Ordnung bescheiden, denn
sobald eine solche Ordnung da ist, pflegt es um die Freiheit
geschehen zu sein. Zwischen beiden waltet keine statische
Proportion.
Kant hat eine geniale Form gegeben, um die apriorische
Konstruktion des Verhältnisses von Freiheit und Gesetzlich­
keit zu gewähren. Die Freiheit eines jeden einzelnen sei durch
Gesetz nur soviel, aber auch nur soviel einzuschränken, wie
sie die Freiheit eines anderen einschränkt.188 Das ist zwar for­
mal, stellt aber doch einen Kanon bei, nach dem man sich
orientieren kann. Der Funktionszusammenhang der Gesell­
schaft und das Prinzip der Moralphilosophie hängen zusam­
men. Der absolut für sich seiende einzelne ist Funktion. Um
existieren zu können, sind die Menschen zusammenge­
schlossen durch den Prozeß der Vergesellschaftung. Freiheit
ist nicht isoliert ftirs Individuum, sondern mit Rücksicht auf
das gesellschaftliche Ganze, in dem die Menschen leben, ge­
geben. Die Konkretisierung des Sittengesetzes ist nur am
Funktionszusammenhang zu gewinnen, nicht am Modell
eines Robinson.
Der Unterschied zwischen der »Kritik der praktischen Ver­
nunft « und der >>Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« ist
nicht leicht zu fassen. Die >>Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten« geht vom sogenannten natürlichen Bewußtsein
aus .189 Demgegenüber gilt die >>Kritik der praktischen Ver­
nunft « als schwieriger. Aber vor solchen Bewertungen ist zu
warnen, denn die einfacheren Schriften unterschlagen ge­
wöhnlich die triftige Argumentation. Hegels >>Propädeutik«
ist dafür das eklatanteste Beispiel. Die >>Kritik der prakti­
schen Vernunft« ist in Analogie zur >>Kritik der reinen Ver­
nunft « geschrieben, insofern als sie versucht, das Vermögen
der praktischen Vernunft zu zergliedern, wobei gewisse Wi­
dersprüche, die Antinomien der praktischen Vernunft ent­
wickelt werden, die dann ihre Auflösung erfahren; eine Me­
thodenlehre schließt sich an. Hingegen ist die >>Grundlegung

1 82
zur Metaphysik der Sitten« ein origineller Versuch, vom na­
türlichen Bewußtsein aufzusteigen zu den Kategorien der
Moralphilosophie, von einem sozusagen vorkritischen Aus­
gangspunkt her den Standpunkt der Moralphilosophie zu er­
reichen. Ihrem inhaltlichen Kern nach stimmen beide Schrif­
ten weitgehend überein.
Daß Kant vom natürlichen Bewußtsein, das heißt, den
moralischen Anschauungen, wie sie uns nun einmal gegeben
sind, ausgehen kann, ist deswegen weniger anstößig, als man
zunächst denken sollte, weil Kant das Sittengesetz als ein Ge­
gebenes ansetzt, das also auch im natürlichen Bewußtsein
vorhanden ist, aus dem es sich herausschälen lassen muß. Wie
dem nun auch sei, ob das Sittengesetz eine Gegebenheit ist
oder nicht - etwas Wahres steckt darin. Man kann ja eine
Ethik nicht erfinden, kann sich nicht selbst, im Gegensatz zu
den mores einer Epoche, einen Kode geben. Das führt not­
wendig dazu, daß man einerseits sich selbst von vielen sonst
geltenden Normen dispensiert, zugleich aber die Tendenz
hat, bei anderen das vorauszusetzen, wovon man sich ausge­
nommen glaubt. In den Normen steckt das Moment des All­
gemeinen, darum hat das Absehen von der Allgemeinheit
immer etwas Eitles und Vergebliches. Andererseits kann ein
sogenannter verantwortlicher Mensch sich nicht einfach mit
den im Milieu geltenden Normen bescheiden. Es gilt viel­
mehr - und das ist fruchtbar an der Grundlegung der Sitten
im natürlichen Bewußtsein - die Normen dem eigenen Be­
wußtsein zu konfrontieren, beides aneinander zu messen.
Das geht aber nicht, indem man glaubt, Normen erfinden zu
können. Meist ist das bloße Sich-hinweg-Setzen über etwas,
was ist, ohne daß die Schwere dieses Seienden mit hineinge­
nommen wird in die Erwägungen, nur ein Rückfall hinter
das Bestehende. Ignoranz ist nicht das Medium der Freiheit.
Man wird erst frei von den Normen, wenn man sie in sich
selber reflektiert. Kant geht hier so vor, daß er durch zuneh­
mende Abstraktion zum kategorischen Imperativ geleitet.
Vorausgesetzt ist, daß man nach Grundsätzen überhaupt ver-
fahrt. Kant kann sich kaum vorstellen, daß man anders lebt
als nach Grundsätzen. Vorblick, Sorge für die Zukunft, die
zur bürgerlichen Existenz gehört, bedarf der Grundsätze.
Heute ist die Selbstverständlichkeit des Handeins nach
Grundsätzen nicht mehr so da. Wer traut sich das noch zu?
Die Realität hat heute solche Übermacht, daß sie Wendig­
keit, Beweglichkeit und Anpassung verlangt, wodurch das
Handeln nach Grundsätzen unmöglich wird. Kants Grund­
sätze haben ein festes, sich durchhaltendes Ich zur Vorausset­
zung, das heute so nicht mehr da ist. Wer heute nach Grund­
sätzen handelt, käme einem unbeschreiblich pedantisch vor.
Ahnlieh wie in der Antike, zur Zeit des beginnenden Helle­
nismus, besteht eine Krisis der Individualität. Aristoteles, der
sich zu Platon verhält wie vergleichsweise ein Angelsachse zu
Kant, trägt dem Rechnung: was bei Kant absolut uneinge­
schränkt ist, der Gcsetzesbegriff, ist bei Aristoteles einge­
schränkt durch sogenannte > Billigkeit<.190 Heute ist das ver­
blaßt. Die Aristotelische Billigkeit besagt, daß man nicht nur
nach dem Gesetz sondern zugleich in Ansehung der Person
und der besonderen Umstände handeln soll. Bei Kant wäre
das Heteronomie. An einer Stelle wird von ihm Konsequenz
als allein philosophiewürdig hingestellt. Billigkeit wäre da­
gegen allemal inkonsequent. Die Forderung, nach Regeln,
Gesetzen, Maximen zu handeln, ist die Umsetzung des Pri­
mates der Vernunft in die praktische Sphäre, wobei Vernunft
der Inbegriff der allgemeinen Grundsätze ist. Soweit über die
merkwürdige Voraussetzung der Grundsätze, wo Kant sonst
doch die Heteronomie kritisiert. Die Möglichkeit, daß je­
mand nicht nach Grundsätzen handelt, was doch sehr unver­
ächtlich ist, daß er sich frei der Situation stellt, nicht aber die
Situation an festen Grundsätzen mißt, zieht Kant nicht in Be­
tracht. »Da ich den Willen aller Antriebe beraubet habe, die
ihm aus der Befolgung irgend eines Gesetzes entspringen
könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit
der Handlungen überhaupt übrig, welche allein dem Willen
zum Prinzip dienen soll, d.i. ich soll niemals anders verfah-
rm , als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein

,,I/gemeines Gesetz werden. « 1 91 Der Begriff des Willens ist hier


.tußerordentlich formal gefallt. Mein Begehrungsvermögen,
aus dem meine Handlungen entfließen, soll sich nach Zwek­
ken aus Vernunft richten; Wille ist eingeschränkt auf ein an
Zwecken orientiertes, von Zwecken gesteuertes Begeh­
rungsvermögen. Diese Definition ist wichtig, weil dieser
Willensbegriff vom allgemeinen Sprachgebrauch sehr ent­
fernt und dem tatsächlichen Willensphänomen weitgehend
unangemessen ist. >Ich soll so handeln, daß die Maxime mei­
nes Willens Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung wer­
den kann.< 1 92 - Erläuterung des Begriffs der Maxime: jeder
Bürger handelt nach Grundsätzen. Maxime, abgeleitet vom
Superlativ von >magnus<, der Höchste, Größte, ist die ober­
ste Regel, zum Beispiel: >Üb' immer Treu und Redlichkeit<.
Soweit eine solche oberste Regel lediglich ein Gesetz der Le­
bensklugheit ist, das meinem eigenen Fortkommen letztlich
dient, ist sie nur empirisch. Andererseits ist ein solcher
Grundsatz die Form, an der mein Handeln als an einer nor­
mativen Struktur sich orientiert. Das Problem, das im kate­
gorischen Imperativ steckt, ist, wie kommt die Norm, die
ich mir selber gegeben habe, zum Charakter absoluter und
höchster Verbindlichkeit? Nur dann, wenn diese Regel koin­
zidiert mit einer schlechterdings allgemeinen und notwendi­
gen Regel, ist der Imperativ kategorisch. Nun sind aber die
in der Wirklichkeit geltenden Gesetze das auch nicht, sie
spiegeln Machtverhältnisse und sind so empirisch wie meine
eigenen Gesetze. Deshalb wird ein Drittes gebraucht, eine
Instanz der Vernunft, durch die ich meine Lebensregel hin­
durchfiltriere. So gelangt Kant zum kategorischen Impera­
tiv. >Kategorisch< meint schlechthin gültig im Gegensatz zu
>hypothetisch<, nur bedingt gültig. Aber es handelt sich um
kein Naturgesetz, sonst gäbe es ja keine Freiheit. Der kate­
gorische Imperativ ist nur eine Aufforderung; trotzdem soll
ich als vernünftiges Wesen mich ihm nicht entziehen kön­
nen. Durch Abstraktion gelangt Kant zum Übergang vom
Individuellen zum Subjekt im Sinne der Allgemeinheit, die
als transzendentales Subjekt in der »Kritik der reinen Ver­
nunft « und als Bewußtsein überhaupt in den >>Prolegomena«
auftritt.193 Der oberste Grundsatz der reinen praktischen Ver­
nunft, weil schlechterdings gegeben, ist nicht in derselben
Weise deduzibel wie die transzendentale Einheit der Apper­
zeption - dahingestellt, wieweit die Deduktion wirklich eine
ist oder nicht vielmehr Entfaltung der Momente einer Ein­
heit.194

186
13. VoRLESUNG
I I . 7- 1 963

Meine Damen und Herren,


ich möchte immerhin noch ein Moment nachtragen zu
dem Problem der Undeduzierbarkeit des kategorischen Im­
perativs. Es meldet sich da eine Sache, die dann sicherlich
unter den Iatenteren Impulsen der modernen Philosophie,
denen der Phänomenologie, nicht der letzte war, und der
schon, ehe die phänomenologische Bewegung in der Philo­
sophie so recht wirksam geworden ist, von Georg Simmel
formuliert worden ist in dem Satz: >daß alles, was sich bewei­
sen läßt, sich auch widerlegen läßt, daß nur das Unbeweis­
bare unwiderleglich sei.<195 Man stößt da auf das Phänomen
der Müdigkeit am Argument. Diese Müdigkeit hat auch ihre
dialektische Struktur. Es liegt in ihr etwas von der aufgesta­
pelten Erfahrung des Unschlichtbaren, den sogenannten
Schulstreitigkeiten in der Philosophie, und von dem Bedürf­
nis, da herauszukommen durch eine Art des Philosophierens,
die dem Argument als dem immer auch der Widerlegung
und dem Diskurs Zugänglichen entrinnt. Dieses Bestreben
der Philosophie sich in Lehre zu verwandeln, also der Relati­
vität des >Es ist so - Ja, aber< sich zu entwinden, hat als Idee
sicher etwas Legitimes, aber zugleich auch zwei Gefahren.
Nämlich auf der einen Seite, die Philosophie wirklich
herunterzubringen auf das bloße Akzeptieren sogenannter
Gegebenheiten, also wirklich den eigentlichen Gedanken
auszuschließen und aus Philosophie positivistische Tatsa­
chenforschung zu machen- wie dann der Positivismus seiner­
seits versucht hat, diese in eine Philosophie zu verwandeln -,
oder auf der anderen Seite, nun willkürliche Gebote einfach
zu setzen, den Menschen anzubefehlen. Beides schwingt auch
in diesem Kantischen Imperativ mit, obwohl in all dem auch
ein Moment der Wahrheit ist, daß nämlich, wenn die Wahr­
heit nicht auch die Tendenz hat, sich dem Hin und Her des
Arguments zu entziehen, wenn in ihr nicht etwas ist, was über
diese schlechte Unendlichkeit hinausreicht, daß sie dann ge­
nausowenig ihrer mächtig ist wie umgekehrt, wenn sie bei
dem Dekret oder bei der bloßen Gegebenheit sich bescheidet.
Wir hatten uns dieser ersten Fassung des kategorischen Im­
perativs zugewandt, wie sie in der »Grundlegung zur Meta­
physik der Sitten« formuliert ist, und ich möchte darauf nun
doch noch etwas näher eingehen. Ich folge dabei wieder mei­
ner Gewohnheit, daß wir uns den Wortlaut sehr genau anse­
hen. » Ich soll« , heißt es da, »niemals anders verfahren, als so,
daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines
Gesetz werden . « 196 Es ist interessant, daß hier dieses ein­
schränkende »auch« dabeisteht, was man ja fast so interpre­
tieren könnte, als ob es ihm nur darauf ankommt, daß diese
Maxime mit einem allgemeinen Gesetz nicht in Widerspruch
steht, ohne daß er dabei aber nun selber verlangte, positiv
verlangte, daß jede einzelne Handlung unmittelbar aus dem
allgemeinen Gesetz entspringe; worin doch vielleicht ein Zu­
geständnis an die Art von Bedingtheit des Handeins liegt, die
ja eben darin besteht, daß eine solche reine Transparenz auf
allgemeinste Gesetzmäßigkeiten von ihr gar nicht erwartet
werden kann. Und da es ja Kant nun doch darauf ankommt,
den kategorischen Imperativ nicht in der Luft zu lassen, son­
dern für die realen Subjekte geltend zu machen, wie wenig im
übrigen auch diese in ihm aufgehen mögen, so könnten sol­
che Erwägungen immerhin hineinspielen. Das steckt nun
aber tatsächlich wohl noch mehr in dem Begriff des Wollens,
den er hier hat, in dem Begriff des Willens. Ich möchte Ihnen
doch noch einmal sagen, daß der Willensbegriffbei Kant eine
sehr spezifische Bedeutung hat, die man im allgemeinen ver­
gißt, wenn man so von dem moralischen Vermögen, oder
wie man das nennen will, als dem Willen redet. Es gibt eine
Stelle in der »Kritik der praktischen Vernunft« - und zwar in
dem zweiten Hauptstück aus der Analytik: »Von dem Be­
griffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft«
-, wo es heißt: >Vernunft allein ist vermögend, die Verknüp­
fung der Mittel mit ihren Absichten einzusehen, so daß man

!88
auch< - und nun kommt die Definition - >den Willen durch
das Vermögen der Zwecke definieren könnte, indem sie je­
derzeit Bestimmungsgründe des Begehrungsvermögens
nach Prinzipien sind,< und so weiter. 197 Der Wille wäre also
demnach das Begehrungsvermögen, soweit es seine Bestim­
mungsgründe in Zwecken hat. Die Formulierung ist deshalb
sehr auffällig, weil sie eine jener zahllosen sehr subtilen
Selbstkorrekturen darstellt, die das Kautische System, ja, ich
möchte am liebsten sagen, ausmachen. Man könnte es so aus­
drücken, daß die Kautische Philosophie, die ja in ihren we­
sentlichen Motiven objektiv auf Dialektik drängt, aber im
Sinn und nach den Regeln der traditionellen Logik vorgetra­
gen wird, dem dadurch Rechnung trägt, daß sie das, was
eigentlich nur durch die Dialektik der Begriffe, also durch
das Hineinnehmen des Widerspruchs in den Begriff selbst,
geleistet werden könnte, durch einen immerwährenden Pro­
zeß der Revision und der Selbstkorrektur leistet. Und wenn
ich Ihnen diesen Tip für Ihre eigene Kaut-Lektüre geben
kann: Sie werden Kant insgesamt, vor allem auch die »Kritik
der reinen Vernunft« und die »Kritik der Urteilskraft«,
wahrscheinlich nur dann ganz verstehen, wenn Sie vonein­
ander abheben die durchlaufenden, sozusagen offiziellen
Gesamtintentionen und die unzähligen Korrekturen, durch
die dann Kant versucht, die dialektischen Verhältnisse, auf
die er stößt, doch geltend zu machen - wohlverstanden, da­
mit Sie mich nicht falsch verstehen, ohne daß er dabei etwa
einen Begriff von Dialektik hineinnähme. Was ich an der
Stelle meine, ist nichts anderes, als daß ja das Begehrungsver­
mögen nach der alten Platonischen Einteilung der ElOYJ, der
Vermögen des Menschen, eben gerade das aufSinnliches Ge­
richtete ist und damit eigentlich das, was prinzipiell der Hete­
ronomie überantwortet ist. Wenn aber nun der Wille defi­
niert wird als das Begehrungsvermögen, das durch Zwecke
bestimmt ist - und Zwecke sind ja jeweils zu verstehen als
Zwecke der Vernunft -, so liegt darin doch auch so etwas
wie: daß dies prinzipiell als sinnlich gedachte Vermögen da-
durch, daß es abermals sehr formal gefaßt ist, in dem Augen­
blick, in dem es eben nach Vernunftzwecken sich ordnet, den
Vernunftzwecken untergeordnet ist, trotzdem zu der Ver­
nunft selbst vermittelt sei. Und diese Vermittlung ist, wie
alle Vermittlungskategorien, deshalb so ungeheuer wichtig
bei Kant, weil nur dadurch, daß so etwas wie dieses ursprüng­
lich sinnliche Vermögen des Begehrens, der Absicht, - von
dem ja sonst das moralische Verhalten gerade unterschieden
wird - in sich die Möglichkeit hat, auch durch Vernunft be­
stimmt zu sein, wir uns überhaupt vorstellen können, wie
das Sittengesetz, der kategorische Imperativ und unser Ver­
halten als empirische Wesen zusammenkommen; deshalb
also diese eigentümliche Zwischenbestimmung, die bei ihm
vorliegt, diese Zwischenbestimmung des Willens als des Be­
gehrungsvermögens, aber als eines Begehrungsvermögens,
das gleichzeitig von Vernunft gelenkt wird. Im übrigen eine
Theorie, die von der Psychologie, von den Einsichten der
Psychologie gar nicht so absolut entfernt ist, wie es vielleicht
auf den ersten Blick aussieht. Diese Vermittlungskategorie
des Willens ist bei ihm nicht, wie der Wille bei Aristoteles
gefaßt wird, die Vermittlung zwischen innen und außen,
sondern er ist die Vermittlung im Innern, das heißt: die Kraft,
durch welche das Moralische ohnejede Rücksicht aufEmpi­
risches sich zu realisieren vermag, nämlich - wenn Sie mir
einmal an Kants Konzession anschließend, dann auch die
Konzession an die Sprache der Psychologie gestatten - da­
durch: daß die Vernunft in Gestalt des Willens den Trieb -
daß das Ich, wie die Psychologie sagen würde, in diesem Mo­
ment das Es - in Beschlag nimmt. Der Wille wäre also dem­
nach das Moment der verft.igbaren Energie, der verfügbaren
Triebenergie, das gewissermaßen abgezweigt und dem be­
wußten Willen unterworfen ist, und im Begriff des Willens
steckt ja •etwas derartiges tatsächlich auch immer drin.198 Es
ist nicht das letzte Zeugnis für die Größe Kants, daß auch, wo
er solche Verbaldefinitionen wie die des Willens gibt, die ich
Ihnen verlesen habe - und deshalb ist es gut, wenn Sie sich

1 90
solche Verbaldefinitionen bei Kaut genau ansehen -, diese
nicht jenes Moment der Willkürlichkeit und Zufälligkeit ha­
ben, das etwa instrumentelle Definitionen heutzutage so
leicht gewinnen, sondern daß sie immer zugleich auch, ja,
man könnte sagen: phänomenologisch sind, das heißt, daß
sie immer, ganz im Sinne der alten Platonischen Forderung,
soweit wie nur möglich sich bestreben, der Natur des je defi­
nierten Phänomens sich selber anzumessen. Das, was das
Moralische nun eigentlich darstellt, ist, daß diesem Willen
jede Rücksichtnahme auf irgendwelche Absichten fernliegt.
Das heißt, es kommt Kant lediglich darauf an, daß ich im
Sinne dieses Sittengesetzes selber mich verhalte, ohne daß da­
bei die Frage nach dem Effekt, wenn ich es einmal so aus­
drücken soll, eine wesentliche Rolle überhaupt spielt. »Eine
Handlung aus Pflicht« - heißt es in der »Grundlegung« - »hat
ihren moralischen Wert nicht in der Absicht, welche dadurch
erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie
beschlossen wird, hängt also nicht von der Wirklichkeit des
Gegenstandes der Handlung ab, sondern bloß von dem Prin­
zip des Wollens, nach welchem die Handlung, unangesehen
aller Gegenstände des Begehrungsvermögens, geschehen
ist. « 1 99 - Was ja wieder konvergiert mit dem, was ich Ihnen
eben gesagt habe, daß nämlich der Wille das Begehrungsver­
mögen insoweit ist, wie es dem Primat der Vernunft, also
dem Primat des Sittengesetzes selber, unterworfen ist.
Ich möchte nun wenigstens, da wir hier vom Willen reden,
einschalten, daß der Begriff des Willens selber bei Kant,
wenn Sie so wollen, ein Rudiment ist. Das heißt, er wehrt
sich zwar dauernd gegen die Psychologie, kommt aber dann
doch - und auch das ist eine Grundstruktur, die man an der
ganzen » Kritik der reinen Vernunft « nachweisen kann -, da­
mit er überhaupt etwas sagt, also um überhaupt ein Substrat
für seine Gesetze, für seine Grundsätze, seine Forderungen zu
besitzen, ganz ohne Psychologisches nicht aus. Und da
schleicht sich nun in seine eigene Philosophie, ich möchte das
wenigstens andeuten, etwas ein, was, in dem extremen Sinn

191
seiner eigenen Philosophie, sich gar nicht einschleichen
dürfte, nämlich die Vorstellung von solchen fixierten Ver­
mögen der Seele, die in letzter Hinsicht hinauslaufen auf eine
ontologische Interpretation der Seele von der Art, daß sie aus
irgendwelchen Wesenheiten an sich sich komponiere; wie ja
etwa auch die Theorie des begehrenden oder des logischen
Vermögens bei Platon - auf den diese ganze Anschauung zu­
rückgeht: die sogenannte Platonische Psychologie - durch­
aus an die Platonische Ontologie, an die Ideenlehre gebunden
ist. Das heißt, die Vermögen, in welche bei Platon die Seele
des Menschen verlegt wird, die sind solche objektiven, an
sich seienden Wesenheiten im Sinne der Idee, so wie es in
einer Stelle des »Phaidon« dann ausdrücklich heißt: >daß
die Seele durch ihre Unkörperlichkeit selber bereits ein der
Idee Verwandtes sei.<200 Kant durfte das deshalb nicht sagen,
weil ja im Sinn seiner eigenen Kritik an der sogenannten
rationalen Seelenlehre die Vergegenständlichung oder Ver­
dinglichung irgendwelcher seelischer Fähigkeiten, Kräfte,
Vermögen - als ob sie ein An-sich-Seiendes und nicht ein
Funktionales in bezug auf den Inhalt wären, der aus der Er­
fahrung stammt, auf welchen diese Kategorien des Seeli­
schen jeweils sich beziehen - gerade ausgeschlossen werden
soll. Indem er aber einen solchen Begriff wie Willen verwen­
det, und es ist interessant, daß er ohne so etwas nicht aus­
kommt, daß er sich dessen gar nicht ganz entäußern kann,
redet er im Grunde dann doch noch so, wie wenn die Seele als
ein Ansich in solche Vermögen wie Verstand, Begehrungs­
vermögen, Willen und dergleichen zerfiele. Wobei zu sagen
ist, daß gerade in diesem Begriff des Willens natürlich unend­
lich viel ineinander geht, und daß man ihn nicht hypostasie­
ren kann, als ob er ein Selbständiges wäre. Es ist so, und ich
muß hier, da schon der Wille eine psychologische Kategorie
ist, doch noch einmal auch auf Psychologie rekurrieren, daß
man immer wieder die Erfahrung machen kann, daß gerade
die Hypostase des Begriffs des Willens - also etwa die Rede
davon: daß ein Mensch willensstark oder willensschwach sei-
gegenüber der Wirklichkeit des Seelenlebens, gegenüber den
tatsächlichen Verhaltensweisen der Menschen, etwas ganz
Willkürliches und Schwaches hat. Es ist nicht die letzte der
Pointen des Romans von Marcel Proust, an dem man ja in all
diesen Dingen eine unbeschreibliche Differenzierung lernen
kann, von der sich die Philosophen so etwas abschneiden
könnten, daß es da eine Rolle spielt, und das hat eine tiefe
Ironie, daß der Vater ihm unablässig vorwirft, daß er willens­
schwach sei, daß es ihm an Willen eigentlich gebreche, wäh­
rend das ganze Werk, ohne daß darüber ein Wort verloren
würde, das Zeugnis eines ungeheuer starken Willens ist; nur
daß die Stärke des Willens unter Umständen gerade sich in
dem kundtun kann, was nach den Convenus, an denen der
Vater orientiert ist, gerade als Willensschwäche sich zeigen
kann, das heißt: daß der Wille etwa darin besteht, daß er sich
an einem vollkommen anderen Zweck, an vollkommen an­
deren Zwecken orientiert als an denen der Selbsterhaltung,
die ja im Sinn der herkömmlichen Auffassung dem Willen
zugeschrieben werden. Jedenfalls möchte ich wiederholen,
daß Kant sehr richtig in seiner Theorie des Willens gesehen
hat, daß dieser Begriff des Willens nicht etwas Einsinniges
und Primitives ist, sondern daß in ihm die Triebenergie, der
Triebimpuls und dessen rationale Steuerung miteinander zu­
sammengehen. Und insofern er diese Vermittlung leistet -
und ich glaube, das ist auch wichtig, daß man das festhält -,
ist eigentlich bei Kant der Wille das Gute. Wenn am Anfang
in dem berühmten ersten Satz der ))Grundlegung« steht, daß
es überhaupt nichts Gutes gebe, es sei denn den reinen Willen
- ))Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer
derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für
gut könnte gehalten werden, als allein einguter Wille«201 -, so
steckt darin, wenn man die Obertöne von Kant richtig liest,
daß der Wille selber, insofern er das rein aus Vernunft ge­
lenkte Begehrungsvermögen ist, das Gute sei; und daß eigent­
lich das Böse das ist, was keinen Willen habe: das Willenlose,
das Diffuse, das, was sich dieser zentralisierenden und ord-

19 3
neoden Instanz gegenüber treiben läßt. Und man kann inso­
fern sagen, daß in der Kautischen Moralphilosophie das
bürgerliche Prinzip der Naturbeherrschung durch die Zen­
trierung der Triebenergien auf das Ich, das sie dirigiert, sozu­
sagen in der Philosophie selbst, auf ihrer Höhe, sich reflek­
tiert, sich widerspiegelt und in diesem allerhöchsten Prinzip
zusammenfaßt. Man könnte fast sagen, so etwas wie schlech­
ter Wille ist eigentlich bei Kant gar nicht vorstellbar, weil der
Wille als das ganz konsequent vernunftgemäße Begehren sel­
ber eigentlich das ist, was das Gute ist; Vernunft und Gutes
fallen miteinander zusammen. Wenn Sie sich den >Exkurs
über Juliette< aus der »Dialektik der Aufklärung« ansehen,
werden Sie diesen Gedanken recht eingehend darin weiter­
verfolgt finden.202 Man könnte das auch so ausdrücken, daß
nun, wenn der Wille tatsächlich die vermittelnde Kategorie
ist zwischen dem Begehrungsvermögen und der Vernunft,
daß dann die Vernunft selber auch Affinität zum Willen hat,
daß sie selber auch dem Willen verwandt ist, und wenn man
sich die Kautische Philosophie, die Kautische Erkenntnis­
theorie genau ansieht, dann wird man das tatsächlich bestä­
tigt finden. Man wird dann finden, daß tatsächlich der zen­
trale Begriff der Erkenntnislehre und damit die eigentliche
Bestimmung von Vernunft bei Kant selber ein dem Willen
sehr Ähnliches ist: nämlich der Gedanke von der ursprüngli­
chen Apperzeption, das heißt, von der rein erzeugenden
Kraft. Denken, Vernunft ist bei ihm - und das ist eine der
entscheidenden Innovationen der Kautischen Philosophie -
nicht eigentlich gemessen an dem bereits Vergegenständ­
lichten der Logik und der objektiven logischen Gesetzmäßig­
keiten, sondern ist schon von vornherein als das Tun, das
Hervorbringen gedacht, aus dem dann die logischen Gesetz­
mäßigkeiten eigentlich entspringen sollen. Und man könnte
insofern wirklich sagen, daß die Lehre von dem Primat der
praktischen Vernunft über die theoretische, den ich Ihnen bei
Gelegenheit der Interpretationjenes Kapitels aus der » Kritik
der reinen Vernunft « erstmals entwickelt habe, daß der noch

194
weit darüber hinaus eigentlich insofern gilt, als die Vernunft
selber auch gar nichts anderes als der Wille ist, nur eben nun
wirklich der reine Wille, das heißt: eine Art von Tun, von
ursprünglichem Tun, das von aller Abhängigkeit von ihm
vorgegebenen Objekten sich gänzlich gereinigt hat. Insofern
können Sie also sehen, wie in der Kautischen Philosophie und
gerade in der Kautischen praktischen Philosophie, in der
Kautischen Moralphilosophie, die gesamte daran anschlie­
ßende Entwicklung der Philosophie und insbesondere die
Fichtesche Philosophie angelegt ist, daß wirklich der be­
rühmte und berüchtigte Anspruch von Fichte, daß er den
Kant besser auslegen könne als jener sich selbst, daß der so
vermessen, wie er zunächst und angesichts von Kants eigener
Haltung zunächst scheint, gar nicht gewesen ist. Man
könnte, wenn man den Sachverhalt, den ich Ihnen eben zu
bezeichnen versucht habe, gesellschaftlich ausdrücken
wollte, wohl sagen, daß Kant eigentlich darin - und auch das
ist eine Verinhaltlichung der sogenannten abstrakten oder
formalen K autischen Ethik - das Arbeitsethos der bürgerli­
chen Gesellschaft, also die Norm des Produktionsprozesses
von Gütern, unter dem die gesamte bürgerliche Gesellschaft
ja steht, gleichsam zu einer eigenen höchsten philoso­
phischen Norm gemacht habe, daß dies gesellschaftliche
Verhältnis der Notwendigkeit gesellschaftlicher Arbeit als
der obersten und verpflichtenden Norm bei ihm zum ab­
strakten Prinzip geworden sei, und daß das radikal Böse bei
ihm eigentlich gar nichts anderes ist, ja, man müßte fast sa­
gen, als die Faulheit, also als das, was mit diesem Desiderat
der bürgerlichen Gesellschaft durchaus nicht mitgekommen
ist.
Lassen Sie mich jetzt noch ein paar Worte sagen über den
Kautischen Pflichtbegriff, und zwar so, wie dieser Pflichtbe­
griff auch in seiner elementaren Form eingeführt ist in der
»Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« . Da heißt es:
»Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs
Gesetz . «203 Ich mache Sie darauf aufmerksam, wieder durch

1 95
das Mikroskop lesend, daß in diesem Satz zweimal Äquiva­
lente von Gesetzmäßigkeit vorkommen, nämlich Notwen­
digkeit und Gesetz; es ist also sozusagen zweierlei Notwen­
digkeit hier prädiziert. Einmal darin nämlich, daß das Gesetz
ja objektiv gültig sein muß - und diese objektive Gültigkeit
ist, wie ich Ihnen wiederholt schon im Sinne der Kantischen
Philosophie dargelegt habe, eins mit Allgemeinheit und Not­
wendigkeit -, dann aber auch in dem Sinn, daß es mich nö­
tigt, so und nicht anders zu handeln, daß es mich gleichsam
nicht ausläßt, und daß ich selber insofern auch subjektiv in
einem gewissen Sinn dieser Gesetzmäßigkeit, dieser Not­
wendigkeit unterstehen soll. Die Vermittlungskategorie zu
dieser Notwendigkeit, die in dem Aufforderungscharakter,
dem imperativischen )Du mußt so und nicht anders handeln!<
bei ihm besteht, das ist die Achtung. Diese Achtung ist bei
Kant eine sehr große Kategorie, und er hat sich ungeheure
Mühe gegeben, diesen Begriff der Achtung zu entwickeln -
auch das auf eine eminent geistreiche und zugleich phänome­
nologisch angemessene Weise. Wie es in einer Fußnote kurz
nach der verlesenen Stelle nämlich heißt, ist die Achtung
zwar ein Gefühl, und würde also als ein Gefühl im Sinne der
üblichen Vermögenslehre, der psychologischen, dem Primat
der Vernunft gegenüber, aus dem Primat der Vernunft her­
ausfallen, ihm entzogen sein, aber ein Gefühl, das sich selber
wesentlich eben auf Vernunft bezieht. Hier heißt es in der
betreffenden Stelle - ich will Ihnen auch das vorlesen: )) Allein
wenn Achtung gleich ein Gefühl ist, so ist es doch kein durch
Einfluß empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff
selbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen [ . . . ], die
sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen, spezifisch un­
terschieden. «204 Er versucht also auch hier, und zwar wieder
in sehr enger Fühlung mit dem untersuchten Phänomen, ein
Auszeichnendes dieses Gefühls zu setzen, indem es, wenn Sie
mir die paradoxe Formulierung durchgehen lassen, ein ratio­
nales Gef"tihl ist, das heißt, ein solches Gefühl, das nur dort
erweckt wird, wo ich der Vernunft, wo ich der Rationalität
selbst gegenüberstehe - gleichsam im Affektleben der Reflex
oder die Spiegelung des Vernunftprinzips selber. Und inso­
fern ist also dieser Begriff der Achtung nun bei ihm wie­
derum ein Vermittelndes zwischen meiner Freiheit und der
Gesetzmäßigkeit sowohl des Gesetzes an sich, seiner eigenen
Rationalität, wie des von ihm an mich ausgehenden imperati­
vischen Charakters, der sich vermöge dieser Achtung bei mir
durchsetzt.
Nun können Sie hier fragen und werden das sicher mit
Recht fragen, wie gegenüber einem Vexierbild: >Ja, Du hast
uns nun stundenlang davon geredet, daß der Zentralbegriff
der »Kritik der praktischen Vernunft« und der Kantischen
Moralphilosophie überhaupt die Freiheit sei, wo ist nun ei­
gentlich die Freiheit hingekommen?< Mit dieser Frage und
mit diesem Einwand, wenn Sie ihn an mich richten, haben
Sie verteufelt recht. Sie haben bemerkt, daß also zunächst
einmal der Imperativ selbst den Charakter der Notwendig­
keit hat, dann, daß er sich mir gegenüber in Gestalt eines Ge­
botes als notwendig darstellt, und schließlich, daß ich in Ge­
stalt der Achtung, die ich davor haben soll, auch noch einmal
diese Möglichkeit reflektieren soll. Die einzige Möglichkeit,
die innerhalb dieser Konstellation der Freiheit bleibt, wäre
nun, und das ist sehr seltsam, eigentlich die, daß ich mich
dieser Achtung, daß ich mich dieser Gesetzmäßigkeit, daß
ich diesem Gebot mich entziehe. Mit anderen Worten, der
Raum der Freiheit in der Kantischen Philosophie ist dann tat­
sächlich, wenn Sie diese Bestimmung sehr ernst nehmen,
überhaupt nur auf die Negativität beschränkt. Ich bin dann
eigentlich frei, wenn ich mich wirklich frei verhalte, wenn
ich davon absehe, daß das Sittengesetz in seiner Allgemein­
heit selber mit dem Prinzip der Freiheit harmonieren soll.
Wenn ich nun an die Ausführung denke, daran, wie ich mich
konkret verhalten soll, dann ist von dieser Freiheit nichts an­
deres übrig, als daß ich die Möglichkeit habe, ein Schwein zu
sein. - Dazu kommt aber noch etwas anderes, daß ich näm­
lich durch diese ganze Batterie von objektiver Vernünftig-

1 97
keit, von imperativischem Charakter, von Achtung, die ich
all dem zu zollen habe, so eingeengt bin, daß demgegenüber
also nun wirklich meine eigene Freiheit, selbst diese armse­
lige Freiheit, das Falsche zu tun und wie ein Schwein zu han­
deln, daß selbst die dabei bis auf ein Minimum sich reduziert,
daß von dieser Freiheit dann eigentlich gar nichts übrig
bleibt. Und das, meine Damen und Herren, hat nun doch,
glaube ich, eine sehr entscheidende Bedeutung, die man zur
Kritik der Kautischen Ethik, die wir ja nicht unterschlagen
wollen, doch heranziehen muß: daß nämlich diese Philo­
sophie zwar an ihren Anfang die Freiheit setzt und aus diesem
Begriff der Freiheit ein ungeheures Pathos zieht, daß aber
dann, in ihrer Ausführung, diese Freiheit eigentlich vollstän­
dig verschwindet, und diese Philosophie - und zwar auf eine
rein formale Weise, ohne daß dabei sichtbar und unmittelbar
irgendwelche obrigkeitlichen oder hierachischen Vorstellun­
gen sichtbar hineinspielen würden - dieses Moments der
Freiheit sich eigentlich vollkommen begibt. Und von den
beiden Momenten, die in dieser Philosophie im Einstand ge­
halten werden, von dem Moment der Notwendigkeit oder
der Gesetzmäßigkeit und von dem Moment der Freiheit, frißt
eigentlich das Moment der Notwendigkeit das der Freiheit
ungefähr so auf, wie etwa im wirtschaftlichen Prozeß jedes
einzelne wirtschaftliche Subjekt auch die Freiheit hätte, irra­
tional zu handeln. Also, der Unternehmer kann sein Geld
herausschmeißen, und der Arbeiter, der kann seine Arbeits­
zeit verschlafen und braucht nicht hinzugehen, diese Freiheit
hat er schon, aber der Unternehmer macht dann bankrott,
und der Arbeiter wird herausgeschmissen - er soll's also nur
mal mit der Freiheit probieren! Also dieses Moment, daß
dann doch der Zwangscharakter der Realität, der gesell­
schaftlichen Realität in der wir leben, gegenüber der Freiheit
sich durchsetzt, während die Freiheit ganz an den Horizont,
>hinten weit in der Türkei, wo die Völker aufeinanderschla­
gen<205, verbannt wird, das ist dann eben doch dieses repres­
sive Moment, das in der Gestalt der Konstruktion der prakti-
sehen Vernunft drinliegt, so daß dann also doch, und zwar
vermöge ihres eigenen formalen Charakters der Gesetzmä­
ßigkeit, das repressive Moment gegenüber dem Moment der
Freiheit unendlich überwiegt. Was sich dann eben in der vul­
gären Konsequenz gespiegelt hat, die aus der Kantischen
Ethik gezogen worden ist, dort, wo dann wirklich vom Im­
perativ nichts anderes übrig geblieben ist, als daß auf die
Pauke geschlagen wird und gesagt wird: >Du sollst, Du
mußt, Du mußt, Du mußt!<, wie Sie es etwa unübertroffen
dargestellt finden in der Gestalt des Gymnasialdirektors Wu­
licke aus den »Buddenbrooks«, der immerzu vom kategori­
schen Imperativ redet und dabei seine Schüler in Wirklichkeit
damit ununterbrochen schikaniert und quält. Also die Paro­
die, die die Kantische Philosophie dann in dem Festredner­
Idealismus erfahren hat, diese Parodie ist doch nicht ganz so
unverdient, wie sie uns erscheint, wenn wir die großartig
nüchternen Formulierungen von Kant mit der abscheulichen
Phrase vergleichen, zu der sie dann im Zeitalter des deut­
schen Imperialismus geworden sind.
Ich glaube, das müssen wir uns also doch bei Kant auch
eingestehen, daß das so ist. Die Achtung weist zurück auf die
Gültigkeit des Gesetzes, ist also selber in dem Gesetz fun­
diert. Kant sieht natürlich das Problem der Heteronomie, die
mit der Achtung hereinragt, und deshalb versucht er nun
diese Phänomenologie der Achtung als eines rationalen Ge­
fühls - ganz analog dazu, wie der Wille rationales Begeh­
rungsvermögen ist. Ich fasse das also so zusammen, daß sich
bei Kant in der Ausführung der praktischen Philosophie eine
Tendenz zeigt, dann doch das Moment der Freiheit soweit
wie nur möglich zu reduzieren. Es steht so emphatisch am
Anfang, daß es ihm ein bißeben ähnlich ergeht wie dem lie­
ben Gott im Deismus, der auch am Anfang steht und das
Ganze geschaffen hat und dem deshalb ungeheurer Respekt
gezollt wird, der aber, wie man heutzutage sagen würde,
nach oben abgeschoben wird. Das heißt, deshalb, weil die
Freiheit so glorios der Ursprung des Gesetzes selber ist, des-

1 99
halb wird dann in der Ausführung dieses Gesetzes selber auf
sie eigentlich gar keine Rücksicht mehr genommen. Die Frei­
heit wird eigentlich potentiell eliminiert; und es zeigt sich da­
bei, daß, wenn Kant dazu tendiert, im Unendlichen doch so
etwas zu stipulieren wie die Einheit des Natürlichen und des
Sittlichen, die Einheit der natürlichen und der geistigen Welt,
er sich dabei dann doch im Grunde vorstellt, daß das Geset­
zesideal der Natur auch das Modell der Ethik ist, daß die Welt
selber an sich, daß das Ding an sich eigentlich das Gesetz sei,
wie es dann ja auch in der Lehre vom intelligiblen Charakter
bei Kant wiederkehrt. Aber indem nun dieser Gesetzesbe­
griff, der ja in der » Kritik der reinen Vernunft« nur auf die
Phänomene sich bezieht und von dem das Ding an sich
gerade ausgenommen sein soll, auf diese Weise Totalität er­
langt, dadurch behält in der Kantischen Ethik der Zwangs­
charakter der Natur, von der jener Gesetzescharakter ent­
lehnt ist, eigentlich das letzte Wort. Das heißt, die Kantische
Ethik bleibt eben doch, dadurch, daß sie als die absolute Na­
turbeherrschung sich selber deklariert, daß ihr eigentliches
Kernprinzip ist, Natur zu unterdrücken und im Sinn ihrer
Identität ihre Einheit zu kontrollieren, selber naturhörig. Das
heißt, das blind Zwanghafte der Gesetzmäßigkeit, der die au­
ßermenschliche Natur untersteht, das setzt auf diese Weise
auch in der Kantischen Ethik sich fort, etwa so, wie man mit
Fug sagen kann, daß die Gesellschaft, in der wir leben, die
scheinbare Welt der Freiheit, in der wir leben, in Wirklichkeit
nur fortgesetzte Naturgeschichte ist, weil wir selber dabei in
einer ganz ähnlichen Weise von blind gewachsenen Notwen­
digkeiten abhängen, wie es sonst diejenigen sind, mit denen
die außermenschliche Natur von unsjedenfalls besetzt wird,
die wir darauf projizieren.
Meine Damen und Herren, ich glaube, ich habe damit
eigentlich das Entscheidende Ihnen auseinandergesetzt, was
ich Ihnen in der Kantischen E thik auseinandersetzen wollte.
Ich werde dann dazu übergehen, vor allem über das Problem
der Gesinnungsethik in ihrem Verhältnis zur Güterethik und

200
zur Verantwortungsethik zu reden, ein Problem, das sich ja
anschließt unmittelbar an die Formulierungen von Kant dar­
über, daß die Ethik ein von jeder Absicht Freies sei. Ich
möchte Sie nur noch, und das werde ich dann vielleicht in der
nächsten Stunde ein bißeben näher entwickeln, darauf auf­
merksam machen, daß die Kantische Ethik in ihrer rigorosen
Form sich auch unabhängig machen will von der Wohlfahrt
der gesamten Gattung, daß also auch die Herstellung etwa
einer glücklichen Gesellschaft jedenfalls an emphatischen
Stellen der Kantischen Moralphilosophie ausgeschlossen
wird, während allerdings dann doch am Schluß der » Kritik
der praktischen Vernunft« der Begriff der Menschheit wie­
der hereinkommt. Man könnte also auch das Prinzip der
Kantischen Ethik so formulieren, daß man sagt, daß es sich in
ihr lediglich um eine objektive Vernunft handele, völlig un­
abhängig von einer subjektiven, menschliche Zwecke und
menschliche Ziele erreichenden Vernunft, und daß diese Ob­
jektivität der Vernunft sich schließlich noch bis auf den End­
zweck dessen erstreckt und fortsetzt, wozu die Vernunft
überhaupt erst da ist. Aber damit berühre ich nun ein außer­
ordentlich komplexes und in sich antinomisches Verhältnis,
und ehe wir die Kantische Moralphilosophie verlassen,
werde ich doch gezwungen sein, zu diesen Dingen noch eini­
ges wenigstens nachzutragen, dann aber überzugehen zu
dem, was ich Ihnen nun selbst zu dem Komplex Gesinnungs­
ethik, Verantwortungsethik, Güterethik sagen möchte.

201
1 4 . VORLESUNG
! 6. 7· 1963

Ich will206 noch ein paar Punkte nachtragen zu den Fragen der
Karrtischen Moralphilosophie, die wir bis jetzt behandelt ha­
ben, und von dort allmählich übergehen zu einigen modellar­
tigen sogenannten Hauptproblemen der Moralphilosophie,
auf die wir zunächst noch nicht gekommen sind, die aber in
einem sinnvollen Zusammenhang mit der Karrtischen Pro­
blematik stehen, mit der wir uns vorwiegend beschäftigt
haben. Ich erinnere Sie daran, daß wir das Sittengesetz qua
Vernunftprinzip bestimmt hatten als das reine Prinzip von
Naturbeherrschung, und zwar von Beherrschung der inne­
ren ebenso wie der äußeren Natur, und Kant hat auch darin,
so habe ich festgestellt, eine alte Tradition aufgenommen, die
einerseits auf den Aristoteles zurückdatiert und auf die Stoa
andererseits. Es ist eine der erstaunlichsten Tatsachen, die
einem begegnen, wenn man sich mit der Geschichte der Phi­
losophie beschäftigt, wie sehr in diesem Punkt - also daß die
Triebe etwas seien, was zu beherrschen und zu unterdrücken
ist - die Philosophen der verschiedensten und oft der kontra­
diktorisch einander extrem entgegengesetzten Richtung mit­
einander übereinstimmen. Ob das nun Descartes oder Bacon
ist, ob das Kant oder Nietzsche ist, also diejenigen, die so in
den offiziellen Philosophiegeschichten als Todfeinde ver­
zeichnet sind, die sind in diesem Punkt einander merkwürdig
einig. Wie es denn überhaupt eine seltsame Sache ist, daß die
meisten der Konflikte der Philosophie, wie sie von der Ein­
teilung der Philosophiegeschichte nach Schulen verzeichnet
werden, im allgemeinen, wenn man dann die Texte selber
sich vornimmt, sich reduzieren, will sagen, die sogenannten
Grund- und Ausgangspositionen der Philosophen sind für
die Folgerungen, die sie ziehen, relativ gleichgültig; sie predi­
gen, soweit sie predigen, soweit sie also irgendwelche Nor­
men aufrichten, immerzu dasselbe. Und das macht nicht nur
gegen die differierenden Grundpositionen ein wenig skep-

202
tisch, sondern eben vor allem auch gegen diesen Habitus der
Philosophen selber, die im allgemeinen, das kann man wohl
sagen, doch sich einfach zu Sprechern der stärkeren Tenden­
zen innerhalb der zivilisatorischen Entwicklung machen.
Diese Idee des Triebverzichtes, wie sie also auch in jüngster
Zeit von der Psychoanalyse formuliert worden ist, die steht,
sagte ich Ihnen, in Übereinstimmung mit der zivilisatori­
schen Tendenz, man kann auch sagen, mit den Grundtenden­
zen einer im weitesten Sinn bürgerlichen, nämlich auf Arbeit
gestellten, städtischen Zivilisation. Wenn ich hier eine Se­
kunde auf die Psychologie eingehen darf - deren Trennung
von den sogenannten moralphilosophischen Problemen in­
sofern immer etwas Prekäres hat, als ja die Menschen, von
denen erwartet wird, daß sie als gute, richtig lebende sich
verhalten, eben immer zugleich psychologische Wesen sind,
von deren psychologischer Beschaffenheit ihr Verhalten we­
sentlich abhängt -, dann ist es ja merkwürdig, daß Freud, der
ja anfing als Kritiker der sogenannten Verdrängung, also als
Kritiker gerade des Triebverzichtes, sich selber dann doch
zum Sprecher des Triebverzichtes gemacht hat. Und zwar,
ich kann im einzelnen hier natürlich darauf nicht eingehen,
deswegen, weil er zu der Erfahrung gelangte, daß ohne ein
Maß an Triebverzicht, also durch die reine unmittelbare Be­
friedigung des Triebes, und dabei dachte er vor allem an den
Sexus, so etwas wie Zivilisation; ein einigermaßen geordne­
tes Zusammenleben der Menschen eben überhaupt nicht
solle vorgestellt werden können. Der Unterschied, den er da­
bei machte, war nun der zwischen dem Triebverzicht als
Verdrängung - das heißt, ein Verhalten, das diesem Trieb­
verzicht nicht ins Auge sieht, sondern die Triebe ins Unbe­
wußte schiebt und statt dessen irgendwelche Ersatzbefriedi­
gungen prekärer und problematischer Art produziert - und
andererseits dem bewußten Triebverzicht, also daß auch das
triebmäßige Verhalten der Menschen unter den Primat ihrer
Vernunft gerückt werde. Ganz ähnlich, wie das nach all dem
in der Kantischen Ethik auch ist, so daß Sie also an dieser

20 3
Stelle beobachten können, daß in einem Entscheidenden,
nämlich in der rationalen Kontrolle der Triebe, die extrem
anti-psychologische Kantische Ethik und die extrem psycho­
logische oder, wenn Sie wollen, psychologistische Lehre von
Freud miteinander übereinstimmen.207
Worin ist aber dann diese Rationalität des Triebverzichtes,
diese Vernunft des Triebverzichtes zunächst einmal zu su­
chen? Wenn wir diesem Begriff der Vernunft den Sinn ge­
ben, den Kant ihm selber an einer entscheidenden Stelle der
» Kritik der Urteilskraft« und zwar der >teleologischen Ur­
teilskraft< gibt, wo er nämlich sagt, daß die Organismen so
eingerichtet erscheinen, als ob ihre Einrichtung dem Zweck
der Selbsterhaltung diene, 208 dann wird man darauf geführt,
daß dies vernünftige Verhalten der Menschen vernünftig sei
insofern, als es dem Prinzip dient, das schon bei Spinoza als
das eigentliche Grundprinzip eines jeglichen Seienden gefaßt
ist: >sese conservare<209, sich selber erhalten. Also die Ver­
nunft bestimmt sich, wie bei Spinoza, so bei Kant, doch auch
als eine sich selbst erhaltende Vernunft, und trotz des Kauti­
schen Rigorismus ist dieses Motiv so stark, daß Kant dann in
der ausgeführten Sittenlehre, der » Metaphysik der Sitten« ,
wo e r ein System der Pflichten, die wir haben, gibt, unter
diesen Pflichten auch die Pflicht gegen uns selbst, ebenjenes
Gesetz der Selbsterhaltung, aufführt;21 0 wie im übrigen auch
in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« sich eine
Stelle findet, an der er ausdrücklich davon spricht, daß wir
das Recht und sogar die Pflicht hätten, unser eigenes Glück
zu verfolgen. 21 1 Darauf soll also im Sinn all dieser Moralphi­
losophien in einem gewissen Sinn verzichtet werden. Aber
dieser Verzicht steht unter einem Vorbehalt, wie er auch in
der Kantischen oder der Schopenhauerschen Unterschei­
dung des Charakters als eines Ganzen von den einzelnen
Handlungen des Individuums gemeint ist. Mit anderen Wor­
ten, die Triebverzichte, die den einzelnen zugemutet werden,
sollen deshalb vernünftige Triebverzichte sein, weil sie sich,
wenn Sie mir die ordinäre Redeweise durchgehen lassen, für

204
das Individuum rentieren, weil es sozusagen, quantitativ ge­
sprochen, das Maß an Glück oder an Lust, auf das es jetzt und
hier momentan verzichtet, eben vermöge der rationalen Or­
ganisation seines Lebens dann mit Zinsen zurückbekomme.
Es ist also eine Art Sparwirtschaft des Glücks, die all diesen
moralischen Lehren in irgendeinem - natürlich bei Kant nicht
ausdrücklichen - Sinn zugrundeliegt. Aber wenn er schließ­
lich als den Endzweck doch das Glück der ganzen Gattung
der Menschheit ins Auge faßt, so spielt etwas derartiges bei
ihm herein, und an diesem Punkt nun, meine Damen und
Herren, stoßen Sie auf eine der tiefsten Fehlerquellen, ich
würde sagen, gesellschaftlichen Fehlerquellen der Moralphi­
losophie. Und Sie mögen hier erkennen, daß die übliche
Trennung von Gesellschaftswissenschaft und sogenannter
reiner Philosophie deshalb so wenig triftig ist, weil die gesell­
schaftlichen Kategorien bis ins Innerste der moralphilosophi­
schen sich hinein erstrecken. Es handelt sich nämlich um den
Tatbestand, daß, ganz schlicht gesagt, die Rechnung nicht
aufgeht, daß, gesellschaftlich gesprochen, insgesamt die
Kompensation, die uns durch unsere Zivilisation und durch
unsere Erziehung für die Triebverzichte verheißen wird,
nicht eintritt. Freud selber, der ja in dem Prinzip der Herr­
schaft des Ichs über das Es die, wenn Sie so wollen, gesamt­
philosophische Doktrin des Triebverzichts sich zu eigen ge­
macht hat, ist auf diesen Tatbestand gestoßen und hat ihn
zwar nicht in seinen theoretischen und philosophischen oder,
wie man das zu nennen pflegt, metapsychologischen Schrif­
ten ausgesprochen, wohl aber in den sogenannten techni­
schen Schriften zur Psychoanalyse, auf die ich Sie in diesem
Zusammenhang sehr aufmerksam machen möchte, weil
nämlich in diesen sogenannten technischen Schriften außer­
ordentlich viel von dem Entscheidenden sich findet, das in
den großen theoretischen Entwürfen gerade verschwiegen
ist.212 Er hat darin also konstatiert, daß das Prekäre des Trieb­
verzichtes, das den Triebverzicht immer wieder auch proble­
matisch und hinfällig macht - und zugleich das Prekäre der

20 5
Psychoanalyse selber -, darin liegt, daß das Lustquantum,
wenn ich einmal so grob rationalistisch reden darf, auf das die
Individuenjeweils verzichten sollen, keineswegs so, wie es in
dem dabei zugrundeliegenden Prinzip der Vernünftigkeit
liegt, Ihnen dann später an anderer Stelle zurückerstattet
wird, sondern daß diese ganze Ermahnung eigentlich nur er­
folgt, damit das Ganze sozusagen sich erhält, ohne daß das
Individuum - mit Ausnahme von ganz wenigen Menschen
und auch bei denen ist es mehr als fraglich -jeweils also von
dem, worauf es verzichtet, nun tatsächlich profitieren
würde. Wenn Schopenhauer im vierten Buch der »Welt als
Wille und Vorstellung« sagt, daß die >Bilanz des Lebens<
schlecht sei, so können Sie den Sinn dieser sehr tief bürgerli­
chen Metapher von der Bilanz sich hier fast wörtlich daran
klarmachen, daß eben eine solche Äquivalenz von momenta­
nem Triebverzicht und später Kompensation nicht vor­
liegt,213 mit anderen Worten also, daß die Gesellschaft selbst
unvernünftig eingerichtet ist, daß in ihr die von ihr zugleich
immer versprochene und verheißene Äquivalenz nicht ein­
tritt und deshalb also tatsächlich in einem sehr tiefen und ra­
dikalen Sinn das Interesse des einzelnen und aller einzelnen
Menschen und das Interesse der Gesamtheit, der Totalität
auseinanderweist.
Das wirft ein merkwürdiges Licht auf die Verabsolutie­
rung des Triebverzichts zum kategorischen Imperativ bei
Kant. Sie können von hier aus vielleicht am bestenjene merk­
würdige Loslösung des Imperativs von jeder möglichen Er­
füllung, den sogenannten Rigorismus und Formalismus des
Imperativs in einem, verstehen. Wenn nämlich diese gesamt­
zivilisatorische Forderung der rationalen Kontrolle über uns
selber und über die äußere Natur in der Welt, in der wir le­
ben, eben ihre vernünftigen Kompensate nicht findet, aber
trotzdem im Interesse der Aufrechterhaltung von Zivilisa­
tion gefordert werden soll, dann muß sie eben deshalb, weil
sie als ein solches Für-Anderes, als ein Vernünftiges im Sinne
der Klugheit sich nicht ausweist, zu einem Absoluten und zu

206
einem An-sich-Seienden überhöht werden. Und tatsächlich
ist diese Art Überhöhung genau das, was bei dem kategori­
schen Imperativ von Kant stattfindet. Und daß es sich wirk­
lich dabei um etwas dergleichen handele, können Sie am ein­
fachsten daraus entnehmen, daß ja nun die Reinheit dieses
Imperativs in nichts anderem besteht als eben darin, daß das
sittlich gute Handeln von jeder nur möglichen, auch nur
noch so entfernten Gratifikation losgerissen wird, daß
gleichsam jene Bilanz, auf der diese ganze Rechnung des
Triebverzichtes und der Naturbeherrschung beruht, niemals
präsentiert werden darf, weil, wenn sie eben präsentiert
würde, das Moment der Unvernunft an jener Art der Ver­
nunft selber zwingend hervorträte. Man könnte sagen - und
das scheint mir eigentlich doch das entscheidende Moment
zur Kritik der Kantischen Moralphilosophie zu sein -, es liegt
ein Modellfall von Fetischismus vor, will sagen, die Lehre
vom kategorischen Imperativ fetischisiert den Verzicht, das
heißt: sie macht ihn von seinem Kompensat, von seinem ter­
minus ad quem unabhängig und zu einem An-sich-Seienden,
zu einem An-sich-Guten. So wie ja tatsächlich das dumpfe
und naive, sogenannte moralische Bewußtsein, das gerade
darin in besonderem Maß trügerisch ist, den Menschen vor­
gaukelt, daß auf etwas zu verzichten an sich bereits gut sei;
ohne daß dabei eigentlich durchsichtig wird, worin dieses
Gute des Verzichts eigentlich bestehen soll, vor allem, wenn
die Menschen dazu tendieren, Verzichte dann für gut zu hal­
ten, wenn Nicht-zu-Verzichten ein Böses oder ein Schlechtes
oder Zerstörendes keineswegs involviert. Dieses Moment ist
nun allerdings der Philosophie von früh auf auch bewußt ge­
wesen - und gerade in den verketzerten Richtungen. Also in
dem eigentlichen, dem radikalen Hedonismus ist es ausge­
sprochen worden etwa in der Theorie des Aristipp, die ge­
drungen hat auf die unmittelbare, nicht vertagte Befriedi­
gung der Begierde, auf das Glück jetzt und hier. Gemäßigter
Hedonismus ist eigentlich bereits schon keiner mehr, son­
dern in dem Augenblick, wo man, wie es dann etwa bei Epi-

207
kur geschieht, zwar im Prinzip das Glück oder die Lust aner­
kennt, aber dann die unmittelbare zugunsten etwa der Lust
der Erkenntnis oder solcher Momente vertagt und subli­
miert, in dem Augenblick ist die Moralphilosophie schon be­
reits in jenen großen, und fast hätte ich gesagt, trüben Haupt­
strom der offiziellen Philosophie hereingeraten, dem jene
verketzerten Richtungen immerhin, wenn auch schwach,
weil sie die zivilisatorisch ohnmächtigeren waren, opponiert
haben. Diese Art des Fetischismus, von der ich Ihnen gespro­
chen habe, drückt sich bei Kant nun darin aus, daß er prinzi­
piell jedenfalls - und die einschlägigen Formulierungen ste­
hen gerade in der >>Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«
- das sittliche Verhalten als das rein vernunftgemäße nicht
nur unabhängig macht von dem Glück des Individuums,
sondern auch von der Wohlfahrt der Gattung als solcher. Es
wird also auch in diesem Sinn, daß nicht einmal das Glück der
Menschheit eigentlich visiert werden darf, die Vernunft ge­
genüber jedem möglichen Inhalt verselbständigt, obwohl
andererseits, und an diesem Widerspruch können Sie sehen,
wie vertrackt dieses Problem ist, bei Kant die Menschheit als
Endzweck der Vernunft erscheint. Es ist wiederum leichter,
über diesen Widerspruch sich zu mokieren und an ihm herum
zu mäkeln, als des Sinns gerade eines solchen Widerspruchs
innezuwerden. Denn auf der anderen Seite hat Kant ganz
recht. Im Sinne seines reinen Vernunftprinzips wäre dessen
Fixierung an einem, sei's auch noch so fernen Gesamtzustand
der Menschheit schließlich die an einem Gut, an einem Empi­
rischen; sie würde das Sittengesetz genauso von einem bloß
Seienden abhängig machen wie irgendeine Tugendlehre, die
sich auf das momentane Verhalten bezieht. Scheidet aber auf
der anderen Seite einjeder solcher Gedanke an die Verwirkli­
chung der Vernunft ganz aus, dann wird eben der Vernunft­
begriff in diesem strengen Sinn, in dem ich versucht habe, es
Ihnen zu entwickeln, fetischistisch. Das heißt, die Vernunft
selber erweist sich durch das Falsche ihres immanenten Kal­
küls als ein Irrationales, und dieser objektiv antinomische,

208
dieser objektiv in sich widerspruchsvolle Zustand, der
schlägt sich eben - und es ist das Großartige, daß solche Wi­
dersprüche bei Kant nicht geglättet werden, sondern zum
Ausdruck kommen - darin nieder, daß Kant auf der einen
Seite sagt, daß das Sittengesetz rein um seiner selbst willen
verfolgt werden soll, daß aber auf der anderen Seite dann
doch so etwas wie die Menschheit als Zweck des Sittengeset­
zes angesehen wird, und daß er dabei doch auch um etwas
wie Vermittlung sich bemüht hat. Wenn dabei die Mensch­
heit als Endzweck der Vernunft erscheint, so dürfen Sie dabei
zunächst überhaupt nicht diesen Begriff der Menschheit bei
Kant kontaminieren mit dem in Raum und Zeit seienden em­
pirischen Faktum Menschheit als dem Inbegriff der Men­
schen, sondern was Kant hier mit Menschheit meint, ist gar
nichts anderes als das, was er vielfach in seinen Schriften um­
schreibt durch den Begriff eines mit Vernunft begabten We­
sens überhaupt.
Darin, daß also dieser Endzweck des sittlichen Verhaltens
mit der Vernunft, die ihm dienen und die zugleich selber das
Absolute sein soll, gleichgesetzt wird, eröffnet sich so etwas
wie eine Idee der Konvergenz eines solchen inhaltlichen Zie­
les, eines solchen inhaltlichen Telos von richtigem Leben mit
den formalen Vernunftbestimmungen, die Kant gegeben
hat, und ich muß Ihnen diese Möglichkeit als die dem gesun­
den Menschenverstand zunächst einmal plausibelste Lösung
der Schwierigkeit, mit der wir hier befaßt sind, ganz einfach
einmal entwickeln. Man könnte nämlich sagen, daß das zur
Totalität erhobene partikulare Vermögen zur Selbsterhal­
tung, also jene von Kant als Klugheit ein wenig pejorativ be­
handelte selbsterhaltende Vernunft der je einzelnen, wenn sie
so realisiert ist, daß sie sich auf die gesamte Gattung bezieht,
dann eins wäre mit der objektiven Vernunft des Sittengeset­
zes, daß die dasselbe wäre. Und wenn Sie wollen, können Sie
in der Formulierung des kategorischen Imperativs dieses
Motiv ja auch insofern finden, als gesagt ist, daß ich muß
wollen können, daß die Maxime meines Handelns, also die

209
Zusammenfassung einmal unter diesem Gesichtspunkt mei­
ner subjektiven Klugheit, zur Grundlage einer allgemeinen
Gesetzgebung soll gemacht werden können, das heißt, so er­
weitert werden können soll, daß sie nicht bloß auf meine par­
tikularen Zwecke und Interessen und auf die partikularen
Zwecke und Interessen aller einzelnen sich bezieht, sondern
daß sie die Interessen aller Menschen gleichermaßen in sich
einbegreift, und daß darin also, in diesem Einbegreifen der
Partikular-Interessen aller und der Objektivität des Sitten­
gesetzes selbst, nun eigentlich jene Vermittlung zwischen
subjektiver und objektiver Vernunft, wenn Sie es so wollen,
liegen soll. Der Kautische Grundsatz, den ich Ihnen neulich
einmal genannt habe: daß man die Freiheit eines jeden Men­
schen nur genau soweit einzuschränken habe, wie an ihr die
Freiheit anderer Menschen sich begrenze,21 4 der gehört ja ge­
nau an diese Stelle. Das wäre also die Idee der Einheit zwischen
dem empirischen Bereich und der empirischen Menschheit
und ihren Zwecken mit dem rein formalen, rein apriorischen
Prinzip des Sittengesetzes, das ja bekanntlich bei Kant so rein
ist, daß er es sogar für überf1üssig hält, den Begriff einer rei­
nen Vernunft auf die praktische Vernunft anzuwenden, weil
es überhaupt eine andere praktische als die reine praktische
Vernunft gar nicht gäbe. Kant verwirft nun diese Einheit aus­
drücklich zwar für das Individuum, und zwar auf Grund sei­
ner theologisch bestimmten Lehre von der individuellen Be­
schaffenheit des Menschen als einer radikal bösen, er sucht sie
aber für die Gattung. Und die Kautische Geschichtsphiloso­
phie, an die wir in diesem Zusammenhang doch denken
müssen, wie sie niedergelegt ist in der kleinen Schrift »Idee zu
einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«,
die setzt sich ja ausdrücklich jene Vermittlung zwischen der
subjektiven und der objektiv geltenden Vernunft zum Ziel.
Auf die Weise, daß er darin lehrt, daß schließlich die Antago­
nismen zwischen den Interessen der einzelnen Menschen dar­
aufhinarbeiten, daß sich ein Gesamtzustand herstellt, in dem
doch so etwas wie Freiheit und Vernunft verwirklicht ist.

2!0
Aber diese Möglichkeit ist eine hypothetische Möglichkeit,
und ich glaube, das ist nun sehr wichtig und von Kant richtig
gesehen worden: sie kann nicht unmittelbar etwa als eine
Norm meines Verhaltens vorausgesetzt werden. Mit ande­
ren Worten, ich kann nicht etwa unmittelbar aus den Vorstel­
lungen, die sich auf die Herstellung einer gerechten Gesamt­
gesellschaft, eines gerechten Gesamtzustandes beziehen,
mein eigenes Verhalten jetzt und hier und in jedem Augen­
blick deduzieren. Vor allem deshalb nicht, weil ja jener ge­
rechte Gesamtzustand, Kautisch gesprochen, nicht gegeben,
sondern lediglich aufgegeben ist, und ich ihn auch nicht als
einen gegebenen verwenden kann, wenn ich nicht dabei ein
Unendliches verendlichen, fetischisieren will; was dann zu
solchen Konsequenzen führt wie etwa jenen, daß dann Men­
schen dazu kommen, zu sagen, gut sei das, was ihrem Volk
nutzt, oder gut sei das, was eine Partei ihnen anordnet, ihnen
befiehlt, weil die Partei oder das Volk sozusagen Organon
des Weltgeistes sei, was sie in dieser durchsichtigen und un­
mittelbaren Weise ja nun also doch niemals sein kann. Gutes,
hic et nunc,jetzt und hier richtiges Verhalten ist nicht unmit­
telbar identisch mit dem Guten im Sinn der Gattung. Und
wenn Kaut sich geweigert hat, diese beiden Bestimmungen ­
wie es ja nach dem, was ich Ihnen gesagt habe, nicht nur
plausibel, sondern auch verlockend ist - zusammenzubrin­
gen, dann hat ihn auch dabei ein sehr tiefer und richtiger In­
stinkt geleitet, der in seiner Philosophie insgesamt am Werke
ist, nämlich der der Distinktion, also nicht der, durch Her­
stellung falscher Identitäten, das, was in der Welt, in der wir
leben, real getrennt ist, wie mit einem Gewaltstreich nun
eben doch zu vereinen. Ich darf Sie vielleicht in diesem Zu­
sammenhang darauf hinweisen, daß ein moderner Dichter
und einer, von dem Sie es gerade wegen seiner politischen
Affiliationen vielleicht gar nicht ohne weiteres erwarten
würden, nämlich Brecht, ftir dieses Problem ein außeror­
dentlich feines Organ gehabt hat, daß er also schärfer viel­
leicht als jeder andere jenes Auseinanderweisen des personal

2I I
oder subjektiv Moralischen und des Objektiven gesehen hat.
Die Art, in der er dabei das objektive Interesse hypostasiert
hat und dabei nun über die Freiheit der Menschen hinwegge­
gangen ist, vor allem in Stücken wie der » Maßnahme«, die
darin schauerlich sind, braucht uns hier nicht zu beschäfti­
gen. Ich mache Sie nur darauf aufmerksam, daß er dieses Pro­
blem als eigentlich das heute überhaupt moralphilosophisch
zentrale und aktuelle Problem gesehen hat. Es ist besonders
in zwei gleichsam kontrapunktisch zueinander stehenden
Stücken behandelt worden, die ich Ihnen beide unter diesem
Aspekt zur Lektüre empfehle. Das eine von ihnen ist »Die
heilige Johanna der Schlachthöfe«, in der sich zeigt, daß ein
Mensch, der nun im Kautischen Sinne wirklich absolut rei­
nen Willens ist, der also eine reine Gesinnungsethik prakti­
ziert und sich nun buchstäblich und real so verhält, wie der
kategorische Imperativ es will, daß der gerade dadurch ob­
jektiv zum Handlanger der schlechtesten und gefährlichsten
Interessen wird, und daß das, was Johanna tut, sich also in das
Gegenteil dessen verkehrt, was sie will, und daß noch
schließlich ihr Opfertod genau jenen Interessen der Herr­
schaft und der Ausbeutung zugute kommt, der sie subjektiv
zu widerstehen meint. Das andere Stück, das nun dieselbe
Problematik genau umgekehrt hat, ist » Der gute Mensch
von Sezuan«, in dem es sich darum handelt, daß ein
Mensch, der ebenso wie Johanna das Gute unmittelbar rea­
lisieren will, in einer als tief fragwürdig erfahrenen Ge­
sellschaft das nur dadurch vermag, daß er, wie es in einem
Gedicht von Brecht einmal heißt, die >Maske des Bösen< an­
legt, 215 daß er sich selbst böse macht, weil er anders dazu
überhaupt nicht käme. Aber damit sind wir eigentlich be­
reits bei einem Problem, mit dem wir uns heute vermutlich
nicht mehr abgeben können, sondern mit dem wir dann
noch eingehend uns zu beschäftigen haben, nämlich mit je­
nem Problem der Differenz einer sogenannten Gesinnungs­
und einer sogenannten Verantwortungsethik, das ja als das
entscheidende der Kautischen Moralphilosophie und der an

212
Kant anschließenden Diskussion überhaupt wohl anzuspre­
chen ist.
Es ist aber nun doch zu sagen, daß auch bei diesem Pro­
blem, also der Konvergenz des subjektiven und des objekti­
ven Moments in der Moral, ein Gefahrenmoment der aller­
schwersten Art vorliegt, das auch bei Brecht nicht gemeistert
ist, und das ich hier einmal als das Problem des Jesuitismus
bezeichnen möchte, ohne daß ich dabei im mindesten an den
historischen Orden denke, sondern einfach, weil es sich in
einem Prinzip zusammenfaßt, das man, mit welchem Recht
auch immer, nun einmal mit dem Begriff des Jesuiten zusam­
mengebracht hat, nämlich das Problem, daß der Zweck die
Mittel heiligen soll. Diese Lehre erkennt, wenn Sie so wol­
len, in gewisser Weise die Divergenz des Gutenjetzt und hier
und des objektiv Geforderten, des total Guten an, glaubt
aber, damit fertig werden zu können dadurch, daß das To­
tale, daß der Endzweck gegenüber dem Besonderen und Ein­
zelnen den Vorrang gewinnen soll. Wir haben in unserer
Zeit, so plausibel auch dieser Gedanke zunächst in vielem
sich darbietet, die furchtbarste Probe darauf machen können,
was das nun tatsächlich bedeutet, was das heißt, daß im Na­
men eines solchen Vorrangs des Endzwecks oder des Ganzen
Unrecht begangen wird; daß das dann also tatsächlich dazu
fUhrt, daß der Begriff des Guten selbst überhaupt eines jeden
faßlichen Inhalts sich begibt und daß er auf nichts anderes als
auf die abstrakte Herrschaft dessen, was nun einmal die grö­
ßere Macht hat, hinausläuft, die sich dann verschanzt hinter
jener Idee des objektiv Höheren, das da angeblich bloß sub­
jektive Interessen und Legitimationen in sich aufhebe. Man
kann das, moralphilosophisch gesprochen, vielleicht am ehe­
sten auf die Formel bringen, daß man gegenüber all diesen
Theoremen - und etwa auch der » Maßnahme« von Brecht,
die ich Ihnen eben genannt habe und die ja gleichsam diesem
Furchtbaren die Ideologie gemacht hat - einwenden muß:
daß die Beziehung zwischen dem Allgemeinen, das gefordert
ist, und den Opfern oder dem, was jetzt und hier geschieht,

213
durchsichtig sein muß; daß es also nicht bei der abstrakten
Beteuerung bleiben darf, daß es so sei, sondern daß die Bezie­
hung in dem Sinn durchsichtig sein muß, daß in ihr das Ein­
zehnteresse der Menschen hic et nunc genauso zur Geltung
kommt wie jenes Gesamtinteresse - und diese Synthesis
dürfte allerdings wohl kaum der Fall sein. Jedenfalls darf der
Zweck nicht dogmatisch gesetzt und als ein nun selber Fi­
xiertes und Vergegenständlichtes den Menschen gegenüber
gesetzt werden, weil er sonst eben dem Begriff der menschli­
chen Vernunft, in dem ja auch die Erhaltung des Selbst, der je
einzelnen Menschen eingeschlossen ist, notwendig wider­
streitet. In diesem Sinn - ich glaube, das kann man wirklich
sagen - ist die Karrtische Moralphilosophie trotz ihres immer
wieder berufenen Formalismus, der also mit einem bestimm­
ten Moralkode nichts zu tun haben kann, mit der Gestalt der
totalitären Moral, die ja nur gleichsam den mehr spieleri­
schen Grundsatz, daß der Z weck die Mittel heilige, in bluti­
gen Ernst übersetzt, mit der totalen totalitären Umwendung
der Moral unvereinbar. Der Grund dafür liegt nun, wenn Sie
so wollen, im Objekt, nämlich darin, daß Gesellschaft und
Individuum injedem einzelnen Fall auseinanderweisen, und
daß, indem die Moralphilosophie sich, wie es in jenen Mo­
dellen geschieht, unmittelbar, ungebrochen auf die Seite der
Gesellschaft schlägt, sie dadurch notwendig zum Unrecht
gegen das Individuum wird, das zwar einerseits ein freies nur
in einer richtigen Gesellschaft sein könnte, das aber gleichzei­
tig bis heute doch auch immer wieder die gesellschaftliche
Verfassung als ein ihm Entgegengesetztes, Konträres, als
ein Heteronomes erfährt. Und eine Moralphilosophie und
eine moralische Praxis, die über diesen Antagonismus zwi­
schen den höchst berechtigten Interessen des Ganzen und
des Einzelnen, des Allgemeinen und Besonderen sich hin­
wegsetzt, von der muß man allerdings sagen, daß sie not­
wendig in die Barbarei, in die Heteronomie zurückschlagen
muß. Die Moralphilosophie muß diese Antinomie ausdrük­
ken, so wie die Karrtische großartig sie ausgedrückt hat, und

2 14
darf nicht etwa danach trachten, sie ihrerseits zu harmonisie­
ren.
Schließlich aber wäre doch auch über den Gedanken der
Vernunft als eines Endzwecks der Menschheit selber noch
etwas ZU sagen. Wenn Sie das a la lettre nehmen, das heißt,
wenn Sie dabei von der Vernunft ausgehen, so wie in der
Geschichte deren Begriff etabliert ist, und diesen Begriff der
Vernunft nicht in sich selbst reflektieren, dann ist diese Ver­
nunft ja die reine naturbeherrschende Vernunft und insofern
auch das unterdrückende Prinzip und selber etwas wesentlich
Partikulares. Es ist aber äußerst fragwürdig, ob man dieses
unterdrückende, partikulare, auf die Selbsterhaltung der
Gattung Menschheit abzielende Prinzip nun als das einer ob­
jektiven moralischen Vernunft überhaupt ohne weiteres set­
zen kann. Schopenhauer hat seinerzeit es als das besondere
Verdienst seiner Moralphilosophie angesprochen, daß in ihr
auch das Verhalten zu den Tieren inbegriffen ist, das Mitleid
gegenüber den Tieren, und man hat das oft so als eine
Schrulle des Privatiers behandelt. Ich glaube, daß sich an sol­
chen exzentrischen Zügen gerade ungeheuer viel erkennen
läßt. Das heißt, der Schopenhauer hatte wahrscheinlich den
Verdacht, daß die Etablierung der totalen Vernunft als des
obersten objektiven Prinzips der Menschheit eben damitjene
blinde Herrschaft über die Natur fortsetzen könnte, die in der
Tradition der Ausbeutung und der Quälerei an Tieren ihren
allersinnfälligsten und faßlichsten Ausdruck hat. Er hat da­
mit sozusagen den wunden Punkt des Übergangs der subjek­
tiven selbsterhaltenden Vernunft in das oberste moralische
Prinzip bezeichnet, welches für die Tiere und für das Verhal­
ten zu Tieren keinen Raum läßt. Und insofern ist gerade diese
Exzentrizität von Schopenhauer Zeichen einer sehr großen
Einsicht. Wenn man sich so etwas wie die Institutionalisie­
rung der Vernunft als des obersten Prinzips der Menschheit
ausmalt, dann hätte man wahrscheinlich doch viel eher sich
vorzustellen, daß in ihr dieses herrschaftliche Prinzip: so muß
es sein, so muß es zugerichtet werden, kontrolliert werden,

2I5
organisiert werden, aufhört und sich löst, als daß es sich ad
calendas graecas perpetuiert und dann am Schluß im Namen
des Moralischen die Gesellschaft selbst als eine unermeßliche
Aktiengesellschaft zur Ausbeutung der Natur sich etabliert.
Das scheint mir eigentlich das Tiefste zu sein, was gegen den
Versuch spricht, die subjektive Klugheit der Selbsterhaltung
mit dem obersten allgemeinen sittlichen Prinzip gleichzuset­
zen, und vielleicht war auch das eines der Motive, die Kant zu
ihrer Trennung bewogen haben. Wird Vernunft dagegen
rein objektiv, also unabhängig von den Interessen der Sub­
jekte, ihrer Selbsterhaltung, wie es nun im Kantischen Mo­
ralprinzip liegt, so wäre das ein ebenso Problematisches; es
wären dann die Menschen bei der Einrichtung einer sittlichen
Welt, mit Hegel zu reden, nicht dabei, sondern sie schlüge
abermals in bloße Heteronomie um.

216
15. VORLESUNG
I 8. 7· 1 963

Meine Damen und Herren,


die Frage, zu der wir in der letzten Vorlesungsstunde ge­
kommen waren, nämlich ob die Moralphilosophie bei Kant
und Moralphilosophie überhaupt an der Menschheit, an ih­
rem Fortbestand und ihrem Glück sich orientieren solle, weil
ja in dem Begriff der Vernunft selber als dem der Menschheit
diese Elemente enthalten seien, ftihrt nun auf ein Grundpro­
blem der Moralphilosophie überhaupt, das ich nun in einiger
Unabhängigkeit von dem Kantischen Text mit Ihnen erörtern
möchte, weil es eben eine jener Fragen ist, die im Anschluß
an den Kantischen Text, wo sie gewissermaßen erledigend
behandelt werden, gar nicht sich konkretisieren lassen;
während ich andererseits das Geftihl hätte, Sie über einen
der allerzentralsten Aspekte dieses ganzen Problemkomple­
xes im Dunkeln zu lassen, wenn ich darauf nicht irgend ein­
gehen wollte. Das ist das Problem der sogenannten Gesin­
nungsethik, wie Kant sie darstellt, nun nicht einfach in dem
Verhältnis zu der sogenannten Güterethik, die Ihnen ja my­
thologisch und a priori veraltet dünken mag, sondern im
Verhältnis zu jener Konkretisierung der Ethik, die man
wohl, um sie gegen Kant ebenso wie gegen die Dogmatik des
summum bonum abzuheben, mit Verantwortungsethik be­
zeichnet hat. Denn an die Menschheit in einem solchen in­
haltlich bestimmten Sinn denken, das wäre ja nun wesentlich
eine Frage der Verantwortung, nämlich der Verantwortung
gegenüber der empirischen Existenz, der Selbsterhaltung,
der Erfüllung der Gattung, zu der wir nun - tant bien que mal
- einmal gehören. Und eben das ist von Kant als Prinzip der
Ethik grundsätzlich verworfen, dafür ist in der Kantischen
Moralphilosophie eigentlich kein Raum. Sie wissen, daß
Kant den Begriff der Freiheit aus der antiken Ethik übernom­
men hat, aber ihn außerordentlich radikalisierte. Daß ohne
Freiheit, ohne die Idee der Freiheit hereinzuziehen, so etwas

217
wie Moralphilosophie überhaupt keinen Sinn hätte, ich
glaube, das ist Ihnen evident, weil ja im Stande eines voll­
kommenen, lückenlosen Determinismus Kriterien des Gu­
ten und des Bösen eben vollkommen sinnlos wären, sich da­
nach überhaupt nicht fragen ließe. Aber auch der Begriff der
Freiheit ist von Kant in sehr zentralem Maß modifiziert wor­
den. Er war schon bei Aristoteles, ich erinnere daran, defi­
niert nicht nur als Freiheit von äußerem Zwang, sondern als
der von Affekten, also als der Freiheit von Triebregungen,
und das sittliche Verhalten wurde ebenso wie in der Stoa mit
der Herrschaft über die Affekte gleichgesetzt. Ein Motiv, das
dann, ich habe auch das schon gelegentlich erwähnt, die ge­
samte sogenannte Moralphilosophie mit den ganz wenigen
Ausnahmen der radikalen Hedoniker charakterisiert hat. Bei
Kant wird das nun dadurch in ein äußerstes Extrem getrie­
ben, daß der Begriff der Freiheit schließlich nur noch das ist,
was als eine nicht weiter bedingte Ursache angesprochen
werden kann. Die Karrtische Moralphilosophie bezeichnet
sich dadurch nun eben wesentlich als eine Gesinnungsethik,
daß, indem diese Bestimmung der Freiheit zu einem so voll­
kommen Formalen oder, wenn Sie wollen, Erkenntnistheo­
retischen gemacht wird, nicht nur jede konkrete Abhängig­
keit eliminiert ist, sondern damit auch jede Beziehung auf
irgendein Sachhaltiges, das auf die Ethik selber Einfluß haben
könnte. Denn es erhellt ja ohne weiteres, wenn frei das Ver­
halten sein soll, das aufkeine wie immer auch geartete andere
Ursache zurückführbar sein soll, daß dann ein Verhalten, das
als seine Ursache zum Beispiel die Unzulänglichkeit be­
stimmter gegebener Verhältnisse oder auch nur die konkrete
Bestimmung von bestimmten Verhältnissen hat, an denen
ich mein Verhalten orientieren muß, um überhaupt etwas zu
erreichen, ausgeschlossen würde als ein heteronomes, als ein
Verhalten, das ja doch wieder das Moment der Kausalität in
die Freiheit hereinbrächte. Dadurch wird also die Karrtische
Philosophie zu einer extremen Gesinnungsethik, und Kant
hat nun das Eigentümliche seiner eigenen moralphilosophi-

218
sehen Leistung genau an dieser Stelle erblickt, er hat, wie
man das auch nennen kann, das Moralische, den Ort des Mo­
ralischen, rein in die Innerlichkeit des Subjekts verlegt. Wenn
ich dabei den Ausdruck Innerlichkeit gebrauche, so dürfen
Sie sich dabei nicht Innerlichkeit in dem psychologischen
Sinn vorstellen, wie er Ihnen etwa geläufig ist aus Reden von
der Verinnerlichung äußerer Gebote, der Verinnerlichung
des Über-Ichs oder solcher Prinzipien, sondern da ja hier
überhaupt von dem Ich nur als einem vernunftbestimmten,
allgemeinen die Rede ist, so ist der Ort dieser Innerlichkeit ­
ja man muß, wenn Sie mir das problematische Bild durchge­
hen lassen, schon sagen - eigentlich ein Nullpunkt. Das
heißt, diese Innerlichkeit ist eigentlich gar nichts anderes als
der abstrakte Bezugspunkt der Vernunft selbst, aber negativ
bestimmt als etwas, was von allem wie immer auch gearteten
Auswendigen radikal sich unterscheidet. Es soll also die Mo­
ralphilosophie aus dem reinen, man könnte sagen, Bei-sich­
selbst-Sein der Vernunft begründet werden, soweit sie sich
nicht entäußert und soweit sie von einem jeden ihr auswendi­
gen Moment unabhängig ist. Und ein solches ihr auswendi­
ges Moment wäre im Sinn dieser Philosophie vor allem auch
das Glück des je einzelnen. Aber, und auch darauf habe ich
Sie hingewiesen, in einem strengsten Sinn müßte dieses Ver­
halten sogar vom Glück der Menschen unabhängig sein21 6,
so wie es bei einem späteren, sehr radikalen Denker der In­
nerlichkeit geschehen ist, nämlich bei Kierkegaard, der
eigentlich sagt, daß etwa Handlungen des Mitleids - und
darin unterscheidet er sich von Kant, bei dem das Mitleid
eine schlechte Presse hat217 - eigentlich nur um des Mitlei­
dens willen und nicht um der Änderung des Zustands des­
sentwillen zu erfolgen haben, dem das Mitleid gilt, so daß
also hier ausdrücklich der Standpunkt der radikalen Inner­
lichkeit sich mit der Idee verbindet, daß man an die Beschaf­
fenheit der Realität nicht rühren und daß man die Beschaf­
fenheit der äußeren Realität auch in das eigene Verhalten
nicht einbegreifen soll.2 1 8 Das Motiv erscheint in gewisser

2!9
Hinsicht auch bei Platon in objektiver Blickrichtung, näm­
lich durch die Absolutheit der Ideen, wie sie nur einem rein
logischen Verhalten, dem rein logischen Vermögen sich er­
schließen. Aber Kant würde selbst das noch als heteronom
verworfen haben, und er hat tatsächlich die gesamte antike
Ethik als heteronom kritisiert, weil die Gerechtigkeit bei
Platon, die bei Platon ja das höchste Gut ist, nicht etwa aus
reiner Vernunft hervorgebracht, sondern als ein An-sich­
Seiendes von uns angeschaut werden soll, und als ein sol­
ches An-sich-Seiendes nimmt sie als ein uns zugleich Ge­
genübertretendes ein Moment der Undurchsichtigkeit, der
Irrationalität, oder wie Kant sagen würde, der Heteronomie
eben an. Die entscheidende Differenz der Kantischen Gesin­
nungsethik von der Ideenethik des Platon liegt also darin,
daß von Kant überhaupt als Bestimmungsgrund des morali­
schen Handeins nichts geduldet wird als das allgemeine
Prinzip von Subjektivität selber, ohne jede Rücksicht auf ein
Objektives, außer dem Allgemeinsten, das halt überhaupt
ein Objektives sein muß, ein Gegenständliches, damit daran
Handeln möglich werde; also insofern ist die Kantische
Ethik mit der Fichteschen Philosophie tatsächlich in Über­
einstimmung.
Das hat bei Kant eine doppelte Spitze; es geht nämlich
nicht nur gegen die Heteronomie des sinnlichen Begehrens in
einem weitesten Sinn, sondern ebenso auch gegen die Theo­
logie, und ich glaube, Sie müssen sich immer darüber klar
sein, daß Kant in dem Sinn wirklich Metaphysiker ist, daß er
in Doppelstellung gegen den Empirismus - und damit also
auch gegen die sinnlichen Momente, wo immer sie ihm be­
gegnen - und auf der anderen Seite gegen Heteronomie in
Gestalt der Theologie steht. Das Sittengesetz darf nicht ge­
dacht werden als von Gott gegeben, sondern ist nichts ande­
res als die aufihren reinen Begriff gebrachte Subjektivität sel­
ber. Wenn Gott überhaupt ins Spiel kommt in dieser Moral,
dann nur als Garant des aus reiner Vernunft folgenden Sitten­
gesetzes, als das, woran - könnte man, nach Analogie einer

220
Formulierung, die in diesem Zusammenhang in der » Kritik
der reinen Vernunft« vorkommt, sagen - das Sittengesetz
festgemacht wird.2 1 9 Das heißt nichts anderes, daß Kant zu­
folge ohne Gott und ohne die Hoffnung auf Unsterblichkeit
die Welt die Hölle wäre. Es darf aber nicht so sein, denkt
Kant. Diese Bestimmung der Welt als Negativität steht nun
in tiefstem Zusammenhang mit seiner Verwerfung der Em­
pirie, das heißt, dieser Verwerfung der empirischen Motive
überhaupt entspricht die Kantische Ansicht, daß in der Welt,
und zwar - und das ist nun selber sehr theologisch, wenn Sie
so wollen - prinzipiell, das Böse herrscht, daß die Welt das
Bereich des Bösen ist.220 Und wenn man sagen kann, daß der
Kantische Rigorismus kritischer ist, also den bestehenden
Verhältnissen unversöhnlicher gegenübersteht als die schein­
bar humaneren und ansprechenderen Bestimmungen zur
Moralphilosophie, welche die Hegeische Philosophie gibt,
dann ist das genau die Stelle, an der dieser Radikalismus be­
heimatet ist. Damit aber kommt man nun wirklich auf die
entscheidende Frage nach der sogenannten Gesinnungsethik
im Gegensatz zur Güterethik und eben zu der Verantwor­
tungsethik, von der wir nun einiges sagen wollen. Gesin­
nungsethik ist diejenige, die auf den reinen Willen rekurriert,
also die Innerlichkeit des moralischen Subjektes als die ein­
zige Instanz anerkennt. Während die Güterethik und die Ver­
antwortungsethik im Gegensatz dazu von einem von diesem
Subjekt aus gesehen An-sich-Seienden, wenngleich auch
unter Umständen Geistigen, ausgehen, das dem Subjekt ge­
genübergestellt wird; also eine Ethik, die von einem An-sich­
Seienden in intentio recta ausgeht, genau wie die Erkenntnis­
theorie der alten Zeit intentione recta war, ohne daß die
Reflexion auf das konstituierende Subjekt sich dabei voll­
zöge. Und durch diese gegenständliche Richtung der intentio
recta wird das jeweils sittlich höchste Gut nun auch verge­
genständlicht, man könnte sagen, verdinglicht, und das Ding­
hafte ist ja gegenüber der reinen Handlung, gegenüber dem
actus purus, immer ein Heteronomes, ein Gut für uns - und

221
insofern als es dann etwas für uns wäre, fällt es doch wieder
unter die Kritik des Hedonismus.
Meine Damen und Herren, manche von Ihnen werden zu­
nächst meinen, das sind so die Sorgen der Philosophen; wenn
die nichts Wichtigeres haben, worüber sie sich den Kopf zer­
brechen, dann sollten sie doch ihren Laden zumachen, denn
es sieht ja so aus, zunächst einmal, als ob das ein bloßer Schul­
streit wäre. Man müsse also, könnte man sagen, nur den Be­
griff des höchsten Gutes selber hoch genug spannen, wie es
bereits in der Platonischen Lehre von der Gerechtigkeit der
Fall sei, so käme dann ja von selbst bereits etwas heraus, was
von empirischen und ephemeren, hinfälligen Motiven unab­
hängig wäre, und dadurch würde dann der Unterschied zu
der rein formal bestimmten Gesinnung in nichts zergehen.
Tatsächlich hat man auch immer wieder bis zu den Marbur­
ger Neukantianern, ich erinnere hier besonders an das Pla­
ton-Werk von Paul Natorp, auf die Übereinstimmung der
Kantischen und der Platonischen Ethik hingewiesen,221 und
auch Schopenhauer, der der Kantischen Ethik ja außeror­
dentlich weitgehend gefolgt ist, hat diese Meinung von der
Identität dieser beiden Moralkonzepte eigentlich vertreten. 222
Es ist nun aber für die Kantische Insistenz auf der genauen
Distinktion der Begriffe überaus charakteristisch, daß er sich
damit nicht zufrieden gibt, sondern daß er sagt, daß auch die­
ses höchste Gut, wie immer es bestimmt sein mag, trotz al­
lem mir als ein Fremdes, Äußerliches entgegentritt; es würde
als ein so Entgegentretendes die Identität meines moralischen
Wollens mit dem Prinzip von Subjektivität überhaupt, mit
dem Prinzip des reinen Ichs, hinfällig machen. Es kommt
also für ihn dabei echt idealistisch gar nicht darauf an, was bei
dieser Moralphilosophie herauskommt, also ob etwa in der
Verwerfung des in einem weitesten Sinne Sinnlichen seine
Moralphilosophie mit der Platonischen übereinstimmt, das
ist ihm dabei ganz gleichgültig, sondern es interessiert ihn,
und das ist das eigentlich Idealistische, dabei nur die Frage
nach dem Prinzip, also die Frage nach dem, worin eine solche

222
Theorie schließlich sich ausweist, das heißt, ob sie in Ver­
nunft selber sich ausweisen soll oder ob sie der Vernunft als
ein ihr Fremdes entgegentrete. Er hat sogar, möchte ich ein­
fUgen, dann inhaltlich gar nicht so ftirchterlich rigoros ge­
dacht; es geht ihm gar nicht in dem Sinn wie dem Platon nun
wirklich um die Verdammung der Sinnlichkeit nach dem
Satz: >daß der Leib das lebendige Grab der Seele sei<22\ son­
dern indem er unter die Bestimmung der Pflicht auch die
Pflicht zur eigenen Glückseligkeit mit aufnimmt, hat er darin
inhaltlich sogar eher eine gewisse Toleranz gezeigt. Nur an
dem Prinzip, von dem ich Ihnen gesprochen habe, möchte er
allerdings nichts nachlassen. Es ist hier darauf hinzuweisen,
daß in dieser Wendung zunächst einmal die Erbschaft der
Anschauung steckt, daß die Innerlichkeit soviel wie die Seele
als das Unsterbliche, das Höchste zu wollen sei. Der Ge­
danke, daß das Prinzip der Subjektivität selber ftir sich das
sein soll, was sonst höchstes Gut heißt, ist selber nicht nur im
äußerlich historischen, sondern in einem sehr tiefen Sinn
christlich, das heißt, es steckt dahinter die Vorstellung von
der absoluten Substantialität der Seele, die eben geknüpft ist
an die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele, von der
Seele, die durch Christus gerettet sei - und das wird dann
eben säkularisiert und abstrahiert zu diesem Ansichsein des
Sittengesetzes. Weiter steckt darin aber auch das bürgerliche
Ethos der unbeschränkten Anstrengung, welches auf eine be­
sondere christliche Tradition, die von der Gnadenwahl, zu­
rückgeht, die im Luthertum und vor allem im Calvinismus
immer bestimmender wurde, daß nämlich kein Mensch
wisse, ob er gerettet sei, und daß es deshalb der unbeschränk­
ten Anstrengung bedürfe, um jene Hoffnung überhaupt
möglich zu machen. Daß die Hoffnung eigentlich nur fern
auftaucht, daß die Hoffnung etwas sehr Dünnes und fast nur
so etwas wie eine Erinnerungsspur ist, das hat Karrt mit dem
Protestantismus gemeinsam, und gerade pietistische Reprä­
sentanten des Protestantismus, die an dieser Seite der allge­
meinen protestantischen Religion sich gestoßen haben, ha-

223
ben gegen Kant diesen Vorwurf, daß seine Philosophie Hoff­
nung nicht kenne, auch immer wieder erhoben; auch die be­
rühmt gewordene Reaktion von Kleist auf die Kaut-Lektüre
fallt ja genau in den selben Zusammenhang.Z24 Dieses Mo­
ment hat natürlich eine ungeheure Wahrheit, nämlich das
Ungewisse, das in dem Begriff der Hoffnung tatsächlich
steckt. Aber er antwortet nun darauf, und das ist die Haltung,
die er mit Beethoven etwa gemeinsam hat: diese Hölle, als die
wir das irdische Leben erkennen müssen, die kann nicht alles
sein; es liegt irgendwie in der Natur des Menschen selber so
etwas wie ein Versprechen, daß das nicht alles sei und daß es
doch etwas anderes geben müsse. In dieser Weise, würde ich
sagen, lebt bei Kant der ontologische Gottesbeweis, den er
selbst vernichtend kritisiert hat, denn doch schließlich noch
nach. Die Vermittlung zwischen unbeschränkter Anstren­
gung und reiner Gesinnung ist in der Kautischen Ethik da­
durch vollzogen, daß sie zu der Konstellation der obersten
Begriffe bei ihm und vor allem auch zum Begriff der Pflicht
gehört, der in einer völlig abstrakten Weise mit dem Begriff
unbeschränkter Anstrengung überhaupt übereinkommt.
Denn als absolutes Prinzip kennt die Pflicht schlechterdings
keine Grenze, weil sie ja als Absolutes gilt, ohne in irgend­
welchen ihr vorgegebenen Ordnungen lokalisiert zu sein,
und sie hat vermöge ihrer eigenen Unendlichkeit oder Unbe­
grenztheit genau jenes Moment des Nicht-zur-Ruhe-kom­
men-Lassens. Eine Philosophie wie die Kants, möchte ich
hier sagen, wiederholt nun natürlich nicht einfach das, was in
der gesellschaftlichen Realität vorgeht, sondern hat die Ten­
denz, an der bestehenden Gesellschaft Kritik zu üben und ihr
ein anderes Bild des Möglichen oder ein bilderloses Bild des
Möglichen entgegenzuhalten. Das ist nun in einer sehr genia­
len Weise mit dem Prinzip des Formalismus vereinigt; das
Korrektiv der Realität wird nämlich bei ihm gesucht in dem
Verhältnis von Zwecken und Mitteln. Kant hat in der herauf­
kommenden hochkapitalistischen Gesellschaft - und das Al­
ter Kants fällt ja immerhin mit der beginnenden industriellen

22 4
Revolution in England zusammen - die Tendenz zur totalen
Fungibilität erkannt, daß also alles, was überhaupt in diesen
gesellschaftlichen Zusammenhang fällt, nur noch einen
Funktionswert hat ftir anderes, ftir das es als Mittel da ist. Die
Kantische Moralphilosophie nun hat ihr Pathos daran, einen
Zweck zu suchen, der der Tendenz dazu, daß alles bloß Mit­
tel sei, entgegengesetzt ist. Das steckt bereits in seiner Kritik
der Absicht, von der ich Ihnen gesprochen habe. Sie werden
aber von hier aus auch einer Antithese eine recht reale Bedeu­
tung geben können, die ich bis jetzt Ihnen noch nicht genannt
habe, die aber von großer Wichtigkeit in der Kantischen Mo­
ralphilosophie ist, nämlich der von Preis und Würde. Daß
nämlich alles das, was fungibel ist, also um eines anderen wil­
len ist, was, wir könnten wohl wirklich sagen, tauschbar ist,
seinen Preis hat - wieja der Begriff des Preises tatsächlich am
Tauschverhältnis gebildet ist -, während das, was nun in
einem strikten Sinn wirklich um seiner selbst willen da ist
und um seiner selbst willen geschieht, wie es dem Kantischen
Sittengesetz zufolge die richtige Handlung soll, eben das ist,
was bei ihm mit Würde bezeichnet wird, und nur das. Der
Begriff der Würde hat also bei ihm eine ganz andere Farbe, als
er dann im 1 9. Jahrhundert gewonnen hat, wo diese Idee her­
untergekommen ist zu der schäbigen Prätention, daß irgend­
ein Mensch deshalb, weil er sich als bedeutend oder wichtig
in der Welt aufspielt, sich selbst eine solche Würde zu­
schreibt. Dieser, ich möchte sagen, empirische Begriff der
Würde, dem Sie ja auch heute wohl gelegentlich noch begeg­
nen können, ist nichts anderes als der Hohn und die völlige
Verkehrung dessen, was mit diesem Begriff bei Kant ur­
sprünglich einmal gemeint gewesen ist.
Ich gehe auf diese gesellschaftlichen Dinge nun hier nicht
ein, um dadurch die Kantische Philosophie zu relativieren;
Kritik an Philosophie ist immer nur möglich als eine an ihrer
eigenen Wahrheit, und der bloße Verweis darauf, daß sie mit
irgendeinem gesellschaftlichen Zustand positiv oder negativ
etwas zu tun habe, hat ihr gegenüber keine kritische Kraft.

22 5
Andererseits aber gewinnen selbst die abstraktesten Bestim­
mungen, wie wir sie in der Kautischen Moralphilosophie ge­
troffen haben, in der realen gesellschaftlichen Konstellation,
aus der sie entsprungen sind, ihren Stellenwert, und man
kann auf diese Weise sozusagen den abstrakten Begriffen der
Kautischen Moralphilosophie etwas von einer Konkretheit
verleihen, die unmittelbar an ihnen gar nicht wahrnehmbar
ist, die aber in ihrer Substanz eben doch steckt. Dabei ist auf
zwei Momente hinzuweisen. Einmal, daß die Kautische Mo­
ralphilosophie, in dem überaus positiven Sinn eines unbe­
schreiblich erstarkten Selbstbewußtseins, bürgerlich heißen
darf Der Gedanke, daß das Subjekt sich aus Freiheit selbst
das Gesetz zu geben habe, daß seine reine Gesinnung das
Gesetz der Welt sei, ist ein Prinzip, das einemjeglichen Tradi­
tionalismus und einerjeglichen ständischen, feudalen und ab­
solutistischen Ordnung entgegengesetzt ist. Ja, man könnte
sagen, daß die Abstraktheit der Kautischen Moralphilosophie
selber gegenüber der beschränkten Positivität gegebener,
gleichsam naturwissenschaftlicher Verhältnisse ein Gesell­
schaftliches ist; daß also der Übergang gerade zu dieser Ab­
straktheit, den wir bei Kant beobachtet haben, selbst konkret
ist, insofern als in ihm die zunehmende Abstrahierung, Ra­
tionalisierung und, wenn Sie so wollen, auch Befreiung der
Gesellschaft von blind natürwüchsigen Momenten, an denen
sich das Verhalten der Menschen orientiert, sich ausdrückt.
Gerade diese Einsicht, daß das Abstrakte nicht ein allen Epo­
chen gemeinsamer Urgrund ist, sondern daß Abstraktheit
selber eine geschichtliche und, wenn Sie wollen, eine gesell­
schaftliche Kategorie ist, das ist von Marx mit dem größten
Nachdruck ausgesprochen worden, und die Kautische Philo­
sophie ist auf dieses Theorem von Marx vielleicht eines der
großartigsten Exempel, eine der besten Proben, die es dafür
gibt. Bei Kant läßt sich sehr deutlich etwas von dem Pathos,
dem Selbstbewußtsein der jungen bürgerlichen Klasse füh­
len, die sich jeglicher Bevormundung entziehen will. Dieses
Pathos macht sich bei ihm an den Stellen nun vor allem gel-

226
tend, wo er die Theologie als Begründung einer Moralphi­
losophie kritisiert, und wo also diese Moralphilosophie
durchaus im Sinne des Satzes von >der Befreiung der
Menschheit aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit<
steht. 225 Und wenn Sie dieses Motiv nicht sogar in den re­
pressiven Bestimmungen des Kantischen Gesetzesbegriffs
doch mitschwingen fühlen, dann haben Sie die in Wirklich­
keit unendlich komplexe und differenzierte Zusammenset­
zung der Kantischen Moralphilosophie nicht richtig verstan­
den. Weiter aber ist seine Moralphilosophie in dem Sinne
spezifisch bürgerlich, daß sie in einem sehr weitgehenden
Maß grundsätzlich den Einfluß von Rousseau verrät. Das ist
allgemein bekannt, daß sie aber nun doch den Rousseauschen
Gedanken, daß die menschliche Vernunft es nicht vermocht
habe, im Sinne einer fortschreitenden Glückseligkeit die Welt
zu gestalten, in einer sehr merkwürdigen und originalen
Weise gewandt hat, weniger. Und ich finde, es ist interessan­
ter zu sehen, was bei Kant aus den Rousseauschen Motiven
geworden ist, als immer wieder auf sie hinzuweisen, wie Sie
es in jeder Philosophiegeschichte ja finden können. Kant
lehrt nämlich, daß in der Tat die menschliche Anlage der
Vernunft nicht angemessen dazu sei, den Menschen jene im­
mer höhere Glückseligkeit zu verschaffen, nur zieht er, wenn
Sie wollen, die entgegengesetzte Konsequenz daraus, näm­
lich: daß man nun nicht etwa versuchen solle, beides in Über­
einstimmung zu bringen, sondern daß, jedenfalls soweit wie
es sich um das individuelle Verhalten, also um die private
Ethik handelt, es darum geht, daß man die Bestimmung der
Vernunft überhaupt in einer anderen Dimension suchen solle
als in der der ständig verbesserten Wohlfahrt. Sie werden sich
vielleicht daran erinnern, daß - indem ich in der letzten
Stunde Ihnen gezeigt habe, zu welchen Schwierigkeiten der
verabsolutierte Vernunftbegriff führt, auch dann, wenn man
dabei die Sphäre des subjektiven Interesses und die Sphäre
des objektiv Richtigen identifiziert - nämlich dann die rich­
tige Gesellschaft zu einer der universalen Unterdrückung der

2 27
Natur würde. Das wird Ihnen vielleicht zeigen, an welcher
Stelle hier das Wahrheitsmoment Kants zu suchen ist. Und
übrigens gerade in diesem Moment der Skepsis gegen das
unterdrückende Prinzip, das naturfeindliche, naturunter­
drückende Prinzip der Vernunft, darin steckt ja nun wirklich
in dieser Kautischen Moralphilosophie in einem sehr positi­
ven Sinn das Rousseausche Motiv drin. Die Folgerung, die er
nun daraus zieht, ist, daß die Menschheit oder jedenfalls das
einzelne Individuum - mit der Menschheit ist es ein bißeben
anders und komplizierter bei ihm - keinen anderen Zweck
habe, als dem Gesetzesbegriff nachzuleben, der nichts ande­
res sei als die oberste Einheit aller von der Vernunft gesetzten
Bestimmungen.
Ich möchte noch hinzufügen, da ich heute auf diese Seite
der Gesinnungsethik, also auf den Zusammenhang von Pri­
vatheit, Innerlichkeit und bürgerlicher Gesellschaft zu spre­
chen gekommen bin, daß man im allgemeinen viel zu undif­
ferenziert verfährt, wenn man solche Begriffe wie bürgerlich
überhaupt benutzt. Zunächst ist einmal dabei zu sagen, daß
die Verinnerlichung ja innerhalb der bürgerlichen Gesell­
schaft selber reaktiv, also dialektisch und nicht unmittelbar
als ein Bürgerliches zu verstehen ist; ich sprach Ihnen bereits
von der universalen Fungibilität, und dieser Fungibilität ent­
spricht natürlich als eine Art von Protest gegen die über­
mächtige Mechanik des Auswendigen, in das wir verstrickt
sind, die Tendenz der Selbstrücknahme der Subjekte auf sich
selber; die Innerlichkeit wird dann zur Retraite, auf die sich
das Einzelindividuum antithetisch gegen die Übermacht der
Auswendigkeit zurücknimmt. Und nur in diesem antitheti­
schen Sinn, kann man sagen, ist die Kategorie der Innerlich­
keit eine Funktion der fungiblen Welt, während ebenso auch
natürlich dazugehört, daß erst durch den Zerfall des theolo­
gischen Kosmos jener radikale Bruch zwischen Innen und
Außen, jener unvermittelte, durch keine Vermittlungskate­
gorien mehr überbrückte Bruch, sich vollzogen hat, der ei­
gentlich die stillschweigende Voraussetzung dafür ist, daß

228
die Kategorie der Innerlichkeit sich gebildet hat. In soge­
nannten geschlossenen Kulturen - also in Kulturen, wie ste in
der Hegeischen Terminologie substantiell heißen würden, in
denen, was zu tun sei, mehr oder minder unproblematisch
für die Menschen sich von selber versteht - hat der Begriff
der Innerlichkeit keinen Raum; und ich glaube nicht, daß ich
zuviel sage, wenn ich Ihnen erkläre, daß in der Antike der
Begriff eigentlich gar nicht vorkommt, obwohl ich gewärtig
bin, daß ein klassischer Philologe unter Ihnen ist, der mir
dann doch irgendeine Stelle aus einem antiken Schriftsteller
zeigen kann, die man also im Sinn von Innerlichkeit interpre­
tieren kann. Ich will das auch gar nicht leugnen. Methodolo­
gisch würde ich nur dazu sagen, selbstverständlich kommen
in der Antike alle solche Motive schon vor, aber der Äther, in
dem sie stehen, das Klima ist so völlig anders als das Klima
der christlichen Welt, daß selbst Kategorien, die ihrem reinen
Bedeutungsgehalt nach miteinander identisch sind, inner­
halb dieses ganz anders gearteten Klimas - nämlich eben
demjenigen, das eigentlich so etwas wie Subjekt-Objekt­
Probleme noch gar nicht kennt - eine vollständig andere Be­
deutung gewinnen. Wenn man also Autoren wie Homer,
wie Tacitus liest oder Boccaccio oder Chaucer oder den
»Don Quixote« oder die frühen englischen Romane des 1 7.
Jahrhunderts, so wird man da überall aufeinen gemeinsamen
Kern mit dem stoßen, was wir auch heute bürgerlich nennen,
nämlich die immanente Beziehung aufeine organisierte städ­
tische Marktwirtschaft. Andererseits darf aber nun gerade
hier nicht vergessen werden, daß zu Zeiten Kants in Deutsch­
land die bürgerlichen Verhältnisse nicht im seihen Maß ent­
faltet waren wie in den westlichen Ländern. Zwar waren in
der damaligen deutschen Gesellschaft alle bürgerlichen Kate­
gorien und Gedanken in der Sphäre des Gedankens ge­
schöpft, angedeutet und lebendig, aber es kann keine Rede
davon sein, daß das Selbstbewußtsein des Bürgertums mit
der ökonomischen Realität übereingestimmt hätte, daß es
also bereits die Machtpositionen eingenommen hätte, die es

2 29
in England und in Frankreich einnahm. Der Begriff- und das
ist etwas für die deutsche Situation überhaupt sehr Charakte­
ristisches - war der realen Entwicklung voraus; darum war er
gleichzeitig radikaler als in den westlichen Ländern, wo ge­
wissermaßen die entwickeltere Realität den entwickelteren
Gedanken immer desavouieren kann, hatte aber zugleich
auch etwas Beschränkteres dadurch, daß das Bewußtsein der
Realität selber in einem viel geringeren Maß in ihn eingegan­
gen ist, und in diesem Sinn kann man wohl sagen, daß wie in
dem Gedicht von Morgenstern der Mond, so in einem geisti­
gen Sinn die Moral ein völlig » deutscher Gegenstand<< ist,226
das heißt: daß es Moral oder vor allem Pflicht in diesem enge­
ren Sinn eigentlich überhaupt nur in dem Bereich des deut­
schen Denkens gibt. Wenn Sie etwa Hume lesen, um einen
Zeitgenossen von Kant zu nennen, die Moralphilosophie von
Hume lesen, dann ist das Klima so vollkommen anders, daß
Sie kaum das Gefühl haben, daß von derselben Sache die
Rede ist. Es ist davon jedenfalls, daß das sittliche Verhalten
der Einzelperson die äußere Realität entscheidend bestimmen
könnte, bei Kant nichts zu ftihlen. Und dieses Moment der
realen Ohnmacht des Individuums gegenüber der äußeren
Realität ist sicher unter den inneren Bedingungen für die
reine Konstruktion der Innerlichkeit bei ihm sehr wesentlich.
Dadurch, daß von vornherein der Aspekt des moralischen
Subjekts gar nicht der der Gestaltung der Welt sein kann,
weil er nämlich auf die Welt sowieso keinen Einfluß hat, es
sei denn in außerordentlich abstrakten Erwägungen über die
Gestaltung der Geschichte, in die aber das Verhältnis des mo­
ralischen Subjekts zu den konkreten, geschichtlichen Kräften
gar nicht eingeht, wird das Moralische notwendig zu einer
Sache der Gesinnung gemacht, im Grunde zu der Form des
Handeins dessen, der stillschweigend und vorweg sich des­
sen versichert weiß, daß sein Handeln unmittelbar jetzt und
hier an dem Lauf der Welt doch nichts zu ändern vermag.
Diese Ohnmacht ist in der gesamten Moralphilosophie des
deutschen Idealismus zu spüren. Die Gesinnung ist eine le-

230
diglich für sich seiende Bestimmung, die in sich selbst Erfül­
lung findet, die konsequenzlos bleibt für die Einrichtung der
Gesellschaft, die aber auch in gewisser Weise von der Gesell­
schaft selber gar nicht so arg bedroht ist. Das Pathos ist zwar
das, eine Gesellschaft zu kritisieren, in der alles zum Mittel
wird und in der nichts mehr Zweck bleibt, auf der anderen
Seite aber wäre dieser Gedanke dialektisch zu ergänzen zu
dem, daß umgekehrt nun das moralische Bewußtsein, die
sich selbst gesetzgebende Vernunft, sich zum Selbstzweck
wird und damit, das sagte ich in der letzten Stunde schon,
zum Fetisch wird, weil sie in der Wirklichkeit daran verzwei­
felt, außerhalb ihrer selbst irgendwelche Zwecke in der Rea­
lität verwirklichen zu können. Das ungeheure Pathos des be­
freiten Bürgers verschränkt also in dieser Moralphilosophie
sich mit dem Gefühl von Ohnmacht, und diese Doppel­
schlächtigkeit ist der Kantischen Moralphilosophie aufs tief­
ste eingesenkt. Ich glaube, meine Damen und Herren, ich
habe damit schon ein bißeben vorbereitet, was zu der Proble­
matik der Gesinnungsethik und dann ebenso zu der Proble­
matik der Verantwortungsethik führt. Nämlich dieses Ge­
fühl der Ohnmacht, das hier sich ausdrückt, das berechtigt ja
nun der Gesinnungsethik gegenüber zu dem Vorwurf, daß
sie in concreto nichts biete, mit anderen Worten, daß sie
keine Kasuistik, also keine Vermittlung zwischen dem kon­
kreten Einzelfall und dem allgemeinen Prinzip gebe, wäh­
rend andererseits, ich muß Ihnen das nicht ausfUhren, gerade
die moralische Kasuistik, wie sich immer wieder gezeigt hat,
ja unter dem Prinzip der Heiligung der Mittel durch den
Zweck der Relativität preisgegeben ist und dadurch eben zu
dem Negativen und Schlechten führen kann. Kant würde ge­
gen die Kasuistik halten, daß die Reflexion auf den Allge­
meinheitscharakter der Maxime ausreichen kann. Das heißt,
wenn ich wirklich in jedem Augenblick das Urteil darüber
soll vollziehen können, ob ich das Prinzip meines Handeins
zugleich zu einem allgemeinen der Weltgesetzgebung ma­
chen könnte, dann wäre das gelöst. Aber ich glaube - und es

23 1
ist doch vielleicht gut, daß ich in den letzten Sekunden dieser
Vorlesung Ihnen das noch sage: überlegen Sie sich einmal
ganz einfach, ob man in dem Sinn nach dem kategorischen
Imperativ handeln kann, ob man sich überhaupt vorstellen
kann, daß man sich in jedem Augenblick und beijeder Hand­
lung klarmacht: erstens, ob sie einer Maxime folgt - also in
Gottes Namen, unterstellen Sie das einmal, obwohl ein
Mensch, der so handeln würde, wohl mehr ein Monstrum als
ein Mensch wäre, aber unterstellen Sie es einmal -, und dann
sich zweitens in allen Fällen klar macht, ob die Maxime zur
Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung taugt. Das setzt
ja nun wirklich, wenn ich einmal ein Kantisches Argumen­
tations-Schema anwenden darf, im Grunde voraus, daß die
unendliche Verzweigung der gesellschaftlichen Totalität,
also ein Unendliches, mir positiv gegeben ist, so daß ich diese
Verbindung zwischen meiner Maxime und dieser allgemei­
nen Gesetzgebung überhaupt herstellen kann. Mit anderen
Worten: eigentlich steht der kategorische Imperativ auf dem
Papier, ist aber in dem strengen, innerkantischen Sinn nicht
gültig, als dabei stillschweigend vorausgesetzt wird, daß ich
durch mein Urteil verifizieren kann, ob meine Maxime zu
einer solchen allgemeinen Gesetzgebung geeignet sei, wäh­
rend das eben doch zahllose Reflexionen voraussetzt, deren
der einzelne Mensch gar nicht mächtig ist und zu der auch
unendlich Vieles einfach an Wissen und Kenntnis gehört, was
gar nicht als eine Art von moralischer Selbstverständlichkeit
stipuliert werden kann.

23 2
16. VoRLESUNG
23 . 7· 1 963

Meine Damen und Herren,


ich hatte Ihnen das letzte Mal gesagt, daß mit Rücksicht auf
den kategorischen Imperativ ein Problem besteht, das ganz
einfach so sich ausdrücken läßt, daß der Weg von der ober­
sten Allgemeinheit des Sittengesetzes zu dem spezifischen
Fall nicht so unproblematisch ist, wie es in der Kautischen
Moralphilosophie erscheint. Es ist sehr merkwürdig, daß
Kant selber auf dieses Problem eigentlich explizit gar nicht
rekurriert, während im Bereich der Erkenntnis diese Frage
für ihn eine große Rolle spielt. Sie tritt dort auf unter dem
Namen der Urteilskraft - im prägnanten Sinn des Wortes ­
als das Vermögen, das Besondere als unter dem Allgemeinen
befaßt zu denken, und Kant gibt dabei zwei Möglichkeiten.
Nämlich einmal die, vom Allgemeinen zum Besonderen
fortzuschreiten: die sogenannte bestimmende Urteilskraft,
die ihm allerdings nicht weniger problematisch ist, und die
reflektierende Urteilskraft, die sich der Frage gegenüber­
sieht, wie man von der, wenn ich so sagen darf, ungedeckten,
noch nicht selber vom Allgemeinen zusammengefaßten Er­
fahrung, nun zu dem Allgemeinen sich erheben könne - und
diesem zweiten Problem ist ja das gesamte dritte Hauptwerk
von Kant gewidmet. 227 Per analogiam würde es sich in der
» Kritik der praktischen Vernunft « um das erste handeln, also
sozusagen um etwas wie die bestimmende moralische Ur­
teilskraft, aber es finden sich darauf nicht einmal Hinweise,
und ich hoffe, mich keiner Respektlosigkeit schuldig zu ma­
chen, wenn ich zumindest den Verdacht äußere, daß Kant
selber sich gehütet hat, hier auf das Problem der Verbindung,
auf das Problem der Beziehung von Allgemeinem und Be­
sonderem einzugehen, weil ihm diese Sache selber mulmig
vorgekommen ist und weil er gewußt hat, daß er dabei in die
allergrößten Schwierigkeiten geriete. Natürlich würde er das
uns, wenn wir ihn hier als Zeugen zitieren könnten, nicht

23 3
zugestehen, sondern wahrscheinlich sich auf das unmittelbar
vorfindliehe moralische Bewußtsein eines jeden einzelnen
beziehen, das er ja, wie Sie sich erinnern werden, in einem
gewissen Gegensatz zu der Deduktibilität des Sittengesetzes
eingeführt hat. Aber, meine Damen und Herren, genau an
dieser Stelle sitzt tatsächlich ein sehr ernstes und ein sehr
schweres Problem. Das heißt, das Moralische versteht sich
tatsächlich nicht von selbst, sondern die reine sittliche Forde­
rung kann durch ihre eigene Reinheit in das Böse übergehen,
und zwar in dem prägnanten Sinn, daß sie das Objekt oder,
man müßte ja wohl besser sagen, das Subjekt vernichtet,
demgegenüber diese Forderung dann geltend gemacht wird.
Da wir uns nun in den letzten Vorlesungsstunden befin­
den, und es sozusagen nur dem zuzuschreiben ist, daß wir
selber irgend den kategorischen Imperativ befolgen, daß wir
uns heute keine Hitzeferien genommen haben und uns da­
durch um ein altes Kinderglück betrogen haben, so gestatte
ich mir, an dieser Stelle vielleicht auf ein literarisches Beispiel
einzugehen. Wobei ich vorausschicken möchte, daß ich mir
der Problematik der Beziehung von Kunstwerken aufmoral­
philosophische Fragen durchaus bewußt bin - also der Frage,
inwieweit auf Menschen, die notwendig Bildcharakter ha­
ben, überhaupt moralische Kategorien angewandt werden
können. Ich begnüge mich also statt dessen mit dem Hin­
weis, daß das Produkt, von dem ich Ihnen einiges sagen
werde, selbst jedenfalls ausdrücklich unter der Vorausset­
zung der Gestaltung eines moralischen Problems steht, und
zwar eben des moralischen Problems, mit dem wir uns im
Augenblick befassen. Es handelt sich dabei um ein Stück von
Ibsen, das den Titel »Die Wildente« trägt. Es ist noch in mei­
ner Jugend eines der berühmtesten Stücke von lbsen über­
haupt gewesen, und es gehört zu den nicht gerade erfreuli­
chen Entwicklungsphänomenen, daß dieses Stück heute -
wie die meisten Stücke von lbsen - wohl überhaupt kaum
mehr als selbstverständlich bekannt vorausgesetzt wird; und
wenn ich an Sie eine Bitte richten darf, dann wäre es die, daß

23 4
Sie alle in den Ferien dieses Stück sich ansehen und im Zu­
sammenhang damit vielleicht auch einige vorausgehende wie
etwa » Die Gespenster« oder den » Volksfeind« . Ich glaube,
wenn Sie etwas von moralischer Dialektik erfahren wollen,
und das ist schließlich der Gegenstand unserer Vorlesung,
dann werden Sie nirgends Konkreteres und zugleich im Ge­
danken Konsequenteres finden als in diesen Werken von Ib­
sen. »Die Wildente« behandelt die Frage, wie ein Mensch da­
durch, daß er das Sittengesetz - oder wie er es fast Kantisch
nennt: die sittliche Forderung in ihrer Reinheit - vertritt, sel­
ber unmoralisch wird, das heißt, zur Vernichtung des, wenn
Sie die krude Redeweise mir durchgehen lassen, wertvollsten
Menschen aus dem ganzen Umkreis gelangt -jedenfalls des
einzigen Menschen, der in den Schuldzusammenhang, der ja
in diesem Stück sich entfaltet, nicht verstrickt ist. Gerade die­
ser nicht verstrickte Mensch wird in sein Schicksal um so
tiefer verstrickt und geht zugrunde - es ist ein vierzehnjähri­
ges Mädchen, ein Backfisch. Die Geschichte ist einfach die.
Ein Großunternehmer hatte einen Kompagnon, das ist die
Vorgeschichte - wie immer bei lbsen werden ja die eigentli­
chen zentralen Gegebenheiten in die Vorgeschichte verlegt,
und das Drama selbst, die Gegenwart, ist eigentlich in gewis­
ser Weise nur ein Epilog. Das hat selbst ästhetisch einen sehr
tiefen Sinn und hängt geradezu mit der Metaphysik dieser
Art von Dramatik zusammen, aber darauf kann ich jetzt
nicht eingehen. Jedenfalls in der Vorgeschichte sind zwei
Großunternehmer miteinander verbunden gewesen, der eine
heißt Werle, der andere Ekdal; der Ekdal war ein flotter Offi­
zier. Die beiden haben irgendwelche sehr unkorrekten Ma­
növer finanzieller Art begangen, die ja in den späten Stücken
von Ibsen überhaupt eine große Rolle spielen, und die Ge­
schichte ist aufgeflogen. Dabei aber ist nun der Werle unge­
schoren herausgekommen und hat sich ein riesiges Vermö­
gen angeeignet, während sein Kompagnon gefaßt und ins
Zuchthaus geschickt worden ist. Dieser alte Ekdal, der in
dem Stück selber als ein entlassener Zuchthäusler und als eine

23 5
völlig gescheiterte Existenz, als ein halbvertrottelter Trinker
auftritt, der hat nun einen Sohn, der heißt Hjalmar Ekdal,
und dieser Hjalmar Ekdal ist seines Zeichens ein Photograph;
um den dreht sich eigentlich das Ganze, der ist, man müßte
sagen, der passive Held oder der Bezugspunkt, an den die
sogenannte sittliche Forderung sich richtet. Der alte Werle
hat nämlich diesem Hjalmar Ekdal nicht nur eine bescheidene
Existenz verschafft, indem er ihn den Beruf des Photogra­
phen hat erlernen lassen - den übrigens dieser Ekdal selber
nicht im Ernst ausübt, sondern von seiner von ihm ausgebeu­
teten Frau ausüben läßt -, er hat ihn weiter mit seiner abge­
legten Geliebten Gina verheiratet, die von ihm, dem alten
Werle, bereits ein Kind erwartete, das dann aber in dieser Ehe
eben diesem etwas aufgeblähten, wichtigtuerischen und ver­
logenen Hjalmar Ekdal zugeschoben wird. Und nun baut
sich also zwischen dem Hjalmar Ekdal, dieser - im übrigen
keineswegs antipathisch geschilderten - Gina und ihrem
Kind, der Hedwig, eine Art von Idyll, ein idyllisch kleinbür­
gerliches Leben auf, über dem zwar die schwersten Schatten
der Vergangenheit und auch der dürftigen Existenz liegen,
aber es ist eine Existenzform, in der alle drei sich ganz wohl
fuhlen; und die Hedwig sogar in einer vielleicht schon puber­
tären Liebe an ihren vermeintlichen Vater Hjalmar gebunden
ist. Nun hat der alte Werle einen Sohn, der heißt Gregers,
und dieser Gregers Werle, der vertritt also in dem Stück den
kategorischen Imperativ. Er möchte in heftigem Gegensatz
zu seinem eigenen Vater stehen, diese Verhältnisse nicht mit
ansehen, und zwar nicht etwa, weil er sich besonders darüber
entrüstete, sondern weil er, der intimste und einzige Freund
des Hjalmar Ekdal, nicht erträgt oder jedenfalls glaubt, nicht
ertragen zu können, daß dieser in einer Welt der Lebenslüge
existiert, also in einer Welt, die ihren realen Voraussetzungen
nach gänzlich dem widerspricht, was alle Beteiligten von sich
selbst und von dieser Welt meinen. Ich möchte Ihnen nicht
die ganze, sehr komplizierte Handlung erzählen. Jedenfalls
läuft die Sache darauf hinaus, daß dieser Gregers Werle - der
sich im übrigen aus, man kann sagen, abstrakter Moral mit
seinem eigenen Vater überwirft, das Angebot, Teilhaber der
großen Firma zu werden, ablehnt und eine dürftige Existenz
vorzieht, also für sich selbst durchaus die volle Konsequenz
zieht - die Familie Ekdal, die junge Familie Ekdal: Hjalmar,
Gina, über alles was geschehen ist, aufklärt, und die kleine
Hedwig das auch erfährt. Die einzige Konsequenz daraus ist,
daß der Hjalmar sich dem jungen Mädchen gegenüber auf­
spielt, als ob er, weil sie nicht sein richtiges Kind ist, zu ihr
das Vertrauen verloren hätte, ihr nicht mehr glauben würde,
daß sie ihn gern hat, und sie also mit moralistischen Vorwür­
fen bedenkt, worauf dieses junge Mädchen sich selbst das Le­
ben nimmt. Das ist der Inhalt der Handlung. Eine Handlung
also, in der, und das muß ich wohl noch hinzufügen, die Fa­
milie Ekdal sich in ihrer Lebenslüge - der Ausdruck Lebens­
lüge stammt aus diesem Stück, heute ist er ja wohl vergessen,
obwohl die Sache so wenig inaktuell ist, wie sie es damals
war - ganz wohl gefühlt hat; und die Familie wird, wie ein
zynischer Räsoneur in dem Stück, ein verkommener Arzt na­
mens Relling, es ausspricht, aller Wahrscheinlichkeit nach,
sobald Gras über dem Grab von Hedwig gewachsen ist, auch
genauso glücklich und zufrieden in dem Sumpf der mittleren
Existenz wieder dahinleben, wie das vorher auch der Fall
war.
Meine Damen und Herren, ich möchte von dem einen pro­
blematischen Punkt in der ganzen Sache absehen, nämlich
davon, daß, nach den Anschauungen der achtziger Jahre, die
Tatsache, daß die Gina dieses voreheliche Kind in die Ehe
mitgebracht hat - was übrigens vermutlich der Hjalmar auch
erraten hat -, die Gewichte im Stück alle etwas anders ver­
teilt, während wir darin etwas so Fürchterliches und Schok­
kierendes nicht zu sehen vermögen. Das, worauf es in der
ganzen Konstruktion ankommt, ist tatsächlich nichts ande­
res, als daß die moralische Reinigungsaktion, also der Ver­
such eines selber integren Menschen, eben des Gregers
Werle, die Verhältnisse zu bereinigen - oder wie man heute

23 7
so gern und schön sagt: klare Verhältnisse zu schaffen -, daß
die eigentlich zu nichts anderem als Unheil fUhrt; wie es in
einem anderen Stück, eben in den » Gespenstern« von Ibsen
heißt: »Ja, das Gewissen - das ist manchmal eine eklige Ge­
schichte. « 228 Wenn man also rein der Forderung des Gewis­
sens folgt, dann kann man dabei unter Umständen etwas
Gewissenloses tun, nämlich einen übrigens mit unbeschreibli­
cher Anmut und Zartheit gestalteten Menschen in Wirklich­
keit umbringen. Nun ist lbsen auch darin ein sehr bedeutender
Künstler, daß er nun nicht etwa die Partei des zynischen Rä­
soneurs, jenes Relling, selber ergreift, sondern daß er eigent-.
lieh darstellt, daß das Problem der Gesinnungsethik in ihrem
Verhältnis zur Verantwortungsethik unlösbar ist. Das heißt,
auf der einen Seite sind die Verhältnisse und die Menschen,
an die sich der Gregers Werle wendet, tatsächlich abscheulich
verlogen, konformistisch und in jeder Weise unerträglich.
Auf der anderen Seite aber ist der Versuch, der Moral nun
nachzukommen, nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern
schlägt in sich selber eben in das Unrecht um.
Es steht hinter der Konstruktion bei Ibsen noch ein anderes
Moment, wie es in anderen Stücken von ihm viel stärker her­
vortritt: nämlich daß die Moral gleichgesetzt wird mit einer
gewissen puritanisch protestantischen Enge gegenüber der
Weite der bürgerlich befreiten Produktivkräfte von Industrie
und Finanzkapital, mit denen offensichtlich - einfach im Sinn
des geschichtlich Fortgeschritteneren - Ibsen sympathisiert.
Er ist im übrigen in seiner Jugend von der Hegeischen Philo­
sophie, die im Norden ja eine große Rolle gespielt hat, nicht
unberührt gewesen, und man wird gerade in diesen Momen­
ten wohl einen Nachhall seiner hegelianischen Bildung er­
blicken dürfen. Was er nun in der >>Wildente« tut, ist - ich
zitiere dabei einen sehr einsichtigen Satz von Paul Schlenther,
der über Ibsen überhaupt ungemein klug und verständnisvoll
sich geäußert hat -: >daß die Wildente nicht den Widerspruch
löst, sondern daß sie statt dessen die Unlösbarkeit des Wider­
spruchs selber gestaltet.<229 Nun ist es so, daß der Gregers
Werle, also der Mann mit der sittlichen Forderung, durchaus
als eine Ressentiment-Figur gestaltet ist, also als ein Mensch,
würde man heute sagen, der offensichtlich einen ungelösten
Ödipus-Komplex hat, der in heftiger Ranküne gegen seinen
zugleich korrupten, aber erfahrenen und in gewisser Weise
sehr reifen Vater steht. Zudem ist er ein ungewöhnlich häßli­
cher, staksiger, ungeschickter Mensch, der sich selbst als
»der Dreizehnte am Tisch«230 empfindet, also durchaus
schon einer jenes Typus der Mißratenen, denen, etwa um die
gleiche Zeit, zu der »Die Wildente« geschrieben wurde,
Nietzsche ja die Vergiftung der Welt durch die Moral aus
Ressentiment zugeschrieben hat. Aber - und das ist nun das
sehr Großartige an Ibsen - es bleibt nicht bei dieser Negativi­
tät der Figur; der Gregers ist außerordentlich gerecht darge­
stellt. Trotz dieser ressentimenthaften, und ich möchte fast
sagen, antipathischen Züge in der Sphäre des Natürlichen
oder in der Sphäre des Charakters, ist es nämlich so, daß er
selbst wirklich ein integrer Mensch ist, daß er die Forderun­
gen, die er an andere richtet, auch an sich selber richtet, und
daß er zu einerjeden Konsequenz bereit ist. Also man könnte
sagen, der Widerspruch, den ich Ihnen in diesen Vorlesungen
angedeutet habe, der Widerspruch nämlich zwischen der Be­
dingtheit des moralisch Handelnden und den Kategorien des
Moralischen selbst, der Objektivität, der Verbindlichkeit der
moralischen Kategorien selber, der ist noch einmal in der Ge­
stalt dieses sehr konkreten Individuums seinerseits gestaltet.
Und das Ideal, das er vertritt, ist - und auch das ist nun wirk­
lich sehr Kantisch, wenn Sie wollen - einfach das der Wahr­
heit, also man könnte sagen, das Ideal der abstrakten Ver­
nunft; im übrigen ein Ideal, das bei Ibsen schon insofern sehr
in die moralischen Vorstellungen des zeitgenössischen Exi­
stentialismus hinüberspielt, als dieser moralische Rigorismus
der abstrakten Wahrheit hier eigentlich gar nichts anderes
mehr besagt, als daß die Menschen identisch sein sollen mit
sich selbst. Wahr sein heißt bei Ibsen schon soviel wie: keine
Lebenslüge - sich zu dem stellen, zu dem bekennen, was man

23 9
ist, mit sich identisch sein. Und in dieser Identität, in dieser,
wie soll man sagen, Reduktion der moralischen Forderung
auf nichts anderes als auf das bloße Man-selbst-Sein, beginnt
natürlich jeder bestimmte Inhalt, wie man nun zu sein habe,
zu verschwinden, und man könnte schließlich also nach die­
ser Ethik ein richtiger Mann sein, wenn man nur ein richti­
ger, das heißt, ein sich selbst bewußter und durchsichtiger
Schurke ist. Es wird hier durch die Reduktion des reinen Ver­
nunftprinzips auf die bloße Identität gewissermaßen dem
Vernunftideal schon dadurch die Quittung erteilt, daß es auf
eine Art Relativismus hinausläuft. Aber das ist nun nicht das,
was uns hier und in diesem Zusammenhang eigentlich be­
schäftigt, sondern das, wovon wir zu reden haben, ist ja nun
wirklich das Verhältnis von Gesinnungsethik und Verant­
wortungsethik. Man kann hier ganz leicht sagen, daß der
Gregers unverantwortlich gehandelt hat; so wie man auch
sagen kann, daß dieses verbohrte, eitle Auf-der-Forderung­
Bestehen selber, ein psychologisch bedingtes ist; daß er sel­
ber, wie Kant sagen würde, in Wahrheit mehr von einer
Absicht motiviert war als von jenem Vernunftideal, das ihn
seinem eigenen Bewußtsein nach leitet. Und infolgedessen
sieht es so aus, als ob das, was hier Ibsen - und darin ist er
ganz und gar der Erbe Hegels - gegen den Kant und gegen die
reine Gesinnungsethik vertritt, die Ethik der Verantwortung
ist, das heißt, eine Ethik, die darauf hinausläuft, daß man bei
jedem Schritt, den man tut - bei jedem Schritt, in dem man
glaubt, einer Forderung des Guten und Richtigen genügen zu
sollen -, gleichzeitig auch bedenkt, welchen Effekt dieser
Schritt hat, ob er sich verwirklicht; daß man also nicht aus
reiner Gesinnung handelt, sondern daß man dabei das Ziel,
die Absicht und schließlich eben doch die Gestaltung der
Welt als ein Positives mit hineinnimmt. Und das ist nun das,
was in dem Stück von dem Zyniker Relling vertreten wird,
der das auch ganz gescheit ausdrückt. Aber die dramatische
Gerechtigkeit, und damit, wenn Sie so wollen, das eigentlich
dialektische Moment, liegt nun darin, daß bereits in diesem
Stück diese Verantwortungsethik und die Welt, der sie als
eine Art Apologetik zugute kommt, nun ihrerseits auch als
etwas so Problematisches, Schlechtes, vor allem als so sehr
mit dem Bestehenden Verschworenes dargestellt werden,
daß dann ihnen gegenüber der Gregers Werle, der als Reprä­
sentant der abstrakten Moralität unrecht hat, zugleich auch
wieder recht hat. Kurzum, wenn ich Ihnen sagte, es wird die
Unlösbarkeit des Widerspruchs gezeigt, dann bedeutet das,
daß hier bereits die Einsicht nicht nur erreicht, sondern mit
der äußersten Konkretion gestaltet ist, daß - wenn Sie es mir
durchgehen lassen, wenn ich eine alte Formulierung von mir
zitiere - >es im falschen Leben eben kein richtiges gibt<231• Ich
sagte Ihnen schon, daß dieses Moment, auf das ich sie hinge­
wiesen habe, dieses Moment der Kritik an dem scheiternden
Gregers Werle - der sagt, das sind seine letzten Worte, er
werde nie etwas anderes als >der Dreizehnte bei Tisch< sein ­
identisch ist mit der Art von Kritik an der Kantischen Moral,
die von Hegel geführt worden ist. Die Verantwortungsethik
wäre danach eine solche, welche die Rücksicht auf die Folgen
einbegreift, beim reinen Willen sich nicht begnügt, ja diesen
selbst, so wie Hegel und wie auf der einen Seite auch Ibsen,
als Trug entlarvt, als etwas, was sich auf sich selber nun nicht
verlassen darf. In der rein auf sich zurückgeworfenen Inner­
lichkeit, wie sie dargestellt ist in dem Sonderling Gregers
Werle, der irgendwo hoch oben im Norden nun ganz einsam
und ganz für sich lebt und brütet, steckt gewissermaßen die
ganze unerhellte Realität, sie kehrt in dieser Gestalt wieder.
Er ist selber, vermöge eben seines neurotischen Schuldge­
fühls als Sohn eines reichen Mannes, in die Welt der Kausali­
tät verstrickt, während er genau dieses neurotische Schuldge­
fühl verkennt als das absolut Gute. Und Ibsen hat durchaus
schon gesehen, daß die Motive, in denen wir glauben, daß
das Gute unsere Triebkraft sei, sehr oft selber auch nur etwas
wie versteckter Egoismus sind - im übrigen ein Problem, das
durchaus in der Unterscheidung zwischen dem empirischen
und dem intelligiblen Charakter bei Kant auch schon vor-
kommt, der einen sehr scharfen Blick daftir hatte, daß sehr
oft die Motive, die wir uns selbst als die reinen, also als die des
kategorischen Imperativs vorspiegeln, in Wahrheit nur Mo­
tive sind, die ihrerseits aus der Empirie stammen und in letz­
ter Instanz mit unserem Begehrungsvermögen, also hier mit
der Befriedigung unseres, wenn ich so sagen darf, morali­
schen Narzißmus eigentlich zusammenhängen. Man darf
wohl überhaupt sagen, und soviel ist sicher an dieser Kritik
wahr, daß gegenüber Menschen, die sogenannten reinen
Willens sind und beijeder Gelegenheit auf diesen reinen Wil­
len sich berufen, eine gewisse Vorsicht angezeigt ist, daß der
sogenannte reine Wille fast stets verschwistert ist mit der Be­
reitschaft zur Denunziation, mit dem Bedürfnis, andere zu
bestrafen und zu verfolgen, kurz, mit der ganzen Problema­
tik dessen, was Ihnen ja aus den verschiedenen Typen von
Reinigungsaktionen in den totalitären Staaten wohl nur allzu
gegenwärtig ist. Das Nichteinbeziehen der Realität verkehrt
die Folgen, auf die der reine Wille pocht, und die Kritik, die
hier zu üben wäre, ließe höchstens so sich fassen- es ist merk­
würdig, daß auch das in der Kautischen Moralphilosophie
eigentlich nicht geschieht -, daß, wenn ich schon das Sitten­
gesetz mit dem Prinzip der abstrakten Vernunft identifiziere,
dann darin die Verpflichtung liegt, so weit zu denken, wie
eben ein jegliches Individuum überhaupt nur zu denken ver­
mag. Die Forderung, lassen Sie es mich so ausdrücken: daß
das sittliche das rein vernunftgemäße Verhalten im Sinn des
kategorischen Imperativs sei, ist ja im Grunde dieselbe wie
die, überhaupt in seinem ganzen Verhalten die Vernunft wal­
ten zu lassen und alles in die Vernunft hineinzunehmen, was
ihr überhaupt nur erreichbar ist. Aus den Gründen der inne­
ren Widersprüchlichkeit der Kautischen Moralphilosophie,
die ich Ihnen sattsam auseinandergesetzt habe, wird aber
gerade diese Konsequenz nicht gezogen, sondern in dieser
Folgerichtigkeit der Vernunft, darin, daß sie also auch die
Folgen selber vernünftig durchdenkt, wird von Kant bereits
etwas wie ein Abfall gesehen, und dadurch - so meine ich
jetzt philosophisch und nicht psychologisch - die ganze Pro­
blematik eigentlich beseitigt232, mit der man es im Fall des
Gregers Werle zu tun hat. Aber umgekehrt ist es nun so, daß
durch die Rücksicht auf die Folgen die Moralphilosophie sich
selber in einem gewissen Sinn von dem Objekt abhängig
macht; und der Zynismus des alten Werle, ebenso wie jenes
Arztes, und die Verkommenheit und Verlogenheit des Hjal­
mar Ekdal sind in diesem Stück im Grunde gar nichts anderes
als das Einverständnis mit der Welt, so wie sie nun einmal
geworden ist. Alles, was diese zynischen Menschen vertre­
ten, ist nichts anderes, als daß das Gewordene, die Welt, wie
sie sich entwickelt hat, die bestehenden Zustände - sei es auch
hier im engsten Sinn der familiären Verhältnisse - gegenüber
der abstrakten Vernunft recht haben; und am Schluß des er­
sten Aktes nennt der alte Werle seinen Sohn, eben weil er
gewissermaßen dieser Realität nicht mächtig ist, einen elen­
den und armseligen Tropf und läßt an ihm die ganze Ver­
achtung dessen aus, der, selber im Besitz einer sei's auch
beschränkten Macht, über die Ohnmacht in jeglicher Er­
scheinung sich weit erhaben dünkt.
Die Philosophie hat mit dem Problem, das ich versucht
habe, Ihnen hier nun einmal weniger allgemein zu entwik­
keln, es an einem Modell, einer Konstruktion aus der Kunst
vorzuführen, auf ihre Weise versucht fertig zu werden. Die
Hegeische Lehre von der Objektivität der Vernunft, also daß
das in einem emphatischen Sinn Wirkliche eben dadurch
auch vernünftig sei, ist unter dem etwas engen und speziali­
stischen Gesichtspunkt, unter dem wir im Augenblick diese
ganze Problematik betrachten, der Versuch, diese Problema­
tik aufzulösen. Es ist einfach, das einzusehen. Wenn es näm­
lich der Philosophie, wofür Hegel sich stark gemacht hat,
tatsächlich gelingen könnte, nachzuweisen, daß in der Positi­
vität bestehender Verhältnisse, bis in die äußerste Konkre­
tion einer Familie hinein, selber eine Art von Vernunft waltet
- und zwar schließlich doch, da es nur eine Vernunft gibt, die
gleiche Vernunft, die ich eitel und trügerisch mit der morali-

2 43
sehen Forderung dem Weltlauf entgegenzusetzen wähne -,
dann würde ich, indem ich mich diesem Weltlauf unterwerfe
und anpasse, ja damit eben doch nicht gegen die Vernunft
selber und gegen den kategorischen Imperativ freveln, son­
dern ich würde über die abstrakte Dualität des moralischen
Subjekts und der unqualifizierten Objektwelt hinausgelan­
gen, und dadurch, daß ich nun die Vernunft im Objekt
ebenso ehre, wie ich sie Kant zufolge in mir selbst ehren muß,
in einem höheren Sinn der Vernunft mehr Recht widerfahren
lassen, als das in der ))Kritik der praktischen Vernunft« der
Fall ist. - Ich kann Ihnen hier natürlich nicht die Problematik
dieser ganzen Hegeischen Theorie von der Vernünftigkeit
des Wirklichen aufrollen. Lassen Sie mich nur soviel sagen,
daß diese Theorie selbstverständlich auch ihr Wahrheitsmo­
ment hat. Sie können sich das vielleicht am einfachsten klar
machen, wenn Sie auf den Begriff einer sogenannten Logik
der Dinge rekurrieren, also darauf, daß in dem Vollzug ge­
schichtlicher Notwendigkeiten bis ins Kleinste hinein selber
eine Art von Logik waltet, die keineswegs bloß die der Kau­
salität ist, sondern schon so geartet ist, daß man post festum,
hinterher, und das ist dabei sehr wesentlich, in jeder Verket­
tung, sei es des Politischen und Geschichtlichen, sei es auch
des Privaten, immer die Art von Vernunft, das sich Durch­
setzen eines selbsterhaltenden, wenn Sie wollen, abstrakten
Prinzips gewahren kann, auf das dann die Apologetik sich
bezieht. Also der Ausspruch des Franz von Sickingen, der auf
seinem Totenbett - er ist bei einer Belagerung tödlich ver­
wundet worden - sagt: )) Nichts ohne Ursach' «, der bezieht
sich keineswegs bloß einfach auf die Universalisierung des
Kausalgesetzes, sondern eben doch auf die Vernunft, die )es
so gebracht hat<. Man könnte also etwa bei einer Analyse der
sämtlichen Charaktere, die in der Handlung der )) Wildente«
involviert sind, durchaus festhalten, daß aus den Charakte­
ren, die alle diese Menschen haben, als ein Sinnvolles und gar
nicht anders Mögliches ebenjene Konstellation sich entwik­
kelt, die dann von dem jungen Gregers Werle - der übrigens

2 44
gar nicht mehr so jung ist, man muß ihn sich wohl so Ende
Dreißig vorstellen -, so heftig attackiert wird. Aber dadurch
wird nun das Prinzip des Moralischen selber eigentlich zu
einem Prinzip der Anpassung. Und während wir in der deut­
schen Tradition nun gewohnt sind - und vielleicht ist das
doch auch ganz gut, daß Sie daran einmal denken -, das mo­
ralische Prinzip fast selbstverständlich dem Prinzip des kate­
gorischen Imperativs, der abstrakten Innerlichkeit, dem Sit­
tengesetz gleichzusetzen, gilt etwa in der ganzen westlichen
Welt, und zwar vor allem in der angelsächsischen Welt, ich
müßte wohl exakt sagen, überhaupt in der angelsächsischen
Welt, die Norm der gesellschaftlichen Anpassung fast ge­
nauso selbstverständlich als die Norm des Moralischen, wie
es bei uns der kategorische I mperativ ist. Es prägt also hier
in dem Unterschied der beiden, wenn ich so sagen darf, mo­
ralischen Kulturen sich der philosophische Gegensatz, der
philosophische Widerspruch aus, den ich versucht habe, von
seiner eigentlichen theoretischen Wurzel her Ihnen hier zu
entfalten. Infolgedessen läuft dann die ausgeftihrte Verant­
wortungsethik darauf hinaus, daß das, was ist - und was bei
Hegel der Weltlauf heißt, den er ja gegen die Eitelkeit der
protestierenden Innerlichkeit verteidigt -, gegen das Subjekt
jeweils recht hat. Und diese Theorie des Moralischen ist nun
tatsächlich die bei Hegel vorwaltende, und sie wird mit der
äußersten Konsequenz, und zwar mit einer nun offensicht­
lich repressiven und politisch ultrakonservativen Konse­
quenz in seiner » Rechtsphilosophie« , so wie ich sie Ihnen
eben dargestellt habe, entfaltet. Es folgt daraus nun doch die
sehr paradoxe Konsequenz, daß die scheinbar formalistische
Ethik Kants dadurch, daß sie im Prinzip ihrer Allgemeinheit
über jede bestimmte Gestalt der ihr gegenüberstehenden
Welt sich erhebt, der Gesellschaft und den tatsächlichen Ver­
hältnissen und auch den beschränkten und endlichen morali­
schen Kategorien weit radikaler kritisch gegenübersteht als
der inhaltliche Hegel, der in seinen Erwägungen selbst auf die
Gesellschaft und damit weiterhin auch auf die Kritik be-

245
stimmter gesellschaftlicher Gestalten sich einläßt. Roland
Pelzer hat in einer bei mir entstandenen, sehr schönen Disser­
tation eingehend entwickelt, daß der scheinbare Fortschritt
den Hegel über Kant darstellt und seine Kritik an der Kauti­
schen Moralphilosophie in Wirklichkeit eben tatsächlich den
>powers that be<, der Repression zugute kommt; und er hat
gegenüber der Hegeischen Kritik an der Kautischen Moral­
philosophie und, wenn man so sagen darf, an Moralphiloso­
phie überhaupt, etwas wie eine Metakritik vollzogen, die
dann im Zusammenhang des dialektischen Denkens selber so
etwas wie eine Rettung der moralischen Norm gegenüber
der mit ihr eben nicht identischen, unvereinbaren sozialen
Realität darstellt. Die Arbeit wird erscheinen in dem Kemps­
kischen »Archiv ftir Philosophie« ;233 ich möchte Sie alle dar­
auf aufmerksam machen. Sie setzt eigentlich ihrem Tenor
nach genau an der Stelle ein, an der wir hier mit unserer Be­
trachtung dieser Zusammenhänge abbrechen müssen. Nun
hat das aber eine äußerst radikale Konsequenz. Unterstellt
man nämlich, daß wirklich das Objekt Vernunft hat, so gibt
es eine Art von Widerstreit der Vernunft mit sich selbst in
einem weit ernsteren Sinn als dem relativ harmlosen der An­
tinomie der praktischen Vernunft, die von Kant in der »Kri­
tik der praktischen Vernunft « entfaltet ist. Mit anderen Wor­
ten also, die sich objektivierende, die in der Welt sich selbst
gestaltende Vernunft und die kritische Vernunft, die ihr ge­
genübersteht, die sind nicht nur nicht Eines, wie Hegel uns
glauben machen möchte, sondern sie sind in ihrer Konse­
quenz miteinander überhaupt unvereinbar. Es zeigt sich also
in dieser Differenz zwischen der sich objektivierenden und
der subjektiv denkenden Vernunft die Fragwürdigkeit der
totalen Vernunft überhaupt als eines oder als des moralischen
Prinzips. Rein nach Vernunft zu handeln, wäre abstrakte,
vom Selbst losgelöste Selbsterhaltung und ginge damit in das
Böse über, das der Weltlauf, in dem das Stärkere sich durch­
setzt, ist. Es gibt also auch aus diesem Grund kein richtiges
Leben im falschen, denn die formale Ethik, das haben Sie
gesehen, leistet es nicht, aber die Verantwortungsethik oder
die Ethik, die sich zediert an das andere, leistet es genauso
wenig. Und die Frage, der Moralphilosophie heute eigent­
lich gegenübersteht, ist nun, wie sie zu diesem Dilemma sich
zu verhalten hat, und darüber möchte ich dann in der näch­
sten Stunde noch einiges sagen.

2 47
1 7. VoRLESUNG
2 5 . 7· 1 963

Meine Damen und Herren,


ich wollte in dieser letzten Vorlesungsstunde doch noch
einiges sagen über die Formulierung von Moralphilosophie
heute, falls so etwas möglich ist angesichts des Satzes, den ich
Ihnen in der Diskussion von Gesinnungsethik und Verant­
wortungsethik vielleicht ein wenig plausibel gemacht habe:
daß nämlich im falschen Leben ein richtiges nicht möglich
sei. Eine Einsicht im übrigen, die, wie ich unterdessen, längst
nachdem ich sie so formuliert hatte, feststellen konnte, in
ähnlicher Weise, wenn auch ganz anders formuliert, bei
Nietzsche bereits vorkommt.234 Ich würde zunächst einmal
auf die Frage der Möglichkeit von Moralphilosophie heute
gar nichts anderes zu sagen haben, als daß ihr Inbegriff eben
in dem Versuch bestünde: die Erwägungen selber - für die
ich Ihnen wenigstens ein Modell zu erstellen versucht habe ­
ins Bewußtsein zu erheben, also die Kritik der Moralphiloso­
phie, die Kritik ihrer Möglichkeiten, das Bewußtsein ihrer
Antinomien ins Bewußtsein aufzunehmen. Ich glaube, mehr
kann man anständigerweise nicht versprechen. Man kann
vor allem nicht versprechen, daß die Erwägungen, wie sie im
Bereich der Moralphilosophie angestellt werden können, ih­
rerseits nun einen Kanon des richtigen Lebens entwerfen
wioirden, weil das Leben selbst eben so entstellt und verzerrt
ist, daß im Grunde kein Mensch in ihm richtig zu leben, seine
eigene menschliche Bestimmung zu realisieren vermag - ja,
ich möchte fast so weit gehen: daß die Welt so eingerichtet
ist, daß selbst noch die einfachste Forderung von Integrität
und Anständigkeit eigentlich fast bei einem jeden Menschen
überhaupt notwendig zu Protest führen muß. Ich glaube, daß
überhaupt erst das Bewußtsein dieser Z wangssituation - und
nicht, daß man sie sich verkleistert - die Bedingungen dafür
schafft, die Frage, wie man heute nun überhaupt zu leben
vermöchte, richtig zu stellen. Das einzige, was man vielleicht
sagen kann, ist, daß das richtige Leben heute in der Gestalt
des Widerstandes gegen die von dem fortgeschrittensten Be­
wußtsein durchschauten, kritisch aufgelösten Formen eines
falschen Lebens bestünde. Eine andere als diese negative An­
weisung ist wohl wirklich nicht zu geben. Im übrigen, viel
formaler als die Kantische, die wir im Laufe dieses Semesters
besprochen haben, wird auch diese negative Formulierung
schwerlich sein. Ich meine also dabei die bestimmte Nega­
tion des Durchschauten und damit die Kraft des Widerstan­
des gegen all das uns Auferlegte, gegen das, was die Welt aus
uns gemacht hat und noch in unendlich viel weiterem Maß
aus uns machen will. Etwas anderes als die Reflexion darauf
bleibt uns nicht, und der Versuch, von vornherein im Be­
wußtsein seiner objektiven Ohnmacht dagegen anzugehen;
und dieser Widerstand gegen das, was die Welt aus uns ge­
macht hat, ist nun beileibe nicht bloß ein Unterschied gegen
die äußere Welt, gegenüber der wir uns selbst ins Recht zu
setzen hätten - jeder solche Versuch würde das Prinzip des
Weltlaufs, das sowieso in uns am Werk ist, nur noch verstär­
ken und dadurch dem Schlechten zugute kommen -, sondern
dieser Widerstand müßte sich allerdings in uns selber gegen
all das erweisen, worin wir dazu tendieren, mitzuspielen. Ich
möchte fast sagen, noch der scheinbar harmloseste Kinobe­
such, zu dem wir uns verurteilen, müßte dann zumindest mit
dem Bewußtsein davon gepaart sein, daß ein solcher Besuch,
wenn wir ihn vollziehen, eigentlich bereits ein Stück Verrat
an dem ist, was wir erkannt haben, und daß er uns wahr­
scheinlich - wenn auch um eine infinitesimale Größe, so doch
sicher mit kumulativem Effekt - in eben das nur weiter ver­
stricken kann, wozu wir gemacht werden sollen und wozu
wir, um überleben zu können, um uns anzupassen, offenbar
in immer weiterem Maß auch uns selber machen. Ich meine
allerdings, daß es für die gegenwärtige Situation entschei­
dend ist, daß dieses Moment des Mitspielens, von dem ich
Ihnen gesprochen habe, etwas ist, das von keinem Men­
schen, wenn er einfach überleben will, ganz vermieden wer-

249
den kann, wenn er nicht wirklich ein Heiliger ist - aber die
Existenz eines Heiligen ist heute auch prekär. Wir werden
unablässig zu diesem Mitspielen verhalten und, um Gottes
Willen, glauben Sie nicht etwa, daß ich, wenn ich Ihnen hier
die Norm verkünde, nicht mitzuspielen, dabei dem leisesten
Pharisäismus unterliegen würde. Vielleicht ist es allerdings
so, daß, wenn dies Mitspielen in die Reflexion selber hinein­
genommen wird und wenn wir seine Konsequenzen wissen,
daß dann doch alles, was wir tun - was in dem Bewußtsein
getan wird, daß es an dem Falschen mithilft -, ein klein wenig
anders ist, als es sonst wäre. Aber schon das ist zu eitel, als
daß man es sagen dürfte - und ich sage es Ihnen eigentlich
mehr, um Ihnen nicht, statt das Brot in den Mund, nur die
berühmten Steine an den Kopf zu werfen, als daß ich aus die­
ser Reflexion selber nun allzu viel zu machen gedächte. Die­
ser Widerstand ist nun, wenn ich ihn anwenden darf auf die
Problematik, mit der wir uns hier theoretisch abgegeben ha­
ben, auch der gegen den in seiner Bedingtheit durchschauten
abstrakten Rigorismus; also es gehört in diese Reflexion, von
der ich sagen würde, daß sie die Bedingung dessen ist, was
heute ein richtiges Leben etwa vertreten könnte, auch hinein,
daß wir uns nicht wie Gregers Werle verhalten. Es steckt
darin also auch als ein aufgehobenes Moment die Kritik an
der abstrakten Moral genauso wie die Kritik an jenem Zynis­
mus drin, den ich Ihnen an den Gegenspielern Relling und
dem alten Werle ein bißeben demonstriert habe. Auf der an­
deren Seite ist es klar, daß so etwas wie ein richtiges Leben
nicht denkbar ist, wenn man nicht zugleich auch an dem Ge­
wissen und an der Verantwortung festhält. Man ist also an
diesem Punkt selber wirklich und in allem Ernst in einer anti­
nomischen Situation. Man muß an dem Normativen, an der
Selbstkritik, an der Frage nach dem Richtigen oder Falschen
und gleichzeitig an der Kritik der Fehlbarkeit der Instanz fest­
halten, die eine solche Art der Selbstkritik sich zutraut. Ich
gebrauche hier den Ausdruck Humanität ungern, denn er ge­
hört zu den Ausdrücken, die die wichtigsten Sachen, auf die

250
es ankäme, dadurch schon, daß sie ausgesprochen werden,
dingfest machen und verfälschen. Ich habe den Begründern
der Humanistischen Union, als sie mich aufgefordert haben,
einzutreten, gesagt: >Ich würde, wenn Ihr Club eine inhu-
111ane Union hieße, vielleicht bereit sein einzutreten, aber in
eine, die sich selbst humanistisch nennt, könnte ich nicht ein­
treten.< Wenn ich den Ausdruck hier einmal gebrauchen soll,
dann gehört jedenfalls zu einer in sich reflektierten Humani­
tät ebenso, daß man sich nicht abbringen läßt, ein Moment
von Unbeirrbarkeit, von Festhalten an dem, was man nun
einmal glaubt, erfahren zu haben, wie andererseits ebenjenes
Moment, nicht nur der Selbstkritik, sondern der Kritik an
jenem Starren und Unerbittlichen, das in uns sich aufrichten
will. Es gehört dazu also vor allem das Bewußtsein der eige­
nen Fehlbarkeit, und damit, würde ich sagen, ist doch das
Moment der Selbstbesinnung, der Selbstreflexion heute
eigentlich zu dem wahren Erbe von dem geworden, was ein­
mal moralische Kategorien hießen. Das heißt, soweit es auf
der subjektiven Seite heute überhaupt so etwas wie eine
Schwelle, wie eine Unterscheidung zwischen dem richtigen
und dem falschen Leben gibt, ist sie wohl am ehesten darin zu
suchen, ob man blind nach außen schlägt - und sich selber
und die Gruppe, zu der man gehört, als Positives setzt und
das, was anders ist, negiert -, oder ob man statt dessen in der
Reflexion auf die eigene Bedingtheit lernt, auch dem sein
Recht zu geben, was anders ist, und zu fühlen, daß das wahre
Unrecht eigentlich immer gerrau an der Stelle sitzt, an der
man sich selber blind ins Rechte und das andere ins Unrechte
setzt. Dieses Nicht-sich-selber-Setzen - und das geht hinauf
bis zu der Todesmetaphysik und dem Trotz der Selbstheit,
wie sie etwa in der Heideggerschen Lehre von der Entschlos­
senheit noch sich findet235 -, das scheint mir eigentlich das
Zentrale, was heute überhaupt von dem einzelnen Menschen
zu verlangen ist. Mit anderen Worten, wenn man mich pres­
sen würde, nach dem alten antiken Gebrauch die Kardinal­
tugend zu nennen, würde ich wahrscheinlich und nun aller-

25 1
dings recht hintersinnig keine andere zu nennen wissen als die
Bescheidenheit. Man muß also, wenn ich es noch einmal va­
riieren darf, Gewissen haben, darf sich aber auf das Gewissen
nicht zurückziehen. Sagt etwa in einem Gremium - nehmen
Sie einmal an, in irgendeinem Gremium, dem Sie angehören,
und wahrscheinlich gehört ja jeder von Ihnen heute genau
wie ich irgendwelchen Gremien an, das gehört ja auch so
dazu - heute ein Mensch: >Mein Gewissen verbietet es mir,
das und das zu tun<, ja, dann würde ich denken, daß diesem
Menschen von vornherein das größte Mißtrauen gebührt.
Vor allem aber, daß wir, wenn wir uns gedrängt fühlen zu
sagen, daß wir >hier stehen und nicht anders können<, eben
gegen uns selbst das äußerste Mißtrauen verdienen, weil in
dieser Gebärde genau jenes Sich-selbst-Setzen, Sich-selbst­
als-Positivität-Behaupten steckt, in dem sich eigentlich nur
das Pr.il!�ip 4-�-�haktmg kaschiert, aber gleichzeitig so
aufspielt, als ob es jenes Moralische wäre, mit dem es ja tat­
sächlich - wie ich hoffe, Ihnen in den kritischen Analysen
gezeigt zu haben - koinzidiert.
Zum anderen aber heißt natürlich Widerstand auch Wider­
stand gegen die konkrete Gestalt der Heteronomie, heute
also gegen die ungezählten von außen auferlegten Formen
der Moralität. Gerade weil die heute geltende positive Mora­
lität des durchsichtigen theoretischen Grundes enträt, und
weil ebenso die Beziehung zu der Religion durchgeschnitten
ist, aus der sie einmal sich hergeleitet hat, wie auch keinerlei
durchsichtige rationale Beziehung zu der Philosophie mehr
vorliegt, in der diese moralischen Forderungen einmal ge­
golten haben, deshalb nehmen die innerhalb der Gesellschaft
allgemeingültigen Formen der Moralität den Charakter des
Bösen und des Repressiven an, der überall dort eintritt, wo
Begriffe, die eigentlich ausgehöhlt sind, deren Substanz
eigentlich gar nicht mehr existiert, trotzdem festgehalten und
zu Fetischen werden. Ich glaube, die drastischsten Beispiele
dafür liegen heute, ich habe das in einer Arbeit versucht kon­
kret zu fassen, die in den » Eingriffen« steht, 236 in dem ganzen

252
Bereich der Sexualmoral vor, wo ja nun wirklich bei den
meisten Menschen die religiöse Vorstellung, die die übliche
Sexualmoral trägt, nämlich die vom sakramentalen Charak­
ter der Ehe, aufs tiefste erschüttert ist, noch auf der anderen
Seite rational und durchsichtig mehr behauptet werden kann,
daß der Eros, wie es Kant noch bedünken mochte, die Men­
schenwürde im anderen kränkt. Das hat sich als etwas Be­
schränktes und als ein Vorurteil erwiesen. Und trotzdem fei­
ert gerade heute, wenn ich so sagen darf, eine Sexualmoral,
die als ihren eigenen Grund gar nichts mehr anzubieten hat,
Orgien, die dann einfach in den Schauern bestehen, die Sie
etwa ablesen können an den Worten, mit denen Christine
Keeler und ihre Freundinnen bedacht werden, 237 aber auch
etwa an solchen Kodes, wie dem letzten, der dem >Zweiten
Fernsehen< von seiner Aufsichtsbehörde gewidmet worden
ist und den Sie in der letzten Nummer des » Spiegels« abge­
druckt finden können. 238 Ein solcher Kode ist deshalb so ver­
hängnisvoll, weil er im buchstäblichsten Sinn eigentlich noch
einmal den objektiven Geist kodifiziert, also den Inbegriff
undurchsichtiger, deshalb aber erst recht unerbittlicher und
repressiver Normen, denen die Menschheit heute sich aus­
setzt; und wenn irgendwo das Moralische seinen konkreten
Ansatzpunkt hat, dann ist es der ganz entschlossene und der
ganz kompromißlose Widerstand gegen alle Manifestationen
dieses Geistes, die Sie heute finden werden. Ich erinnere hier
auch in diesem Zusammenhang etwa an die Parolen, die von
der Bewegung moralischer Aufrüstung ausgegeben werden,
die neulich mein Freund Habermas in dem » Merkur« einer
ebenso bedächtigen wie durchdringenden Kritik unterzogen
hat, auf die ich Sie aufmerksam machen möchte.239 Es ist
heute etwas zur Universalität, ich möchte sagen, des objekti­
ven Geistes, des kulturellen Bewußtseins geworden, was
Nietzsche allzu arglos noch nur den positiven Religionen zu­
gesprochen hat, die unterdessen ihre Macht über die Men­
schen weitgehend verloren haben. Statt dessen ist diese re­
pressive und beschränkende Macht einfach übergegangen an

2 53
die stillschweigende, wortlose, grundlose, aber in dem gan­
zen Leben der Gesellschaft gegenwärtige Form des Geistes.
Man könnte nämlich sagen, daß heute überall, wo Menschen
sich in die Brust werfen - dabei denke ich nicht nur an ein­
zelne Menschen, sondern vor allem an das, was geschrieben,
was durch die Massenmedien verbreitet, was getönt wird -
und sich auf die Idee des Guten berufen, diese Idee des Guten
unmittelbar, das heißt, soweit sie nicht der Widerstand gegen
das Schlechte ist, immer und ausschließlich gerade das Deck­
bild des Schlechten ist. Der Satz von Strindberg: )) Wie
könnte ich das Gute lieben, wenn ich nicht das Böse hassen
würde«240, hat in einem doppelten und sehr verhängnisvollen
Sinn seine Wahrheit bekommen. Auf der einen Seite nämlich
ist der Haß auf das Böse heute wirklich im Namen des Guten
zu etwas Zerstörendem und Destruktivern geworden, auf
der anderen Seite ist das Gute, das sich selbst als Positivität
aufwirft, anstatt nur das Böse als Index seiner selbst zu sehen,
zu dem Bösen geworden. Und das ist heute eigentlich die
Gestalt der Ideologie, so wie überall dort, wo moralische
Ideologien am Werk sind - ich erinnere dabei besonders an
die im Ostbereich herrschende Ideologie -, die Idee von so­
genannten positiven, guten, heroischen Leitbildern, auch das
Wort ist für die Sphäre sehr zuständig, aufgestellt wird.
Nicht umsonst haben bei den Nationalsozialisten die Begriffe
der )Reinigung{, der )Wiederherstellung{, der )Erneuerung{,
der )Bindungen{ eine so entscheidende Rolle gespielt; und
dieser ganzen Ideologie ist heute zwar ihr politischer Kopf
abgeschlagen worden, sie ist heute nicht mehr unmittelbar
gegen Minoritäten gerichtet, aber sie steht doch in jedem
Augenblick auf dem Sprung, gegen i�gendein Abweichendes
sich zu setzen und es so zu zerschmettern. Das Erbe zeigt
s!ch heute vor ätf'e;;.;_:.... darauf darf man wohl auch hinweisen ­
in Gestalt der zahllosen Richtungen des Antiintellektualis:­
mus, unter denen nicht die harmloseste die ist, daß der Ge­
danke damit sistiert werden soll, daß man ihm unablässig,
ohne ihm gleichsam nur die Zeit zu lassen, das zu denken,

254
was er denken muß, die Forderung präsentiert: >Ja, was tust
du denn? Was geschieht denn? Was habe ich davon? Welchen
Hund kannst du mit diesem Gedanken< - um auf einen Satz
von Hege! anzuspielen - >hinter dem Ofen hervorlocken?<
Das, was an der Kautischen Vernunft�thik heute wirklich
noch gegenwärtig ist, i�t-;�hTg�r �i�h��-� �deres als die Kri­
tik all dieser Momente.
Der Übergang zu einer solchen Kritik ist nun tatsächlich
vollzogen worden von Nietzsche. Und es ist die unver­
gleichlich(Bedeutung;Nietzsches - die mir weit darüber hin­
auszureichen scheint, daß alle mÖglichen finsteren und reak­
tionären Mächte auf gewisse Theoreme von ihm sich berufen
haben -, daß er die Demmziation. des Schiechtel} gerade im
Guten und damit auc� die Kritik an der Verkörperung des
Schlechten in der gesellschaftlichen Positivität viel konkreter
und vor allem in den Ideologien viel differenzierter durchge­
führt hat als etwa die marxistische Theorie, die zwar die Ideo­
logien en bloc verdammt hat, die aber in den Mechanismus
der Lüge, der Ideologien selber niemals so hineingegangen
ist, wie eben Nietzsche es getan hat. Die Schwierigkeit, die
hinter all dem steht, ist natürlich die Schwierigkeit der priva­
ten Ethik, das heißt, daß das Verhalten des je einzelnen an das
objektiv Böse oder Schlechte längst nicht mehr heranreicht.
Es ist aber, und bitte verstehen Sie das nicht falsch, wirklich
nicht im leisesten meine Absicht, aufNietzsche herumzuhak­
ken, dem ich, wenn ich aufrichtig sein soll, am meisten von
allen sogenannten großen Philosophen verdanke - in Wahr­
heit vielleicht mehr noch als Hege!. Ich meine aber trotzdem,
daß man gerade in einer dialektischen Vorlesung über Moral­
philosophie doch auch noch ein paar dialektische Worte
über die Nietzschesche Kritik an der Moral schuldig ist. Ich
würde gegen Nietzsche immerhin das einwenden, daß er bei
der abstrakten Negation jener bürgerlichen Moral oder,
lassen Sie es mich so sagen, bei der zur Ideologie, zur Maske
vor einem schlechten Betrieb gewordenen Moral stehenge­
blieben ist, und daß er nicht selber aus dem Austrag der

255
einzelnen moralischen Probleme, denen er gegenüber sich
fand, nun zu einer Formulierung der Idee richtigen Lebens
kam, sondern, indem er damit nun summarisch verfahren
ist, dem seinerseits nun wieder eine positive Moral gegen­
übergehalten hat, die eigentlich nichts anderes ist als das
bloße negative Spiegelbild der Moral, die er selbst verwor­
fen hat. Man kann nicht aus der Einsicht in das Falsche der
repressiven Ideologie, wie wir sie ja heute im Zeitalter der
Kulturindustrie bis ins Absurde gesteigert finden, nun de­
kretorisch das Richtige herauslesen. Die p��i!L�.tylor.al...b�i
f\T!.<::l�sche, wenn Sie �:;; so ner1ne!l wolleu. er sel�er würde es
nicht Moral genannt haben, ist deshalb......unmöglich, weil ihr
��.-.j".,,•"""-"'"*""�- .., -..-.
die Substantialit.ät des obj�k!iy<;:n .Geistes m,aJ.?.gelt; weil, mit
anderen Worten, aus dem Stand der Gesellschaft und im tat­
sächlich erreichten Stand des Geistes der Gesellschaft die
Normen, die Nietzsche ihr entgegengesetzt hat, nicht etwa
konkret herausspringen, sondern weil sie ihr von außen ge­
genübergehalten werden, so wie es in der Sprache von Nietz­
sche zutage kommt, die nicht umsonst in einerjugendstilhaf­
ten Weise - in seinem, jedenfalls der Lehre nach, positivsten
Hauptwerk, dem ))Zarathustra« - eine Art Imitatorik der bi­
blischen Sprache ist, bibelaffektiert und doch - unter Anspie­
lung auf die Tafeln des Moses - von den neuen Werten, den
neuen Tafeln redet, die er aufzurichten gedenke; während ge­
nau in diesem Versuch, von einem einzelnen aus, aus subjek­
tiver Velleität, neue Normen, neue Gebote aufzurichten, ihre
Ohnmacht, will sagen: ihre Willkür und ihre Zufälligkeit,
bereits impliziert ist. So sind etwa die Ideale, wenn Sie mir
einmal so zu reden gestatten, die ihm vorschweben - wie das
von Vornehmheit, von realer Freiheit, von der Noblesse
schenkender Tugend, von Distanz, all diese an sich sehr
großartigen Normen -, in einer unfreien Gesellschaft über­
haupt nicht oder nur am Sonntagnachmittag, das heißt: im
Privatleben, zu verwirklichen. Die, die unten sind, die sollen
einmal vornehm sein! Nun, Nietzsche würde darüber sich
mit der etwas abrupten Gebärde des >justament< hinwegge-
setzt haben. Aber auch die, die herrschen, sind ja als Verfü­
gende über fremde Arbeit in das Unheil viel zu verstrickt, als
daß sie diese Vornehmheit sich leisten könnten. Wenn etwa
ein großer Unternehmer im Ernst so vornehm wäre - und
nicht bloß in einer ästhetischen Geste -, wie Nietzsche es von
ihm postuliert, dann würde er unrettbar bankrott gehen. Er
wird geradezu von dem Betrieb zur Unvornehmheit verhal­
ten. Nietzsches feine Ohren hätten ihn ja darüber belehren
können, daß im Begriff der Vornehmheit selber bereits der
Makel des Unvornehmen insofern steckt, als der Vornehme
eben der ist, der es sich vor den anderen und für sich selber
nimmt. Also diese Normen sind in Wirklichkeit alle feudale
Normen, die unmittelbar in einer bürgerlichen Gesellschaft
gar nicht zu realisieren sind; sie sind bloße Repristinationen,
Erneuerungen, ein romantisches Ideal, das unter der Herr­
schaft des Profits ganz und gar ohnmächtig ist. Sie kommen
aber dieser Herrschaft des Profits zugleich auch zugute, denn
der Mensch, der da als der Herrenmensch von Nietzsche ge­
feiert wird und dessen Urbild nicht umsonst der wüste und
abscheuliche Kondottiere Cesare Borgia gewesen ist, würde
heute nichts anderes sein als der >go-getter< oder der Indu­
strieritter. Mit anderen Worten, also gerade diese neuen
Werte, die dem expansiven Wilhelminischen nachsiebziger
Reich sich entgegengestellt haben, sind gegen ihren eigenen
Willen, aber objektiv die Ideologie des expansiven Imperia­
lismus geblieben. So ist etwa die Parole gegen das Mitleid
eine bloß abstrakte Negation der Schopenhauerschen Mit­
leidsethik, und die Probe darauf hat das Dritte Reich, haben
überhaupt die totalen Staaten in einer Weise gemacht, vor der
es Nietzsche mehr geschaudert hätte als jedem anderen. Auf
der anderen Seite muß man auch hier sagen, daß die Kritik
Nietzsches an der Moral des Mitleids ihr Richtiges hat, weil
in dem Begriff des Mitleids ja stillschweigend der negative
Zustand der Ohnmacht, in dem der Bemitleidete sich befin­
det, aufrechterhalten, sanktioniert wird. Es wird nicht daran
gerührt, daß der Zustand geändert werden müßte, in dem es

257
Mitleid Erregendes gibt, sondern dieser Zustand wird - in­
dem er wie bei Schopenhauer selber in die Moral als deren
Hauptgrund hineingenommen wird - hypostasiert und als
ein ewiger eigentlich hingenommen; so daß man mit Recht
sagen kann, daß in dem Mitleid, das man einem Menschen
entgegenbringt, immer auch ein Stück Unrecht gegen diesen
Menschen enthalten ist, weil er nämlich an dem Mitleid im­
mer zugleich auch die Ohnmacht und die Scheinhaftigkeit
gerade der mitleidigen Handlung erfährt. Ich glaube, wenn
Sie an Ihre eigene einfache Erfahrung denken, wie es Ihnen
zumute ist, wenn Sie einem Bettler zwanzig Pfennig schen­
ken, dann werden Sie sehr genau bei sich selber finden, was
ich dabei meine und was ich eben hier an der Nietzscheschen
Kritik festhalten möchte. Auch das zeigt wieder, daß es ein
richtiges Verhalten im falschen nicht gibt; sicherlich keines,
daß heute nicht mit dem Nietzscheschen Ekel vor der Klein­
bürgerlichkeit gesättigt wäre. Es steckt in diesen gewissen
Brutabtäten der Nietzscheschen Moralphilosophie, die ich,
weiß Gott, nicht verteidigen möchte - ich glaube, nach dem,
was Sie gehört haben, wird mich niemand so mißverstehen
-, jedenfalls soviel an Wahrheit drin, daß in einer Gesell­
schaft, die auf Gewalt und Ausbeutung wesentlich gegründet
ist, die unrationalisierte, die sich einbekennende und sich ins
Gesicht schauende und, wenn Sie wollen, dadurch >entsüh­
nende Gewalt<241 immer noch unschuldiger ist als die, die sich
als das Gute rationalisiert. Ganz böse wird die Gewalt erst in
dem Augenblick, in dem sie sich selbst als den gladius dei, als
das Schwert Gottes mißversteht. Ich mache Sie hier auf die
Arbeit ))Egoismus und Freiheitsbewegung« von Horkhei­
mer aufmerksam, die, ich glaube 1 9 3 6 oder 1 93 7, in der
)) Zeitschrift für Sozialforschung« erschienen ist und in der Sie
gerade diese Dialektik sehr durchgeführt finden.242 Nietzsche
hat verkannt, daß die von ihm kritisierte sogenannte Skla­
venmoral in Wahrheit immer Herrenmoral, nämlich die von
Herrschaft den Unterdrückten aufgezwungene, gewesen ist.
Wäre seine Kritik so konsequent, wie sie sein müßte und wie
sie es doch nicht ist - weil er eben selber im Bann der beste­
henden gesellschaftlichen Verhältnisse steht, weil er bei den
Menschen auf den Grund dessen geschaut hat, was sie ge­
worden sind, aber nicht der Gesellschaft auf den Grund ge­
schaut hat, die sie dazu gemacht hat -, dann müßte diese Kri­
tik umschlagen auf die Bedingungen, welche die Menschen
determinieren, welche sie, welche einen jeden von uns zu
dem gemacht haben, was wir sind. Wenn Nietzsche etwa ftir
das, was man heute mit einem abscheulichen Schlagwort
Massengesellschaft nennt, bereits eine Formel gefunden hat,
wie die: ))Kein Hirt und Eine Heerde! «243, so ist das in Wirk­
lichkeit nicht, wie er gemeint hat, die Denunziation des letz­
ten Menschen, sondern es ist die Physiognomik einer völlig
funktional und völlig anonym gewordenen Herrschaft, die
aber nichtsdestoweniger über dieser Herde noch unver­
gleichlich viel brutaler waltet, als wenn ein sichtbarer Leit­
hammel da wäre, dem sie nachläuft. An Nachblöken fehlt es
ja in dieser hirtenlosen Herde oder vaterlosen Gemeinschaft
oder Gesellschaft auch heute nicht. Nietzsche hat geglaubt,
daß er durch das Entgegenhalten solcher Werte den soge­
nannten Relativismus, wie er ihn in der Moralphilosophie
seiner eigenen mittleren Lehre vertreten hat, wie man es
heute so abscheulich nennt: überwinden würde. Es ist darauf
zu sagen: der Wertbegriff in abstracto (also gesetzte, von ih­
rer eigenen dialektischen Entfaltung abgelöste Werte) ist et­
was im höchsten Maß Problematisches, ganz genauso wie
jener Begriff des Überwindens, der ja heute auch seine ab­
scheuliche Rolle spielt, wo die Menschen mit irgendwelchen
radikalen Theorien im allgemeinen überhaupt nicht anders
fertig werden, als, indem sie, sobald sie sie nur erblicken,
sofort sich animiert fühlen, zu sagen: >Ja, aber das muß doch
überwunden werden.< Schauen Sie - um ein Beispiel von der
moralischen Dialektik zu geben: in dem Augenblick, wo
man Ihnen zumutet, daß Sie irgend etwas geistig Unbeque­
mes nun sofort überwinden müßten, wenn Sie da innehalten
und zunächst einmal der Forderung des Überwindens das Vi-

259
sum abverlangen, ich glaube, da tun Sie schon ein Stück rich­
tiges Leben im falschen.
Aber ich will noch wenigstens ein paar Worte über den
Relativismus sagen. Sie werden vielleicht bemerkt haben,
daß ich in dieser Vorlesung mich mit dem berühmten Pro­
blem des moralischen Relativismus wenig abgegeben habe.
Ich habe das deshalb nicht getan, weil ich es nun wirklich in
weitem Maß für das halte, was nun ebenfalls ein sehr viel
mißbrauchter Begriff ist, nämlich ein Scheinproblem. Denn
die Positivität der heute und hier geltenden Anschauungen,
der Ideologien, ist gar nicht relativ. Sie treten uns in jedem
Augenblick als ein Verbindliches und Absolutes gegenüber.
Und die Kritik an diesem falsch Absoluten - oder wie Hegel,
der junge Hegel, es genannt hat: >dem Positiven der gelten­
den moralischen Anschauungen<244 - ist viel dringender als
die Frage nach irgendwelchen absoluten, im Ewigen festge­
machten und wie Heringe von der Decke herunterhängenden
Werten, durch die man nun also über diese Relativität hinaus­
kommen soll, mit der manja im Ernst als ein wirklich lebendi­
ger, im Versuch anständig zu existieren begriffener Mensch
überhaupt gar nichts zu tun hat. Auf der anderen Seite ist aber
gerade die Willkür der Satzung und der Werte, die überall
dort auftritt, wo Menschen glauben, daß sie den Relativis­
mus zu überwinden haben, ihrerseits nun ein Willkürakt, et­
was frei Gesetztes, etwas, das iJeaet und nicht cpvaet ist, und
sie verfällt gerade dadurch notwendig immer eben der Relati­
vität, die sie selber denunziert. Insofern kann man sagen, wie
ich es in einer anderen theoretischen Arbeit versucht habe,
genau zu entfalten, in der » Metakritik« nämlich, daß der Be­
griff des Relativismus das Korrelat zum Absolutismus ist und
das dialektische Denken - wenn ich das richtig weiß, was das
überhaupt sein soll - ein Denken wäre, das, Nietzschisch ge­
sprochen, jenseits dieser Alternative überhaupt sich be­
fände.245 Dagegen führt das Prinzip der bestimmten Nega­
tion, so wie Sie es etwa - und ich möchte diesen Namenjetzt
doch in den letzten Minuten dieser Vorlesung nennen - in

260
dem ungeheueren Gesamtwerk von Karl Kraus verkörpert
finden, wirklich über die sogenannte Relativität hinaus. Wir
mögen nicht wissen, was das absolut Gute, was die absolute
Norm, ja auch nur, was der Mensch oder das Menschliche
und die Humanität sei, aber was das Unmenschliche ist, das
wissen wir sehr genau. Und ich würde sagen, daß der Ort der
Moralphilosophie heute mehr in der konkreten Denunzia­
tion des Unmenschlichen als in der unverbindlichen und ab­
strakten Situierung etwa des Seins des Menschen zu suchen
ist. Kurz, alle Probleme der Moralphilosophie, die stehen
eben, wie ich es sagte, unter der Generalklausel der privaten
Ethik, das heißt, sie beziehen sich in Wahrheit auf eine noch
individualistische Gesellschaft, wie sie durch die Entwick­
lung überholt ist. Diese individualistische Gesellschaft hat in
sich selbst nun ihr Beschränktes und Partikulares, das sich an
dem sogenannten Grundproblem der Moralphilosophie,
nämlich dem der Willensfreiheit, ablesen läßt. Daher ist der
höchste Punkt, zu dem die Moralphilosophie, die notwendig
eine Lehre von der privaten Ethik ist, überhaupt sich erheben
kann, die Antinomie von Kausalität und Freiheit, wie sie in
der Kantischen Philosophie unaufgelöst und eben darum so
exemplarisch dargestellt worden ist. Was aber bei Kant hier
als die Naturverflochtenheit der Menschen erscheint, das ist
zugleich auch ihre gesellschaftliche Verflochtenheit. Denn in
zweiter Natur, in der universalen Abhängigkeit, in der wir
stehen, gibt es keine Freiheit; und es gibt darum in der ver­
walteten Welt auch keine Ethik; und deshalb ist die Voraus­
setzung der Ethik die Kritik an der verwalteten Welt. Daher
verkümmert auch die Instanz des Gewissens in den einzelnen
Menschen, sie wird atroph, so wie es die Psychologie - etwa
zuletzt mein Freund Mitscherlieh in dem Buch über die >va­
terlose Gesellschaft< - beobachtet hat,246 und wie sich mir die
Veräußerlichung des Über-Ichs der Innerlichkeit des Moral­
prinzips gegenüberstellt, wie sie auf der Höhe der Philo­
sophie einmal erreicht war. Freiheit wäre, wie Kant sagt,
buchstäblich und wahrhaft eine Idee. Sie setzt notwendig die

26 !
Freiheit des Ganzen mit und ist als isolierte, also ohne ge­
samtgesellschaftliche Freiheit, nicht einmal möglich zu den­
ken. Es ist der Fehler der Ethik, die vielen von Ihnen als avan­
ciert begegnet, nämlich der existentialistischen, aus Protest
nun gegen die verwaltete Welt, die Spontaneität, das Sub­
jekt, soweit es nicht erfaßt ist, zu verabsolutieren, während
dann gerade in dieser unreflektierten und vom Objektiven
abgelösten Spontaneität die Objektivität so wiederkehrt, wie
Sartre schließlich sich doch in den Dienst der kommunisti­
schen Ideologie am Ende dann wieder gestellt hat. Das heißt,
entweder diese Spontaneität wird, wo sie ernst gemeint ist,
eliminiert und unter der großen Tendenz begraben, oder sie
fallt selber in die Verwaltung. Kurz, also was Moral heute
vielleicht überhaupt noch heißen darf, das geht über an die
Frage nach der Einrichtung der Welt - man könnte sagen: die
Frage nach dem richtigen Leben wäre die Frage nach der rich­
tigen Politik, wenn eine solche richtige Politik selber heute
im Bereich des zu Verwirklichenden gelegen wäre. - Ich
danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen
gute Ferien.

262
Anmerkungen des Herausgebers
ABKÜRZUNGEN

Adornos Schriften werden nach den Ausgaben der Gesammelten


Schriften (hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel
Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz; Frankfurt a. M.
1970ff.) und der Nachgelassenen Schriften (hrsg. vom Theodor W.
Adorno Archiv) zitiert, soweit sie dort vorliegen. Dabei gelten die
Abkürzungen:

GS 3: Max Horkheimer und Theodor W Adorno, Dialektik der


Aufklärung. Philosophische Fragmente. 2. Auf!., 1984
GS 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten
Leben. 1 980
GS 5: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie/Drei Studien zu
Hege!. 3 . Auf!., 1 990
GS 6: Negative Dialektik/Jargon der Eigentlichkeit.
4· Auf!., 1990
GS 8: Soziologische Schriften I. 3 . Auf!., 1990
GS !0 · 2: Kulturkritik und Gesellschaft II: Eingriffe/Stichworte/
Anhang. 1977
GS I I : Noten zur Literatur. 3. Auf!., 1 990
GS 1 5 : Theodor W Adorno und Hanns Eisler, Komposition für
den Film I Theodor W Adorno, Der getreue Korrepeti­
tor. 1976
NaS IV/4: Kants »Kritik der reinen Vernunft<< ( 1959). 1995
NaS IV/ r 5 : Einleitung in die Soziologie (1968). 1993

Zitate aus unveröffentlichten Typoskripten und Vorlesungen wer­


den mit den Signaturen Ts und Vo in der Zählung des Theodor W.
Adorno Archivs nachgewiesen, Zitate aus Briefen mit Angabe des
Empfängers und des Datums.

Zitate aus den Werken Kants folgen, unter Verwendung der Sigle
»W<< , der Ausgabe:

Immanuel Kant, Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Wilhelm Wei­


schedel, Frankfurt a.M. 1 968. (Die Ausgabe ist seitenidentisch mit
der erstmals in sechs Bänden erschienenen Ausgabe: Kant, Werke,
Frankfurt a. M. 1956 ff., zugleich: Darmstadt 1 956ff.)
I . VORLESUNG

! . Gemeint sind die Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten

Leben, in deren Zueignung an Max Horkheimer Adorno schreibt: Die


traurige Wissenschaft, aus der ich meinem Freunde einiges darbiete, bezieht
sich auf einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der
Philosophie galt, seit deren Verwandlung in Methode aber der intellektuel­
len Nichtachtung, der sententiösen Willkür und am Ende der Vergessenheit
verfiel: die Lehre vom richtigen Leben . Was einmal den Philosophen Leben
hi!Jl, ist zur Sphäre des Privaten und dann bloß noch des Konsums gewor­
den, die als Anhang des materiellen Produktionsprozesses, ohne Autonomie
;;nd ohne eigene Substanz, mitgeschleift wird. (GS 4, S. IJ)

2 . Konjiziert ftir möglichen.

3 - Vgl. GS 4, S. 43 .

4 · In verwandtem Wortlaut konnte dieser Satz bei Nietzsche nicht


ermittelt werden. In der I 7. Vorlesung vom 25. Juli r963 verweist
Adorno erneut auf diese Parallele, allerdings mit dem Zusatz, es sei
Sei Nictzsche ganz anders formuliert (s. S. 248). Adorno denkt ver­
mutlich an die Stücke I, 3 3 f. in »Menschliches, Allzumenschliches«
(vgl. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienaus­
gabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München
: 9 8 R , Bd. 2, S. 52-54).

5· Vgl. in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten<< : »Es wäre


hier leicht zu zeigen, wie sie (sei!. die moralische Erkenntnis der
gc:ncinen Menschenvernunft], mit diesem Kompasse in der Hand,
i'l allen vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu unter­
scheiden, was gut, was böse, pflichtmäßig, oder pflichtwidrig sei,
wenn man, ohne sie im mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur,
wie Sokrates tat, aufihr eigenes Prinzip aufmerksam macht, und daß
ec 21so keiner Wissenschaft und Philosophie bedürfe, um zu wissen,

was man zu tun habe, um ehrlich und gut, ja sogar, um weise und
tugendhaft zu sein. << (W VII, S. J I)

!'i. Bei Scheler heißt es: » Es ist ( . . . ] innerhalb dieses Gesamtgebietes


der Ethik stets scharf zu scheiden: Die von den sittlichen Subjekten
selbst >in Anwendung und Gebrauch< stehende Ethik ( . . . ] - und die
266
Gruppen ethischer Grundsätze, die erst durch ein methodisches lo­
gisches Verfahren, demjene >angewandte Ethik< w:eC.:er zum Stoffe
dient, gewonnen werden: D. h. die Ethik der sich ir. cer r.atürlichen
Sprache ausdrückenden natürlich-praktischen Weltanschauung (zu
der z. B. die Sprichwörterweisheit aller Zeiten gehört, desgleichen
alle tradierten Maximen usw.) - und die mehr oder weniger wissen­
schaftliche, philosophische, theologische Ethik, die jene angewandte
zu >rechtfertigen< und aus höchsten Prinzipien zu >begründen< pflegt,
wobei diese >Prinzipien< von den Subjekten der angewandten Ethik
durchaus nicht gewußt sein müssen.« (Max Scheler, Der Formalis­
mus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der
Grundlegung eines ethischen Personalismus, jetzt: Gesammelte
Werke, Bd. 2, 4· Auf!., Bern 1954, S. 3 2 1 )

7· Vgl. W IV, S. 677, B 8 3 3 / A 805, wo die Frage allerdings im Sin­


gular steht: » Was soll ich tun? "

8. Auf das Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft


geht Adorno in der 3 · Vorlesung vom 1 4. Mai 1963 (s. S. 4 3 47) -

näher ein.

9. Adornos Darstellung von Fichtes Beitrag zur Moralphilosophie


fällt unterschiedlich aus. Die ältere Vorlesung über Probleme der Mo­
ralphilosophie von 1956/57 geht von Fichtes Versuch aus, die theoreti­
sche und praktische Vernunft [Kants] miteinander zu verschmelzen. Dabei
erhält die praktische Vernunft den Vorrang. Es ist erst heute zu erken­
nen, daß in dieser Fortbildung des Kantischen Gedankens durch Fichte ein
wesentliches Elemetlt von Wahrheit enthalten ist: Heute ist ein menschen­
würdiges Verhalten ein solches, das sich nicht von dem Auswendigen blind
abhängig macht, das nicht konkretistisch ist, das nicht von den Dingen die
Eifüllung seiner Existenz erwartet, dem das Bewußtsein des Menschlichen
auch in einer überwältigenden Dingwelt innewohnt. (Vorlesung vom 20.
November 1 956, Vo 13 ro; vgl. auch die 1 r. Vorlesung vom 4· Juli
1963, S . I 7 I )

r o . Adornos Vortrag auf der Berliner Tagung der Deutschen Gesell-·


schaft für Soziologie vom Mai 1 959; jetzt GS 8, S. 93-r2 r .

r r . Adorno bezieht sich auf den Text >>Fragwürdige Erkenntnis« , in


dem Golo Mann auf einen Vortrag von Rene König replizierte, den
dieser 1960 unter dem Titel »Zur Soziologie der zwanziger Jahre« in
München gehalten hatte: »Bloßes Erkennen, die Bestrebung, nur zu
erkennen, würde mich nie befriedigen. Wir finden das heute noch
bei jenen, die Herr König revenants genannt hat, weil sie mit ihrer
Bildung aus dieser Zeit stammen. Nehmen wir den erwähnten
Theodor W. Adorno mit seinen Analysen, die nur fragen, was ist,
was ist Halbbildung, was ist die Theorie der Halbbildung heute?
Meine Antwort wäre: Ich kann damit nichts anfangen. Ich will wis­
sen, wie können wir uns überwinden, wie können wir den Leuten
helfen? « (Golo Mann, Fragwürdige Erkenntnis, in: Wissen und Le­
ben. Hauszeitschrift des W. Kohlhammer Verlages, Stuttgart 1960,
Heft 1 5, S. 1 3) - Adorno äußerte sich zu Mann auch in einem Brief
an Franz Böhm vom 1 5 . juli 1 963, dem er Exzerpte aus einem Auf­
satz Manns »Über Antisemitismus« (in: Geschichte und Geschich­
ten, Frankfurt a. M. 1 96 1 , S. r 69-20r ) beifügte: Hier schicke ich Ihnen,
wie vereinbart, die Stellen aus den Werken von Golo Mann. Selbstver­
ständlich belasten ihn die über die judenfreie Bonner Republik mehr als die
Beschimpfungen, die ergegen mich richtet und deren Substanz den Vorwuif
bildet, daß ein Theoretiker ein Theoretiker ist. Betonen möchte ich, daß es
bei diesen Dingen nicht sich um meine persönliche Empfindlichkeit handelt
sondern um den unsäglichen Anti-Intellektualismus, der sich da bekundet.

12. Zu diesem Begriff notiert Adorno in den handschriftlichen


Stichworten: Je ungewisser die Praxis, desto heftiger danach gegriffen.
Die immer wiederkehrende Klage: was sollen wir aber tun. Der]oiner with
a cause. (Vo 8799)

I J . Bei Fichte wörtlich nicht ermittelt; möglicherweise eine Kon­


traktion von Fichtes moralphilosophischer Position mit Friedrich
Theodor Vischers Satz: »Das Moralische versteht sich immer von
selbst« , in: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft, Stuttgart 1 879,
jetzt mit einem Nachwort von Otto Borst, Frankfurt a. M. 1 987,
S. 25.

!4-· Adorno spielt hier auf Freuds Formel der Kulturarbeit an: »Wo
Es war, soll Ich werden« (Sigmund Freud, Neue Vorlesungen zur
Einführung in die Psychoanalyse, in: Studienausgabe, hrsg. von
Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey,
Frankfurt a. M. 1982, Bd. I, S. 5 r 6) . Vgl. zur Konzeption der Moral
auch: >>Das Ich und das Es<< : »Vom Standpunkt der Triebeinschrän-
268
kung, der Moralität, kann man sagen: Das Es ist ganz unmoralisch,
das Ich ist bemüht, moralisch zu sein, das Über-Ich kann hypermo­
ralisch und dann so grausam werden wie nur das Es. « (A. a. 0.,
Bd. III, S. 3 20)

1 5. Diese Überlegungen prägen Adornos spätere Kritik an der Stu­


dentenbewegung, vgl. Marginalien zu Theorie und Praxis, in: GS
10 ·2, S. 759-782 und Resignation, a. a. 0., S. 794-799.

1 6. S. die 1 5 . Vorlesung vom 1 8 . Juli und die 1 6. Vorlesung vom 23 .


Juli 1963.

1 7. In der Vorlesung Probleme der Moralphilosophie im WS 1956/57


hat Adorno den Namen im seihen Zusammenhang noch genannt
(vgl. Vo 1 307), und er notiert ihn auch in den handschriftlichen No­
tizen zur 1 . Vorlesung vom 7· Mai 1963 (vgl. Vo 8799). Es handelt
sich um den Rechtsanwalt und späteren Richter am Bundesverfas­
sungsgericht Fabian von Schlabrendorff (1907-1980), der Ordon­
nanzoffizier beim Chef des Stabes der li. Armee war und auf Grund
seiner Zugehörigkeit zur Bewegung des 20. Juli im August 1 944
verhaftet, im März 1945 aber freigesprochen wurde.

1 8 . Adorno bezieht sich wahrscheinlich aufeine von Gustav Schwab


überlieferte lakonische Sentenz Hölderlins, die sich im Bd. 4.1 der
Großen Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe, hrsg. von Friedrich Beiß­
ner, Stuttgart 1 96 1 , findet: »Daß der Mensch in der Welt eine höhere
moralische Geltenheit hat, ist durch Behauptenheiten der Moralität
anerkennbar und aus vielem sichtbar. « (A. a. 0., S. 293) Vgl. zur
Entwicklung von Hölderlins Moral-Kritik vor allem den Brief an
seinen Halbbruder Kar! Gock vom 1 . Januar 1799 (Bd. 6 . 1 , a. a. 0.
1954, S. 326-332) und: Entwürfe zur Poetik. Frankfurter Hölderlin­
Ausgabe Bd. 14, hrsg. von Wolfram Groddeck und Dietrich E. Satt­
ler, Frankfurt a. M. 1979, S. 48.

19. In Adornos älterer Vorlesung über Probleme der Moralphilosophie


heißt es: Der Begriff der Ethik ist viel beliebter als Moralphilosophie. Er
klingt nicht so rigoristisch, scheint einen höheren, humaneren Sinn zu ha­
ben, er soll nicht einfach die Handlungen der Menschen der Zufälligkeit
überlassen, sondern verspricht so etwas wie eine bestimmte Sphäre der All­
gemeinheit, an der sich das Verhalten der Menschen messen läßt. Ethik ist
269
das schlechte Gewissen, das Gewissen über sich selber. Es ist der Versuch,
über Gewissen zu reden, ohne an dessen Zwang zu appellieren . (Vorle­
sung vom 8. November 1956, Vo 1 295)

19a. Vgl. Heraklit, Fragment I 19.

2. VoRLESUNG

20. Adornos Referat weicht von Büchners Text ab, ohne daß die
These vom tautologischen Charakter der Moralität des Haupt­
manns zu modifizieren wäre. Ausgangspunkt der moralischen Zu­
rechtweisung Woyzecks durch den Hauptmann ist die Hast, mit
der er seiner Frisiertätigkeit nachgeht: >>Er sieht immer so verhetzt
aus! Ein guter Mensch tut das nicht« . Daß der Hauptmann ihm
suggerieren kann: der Wind käme aus » Süd-Nord« , ist dann der
Anlaß zu einem zweiten Vorwurf: »Er ist dumm, ganz abscheulich
dumm!<< und der widersprüchlichen Vorstellung: » Woyzeck, Er ist
ein guter Mensch - aber [ . . . ] Woyzeck, Er hat keine Moral! Moral,
das ist, wenn man moralisch ist, versteht Er. Es ist ein gutes Wort.
Er hat ein Kind, ohne den Segen der Kirche [ . . . ] . << (Georg Büch­
ner, Woyzcck, hrsg. v. Otto C. A. zur Nedden, Stuttgart 1 993 , S. 4)

2 1 . Der dritte Teil von Nietzsches »Zur Genealogie der Moral<< the­
matisiert die »asketischen Ideale<< der Philosophie. (Vgl. Sämtliche
Werke Bd. 5, a. a. 0 . , S. 3 3 9 ff.)

22. Im Jargon der Eigentlichkeif kritisiert Adorno diese Identifikation


von >Sein< und >Persönlichkeit< als Kern der Philosophie Heideggers
(vgl. GS 6, S. 488-490).

2 3 . Vgl . W VII, S. 209f. Die Schrift »Die Religion innerhalb der


Grenzen der bloßen Vernunft<< definiert �>Persönlichkeit<< >als Element
der Bestimmung des Menschen<: »als eines vernünftigen und zu­
gleich der Zumhnungfiihigen Wesens. << (W VIII, S. 673)

24. Vgl. zu diesem Zusammenhang Fichte, Einige Vorlesungen


über die Bestimmung des Gelehrten, Fünfte Vorlesung. Prüfung der
Rousseauschen Behauptungen über den Einfluss der Künste und
Wissenschaften auf das Wohl der Menschheit, in: Johann Gottlieb
Fichte, Sämmtliche Werke, hrsg. von I . H. Fichte, Werke Bd. 6:
270
Dritte Abtheilung. Populärphilosophische Schriften, Erster Band:
Zur Politik und Moral, Leipzig o.J., S. 3 3 5-346.

25. So tituliert Nietzsche Schiller als einen seiner » Unmöglichen« in


den »Streifzügen eines Unzeitgemäßen« aus der » Götzendämme­
rung« (vgl. Sämtliche Werke Bd. 6, a. a. 0., S. 1 1 7).

26. Georg Wilhelm Friedrich Hege!, Werke. Auf der Grundlage der
Werke von 1 832-1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Maiden­
hauer und Kar! Markus Michel, Bd. T Grundlinien der Philosophie
des Rechts, Frankfurt a. M. 1969, S. 28.

27. Die Vorlesung aus dem WS 1956/57 geht auf die Sokratische und
Platonische Moralphilosophie vom 1 1 . Dezember 1956 bis zum 10.
Januar 1957 ausführlich ein. Für Adorno prägt - in Anschluß an He­
gel und Nietzsche - das griechische Denken seit der Sophistik eine
grundsätzlich praktische Richtung und die Reflexion aufdas Subjekt (vgl.
Vo 1 345). Wie die Platonische so rührt einejede moralische Ideenlehre
[. . . ] eigentlich daher, daß im Sinne der subjektiven Vernunft - der wie
immer auch weitherzigen und auf die Gattung bezogenen Vernunft, der
Eifullung der Begierden und Bedüifnisse desje Einzelnen - die Gleichung
zwischen der momentanen Versagung und der zukünftigen Eifüllung nicht
aufgeht. In diesem Sinn ist die objektive Vernunft der Moral ein aporeti­
scher Begriff. Die Platonische ist damit eigentlich das Schema aller späteren
Moralphilosophie. (Vo 1 3 73 f.) Vgl. zum >restaurativen Charakter<
und zum Streit mit den Sophisten die Vorlesung vom 10. Januar
I95T In der starren Antithese der intelligiblen und der empirischen Welt
[. . . ] steckt selber immer zugleich auch ein Stück Resignation und Konfor­
mismus drin. Man läßt gewissermaßen Gott einen guten Mann sein oder die
Ideen in ihrem Ideenhimmel hängen. Denn es bestehtfür ein solches Denken
immer zugleich auch die Frage, wie - einfach ausgedrückt - die Idee wirk­
lich werden kann. (Vo 1 3 89 f.)

28. Scheler, a. a. 0., S. 3 2 1 . Vgl. zu Steinthai ebd., Anm. 2.

29. Vgl. William Graham Sumner, Folkways. A Study on the Socio­


logical lmportance of Usages, Manners, Customs, Mores and Mo­
rals, Boston 1906. Vgl. auch Adornos Einleitung in die Soziologie,
NaS IV/ 1 5 , S. 6s.
30. Vgl. ebd. f.; Emile Durkheims Beiträge zur Theorie des Morali­
schen sind in dem Sammelband >> Soziologie und Philosophie«,
Frankfurt a.M. 1967, zusammengefaßt, zu dem Adorno eine Einlei­
tung geschrieben hat Uetzt: GS 8, S. 245-279).

3 1 . Vgl. W VII, S. So.

3 · VORLESUNG

32. Der Arzt Paul Lüth (192 1-1986) schildert in >>Nächte in Alexan­
dria. Roman einer Ägyptenreise«, Düsseldorf, Köln 1963, S. 2 1 5 bis
2 1 8 einen Besuch der Vorlesung Philosophische Terminologie im WS
1962/63. Lüth schreibt dazu am 1 3 . Mai 1963 an Adorno, der Roman
versuche >>Denken und Fühlen heute studierender Jugend >abzubil­
den<.« Adorno antwortet Lüth am 20. Mai 1 963: Ich habe in der Vorle­
sung, die sich unmittelbar an meine Lektüre anschloß, Gelegenheit genom­
men, auf das von Ihnen Gesagte Bezug zu nehmen und den Studenten
einiges über das Problem des nicht mitschreiben Könnens und ähnliches zu
sagen, und ich glaube, daß es eine recht gute Wirkung auf das Auditorium
hatte. Sie sehen also, was bei Ihnen aus der Empirie kommt, hat rasch zur
Empirie zurückgtifunden.

3 3 · Vgl. Kant, Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in


dem Winterhalbenjahre von 1 765-1766, in: W II, S. 908, sowie
W IV, S. 699, B 865/A 837-

34· Adorno bezieht sich noch einmal auf den Roman von Lüth
(s. Anm. 3 2), der das studentische >Getuschel< vor der Vorlesung er­
wähnt (vgl. a. a. O., S. 2 1 5 f.) und dem eine >trübe< Bestimmung
von Dialektik entgegensetzt: >>Dunkelheit und Verschlossenheit des
Anfangs, daraus das Strömen und Widerspiegeln, die Dialektik der
Gegensätze, die endliche Auflösung der Widersprüche in einem
neuen Abgrund, der nächtlich aufnimmt und wieder Anfang ist«
(S. 2 1 7). Lüth hat sich zur Vorlesung über Philosophische Terminolo­
gie abschließend geäußert in: Brief aus einer Landpraxis, in: Theodor
W. Adorno zum Gedächtnis. Eine Sammlung, hrsg. von Hermann
Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1 97 1 , S. r r6-1 2 3 .

272
3 5 . Wörtlich nicht ermittelt; Adorno wird an folgende Formulie­
rung aus der »Götzendämmerung« gedacht haben: »Ich misstraue
allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum
System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit. « (Nietzsche, Sämtliche
Werke Bd. 6, a. a. 0., S. 63)

36. Vgl. Max Horkheimer, Fragen des Hochschulunterrichtes, in:


Gesammelte Schriften Bd. 8: Vorträge und Aufzeichnungen I949
bis I973, hrsg. von GunzeHn Schmid Noerr, Frankfurt a.M. I985,
s. 393·

37· Vgl. Der getreue Korrepetitor. Lehrschriften zur musikalischen Pra­


xis, in: GS I 5 , S. I92f

38. Vergil, Georgica IV, I76.

39. Vgl. den ersten Abschnitt des >Kanons der reinen Vernunft<,
W IV, S. 67I-676, B 825-832/ A 797-804.

40. Vgl. ebd. und die Vorlesung zu Kants >Kritik der reinen Vernunft<
vom I4. Mai I959, NaS IV/4, S. 27-29.

4 1 . Hans Cornelius, Kommentar zu Kants Kritik der reinen Ver­


nunft, Erlangen I926, S. I25.

42. W lV, S. 4I0, B 448(/A 42 1 .

4 3 · W III, S . I04, B 86/A 6 r . Den notwendigen Scheincharakter der


Dialektik - auf den es Adorno ankommt - thematisiert die Einlei­
tung der >Transzendentalen Dialektik<, die von einer »natürlichen
und unvermeidlichen Illusion<< spricht (W III, S. 3 I I, B 3 54/ A 298).
S. auch die 5. Vorlesung vom 28. Mai I963 und die Anm. 73 .

44· Die Einschätzung des dialektischen Konzeptes von Kant lallt bei
Adorno unterschiedlich aus. In der Vorlesung vom I2. Februar I957
kennzeichnet er die Antinomik als Modell dialektischer Logik: Dia­
lektik wird hier nicht gewissermaßen als ein Schema der philosophischen
Behandlung vorausgesetzt, sondern geht unmittelbar phänomenologisch in
der Sache auf, weil die Kantische Analyse daraufführt, daß ein Begriff in
seiner eigenen Konsequenz, um gelten zu können, seines eigenen Gegen-
27 3
teils bedatf (Vo 1471) Der Abschnitt Scheinproblem aus der Negativen
Dialektik stellt die bei Kant sich widersprechenden Konzeptionen
von Dialektik in ein kritisches Verhältnis: Zu riflektieren wäre über
die in Rede stehenden Gegenstände nicht derart, daß man über sie als ein
Seiendes oder ein Nichtseiendes urteilt, sondern indem man die Unmög­
lichkeit, sie dingfest zu machen, ebenso wie die Nötigung, sie zu denken,
in ihre eigene Bestimmung hineinnimmt. Im Antinomiekapitel der Kritik
der reinen und in großen Partien der Kritik der praktischen Vernunft ist
das, mit ausdrücklicher Absicht oder ohne sie, versucht {. . . ]. (GS 6,
S. 2 I I f.)

45· W IV, S. 4 1 2, B 45 I f.l A 424.

4 · VORLESUNG

46. Vgl. W III, S. 340, B 398/ A 340.

47· S. die 3 . Vorlesung vom 14. Mai 1 963 und den Nachweis in
Anm. 42.

48. Der Begriff der >>Spontaneität« wird von Kant eingeführt als
>>das Vermögen« >>die Rezeptivität der Eindrücke« begrifflich zu
vergegenständlichen (W III, S. 97, B 74/ A so). In der zweiten Auf­
lage präzisiert er: >>Diejenige Vorstellung, die vor allem Denken ge­
geben sein kann, heißt Anschauung. Also hat alles Mannigfaltige der
Anschauung eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke, in dem­
selben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird. Diese
Vorstellung aber ist ein Actus der Spontaneität, d.i. sie kann nicht als
zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden. Ich nenne sie die reine
Apperzeption, um sie von der empirischen zu unterscheiden, oder auch
die ursprüngliche Apperzeption, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein
ist, was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle
andere muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und das­
selbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann. Ich nenne auch
die Einheit derselben die transzendentale Einheit des Selbstbewußt­
seins, um die Möglichkeit der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeich­
nen.« (W III, S. 1 3 6, B 1 3 2) Die Thesis der dritten Antinomie, um
die es Adorno hier geht, bezeichnet die >>transzendentale Freiheit« als
>>eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinun-
274
gen, die nach Gesetzen läuft, von selbst anzufangen, [ . . . ].<< (W IV,
S. 428, B 474/A 446)

49. W IV, S. 426/428, B 472/ A 444·

so. W IV, S . 428, B 472/A 444·

5 1 . Ebd.

52. Ebd.

53· Ebd., B 472-474/A 444-446.

54· Ebd., B 474/A 446.

5 5 · Vgl. die >zweite Analogie der Erfahrung<, W III, S. 226-242,


B zp-256/A I 89-2 1 1 .

56. W IV, S . 428, B 474/ A 446.

57· Ebd.

58. Ebd.

59. An einer späteren Stelle bei Kant heißt es zu diesem Problem:


>>Dieses handelnde Subjekt würde nun, nach seinem intelligibelen
Charakter, unter keinen Zeitbedingungen stehen [ . . . ]. Mit einem
Worte, die Kausalität desselben, so fern sie intellektuell ist, stände
gar nicht in der Reihe empirischer Bedingungen, welche die Bege­
benheiten in der Sinnenwelt notwendig machen. Dieser intelligibele
Charakter könnte zwar niemals unmittelbar gekannt werden, weil
wir nichts wahrnehmen können, als so fern es erscheint, aber er
würde doch dem empirischen Charakter gemäß gedacht werden
müssen [ . . . ].« (W IV, S. 493, B 567f.l A 539f.)

60. »-gängig empirisch bestimmt<< konjiziert. Die Vorlage markiert


eine Auslassung: durch . . ist.
.

6 1 . Vgl. W IV, S. 623-626, B 755-760/ A 727-732.

275
62. S. die Nachweise in Anm. 48.

63. W IV, S. 427, B 473/A 445·

64. W IV, S. 429, B 473/A 445·

65. Ebd.

66. Ebd.

67. Ebd., B 473-475/ A 445-447.

68. Vgl. bei Aristoteles, Metaphysica, XII,8. 1 073 a; De Anima,


Ill, IO. 43 3 b; Physica, VIII,5. 256b, 1 3-25 .

69. W IV, S. 429, B 475/A 447·

70. W IV, S. 429/43 1 , B 475/A 447·

5· VORLESUNG

7 1 . Die Vorlesungen am 2 1 . Mai und am 23. Mai 1 963 fielen wegen


einer Erkrankung Adornos aus.

72. Adorno spielt auf Joachim Schumacher, Die Angst vor dem
Chaos. Über die falsche Apokalypse des Bürgertums, Paris 1937,
2. Aufl., Frankfurt a. M. 1978, an.

73 · Kants » Auflösung der kosmologischen Ideen« versteht die Not­


wendigkeit der Antinomien als eine des Scheins und nicht als eine
der Sachen selbst (vgl. W IV, S. 488-506, B 56o-586/A 532-558).
Auf diesen Aspekt geht Adorno in der Negativen Dialektik ein: Kant
hat die transzendentale Dialektik eine Logik des Scheins genannt: die Lehre
von den Widersprüchen, in die jegliche Behandlung von Transzendentem
als einem positiv Erkennbaren zwangsläufig sich verwickle. Sein Verdikt
ist nicht überholt von Hegels Anstrengung, die Logik des Scheins als die der
Wahrheit zu vindizieren. Aber mit dem Verdikt über den Schein bricht die
Riflexion nicht ab. Seiner selbst bewußt, ist er nicht mehr der alte. Wtls von
endlichen Wesen über Transzendenz gesagt wird, ist deren Schein, jedoch,
wie Kant wohl gewahrte, ein notwendiger. Daher hat die Rettung des
276
Scheins, Gegenstand der Ästhetik, ihre unvergleichliche metaphysische Re­
levanz. (GS 6, S. 3 8 5 f.)

74· Vgl. zur Unterscheidung des Positivismus von Kant Adornos


Zur Logik der Sozialwissenschaften: Was er [sei/. Kant} gegen wissen­
schaftliche Urteile über Gott, Freiheit und Unsterblichkeit vorbrachte, op­
ponierte einem Zustand, in dem man diese Ideen, nachdem sie ihre theologi­
sche Verbindlichkeit eingebüßt hatten, durch Subreptionfür die Rationalität
zu erretten trachtete. Jener Kantische Terminus, Erschleichung, trifft im
Denkfehler die apologetische Lüge. Kritizismus war militante Aujklärung.
Kritische Gesinnungjedoch, welche vor der Realität haltmacht und sich bei
der Arbeit an sich selbst bescheidet, wäre als Aujklärung demgegenüber
schwerlich fortgeschritten. (GS 8, S. 557) In der Negativen Dialektik
heißt es hierzu: Antipositivistisch war Kants Geständnis, daß die Ver­
nunft notwendig in jene Antinomien sich verwickle, die er dann mit Ver­
nunft auflöst. Dennoch verschmäht er nicht den positivistischen Trost, daß
man in dem schmalen Bereich, den die Kritik des Vermögens der Vernunft
dieser übriglasse, sich einrichten könne, zufrieden mit dem festen Boden
unter den Füßen. Er stimmt ein in die eminent bürgerliche Bejahung der
eigenen Enge. (GS 6, S. 375)

75. Adorno bezieht sich auf das Kapitel »Von dem letzten Zwecke
des reinen Gebrauchs unserer Vernunft« aus der >Methodenlehre<
(W IV, S. 67I-676, B 825-832/ A 797-804), das er in der 6. Vorlesung
vom 30. Mai I963 ausführlich behandelt.

76. Bei Kant heißt es wörtlich: » Der logische Schein, der in der blo­
ßen Nachahmung der Vernunftform besteht (der Schein der Trug­
schlüsse), entspringt lediglich aus einem Mangel der Achtsamkeit
auf die logische Regel. << (W III, S. 3 IO, B 3 5 3 /A 296)

77. Vgl. zu Hegels Interpretation der Kantischen Antinomik in der


» Wissenschaft der Logik«, Werke Bd. 5, a. a. 0., S. 2I7 u. 275 f.

78. Vgl. zu Kants Einschätzung des Satzes vom Widerspruch W III,


S. I96, B I90I A I 5 I, sowie zur Entgegenstellung von Kant und He­
gel Adornos Drei Studien zu Hege/: Bei diesem [sei/. Kant] hatte Philo­
sophie Kritik der Vernunft betrieben; ein gewissermaßen naives wissen­
schaftliches Bewußtsein, Feststellung nach Regeln der Logik, in heutigem
Sprachgebrauch "Phänomenologie« war aufdas Bewußtsein als Bedingung
277
der Erkenntnis angewandt worden. Das von Kant nicht bedachte Verhältnis
zwischen beiden, dem philosophischen, kritisierenden Bewußtsein und dem
kritisierten, unmittelbar Gegenstände erkennenden nun wird bei Hege!
selbst thematisch, reflektiert. Dabei wird das Bewußtsein als Objekt, als
philosophisch zu erfassendes, zu jenem Endlichen, Begrenzten und Unzu­
länglichen, als das es tendenziell schon bei Kant konzipiert war, der dem
Bewußtsein um solcher Endlichkeit willen verwehrte, in intelligible Welten
auszuschweifen. (GS Bd. 5 , S. 3 ro)

79. In der Vorlage heißt es: ein zweites Freien gesucht.

8o. In der Negativen Dialektik schreibt Adorno: Die Begründung der


Thesis der dritten Antinomie, der von der absoluten Spontaneität der Ursa­
che, Säkularisierung desfreien göttlichen Schöpfungsaktes, ist Cartesiani­
schen Stils; sie soll gelten, damit der Methodegenügt werde. Vollständigkeit
der Erkenntnis etabliert sich als erkenntnistheoretisches Kriterium; ohne
Freiheit sei >>selbst im Laufe der Natur die Reihenfolge der Erscheinungen
aufder Seite der Ursachen niemals vollständig«. (GS 6, S. 247; das Kant­
Zitat W IV, S. 428, B 474/A 446)

8 r . Vgl. bei Kant: »Die Bestätigung von dem Bedürfnis der Ver­
nunft, in der Reihe der Naturursachen sich auf einen ersten Anfang
aus Freiheit zu berufen, leuchtet daran sehr klar in die Augen: daß (die
epikurische Schule ausgenommen) alle Philosophen des Altertums
sich gedrungen sahen, zur Erklärung der Weltbewegungen einen
ersten Beweger anzunehmen [ . . . ].« (W IV, S. 432, B 478/A 450)

82. In den Drei Studien zu Hege! markiert Adorno an diesem Motiv


die Unaufgelöstheit des Widerspruchs in der Hegeischen Dialektik:
Recht verstanden, ist die Wahl des Ausgangspunktes, desje Ersten,für die
Hegeische Philosophie gleichgültig; sie erkennt ein solches Erstes alsfestes
und im Fortgang des Denkens unverändert sich selbst gleichbleibendes Prin­
zip nicht an. [. . . ] Aber der Idealismus wird dennoch nicht verlassen. Die
absolute Stringenz und Geschlossenheit des Denkverlaufs, die er [sei!. He­
gelJ mit Fichte gegen Kant anstrebt, statuiert als solche bereits die Priorität
des Geistes, auch wenn aufjeder Stufe das Subjekt ebenso als Objekt sich
bestimmt wie umgekehrt das Objekt als Subjekt. (GS 5, S. 26 r)

83. Ernst Cassirer, Zur Einstein'schen Relativitätstheorie. Erkennt­


nistheoretische Betrachtungen, Berlin 1920, versteht Kants Philo-
278
sophie, anders als Hermann Cohen, nicht als »philosophische Sy­
stematik der Newton'schen Naturwissenschaft« (S. 1 2), sondern
hebt ihren prinzipiell methodischen Charakter, ihren den Dingen
gegenüber kritischen >Maßbegriff< heraus, der seinerseits noch der
Relativitätstheorie zugrundeliegen soll. (Vgl. S. 7-25) Cassirers
»Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik. Hi­
storische und systematische Studien zum Kausalproblem«, Göte­
borg 1 93 7, stellt die Bedeutung dieses kritischen Sinns des Kausali­
tätsbegriffs für die moralphilosophische Fragestellung im Sinne von
Kants Antinomienlehre heraus: » Wenn man den >Determinismus<
im metaphysischen, statt im kritischen Sinne versteht, [ . . . ] hört die
Kausalität auf, ein Prinzip der physikalischen Erkenntnis zu sein;
[ . . . ] sie wird ein metaphysisches Fatum«. (S. 260) Beide Schriften
jetzt in: Cassirer, Zur modernen Physik, Darmstadt 1957.

84. S. die 4· Vorlesung vom 1 6. Mai 1963 und den Nachweis in der
Anm. 5o.

85. Vgl. W III, S. 29 1-299, B 324-336/ A 268-280.

86. Vgl. GS 6, S. 262 f.

87. Anders als Hume, für den das erkennende Subjekt »nicht anders
als so [sei!. kausal] verknüpft denken kann« und dem »alle unsere
Einsicht, durch vermeinte objektive Gültigkeit unserer Urteile,
nichts als lauter Schein« ist, insistiert Kant auf der Notwendigkeit
der kausalen Verknüpfung (vgl. W III, S. 1 59, B 1 68). In diesem
Sinn hebt Adorno Kant später vom Empirismus Humes und vom
Positivismus ab; s. die 10. Vorlesung vom 2. juli 1963, S. 1 59.

88. Vgl. Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der


Moral, in: Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden, Text nach der
historisch-kritischen Ausgabe von Arthur Hübscher. Editorische
Materialien von Angelika Hübscher, Redaktion: Claudia Schmöl­
ders, Fritz Senn und Gerd Haffmans, Zürich 1 977, Bd. 6: Kleinere
Schriften II, § 1 6 (S. 244-25 1).

89. Vgl. Adornos Kritik an der Begründung von Kausalität durch ihre
unmittelbare Selbsteifahrung in der Motivation, in: GS 6, S. 266.

279
90. Vgl. in der Anmerkung zur Thesis der dritten Antinomie: »Wir
reden hier nicht vom absolut ersten Anfange der Zeit nach, sondern
der Kausalität nach. Wenn ich jetzt (zum Beispiel) völlig frei, und
ohne den notwendig bestimmenden Einfluß der Naturursachen,
von meinem Stuhle aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit, [ . . . )
eine neue Reihe schlechthin an [ . . . ) . « (W IV, S. 432, B 478/A 450)

9 1 . Adorno beginnt den Satz zunächst: Und dasganze Freiheitsproblem


bei Kant scheint nun, ohne daran grammatikalisch wieder anzuschlie­
ßen.

92. Vgl. bei Kant: »So sind alle Handlungen des Menschen in der
Erscheinung aus einem empirischen Charakter und den mitwirken­
den anderen Ursachen nach der Ordnung der Natur bestimmt, und
wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkür bis auf den Grund erfor­
schen könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung
geben, die wir nicht mit Gewißheit vorhersagen und aus ihren vor­
hergehenden Bedingungen als notwendig erkennen könnten. «
(W IV, S. 500, B 577 f.!A 549f.)

93 . Vgl. Kants Unterscheidung des »empirischen« und des »intelli­


gibelen Charakters« (W IV, S. 493, B 567/A 539).

94. Vgl. in diesem Sinne die Konzeption des Kapitels Freiheit in der
Negativen Dialektik, dessen Titel zunächst Determinismus (vgl. Ts
1 5 1 36) lautete: Würde Kausalität als eine - wie immer auch subjektiv
vermittelte - Bestimmung der Sachen selbst aufgesucht, so öffnete sich in
solcher Spezifikation, gegenüber dem unterschiedslosen Einen reiner Sub­
jektivität, die Perspektive von Freiheit. Sie gälte dem von Zwang Unter­
schiedenen. Dann wäre der Zwang nicht länger gepriesen als Tathandlung
des Subjekts, nicht länger seine Totalität bejaht. Er büßte die apriorische
Gewalt ein, die aus dem realen Zwang extrapoliert ward. je objektiver die
Kausalität, desto griljler die Möglichkeit von Freiheit; nicht zuletzt darum
muß, wer Freiheit will, auf der Notwendigkeit insistieren. (GS 6, S. 247)

6. VORLESUNG

95. Das Europa-Gespräch in Wien fand vom I 1 .- 1 5 . Juni 1963 unter


dem Thema: »Die Europäische Großstadt - Licht und Irrlicht« statt.
280
Adorno nahm am I I . Juni an einer Podiumsdiskussion zum Thema
der Veranstaltung teil und hielt am I2.Juni den Vortrag » Laienkunst
- organisierte Banausie?«, an den sich eine weitere Diskussion an­
schloß. Vgl. die Wiedergabe der Gesprächsbeiträge und des impro­
visierten Vortrags, in: Wiener Schriften, hrsg. vom Amt für Kultur,
Volksbildung und Schulverwaltung der Stadt Wien, Heft 20: Eu­
ropa-Gespräch I963 . Die Europäische Gross-Stadt. Licht und Irr­
licht, Wien I964, S. 39-7I und S. 88-99.

96. Die Vorlesungstermine vom 6. Juni und 8. Juni I963 fielen in die
Pfingstferien.

97. Adorno hält gegenüber der Dominanz der verstandesgemäßen


Naturkausalität Kants Unterscheidung von >mathematischer und
dynamischer Synthesis< (W IV, S. 486, B 5 57/ A 529), nach der >>das
Durchgängigbedingte der dynamischen Reihen, welches von ihnen
als Erscheinungen unzertrennlich ist, mit der zwar empirischunbe­
dingten, aber auch nichtsinnlichen Bedingung verknüpft, dem Ver­
stande einer Seits und der Vernunft anderer Seits Genüge leisten und,
[ . . . ] die Vernunftsätze alle beide wahr sein können; [ . . . ]« (W IV,
S. 487 f., B 5 59 (/A 5 3 1 f) für zu schwach.

98. Vgl. W IV, S. 675 , B 830/A 8oz: >>Die praktische Freiheit kann
durch Erfahrung bewiesen werden. « Vgl. auch die >>Kritik der prak­
tischen Vernunft« (W VII, S. I08) und den § 9I der >>Kritik der Ur­
teilskraft«: >>Was aber sehr merkwürdig ist, so findet sich sogar eine
Vernunftidee (die an sich keiner Darstellung in der Anschauung,
mithin auch keines theoretischen Beweises ihrer Möglichkeit, fähig
ist) unter den Tatsachen; und das ist die Idee der Freiheit, deren Reali­
tät als einer besonderen Art von Kausalität ( . . . ] sich durch prakti­
sche Gesetze der reinen Vernunft, und, diesen gemäß, in wirklichen
Handlungen, mithin in der Erfahrung, dartun läßt.« (W X, S. 599)

99. Adorno rekapituliert hier den Grundgedanken des zweiten Ex­


kurses der Dialektik der Aujklärung, zu dem es in der Vorrede heißt:
Er {scil. Kant} zeigt, wie die Unterweifung alles Natürlichen unter das
selbstherrliche Subjekt zuletzt gerade in der Herrschaft des blind Objekti­
ven, Natürlichen gipfelt. (GS 3, S. I6)

28I
100. S. die 4. Vorlesung vom 1 6. Mai 1 963 und den Nachweis in
Anm. 70.

I O I . Adorno bezieht sich aufHölderlins Vorstellung eines »Einen in

sich Unterschiedenen« (vgl. Hyperion, I . Band, 2. Buch, Große


Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe Bd. 3 , a. a. 0. 1 957, S. S r ) die in die
Sentenz » Wurzel alles Übels« eingegangen ist: » Einig zu sein, ist
göttlich und gut; woher die Sucht denn I Unter den Menschen, daß
nur Einer und Eines nur sei?« (A. a. 0., Bd. I, S. 302) In seinem
parallel zur Vorlesung fertiggestellten, am 7· Juni 1963 in Berlin ge­
haltenen Hölderlin-Vortrag Parataxis schreibt Adorno: Die paratak­
tische Auflehnung wider die Synthesis hat ihre Grenze an der synthetischen
Funktion von Sprache überhaupt. Visiert ist Synthesis von anderem Ty­
pus, deren sprachkritische Selbstreflexion, während die Sprache Synthesis
doch festhält. Deren Einheit zu brechen, wäre dieselbe Gewalttat, welche
die Einheit verübt; aber die Gestalt der Einheit wird von Hölderlin so abge­
wandelt, daß nicht bloß das Mannigfaltige in ihr widerscheint {. . . ], son­
dern daß die Einheit selber anzeigt, sie wisse sich als nicht abschlußhajt.
Ohne Einheit wäre in der Sprache nichts als diffuse Natur; absolute Einheit
war der Reflex darauf (GS I I, S. 476f.)

w2. Vgl. W IV, S. 671 f., B 825 UA 797f. Eingeführt wird der Be­
griff der Spekulation W IV, S. 5 5 8 , B 662/ A 634.

!03 . w IV, S. 67I, B 825/A 797·

I04. Vgl. zum Begriff des >Kantischen Blocks< Adornos siebte Medi­
tation zur Metaphysik: Begierde des Rettens und Block (GS 6, S. 377 bis
3 82).

105. w IV, S. 672, B 825/ A 797·

w6. Ebd., B 825 UA 797f

w7. Ebd., B 826/A 798.

I08. Nietzsches Vers aus >>Also sprach Zarathustra<<, Sämtliche


Werke, a. a. 0., Bd. 4, S. 286, zitiert Adorno auch in der Negativen
Dialektik im kritischen Bezug auf die populären Tendenzen moder­
ner Philosophie: Nicht nur die Lust, die, nach Nietzsches erleuchtetem
282
Wort, Ewigkeit will, sträubt sich gegen Vergängnis. Wäre der Tod jenes
Absolute, das die Philosophie positiv vergebens beschwor, so ist alles über­
haupt nichts, auch jeder Gedanke ins Leere gedacht, keiner läßt mit Wahr­
heit irgend sich denken. (GS 6, S. 364)

I09. W IV, S. 672, B 826/A 798.

I IO. Ebd.

I I I. Vgl. zu dieser Formulierung Goethe, Faust I, I. Akt, Vor dem


Tor, V. 860-864: >>Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- und Feier­
tagen I Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, I Wenn
hinten, weit, in der Türkei, I Die Völker auf einander schlagen.«

I 12. W IV, S. 672, B 826lA 798. Da Adorno das Zitat abbricht und
nicht wie im Kautischen Text sagt: daß >darauf weder in Ansehung
der Erscheinungen dieses Lebens, als einen Erklärungsgrund, noch
auf die besondere Beschaffenheit des künftigen Zustandes Rech­
nung gemacht werden kann< (vgl. ebd., B 826f./A 798 f), ist der
Wortlaut in >>daraus« geändert worden und das bei Adorno ohne
Anschluß bleibende weder weggelassen worden.

I I 3 . Vgl. W IV, S. 673, B 827IA 799.

r r 4· Im Wortlaut nicht ermittelt; vgl. der Sache nach: Christian

Wolff, Gesammelte Werke, I. Abteilung: Deutsche Schriften Band


7 = Vernünftige Gedanken (Deutsche Teleologie), hrsg. von Hans
Werner Arndt, Hildesheim, New York 1980, § 3 3 (S. so), § 70
(S. ro6) und § 98 (S. I6I).

I r s . W IV, S. 673 , B 827f./A 799f.

r r 6. Vgl. W IV, S. 694, B 857/A 829: >>Der Glaube an einen Gott


und eine andere Welt ist mit meiner moralischen Gesinnung so ver­
webt, daß, so wenig ich Gefahr laufe, die erstere einzubüßen, eben
so wenig besorge ich, daß mir der zweite jemals entrissen werden
könne.«
7. VoRLESUNG

I I 7. S. die 6. Vorlesung vom 30. Mai I 963 und die Anm. 95.

I I8. »Die Sittlichkeit an sich selbst macht ein System aus, aber nicht
die Glückseligkeit, außer, so fern sie der Moralität genau angemes­
sen ausgeteilet ist. Dieses aber ist nur möglich in der intelligibelen
Welt, unter einem weisen Urheber und Regierer. Einen solchen,
samt dem Leben in einer solchen Welt, die wir als eine künftige anse­
hen müssen, sieht sich die Vernunft genötigt anzunehmen, oder die
moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der
notwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen ver­
knüpft, ohne jene Voraussetzung wegfallen müßte.« (W IV, S. 68 I ,
B 839/A 8 I I)

I I9. S. zu dieser Formulierung die I 5 . Vorlesung vom I 8. Juli I963


und die Anm. 220.

I 2o. W IV, S. 673, B 828/ A 8oo.

I 2 I . S. Anm. So.

I22. W IV, S. 673, B 827f./ A 799 f. Bei Kant heißt es: »angehen
müssen. «

I 2 3 . Vgl. W IV, S. 675, B 8 3 0/A 802.

I 24. Vgl. zur Gegebenheit des Sittengesetzes den zweiten Abschnitt


der »Grundlegung«, W VII, S. 3 3 ff.

I25. Vgl. Rene Descartes, Meditationen über die Grundlagen der


Philosophie, Auf Grund der Ausgabe von Artur Buchenau neu her­
ausgegeben von Lüder Gäbe, durchgesehen von Hans Günter Zekl,
Harnburg I 976, die 4· Meditation: » Über Wahrheit und Falschheit«
und die 5. Meditation: » Über das Wesen der materiellen Dinge und
nochmals über das Dasein Gottes« , S. 48-64.

I26. Vgl. die Formeln des kategorischen Imperativs in der »Grund­


legung« und in der >>Kritik der praktischen Vernunft« (W VII, S. S I
u . s . I40).
1 27. In der Negativen Dialektik schreibt Adorno: Unwiderstehlich an
der Musik desjungen Beethoven der Ausdruck der Möglichkeit, alles könne
gut werden. Die sei's noch so fragile Versöhntheil mit der Objektivität
transzendiert das Immergleiche. Die Augenblicke, in denen ein Partikulares
sich befreit, ohne selbst schon wieder durch die eigene Partikularität anderes
einzuengen, sind Antezipationen des Unbeengten selbst; solcher Trost
strahlt vomfrüheren Bürgertum bis in sein spätes Zeitalter. (GS 6, S. 301)

1 28 . Wilhelm Sturmfels ( r 887-1967) lehrte nach seiner Dissertation


über » Recht und Ethik in ihrem gegenseitigen Verhältnis« (Gießen
1 9 1 2) von 1921-1933 an der Akademie der Arbeit, einer der Univer­
sität Frankfurt angeschlossenen Hochschule rur Arbeiterbildung,
und habilitierte sich 1 932 als Professor rur Philosophie. Er übte seine
Lehrtätigkeit bis 1933 aus und kehrte 1946 an die Philosophische
Fakultät zurück, wo er bis 1 967 als Honorar-, zuletzt als außerplan­
mäßiger Professor für Philosophie, Soziologie und Erwachsenenbil­
dung tätig war.

1 29. Vgl. Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral,


a. a. O., § 4 »Von der imperativen Form der Kautischen Ethik«
(S. 1 60-166).

8. VoRLESUNG

1 30. Vgl. zu diesem Bild auch NaS IV/4, S. 40 u. S. 5 5

1 3 1 . Vgl. W III, S. 5 4 f. , B 1 3 f.! A 9 f.

1 32. Vgl. bei Kant: »Das Bewußtsein einerfreien Unterwerfung des


Willens unter das Gesetz, doch als mit einem unvermeidlichen
Zwange, der allen Neigungen, aber nur durch eigene Vernunft ange­
tan wird, verbunden, ist nun die Achtung fürs Gesetz. [ . . . ] Die
Handlung, die nach diesem Gesetze, mit Ausschließung aller Bestim­
mungsgründe aus Neigung, objektiv praktisch ist, heißt Pflicht, wel­
che, um dieser Ausschließung willen, in ihrem Begriffe praktische
Nötigung, d.i. Bestimmung zu Handlungen, so ungerne, wie sie auch
geschehen mögen, enthält. Das Gefühl, das aus dem Bewußtsein
dieser Nötigung entspringt, ist nicht pathologisch, als ein solches,
was von einem Gegenstand der Sinne gewirkt würde, sondern allein
285
praktisch, d.i. durch eine vorhergehende (objektive) Willensbestim­
mung und Kausalität der Vernunft, möglich. « (W VII, S. 202)

1 3 3 . Vgl. Freud »Das Ich und das Es«, a. a. 0., S. 301 ( u. S. 3 I 5 bis
3 r8.

1 34. Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Stück 3 3 5 »Hoch


die Physik!«: >>Und nun rede mir nicht vom kategorischen Impera­
tiv, mein Freund! - ( . . . ] ich gedenke dabei des alten Kant, der zur
Strafe dafür, dass er >das Ding an sich< ( . . . ] sich erschlichen hatte,
vom >kategorischen Imperativ< beschlichen wurde und mit ihm im
Herzen sich wieder zu >Gott< >Seele< >Freiheit< und >Unsterblichkeit<
zurückverirrte, [ . . . ] . Wie? Du bewunderst den kategorischen Impe­
rativ in dir? Diese >Festigkeit< deines sogenannten moralischen Ur­
theils? Diese >Unbedingtheit< des Gefühls >so wie ich, müssen hierin
Alle urtheilen<? Bewundere vielmehr deine Selbstsucht darin! Und
die Blindheit, Kleinlichkeit und Anspruchslosigkeit deiner Selbst­
sucht! « (Sämtliche Werke, a. a. 0 . , Bd. 3, S. 562)

1 3 5. S. die 6. Vorlesung vom 30. Mai 1 963 und den Nachweis der
Anm . r2o.

136. W IV, S. 673 , B 828/A 8oo. Adorno setzt das Zitat zunächst
fort, bricht aber nach »in den einigen, die Glückseligkeit« mit und so
weiter ab. Vollständig heißt es: >>die Glückseligkeit, und die Zusam­
menstimmung der Mittel, um dazu zu gelangen, das ganze Geschäft
der Vernunft ausmacht, die um deswillen keine andere als pragmati­
sche Gesetze des freien Verhaltens, zu Erreichung der uns von den
Sinnen empfohlenen Zwecke, und also keine reine Gesetze, völlig
a priori bestimmt, liefern kann.«

I J 7. Ebd., S. 673 f., B 828/A 8oo.

1 3 8 . Ebd., S. 674, B 828/ A 8oo.

1 3 9 . Ebd., B 828 UA 8oo(

1 40. Adorno bezieht sich hier aufKants Konzept einer >>Moraltheo­


logie«: dem »immanentem Gebrauche, nämlich unsere Bestim­
mung hier in der Welt zu erfüllen, indem wir in das System aller
286
Zwecke passen [ . . . ].« (W IV, S. 687, B 847/A 8 I9). Sie geht aus der
Frage hervor: >>Wenn ich nun tue, was ich soll, was darf ich alsdenn
hoffen?« (W IV, S. 677, B 83 3/A 8os)

qr. Zu der im Wortlaut nicht ermittelten Formulierung, vgl.


W VII, S. 264.

142. Vgl. W IV, S. 674, B 829/ A 8oi.

!43 · Ebd., S. 675 , B 830/A 802.

I44. Ebd.

I45· Ebd.

9· VORLESUNG

I46. Es war nicht mehr zu ermitteln, warum die Vorlesung am 25.


Juni I963 ausgefallen ist.

I 47· W IV, S. 675, B 830/ A 802.

q8. Ebd.

I49. Ebd. B 83 I/ A 803 .

I SO. Adorno meint mit Kants erstem Argument >die Absicht der
Natur mit der Freiheit zu koinzidieren<; s. S. I 3 5 u. S. I 3 8 .

I 5 I . Vgl. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels,


in: Gesammelte Schriften 1 - r , hrsg. von Rolf Tiedemann und Her­
mann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. I974, S. 2 1 5 f

I 52. Kant spricht vom " Weltbegriff (conceptus cosmicus) « als Ab­
sicht der Philosophie, die >>Beziehung aller Erkenntnis auf die we­
sentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft« anzugeben (W IV,
S. 700, B 866f./A 83 8 f.). In der >>Beantwortung der Frage: Was ist
Aufklärung?« bestimmt Kant derart den >öffentlichen Gebrauch< ge­
lehrter Vernunft. (Vgl. W XI, S. 5 7)
287
I 5 3 · Vgl. zum von Natur aus bösen Menschen Kapitel III der >Reli­

gionsschrift<: >>Wenn nun ein Hang dazu in der menschlichen Natur


liegt, so ist im Menschen ein natürlicher Hang zum Bösen; und dieser
Hang selber, weil er am Ende doch in einer freien Willkür gesucht
werden muß, mithin zugerechnet werden kann, ist moralisch böse.
Dieses Böse ist radikal, weil es den Grund aller Maximen verdirbt
[ . . . ] . « (W VIII, S. 685 () Vgl. zur Diskussion dieser Stelle GS 6,
S. 2 I 7 f. und Adornos unausgeführte Entwurfsnotiz m semem
Handexemplar der Negativen Dialektik, ebd., S. 529(

I 54· Vgl. W III, S. I 36, B I 3 I . Auf dieses Zitat verweist Horkheimer


in seinen für das Theorem der Identität von Vernunft und Selbsterhal­
tung grundlegenden Ausführungen in der Dialektik der Aufklärung:
Selbsterhaltung ist das konstitutive Prinzip der Wissenschaft, die Seele der
Kategorientafel, auch wenn sie idealistisch deduziert werden soll wie bei
Kant. Selbst das Ich, die synthetische Einheit derApperzeption, die Instanz,
die Kant den höchsten Punkt nennt, an dem man dieganze Logik aufhängen
müsse, ist in Wahrheit das Produkt sowohl wie die Bedingung dermateriellen
Existenz. (GS 3 . s. I06) Vgl. ZU Hobbes ebd., ZU Spinoza S. IOS.

I S S · In der >>Grundlegung« fUhrt Kant aus: >>Dagegen, sein Leben zu


erhalten, ist Pflicht, und überdem hatjedermann dazu noch eine un­
mittelbare Neigung. Aber um deswillen hat die oft ängstliche Sorg­
falt, die der größte Teil der Menschen dafür trägt, doch keinen in­
nern Wert, und die Maxime derselben keinen moralischen Gehalt. «
(W VII, S. 23)

I 56. S. die I. Vorlesung vom 7. Mai I963, S. I 9-2 I .

I 57- Vgl. Hege!, Werke, a . a . 0 . , B d . 3 : Phänomenologie des Gei­


stes, S. 436.

I 58. Vgl. Paul Valery, Rapport sur !es prix de vertu (1934), dt.:
Bericht über die Tugend-Preise, übersetzt von Max Looser, in:
Werke. Frankfurter Ausgabe Bd. 4: Zur Philosophie und Wissen­
schaft, hrsg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a. M. I 989,
S. 220.

I 59· In der >>Morgenröthe« heißt es im I . Buch, Stück 9 >>Begriff der


Sittlichkeit der Sitte«: >>Im Verhältniss zu der Lebensweise ganzer
288
Jahrtausende der Menschheit leben wir jetzigen Menschen in einer
sehr unsittlichen Zeit: die Macht der Sitte ist erstaunlich abge­
schwächt und das Gefühl der Sittlichkeit so verfeinert und so in die
Höhe getragen, dass es ebenso gut als verflüchtigt bezeichnet wer­
den kann. [ . . . ] Sittlichkeit ist nichts Anderes (also namentlich nicht
mehr!), als Gehorsam gegen Sitten, welcher Art diese auch sein mö­
gen; Sitten aber sind die herkömmliche Art zu handeln und abzuschät­
zen. In Dingen, wo kein Herkommen befiehlt, giebt es keine Sitt­
lichkeit; und je weniger das Leben durch Herkommen bestimmt ist,
um so kleiner wird der Kreis der Sittlichkeit. Der freie Mensch ist
unsittlich, weil er in Allem von sich und nicht von einem Herkom­
men abhängen will; [ . . . ] . « (Nietzsche, Sämtliche Werke, a. a. 0.,
Bd. 3 , S. 21 f.)

1 0 . VoRLESUNG

1 60. In der Tonbandnachschrift ist zu Beginn der Vorlesung eine


Lücke markiert. Adornos handschriftliche Notizen zu dieser Vor­
lesungsstunde zeigen aber, daß er genau mit dem Gedanken des
ersten erhaltenen Satzes einsetzen wollte: Die Paradoxie der Erfah­
rung praktischer Freiheit als einer Naturursache. Paradoxie von K[antj
selbst zugestanden: »also ein Problem bleibt«. d. h. es ist ebenso der Dua­
lismus unbifriedigend wie seine Aufhebung unmöglich (Vo 8 8 1 2). Es
fehlt vermutlich der Wiederanschluß an die vorangegangene Vor­
lesung.

1 6 1 . Vgl. W IV, S. 67s f.. B 8 3 1 /A 8o3 .

1 62. Adhemar Gelb ( 1 8 87-1936) wurde 1 924 Professor für Psycho­


logie an der Universität Frankfurt a. M. und war Direktor des Psy­
chologischen Instituts. 193 I erhielt er an der Universität Halle einen
Lehrstuhl für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der
Psychologie, der ihm 1934 von den Nationalsozialisten aberkannt
wurde.

1 6 3 . Vgl. § 68 in Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,


Werke, a. a. 0., Bd. I/2, S. 468-492, vgl. in der 2. Auf!., Bd. II/2,
Kap. 48, S. 706-743 .
1 64. Vgl. zu Adornos Beurteilung des Vierten Buches von Schopen­
hauers »Die Welt als Wille und Vorstellung« (Werke, a. a. 0., Bd. I/
2, S. 3 41-508, für die 2. Auf!.: Bd. 11/2, S. 539-757) und dessen Ver­
hältnis zu Kant und dem Idealismus, in der Negativen Dialektik: In­
dem Kant einzig Vernunft als Movens von Praxis gelten ließ, verblieb er im
Bann jenes verblaßt Theoretischen, gegen den er komplementär den Primat
der praktischen Vernunft ersann. Daran laboriert seine gesamte Moralphi­
losophie. (GS 6, S. 228) Und: Was die großen rationalistischen Philo­
sophen unter diesem [sei/. dem Begriffdes Willens} sich vorstellten, verneint
ihn bereits, ohne Rechenschaft davon zu geben, und der Schopenhauer des
Vierten Buches konnte nicht mit Unrecht als Kantianer sich fühlen. Daß
ohne Wille kein Bewußtsein ist, verschwimmt den Idealisten in blanker
Identität: als wäre Wille nichts anderes als Bewußtsein. {. . . } Nicht b/q/3
hat Vernunft genetisch aus der Triebenergie als deren Differenzierung sich
entwickelt: ohne jenes Wollen, das in der Willkür eines jeden Denkaktes
sich manifestiert und allein den Grund abgibt für dessen Unterscheidung
von den passiven, >rezeptiven< Momenten des Subjekts, wäre dem eigenen
Sinn nach kein Denken. Der Idealismus aber ist aufs Gegenteil einge­
schworen und darf das, um den Preis seiner Vernichtung, nicht Wort ha­
ben; das erklärt wie die Verkehrung so deren Nähe zum wahren Sachver­
halt. (S. 229f.)

165. Vgl. die §§ 52 und 53 in Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1 5 .


Auf!., Tübingen 1 979. Heidegger unterscheidet die eigentliche
Sorge von den »Fesseln des müden, >tatenlosen Denkens an den
Tod«< (S. 258), ein >>Sein zum Tode als ein Sein zu einer Möglichkeit«
vom >>Grübeln über den Tod«, das diesen »Möglichkeitscharakter«
abschwächt. (Vgl. S. 261 ) Verstehen meinte nicht das »Begaffen
eines Sinnes, sondern sich verstehen in dem Seinkönnen, das sich im
Entwurf enthüllt«, in der Struktur des » Vorlaufens in den Tod«.
(Vgl. S. 263)

1 66. Vgl. zu Adornos Kritik am Verhältnis von Eigentlichkeit und


Subjektivität bei Heidegger im Jargon der Eigentlichkeit: Vom betrach­
tenden Subjekt wird dem Subjekt als Betrachtetem überschrieben, was
eigentlich sei: die Stellung zum Tode. Diese Verlagerung stiehlt dem Sub­
jekt das Moment von Freiheit und Spontaneität: es erstarrt, gleich den Hei­
deggerschen Bifind/ichkeiten, durchweg zu etwas wie einem Attribut der
Substanz »Dasein «. (GS 6, S. 497f.) Heideggers fragwürdiger An­
schluß an den Idealismus zeigt sich daran, daß was in der Hegeischen
290
Phänomenologie notwendiges Moment in der Eifahrung des Bewußtseins
war, [ . . .1für Heidegger anathema [wird1, weil die Eifahrung des Bewußt­
seins zusammengedrückt ist zu der von sich selbst; Identität jedoch, der
hohle Kern jener Selbstheit, gerät dadurch an die Stelle des Ideals.
(A. a. 0 . , S. 494)

167. Vgl. Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme,


.Gesammelte Schriften Bd. 3 , Tübingen 1922.

r68. Vgl. Hermann Cohen, Kants Begründung der Ethik. Nebst


ihren Anwendungen auf Recht, Religion und Geschichte, Zweite
verbesserte und erweiterte Auf!., Berlin I9IO (Erste Auf!. 1 877).
Cohen bestimmt bereits den » Inhalt des formalen Sittengesetzes« als
in der >>Gemeinschaft autonomer Wesen« Gegebenen (S. 227) und
bestimmt in der Einleitung in den 4· Teil die >>Realität des Sittlichen
in der geschichtlichen Erfahrung« (S. 373-3 80), ausgehend von der
>>Rechtslehre« (vgl. S. 3 8 1-454).

169. Als Zitat nicht ermittelt. Möglicherweise erinnert Adorno ei­


nen Satz Kants aus der >Anthropologie<, in dem allerdings die Funk­
tion der Grazien umgekehrt gefaßt ist: >>Der Purism des Zynikers und
die Fleischestötung des Anachoreten, ohne gesellschaftliches Wohlle­
ben, sind verzerrte Gestalten der Tugend und für diese nicht einla­
dend; sondern, von den Grazien verlassen, können sie auf Humani­
tät nicht Anspruch machen.« (W XII, S. 622)

1 70. Vgl. Julius Ebbinghaus, Deutung und Mißdeutung des katego­


rischen Imperativs, in: Gesammelte Aufsätze. Vorträge und Reden,
Darmstadt 1 968, S. 8o-96.

I I . VORLESUNG

I 7 I . Vgl. Adornos Vorlesung vom r 8 . Dezember 1 956: Zu Platon.


Bei Sokrates war die Vernunft angesetzt als die einzige Instanz des richtigen
Verhaltens. Das Mittel dazu war vermutlich schon bei ihm die begriffliche
Analyse. Bei Platon wird dann daraus in einem strengen und eigentlichen
Sinn ein Prinzip gemacht. In den frühen Dialogen besteht seine eigentliche
Methode darin, daß die Begriffe analysiert werden und daß mit den Mitteln
der begrifflichen Analyse die Vernunft als die einzige die Tugend bestim-
29I
mende Instanz herausgestellt wird [. . . ]. (Vo 1 3 64) Das heißt: Es gibt
keine Tugendlehre der einzelnen Tugenden, das widerspräche dem Begriff·
der Tugend. Allesamt können überhaupt nur durch ihre Beziehung aufden
Zentralpunkt des Logos hergestellt werden . Dabei liijlt sich deutlich erken­
nen, wie das zentrale Motiv des sokratischen Intellektualismus, die Gleich­
setzung der Tugenden mit dem Wissen, hier zu einer kritischen Instanz
geworden ist [ . . ]. (Vo I 365 f.) Adornos Darstellung der unplatoni­
.

schen Elemente in Sokrates Denken orientiert sich an den Memora­


bilien Xenophons.

1 72. Vgl. zu Fichtes Darstellung seines Verhältnisses zur Philo­


sophie Kants die »Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre«, in:
Werke, a. a. 0., Bd. I, Erste Abtheilung: Zur theoretischen Philo­
sophie, Erster Band, S. 468-47L

173. Vgl. GS 6, S. 227.

1 74. Adorno beginnt den Satz zunächst: Sie müssen weiterhin, um die­
ses Kantische Theorem in seinem richtigen Stellenwert zu sehen, auch
daran denken, daß der Kantische Vernunftbegriff , bricht dann aber ab
-

und beginnt neu.

175. Vgl. W IV, S. 682, B 840/ A 8 1 2, wo Kant sich an Leibniz' Un­


terscheidung eines >Reichs der Gnaden< und eines >Reichs der Natur<
orientiert.

1 76. »die Form der« wurde konjiziert.

1 77. Vgl. die L Auf!. der >>Kritik der reinen Vernunft« : >>Es ist also in
uns ein tätiges Vermögen der Synthesis dieses Mannigfaltigen, wel­
ches wir Einbildungskraft nennen, und deren unmittelbar an den
Wahrnehmungen ausgeübte Handlung ich Apprehension nenne. «
( W III, S. 1 76, A 120) Demgegenüber bindet die 2. Auf!. das Vermö­
gen »der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption«
als Bewußtsein, »daß ich bin<< (W III, S. 1 52, B 1 57) stärker an die
kategoriale Ordnung des Verstandes, »dessen ganzes Vermögen im
Denken besteht, d.i. in der Handlung, die Synthesis des Mannigfal­
tigen, welches ihm anderweitig in der Anschauung gegeben wor­
den, zur Einheit der Apperzeption zu bringen, der also für sich gar
nichts erkennt, sondern nur den Stoff zum Erkenntnis, die Anschau-
292
ung, die ihm durchs Objekt gegeben werden muß, verbindet und
ordnet. « (W III, S. I44f., B I45)

I 78. Die Vorlesung vom I9. Dezember I956 rekonstruiert die Aus­
nahmestellung des Sokrates. Das Entscheidende bei Sokrates ist die
Wendung auf das Individuum, die sich in einer Reihe von Motiven aus­
drückt, zunächst, in Gegensatz zu der ihm vorausgehenden Spekulation, in
der schroffen Wendung gegen das naturwissenschaftliche Denken und die
naturphilosophische Spekulation, die bei ihm mit der Unsicherheit und Wi­
dersprüchlichkeit von Aussagen über die Natur begründet wird. (Vo I 346)

I 79· Vgl. Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philo­


sophie, Erster Teil. Die Philosophie des Altertums, hrsg. v. Kar!
Praechter, Berlin I926, S. 476f.

1 80. Vgl. Adorno, Philosophische Terminologie, hrsg. v. Rudolf zur


Lippe, Bd. I , Frankfurt a. M. I973, S. 58-60.

I 8 I . Vgl. Georg Lukacs, Geschichte und Klassen bewußtsein. Stu­


dien über marxistische Dialektik, Berlin I 923, S. I 3 7 f. , Neuaus­
gabe: Darmstadt, Neuwied I970, S. 229 (

I 82. Adorno hebt in der Vorlesung vom I 8 . Dezember I956 an So­


krates heraus: Das Großartige an der Theorie von der Basiertheil der Mo­
ral in der Vernunft ist, daß Sokrates im Gegensatz zu allem späteren Den­
ken die Katze aus dem Sack gelassen hat und die volle Konsequenz dessen
formuliert hat, wohin eigentlich die vernünftige Begründung des sittlichen
Handeins führt, und gerade das, was später durch die Departementalisie­
rung getrennt worden ist, ist das, was uns eigentlich an dieser Lehre befrem­
det. Denn diese Vorurteile, die uns durch dieJahrtausende eingebläut sind,
sitzen so tief, daßjeder Mensch, der von dieser Lehre hört, daran denkt, daß
seine Großmutter zwar dumm, abergut gewesen sei. Dieser Mechanismus,
den Sokrates vorweg angeprangert hat, enthält tendenziell schon die Kritik
an aller spiiteren Moral. Aber ein bewußtlos Gutes kann es nicht geben
{ . . .}. (Vo I 3 6 I )

I 8 3 . Schiller, A n die Freude, Vers 6. Adorno setzte i m Wortlaut der


Vorlesung frech für »streng« .

I 84. Vgl. W III, S . 3 39, B 397/ A 3 39.


293
I 8 5 . Vgl. Aristoteles, Ethica Nicomachia, Buch III, I-4· 1 109b bis
I I I 2 a. Adorno führt in der Vorlesung vom 1 0. Januar I 957 aus: Die
entscheidende Differenz zu Platon ist, daß von Aristoteles zum ersten Mal
dem Begriff der Vernunft als des ordnenden Prinzips zwei Bestimmungen
hinzugifügt werden, durch die er mit dem Sokratismus in der Platonischen
Moralphilosophie im Ernst bricht: Erstens, der Begriffder Freiheit - er sagt,
daß es ein richtiges, sinngemäßes Leben nur geben kann, soweit wir frei
sind, soweit wir in der Gesellschaft die Möglichkeit haben, das von uns als
richtig Erkannte zu verwirklichen. Er geht an dieser Stelle bereits außeror­
dentlich weit, nimmt eine Entwicklung vorweg, die sich in der Kantischen
Unterscheidung zwischen dem intelligiblen und empirischen Charakter
wiedetjindet; er sagt, daß unsere Freiheit eingeschrä"nkt werden könnte nicht
nur durch Sklaverei et cetera, sondern daß sie ebenso auch von innen her
eingeschränkt wird durch gewisse Gewohnheiten, einen Charakter, der un­
serer Vernunft gegenüber heteronom ist, der uns zwingt, vernunftwidrig zu
handeln. Ein solcher Charakter ist ebenso eine Einschränkung der Freiheit
wie die äußeren politischen Begrenzungen. In solchen scheinbar empiri­
schen Einschränkungen der Vorstellung von der Vernunft als dem herr­
schenden Prinzip bereiten sich die Dinge vor, die in aller späteren Moral­
philosophie entscheidend geblieben sind. - Dasselbe giltfür den Begriff des
Willens : das, was zu vermitteln hat zwischen dem einmal als richtig Er­
kannten und seiner Umsetzung in Realität. Richtiges Erkennen und richti­
ges Tun werden nicht ohne weiteres miteinander gleichgesetzt. Damit das
möglich sei, bedatj es der eigentümlichen Sphäre des Willens. (Vo I 396f)

1 2 . VORLESUNG

I 86. Von dieser Vorlesung liegt keine Transkription einer Tonband­

aufzeichnung vor. Die Nachschrift stammt von Hilmar Tillack und


ist noch zu Lebzeiten Adernos in die Vorlesungsfolge eingefügt
worden. Sie enthält in ihren Hauptpunkten eine Rekapitulation der
vorangegangenen Vorlesung und entspricht dann dem Aufbau in
Adernos handschriftlicher Entwurfsskizze. Dieser liegt ein Exzerpt
der Vorlesung vom 22. Januar I957 zugrunde, auf die Adernos Sei­
tenangabe » I 29« (s. u.; jetzt: Vo I 42I) verweist. Die aufKaut bezo­
gene Seitenangabe bezieht sich auf den Text der »Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten«, in: Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5
Moralische Schriften, hrsg. v. Felix Gross, Leipzig I922. Adernos
Stichworte lauten:
2 94
Dazu, daß das absolut Gesetzlose tatsächlich das Unfreie. Bellum omnium
contra omnes. Innerlich extremes Beispiel Süchtigkeit. I
Mißbrauch. Rolle des Rechts
Umgekehrt liegt in der Idee des Gesetzes immer schon das Potential gegen
die Freiheit, ihre Einschränkung, in der sie verschwindet. Stets auf des
Messers Schneide. Kants geniale Formulierung von der Einschränkung der
Freiheit nur soweit wie sie die Freiheit anderer gefährdet. Darin der Punk­
tionszusammenhang der Gesellschaft
129 zur "Grundlegung«
Ausgang vom sogenannten natürlichen Bewußtsein, d. h .
den moralischen Anschauungen, wie sie nun einmal gegeben sind.
Darin ein sehr Wahres. Man kann nicht Ethik eifinden. Auch heute
ist sie nur als Kritik der verbreiteten
die sei gesetzt. Ethik krankt immer daran, daß sie von andren erwar­
tet, was sie nicht von sich verlangt
Es wird durch Abstraktion zur Form des kat. Imp .
dabei das Veifahren nach Grundsätzen vorausgesetzt
Erste Definition Kant S. z6
Rational. Maxime erklären: Übergang von Individuum zu Subjekt
Später in der Kdp V: daß das Sittengesetz nicht ebenso "deduzierbar« sei
wie die Grundslitze der theor. Vernunft.
9· VII
(Vo 88 I 3)

I 87. Vgl. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale
Wertethik, a. a. 0 . , S. I 76-I78.

I 88. Vgl. w VII, s. 7I f.

I 89. An dieser Stelle rekurriert Adorno auf die Vorlesung vom 22.
Januar I 95T In der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« sieht es
damit so aus, daß Kant zunächst einmal in einer Weise, die dann vielleicht
sogar dem Hegeischen Veifahren zum Modell gedient hat, von dem >>natür­
lichen« Bewußtsein ausgeht, von der Tatsache der moralischen Anschauun­
gen, die mir nun einmal gegeben sind, und dann durch Abstraktion, eine
kritische Analyse dieser Anschauungen, zum kategorischen Imperativ, zur
reinen Formulierung des Sittengesetzes gelangt. (Vo I42 I)

I90. Vgl. Aristoteles, Ethica Nicomachia, Buch V, I4. I I 3 7 a bis


I I 3 8 a.
295
1 9 1 . W VII, S. 28.

192. S. Anm. 1 26.

193 . Vgl. § 36 der »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphy­


sik, die als Wissenschaft wird auftreten können« : >>Denn wir kennen
Natur nicht anders, als den Inbegriff der Erscheinungen, d.i. der
Vorstellungen in uns, und können daher das Gesetz ihrer Verknüp­
fung nirgend anders, als von den Grundsätzen der Verknüpfung
derselben in uns, d.i. den Bedingungen der notwendigen Vereini­
gung in einem Bewußtsein, welche die Möglichkeit der Erfahrung
ausmacht, hernehmen. « (W V, S. 1 87 f.)

194. In der Vorlesung vom 22. Januar 1957 geht Adorno auf diesen
Punkt ausführlich ein: Kant kommt später an einer entscheidenden Stelle
in der »Kritik derpraktischen Vernunft<< dazu, zu sehen, daß eine Deduk­
tion des Sittengesetzes in einer iihnlichen Weise, wie die Kategorien aus der
Einheit des Selbstbewußtseins, die Grundsätze der reinen Vernunft aus der
synthetischen Einheit deduziert werden, nicht möglich ist. Man kann den
kategorischen Imperativ nicht ebenso ableiten wie die verschiedenen Grund­
sätze der reinen Vernunft, die Kant zufolge die mathematische Natur­
wissenschaft begründen aus den Kategorien und in letzter Instanz aus der
Einheit des Selbstbewußtseins. Am Schluß wird man doch gewissermaßen
wieder auf das Faktum des Sittengesetzes zurückgeführt. (Vo 1421 f.)

1 3 . VoRLESUNG

195. Vgl. Georg Simmel, Hauptprobleme der Philosophie, Berlin,


New York 1 989 ( 1 . Auf!. 1 910), S. 29.

196. S. den Nachweis in Anm. 1 9 1 .

197. Vgl. W VII, S . 1 75 f. Die Wiedergabe des Zitates weicht von


Kants Formulierung ab, da Adorno den wörtlich zitierten Satzan­
fang grammatikalisch auf die ihn erklärende Klammereinfügung be­
zieht, ohne auf das tatsächliche Satzende einzugehen.

198. S. die 1 . Vorlesung vom 7· Mai 1963 und die Anm. 14.
I99· W VII, S. 26.

200. Vgl. Platon, Phaidon, St. 76 d-77 a.

2or . W VII, S. I8.

202. Vgl. GS J , S. IOO-I40, insbesondere S. I 3 5 ·

203 . W VII, S . 26.

204. Vgl. a. a. 0., S. 27f. (Anm. 2).

205. S. hierzu die 6. Vorlesung vom 30. Mai I963 und die Anm. I I r .

1 4 . VORLESUNG

206. Zwei Worte wurden konjiziert, da der Anfang der Tonband­


nachschrift fehlt. Adorno befindet sich noch unmittelbar in der An­
knüpfung an die letzte Stunde .. Seine für diese Vorlesungsstunde neu
konzipierten Stichworte beginnen mit der Idee des Triebverzichtes:
16. VII. 63. Nachträge. I die zugrundeliegende Idee des Triebverzichtes:
die Kompensation in the long run. I Sparmotiv: Bildung von Kapital. I das
Unwahre darin: daß, psychologisch wie gesamtgesellschajtlich, die Kom­
pensation nicht eifolgt. (Vo 8 8 I 4 f.)

207. Vgl. Adornos Notiz Diesseits des Lustprinzips in: Minima Moralia
(GS 4, S. 65-67).

208. Vgl. W X, S. 480-488 (§§ 64 f.).

209. Bei Benedictus de Spinoza, Ethica, Teil 4, Lehrsatz 20, in:


Opera. Werke, lateinisch und deutsch, Zweiter Band, hrsg. von
Konrad Blumenstock, Darmstadt I 98o, S. 4I4, heißt es wörtlich:
>>suum esse conservare« .

2IO. Vgl. W VIII, S. 553 f.

2I r . Vgl. W VII, S. 25.

2 97
2 1 2. Adorno wendet sich hier vor allem gegen die theoretisch-pessi­
mistische Ausdeutung des von Freud an den Zwangsneurosen und
der >Psychopathologie des Alltagslebens< rekonstruierten >Unbeha­
gens an der Kultur<. Freuds Schriften zur Behandlungstechnik ent­
wickeln demgegenüber ein dialektisches Problembewußtsein: die
Aufhebung des Triebverzichtes als unendliche Aufgabe der analyti­
schen Arbeit. (Vgl. »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten<<
und »Die endliche und die unendliche Analyse<< , in: Studienausgabe,
a. a. 0., Ergänzungsband, S. 205-2 1 5 und S. 3 5 1-392)

2 1 3 . Vgl. zum Bild der nicht aufgehenden Bilanz Schopenhauer,


Zürcher Ausgabe, a. a. 0., Bd. 11/2, Kap. 46: » Von der Nichtigkeit
und dem Leiden des Lebens<<, S. 671 und S. 678, sowie Horkheimer,
Schopenhauer und die Gesellschaft: »Die Philosophie hat Rechnung
abzulegen, und weil die Bilanz negativ ist, behält der Heilige am
Ende recht. Wer auf die Welt setzt, ist betrogen. Durch Schopen­
hauers Mißtrauen gegen Reform und Revolution wird das Beste­
hende nicht glorifiziert. « (Gesammelte Schriften Bd. 7: Vorträge
und Aufzeichnungen 1 949- 1 973 , hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr,
Frankfurt a. M. 1985, S. 48)

2 1 4. S. die 12. Vorlesung vom 9. juli 1 963, S. 1 82.

2 1 5 . In Brechts Stück maskiert sich der >gute Mensch< Shen Te, um


die Aporie »Gut zu sein und doch zu leben<< zu bewältigen, zugleich
als der >böse Mensch< Shui Ta. (Vgl. Gesammelte Werke in 20 Bän­
den, hrsg. in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt
a. M. 1967, Bd. 4, Stücke Bd. 4, S. 1 603) Das Gedicht »Die Maske des
Bösen« lautet: »An meiner Wand hängt ein japanisches Holzwerk I
Maske eines bösen Dämons, bemalt mit Goldlack. I Mitfühlend sehe
ich I Die geschwollenen Stirnadern, andeutend I Wie anstrengend es
ist, böse zu sein. << (A. a. 0., Bd. 10, Gedichte Bd. 3, S. 8 50; vgl. zu
diesem Motiv »Der gute Mensch von Sezuan<< , a. a. 0., S. 1 570)

r s . VoRLESUNG

216. »Menschen unabhängig sein<< wurde sinngemäß konjiziert, da


die Tonbandtranskription eine Lücke mit dem Vermerk markiert:
>>nicht zu verstehen! <<
2 1 7. Vgl. Beobachtungen über das Geftihl des Schönen und Erhabe­
nen, W II, S. 8 3 5 .

2 1 8. Vgl. S0ren Kierkegaard, D e r Begriff der Angst: >>Das Mitleid


ist so weit entfernt dem Leidenden zugute zu kommen, daß man in
demselben vielmehr bloß den eigenen Egoismus hegt und pflegt.
[ . . . ] Erst wenn der Mitleidige in seinem Mitleid sich so zu dem
Leidenden verhält, daß er im strengsten Sinne faßt, es sei seine Sa­
che, um die sich's handelt; [ . . . ] erst dann erhält das Mitleid Bedeu­
tung [ . . . ] . « (Werke Bd. 5, Jena 1 923, übersetzt von Christoph
Schrempf, S. r 19)

219. Vgl. den § r6 der >Transzendentalen Deduktion<: >>So ist die


synthetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt, an dem
man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und nach ihr,
die Transzendental-Philosophie heften muß, ja dieses Vermögen ist
der Verstand selbst. « (W III, S. 1 3 7, B 1 34, Anm.)

220. Adorno schließt hier noch einmal an die Vorlesung vom 22.
Januar 1 957 an. Wohl im Kontext der Vorbereitungen zur Vorle­
sung von 1 963 notiert er zu dem Satz - Wenn Gott ins Spiel kommt,
dann nur als Garant des aus reiner Vernunft folgenden Sittengesetzes, als
das, woran das Sittengesetz festgemacht ist - handschriftlich am Text­
rand: D. h . ohne Gott und Unsterblichkeit wäre die Welt die Hölle - das
darf nicht so sein, denkt Kant. Diese Bestimmung der Welt als Negativität
in tiefstem Zusammenhang mit der Verweifung der Empirie. In der Welt
herrscht das Böse. "Pflicht unsere Glückseligkeit zu sichern" (Vo 1 424).

22r . Vgl. Paul Natorp, Platos Ideenlehre. Eine Einftihrung in den


Idealismus, Leipzig 1903 , S. I9I [

222. Vgl. im Anhang der ersten Auflage von >>Die Welt als Wille und
Vorstellung« die >>Kritik der Kantischen Philosophie«, a. a. 0.,
Bd. 1/2, S. 638.

223 . Vgl. Platon, Phaidon, St. 82e, wo der Leib als Kerker der Seele
bezeichnet wird.

224. Vgl. Heinrich von Kleists Brief an Wilhelmine von Zenge, vom
22. März r 8or: >> Vor kurzem ward ich mit der neueren sogenannten
299
Kautischen Philosophie bekannt - und Dir muß ich jetzt daraus
einen Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er
Dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird, als mich. [ . . . ) Wenn
alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie
urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken,
sind grün - und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge
ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen
hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit
dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir
Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so
scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach
dem Tode nicht mehr - und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu
erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich -« (In:
Kleist, Gesamtausgabe Bd. 6: Briefe 1 793-1 804, hrsg. von Helmut
Sembdner, München 1 964, S. 163)

225 . Vgl. Was ist Aufklärung?, W XI, S. 53.

226. Vgl. Christian Morgenstern, Der Mond, in: Sämtliche Galgen­


lieder, München 1992, S. 74·

1 6 . VoRLESUNG

227. Vgl. zur Exposition des Verhältnisses von bestimmender und


reflektierender Urteilskraft das 4· Kapitel der Einleitung in die >> Kri­
tik der Urteilskraft«: >> Von der Urteilskraft als einem a priori gesetz­
gebenden Vermögen« (W IX, S. 2 5 1-253).

228. Adorno zitiert aus dem 2. Akt der » Gespenster« nach der Über­
setzung von Paul Schlenther, in: Henrik lbsen, Sämtliche Werke in
deutscher Sprache, Siebenter Band, Berlin o.J., durchgesehen und
eingeleitet von Georg Brandes, Julius Elias, Paul Schlenther. Vom
Dichter autorisierte Fassung, S. 5 1 .

229. Schienther schreibt in seiner Einleitung zu den Stücken »Die


Gespenster<< , >>Der Volksfeind<< und >>Die Wildente<< : >>Weil Frau Al­
ving nicht rechtzeitig der Wahrheit die Ehre gab, wurde sie eine
tragische Heidin, und umgekehrt wurde der Volksfeind ein tragiko­
mischer Held, weil er der Wahrheit die Ehre gab; dort wurde die
3 00
Unwahrhaftigkeit, hier die Wahrhaftigkeit verhängnisvoll; ein Ver­
gleich beider Dramen erzeugt den Widerspruch. Dieser Wider­
spruch ist, doktrinär genommen, der Gegenstand des folgenden
r 884 erschienenen Dramas >Die Wildente<; die Lösung dieses Dramas

scheint die Unlösbarkeit jenes Widerspruchs zu sein. « (Ibsen, Sämt­


liche Werke, a. a. 0., S. XXXI)

230. Vgl. zu diesem Motiv den Schluß des Stückes, a. a. 0., S. 343,
und seine Einführung S. 222; s. in der Vorlesung auch S. 241 .

23 r . S. die r. Vorlesung vom 7· Mai 1963 und den Nachweis in


Anm. J .

232. Konjektur eines vermutlichen Hörfehlers. In der Vorlage: ge­


zeitigt.

2 3 3 . Vgl. Roland Pelzer, Studien über Hegels ethische Theoreme,


in: Archiv für Philosophie, Bd. 1 3 , Heft r-2 (Dezember 1964),
s. 3-49·

I 7· VORLESUNG

234. Vgl. die r. Vorlesung vom 7. Mai 1963 und die Anm. 4·

2 3 5 . Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Zweiter Abschnitt,


Zweites Kapitel, a. a. 0., S. 267-30 1 . Vgl. zur Kritik Adornos, Jar­
gon der Eigentlichkeit, GS 6, S. 5 1 9f.

236. Vgl. Sexualtabus und Recht heute, jetzt: GS I0· 2, S. 533-554·

237. Vgl. die Titelgeschichte des »Spiegels« vom 19. Juni 1963 zum
>Profumo-Skandal< (r7. Jg., Nr. 25, S. 52-60) und die Leserbriefre­
aktionen, die mit Heft Nr. 28 einsetzen.

238. Vgl. Telemann, Richtfest, in: Der Spiegel, 24. )uli 1 963, 1 7. )g.,
Nr. 30, S. 66.

239. Vgl. Jürgen Habermas, Vom sozialen Wandel akademischer


Bildung, in: Merkur, 1 7. Jg., Heft 5 (Mai 1963), S. 4 1 3 -427.
301
240. Bei Strindberg heißt es wörtlich: »Wenn ich das Böse nicht
hasse, kann ich das Gute nicht lieben! « (Schwarze Fahnen. Sitten­
schilderungen vom Jahrhundertwechsel, verdeutscht von Emil
Schering, München I920, S. 254)

24 1 . Den Terminus entwickelt Adorno nach Walter Benjamin, Zur


Kritik der Gewalt, in: Gesammelte Schriften, Bd. II- r , a. a. 0. I 977,
S. I 99 f.

242. Vgl. Zeitschrift für Sozialforschung s (I936), S . 1 6 1 -234; jetzt:


Horkheimer, Gesammelte Schriften Bd. 4: Schriften 1936-194I ,
hrsg. von Alfred Schmidt, Frankfurt a. M . 1988, S. 9-88.

243 . Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: Sämtliche Werke,


a. a. 0., Bd. 4, S. 20.

244. Vgl. Hege!, Werke, a. a. 0., Bd. I : Frühe Schriften, S. 239-24 I .

245. Vgl. vor allem den Abschnitt Dialektik wider Willen im ersten
Kapitel von Adornos Metakritik der Erkenntnistheorie (GS 5, S. 5 6 f.).

246. Vgl. Alexander Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Ge­
sellschaft. Ideen zur Sozialphilosophic, München 1 96 3 , Kapitel IV:
»Von der Hinfälligkeit der Moralen«, S. r I S-I 3 7·

302
Editorische Nachbemerkun g
Mit den Problemen der Moralphilosophie liegt die dritte von I 5 Vorle­
sungen Adornos vor, die als Tonband-Transkriptionen vollständig
erhalten blieben. Die Bandaufnahmen selber sind, abgesehen von
der bereits erschienenen Einleitung in die Soziologie, nicht mehr vor­
handen. Die Edition der frei gehaltenen Vorlesungen steht damit
vor erheblichen Schwierigkeiten, die einem Kolleg über Moralphi­
losophie aber nicht einmal unangemessen sind. Die Problematik der
Moral überhaupt ist wesentlich eine der mündlichen Rede, des Un­
gedeckten ihres Wahrheitsanspruches. Andererseits setzt der mora­
lische Anspruch das Provisorische, Unabgeschlossene und Offene
des Gedankens voraus. Als Adorno sich im Wintersemester I 9 56/57
zum ersten Mal dem Thema zuwandte, stellte er diesen sachlichen
Zusammenhang an der Person des Sokrates dar: >>Ihm wird in der
gesamten philosophischen Tradition des Abendlandes die Rolle zu­
gesprochen, der eigentliche Begründer der Moralphilosophie, der
Ethik zu sein. Aber er ist in der abendländischen Philosophiege­
schichte der einzige, der nicht geschrieben hat. Das hängt ohne
Frage mit seiner moralphilosophischen Position oder der Entdek­
kung der Moralphilosophie überhaupt zusammen. Sein Philoso­
phieren war in einem eminenten Maße praktisch gerichtet, auf das
Verhalten der Menschen bezogen. [ . . . ] Der grundlegende Gedanke
ist der, daß das gesprochene lebendige Wort zurückantwortet, daß
die Rede >Rede und Antwort steht< und eingeht auf den spezifischen
Menschen, an den sie gerichtet ist, während das geschriebene Wort
alle Menschen gleich anblickt, nicht zu differenzieren vermag, auf
jede Frage stumm bleibt, sich nicht verändert. << (Vorlesung vom 1 9.
Dezember I956; Theodor W. Adorno Archiv, Vo I 3 44) Adorno,
der sich als Vertreter einer >letzten< Philosophie verstand, handelt
konsequent auch vom Ende der Moralphilosophie, von ihren Gren­
zen. Das bis zu seinem Tode geplante »moralphilosophische Buch<<
(vgl. GS 7, S. 537) konnte subjektiv wie objektiv nicht mehr ge­
schrieben werden. Daß Moral im Sinne verbindlicher Lehre unmög­
lich geworden ist, läßt sich auch durch die Form des Aphorismus -
wie sie Adorno unter dem Titel Graeculus als Fortsetzung der Minima
Moralia vorschwebte - nicht korrigieren. So wird in der Vorlesung
von I963 die ethische Fragestellung selbst problematisch, der Be­
griff Ethik vollständig zurückgewiesen. Rekonstruierte Adorno in
der frühen Vorlesung von I956/ 57 - die in stenographischer Nach-
schrift relativ umfassend vorliegt und zu einem späteren Zeitpunkt
ediert werden soll - noch primär die geschichtlichen Linien des mo­
ralphilosophischen Denkens von Sokrates, Platon und Aristoteles
bis zu Kant und Nietzsche, so hat er in der Vorlesung von I963 , die
vor allem an Kant orientiert war, nur mehr die Aporien der Moral
thematisch gemacht.
Der Sache nach bereitet die Vorlesung das Freiheitskapitel der Ne­
gativen Dialektik vor und schließt unmittelbar an Horkheimers für
die Kritische Theorie zentralen Aufsatz »Materialismus und Moral«
von I933 (vgl. Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 3 :
Schriften I 9 3 I-I9J6, hrsg. von Alfred Schmidt, Frankfurt a. M.
I988, S. I I I ff.) und an den ebenfalls von ihm verfaßten zweiten Ex­
kurs der Dialektik der Aufk lärung sowie an die Minima Moralia an, die
Adorno nicht zufällig Horkheimer gewidmet hat. Gerade weil in der
lebendigen Rede der Vorlesung nicht jeder Gedanke zu seinem Ab­
schluß gekommen, nicht alles >richtig interpretiert< und in einen Ka­
non der Auslegung aufzunehmen ist, wird ein Stück Genese Ador­
noschen Denkens und Arbeitens erkennbar: seines Anspruchs, die
Texte selbst zum Sprechen zu bringen und sie gleichermaßen ihrer
gesellschaftlichen Dialektik zu konfrontieren. So hat die Vorlesung
das seit Beginn der sechziger Jahre wieder deutlicher sich abzeich­
nende Bewußtsein, daß Philosophie praktisch zu werden habe,
ernstgenommen. Um dabei nicht selber der kritisierten modischen
Revolte des Existentialismus zu verfallen, vermittelte sie aber eher
>Steine statt Brot<. Adorno vertrat schon hier die Position, die er
später gegenüber der Studentenbewegung eingenommen hat und
die in seine Marginalien zu Theorie und Praxis und in Resignation ein­
gegangen ist. Auch die Dialektik des notwendig praktischen Wider­
standes gegen das falsche Leben und des bloß theoretischen Wissens
von einem richtigen bleibt eine negative.
Dieser inhaltlichen, für sich schon schwierigen Problematik ent­
spricht ein ungünstiger Textbefund, der die Edition der Vorlesung
nicht erleichtert. Zahlreiche Namen und Zitate sind bei der Ab­
schrift der Tonbänder offensichtlich falsch wiedergegeben worden,
was beftirchten läßt - und teilweise schlagend auf der Hand liegt -,
daß auch sonst Hörfehler und ein mangelhaftes Verständnis der Sa­
che zu einer wenig befriedigenden Abschrift geftihrt haben, die im
übrigen eben nicht zur Veröffentlichung bestimmt war. Wenn über­
haupt, dann hätte Adorno einer solchen allenfalls nach eingreifender
Überarbeitung zugestimmt. Die vorliegende Edition, obwohl be-

306
müht, sich möglichst eng am überlieferten Wortlaut zu orientieren,
mußte gelegentlich in die Satzstruktur, vor allem aber in die Zei­
chensetzung der Vorlage eingreifen. Dabei wurde versucht, sowohl
den mündlichen Charakter der Vorlesung zu bewahren, wie dem
Leser die Satzstruktur übersichtlich zu machen. Nur in wenigen
Ausnahmefällen sind neue oder anders lautende Worte in den Text
eingefUgt worden. Rekonstruktionen, die inhaltlich nicht fraglos
sind, auch solche, die als Korrektur von Hör- oder Schreibfehlern
nicht unmittelbar einleuchten, werden in den Anmerkungen, zu­
sammen mit dem ersetzten Textmaterial, ausgewiesen. Anako­
luthe, soweit sie eindeutig als Versprechungen zu erkennen sind,
sowie ohne Anschluß bleibende Satzanfänge wurden ebenso wie
Wiederholungen ohne rhetorische Bedeutung gestrichen. Die Zitate
sind nach den Originaltexten korrigiert worden, in ihnen hervorge­
hobene Stellen wurden kursiviert, Abweichungen Adornos von ih­
rem Wortlaut werden durch eckige Klammern im Text, Auslassun­
gen durch [ . . . ] markiert. In den Anmerkungen werden Zitate
Adornos kursiv, Hervorhebungen durch ihn in gerader Type wie­
dergegeben. Einfache Anflihrungszeichen weisen fiktive oder in­
direkte, teilweise wörtlich nicht aufgefundene Zitate aus. Der
Herausgeber hat sich bemüht, die wörtlichen Zitate vollständig
nachzuweisen. Die Rekonstruktion bloßer Anspielungen und der
Nachweis von Parallelstellen im Adornoschen <Euvre konzentrieren
sich der Sache nach auf das Verhältnis zur früheren Vorlesung, die
Bezüge zu Kant und deren spätere Ausarbeitung in der Negativen
Dialektik.

April 1995
Register
Das Register erschließt die im Text der Vorlesung, den Anmerkungen
und der Editorischen Nachbemerkung - mit Ausnahme des in der Vor­
lesung passim behandelten Kant - vorkommenden Personen. Indirekte
Erwähnungen sind ohne besondere Kennzeichnung aufgenommen wor­
den. Kursiv gesetzte Seitenzahlen verweisen auf Erwähnungen in den
Anmerkungen und der Nachbemerkung.

Adler, Alfred I 23 Cohen, Hermann I 59, 279, 291


Adorno, Gretel 265 Colli, Giorgio 266
Alexander der Große I 78 Cornelius, Hans 49, 273
Aristippos 207
Aristoteles 66 ( , I 78 , I 84, I90, Descartes, Rene 73 f. , I ro, I I 2 f. ,
202, 2 I 8 , 276, 294je , J06 202, 278, 284
Arndt, Hans Werner 283 Dilthey, Wilhelm I 57
Durkheim, Emile 3 3 , 272
Bacon, Fraucis 94, 202
Beethoven, Ludwig van I I4, Ebbinghaus,Julius I 6 3 , 291
224, 285 Einstein, Albert 76, 278je
Beißner, Friedrich 269 Eisler, Hanns 265
Benja min, Walter I 3 8 , 258, 287, 300
Elias,Julius
J02 Epikur 207 f, 278
Blumenstock, Konrad 297
Boccaccio, Giovanni 229 Fichte, Immanuel Hermann 270
Böhm, Franz 268 Fichte,Johann Gottlieb I 2 , 1 4 f , .

Borgia, Cesare 257 2 3 , 28 , 5 8 f., 74, 88, 92, I o6 f.,


Borst, Otto 268 I 4 I - I 44, I 6 5 f , I 7I, I 9 5 , 220,
Brandes, Georg 300 267je , 270je , 278, 292
Brecht, Bertolt 2I I -2 I 4, 298 Freud, Sigmund I 3 , I 6, I23 f. ,
Buchenau, Artur 284 I 29- I 3 I , I 3 6, I 42 f , I90, 203
Buck-Morss, Susan 265 bis 206, 268je , 286, 297je
Büchner, Georg 25, 270
Gäbe, Lüder 284
Calvin,Johannes 223 Gelb, Adhemar I 52, 289
Cassirer, Ernst 76, 278je Gock, Kar! 269
Cervantes Saavedra, Miguel de Goethe,Johann Wolfgang von
229 98, !98, 28]
Chauccr, Gcoffrey 229 Gotthelf,Jeremias 1 74

JII
Groddcck, Wolfram 269 La Rochefoucauld, Fran�ois, Her­
Gross, Fclix 294 zog von 30
Leibniz, Gottfried Wilhclm 43,
Habermas,Jürgen 2 5 3 , 301 77, 99 f , I I I f , 1 2 7 f , 292
Haffmans, Gerd 279 Lenin, Wladimir Iljitsch I 4
Hauptmann, Elisabeth 298 Lippe, Rudolfzur 293
Hebci,Johann Petcr I 74 Looser, Max 288
Hegcl, Georg Wilhelm Friedrich Lüth, Paul 3 9 f , 272
! A 24, 30, 32, 59, 63 , 72-75, 92, Lukics, Georg I 74, 293
96, 1 25 , I 3 6, I 46, I 5 8 , 1 76, I 82, Luther, Martin 223
2 I6 , 2 2 1 , 229, 238, 240 f , 243
bis 246, 2 5 5 , 260, 265, 271 , 276 1 2 f , 267j
Mann, Golo
bis 278, 288, 29oj , 295, 301j Mann, Thomas 1 99
Heidegger, Martin 26, I 56, 25 I , Marx, Karl 1 4, 226, 2 5 5
270, 290J , 301 Michel, Karl Markus 271
Heraklit 23, 270 Mitscherlich, Alexander 259,
Hobbes, Thomas I40, I 8 I , 288, 26r , 268, 302
295 Moldenhaucr, Eva 271
Hölderlin, Friedrich 2 I , 88, 269, Montaigne, Michel de 30
282 Montinari, Mazzino 266
Homer 229 Morgenstern, Christian 230, 300
Horkheimer, Max 4 1 , I 78, I 94, Moses 256
258, z 65j , 273 , z81 , z88, 297j ,
302, 306 Natorp, Paul 222, 299
Hübscher, Angelika 279 Nedden, Otto C. A. zur 270
Hübscher, Arthur 279 Newton, Isaak 279
Hume, David 78, 1 59 f , 230, 279 Nietzsche, Friedrich 9, 2 r , 25 f ,
2 8 , 3 0 , 40 , 95 , 1 24, I 47, r 6 r ,
Ibsen, Henrik 234-245, 250,300f 202, 239, 248, 253 , 25 5-260,
266, 270j , 273, 282j , 286,
Jung, Carl Gustav I23 288{ , ]02' 306

Kalka, Franz I I3 f Panaitios von Rhodos 1 72


Keeler, Christine 253 , 301 Pclzer, Roland 246,301
Kempski,Jürgen von 246 Platon 3 0 f , 1 50, r 64, 1 7o f , 1 7 5 ,
Kierkegaard, S0ren I 58, 2 I9, 299 1 84, 1 89, I 9 I f , 220, 222 f.,
Kleist, Heinrich von 224, 299j 271 ' 291f , 294, 297, 299 , 306
König, Rene 267j Prächter, Karl 293
Kraus, Karl 260 f Profumo,John Dennis 301

312
Proust, Marcel I93 Shakespeare, William I 6 7 f.
Sickingen, Franz von 244
Richards, Angela 268 Simmel, Georg 25, I 87, 296
Rousseau, Jean-Jacques 2 8, 90f., Sokrates I 64, I 7 I f. , I 7 5 , 271 ,
I 7 I , I 76, 227f., 270 291 -294, 305f
Spinoza, Benedictus de 5 8, I40,
Sade, Donaticn-Alphonse­ I 78, 204, 288, 297
Fran�ois, Marquis de I 78, Steinthal, Heymann 3 I, 271
I94 Strachey,James 268
Sartre,Jean-Paul 262 Strindberg, August 254, 302
Sattler, Dietrich Eberhard 269 Sturmfels, Wilhelm 1 15 , 285
Schelcr, Max I o, 3 1 f., I 8o, Sumner, William Graham 3 2 ,
266f , 271 , 295 271
Schering, Emil 302
Schiller, Friedrich von 30, I 6o f., Tacitus, Cornelius 229
I 76, 271, 293 Telemann [Pseudonym] 253 , J01
Schlabrendorff, Fabian von I9f. Thomas von Aquino I ro
26g Tiedemann, Rolf 265, 287
Schlenther, Paul 238, 3ooj Tillack, Hilmar 294
Schmid Noerr, Gunzehn 273, Troeltsch, Ernst I 5 7, 291
298
Schmidt, Alfred 302, 306 Ueberweg, Friedrich 293
Schmidt-Radefeldt,Jürgen 288
Schmölders, Claudia 279 Valery, Paul I 46, 288
Schopenhauer, Arthur 79, 9 8, Vergilius Maro, Publius 43, 273
I I 5 f. , I 55, I 58,204-206 , 2 I 5 f. , Vischer, Friedrich Theodor 268
222,257 f.,219, 285, 289f , 298I
Schrempf, Christoph 299 Wcischedel, Wilhelm 265
Schultz, Klaus 265 Wolff, Christian 43, n 99 f. ,
Schumacher,Joachim 70,276 I l ! f., 283
Schwab, Gustav 269
Schweppenhäuser, Hermann Xenophanes 292
272, 287
Sembdner, Helmut 300 Zekl, Hans Günter 284
Senn, Fritz 279 Zenge, Wilhelmine von 299f

3I3
Übersicht

I . VoRLESUNG 9

Moralphilosophie als theoretische Disziplin 9 - Zum Begriff


der Praxis 1 0 - Theorie als Widerstand und >Realitätsprüfung<;
Gegen Praktizismus 13 - Naivetät und Reflexion 1 4 - Zum
Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis r 6 - Spontaneität
und Widerstand 1 7 - Irrationales als Moment 1 9 - Gegen die
Moralität des Partikularen 21 - Ethik als schlechtes Gewissen;
Für eine Moral der schroffen Unvereinbarkeit mit Erfahrung
22

2 . VORLESUNG 24

Das > Unbehagen an der Moral< 24 - Zum Problern von Ethos


und Persönlichkeit 26 - Das Sittliche keine Naturbestimmung
28 - Moral und gesellschaftliche Krisis 30 - Soziologie des re-
pressiven Charakters 32 - Allgerneines und Besonderes 33 -
Plan der Vorlesung 3 5 - Textgrundlage 3 7

3 - VORLESUNG 39

Methoden ad hornines 39 - Vorlesungen: Modellversuche von


Kritik 41 - Der Doppelcharakter der Vernunft bei Kant: Theo-
rie und Praxis, Erkenntnistheorie und Metaphysik 43 - Das
Problem der Freiheit 47 - Zur Antinomienlehre 48 - Dialektik
50 - > Skeptische Methode< im Unterschied zu Skeptizismus 52

4 · VoRLESUNG 54

Charakter der Antinomik 5 4 - Kausalität und Freiheit; Sponta-


neität 5 5 - Die Thesis der dritten Antinomie 5 7 - Der Beweis
der Thesis 6o - Zum Motiv einer Kausalität aus Freiheit 63 -
Die Antithesis 65

31 5
5 · VORLESUNG

Das Prinzip der Kausalität und die Notwendigkeit der Antino­


mik 69 - Dialektik bei Kant und Hcgel 7 I - Problem der prima
philosophia; Das Erste als Moment 73 - Kausalität, Gesetz und
Freiheit 75 - Äußerlichkeit des Kausalitätsbegriffs 76 - Freiheit
als Gegebenheit So - Zusammenfassung: Kausalität aus Frei­
heit 8 3

6. VORLESUNG ss

Doppelcharakter der Kautischen Philosophie; Eines und Vieles


8 5 - Noch einmal: Theorie und Praxis 8 8 - Zur >Methoden­
lehre<: r. Die Natur der Vernunft 90 - 2. Spekulation 92 -
3. Naturbeherrschung und Freiheit 93 - 4. Enttäuschung der
metaphysischen Frage 96 - 5 . Auflösung der philosophischen
Gleichgültigkeit 98 - 6. Die Idee Gottes und das Recht der Kri­
tik 99 - 7. Vorrang der Praxis IOO

7· VoRLESUNG 101

Theorie und Praxis der > Methodenlehre< I O I - Form und Inhalt


in der praktischen Philosophie IOJ - Praxis als Ausschluß der
Erfahrung; Freiheit als Vernunft 105 - Erstes und Zweites; Die
Gegebenheit des Sittengesetzes I09 - Die Auflösbarkeit gesell­
schaftlicher Widersprüche; B ürgerlicher Optimismus I I 3 -
Zur Erfahrbarkeit des Sittengesetzes I I 4

8 . VORLESUNG 1 17

Indifferenz des Apriori und der Erfahrung I I 7 - Notwendig­


keit und Allgemeinheit; Eine >Gegebenheit zweiten Grades<
I I 8 - Zwangscharakter der empirisch gegebenen Moral I 20 -
Psychoanalytische Einrede I 22 - Gesinnungsethik I 24 - Rück­
kehr des Teleologie-Gedankens; Moment der Heteronomie
I27

3 16
9 . VoRLESUNG 1 33

Gesetze der Freiheit I 33 - Prinzip der Auslegung; >Erlöschen


der Intention< I 3 6 - Doppelcharakter der Natur I 3 B - Kants
>Abbrechen<; Abwehr und Akzeptanz des Heteronomen I4I ­
Moment des Absurden I 44 - Geschichtliche Dialektik des Mo­
ralischen; Das >Alt-Werden der Tugend< I 4 5

I O . VORLESUNG I 49

Das Unerträgliche des Dualismus von Gesetz und Freiheit;


Protestantische Tradition I49 - Erfahrung von Geist und Na­
tur versus Herrschaft I 52 - Methodenexkurs: Wörtliche Inter­
pretation gegen Geistesgeschichte I 57 - Kant: Die Moralphi­
losophie par excellence I 5S - Formalismus und Rigorismus
r6o

I I . VORLESUNG

Rationale Moralbegründung; Gegen >Herzensbildung< I64 -


Prinz Harnlet I66 - Nichtidentisches Moment; Nötigung
durch ein Drittes I 69 - Vernunft als Praxis I 70 - Eingeschränk­
ter Charakter der Kautischen Ethik; Bürgerliches Kalkül und
Beamtentugend I 73 - Ambivalenz der Unmittelbarkeit des
Guten 1 7 5 - Autonomie und Heteronomie I 76

I 2 . VORLESUNG I 8o

Selbstbestimmung I So - Kein Kultus der Werte I So - Fehlende


Balance zwischen Freiheit und Gesetz r So - Formalismus und
gesellschaftlicher Funktionszusammenhang r S2 - Kants mo­
ralphilosophische Schriften I 82 - Zur »Grundlegung der Me­
taphysik der Sitten<< r S3

I 3 . VORLESUNG

Exkurs zur Phänomenologie I87 - Der Begriffdes Willens I S S


- Psychologischer Anteil: Guter und böser Wille I 9 I - Pflicht
und Achtung 195 - Repressives Moment I97 - Das Ver-

3 I7
schwinden der Freiheit 199 - Übergang zum Problem von
Gesinnungs- und Verantwortungsethik 200

1 4. VoRLESUNG 202

Triebunterdrückung als Habitus der Philosophie 202 - Selbst-


erhaltung und Kompensation 204 - Fetischisierung des Ver-
zichts 206 - Idee der Menschheit als Hypothese 209 - Totalita-
rismus des Zwecks 2 1 3 - Vernunft als Selbstzweck 2 1 5

I 5· VoRLESUNG 217

Kants Gesinnungsethik 2 1 7 - Doppelstellung gegen Empiris-


mus und Theologie 220 - Differenz zu Platon: Idealismus der
Vernunft 222 - Frühbürgerliches Pathos und Rousseausches
Motiv 225 - Innerlichkeit und deutsche Misere 228

1 6 . VoRLESUNG 233

Dialektisches Moment der Moral 2 3 3 - Exkurs: Ibsens » Wild-


ente« 234 - Das Gewissen: eine >>eklige Geschichte« 23 7 - Ex-
plikation: Verstrickung ins Bestehende 2 3 8 - K ritik an Hegels
Aufhebung der Moral 243

1 7. VoRLESUNG 248

Widerstand gegen falsches Leben 248 - Fehlbar vor den Deck-


bildern des Schlechten 252 - Gegen Nietzsches Moralkritik 2 5 5
- Moralische Aporie als Krise des Individualismus; Übergang
der Kritik ins politische Bewußtsein 26o

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