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Vorwort ........................................................................................ 1
Das Indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens ....... 53
Über die Phänomenologie der Sprache ...................................... 117
Der Philosoph und die Soziologie .............................................. 139
Von Mauss zu Claude Lévi-Strauss ............................................. 163
Überall und nirgends .................................................................. 181
Der Philosoph und sein Schatten ............................................... 233
Bergson im Werden ..................................................................... 265
Einstein und die Krise der Vernunft ........................................... 281
Montaignelektüre ........................................................................ 291
Anmerkung zu Machiavelli ......................................................... 311
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge ..................... 333
Gelegentliche Äußerungen .......................................................... 361
Die paranoische Politik ........................................................... 363
Marxismus und Aberglaube ................................................... 385
Die UdSSR und die Lager ....................................................... 388
Die Verträge von Jalta ............................................................. 404
Die Zukunft der Revolution ................................................... 410
Über die Entstalinisierung ...................................................... 432
Über die Erotik ........................................................................ 456
Über die Lokalnachrichten ..................................................... 459
Über Claudel ........................................................................... 464
Über die Enthaltung ............................................................... 471
VI Inhalt
*
Greift man auf Merleau-Pontys eigene Bestimmung eines philo-
sophischen Klassikers zurück, so gehört er sicherlich in den Ka-
non der Philosophie: »Man erkennt«, so bemerkt er, die Klassiker
»daran, daß sie niemand wörtlich nimmt und daß die neuen Ge-
gebenheiten dennoch nie völlig außerhalb ihres Zuständigkeits-
bereichs stehen, daß sie neue Echos auslösen, in sich neue Reliefs
offenbaren.« (S. 13)3 Merleau-Pontys Philosophie löst innerhalb
und außerhalb der philosophischen Diskussion bis heute eine
Vielfalt von Echos aus, und in seinem Denken werden stets neue
Signes werden in Klammern den Zitaten angefügt und beziehen sich auf
den nachfolgenden Text.
Einleitung IX
führt, wird in diesem Sinne von ihm auch auf die Wissenschaften und de-
ren Krise bezogen: »Die ultra-objektive und die ultra-subjektive Haltung
sind zwei Aspekte einer einzigen Krise des politischen Denkens und der
politischen Welt.« (S. 372)
5 Zur Logik der Prozesse, deren Verstehen insbesondere als Aufgabe der
Philosophie der Kultur (engl. 1944), aus dem Englischen übersetzt von
Reinhard Kaiser, Hamburg 22007, S. 44. Die Cassirersche Herleitung und
Beschreibung dieses Befunds ist als eine Ausformulierung der eher knap-
pen These Schelers zu verstehen, der in der Stellung des Menschen im
Kosmos darauf aufmerksam macht, daß wir »eine naturwissenschaftliche,
eine philosophische und eine theologische Anthropologie« besitzen, »die
Einleitung XI
Ansteckung durch das Leben geschützt ist.« (S. 187) Dieses Leben
aber »wird nicht nur auf einem Register gespielt: Vom einen zum
anderen gibt es Echos, Formen des Austauschs«. (S. 458)
Vor diesem Hintergrund läßt sich die Vielfalt und Pluralität
der in den Zeichen vorgestellten Analysen verstehen. Selbst in den
politischen Traktaten, die den letzten Teil des Bandes ausmachen,
erkennt man noch das Anliegen Merleau-Pontys, hinter einem
meist nur postulierten Widerstreit das Konkrete der Philosophie
und des Lebens zu suchen. Zwar mag die ein oder andere Frage
der Zeit geschuldet und heute kaum mehr verständlich sein, die
Art und Weise aber, wie Merleau-Ponty der jeweiligen Frage be-
gegnet, belegt sein philosophisches Gespür für eine Archäologie
der Kultur, die unter der Rhetorik der Differenz von Idee und
Tatsache, Überbau und Unterbau oder Geist und Natur das je-
weilige Konkretum als Verkörperung eines komplexen Ganzen
entdeckt. Fast könnte man es als eine List der Vernunft bezeich-
nen, wenn Merleau-Ponty in einem kurzen Beitrag, der die Re-
levanz von Lokalnachrichten diskutiert, folgendes ausführt und
sich damit unterderhand auch selbst kommentiert: »Das Gefallen
an der Lokalnachricht ist der Wunsch zu sehen, und sehen heißt,
in einer Falte des Gesichts eine Welt zu erahnen, die der unsrigen
gleicht.« (S. 459)
Um diese Welt nicht nur zu erahnen, sondern tatsächlich zu
verstehen, greift Merleau-Ponty das Husserlsche Projekt der Kri-
sis der europäischen Wissenschaften auf und fahndet nach dem
verborgenen, jedoch stets manifesten Logos der Lebenswelt, in-
dem er nun nicht mehr wie Husserl allein die Naturwissenschaf-
ten, sondern die Sozial- und Kulturwissenschaften, die Sprach-
wissenschaften sowie die Psychoanalyse – um hier nur einige
Disziplinen zu nennen – in ihrer Begriffsbildung verfolgt. Nicht
etwa jenseits der Wissenschaften, sondern diesseits derselben, in
ihrem methodischen Fortschritt stößt er auf Entwicklungen, die
das klassische Wissenschaftsverständnis in Frage stellen, so daß
beispielsweise auch die Position des Wissenschaftlers als eines
souveränen Beobachters relativiert wird. »Man wird sehen«, so
kündigt Merleau-Ponty im Vorwort an, »daß die standpunkt-
XIV Christian Bermes
9 Als Beispiel sei hier auf die Einführung des Strukturbegriffs in die
1945), aus dem Französischen übersetzt von Rudolf Boehm, Berlin 1966,
S. 418: »Wir müssen die Deskriptionen zum Anlaß nehmen, ein Verstehen
und eine Reflexion zu begründen, die sich als radikaler erweisen als alles
objektive Denken. Der Phänomenologie im Sinne direkter Beschreibung
muß sich eine Phänomenologie der Phänomenologie zur Seite stellen.«
Vgl. ebd. S. 257: »Radikal ist eine Reflexion, die mich erfaßt im Begriff,
die Idee des Subjekts und die des Objekts zu bilden und zu formulieren,
die den Ursprung beider Ideen zutage legt, die nicht allein operierende,
sondern in dieser Operation ihrer selbst bewußte ist.«
13 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1: Die
14 Ebd., S. 11: »Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur.
Sie sucht zu verstehen und zu erweisen, wie aller Inhalt der Kultur, sofern
er mehr als bloßer Inhalt ist, sofern er in einem allgemeinen Formprinzip
gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat.«
XVIII Christian Bermes
France (1951/52), in: ders., Das Auge und der Geist, a. a. O., S. 99–110, hier:
S. 105 f.
16 Ebd., S. 109 f.
17 Ebd., S. 275–317.
18 Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, hrsg.
Einleitung XIX
Merleau-Pontys, das zum einen den Ausgangspunkt, aber auch den Ziel-
punkt des Unterfangens markiert und somit den Rahmen angeben kann,
in dem sich dieses Vorhaben entfalten sollte, das zum anderen aber auch
auf die Darstellungsschwierigkeiten hinweist: »Wenn ich zur inkarnierten
Subjektivität des menschlichen Leibes gelange, den ich weiterhin auf die
Lebenswelt beziehe, muß ich auf etwas anderes als das ›Psychische‹ im Sinne
der Psychologie (das heißt auf eine bloße Gegenabstraktion zur Natur an
sich, zur Natur der bloßen Sachen) stoßen, muß ich auf eine Subjektivität
XX Christian Bermes
und auf eine Intersubjektivität, auf ein Universum des Geistes stoßen, das,
selbst wenn es nicht eine zweite Natur ist, doch seine Gediegenheit und
Vollständigkeit hat, sie aber ebenfalls im Modus der Lebenswelt verkör-
pert. – Das bedeutet: noch in der Objektivierung der Linguistik muß ich
den Logos der Lebenswelt antreffen. […] Im Grunde wäre ich erst dann
in der Lage, eine Ontologie und die Philosophie zu definieren. Die Onto-
logie wäre die Ausarbeitung von Begriffen, die jene der transzendentalen
Subjektivität, des Subjektes, des Objektes und des Sinnes ersetzen müs-
sen – die Definition der Philosophie enthielte eine Erhellung des philoso-
phischen Ausdrucks selbst […] als Wissenschaft der Vor-Wissenschaft, als
Ausdruck dessen, was vor dem Ausdruck liegt und ihn untergründig trägt.
– Hier die Schwierigkeit zur Sprache bringen: die Philosophie enthält sich
selbst, wenn sie absolut sein will. In Wirklichkeit aber verschaffen uns alle
Einzelanalysen der Natur, des Lebens, des menschlichen Leibes, der Spra-
che nach und nach einen Zugang zur Lebenswelt und zum ›wilden Sein‹,
und ich darf es mir unterwegs nicht nehmen lassen, mit einer positiven
Beschreibung derselben und ebenfalls mit der Analyse verschiedener Zeit-
lichkeiten zu beginnen«; Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das
Unsichtbare, a. a. O., S. 217 f.
Einleitung XXI
Editorische Notiz
ZEICHEN
VORWORT
dustrie, die ihre Straßen und Städte verstopft und die klassischen
Formen menschlicher Einrichtungen zerstört … Auf allen Ebe-
nen tauchen gewaltige Probleme auf: Es gilt, nicht nur Techniken
zu erfinden, sondern auch politische Formen, Leitgedanken, ei-
nen bestimmten Geist, Lebensinhalte … Aber gerade in diesem
Moment fällt eine Armee, die lange Zeit im Kolonialkrieg von
der Welt abgeschieden war und die dort den Gesellschaftskampf
gelernt hat, mit all ihrem Gewicht auf den Staat zurück, von dem
sie eigentlich abhängen sollte, und sie drängt die Ideologie des
Kalten Krieges wieder in eine Zeit zurück, die gerade im Begriff
war, sich von ihr zu befreien. Jemand, der es vor zwanzig Jahren
verstanden hat, die ›Eliten‹ (und insbesondere die militärischen
Eliten) zu verurteilen, glaubt nun, eine dauerhafte Herrschaft zu
errichten, indem er sich allein an die Spitze des Staates setzt, und
er befreit den Staat von den Störmanövern jeder Versammlung,
nur um ihn umstürzlerischen Gruppen auszusetzen. Er, der gesagt
hat, daß man sich nicht an die Stelle eines Volkes setzen könne
(aber zweifellos handelte es sich dabei nur um eine Formel der
Verzweiflung, des ›unnützen Dienstes‹), er trennt das nationale
Streben von dem, was er das Lebensniveau nennt – als könne eine
gereifte Nation diese Dilemmata nicht akzeptieren, als könnten
die ökonomischen Verhältnisse einer realen Gesellschaft jemals
dieser Art der Intendantur einer künstlichen Gesellschaft der Ar-
mee untergeordnet sein, als seien Brot, Wein und Arbeit von sich
aus weniger ernste, weniger heilige Dinge als Geschichtsbücher.
Man könnte vielleicht sagen, diese immer gleiche und pro-
vinzielle Geschichte sei die Geschichte Frankreichs. Setzt sich
aber die übrige Welt offener mit jenen Fragen auseinander, die
sie bewegen? Weil diese Fragen Gefahr laufen, die Grenzen von
Kommunismus und Kapitalismus zu verwischen, läßt die Kir-
che nichts unversucht, um sie zu ersticken, sie erneuert manchen
längst vergessenen Bann, verurteilt von neuem den Sozialismus,
wenn nicht gar die Demokratie, sucht die Stellungen der Staats-
religion wieder zu beziehen und unterbindet überall, vor allem in
den eigenen Reihen, jeden Forschungsgeist und jedes Vertrauen
auf die Wahrheit.
4 Vorwort
*
Diese Überlegungen sind hier und da latent vorhanden. Man
kann sie bei Lesern und Schriftstellern erahnen, die Marxisten
sind oder waren und die, wenngleich sie in allen übrigen Belan-
gen nicht der gleichen Ansicht sind, offenbar darin übereinkom-
men, daß sie die Trennung von Philosophie und Politik feststel-
len. Sie haben mehr als jeder andere versucht, auf beiden Ebenen
zugleich zu leben. Ihre Erfahrung herrscht über die Frage, und
aus dieser Erfahrung heraus müßte die Frage neu durchdacht
werden.
Zunächst einmal ist nur sicher, daß es bei den Philosophen
eine politische Besessenheit gab, die weder zu guter Politik noch
zu guter Philosophie geführt hat. Da die Politik, wie man weiß,
die moderne Tragödie ist, erwartete man von ihr auch eine Auflö-
sung der dramatischen Verknüpfung. Unter dem Vorwand, alle
menschlichen Fragen seien darin enthalten, wurde jeder politi-
sche Zorn zum heiligen Zorn und die Zeitungslektüre, wie Hegel
sie einmal in jungen Jahren genannt hat, zum philosophischen
Morgengebet. Der Marxismus sah in der Geschichte all die ab-
strakten Dramen des Seins und des Nichts, und er hatte ihr damit
eine enorme metaphysische Last aufgebürdet – zu Recht, denn er
dachte an die Gliederung, die Architektonik der Geschichte, an
6 Vorwort
die Einfügung von Geist und Materie, Mensch und Natur, Exi-
stenz und Bewußtsein, zu der die Philosophie nur die Algebra
oder das Schema liefert. Als vollständige Wiederaufnahme der
menschlichen Ursprünge in den Entwurf einer neuen Zukunft
ist die revolutionäre Politik durch dieses metaphysische Zen-
trum hindurchgegangen. In letzter Zeit aber hat man alle For-
men des Geistes und des Lebens mit einer rein taktischen Politik
verbunden, die nichts als eine unzusammenhängende Serie von
Handlungen und Nebenhandlungen ohne Folge ist. Anstatt ihre
Tugenden zu vereinigen, haben Philosophie und Politik seitdem
ihre Laster ausgetauscht: Man verfügte über eine listenreiche
Praxis und ein abergläubisches Denken. Wie viele Stunden und
wie viele Argumente wurden anläßlich einer Wahl der Parla-
mentsfraktion oder einer Zeichnung von Picasso verschwendet,
als seien die Weltgeschichte, die Revolution, die Dialektik oder
die Negativität unter diesen dürftigen Fällen wirklich präsent.
Tatsächlich waren die Technik, die Kunst, die Wandlungen der
Ökonomie und die großen historisch-philosophischen Ideen völ-
lig blutleer, da ihnen jeder Kontakt mit dem Wissen versagt blieb,
und der politische Rigorismus ging – außer bei den besten –
Hand in Hand mit der Trägheit, der fehlenden Neugier und der
Improvisation. Sollte dies die Vermählung von Philosophie und
Politik gewesen sein, so darf man annehmen, daß man sich an-
läßlich ihrer Scheidung glücklich schätzen muß. Marxistische
Schriftsteller haben mit all dem gebrochen und finden wieder in
ihre Rolle zurück: Wie könnte es besser sein? Und dennoch gibt
es zwischen der Philosophie und der Politik einen ›schlechten‹
Bruch, der nichts zu retten vermag und der sie in ihrer mißlichen
Lage beläßt.
Wenn man diesen Schriftstellern zuhört, verspürt man manch-
mal ein Unbehagen. Bald sagen sie, in wesentlichen Punkten blie-
ben sie Marxisten, ohne jedoch diese Punkte näher zu bestimmen
oder gar genau anzugeben, wie man in gewissen Punkten Marxist
sein kann – auf die Gefahr hin, untereinander das Durcheinan-
der zu belächeln, in dem Marxisten, Marxianer und Marxolo-
gen aneinandergeraten –, bald behaupten sie, ganz im Gegenteil,
Vorwort 7
rigkeiten geraten ist. Worin, Marx zufolge, genau das Laster der
Philosophie liegt. Wer aber würde dies vermuten, wo es im selben
Augenblick doch auch die Philosophie ist, die man als Sünden-
bock heranzieht? Die Nicht-Philosophie, die Marx zugunsten der
revolutionären Praxis lehrte, dient nun als Deckmantel der Unsi-
cherheit. Jene Schriftsteller wissen selber am besten, daß die mar-
xistische Anbindung der Philosophie und der Politik zerbrochen
ist. Aber sie tun so, als bliebe sie im Prinzip in einer zukünftigen,
das heißt imaginären Welt genau das, als das Marx sie bezeichnet
hatte: die in der Geschichte zugleich verwirklichte und zerstörte
2 Philosophie, die rettende Negation, die vollendende Destruktion.
Diese metaphysische Operation hat nicht stattgefunden – aus
diesem Grund haben sich jene Schriftsteller ja vom Kommunis-
mus abgewandt, der die abstrakten Werte, die er zerstörte, um
seine eigenen Werte an ihre Stelle zu setzen, so wenig zu verwirk-
lichen vermochte. Sie sind sich nicht ganz sicher, ob diese Ope-
ration überhaupt jemals stattfinden wird. Woraufhin sie, anstatt
den philosophischen Hintergrund zu untersuchen, ausgerechnet
diese metaphysische Operation, die Kühnheit und Resolution
sein will, in eine träumerische Hoffnung verwandeln. Ein keines-
wegs unschuldiger Trost, denn er beendet die in ihrer Mitte und
in ihrem Umfeld entstandene Diskussion wieder und erstickt
die aufkommenden Fragen im Keim: Allen voran die Frage, ob
es eine Operation der gleichzeitigen Zerstörung und Verwirkli-
chung gibt, namentlich eine Verwirklichung des Denkens, die es
als unabhängige Instanz überflüssig werden läßt, oder ob dieses
Schema nicht stillschweigend eine absolute Positivität der Natur
einbezieht, eine absolute Negativität der Geschichte oder eine
Antiphysis, die Marx in den ihn umgebenden Dingen festzustel-
len glaubte, obwohl diese Fragen vielleicht nur eine bestimmte
Art der Philosophie wiedergeben und nicht von der neuerlichen
Untersuchung ausgenommen werden können. Sodann die Frage,
ob dieses Nein, das der philosophischen Formel der Revolution
zufolge ein Ja ist, nicht eine Praxis der unbegrenzten Autorität
rechtfertigt, wobei die Parteifunktionäre, die die historische Rolle
des Negativs innehaben, aus dieser Sicht über jede Zuweisung von
10 Vorwort
ist, in dem er sich selbst für wahr hielt, und daß die jüngste Er-
fahrung, die ihn in einer Ordnung der sekundären Wahrheit eta-
bliert, den Marxisten eine neue Grundlage und beinahe schon
Methode gibt, die alle Mahnungen hinfällig werden läßt. Wenn
man sie fragt – und wenn sie sich selbst fragen –, ob sie noch
Marxisten sind, so gibt es auf diese schlechte Frage nur schlechte
Antworten, nicht nur deshalb, weil – wie wir weiter oben be-
merkt haben – eine präzise Antwort die immense Arbeit einer
umfassenden Sichtung für beendet erklären würde, sondern weil
diese Arbeit, selbst wenn sie geleistet worden wäre, niemals mit
einer einfachen Antwort enden könnte, da eine solche Frage, so-
bald sie sich stellt, ein klares Ja oder Nein ausschließt. Es wäre
unsinnig, sich die jüngsten Ereignisse als eine Art ›experimentum
crucis‹ vorzustellen, das es, entgegen der hartnäckig verbreite-
ten Legende, nicht einmal in der Physik gibt, und aus dem man
folgern könnte, daß eine Theorie sich ›bewahrheitet‹ habe oder
›widerlegt‹ sei. Es ist unerhört, diese Frage überhaupt in diesen
rudimentären Begrifflichkeiten zu stellen, als seien ›wahr‹ oder
›falsch‹ die beiden einzigen intellektuellen Seinsweisen. Sogar in
den Wissenschaften kann ein überholtes theoretisches Konstrukt
wieder in die Sprache derjenigen Theorie integriert werden, die es
überholt, es bleibt bedeutsam, es bewahrt seine Wahrheit. Wenn
es um die ganze innere Geschichte des Marxismus geht und um
seine Beziehungen zur prä- und postmarxistischen Philosophie
und Geschichte, so wissen wir von nun an, daß die Schlußfolge-
rung niemals eine dieser allzu oft gehörten Platitüden sein kann:
daß er ›immer noch gültig‹ oder ›von den Tatsachen‹ widerlegt
sei. Der Marxismus bildet immer noch und unabhängig davon,
ob sie sich nun bewahrheitet haben oder ob sie widerlegt wur-
den, den Hintergrund der marxistischen Äußerungen, wie eine
Matrix der intellektuellen und historischen Erfahrungen, so daß
der Marxismus immer noch mittels einiger Hilfshypothesen
vor dem Scheitern bewahrt werden kann, wie man im übrigen
auch immer noch behaupten kann, daß ihm der Erfolg nicht
gleich in allen Belangen Recht gibt. Die marxistische Lehre hat
seit einem Jahrhundert so viele theoretische und praktische Un-
12 Vorwort
Sie täuschen sich nicht, und sie täuschen auch uns nicht, wenn
sie heute sagen, sie blieben Marxisten, aber dies gilt nur, wenn
man hinzufügt, daß ihr Marxismus sich mit keinem Parteiappa-
rat mehr identifiziert, daß er eine Sichtweise der Geschichte ist
und nicht die wirkliche Bewegung der Geschichte – kurz, daß er
eine Philosophie ist. In dem Augenblick, in dem sie den Bruch
vollzogen, haben sie im Zorn oder in der Verzweiflung eins der
lautlosen Ereignisse der Geschichte vorweggenommen oder sich
ihm angeschlossen, und letztlich sind sie es, die Marx zu einem
Klassiker oder einem Philosophen gemacht haben.
Man sagte ihnen: Jede Initiative, jede politische oder nicht po-
litische Forschung wird an ihren politischen Folgen gemessen,
die politische Linie am Interesse der Partei und das Interesse der
Partei letzten Endes an der Sichtweise der Parteiführer. Sie ha-
ben diese Verkettung von Reduktionen aller Instanzen und aller
Kriterien auf nur noch ein einziges Kriterium von sich gewiesen,
und sie haben bekräftigt, daß die Bewegung der Geschichte sich
anderer Mittel bedient, daß sie auf der Ebene der politischen Or-
ganisation und im Proletariat, ebenso wie in den Gewerkschaften
und in der Kunst und der Wissenschaft, von anderen Rhythmen
geprägt wird und daß es mehr als einen Brennpunkt der Ge-
schichte gibt, oder mehr als eine Dimension, mehr als eine Refe-
renzebene, mehr als eine Quelle des Sinns. Sie haben damit eine
bestimmte Idee des Objekt-Seins, ebenso wie der Identität und
der Differenz, zurückgewiesen. Haben die Idee eines an mehreren
Brennpunkten oder in mehreren Dimensionen kohärenten Seins
angenommen. Und sie behaupten, keine Philosophen zu sein?
Man fährt fort: Ihr sprecht vom Marxismus; aber sprecht ihr
aus einer Innen- oder einer Außenansicht über ihn? Die Frage
ergibt in dem Augenblick keinen großen Sinn mehr, in dem der
Marxismus vielleicht zersplittert, in dem er sich aber auf jeden
Fall öffnet. Man spricht von innen heraus über ihn, wenn man
kann, und von außen, wenn es nicht mehr anders geht. Und wer
handelt dabei besser? Steht man außerhalb oder innerhalb, wenn
man die berühmte ›Überwindung des Inneren‹, die er gegenüber
allen Doktrinen empfohlen hat, nun auf ihn selbst anwendet?
Vorwort 15
Man ist schon außerhalb, sobald man versucht, sich selbst und
die existierenden Dinge anhand der gesagten Dinge zu verstehen,
statt diese noch einmal zu sagen. Die Frage, ob man beteiligt ist
oder nicht, stellt sich nur angesichts einer neu entstehenden hi-
storischen Bewegung oder einer neu aufgestellten Doktrin. Der
Marxismus ist zugleich weniger und mehr als dies, nämlich ein
weites Feld, auf dem sich die Geschichte und das Denken abgela-
gert haben und auf dem man sich üben und lernen wird, zu den-
ken. Die Veränderung fällt ihm schwer, wo er doch die Operation
einer in Worte gefaßten Geschichte sein wollte. Aber gerade darin
lag der Gipfel der philosophischen Arroganz.
Sicherlich gibt es in der Welt verschiedene Situationen eines
Klassenkampfes. Es gibt sie in den alten Ländern – etwa der
Schweiz von Yves Velan –, und es gibt sie in den jüngst in die
Unabhängigkeit entlassenen Ländern. Ihre Unabhängigkeit wird
mit Sicherheit nur ein Wort bleiben, wenn die Endpunkte ihrer
Entwicklung nach den Interessen der fortgeschrittenen Länder
definiert werden und wenn der linke Flügel der neuen Nationa-
lismen darüber mit den lokalen Bourgeoisien in Streit gerät. Es
ist im übrigen gewiß, daß die neuen wirtschaftlichen Bereiche
und die Entwicklung der industriellen Gesellschaft in Europa,
die das althergebrachte parlamentarische und politische Leben
hinfällig werden lassen, den Kampf um die Kontrolle und die
Führung des neuen Wirtschaftsapparates auf die Tagesordnung
setzen. Ausgehend vom Marxismus kann man zwar Kategorien
aufstellen, die der Analyse der Gegenwart eine Richtung geben,
und der ›strukturelle Imperialismus‹ wäre dann eine dieser Ka-
tegorien.1 Es ist sogar erlaubt zu bekräftigen, daß keine Politik
sich auf lange Sicht als Politik unserer Zeit behaupten kann, wenn
sie diese Probleme und das marxistische Bezugssystem, das diese
aufdeckt, ignoriert. Genau das ist es, was wir vorhin mit dem
Satz zu verstehen gaben, daß Marx ein Klassiker sei. – Aber ist ein
solcher Marxismus überhaupt der Entwurf einer Politik? Geht
der theoretische Zugriff, den er auf die Geschichte gewährt, auch
*
Man lacht über den Philosophen, der sich wünscht, der ›ge-
schichtliche Prozeß‹ möge den Weg über seinen Schreibtisch
nehmen. Er rächt sich, indem er gerade den Absurditäten der
Geschichte Tribut zollt. Dies ist sein Auftritt in einem mittler-
weile säkularen Vaudeville. Ob man nun weiter zurück in die
Vergangenheit blickt, oder ob man sich fragt, welche Rolle die
Philosophie heute spielen kann: Man wird sehen, daß die stand-
punktlose Überblicksphilosophie nur eine Episode war und daß
diese Episode beendet ist.
Heute wie einst beginnt die Philosophie mit der Frage: Was
ist denken? Und sie geht zunächst einmal ganz darin auf. Es gibt
hierbei weder Instrumente noch Organe, nur ein reines: Mir
scheint, daß … Derjenige, vor dem alles erscheint, kann sich
18 Vorwort
die Töne und die Dinge sind, wie die Sterne bei Van Gogh, die
Brennpunkte und die Strahlen des Seins.
Kommen wir auf die Anderen bei ihrem Erscheinen im Fleisch
der Welt (la chair du monde). Sie könnten für mich nicht sein, so
sagt man, wenn ich sie nicht wiedererkennen würde, wenn ich
bei ihnen nicht irgendein Zeichen der Selbstpräsenz entzifferte,
deren Modell nur ich selbst vorgeben kann. Wenn aber mein
Denken nur die Kehrseite meiner Zeit ist, meines passiven und
sensiblen Seins, dann ist es der ganze Stoff der sinnlichen Welt,
der hinzukommt, wenn ich mich, ebenso wie die Anderen, die in
diesem Stoff erfaßt sind, zu begreifen suche. Bevor sie sind, und
weil sie meinen Bedingungen der Möglichkeit unterworfen und
nach meinem Bild rekonstruiert sind, müssen sie als Reliefs da
sein, als Abweichungen, als Varianten einer einzigen Erscheinung,
an der auch ich teilhabe. Denn sie sind keine Fiktionen, mit de-
nen ich meine Wüste bevölkerte, keine Söhne meines Geistes,
keine ewig inaktuellen Möglichkeiten, sie sind vielmehr meine
Zwillinge oder das Fleisch meines Fleisches. Zwar lebe ich nicht
ihr Leben, sie bleiben definitiv entfernt von mir, und ich bleibe
entfernt von ihnen. Aber diese Distanz erweist sich als eine selt-
same Nähe, sobald man das Sein des Sinnlichen wiederfindet,
denn das Sensible ist genau das, was mehr als einen Körper heim-
sucht, ohne sich vom Fleck zu rühren. Diesen Tisch, der meinen
Blick streift, wird niemand sehen: Es müßte schon ich sein. Und
dennoch weiß ich, daß er im selben Augenblick, auf genau die-
selbe Weise auf jedem Blick lastet. Denn auch die anderen Blicke
sehe ich, sie zeichnen in demselben Feld, in dem die Dinge sind,
eine Leitlinie des Tisches, sie verbinden die Teile des Tisches
miteinander zu einer neuen Kompräsenz. Darunter, unter dem
Deckmantel jener Artikulation, die ich in dem Moment in Bewe-
gung setze, erneuert oder verbreitet sich die Artikulation eines
Blickes über ein Sichtbares. Mein Sehen überlagert ein anderes,
oder sie funktionieren vielmehr gemeinsam und fallen prinzipiell
auf dasselbe Sichtbare zurück. Eine meiner Sichtbarkeiten wird
sehend. Ich wohne dieser Metamorphose bei. Von nun an ist das
Sichtbare nicht mehr eines der Dinge, es ist vielmehr kreisförmig
Vorwort 21
4 Husserl.
22 Vorwort
sei denn, wir greifen auf die List des Sprechens zurück und set-
zen einen gemeinsamen Bereich an Gedanken als ein Drittes zwi-
schen uns ein. Es gibt nichts mehr zu betrachten als einen Blick,
der Sehende und das Gesehene sind vollkommen austauschbar,
die beiden Blicke legen sich unbeweglich übereinander, nichts
kann sie ablenken und sie voneinander unterscheiden, denn die
Dinge sind außer Kraft gesetzt und jeder hat nur noch mit sei-
nem Doppelgänger zu tun. Für die Reflexion gibt es dabei nur
noch zwei ›Gesichtspunkte‹ ohne gemeinsames Maß, zwei Ich
denke, von denen jedes sich für den Sieger in diesem Wettstreit
halten kann, denn alles in allem handelt es sich doch nur um
einen meiner Gedanken, wenn ich denke, daß der andere mich
denkt. Das Sehen bewirkt, was die Reflexion niemals verstehen
wird: daß aus einem Kampf manchmal kein Sieger hervorgeht
und das Denken in Zukunft ohne einen Titelverteidiger aus-
kommen muß. Ich sehe ihn an. Er sieht, daß ich ihn ansehe. Ich
sehe, daß er es sieht. Er sieht, daß ich sehe, daß er es sieht … Die
Analyse läßt sich endlos fortsetzen, und wenn sie das Maß aller
Dinge wäre, dann würden die Blicke auf unbestimmte Zeit über-
einander hinweggleiten, es gäbe niemals nur ein einziges cogito
auf einmal. Folglich bewirkt das Sehen, obwohl die Spiegelungen
der Spiegelungen im Prinzip bis ins Unendliche weitergehen,
daß sich die ungewissen Ausgänge der beiden Blicke aneinander
anpassen und daß man nicht mehr zwei Bewußtseine mit ihrer
jeweils eigenen Teleologie hat, sondern zwei ineinander ruhende
Blicke, die allein auf der Welt sind. Das Sehen skizziert, was das
Verlangen ausführt, wenn es zwei ›Gedanken‹ auf diese zwischen
ihnen liegende Kampflinie zutreibt, diese brennende Oberfläche,
an der sie eine Verwirklichung suchen, die für beide von ihnen
auf identische Weise dieselbe wäre, so wie die sinnliche Welt allen
gemeinsam ist.
Das Sprechen, so möchten wir sagen, würde diese Faszination
durchbrechen. Es würde sie nicht beseitigen, aber es würde sie
aufschieben, sie verlagern. Denn es ist Teil einer Woge der stum-
men Kommunikation und nimmt aus ihr heraus seinen Elan.
Es entreißt oder zerreißt Bedeutungen im ungeteilten Ganzen
Vorwort 23
letztlich stets nur eine Berührung des Denkens mit dem Denken
gibt. Natürlich sind Laute nur im Hinblick auf einen Gedanken
sprechend, aber dies will nicht heißen, daß das Sprechen abge-
leitet oder sekundär wäre. Natürlich hat das System der Sprache
selbst seine denkbare Struktur. Wenn wir aber sprechen, dann
denken wir sie nicht so mit, wie der Linguist sie denkt, wir den-
ken nicht einmal an sie, sondern denken an das, was wir sagen. Es
ist nicht nur so, daß wir gar nicht gleichzeitig an zwei Dinge den-
ken könnten: Man würde sagen, damit wir ein Signifikat vor uns
haben, sei es auf seiten des Senders oder des Empfängers, müssen
wir aufhören, uns den Code und sogar die Botschaft vorzustellen,
wir müssen zu rein Ausführenden des Sprechens werden. Das
wirksame Sprechen führt zum Nachdenken, und das lebendige
Denken findet auf magische Weise seine Wörter. Es gibt nicht das
Denken und die Sprache, jede der beiden Ordnungen verdoppelt
sich bei näherem Hinsehen und verzweigt sich in der anderen.
Es gibt das verständige Sprechen, das wir als Denken bezeichnen
– und das versagende Sprechen, das wir als Sprache bezeichnen.
Es liegt dann vor, wenn wir nicht verstehen, was wir sagen: Die
Wörter sind da, und dennoch erscheint uns unser eigenes Re-
den wie reines Denken.5 Es gibt ein unartikuliertes Denken (das 3
›Aha-Erlebnis‹ der Psychologen), und es gibt das vollendete Den-
ken – das sich plötzlich, ohne daß es darum wußte, von Wör-
tern umgeben sieht. Die Ausdruckshandlungen vollziehen sich
zwischen dem denkenden Sprechen und dem sprechenden Den-
ken, und nicht, wie wir leichthin sagen, zwischen Denken und
Sprache. Wir sprechen nicht etwa, weil sie parallel nebeneinander
stehen, vielmehr stehen sie nur parallel nebeneinander, weil wir
sprechen. Die Schwäche eines jeden ›Parallelismus‹ besteht darin,
daß er sich den Anschein von Korrespondenzen zwischen den
Ordnungen gibt und uns die Handlungsvorgänge verschleiert,
die diese Ordnungen zunächst einmal durch einen Übergriff her-
vorgebracht haben. Die ›Gedanken‹, die das Sprechen überziehen
und aus ihm ein verständliches System werden lassen, die Felder
5 Jean Paulhan.
Vorwort 25
wir zunächst nicht wissen, welchen. Die Ideen sind keine zweite
Positivität mehr, keine zweite Welt, die ihre Reichtümer unter
einer zweiten Sonne zur Schau stellen würde. Indem wir die
Welt oder das ›vertikale‹ Sein wiederfinden, jenes Sein, das auf-
recht vor meinem aufrechten Leib steht und in dem die Ande-
ren enthalten sind, erfahren wir eine Dimension, in der auch die
Ideen ihre wahre Solidität erhalten. Sie sind die geheimen Ach-
sen oder, wie Stendhal sagte, das ›Pfahlwerk‹ unserer Worte, die
Zentren unserer Gravitation, dieser genau definierte Hohlraum,
über dem das Gewölbe der Sprache konstruiert wird und der
gegenwärtig nur im Gewicht und im Gegengewicht der Steine
existiert. Aber sind denn die sichtbaren Dinge und die sichtbare
Welt anders beschaffen? Sie liegen immer hinter dem, was ich
von ihnen sehen kann, am Horizont, und was man Sichtbarkeit
nennt, ist diese Transzendenz selbst. Jede Sache, jede Seite einer
Sache zeigt sich nur, indem sie aktiv alle anderen verbirgt, indem
sie sie im Akt ihrer Maskierung verrät. Sehen heißt, prinzipiell
mehr zu sehen als man sieht, heißt Zugang zu einem latenten
Sein zu haben. Das Unsichtbare ist das Relief und die Tiefe des
Sichtbaren, und das Sichtbare weist ihm gegenüber kein größeres
Maß an reiner Positivität auf. Was die Quelle der Gedanken selbst
angeht, so wissen wir nun, daß wir nach ihr unter den Aussagen
und insbesondere unter der berühmten Äußerung von Descartes
suchen müssen, wenn wir sie finden wollen. Die logische Wahr-
heit – die lautet, daß ›man sein muß, um zu denken‹ – und ihre
Bedeutung als Aussage üben prinzipiell Verrat an dieser Äuße-
rung, denn sie beziehen sich gerade in dem Augenblick auf einen
Gegenstand des Denkens, in dem man Zugang zu dem finden
müßte, der denkt, und zu seinem natürlichen Zusammenhalt,
auf den das Sein der Dinge und das Sein der Ideen antworten.
Descartes’ Ausspruch ist die Geste, die in jedem von uns die-
ses Denken aufzeigt, das daran denkt zu entdecken, das ›Sesam
öffne dich‹ des fundamentalen Denkens. Fundamental, weil es
durch nichts transportiert wird. Aber nicht in dem Sinne fun-
damental, als könne man mit ihm einen Grund berühren, auf
dem man sich einrichten und verharren müßte. Es ist von seiner
Vorwort 29
Anlage her grundlos und, wenn man so will, ein Abgrund; dies
bedeutet, daß es niemals bei sich selbst ist, daß wir es in der Nähe
oder im Ausgang von den gedachten Dingen finden und daß es
eine Öffnung ist, der andere unsichtbare Endpunkt der Achse,
die uns an die Dinge und die Ideen bindet. Muß man sagen, daß
dieser äußerste Endpunkt nichts ist? Wenn er ›nichts‹ wäre, dann
würden die Unterschiede von nah und fern, würde das Relief des
Seins vor ihm verschwinden. Dimensionalität und Öffnung hät-
ten keinen Sinn mehr. Das absolut Offene würde vollständig in
einem unbegrenzten Sein aufgehen, und mangels einer anderen
Dimension, von der es sich unterscheiden könnte, würde das,
was wir die ›Vertikalität‹ nennen – die Gegenwärtigkeit –, nichts
mehr bedeuten. Eher als vom Sein und vom Nichts müßte man
vom Sichtbaren und vom Unsichtbaren reden und dabei wie-
derholen, daß sie sich nicht widersprechen. Man spricht vom
Unsichtbaren so, wie man vom Unbeweglichen spricht: nicht
im Hinblick auf das, was der Bewegung fremd ist, sondern im
Hinblick auf das, was in ihr als Unbewegliches fortdauert. Dies
ist der Ausgangspunkt oder der Nullpunkt der Sichtbarkeit, die
Öffnung einer Dimension des Sichtbaren. Mit einem Nullpunkt
in jeder Hinsicht und mit einem uneingeschränkten Sein muß
man sich nicht befassen. Wenn ich vom Nichts rede, gibt es schon
das Sein, dieses Nichts vernichtet also nicht ernsthaft, und dieses
Sein ist ohne Frage nicht mit sich identisch. Auf gewisse Weise
liegt der Gipfel der Philosophie vielleicht nur darin, wieder zu
diesen Binsenweisheiten zurückzufinden: Das Denken denkt, das
Sprechen spricht, der Blick blickt – aber zwischen diesen bei-
den identischen Wörtern liegt jedes Mal der ganze Sinnabstand,
den man überbrücken muß, um zu denken, zu sprechen und zu
sehen.
Die Philosophie, die diesen Chiasmus des Sichtbaren und des
Unsichtbaren enthüllt, ist das genaue Gegenteil einer Überblicks-
philosophie. Sie vertieft sich in das sinnlich Wahrnehmbare, die
Zeit und die Geschichte, sie beschäftigt sich eingehend mit ihren
jeweiligen Verfugungen und geht nicht mittels nur ihr eigener
Kräfte über sie hinaus, sie überholt sie nur in ihrem je eigenen
30 Vorwort
nicht verkennen, der die Menschen ebensogut und besser als sie
die Stirn bieten, jedoch gleichsam wie zur Hälfte in Schweigen
gehüllt.
*
So ist in jedem Fall die Philosophie beschaffen, von der man hier
einige Versuche finden wird. Nicht sie ist es, wie man sehen wird,
die man zur Debatte stellen müßte, wenn man zur Ansicht ge-
langt, daß wir in der Politik ein wenig zu hochtrabend, ein wenig
zu klug daherreden. Die Wahrheit ist vielleicht einfach, daß man
mehrere Leben haben müßte, um in jeden Erfahrungsbereich mit
der ganzen Hingabe, die er verlangt, Eintritt zu finden.
Aber ist dieser Ton wirklich so falsch, so wenig empfehlens-
wert? Alles, was man erdacht und wohldurchdacht glaubte – die
Freiheit und die Machtverhältnisse, den Staatsbürger gegenüber
der Staatsgewalt, den Heroismus des Staatsbürgers, den liberalen
Humanismus – die formale Demokratie und die reale, die sich
über sie hinwegsetzt und sie verwirklicht, den revolutionären
Heroismus und Humanismus – all dies liegt in Trümmern. An-
gesichts dieser Lage werden wir von Skrupeln erfaßt, wir werfen
uns vor, zu nüchtern darüber zu reden. Aber Vorsicht. Was wir
Unordnung und Trümmer nennen, erleben andere, jüngere als
natürlich, und vielleicht werden sie in ihrer Unbefangenheit Herr
der Lage sein, gerade weil sie nicht mehr dort ihre Bezugspunkte
suchen, wo wir sie noch fanden. Im Getöse des Niederreißens
verschwinden auch viele verdrießliche Leidenschaften, viele
Scheinheiligkeiten oder Verrücktheiten und viele falsche Dilem-
mata. Wer hätte dies vor zehn Jahren zu hoffen gewagt? Vielleicht
befinden wir uns an einem dieser Punkte, in dem die Geschichte
über uns hinweggeht. Wir sind betäubt von den französischen
Ereignissen oder den lautstarken Episoden auf diplomatischer
Ebene. Aber unter all dem Lärm bildet sich ein Schweigen her-
aus, eine Erwartung. Warum sollte es nicht sogar eine Hoffnung
sein?
Man zögert, diese Worte in dem Moment niederzuschreiben,
in dem Sartre, mit einer schönen Erinnerung an unsere Jugend,
zum ersten Mal einen Ton der Verzweiflung und der Revolte an-
32 Vorwort
hat, weil er die Revolte verpaßt hat – und daß ihnen folglich,
wenn sie davon genug haben, rund vierzig, vielleicht auch fünf-
zig untadelige Jahre versprochen sind. In dieser zwischen Sartre
und Sartre ausgetragenen Debatte über die Vergangenheit, die
Gegenwart und die Anderen hinweg, in dieser auf die Offenba-
rung einer Wahrheit abzielenden, ernsthaften Konfrontation des
zwanzigjährigen Sartre, des Sartre der Libération und der nicht
so weit zurückliegenden Jahre, und all dieser Personen mit dem
zwanzigjährigen Nizan, dem kommunistischen Nizan und dem
vom September 1939, und all dieser Leute mit den angry young
men von heute, dürfte man nicht vergessen, daß das Szenario von
Sartre stammt, daß seine immerwährende Regel, da dieses Sze-
nario seine Freiheit ist, darin besteht, sich selbst jene Entschuldi-
gungen zu verweigern, mit denen er die Anderen überhäuft, daß
sein einziges Unrecht, wenn es denn eines ist, darin besteht, die
Diskriminierung festzuschreiben, daß wir unsererseits in jedem
Fall zu weit gehen, wenn wir uns auf sie verlassen, daß wir also
unsere Ziele korrigieren und die Bilanz neu ziehen müssen, oder
aber seine verfluchte Verstandesschärfe liefert uns, indem sie die
labyrinthisch verschlungenen Wege der Revolte und der Revolu-
tion erhellt, gegen seinen Willen alle notwendigen Argumente,
um ihn freizusprechen. Dieser Text ist kein Spiegel, der auf
Sartres Weg gerichtet ist, er ist eine Handlung des heutigen Sartre.
Wir, die wir lesen und uns erinnern, können nicht so leicht den
Schuldigen von seinem Richter trennen, wir entdecken bei ihnen
familiäre Züge. Nein, der zwanzigjährige Sartre war desjenigen
nicht so unwürdig, der ihn jetzt zu desavouieren sucht; und sein
heutiger Richter gleicht ihm noch in der Strenge seines Richter-
spruchs. Als Anstrengung eines Experiments, sich zu verstehen,
als Interpretation seiner selbst und Deutung aller Dinge durch
sich selbst ist dieser Text nicht geschrieben, um passiv gelesen zu
werden, wie eine Feststellung oder eine Bestandsaufnahme, son-
dern um entziffert, durchdacht und erneut gelesen zu werden. Er
hat – dies ist das Schicksal jeder guten Literatur – mit Sicherheit
einen vielfältigeren, vielleicht auch einen anderen Sinn als den,
den der Autor hineingelegt hat.
34 Vorwort
für uns verbraucht, unbedeutend und nur das, was sie in ihrer
unzugänglichen Wahrheit war. An ein anderes, allzu vorzeitig
beendetes Leben lege ich den Maßstab der Hoffnung an. Mein
eigenes, noch andauerndes Leben bemesse ich nach den strengen
Maßstäben des Todes. Ein junger Mensch hat vieles unternom-
men, wenn er eine Möglichkeit gewesen ist. Bei einem gereif-
ten Menschen, der immer noch da ist, will es uns scheinen, als
hätte er nichts unternommen. Wie in den Dingen der Kindheit,
so finde ich auch in dem verlorenen Kameraden die Fülle, sei
es, weil der schöpferische Glaube in mir versiegt ist oder die Wirk-
lichkeit sich erst in der Erinnerung formt.8 Eine andere retrospek- 7
tive Illusion, von der Bergson nicht gesprochen hat: nicht mehr
die Illusion der Präexistenz, sondern die des Verfalls. Vielleicht
entströmt die Zeit weder der Zukunft noch der Vergangenheit.
Vielleicht ist es der Abstand, der für uns die Realität des Ande-
ren, und insbesondere des verlorenen Anderen, ausmacht. Dieser
Abstand würde uns aber rehabilitieren, wenn wir ihn uns selber
gegenüber einnehmen könnten. Um einen Ausgleich zu finden
zwischen dem, was Sartre heute über sich selbst und über den
zwanzigjährigen Nizan schreibt, wird stets das fehlen, was der
fünfzigjährige Nizan über ihre Jugend hätte sagen können. Für
uns waren sie zwei Männer, die noch am Anfang standen und die
dabei im genauen Gegensatz zueinander standen.
Was Sartres Bericht seine Melancholie verleiht, ist der Um-
stand, daß man die beiden Freunde hier ganz allmählich lauter
Dinge begreifen sieht, die sie von Anfang an hätten voneinander
lernen können. Vom Bild seines Vaters in Beschlag genommen,
von jenem Drama besessen, das älter als er selbst ist und das ei-
nen Arbeiter zeigt, der sich von der eigenen Klasse gelöst hat und
der bemerkt, daß sein Leben von diesem Moment an unwirklich
und verfehlt war, und dessen Leben im Haß auf sich selbst endet,
wußte Nizan ohne weiteres um das Gewicht der Kindheit, des
Körpers, des Sozialen, und er wußte, daß die Bezüge zur Kindheit
und die Bezüge zur Geschichte ineinander verwoben und ein und
8 Swann, I, S. 265.
Vorwort 39
10 Ebd., S. 48.
11 Ebd., S. 55.
42 Vorwort
12 Ebd., S. 41.
13 Ebd., S. 55.
Vorwort 43
gen werden können, dann, so denkt er, kann und will ich nicht
mehr.
Was aber denkt Sartre zur selben Zeit? Er hätte gern geglaubt,
daß Nizan ihn getäuscht habe. Aber nein. Nizan erklärt seinen
Rücktritt. Er ist derjenige, der getäuscht wurde. Sie sind zwei
Kinder in der Welt der Politik. Einer ernsten Welt, in der man die
Risiken nicht abschätzen kann und in der Frieden vielleicht nur
denen gegeben ist, die den Krieg nicht fürchten. Man zeigt die
eigene Stärke in seinen Handlungen nur dann, wenn man ent-
schlossen ist, sie auch einzusetzen. Wenn man sie nur halbherzig
zeigt, kommt es zum Krieg und zur Niederlage. »Ich entdeckte …
den monumentalen Irrtum einer ganzen Generation …: Man
trieb uns durch die blutdürstige Vorkriegszeit auf die Massaker
zu, und wir glaubten, wir wandelten auf den Rasenteppichen
13 des Friedens.«14 So ist bei ihm und bei Nizan die Enttäuschung
unterschiedlicher Art, ebenso wie die daraus gezogene Lektion.
Nizan hatte die Stärke, den Krieg und den Tod aus einem sehr
deutlichen Grund akzeptiert; mit seinem Opfer wurde er zum
Spielball des Geschehens; er fand nur noch bei sich selbst Asyl.
Sartre, der an den Frieden geglaubt hatte, entdeckte ein namen-
loses Unglück, dem man sehr wohl Rechnung tragen mußte.
Eine Lektion, die er nicht vergessen wird. Sie steht am Beginn
seines politischen Pragmatismus. In einer verhexten Welt stellt
sich nicht die Frage, wer Recht hat oder wer den ehrlichsten Weg
einschlägt, sondern wer es mit dem Großen Betrüger aufnehmen
kann, welche Tat nachgiebig, aber auch hart genug wäre, um ihn
zur Vernunft zu bringen.
Man versteht nun die Einwände, die Sartre heute gegen den
Nizan von 1939 vorbringt, und auch, warum sie ihm gegenüber
wirkungslos sind. Nizan, sagt er, war wütend. Aber läßt sich diese
Wut nur auf eine Laune zurückführen? Sie ist vielmehr ein Mo-
dus der Erkenntnis, der nicht unpassend ist, wenn es um Grund-
sätzliches geht. Für denjenigen, der zum Kommunisten geworden
ist und Tag für Tag in der Partei aktiv war, haben die gesagten und
14 Ebd. S. 57.
46 Vorwort
getanen Dinge Gewicht, denn es ist auch er selbst, der sie gesagt
und getan hat. Um die Wende von 1939 so aufzufassen, wie es
von ihm verlangt wurde, hätte Nizan eine Marionette sein müs-
sen, er hätte in seiner Persönlichkeit gebrochen werden müssen,
denn er ist nicht Kommunist geworden, um den Skeptiker zu
spielen. Oder aber er hätte nur Sympathisant sein dürfen. Die
Partei steht jedoch nicht zur Debatte, fügt Sartre hinzu. Nicht
durch die Partei kommt er zu Tode. »Das Massaker wurde von
der Erde hervorgebracht und entstand überall.«15 Das glaube 14
ich. Aber es bedeutet dennoch, daß man die Partei durch die-
sen Bezug als ein Faktum der Geschichte der Erde rechtfertigt.
Für Nizan, der ihr angehört, geht es um alles oder nichts … »Ein
unüberlegtes Vorgehen«, erwidert Sartre erneut. »Ich sage mir,
daß die Résistance, hätte er sie erlebt, ihn wie so viele andere
in Reih und Glied zurückgebracht hätte.«16 In Reih und Glied 15
zurückgebracht, selbstverständlich. Aber auch in die Reihen der
Partei? Das ist etwas ganz anderes. Es ist beinahe schon das ge-
naue Gegenteil: eine autoritäre Funktion, ein Unterscheidungs-
merkmal. Selbst politisch ausgesöhnt hätte er diese Episode doch
nicht vergessen können. Der Kommunismus, von dem er sich
verabschiedet hatte, war die sittsame Doktrin, die das Vater-
land und die Familie mit in die Revolution aufnahm. Er hätte
einen abenteuerlichen Kommunismus wiedergefunden, der die
Rolle der Revolution auf dem Wege des Widerstandes zu spielen
suchte, später dann den Part des Defätismus übernahm und nach
dem Krieg, in einer Zeit des Abwartens, den Part der Rekonstruk-
tion und des Kompromisses. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte
er auf diesen Zug aufspringen können, er, der an die Wahrheit
des Marxismus geglaubt hatte? Er hätte es unter der Bedingung
gekonnt, nicht jedes Mal Stellung bezogen zu haben. Es ist eine
Sache, von außen oder nachträglich (was auf das Gleiche hinaus-
läuft) mit den Bruchstücken in der Hand die Umwege des Kom-
munismus zu rechtfertigen, es ist aber eine andere Sache, die List
15 Ebd., S. 60.
16 Ebd., S. 58.
Vorwort 47
17 Ebd., S. 44 f.
48 Vorwort
18 Ebd., S. 17.
Vorwort 49
19 Ebd., S. 29.
20 Ebd., S. 30.
21 Ebd., S. 45.
22 Ebd., S. 18.
23 Ebd., S. 29.
50 Vorwort
24 Ebd., S. 18.
25 Ebd., S. 61.
26 Ebd., S. 51.
Vorwort 51
2 Bei Saussure haben wir gelernt, daß die einzelnen Zeichen für
sich genommen nichts bedeuten, daß jedes von ihnen weniger
einen Sinn ausdrückt, als daß es einen Sinnabstand zwischen
sich selbst und den anderen Zeichen angibt. Da man von diesen
dasselbe sagen kann, besteht die Sprache also aus Unterschieden
ohne Ausdrücke, oder genauer, die Ausdrücke der Sprache wer-
den erst durch die zwischen ihnen auftauchenden Unterschiede
hervorgebracht. Das kann man sich schwer vorstellen, denn der
gesunde Menschenverstand antwortet: Wenn der Ausdruck A und
der Ausdruck B ganz und gar keinen Sinn haben, so ist nicht er-
sichtlich, wie es zwischen ihnen einen Sinngegensatz geben kann,
und wenn sich die Kommunikation wirklich zwischen dem Gan-
zen der gesprochenen Sprache und dem Ganzen der gehörten
Sprache herstellte, müßte man die Sprache schon kennen, wenn
man sie erlernen will … Dieser Einwand ist jedoch von dersel-
ben Art wie die Paradoxa Zenons: Wie diese durch die Ausübung
einer Bewegung widerlegt werden, so wird jener durch den Ge-
brauch der Sprache widerlegt. Und jene Art von Zirkel, daß die
Sprache bei denen, die sie erlernen, sich selbst vorausgeht, sich
selbst lehrt und uns ihre eigene Aufschlüsselung vorschlägt, ist
vielleicht das Wunder, das das Sprechen bestimmt.
Die Sprache wird erlernt, und insofern muß man sicher von
den Teilen zum Ganzen gehen. Das Ganze, das bei Saussure pri-
mär ist, kann also nicht das ausdrückliche und artikulierte Ganze
der vollständigen Sprache sein, wie es die Grammatiken und die
Wörterbücher verzeichnen. Er denkt ebensowenig an die logi-
sche Ganzheit eines philosophischen Systems, dessen Elemente
(im Prinzip) alle aus einer einzigen Idee abgeleitet werden kön-
nen. Da er ja gerade den Zeichen jede andere Bedeutung als eine
54 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens
man also sagen, daß dieser Raum noch nicht da ist? Brunelleschi
hatte sich einen merkwürdigen Apparat konstruiert,2 in dem zwei 5
Ansichten des Baptisteriums und des Rathauses, mit den Stra-
ßen und Plätzen, die sie einrahmen, in einem Spiegel reflektiert
wurden, während eine Platte aus poliertem Metall das Himmels-
licht darauf projizierte. Bei ihm gibt es also ein Forschen, ein
Befragen des Raumes. Ebenso schwer läßt sich sagen, wann die
reelle Zahl in der Geschichte des Mathematischen beginnt: An
sich (das heißt, wie Hegel sagt, für uns, die wir sie hinein proji-
zieren) ist sie schon in der Bruchzahl, die vor der algebraischen
Zahl die ganze Zahl in eine fortlaufende Reihe einfügt – aber
sie ist es gleichsam, ohne es zu wissen und nicht für sich selbst.
Ebenso muß man darauf verzichten, den Zeitpunkt zu fixieren,
wo das Lateinische zum Französischen wird, weil die grammati-
kalischen Formen wirksam werden und sich abzeichnen, bevor
sie systematisch angewandt werden, weil die Sprache manchmal
lange mit den Veränderungen, die endlich auftreten, schwanger
geht und weil die Aufzählung ihrer Ausdrucksmittel keinen Sinn
hat, da diejenigen, die außer Gebrauch kommen, weiterhin ein
abgeschwächtes Leben in ihr führen und die Stelle jener, welche
sie ablösen, manchmal schon angegeben ist, sei es auch nur als
Lücke, Bedarf oder Tendenz. Selbst wenn man genau datieren
kann, wann ein Prinzip für sich auftaucht, so war es doch schon
früher in der Kultur vorhanden, als eine Art Besessenheit oder
als Antizipation, und der Bewußtseinsakt, der es als ausdrückli-
che Bedeutung setzt, bringt nur seine lange Inkubation in einem
wirksamen Sinn zum Abschluß. Es bleibt jedoch immer ein Rest:
Der Raum der Renaissance wird seinerseits später als ein ganz
spezieller Fall des möglichen Bildraumes neu gedacht. Die Kultur
vermittelt uns also niemals absolut transparente Bedeutungen,
die Genesis des Sinns ist niemals abgeschlossen. Was wir zu Recht
unsere Wahrheit nennen, betrachten wir immer nur in einem
Kontext von Symbolen, die unser Wissen datieren. Wir haben
immer nur mit ganzen Zeichengefügen zu tun, deren Sinn nicht
2 Ebd., S. 17 ff.
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 57
für sich gesetzt werden kann, da sie nichts anderes sind als die Art
und Weise, in der sie sich zueinander verhalten, sich voneinan-
der unterscheiden – ohne daß wir auch nur den kläglichen Trost
eines vagen Relativismus hätten, weil jeder dieser Schritte eine
Wahrheit schlechthin ist und in die umfassendere Wahrheit der
Zukunft gerettet werden wird.Was die Sprache angeht, wenn sie
die laterale Beziehung von Zeichen zu Zeichen ist, die jedes von
ihnen bedeutend macht, so taucht der Sinn erst im Schnittpunkt
und gleichsam im Zwischenraum der Wörter auf. Das verbietet
uns, die Unterschiedenheit und Einheit der Sprache und ihres
Sinns so aufzufassen, wie man es gewöhnlich tut. Man glaubt,
daß der Sinn den Zeichen prinzipiell transzendent sei, wie es das
Denken für akustische oder visuelle Anzeichen wäre. Und man
meint, daß er den Zeichen insofern immanent sei, als jedes von
ihnen, da es ein für allemal seinen Sinn hat, zwischen sich und
uns keinen undurchsichtigen Bezug bringen, ja uns nicht einmal
zu denken geben kann: Die Zeichen hätten nur die Rolle einer
Ermahnung, sie wiesen den Hörer darauf hin, daß er diesen oder
jenen seiner Gedanken zu erwägen habe. So wohnt jedoch der
Sinn nicht dem Redefluß inne und so unterscheidet er sich nicht
von diesem. Wenn das Zeichen nur insofern etwas bedeutet, als
es sich von den anderen Zeichen abhebt, ist sein Sinn ganz in
die Sprache eingelassen, ein sprachlicher Ausdruck wirkt immer
vor dem Hintergrund anderer sprachlicher Ausdrücke und ist
immer nur eine Falte im unermeßlichen Gewebe des Sprechens.
Um ihn zu verstehen, brauchen wir kein inneres Lexikon zu be-
fragen, das uns im Hinblick auf die Wörter oder Formen reine
Gedanken angäbe, mit denen sie sich deckten: Es genügt, daß
wir seinem Leben, seiner Differenzierungs- und Artikulationsbe-
wegung, seiner sprechenden Gestik zustimmen. Es gibt folglich
eine Undurchdringlichkeit der Sprache: Nirgends nimmt sie sich
ganz zurück, um dem reinen Sinn Platz zu machen, immer wird
sie nur wieder durch Sprache selbst umgrenzt, und der Sinn er-
scheint in ihr nur als ein in den Wörtern Eingefaßtes. Wie die
Scharade läßt sie sich nur durch die Wechselwirkung der Zeichen
verstehen, von denen jedes für sich genommen mehrdeutig oder
58 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens
banal ist und deren Zusammenfügung erst einen Sinn ergibt. Für
den, der spricht, nicht weniger als für den, der zuhört, ist die
Rede etwas ganz anderes als eine Technik des Verschlüsselns oder
Dechiffrierens für schon feststehende Bedeutungen: Zunächst
muß sie diese als erkennbare Gebilde existieren lassen, indem
sie sie an der Kreuzung sprachlicher Gesten ansiedelt, als das,
was diese übereinstimmend zeigen. Unsere Analysen des Den-
kens tun so, als ob dieses, bevor es seine Wörter gefunden hat,
schon eine Art idealer Text wäre, den unsere Sätze zu übersetzen
suchten. Aber der Autor selbst hat keinen Text, den er mit seiner
Schrift konfrontieren könnte, keine Sprache vor der Sprache.
Wenn er mit seiner Ausdrucksweise zufrieden ist, dann wegen
eines Gleichgewichts, dessen Bedingungen sie selbst definiert,
aufgrund einer Vollkommenheit ohne Vorbild. Weit mehr als ein
Mittel ist die Sprache so etwas wie ein Sein, und eben deshalb
kann sie uns so gut jemanden gegenwärtig machen: Die Sprech-
weise eines Freundes am Telefon gibt ihn uns selbst, als wenn
er ganz da wäre in jener Art, wie er uns anredet und sich verab-
schiedet, wie er seine Sätze beginnt und beendet, wie er durch
die ungesagten Dinge voranschreitet. Der Sinn ist die ganze Be-
wegung des Sprechens, und deshalb treibt sich unser Denken in
der Sprache herum. So durchzieht es diese, wie die Geste den
Raum übergreift, den sie durchläuft. In eben dem Augenblick,
da die Sprache unseren Geist zur Gänze erfüllt, ohne den ge-
ringsten Platz für einen Gedanken zu lassen, der nicht von ihrer
Vibration erfaßt wäre, und gerade in dem Maße, wie wir uns
ihr ganz überlassen, führt sie über die ›Zeichen‹ hinaus zu deren
Sinn. Und von diesem Sinn trennt uns nichts mehr: Die Sprache
setzt ihre Liste der Korrespondenz nicht voraus, sie enthüllt selbst
ihre Geheimnisse, sie lehrt sie jedem Kind, das zur Welt kommt,
sie ist ganz und gar Einweisung. Ihre Undurchdringlichkeit, ihr
unaufhörlicher Selbstbezug, ihre Rückwendungen und Rückzüge
auf sich als Sprache sind gerade das, was ihr geistiges Vermögen
ausmacht: Denn jetzt wird sie selbst so etwas wie ein Universum,
fähig, die Dinge selbst in sich zu beherbergen – nachdem sie sie
in ihren Sinn verwandelt hat.
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 59
Wenn wir nun aber die Idee von einem ursprünglichen Text,
dessen Übersetzung oder chiffrierte Version unsere Sprache wäre,
aus unserem Geist verbannen, dann werden wir erkennen, daß
die Vorstellung von einem vollständigen Ausdruck sinnlos ist,
daß jede Rede indirekt oder anspielend, und wenn man so will,
Schweigen ist. Die Beziehung des Sinnes zum Sprechen kann
nicht mehr jene punktuelle Korrespondenz sein, die wir im-
mer vor Augen haben. Saussure bemerkt noch weiter, daß der
Engländer, wenn er sagt the man I love, sich ebenso vollständig
6 ausdrückt wie der Franzose, wenn er sagt l’homme que j’aime.
Das Relativpronomen kommt, würde man sagen, im Englischen
nicht zum Ausdruck. In Wahrheit aber ist es, anstatt durch ein
Wort ausgedrückt zu werden, durch eine Leerstelle zwischen den
Wörtern in die Sprache eingegangen. Nicht einmal, daß es still-
schweigend mitverstanden wird, sollten wir sagen. Der Begriff
des Mitverstandenen bringt in naiver Weise unsere Überzeugung
zum Ausdruck, daß eine Sprache (im allgemeinen unsere Mutter-
sprache) in ihren Formen die Dinge selbst einzufangen vermag
und daß jede andere Sprache, wenn sie diese auch in sich fas-
sen will, sich zumindest stillschweigend ähnlicher Instrumente
bedienen muß. Wenn für uns das Französische zu den Dingen
selbst vorstößt, dann sicher nicht, weil es das Gefüge des Seins
kopiert hätte: Es hat zwar ein eigenes Wort, um die Relation aus-
zudrücken, aber es kennzeichnet die Objektfunktion nicht durch
eine besondere Endung; man könnte sagen, daß es die Deklina-
tion mitversteht, die das Deutsche zum Ausdruck bringt (ebenso
wie den Aspekt, den das Russische, und den Optativ, den das
Griechische ausdrücklich bezeichnet). Wenn das Französische
uns als Abdruck der Dinge erscheint, so nicht deshalb, weil es so
ist, sondern weil es uns durch die inneren Beziehungen zwischen
den Zeichen diese Illusion vermittelt. Aber mit dem Satz the man
I love ist es das gleiche. Das Fehlen eines Zeichens kann selbst ein
Zeichen sein, und das Ausdrücken besteht nicht darin, daß jedem
Sinnelement ein Element der Sprache angepaßt wird, sondern in
einem Einwirken der Sprache auf die Sprache, das sich plötzlich
in Richtung auf ihren Sinn hin verlagert. Sprechen heißt nicht,
60 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens
von Matisse bei der Arbeit gemacht. Der Eindruck war unge-
heuer, so daß sogar Matisse beeindruckt gewesen sein soll. Den-
selben Pinsel, der, mit bloßem Auge betrachtet, von einem Zug
zum anderen sprang, sah man jetzt in einer langgezogenen und
feierlichen Zeit meditieren, beim unmittelbaren Bevorstehen ei-
nes Weltbeginns zehn mögliche Bewegungen versuchen, vor der
Leinwand tanzen, sie mehrmals streifen und schließlich wie der
Blitz zum einzig notwendigen Strich niedergehen. Natürlich hat
diese Analyse etwas Künstliches, und Matisse täuschte sich, wenn
er auf Grund des Films glaubte, daß er tatsächlich an jenem Tage
zwischen allen möglichen Pinselstrichen gewählt und wie Leib-
nizens Gott ein ungeheures Problem des Minimum und Maxi-
mum gelöst habe; er war kein Demiurg, er war Mensch. Er hat
nicht alle möglichen Gesten unter dem Blick des Geistes gehabt
und brauchte sie nicht alle außer einer zu eliminieren, indem
er seine Wahl begründete. Erst die Zeitlupenaufnahme zählt die
Möglichkeiten auf. Matisse hat, einer menschlichen Zeit und ei-
nem menschlichen Sehen verhaftet, das noch offene Ganze sei-
nes begonnenen Bildes betrachtet und den Pinsel dann zu dem
Strich angesetzt, der nötig war, damit das Gemälde schließlich
das wurde, was es zu werden im Begriffe war. Mit einer einfachen
Geste hat er das Problem gelöst, das nachträglich eine unendliche
Anzahl von Gegebenheiten zu implizieren scheint, wie nach Berg-
son die Hand im Eisenstaub auf einen Schlag die komplizierte 9
Anordnung hervorbringt, die an ihrer Stelle zurückbleibt. Alles
hat sich in der menschlichen Welt der Wahrnehmung und der
Geste abgespielt, und die Kamera liefert uns von diesem Ereignis
nur deshalb eine faszinierende Version, weil sie uns vortäuscht,
daß die Hand des Malers in der physischen Welt operiere, wo
unendlich viele Optionen möglich sind. Es ist jedoch wahr, daß
die Hand von Matisse gezögert hat, es stimmt also, daß ein Wäh-
len stattgefunden hat und daß der gewählte Strich zwanzig im
Bilde liegenden Bedingungen genügen mußte, unformuliert und
unformulierbar für jeden anderen als Matisse, da sie ja nur durch
die Intention bestimmt und auferlegt wurden, eben jenes Bild, das
noch nicht existierte, zu malen.
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 63
*
Malraux bemerkt, daß Malen und Sprechen nur dann vergleich- 10
bar sind, wenn man sie von dem, was sie ›darstellen‹, losgelöst
hat, um sie unter der Kategorie des schöpferischen Ausdruckes
wieder zu versammeln. Dann erkennen sie sich gegenseitig als
zwei Gestaltungsweisen desselben Versuchs. Jahrhundertelang
haben Maler und Schriftsteller gearbeitet, ohne von ihrer Ver-
wandtschaft etwas zu ahnen. Es ist jedoch eine Tatsache, daß
sie dasselbe Abenteuer erlebt haben. Kunst und Dichtung sind
zunächst der Polis, den Göttern, dem Sakralen gewidmet, sie
sehen ihr eigenes Wunder nur im Spiegel einer äußeren Macht
entstehen. Die eine wie die andere erleben später ein klassisches
Zeitalter, das die Säkularisierung der Epoche des Sakralen ist: Die
Kunst ist nun Darstellung einer Natur, die sie höchstens verschö-
nern kann, jedoch nach Regeln, die jene sie selbst lehrt; wie La
Bruyère es wollte, hat das Wort keine andere Rolle, als den richti- 11
gen Ausdruck wiederzufinden, der durch eine Sprache der Dinge
selbst jedem Gedanken im voraus zukommt, und jener doppelte
Rekurs auf eine Kunst vor der Kunst, wie auf ein Wort vor dem
Wort schreibt dem Kunstwerk einen bestimmten Grad an Voll-
kommenheit, Vollendung oder Fülle vor, der es der Zustimmung
aller aufdrängt wie die Dinge, die in den Bereich unserer Sinne
fallen. Malraux hat jenes ›objektivistische‹ Vorurteil, das die
moderne Kunst und Literatur in Frage stellen, genau analysiert
– aber vielleicht hat er nicht ermessen, wie tief es verwurzelt ist,
vielleicht hat er ihm zu schnell den Bereich der sichtbaren Welt
überlassen, was ihn möglicherweise dazu gebracht hat, die mo-
derne Malerei ihrerseits als eine Rückkehr zum Subjekt – jenem
›unvergleichlichen Ungeheuer‹ – zu definieren und sie in ein ge- 12
heimes Leben fern der Welt zu vergraben … Wir müssen seine
Analyse wieder aufnehmen.
Das Privileg der Ölmalerei, die mehr als jede andere Malerei
jedem Element des Gegenstandes oder des menschlichen Gesichts
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 65
nur noch den Raum einzunehmen, der ihm von ihnen übrigge-
lassen wird. Während mein Blick, als er Tiefe, Höhe und Breite
frei durchstreifte, keinem Gesichtspunkt unterworfen war, weil er
sie alle nacheinander einnahm und wieder aufgab, verzichte ich
nun auf jene Ubiquität und bin bereit, in meiner Zeichnung nur
das darzustellen, was von einem bestimmten Standort aus von
einem unbeweglichen Auge, das auf einen bestimmten ›Flucht-
punkt‹ einer bestimmten ›Horizontlinie‹ fixiert wäre, gesehen
werden könnte. (Eine trügerische Bescheidenheit, denn wenn ich
auf die Welt selbst verzichte, indem ich den schmalen Ausschnitt
einer Perspektive aufs Papier werfe, so höre ich auch auf, wie ein
Mensch zu sehen, der der Welt gegenüber offen ist, weil er in ihr
situiert ist, ich denke und beherrsche meine Sicht wie Gott es
tun kann, wenn er die Idee, die er von mir hat, betrachtet.) Wäh-
rend ich die Erfahrung einer Welt machte, in der es von Dingen
wimmelt, die sich ausschließen, die nur mittels eines zeitlichen
Durchlaufens umfaßt werden können, bei dem jeder Gewinn zu-
gleich Verlust ist, kristallisiert sich das unausschöpfliche Sein zu
einer geordneten Perspektive, wo die Fernen sich begnügen, nur
Fernen zu sein, unzugänglich und verschwommen, wie es ihnen
zukommt, wo die nahen Gegenstände etwas von ihrer Aggressi-
vität aufgeben, ihre inneren Linien nach dem gemeinsamen Ge-
setz des Schauspiels ordnen und sich bereits anschicken, sobald
es erforderlich ist, entfernte Gegenstände zu werden – kurz, wo
nichts den Blick fesselt und nichts gegenwärtig erscheint. Das ge-
samte Gemälde steht im Modus des Vergangenen oder der Ewig-
keit; alles nimmt einen dezenten und diskreten Ausdruck an; die
Dinge sprechen mich nicht mehr an und ich werde nicht mehr
von ihnen kompromittiert. Und wenn ich jenem Kunstgriff den
der Vogelperspektive hinzufüge, so spürt man, bis zu welchem
Grade ich, der ich male, und jene, die meine Landschaft betrach-
ten, die Situation beherrschen. Die Perspektive ist viel mehr als
eine geheime Technik zur Nachahmung einer Realität, die sich
allen Menschen dergestalt darböte; sie ist die Erfindung einer
beherrschten Welt, die man in einer momentanen Synthese ganz
und gar besitzt, von der der spontane Anblick uns höchstens die
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 69
als die endgültige Ausgabe der Psychologie de l’art (Les voix du silence, Gal-
limard) erschien. Wir zitieren nach der Skira-Ausgabe.
4 Le musée imaginaire, S. 79.
5 Ebd., S. 83.
6 La monnaie de l’absolu, S. 118.
7 La création artistique, S. 144.
70 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens
indem ein Wort das andere gibt, eine erlernte Stimme aneignet,
die ihm mehr zugehört als sein ursprünglicher Schrei. Es gibt die
20 Improvisation der ›écriture automatique‹ und die der Kartause
von Parma Stendhals. Da die Wahrnehmung selbst niemals fertig
ist, da unsere Perspektiven uns eine Welt auszudrücken und zu
bedenken geben, die sie vereinigt, sie übersteigt und sich durch
blitzartige Zeichen wie ein Wort oder eine Arabeske ankündigt,
warum sollte dann das Ausdrücken der Welt der Prosa der Sinne
oder des Begriffs unterworfen sein? Es muß vielmehr Poesie sein,
das heißt, es muß unser reines Ausdrucksvermögen zur Gänze
über die schon gesagten oder gesehenen Dinge hinaus wecken
und versammeln. Die moderne Malerei wirft ein ganz anderes
Problem als das einer Rückkehr zum Individuum auf: das Pro-
blem, herauszufinden, wie man ohne die Hilfe einer im voraus
eingerichteten Natur, auf die hin all unsere Sinne geöffnet wären,
kommunizieren kann, wie wir durch das, was uns am eigentüm-
lichsten ist, mit dem Allgemeinen verbunden sind.
Das ist eine der philosophischen Betrachtungsweisen, zu denen
man die Analyse von Malraux ausweiten kann. Man muß sie le-
diglich von der Philosophie des Individuums oder des Todes lö-
sen, die bei ihm im Vordergrund steht und nicht frei ist von einer
gewissen Sehnsucht nach den sakralen Kulturepochen. Was der
Maler im Bild festhält, ist nicht sein unmittelbares Selbst, eine
Nuance des Empfindens, sondern seinen Stil, den er nicht weni-
ger seinen eigenen Versuchen abgewinnen muß als der Malerei
der anderen oder der Welt. Wieviel Zeit, sagt Malraux, braucht ein
Schriftsteller, bevor er mit seiner eigenen Stimme zu sprechen
gelernt hat. Und wieviel Zeit braucht der Maler, der nicht, wie wir,
das entfaltete Werk vor sich hat, sondern es schafft, bevor er in
seinen ersten Bildern die Umrisse dessen erkennt, was – jedoch
nur dann, wenn er sich nicht über sich selbst täuscht – sein ferti-
ges Werk sein wird. Mehr noch, er ist ebensowenig fähig, seine
Bilder zu sehen, wie der Schriftsteller, sich selbst zu lesen. Erst in
den anderen erhält der Ausdruck seine Gestalt und wird wirklich
zur Bedeutung. Für den Schriftsteller oder für den Maler gibt es
nur Anspielungen auf sich selbst, eine Vertrautheit mit dem per-
72 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens
geworden ist, ist dasjenige, was ihm mit seinem Stil gegeben ist,
keine Manier, nicht eine bestimmte Anzahl von Verfahrensweisen
oder sonderbaren Gewohnheiten, von denen er ein Verzeichnis
anlegen könnte, sondern eine Formulierungsweise, die für die
anderen ebenso erkennbar, für ihn selbst aber so wenig sichtbar
ist wie seine Silhouette oder seine alltäglichen Gesten. Wenn also
Malraux schreibt, daß der Stil »das Mittel ist, die Welt nach den
22 Werten des Menschen, der sie entdeckt, neu zu schaffen«,9 oder
daß er »der Ausdruck einer der Welt geliehenen Bedeutung ist, ein
23 Appell, und nicht die Folge eines Sehens«,10 oder schließlich »die
Rückführung der ewigen Welt auf eine fragile menschliche Per-
spektive, die uns nach einem geheimnisvollen Rhythmus in einen
24 Sog der Gestirne hineinzieht«11 – so versetzt er sich nicht in die
Wirkungsweise des Stils selbst hinein; wie das Publikum betrach-
tet er sie von außen; er gibt einige Konsequenzen an, die geradezu
sensationell sind – der Sieg des Menschen über die Welt –, die der
Maler jedoch nicht im Blick hat. Der Maler bei der Arbeit weiß
nichts von der Antithese von Mensch und Welt, Bedeutung und
Absurdem, Stil und ›Darstellung‹: Er ist viel zu sehr beschäftigt,
sein Verhältnis zur Welt auszudrücken, als sich etwas auf einen
Stil einzubilden, der gleichsam ohne sein Wissen entsteht. Zwar
ist der Stil für die Modernen viel mehr als ein Darstellungsmittel:
Es gibt kein äußeres Modell, die Malerei existiert nicht vor der
Malerei. Daraus darf man aber nicht folgern, wie Malraux es tut,
25 daß die Darstellung der Welt für den Maler nur ein Stilmittel 12
sei, als wenn der Stil außerhalb jeden Kontakts zur Welt erkannt
und gewollt werden könnte, als wenn er ein Zweck wäre. Vielmehr
muß man ihn aus der Tiefe der Wahrnehmung des Malers als ei-
nes Malers auftreten sehen: Er ist ein Anspruch, der von ihr aus-
geht. Malraux sagt es in seinen besten Passagen: Schon die Wahr-
nehmung stilisiert. Eine vorübergehende Frau ist für mich zu-
der Welt kommunizieren, gefangen. Aber für den Maler und selbst
für uns, wenn wir bereit sind, in der Malerei zu leben, ist er viel
mehr als ein ›Hitzedunst‹ auf der Oberfläche der Leinwand, da er
ja fähig ist, diese Farbe oder diesen Gegenstand eher als alle ande-
ren einzufordern, und da er das Arrangement des Gemäldes
ebenso gebieterisch bestimmt wie eine Syntax oder eine Logik.
Denn das ganze Bild liegt nicht in jenen kleinen Ängsten oder
jenen begrenzten Freuden, von denen es durchsetzt ist: Sie sind
nur Komponenten in einem totalen, weniger pathetischen als
vielmehr lesbaren und dauerhaften Sinn. Ganz zu Recht führt
Malraux die Anekdote des Wirtes von Cassis an, der Renoir bei
der Arbeit am Meer zusieht und zu ihm herantritt: »[…] da wa-
ren nackte Frauen drauf, die irgendwo anders badeten. Er be-
trachtete irgend etwas, ich weiß nicht was, und er veränderte nur
eine kleine Ecke.« Malraux bemerkte dazu: »Das Blau des Meeres
war zu dem des Baches der Wäscherinnen geworden […] Sein
Blick war weniger eine Weise, das Meer zu betrachten, als das ver-
borgene Hervorbringen einer Welt, der gerade jenes tiefe Blau
zugehörte, das er bis ins Unermeßliche wiederholte.« 16 Dennoch 31
betrachtete Renoir das Meer. Warum aber gehörte das Blau des
Meeres der Welt seiner Malerei an? Wie konnte es ihn etwas leh-
ren, was den Bach der Wäscherinnen betraf? Eben deshalb, weil
jedes Fragment der Welt – und besonders das Meer, das bald von
Wirbeln, Kräuseln und Schaumkronen überzogen, bald massiv
und unbeweglich in sich selbst ruht – vielerlei Gestalten des Seins
in sich birgt, es durch die Art, wie es dem Angriff des Blickes be-
gegnet, eine Reihe möglicher Varianten wachruft und so eine all-
gemeine Weise lehrt, das Sein auszusagen und über sich hinaus-
zugehen. So kann man am Meer bei Cassis badende Frauen und
einen Süßwasserbach malen, weil man von dem Meer – wie nur
dieses es lehren kann – die Art und Weise abverlangt, wie es die
flüssige Substanz interpretiert, sie sichtbar macht, wie es diese mit
sich selbst verbindet, kurz, wegen einer Typik der Erscheinungs-
weisen des Wassers. Man kann malen, indem man die Welt be-
trachtet, weil es dem Maler scheint, daß er den Stil, der ihn in den
Augen der anderen definieren wird, in den Erscheinungen selbst
findet, und er glaubt, die Natur in dem Augenblick buchstabieren
zu können, wo er sie neu schafft. »Ein bestimmtes unaufhebbares
Gleichgewicht oder Ungleichgewicht von Farben und Linien
überwältigt den, der entdeckt, daß die halb geöffnete Tür zu einer
32 anderen Welt führt.«17 Eine andere Welt – nämlich dieselbe, die
der Maler sieht und die seine eigene Sprache spricht, doch von
jenem namenlosen Gewicht befreit, das sie zurückhielt und in der
Mehrdeutigkeit beließ. Wie sollten der Maler oder der Dichter
etwas anderes aussagen als ihre Begegnung mit der Welt? Wovon
spricht denn selbst die abstrakte Kunst, wenn nicht von einer Ab-
lehnung oder Zurückweisung der Welt? Denn die Strenge, das
Besessensein von Oberflächen und geometrischen Formen (oder
von Infusorien und Mikroben, denn das Tabu, unter dem das Le-
ben steht, beginnt merkwürdigerweise erst mit den mehrzelligen
Lebewesen) vermitteln noch einen Hauch von Leben, auch wenn
es sich um ein schamhaftes oder verzweifeltes Leben handelt. Im-
mer also sagt das Gemälde etwas aus, ist es ein neues Äquivalen-
zensystem, das gerade diese Umwälzung erfordert, und im Namen
eines wahreren Verhältnisses zwischen den Dingen werden ihre
gewöhnlichen Beziehungen aufgelöst. Ein endlich freies Sehen
und Handeln hebt im Falle der Maler die gewöhnliche Anord-
nung der Dinge auf und gruppiert sie neu – im Falle der Dichter
geschieht dies mit den Worten. Aber es genügt nicht, die Sprache
33 zu zerschlagen oder in Brand zu setzen, um die Illuminationen zu
schreiben; und Malraux bemerkt scharfsinnig von den modernen
Malern: »Obwohl keiner von ihnen von Wahrheit sprach, spra-
chen alle hinsichtlich der Werke ihrer Gegner von Hochstape-
lei.«18 Sie wollen nichts wissen von einer Wahrheit, die in der
Ähnlichkeit zwischen Malerei und Welt bestünde. Sie würden den
Gedanken einer Wahrheit akzeptieren, die in der Kohärenz des
Gemäldes mit sich selbst bestünde, in der Anwesenheit eines ein-
17 Ebd., S. 142.
18 La monnaie de l’absolu, S. 125.
78 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens
sein.«19 Das ist vielleicht der Maler, wie er von den anderen gese- 34
hen wird. Der Maler selbst ist ein Mensch bei der Arbeit, der jeden
Morgen in der Gestalt der Dinge denselben Fragen, derselben
Aufforderung begegnet, auf die er nie endgültig geantwortet hat.
In seinen Augen ist sein Werk niemals fertig, es ist immer im Wer-
den, so daß niemand es gegen die Welt ins Feld führen kann. Ein-
mal entzieht sich das Leben, erschlafft der Körper; ein anderes
Mal, noch trauriger, hört die im Schauspiel der Welt versteckte
Frage auf, sich zu stellen. Dann ist der Maler nicht mehr Maler,
oder der Maler ist zu einem Maler honoris causa geworden. Aber
solange er malt, geschieht es immer im Hinblick auf sichtbare
Dinge, oder wenn er blind ist oder erblindet, im Gedanken an
jene unausweichliche Welt, zu der er durch andere Sinne vor-
dringt und über die er mit den Worten eines Sehenden spricht.
Und deshalb ist seine Arbeit, die für ihn selbst dunkel bleibt, den-
noch gelenkt und orientiert. Es geht immer nur darum, dieselbe
schon offene Furche weiterzuziehen, einen Akzent wieder aufzu-
greifen und zu verallgemeinern, der schon im Winkel eines frü-
heren Gemäldes oder in irgendeinem Augenblick seiner Erfah-
rung aufgetaucht war, ohne daß der Maler selbst jemals sagen
könnte – da diese Unterscheidung keinen Sinn hat –, was von ihm
und was von den Dingen stammt, was das neue Werk den alten
hinzufügt, was er von den anderen entnommen hat und was ihm
gehört. Jene dreifache Wiederaufnahme, welche die Gestaltung
des Ausdrucks zu einer Art provisorischer Ewigkeit macht, ist
nicht nur eine Metamorphose im Sinne der Feenmärchen – Wun-
der, Magie, absolute Schöpfung in einer aggressiven Einsam-
keit –, sondern auch eine Antwort auf das, wonach die Welt, die
Vergangenheit, die schon fertigen Werke fragten: Vollendung,
Brüderschaft. Husserl hat dafür das schöne Wort der Stiftung ge- 35
braucht, um zunächst die unbegrenzte Fruchtbarkeit jeder Ge-
genwart zu bezeichnen, die, eben weil sie einzigartig ist und
vorübergeht, niemals aufhören kann, gewesen und also universell
zu sein – vor allem aber die Fruchtbarkeit der Kulturgüter, die
schon die Geste jenes modernen Malers erfunden hat? Kann man
aber vergessen, daß er sie nicht zum Prinzip seiner Malerei er-
hoben hat und daß er sie in diesem Sinne nicht erfunden hat,
wie der Heilige Augustinus sich nicht das Cogito zur Überschrift
seiner wichtigsten Gedanken ausgedacht hat, sondern ihm ledig-
lich begegnet ist? Die Träumereien, mit denen jede Zeit, wie Aron
sagte, sich ihre Ahnen sucht, sind indessen nur möglich, weil alle
Zeiten einem selben Universum zugehören. Die Klassik und die
Moderne gehören zum Universum der Malerei, begriffen als eine
einzige Aufgabe von den ersten Höhlenzeichnungen an bis zu
unserer ›bewußten‹ Malerei. Wenn diese in Kunstarten, die an
eine ganz andere Erfahrung als die unsere gebunden sind, etwas
findet, was sie wieder aufgreift, dann sicher so, daß sie jene umge-
staltet, aber auch so, daß jene sie schon ahnen lassen, daß sie ihr
zumindest etwas zu sagen haben und daß ihre Künstler in dem
Glauben, die furchterregenden Gebilde der Primitiven oder die
Asiens und Ägyptens fortzusetzen, insgeheim eine andere Zeit
einleiteten, die noch die unsere ist und die uns jene gegenwärtig
erhält, wohingegen die Herrschafts- und Glaubensformen, de-
nen sie anzugehören meinten, seit langem verschwunden sind.
Die Einheit der Malerei findet sich nicht nur im Museum, sie liegt
in jener einzigen Aufgabe, die sich allen Malern stellt und die
es ermöglicht, daß sie eines Tages im Museum vergleichbar sein
werden und daß diese Leuchtfeuer sich in der Nacht gegenseitig
antworten. Die ersten Höhlenzeichnungen gaben die Welt ›zu
malen‹ oder ›zu zeichnen‹ auf, appellierten an eine unbegrenzte
Zukunft der Malerei, und deshalb sprechen sie zu uns, und wir
antworten ihnen durch Metamorphosen, in denen sie mit uns
zusammenwirken. So gibt es zwei Geschichtlichkeiten, die eine
ironisch oder sogar spöttisch und aus Widersinn bestehend, weil
jede Zeit gegen die anderen wie gegen Fremdlinge kämpft, indem
sie ihnen ihre Probleme und Perspektiven aufzwingt. Sie ist eher
Vergessen als Gedächtnis, sie ist Zerstückelung, Ignoranz, Äu-
ßerlichkeit. Aber die andere, ohne die die erste unmöglich wäre,
wird Schritt für Schritt konstituiert und rekonstituiert durch das
Interesse, das wir dem entgegenbringen, was wir nicht sind, durch
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 83
Maler, die im Atelier der Klassiker für den Meister malten. Das ist
zwar nicht möglich: Man kann nicht nach Jahrhunderten ande-
rer Malerei, in denen das Problem der Malerei selbst seinen Sinn
verändert hat, auf einmal wie Vermeer malen. Daß aber das Bild
heimlich von einem unserer Zeitgenossen ausgeführt worden sei,
ist nur insofern für die Qualifikation des Fälschers relevant, als
es ihn daran hindert, den Stil Vermeers tatsächlich zu erreichen.
So dient der Name Vermeers wie derjenige jedes großen Malers
schließlich dazu, eine Art von Institution zu bezeichnen; und ge-
nau wie es Aufgabe der Geschichte ist, hinter ›dem Parlament im
Ancien Régime‹ oder hinter ›der Französischen Revolution‹ zu
entdecken, was sie in der Dynamik der menschlichen Beziehun-
gen wirklich bedeuten, welche Modulation dieser Beziehungen
sie darstellen, und deshalb das eine als nebensächlich und das
andere als wesentlich bezeichnet wird, ebenso müßte eine wirk-
liche Geschichte der Malerei hinter der unmittelbaren Erschei-
nungsform der Vermeer zugeschriebenen Bilder eine Struktur,
einen Stil, einen Sinn suchen, demgegenüber mögliche unstim-
mige Einzelheiten, die seinem Pinsel durch Müdigkeit, zufällige
Umstände oder Selbstnachahmung herausgerutscht sind, neben-
sächlich erscheinen. Wenn sie über die Echtheit eines Bildes nur
durch dessen Prüfung urteilen kann, so nicht nur deshalb, weil
uns die Informationen über die Herkunft fehlen, sondern weil
der vollständige Werkkatalog eines Meisters nicht ausreicht, um
in Erfahrung zu bringen, was wirklich von ihm stammt, weil er
selbst einen bestimmten Ausdruck in der Sprache der Malerei
bildet, der nach der Vergangenheit wie nach der Zukunft hin wi-
derhallt in eben dem Maße, wie er das gar nicht beabsichtigt,
und weil er zu allen anderen Versuchen genau in dem Maße in
Beziehung tritt, wie er sich nachdrücklich mit seiner Welt befaßt.
Der Rückblick kann durchaus unentbehrlich sein, damit diese
wirkliche Geschichte sich von der empirischen abhebt, die nur
auf Vorfälle (événements) achtet und den eigentlichen Ereignis-
sen (avènements) gegenüber blind ist – zunächst jedoch ist sie
vorgezeichnet im gesamten Wollen des Malers. Die Geschichte
schaut nur auf die Vergangenheit zurück, weil der Maler zunächst
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 85
wie der Pulsschlag seines Herzens lebendig war und ihn deshalb
befähigte, jedes andere Bemühen als das seine wiederzuerkennen,
kehrt das Museum diese verborgene, schamhafte, unüberlegte,
unwillkürliche Geschichtlichkeit in eine offizielle und pompöse
Geschichte um. Eine sich ankündigende Regression verleiht un-
serer Zuneigung für irgendeinen Maler eine pathetische Nuance,
die ihm durchaus fremd war. Er hat ein ganzes Menschenleben
hindurch gearbeitet – wir aber sehen sein Werk wie Blumen am
Rande eines Abgrundes. Das Museum macht uns die Maler so
geheimnisvoll wie Tintenfische oder Langusten. Jene Werke, die
in der Hitze eines Lebens entstanden sind, verwandelt es in Wun-
der einer anderen Welt, und der Hauch, der sie belebte, ist in der
bedächtigen Atmosphäre des Museums und hinter schützenden
Glasscheiben nur noch ein schwaches Zucken auf ihrer Oberflä-
che. Das Museum tötet die Vehemenz der Malerei, wie die Biblio-
thek, nach Sartre, Schriften, die zunächst Gesten eines Menschen
waren, in ›Botschaften‹ verwandelt. Es ist die Geschichtlichkeit 38
des Todes. Doch gibt es eine Geschichtlichkeit des Lebens, von
der jene nur ein entstelltes Abbild bietet: die Geschichtlichkeit
nämlich, die den Maler bei der Arbeit beseelt, wenn er mit einer
einzigen Geste die Tradition, die er aufgreift, mit der Tradition,
die er stiftet, verknüpft, jene, die ihn auf einen Schlag mit allem,
was jemals in der Welt gemalt worden ist, verbindet, ohne daß er
seinen Ort, seine Zeit, seine gesegnete und verfluchte Arbeit auf-
zugeben hätte, und die die Malweisen miteinander versöhnt, in-
sofern jede von ihnen die gesamte Existenz zum Ausdruck bringt,
insofern sie alle gelungen sind – anstatt sie zu versöhnen, insofern
sie alle als abgeschlossen und ausnahmslos als hohle Gesten be-
griffen werden.
Wenn man die Malerei in ihre Gegenwart zurückversetzt, wird
man sehen, daß sie nicht die Schranken zuläßt, die unser Puris-
mus zwischen dem Maler und den anderen, zwischen dem Maler
und seinem eigenen Leben wiederholen möchte. Selbst wenn der
Wirt von Cassis die Metamorphose nicht versteht, mit der Re-
noir das Blau des Mittelmeeres in das Wasser der Wäscherinnen
verwandelt, so hat er doch immerhin Renoir bei der Arbeit sehen
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 87
wollen; das interessiert auch ihn, und letztlich gibt es nichts, was
ihn hindern könnte, den Weg wiederzufinden, den die Höhlenbe-
wohner eines Tages ohne Tradition eröffnet haben. Renoir hätte
wohl unrecht gehabt, den Wirt um Rat zu fragen oder ihm zu ge-
fallen zu versuchen. In diesem Sinne malte er nicht für den Wirt.
Er selbst definierte durch seine Malerei die Bedingungen, unter
denen er sich verstanden wissen wollte. Schließlich aber malte
er; er befragte das Sichtbare und brachte Sichtbares zustande.
Der Welt und dem Wasser des Meeres rang er das Geheimnis des
Wassers der Wäscherinnen ab. So öffnete er für diejenigen, die
wie er von der Welt benommen waren, den Übergang vom einen
zum anderen. Wie J. Vuillemin gesagt hat, ging es nicht darum,
ihre Sprache zu sprechen, sondern sie im eigenen Ausdruck aus-
drücklich werden zu lassen. Die Beziehung des Malers zu seinem
eigenen Leben liegt auf derselben Ebene: Sein Stil ist nicht der
Lebensstil, aber er zieht ihn auch in seinen künstlerischen Aus-
druck mit hinein. Man versteht, daß Malraux psychoanalytische
Erklärungen in der Malerei nicht schätzt. Selbst wenn der Mantel
der Heiligen Anna ein Geier ist, selbst wenn man zugibt, daß,
39 während da Vinci ihn als Mantel malte, ein zweiter da Vinci in da
Vinci den Mantel mit geneigtem Kopf nach Art eines Rätselraters
als einen Geier entzifferte (schließlich ist das nicht unmöglich:
Im Leben da Vincis zeigt sich eine Vorliebe für die Mystifizierung
des Schrecklichen, die ihm sehr wohl eingeben konnte, seine
Ungeheuer in ein Kunstwerk zu bannen) – so würde niemand
mehr von jenem Geier sprechen, wenn das Gemälde nicht einen
anderen Sinn hätte. Die Erklärung gibt nur über Einzelheiten
Aufschluß und höchstens über Materialarten. Selbst wenn man
zugibt, daß der Maler deshalb gern mit Farben umgeht, der Bild-
hauer mit Ton, weil er dem ›analen‹ Typus angehört – so sagt uns
das noch nicht, was es heißt, zu malen oder zu bildhauern.20 Aber
auch die ganz entgegengesetzte Haltung, die devote Verehrung
Geier erklären würde; er hat in etwa gesagt, daß die Analyse dort aufhört,
wo die Malerei beginnt.
88 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens
der Künstler, die uns verbietet, irgend etwas über ihr Leben in
Erfahrung zu bringen und ihr Werk wie ein Wunder fern von je-
der persönlichen oder öffentlichen Geschichte und außerhalb der
Welt situiert, verdeckt uns ebenso ihre wahre Größe. Wenn Leo-
nardo da Vinci etwas anderes ist als eines der unzähligen Opfer
einer unglücklichen Kindheit, so nicht deshalb, weil er ein Halb-
gott war, sondern weil es ihm gelang, aus allem, was er erlebt hat,
ein Mittel zur Interpretation der Welt zu machen – und dies nicht
etwa deshalb, weil er keinen Körper oder kein Gesicht gehabt
hätte, sondern genau weil durch ihn seine leibliche oder vitale Si-
tuation zur Sprache gekommen ist. Beim Übergang von der Ord-
nung der Ereignisse zu der des Ausdrucks wechselt man nicht die
Welt: Dieselben Gegebenheiten, die hingenommen wurden, wer-
den zu einem bedeutsamen System. Mögen sie aus dem Inneren
noch so sehr ausgegraben, herausgearbeitet und schließlich von
ihrem Gewicht, das schmerzhaft und verletzend auf uns lastete,
befreit sein, mögen sie transparent oder sogar leuchtend gewor-
den sein und geeignet, nicht nur die Aspekte der Welt, die ihnen
ähneln, sondern auch die anderen zu erhellen, mögen sie noch
so sehr verwandelt sein – so hören sie doch nicht auf, einfach da
zu sein. Die Kenntnis, die man von ihnen haben kann, kann nie-
mals die Erfahrung des Werkes selbst ersetzen. Aber sie hilft, den
Schöpfungsakt zu ermessen, und sie lehrt uns jenes Überschrei-
ten an Ort und Stelle, das als einziges ohne Rückkehr ist. Wenn
wir uns in den Maler hineinversetzen, um jenem entscheidenden
Augenblick beizuwohnen, wo ihm das, was ihm an körperlichem
Geschick, persönlichen Erlebnissen oder historischen Ereignissen
gegeben ist, zu einem ›Motiv‹ kristallisiert, werden wir erkennen,
daß sein Werk, das niemals eine Wirkung der Vorkommnisse ist,
immer eine Antwort auf jene Gegebenheiten darstellt und daß
der Leib, das Leben, die Landschaften, die Schulen, die Gelieb-
ten, die Gläubiger, die Versicherungen, die Revolutionen, die die
Malerei ersticken können, auch das Brot sind, das diese zu ihrem
Sakrament macht. In der Malerei leben, das heißt immer noch,
diese Welt einatmen – vor allem für den, der in der Welt etwas zu
malen sieht, und das geht jedem Menschen ein wenig so.
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 89
Gehen wir dem Problem auf den Grund. Malraux denkt über
die Miniaturen und die Geldstücke nach, bei denen die foto-
grafische Vergrößerung in wunderbarer Weise den Stil auch
der Werke großen Formates aufdeckt, oder über Werke, die au-
ßerhalb der Grenzen Europas ausgegraben wurden, weitab von
jedem ›Einfluß‹, und bei denen die Modernen fassungslos den-
selben Stil entdecken, den eine bewußte Malerei anderswo wie-
der neu erfunden hat. Wenn man die Kunst in das Innerste des
Individuums eingeschlossen hat, dann erklärt sich die Konver-
genz der Werke nur durch irgendein Schicksal, das sie beherrscht.
»[…] Wie wenn ein imaginärer Geist der Kunst – von der Minia-
tur zum Gemälde, vom Fresko zum Glasfenster – überall dieselbe
Eroberung vorwärtstriebe und sie abrupt wieder aufgäbe für eine
andere, parallele oder plötzlich entgegengesetzte, so wie wenn ein
unterirdischer Strom der Geschichte all jene verstreuten Werke
vereinte, indem er sie mit sich risse […] Ein Stil, der in seiner
Entwicklung und seinen Verwandlungen bekannt ist, wird weni-
ger zu einer Idee als zum Trugbild einer lebendigen Fatalität. Die
Reproduktion, und nur sie, hat jene imaginären Über-Künstler in
die Kunst eingeführt, deren Geburt im Dunkeln bleibt, die ein Le-
ben führen, Eroberungen und Zugeständnisse an den Geschmack
des Reichtums oder der Verführung machen, die untergehen und
40 wieder auferstehen, und die sich Stile nennen.«21 Malraux be-
gegnet also zumindest als Metapher der Idee einer Geschichte,
die die entferntesten Versuche vereinigt, einer Malerei, die hinter
dem Rücken des Malers wirkt, einer Vernunft in der Geschichte,
41 deren Instrument er ist. Diese Hegelschen Ungeheuer sind die
Antithese und die Ergänzung seines Individualismus. Was wird
aus ihnen, wenn die Theorie der Wahrnehmung den Maler in die
sichtbare Welt zurückversetzt und den Leib als spontanen Aus-
druck wiederfindet?
Gehen wir von der einfachsten Tatsache aus – über die wir ja
schon einige Aufklärung gegeben haben. Die Lupe bringt auf der
Medaille oder der Miniatur eben den Stil der großformatigen
Kunstwerke zutage, weil die Hand ihren Stil überall hinträgt; die-
ser ist ungeteilt in der Geste, und er hat es nicht nötig, auf jedem
Punkt der Zeichnung schwer zu lasten, um die Materie mit seiner
Linienführung zu prägen. Unsere Schrift erkennt man wieder,
ob wir nun mit drei Fingern der Hand Buchstaben auf Papier
zeichnen oder mit unserem ganzen Arm auf die Tafel mit Kreide
schreiben; denn sie ist kein Automatismus, der in unserem Kör-
per an bestimmte Muskeln gebunden wäre, der nur bestimmte
materiell definierte Bewegungen ausführte, sondern ein allge-
meines Vermögen motorischer Gestaltung, das Transpositionen
ermöglicht, die die Konstanz des Stils ausmachen. Oder vielmehr,
es handelt sich nicht einmal um eine Transposition: Wir schrei-
ben einfach nicht im Raum an sich, mit einer Ding-Hand und
einem Ding-Körper, denen jede neue Situation neue Probleme
stellte. Wir schreiben im wahrgenommenen Raum, wo Ergeb-
nisse gleicher Form auf Anhieb vergleichbar sind und wo die
Unterschiede des Maßstabes unbekannt bleiben, genau wie auch
dieselbe Melodie, in verschiedenen Tonlagen vorgetragen, unmit-
telbar identifiziert wird. Und die Hand, mit der wir schreiben, ist
eine Phänomen-Hand, die zugleich mit einer Bewegungsformel
so etwas wie das Anwendungsgesetz auf Einzelfälle besitzt, in de-
nen sich die Bewegung verwirklichen können muß. Das ganze
Wunder des Stils, das schon in den unsichtbaren Elementen eines
Werkes gegenwärtig ist, rührt also daher, daß der Künstler, der
in der menschlichen Welt wahrgenommener Dinge wirkt, seinen
Stempel auch der nichtmenschlichen Welt aufprägt, welche die
optischen Apparate enthüllen; so wie der Schwimmer, ohne es
zu wissen, über eine ganze verborgene Welt hinweggleitet, die er
durch die Unterwasserbrille geradezu entsetzt entdeckt – oder
wie Achilles mit einem einfachen Schritt eine unendliche Sum-
mierung von Räumen und Augenblicken bewirkt. Sicher liegt
da ein großes Wunder, dessen Merkwürdigkeit nicht durch das
Wort Mensch verdeckt werden sollte. Wenigstens können wir hier
sehen, daß dieses Wunder uns natürlich ist, daß es mit unserem
leiblichen Leben beginnt und daß es keinen Anlaß gibt, die Erklä-
rung dafür in irgendeinem Weltgeist zu suchen, der ohne uns in
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 91
Geltung hat und darin von vornherein der Verbündete oder Kom-
plize aller anderen Ausdrucksversuche ist. Das Schwierige und
Wesentliche besteht hier darin zu verstehen, daß wir mit dem Ab-
stecken eines Feldes, das von demjenigen der empirischen Ord-
nung der Vorkommnisse verschieden ist, nicht auch einen Geist
der Malerei setzen, der sich auf der Rückseite der Welt selbst be-
sitzt und sich nach und nach zeigen würde. Es gibt keine zweite
Kausalität über derjenigen der empirischen Vorkommnisse, die
aus der Welt der Malerei eine ›übersinnliche Welt‹ mit ihren eige-
nen Gesetzen machte. Die Kulturschöpfung bleibt unwirksam,
wenn sie nicht in den äußeren Umständen ein Vehikel findet.
Aber wenn jene dies auch nur im geringsten leisten, so entwickelt
ein erhaltenes und tradiertes Bild bei seinen Erben ein Vermögen
der Gestaltung, das keinen Vergleich zuläßt mit dem, was es nicht
nur als ein Stück gemalter Leinwand ist, sondern auch als ein
Werk, das von seinem Schöpfer mit einer bestimmten Bedeutung
versehen wurde. Jener Überschuß des Kunstwerks, der über die
bewußten Intentionen hinausgeht, reiht es in eine Fülle von Be-
zügen ein, von denen die kurze Geschichte der Malerei und selbst
die Psychologie des Malers nur wenige Reflexe geben können, so
wie die zur Welt hin ausgreifende Geste des Körpers in eine Ord-
nung von Bezügen einführt, von denen die reine Physiologie und
Biologie keine Ahnung haben. Trotz der Verschiedenartigkeit sei-
ner Teile, die ihn gebrechlich und verwundbar machen, ist der
Leib fähig, sich in einer Geste zu sammeln, die die Zerstreuung
seiner Teile für einen Augenblick zügelt; allem, was er tut, prägt er
so sein Monogramm ein. Auf dieselbe Weise kann man, über die
Entfernungen des Raumes und der Zeit hinweg, von einer Einheit
des menschlichen Stiles sprechen, die die Gesten aller Maler zu
einem einzigen Versuch vereinigt und ihre Produkte in einer ein-
zigen kumulativen Geschichte, einer einzigen Kunst, zusammen-
faßt. Die Einheit der Kultur bildet über die Grenzen eines einzel-
nen Lebens hinaus dieselbe Art von Rahmen, der von vornherein
alle Momente dieser Kultur im Augenblick ihrer Stiftung oder
Geburtsstunde einfaßt, sobald ein Bewußtsein (wie man zu sagen
pflegt) in einen Leib eingelassen ist, und ein neues Wesen in der
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 95
Welt auftaucht, dem irgend etwas zustoßen wird, was fortan auch
gar nicht ausbleiben kann, und sei es nur das Ende jenes kaum
begonnenen Lebens. Das analytische Denken zerbricht den Wahr-
nehmungsübergang von einem Moment zum anderen, von einem
Ort zum anderen, von einer Perspektive zur anderen und sucht
schließlich auf seiten des Geistes die Garantie einer Einheit, die es
jedoch schon gibt, wenn wir wahrnehmen. Es zerbricht auch die
Einheit der Kultur und versucht sie dann von außen wieder her-
zustellen. Alles in allem, sagt es, gäbe es nur Werke, die für sich
genommen tote Buchstaben bleiben, und Individuen, die ihnen
nach Gutdünken einen Sinn geben. Wie kommt es dann aber, daß
Kunstwerke sich gleichen, daß Individuen sich verstehen? Hier
führt man dann den Geist der Malerei ein. Aber ebenso, wie wir
das Überbrücken des Verschiedenartigen durch die Existenz und
im besonderen die leibliche Besitznahme des Raumes als eine
letzte Gegebenheit anerkennen und zugeben müssen, daß unser
Leib, indem er lebt und zur Gebärde wird, sich nur auf seine ei-
gene Bemühung stützt, um zur Welt zu sein, sich aufrecht hält,
weil er nach oben strebt, daß seine Wahrnehmungsfelder ihm
diese gewagte Haltung aufzwingen und daß er diese Fähigkeiten
nicht von einem unabhängigen Geist empfangen kann – ebenso
beruht die Geschichte der Malerei, die von einem Werk zu einem
anderen fortschreitet, auf sich selbst und wird nur von der Karya-
tide unserer Bemühungen getragen, die nur deshalb in einem
Punkt zusammenlaufen, weil sie Ausdrucksbemühungen sind.
Die innere Ordnung des Sinnes ist nicht ewig: Wenn sie auch
nicht jedem Zickzack der empirischen Geschichte folgt, so ver-
zeichnet und verlangt sie doch eine Reihe aufeinanderfolgender
Maßnahmen. Denn sie definiert sich nicht nur, wie wir es vorläu-
fig sagten, durch die Verwandtschaft all ihrer Momente mit einer
einzigen Aufgabe: Eben deshalb, weil sie alle Momente der Male-
rei sind, modifiziert jedes von ihnen, wenn es bewahrt und über-
mittelt wird, den Stand des ganzen Unternehmens und zwingt
dazu, daß jene, die nach ihm kommen, eben anders als es selbst
sind. Zwei kulturelle Gesten können nur identisch sein, wenn sie
sich gegenseitig ignorieren. Es ist der Kunst also wesentlich, sich
96 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens
24 Ebd.
25 Ebd.
100 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens
besteht – ein Urteil über den Versuch, das Unternehmen oder das
Werk gibt, nicht nur allein über die Absicht oder allein über die
Konsequenzen, sondern über den Gebrauch, den wir von unse-
rem guten Willen gemacht haben, über die Art und Weise, wie wir
die tatsächliche Lage eingeschätzt haben. Was einen Menschen
auszeichnet, ist nicht die Absicht und nicht die Tat, sondern ob er
seine Handlungen mit Werten versehen hat oder nicht. Wenn
dem so ist, erschöpft sich der Sinn des Handelns weder in der
Situation, die dessen Anlaß gewesen ist, noch in irgendeinem un-
klaren Werturteil, sondern bleibt exemplarisch und wird in ande-
ren Situationen wieder aufleben, wenn auch in anderer Gestalt.
Das Handeln eröffnet ein Feld, manchmal stiftet es sogar eine
Welt, auf jeden Fall entwirft es eine Zukunft. Die Geschichte ist
für Hegel jenes Heranreifen einer Zukunft in der Gegenwart,
nicht das Aufopfern der Gegenwart für eine unbekannte Zukunft;
und die Maxime des Handelns besteht für ihn nicht darin, um
jeden Preis effizient zu sein, sondern zunächst einmal fruchtbar
und produktiv zu wirken.Die Polemiken gegen die ›horizontale
Transzendenz‹ im Namen einer ›vertikalen Transzendenz‹ (ob sie
nun angenommen oder nur ersehnt wird) sind also gegenüber
Hegel ebenso unbillig wie gegenüber dem Christentum. Indem
sie mit der Geschichte nicht nur ein, wie sie meinen, blutbe-
schmiertes Idol über Bord werfen, sondern auch die Pflicht, Prin-
zipien in die Dinge zu bringen, kehren sie zu einer falschen Un-
befangenheit zurück, die dem Mißbrauch der Dialektik keine
Abhilfe tut. Der Pessimismus der Neo-Marxisten, aber auch die
Denkfaulheit der Nicht-Marxisten, die wie immer als Komplizen
auftreten, stellen heute die Dialektik in uns und außer uns als eine
Macht der Lüge und des Scheiterns, als einen Umschlag des Gu-
ten ins Böse, als Fatalität aus Enttäuschung dar. Bei Hegel war das
nur eine ihrer Seiten: Sie war ebensosehr so etwas wie eine Gnade
des Ereignisses, die uns vom Schlechten zum Guten zieht, die uns
zum Beispiel ins Allgemeine wirft, wenn wir nur unserem Inter-
esse nachzugehen glauben. Sie war, wie Hegel ungefähr sagt, ein
Fortschreiten, das seinen Verlauf selbst hervorbringt und in sich
selbst zurückkehrt – eine Bewegung also, die nur ihre eigene Initia-
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 101
tive zum Führer hat und dennoch nicht vor sich selbst entweicht,
die sich dann und wann bekräftigt und bestätigt. So war sie also
dasjenige, was wir mit einem anderen Namen das Ausdrucksphä-
nomen nennen, das sich durch eine geheime Rationalität wieder
aufgreift und sich aufs neue entfaltet. Sicher würde man den Be-
griff der Geschichte in seinem wahren Sinne zurückgewinnen,
wenn man sich daran gewöhnte, ihn nach dem Beispiel der Kün-
ste und der Sprache zu bilden. Denn die Nähe jedes Ausdrucks zu
jedem anderen Ausdruck, ihre Zugehörigkeit zu einer einzigen
Ordnung, stellt faktisch die Verknüpfung des Individuellen mit
dem Allgemeinen her. Die zentrale Tatsache, auf die die Hegelsche
Dialektik in hundert verschiedenen Weisen immer wieder zu-
rückkommt, besteht darin, daß wir nicht zwischen dem Für sich
und dem Für andere zu wählen haben, zwischen einem Denken,
das uns gemäß ist, und einem Denken, das den Anderen gemäß
ist, sondern daß im Moment des Ausdrucks der Andere, an den
ich mich wende, und ich selbst, der ich mich ausdrücke, auf Ge-
deih und Verderb aneinander gebunden sind. Die Anderen, so wie
sie sind (oder so wie sie sein werden), sind nicht allein die Richter
meiner Handlungen: Wenn ich mich zu ihren Gunsten verleug-
nen wollte, würde ich auch sie als ein anderes ›Ich‹ verleugnen; sie
haben genau den gleichen Wert wie ich, und alle Befugnisse, die
ich ihnen gebe, gebe ich gleichzeitig auch mir. Ich unterwerfe
mich dem Urteil eines Anderen, der selbst dessen würdig ist, was
ich versucht habe; das heißt letztlich, ich unterwerfe mich dem
Urteil eines Ebenbürtigen, der von mir selbst gewählt wurde. Die
Geschichte ist Richter – nicht die Geschichte als die Gewalt eines
Augenblicks oder eines Jahrhunderts, sondern die Geschichte als
eine die Grenzen der Länder und Zeiten überschreitende Einprä-
gung und Ansammlung dessen, was wir, je nach der Situation, an
Wahrem und Gültigem gesagt und getan haben. Die Anderen
werden über das, was ich getan habe, urteilen, weil ich in das
Sichtbare hinein gemalt und für diejenigen gesprochen habe, die
Ohren haben, aber weder die Kunst noch die Politik bestehen
darin, ihnen zu gefallen oder zu schmeicheln. Sie erwarten vom
Künstler oder vom Politiker, daß er sie zu Werten hinführt, in
102 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens
denen sie nachträglich nur ihre Werte erkennen. Der Maler oder
der Politiker formt die Anderen weit mehr, als er ihnen folgt; das
Publikum, das er anspricht, ist nicht gegeben, sondern es ist das
Publikum, das durch sein Werk erst entsteht. Die Anderen, an die
er denkt, sind nicht die empirischen ›Anderen‹, die durch das be-
stimmt sind, was sie in diesem Augenblick von ihm erwarten
(und noch weniger die Menschheit, als eine Art, die die ›Men-
schenwürde‹ oder ›die Ehre, Mensch zu sein‹ besitzen würde, so
wie andere Arten einen Panzer oder eine Schwimmblase haben),
sondern es sind die Anderen, die so geworden sind, daß er mit
ihnen leben könnte. Die Geschichte, mit der sich der Schriftsteller
verbündet (und dies um so besser, als er nicht daran denkt, ›Ge-
schichte zu machen‹, sich in der Literaturgeschichte zu verewigen,
und nur redlich sein Werk hervorbringt), ist nicht eine Macht, vor
der er das Knie zu beugen hätte, sondern das anhaltende Ge-
spräch, das zwischen allen Worten und allen gültigen Handlun-
gen geführt wird, wobei jedes von seinem Platz aus das andere
anficht und bestätigt, jedes alle anderen neu schafft. Der Appell
an das Urteil der Geschichte ist kein Appell an das Wohlgefallen
des Publikums und natürlich noch weniger ein Appell an die
weltliche Macht: Er ist eins mit der inneren Gewißheit, gesagt zu
haben, was in den Dingen darauf wartete, gesagt zu werden, und
was deshalb auf jeden Fall von irgend jemandem verstanden wer-
den wird … In hundert Jahren wird man mich lesen, denkt Stend-
hal. Das bedeutet, daß er gelesen werden will, aber auch, daß er
bereit ist, ein Jahrhundert zu warten, und daß seine Freiheit eine
Welt, die noch in ihren Anfängen steht, hervorruft, die ebenso frei
sein wird wie er, indem sie dasjenige als Erwerb anerkennt, was
ihm zu erfinden gegeben war. Jener reine Appell an die Geschichte
ist eine Anrufung der Wahrheit, die niemals durch eine histori-
sche Aufzeichnung geschaffen wird, diese aber als Wahrheit erfor-
dert. Nicht nur der Kunst oder der Literatur ist er eigen, er kenn-
zeichnet jedes menschliche Unterfangen. Abgesehen vielleicht
von einigen Unseligen, die nur gewinnen oder recht haben wol-
len, geistert durch jedes Handeln, jede Liebe die Erwartung eines
Berichts, der ihre Wahrheit hervortreten läßt, eines Augenblicks,
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 103
*
Ein Roman drückt sich ebenso stillschweigend aus wie ein Ge-
mälde. Sein Sujet kann man ebenso wie das eines Gemäldes er-
zählen. Worauf es aber ankommt, ist nicht so sehr, daß Julien
Sorel, als er hört, daß Madame de Rênal ihn verraten hat, nach
Verrières geht und sie zu töten versucht, sondern vielmehr je-
nes Schweigen nach der Nachricht, jene Traumreise, jene ge-
dankenlose Gewißheit, jener endgültige Entschluß. Davon aber
wird nirgendwo gesprochen. Ein ›Julien dachte‹, ›Julien wollte‹ ist
unnötig. Um es auszudrücken, genügt es, daß sich Stendhal in
Julien hineinversetzt und die Gegenstände, Hindernisse, Mittel
und Zufälle in der Geschwindigkeit der Reise vor unseren Au-
gen erscheinen läßt. Es genügt, daß er sich entschließt, eine Seite
statt fünf Seiten lang zu erzählen. Jene Kürze, jenes ungewohnte
Verhältnis der nicht ausgesprochenen zu den ausgesprochenen
Dingen ergibt sich nicht einmal aufgrund einer Auswahl. Indem
Stendhal seine eigene Sensibilität gegenüber anderen befragt, hat
er für sie plötzlich einen imaginären Leib gefunden, der gewand-
ter ist als sein eigener, er hat wie in einem zweiten Leben selbst
die Reise nach Verrières unternommen nach dem Rhythmus
einer kühleren Leidenschaft, die für ihn das Sichtbare und das
Unsichtbare auswählte, das, was gesagt und das, was verschwie-
gen werden mußte. Der Wille zu töten findet sich deshalb nir-
gends in den Worten: Er ist zwischen ihnen, in den Höhlungen
des Raumes, der Zeit, der Bedeutungen, die sie umschreiben, wie
die Bewegung im Film zwischen den unbeweglichen Bildern, die
aufeinander folgen, liegt. Der Schriftsteller spricht mit seinem
106 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens
Leser, wie jeder Mensch mit jedem Menschen, eine Sprache von
Eingeweihten: eingeweiht in die Welt, in das Universum von
Möglichkeiten, über die ein menschlicher Leib, ein menschliches
Leben verfügt. Was er zu sagen hat, setzt er als bekannt voraus,
er versetzt sich in das Verhalten einer Person und vermittelt dem
Leser nur deren Signatur, die unruhige und fortlaufende Spur
in der Umgebung. Wenn der Autor Schriftsteller ist, das heißt,
wenn er fähig ist, die Auslassungen und Zäsuren zu finden, die
das Verhalten prägen, antwortet der Leser auf seinen Appell und
trifft ihn im virtuellen Zentrum seines Werks, selbst wenn weder
der eine noch der andere es kennen. Der Roman als Ereignisbe-
richt, als Ausdruck von Ideen, Thesen oder Schlußfolgerungen,
als manifeste oder prosaische Bedeutung steht in einer einfachen
homonymen Beziehung zu dem Roman als Anwendung eines
Stils, als indirekte oder latente Bedeutung. Genau das hatte Marx
begriffen, als er sich Balzac zu eigen machte. Es handelte sich da-
bei keineswegs, man kann es glauben, um eine Rückkehr zum Li-
beralismus. Marx wollte sagen, daß eine bestimmte Art, die Welt
des Geldes und die Konflikte der modernen Gesellschaft sichtbar
zu machen, wichtiger sei als die Thesen, auch die politischen The-
sen, von Balzac und daß diese einmal erworbene Sicht mit oder
ohne die Zustimmung Balzacs zu Konsequenzen führen würde.
Mit Recht verurteilt man den Formalismus, aber man vergißt
gewöhnlich, daß sein Fehler nicht darin liegt, die Form zu über-
schätzen, sondern sie zu unterschätzen, insofern er sie nämlich
vom Sinn abtrennt. Darin unterscheidet er sich nicht von einer
Literatur des ›Sujets‹, die ebenso den Sinn des Werkes von sei-
ner Gestaltung trennt. Das eigentliche Gegenteil des Formalis-
mus ist eine gute Theorie des Stils oder der Rede, die sie über
die ›Technik‹ oder das ›Instrument‹ stellt. Die lebendige Rede ist
kein Mittel im Dienst eines äußeren Zweckes, sie trägt ihre An-
wendungsregel, ihre Moral und ihre Weltsicht in sich selbst, so
wie eine Geste manchmal die ganze Wahrheit eines Menschen
ausdrückt. Jener lebendige Gebrauch der Sprache, von dem der
Formalismus ebensowenig weiß wie die Literatur des ›Sujets‹,
ist die Literatur selbst als Forschung und Erwerb. Eine Sprache
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 107
ihrem Wege folgen, wenn wir die Wörter und alle Ausdrucksmit-
tel eines Buches zu jenem Bedeutungshof entwickeln lassen, der
sich ihrer besonderen Anordnung verdankt, und wenn wir das
Geschriebene auf einen Wert zweiter Stufe hin ausrichten, wo es
fast die stumme Ausstrahlung der Malerei erreicht. Auch der Sinn
des Romans ist zunächst nur wahrnehmbar als eine kohärente
Verformung des Sichtbaren. Und er wird niemals auf eine andere
Weise wahrnehmbar sein. Die Kritik mag soviel sie will die Aus-
drucksweise eines Schriftstellers mit der eines anderen verglei-
chen und irgendeine Erzählweise in die Gruppe anderer mögli-
cher einordnen. Dieses Vorgehen ist nur dann legitim, wenn ihm
eine Wahrnehmung des Romans vorangegangen ist, bei der die
Besonderheiten der ›Technik‹ mit denen der Gesamtkonzeption
und des Sinnes untrennbar verbunden sind, und wenn es uns
dadurch nur das erklären will, was wir bereits wahrgenommen
haben. Ebenso wie der Steckbrief eines Gesichtes nicht ausreicht,
es sich vorzustellen, selbst wenn gewisse Merkmale genauer an-
gegeben werden, ersetzt die Sprache des Kritikers, der seinen
Gegenstand zu beherrschen vorgibt, nicht die des Schriftstellers,
der das Wahre aufzeigt oder es durchsichtig werden läßt, ohne es
zu berühren. Es ist dem Wahren wesentlich, sich von Anfang an
und für immer in einer Bewegung darzubieten, die unser Bild
der Welt zu einem Mehr an Sinn hin dezentriert, ausweitet und
führt. Auf diese Weise eröffnet die Hilfslinie, die wir in eine Figur
einzeichnen, den Weg zu neuen Bezügen, und so wirkt auch das
Kunstwerk und wird immer auf uns wirken, so lange es Kunst-
werke gibt.
Diese Bemerkungen sind indessen weit entfernt davon, un-
sere Frage erschöpfend zu beantworten: Es bleiben die exakten
Formen der Sprache, es bleibt die Philosophie. Man kann sich
fragen, ob deren Anspruch, das Gesagte wirklich in Besitz zu neh-
men und das durch die Literatur in unserer Erfahrung nur locker
Greifbare in den Griff zu bekommen, das Wesentliche der Spra-
che nicht gerade viel besser zum Ausdruck bringt. Dieses Problem
erforderte logische Analysen, für die hier kein Platz ist. Ohne es
vollständig abzuhandeln, können wir ihm wenigstens als Problem
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 109
einen Platz geben und zeigen, daß auf jeden Fall keine Sprache
sich ganz und gar von der Ungewißheit der stummen Ausdrucks-
formen befreit, daß keine Sprache ihre eigene Zufälligkeit auflöst
und sich darin aufbraucht, die Dinge selbst erscheinen zu lassen,
daß also in diesem Sinn das Privileg der Sprache gegenüber der
Malerei oder den Vollzügen des Lebens relativ bleibt und daß
schließlich der Ausdruck nicht eine jener Eigentümlichkeiten ist,
die der Geist einer Prüfung unterziehen kann, sondern daß der
Ausdruck die lebendige Existenz des Geistes ist.
Gewiß nimmt jemand, der sich zum Schreiben entschließt,
gegenüber der Vergangenheit eine Haltung ein, die nur ihm ei-
gen ist. Jede Kultur führt die Vergangenheit fort: Die Eltern von
heute sehen ihre Kindheit in der ihrer eigenen Kinder und neh-
men ihnen gegenüber die Verhaltensweisen ihrer eigenen Eltern
an. Oder aber sie fallen aus Groll ins gegenteilige Extrem; haben
sie eine autoritäre Erziehung erfahren, lassen sie ihre Kinder ganz
frei aufwachsen – und auf diesem Umweg stellen sie oft die Tra-
dition wieder her, da der Freiheitstaumel dem Kind den Boden
unter den Füßen nimmt, so daß es zum System der Sicherheit
zurückkehrt und 25 Jahre später selbst wieder zu einem autoritä-
ren Vater wird. Das Neue der Künste des Ausdrucks besteht dem-
gegenüber darin, daß sie der stummen Kultur aus ihrem tödli-
chen Kreislauf einen Ausweg eröffnen. Der Künstler begnügt sich
nicht mehr damit, die Vergangenheit durch Ehrfurcht oder Re-
volte fortzusetzen. Er beginnt seinen Versuch wieder von Grund
auf neu. Wenn der Maler zum Pinsel greift, so deshalb, weil in
gewisser Hinsicht die Malerei erst noch geschaffen werden muß.
Die Künste der Sprache aber gehen sehr viel weiter in der wirkli-
chen Schöpfung. Wenn die Malerei eben immer noch geschaffen
werden muß, so treten die noch zu schaffenden Werke des neuen
Malers zu den bereits fertiggestellten hinzu: Sie machen sie nicht
überflüssig, sie enthalten sie nicht ausdrücklich, sie rivalisieren
mit ihnen. Die gegenwärtige Malerei verleugnet in einer allzu
absichtsvollen Weise die Vergangenheit, um sich wirklich von ihr
lösen zu können: Sie kann sie nur vergessen, indem sie aus ihr
Gewinn schöpft. Indem sie alles, was vor ihr war, als einen ge-
110 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens
Griechentum, denn sie vermögen der Zeit nicht wie ein Manu-
skript zu widerstehen, selbst wenn es unvollständig, zerrissen
oder fast unleserlich ist. Der Text des Heraklit läßt für uns Blitze
aufleuchten, wie keine zerstückelte Statue es vermag, weil in ihm
die Bedeutung in anderer Art aufbewahrt, auf eine andere Weise
konzentriert ist als in jenen, und weil nichts der Elastizität des
Wortes gleichkommt. Kurz, die Sprache spricht, und die Stim-
men der Malerei sind die Stimmen des Schweigens.
Es ist die Aussage, die die Sache selbst enthüllen will, sie über-
schreitet sich auf ihre Bedeutung hin. Jedes Wort kann seinen
Sinn noch so sehr von allen anderen beziehen, wie Saussure er-
klärt; in dem Augenblick, wo es auftritt, wird die Aufgabe des
Ausdrückens nicht weiter aufgeschoben, auf andere Wörter ver-
wiesen: Sie ist ausgeführt, und wir verstehen etwas. Saussure kann
wohl zeigen, daß jede Ausdruckshandlung nur als Modulation
eines allgemeinen Ausdruckssystems bedeutsam wird, insofern
sie sich von anderen sprachlichen Gesten differenziert – aber das
Wunder bleibt, daß wir vor Saussure nichts davon wußten und es
auch jedesmal, wenn wir sprechen, wieder vergessen, auch dann,
wenn wir über die Ideen von Saussure sprechen. Das beweist, daß
jeder einzelne Ausdrucksakt, als ein Teil der ganzen Sprache, sich
nicht darauf beschränkt, die in ihr angesammelten Ausdrucks-
kräfte zu verausgaben; in jedem Akt wird vielmehr das Ganze der
Sprache immer wieder von neuem erzeugt, indem er uns in der
Evidenz des gegebenen und übernommenen Sinnes die Fähigkeit
der Sprechenden bezeugt, die Zeichen in Richtung auf den Sinn
hin zu überschreiten. Für uns rufen die Zeichen nicht nur fort-
während andere Zeichen hervor, die Sprache ist kein Gefängnis,
in dem wir eingeschlossen sind, sie ist kein Führer, dem wir blind
zu folgen hätten, weil im Schnittpunkt aller sprachlichen Gesten
schließlich das erscheint, was sie sagen wollen; und dazu gewäh-
ren sie uns einen so vollständigen Zugang, daß wir meinen, ihrer
nicht mehr zu bedürfen, um uns darauf zu beziehen. Wenn man
also die Sprache mit den stummen Ausdrucksformen vergleicht
– mit der Geste, mit der Malerei –, so muß man hinzufügen, daß
sie sich nicht wie jene damit begnügt, auf der Oberfläche der
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 113
2 »Diese aber (sc.: die Meinung) liegt nicht äußerlich neben den
Worten; sondern redend vollziehen wir fortlaufend ein inneres, sich mit
den Worten verschmelzendes, sie gleichsam beseelendes Meinen. Der
Erfolg dieser Beseelung ist, daß die Worte und die ganzen Reden in
sich eine Meinung gleichsam verleiblichen und verleiblicht in sich als Sinn
tragen« (S. 20).
3 »Objektives Dasein ›in der Welt‹, das als solches zugänglich ist für
Können wir die beiden Perspektiven auf die Sprache, die wir
gerade voneinander unterschieden haben, einfach nebeneinan-
derstellen – die Sprache als Objekt des Denkens und die Sprache
120 Über die Phänomenologie der Sprache
als mir eigene? Genau dies tat zum Beispiel Saussure, wenn er
zwischen einer synchronen Linguistik des Sprechens und einer
diachronen Linguistik der Sprache unterschied, die nicht in der 6
jeweils anderen aufgehen, da eine panchrone Sicht unweigerlich
die Ursprünglichkeit des Gegenwärtigen auslöschen würde. Aus
denselben Gründen beschränkt sich Pos darauf, abwechselnd
die objektive und die phänomenologische Haltung zu beschrei-
ben, ohne sich über ihre Beziehung zueinander zu äußern. Man
könnte nun glauben, daß die Phänomenologie sich von der Lin-
guistik nur in dem Maße unterscheidet, wie die Psychologie von
der Sprachwissenschaft unterschieden ist: Die Phänomenologie
fügte der Sprachkenntnis die Erfahrung der Sprache in uns hinzu,
so wie die Pädagogik der Kenntnis der mathematischen Begriffe
die Erfahrung dessen hinzufügt, was aus diesen im Geist derer
wird, die sie erlernen. Die Erfahrung des Sprechens könnte uns
also nichts über das Sein der Sprache beibringen, sie hätte keine
ontologische Relevanz.
Genau dies ist jedoch unmöglich. Sobald man neben der ob-
jektiven Wissenschaft der Sprache eine Phänomenologie des
Sprechens erkennt, setzt man eine Dialektik in Gang, durch die
beide Disziplinen miteinander in Verbindung treten.
Zunächst einmal schließt der ›subjektive‹ Standpunkt den ›ob-
jektiven‹ Standpunkt ein; die Synchronie schließt die Diachronie
ein. Die Vergangenheit der Sprache hat damit begonnen, eine
Gegenwart zu sein, die Serie der zufälligen linguistischen Fak-
ten, die in der objektiven Sicht betont werden, verkörpert sich in
einer Sprache, die in jedem Augenblick ein System mit innerer
Logik war. Wenn also die Sprache, im Querschnitt betrachtet, ein
System ist, dann muß sie dies auch im Verlauf ihrer Entwicklung
sein. Saussure mag noch so sehr an der Dualität der Perspektiven
festhalten, seine Nachfolger können doch nicht umhin, mit dem
sublinguistischen Schema (Gustave Guillaume) ein vermittelndes 7
Prinzip in ihre Überlegungen einzuführen.
In anderer Hinsicht schließt die Diachronie die Synchronie
ein. Wenn die Sprache, im Längsschnitt betrachtet, Zufälle ent-
hält, dann muß das System der Synchronie in jedem einzelnen
Über die Phänomenologie der Sprache 121
wird, dann nicht auf dem Wege einer universalen Sprache, die
aus der Verschiedenheit der Sprachen ins Diesseits zurückkehren
würde, um uns die Grundlagen jeder möglichen Sprache zu lie-
fern, sondern auf dem krummen Pfad jener bestimmten Sprache,
die ich spreche und die mich in das Ausdrucksphänomen auch
zu jedweder anderen Sprache, die ich zu sprechen lerne und die
den Akt des Ausdrückens in ganz anderem Stil vollzieht, einführt.
Beide Sprachen, und letztlich alle gegebenen Sprachen, sind da-
bei unter Umständen nur am Ende des Weges und als Totalitäten
vergleichbar, ohne daß man in ihnen die gemeinsamen Elemente
einer einzigen kategorialen Struktur erkennen könnte.
Statt daß man also eine Sprachpsychologie und eine Sprach-
wissenschaft nebeneinanderstellen könnte, indem man der ersten
die gegenwärtige Sprache vorbehält, der zweiten hingegen die ver-
gangene Sprache, breitet sich die Gegenwart in der Vergangenheit
als einer gewesenen Gegenwart aus, und die Geschichte ist die
Geschichte sukzessiver Synchronien – so daß auch die Kontin-
genz der sprachlichen Vergangenheit bis in das synchrone System
hineinreicht. Was mir durch die Phänomenologie der Sprache
beigebracht wurde, ist nicht nur eine psychologische Neugier:
Die Sprache der Linguisten in mir, mit den Besonderheiten, die
ich ihr hinzufüge – es ist eine neue Vorstellung vom Sein der
Sprache, die nun in der Kontingenz logisch und ein ausgerich-
tetes System ist und die dennoch stets die Zufälle zu verarbeiten
sucht, als Wiederaufnahme des Zufälligen in einer sinnhaften
Totalität, als inkarnierte Logik.
zugs befreit ist, zieht die Schritte zu einer einzigen Sichtweise zu-
sammen, es kommt zu einer Sedimentierung, und mein Denken
wird darüber hinausgehen können. Die gesprochene Sprache ist,
sofern sie von der Sprache unterschieden ist, dieser Moment, in
dem sich die noch stumme, aber im Handeln begriffene Bedeu-
tungsintention als fähig erweist, sich der Kultur, meiner wie auch
der des Anderen, einzuverleiben, mich und ihn zu formen, indem
sie den Sinn der Kulturinstrumente transformiert. Sie wird ihrer-
seits ›verfügbar‹, weil sie uns hinterher vortäuscht, sie sei auch
in den verfügbaren Bedeutungen enthalten gewesen, obwohl sie
sich, durch eine Art von List, mit diesen nur vermählt hat, um
ihnen neues Leben einzuhauchen.
mit dem Anderen zu tun haben würde) in der Lage wäre, diesen
Widerspruch als Bestimmung selbst der Präsenz des Anderen zu
erleben. Dieses Subjekt, das sich in dem Moment, in dem es als
Konstituierendes fungiert, als Konstituiertes erfährt, dieses Sub-
jekt ist mein Leib. Man rufe sich in Erinnerung, wie Husserl im
Falle der Fundierung auf dasjenige kommt, was er ein ›Phäno-
men der Paarung‹ und eine ›intentionale Überschreitung‹ nennt, 14
meine Wahrnehmung eines Gebarens im mich umgebenden
Raum. Es findet sich, daß mein Blick an manchen Schauspielen
– nämlich den anderen menschlichen Körpern und, im weiteren
Sinne, auch den animalischen – hängenbleibt, daß er von ihnen
umgarnt wird. Ich werde von ihnen beansprucht, obwohl ich sie
selbst beanspruchen wollte, und ich sehe, wie sich im Raum eine
Gestalt abzeichnet, welche die Möglichkeiten meines eigenen
Körpers weckt und zusammenruft, als handele es sich um meine
eigenen Gesten oder Verhaltensweisen. Alles geschieht, als seien
die Funktionen der Intentionalität und des intentionalen Ob-
jekts auf paradoxe Weise ausgetauscht worden. Das Schauspiel
lädt mich ein, sein adäquater Zuschauer zu werden, als würde
mit einem Mal ein anderer Geist als der meinige meinen Leib be-
wohnen, oder vielmehr, als wäre mein Geist dort hineingezogen
worden und wanderte nun aus in jenes Schauspiel, das er selbst
sich gerade darbot. Ich bin gepackt von einem zweiten, außer mir
seienden Ich-selbst, ich nehme den Anderen wahr… Die gespro-
chene Sprache ist nun ganz offensichtlich ein herausragender Fall
dieses ›Gebarens‹, das meine gewöhnliche Beziehung zu den Ob-
jekten umkehrt und bestimmten Objekten unter ihnen den Wert
von Subjekten zuschreibt. Und wenn, angesichts des lebendigen
Körpers, sei es der meinige oder der des Anderen, die Objektivie-
rung keinen Sinn ergibt, so muß man doch die Inkarnation des-
sen, was ich ihr Denken in seiner vollständigen Sprachäußerung
nenne, für das letztmögliche und für den Anderen konstitutive
Phänomen halten. Wenn die Phänomenologie unsere Auffassung
vom Sein und unsere Philosophie in Wirklichkeit nicht schon
längst in ihre Dienste genommen hätte, dann wären wir, sobald
wir bei dem philosophischen Problem angelangt sind, vor die
Über die Phänomenologie der Sprache 133
Die Philosophie und die Soziologie haben lange Zeit streng von-
einander getrennt nebeneinander existiert, wenngleich diese
Trennung ihre Rivalität nur dadurch verbergen konnte, daß sie
ihnen jeden Raum der Begegnung verweigerte, ihr Wachstum be-
hinderte, sie füreinander unverständlich werden ließ und folglich
die Kultur in einen andauernden Krisenzustand versetzte. Wie
immer war es der Geist der Forschung, der diesen Bann gebro-
chen hat, und es scheint uns, als erlaube der Fortschritt der Phi-
losophie wie der Soziologie heute eine neuerliche Untersuchung
ihrer Beziehungen.
Wir möchten die Aufmerksamkeit auch auf die Meditationen
richten, die Husserl diesen Problemen gewidmet hat. Husserl
scheint uns darin beispielhaft zu sein, daß er vielleicht besser als
jeder andere gespürt hat, daß alle Formen des Denkens in ge-
wisser Weise miteinander verbunden sind, daß man weder die
Sozialwissenschaften zugrunde richten darf, um die Philoso-
phie zu fundieren, noch die Philosophie zugrunde richten darf,
um die Sozialwissenschaften zu begründen, daß vielmehr jede
Wissenschaft eine Ontologie absondert und jede Ontologie ein
Wissen antizipiert, und daß es letztlich bei uns liegt, uns damit
abzufinden und es so einzurichten, daß die Philosophie und die
Wissenschaft beide möglich sind …
Die Trennung von Philosophie und Soziologie ist vielleicht
nirgends mit den Worten erklärt worden, in denen wir sie zur
Sprache bringen werden. Glücklicherweise sind die Arbeiten der
Philosophen und der Soziologen oft weniger exklusiv als ihre
Prinzipien. Aber die Trennung ist nichtsdestoweniger Teil eines
gewissen Common sense der Philosophen und der Soziologen,
der letztlich, durch seine Rückführung der Philosophie und der
Sozialwissenschaften auf das, von dem er glaubt, es sei ihre reine
Form, das Wissen ebenso wie die Reflexion kompromittiert.
140 Der Philosoph und die Soziologie
stellen können, die wir erlebt haben, kurzum: durch eine imagi-
näre Variation dieser Beziehungen, angesichts derer sie sicherlich
eine neue Bedeutung erhalten werden – so wie der Fall eines Kör-
pers auf eine schiefe Ebene durch die reine Idee des freien Falls in
ein neues Licht gerückt wird –, der sie aber all das liefern werden,
was sie an soziologischem Sinn enthalten kann. Die Anthropolo-
gie lehrt uns, daß in bestimmten Kulturen manche der Cousins
von den Kindern wie ihre eigenen ›Eltern‹ behandelt werden,
und Fakten dieser Art erlauben schließlich, ein Diagramm vom
System der Verwandtschaftsverhältnisse in der betrachteten Zi-
vilisation zu erstellen. Aber die auf diese Weise festgehaltenen
Korrelationen geben nur die Silhouette oder den Umriß der
Verwandtschaftsverhältnisse in dieser Zivilisation wieder, einen
Vergleich der Verwandtschaftsverhältnisse, die durch eine nomi-
nelle Definition in bestimmten bedeutsamen, aber noch anony-
men Punkten X …Y …Z … als ›verwandtschaftlich‹ bezeichnet
werden, kurzum: Sie haben noch keinen soziologischen Sinn,
und die Formeln, die sie zusammenfassen, könnten ebensogut
einen beliebigen physikalischen oder chemischen Prozeß dersel-
ben Form wiedergeben, solange es uns nicht gelungen ist, uns
in der solchermaßen umschriebenen Institution einzurichten,
solange wir den Stil der Verwandtschaftsverhältnisse, auf den all
diese Formeln anspielen, nicht verstanden haben und auch nicht
verstanden haben, in welchem Sinne in dieser Kultur bestimmte
Subjekte andere Subjekte ihrer Generation als ihre eigenen ›El-
tern‹‚ wahrnehmen, und solange wir schließlich nicht die grund-
legende personale und interpersonale Struktur begriffen haben,
die institutionellen Beziehungen zur Natur und zum Anderen,
die jene festgestellten Korrelationen ermöglichen. Noch einmal
sei es gesagt: Die tiefgreifende Dynamik des sozialen Miteinan-
ders ist ganz sicher nicht mit unserer beschränkten Erfahrung
des Lebens zu mehreren gegeben, es gelingt uns vielmehr nur
durch die Dezentrierung und Rezentrierung dieser beschränk-
ten Erfahrung, uns diese Dynamik vorzustellen, so wie die all-
gemeine Zahl für uns nur durch ihre Verbindung zu der ganzen
Zahl der elementaren Arithmetik eine Zahl bleibt. Wir können
Der Philosoph und die Soziologie 143
serer eigenen Sprache nur dann verstehen können und uns von
den Pseudo-Evidenzen, die darin bestehen, daß wir an ihr als
unserer Sprache festhalten, lösen und zur wahren Erkenntnis der
anderen Sprachen vordringen, wenn wir zunächst ein Bild der
›idealen Form‹ der Sprache und der Ausdrucksweisen entwor-
fen haben, die unbedingt zu ihr gehören, wenn sie Sprache sein
will: Nur unter diesen Umständen werden wir verstehen können,
wie Deutsch, Latein oder Chinesisch, jedes auf seine Weise, an
dieser universalen Eidetik teilhaben, und wir werden jede dieser
Sprachen als eine den ursprünglichen Proportionen entspre-
chende Mischung der universalen ›Bedeutungsformen‹, als eine
›verworrene‹ und unvollständige Realisierung der ›allgemeinen
und vernünftigen Grammatik‹ bestimmen können. Es galt also,
die faktische Sprache durch eine synthetische Operation zu re-
konstruieren, ausgehend von den wesentlichen Strukturen jeder
möglichen Sprache, die sie in ihrer reinen Klarheit umgaben. Das
philosophische Denken erschien als absolut autonom, als fähig,
und zwar allein fähig, die wahre Kenntnis durch den Rückgriff
auf solche Wesenheiten zu erlangen, die den Schlüssel zu den
Dingen lieferten.
Im allgemeinen wird unter diesen Umständen die ganze ge-
schichtliche Erfahrung des sozialen Bezugs zugunsten der We-
sensschau angezweifelt. Sie zeigt uns zwar ›soziale Prozesse‹,
›kulturelle Gebilde‹, Formen des Rechts, der Kunst, der Religion,
aber solange wir mit diesen empirischen Realisierungen in Be-
rührung bleiben, wissen wir nicht einmal, was jene Rubriken
bedeuten, unter denen wir sie einordnen, und wir wissen sogar
noch viel weniger, wenn es denn so ist, daß das geschichtliche
Werden mancher Religion, mancher Rechts- oder Kunstform
wirklich mit ihrer Wesenheit zusammenhängt und über ihren
Wert entscheidet, oder wenn umgekehrt dieses Recht, diese Kunst
oder diese Religion noch andere Möglichkeiten einschließen. Die
Geschichte, sagte Husserl in diesem Zusammenhang, kann nicht
über eine Idee urteilen, und wenn sie es doch tut, dann entleiht
diese wertende Geschichte der ›idealen Sphäre‹ heimlich jene
notwendigen Verbindungen, die sie angeblich aus den Fakten
Der Philosoph und die Soziologie 147
tuellen Objekts, und sie umkreist es nicht länger. Sie muß sich
seiner vielmehr durch einen Kontakt oder eine Vertrautheit be-
wußt werden, die ihr Verständnisvermögen zunächst übersteigen.
Der Philosoph ist erst einmal derjenige, der bemerkt, daß er in
der Sprache situiert ist, daß er spricht; und die phänomenolo-
gische Reflexion wird sich nicht mehr darauf beschränken, in
aller Deutlichkeit die ›notwendigen Bedingungen‹ aufzuzählen,
ohne die es keine Sprache geben würde; sie muß das aufdecken,
was bewirkt, daß es eine gesprochene Sprache gibt, das Paradox
eines zugleich sprechenden und verstehenden Subjekts, das der
Zukunft zugewandt ist, trotz allem, was wir über die Zufälle und
die Sinnverschiebungen wissen, die zur Sprache geführt haben.
Es gibt also in der Aktualität des Gesprochenen eine Einsicht, die
sich in keinem einfach nur ›möglichen‹ Ausdruck findet, es gibt
in unserem sprachlichen ›Präsenzfeld‹ eine Operation, die uns
als Modell dient, um uns andere Systeme möglicher Ausdrücke
vorzustellen, ohne daß diese Operation ein ganz besonderer Fall
jener Ausdrücke wäre. Die Reflexion ist nicht mehr der Übergang
zu einer anderen Ordnung, welche die Ordnung der aktuellen
Dinge aufsaugte, sie ist vielmehr zunächst ein schärferes Bewußt-
sein unserer Verwurzelung in ihnen. Der Durchgang durch das
Aktuelle ist von nun an die absolute Bedingung einer gültigen
Philosophie.
Offen gestanden muß man nicht erst die Anerkennung der
Lebenswelt als erstes phänomenologisches Thema abwarten, um
bei Husserl die Ablehnung einer formalen Reflexion zu verzeich-
nen. Der Leser der Ideen I wird bereits bemerkt haben, daß die
eidetische Intuition immer schon eine ›Feststellung‹ war und
die Phänomenologie eine ›Erfahrung‹ (Eine Phänomenologie
der Anschauung, sagte Husserl, muß auf der Basis einer Sich-
tigkeit konstruiert werden, die wir erst einmal tatsächlich er-
proben, und er lehnte die Möglichkeit einer ›Mathematik der
Phänomene‹, einer ›Geometrie des Erlebens‹ im allgemeinen
7 ab.). Die aufsteigende Bewegung wurde dabei einfach nicht
hervorgehoben. Das Denken stützte sich kaum auf seine tat-
sächlichen Strukturen, um seine möglichen Strukturen daraus
150 Der Philosoph und die Soziologie
Breda bei Martinus Nijhof in Den Haag veröffentlicht. Wir haben für das
Zitat der wenigen unveröffentlichten Sätze, die man im folgenden lesen
wird, keinerlei Auflagen seitens der Herausgeber erhalten. Daher bitten
wir den Leser, hierin nur einen Vorgeschmack der Texte zu suchen, deren
einzig autorisierte Herausgabe vom Leuvener Husserl-Archiv vorbereitet
wird.
154 Der Philosoph und die Soziologie
in gewisser Hinsicht immer naiv sind und daß es, betrachtet man
sie im Geflecht der Kultur, der er selbst angehört, nicht genügt,
sie, um sie in Wahrheit zu erkennen, eingehend zu untersuchen
und sie im Denken variieren zu lassen, sondern daß man sie mit
anderen kulturellen Gebilden konfrontieren und sie vor dem
Hintergrund anderer Vorurteile sehen muß – hat er dann nicht
von diesem Moment an abgedankt und seine Rechte wieder an
die positiven Disziplinen und die empirische Forschung abgetre-
ten? Genau das macht er nicht. Dieselben geschichtlichen Abhän-
gigkeiten, die dem Philosophen verbieten, sich einen unmittel-
baren Zugang zum Allgemeinen oder zum Ewigen anzumaßen,
verbieten dem Soziologen, sich in dieser Funktion an seine Stelle
zu setzen und der wissenschaftlichen Objektivierung des Sozialen
den Wert einer Ontologie zuzuschreiben. Der tiefste Sinn des Be-
griffs von Geschichte liegt nicht darin, das denkende Subjekt in
einem Punkt der Zeit und des Raums einzuschließen: Es kann
auf diese Weise nur im Blickwinkel eines Denkens erscheinen,
das seinerseits in der Lage ist, jede Lokalität und jede Tempo-
ralität zu verlassen, um es an seinem Ort und in seiner Zeit zu
sehen. Dies aber ist genau das Vorurteil eines absoluten Denkens,
das der geschichtliche Sinn diskreditiert. Es geht nicht darum,
der Wissenschaft, wie es der Historizismus betreibt, jene höchste
Autorität zu übertragen, die man der systematischen Philosophie
versagt. Ihr glaubt, für immer und für jeden zu denken, sagt der
Soziologe zum Philosophen, und gerade darin bringt ihr doch
nur die Vorurteile und Anmaßungen eurer Kultur zum Aus-
druck. Das stimmt, aber dies gilt ebenso für den dogmatischen
Soziologen wie für den Philosophen. Er selbst, der so spricht, von
welchem Standpunkt aus spricht er? Diese Idee einer geschichtli-
chen Zeit, welche die Philosophen so enthielte wie eine Schachtel
einen Gegenstand enthält, kann von dem Soziologen nur gebildet
werden, indem er sich seinerseits außerhalb der Geschichte stellt
und das Privileg des absoluten Beobachters für sich beansprucht.
In Wirklichkeit ist es die Vorstellung der Beziehungen des Gei-
stes und seines Gegenstandes selbst, zu deren Neubearbeitung
uns das geschichtliche Bewußtsein einlädt. Es ist genau so, daß
156 Der Philosoph und die Soziologie
eine der beiden Formen des Möglichen ist, vor denen wir uns
befinden, wobei das andere Mögliche das Chaos ist. Und gerade
im Bewußtsein einer Art von anonymer Widersetzlichkeit, wel-
che die Rationalität bedroht, sucht Husserl nach dem, was die
Erkenntnis und das Handeln stimulieren könnte. Die Vernunft
als Aufruf und Aufgabe, die ›latente Vernunft‹, die es in sie selbst
zu transformieren und zu sich selbst zu bringen gilt, wird das
Kriterium der Philosophie. »Damit allein entscheidet sich, ob
das dem europäischen Menschentum mit der Geburt der grie-
chischen Philosophie eingeborene Telos, ein Menschentum aus
philosophischer Vernunft sein zu wollen und nur als solches sein
zu können – in der unendlichen Bewegung von latenter zu of-
fenbarer Vernunft und im unendlichen Bestreben der Selbstnor-
mierung durch diese seine menschliche Wahrheit und Echtheit,
ein bloßer historisch-faktischer Wahn ist, ein zufälliger Erwerb
einer zufälligen Menschheit, inmitten ganz anderer Menschheiten
und Geschichtlichkeiten; oder ob nicht vielmehr im griechischen
Menschentum erstmalig zum Durchbruch gekommen ist, was als
Entelechie im Menschentum als solchen wesensmäßig beschlos-
sen ist. Menschentum überhaupt ist wesensmäßig Menschsein
in generativ und sozial verbundenen Menschheiten, und ist der
Mensch Vernunftwesen (animal rationale), so ist er es nur, sofern
seine ganze Menschheit Vernunftmenschheit ist – latent auf Ver-
nunft ausgerichtet oder offen ausgerichtet auf die zu sich selbst
gekommene, für sich selbst offenbar gewordene und nunmehr
in Wesensnotwendigkeit das menschheitliche Werden bewußt
leitende Entelechie. Philosophie, Wissenschaft wäre demnach die
historische Bewegung der Offenbarung der universalen, dem Men-
schentum als solchen ›eingeborenen‹ Vernunft.«8 Auf diese Weise 12
ist das Wesen des Menschen nicht gegeben, ebensowenig wie die
unbedingte Wesensnotwendigkeit: Sie wird nur dann eine Rolle
spielen, wenn die Rationalität, deren Idee uns Griechenland hin-
terlassen hat, sich durch die Erkenntnis und das Handeln, das
ausarbeitet, was das Kind erlebt oder nicht erlebt, erleidet oder
nicht erleidet, fühlt oder nicht fühlt, so daß es kein Detail seiner
ganz individuellen Geschichte gibt, das nicht etwas zu dieser ihm
eigenen Bedeutung beiträgt, die es an den Tag legen wird, wenn
es, nachdem es zunächst so gedacht und gelebt hatte wie es ihm
gut schien, und nachdem es dem Imaginären seiner Kultur ge-
mäß wahrgenommen hatte, schließlich dorthin gelangt, diese Be-
ziehung umzukehren und in die Bedeutungen seiner Worte und
seines Verhaltens hineinzuschlüpfen, sie bis in die verborgensten
Einzelheiten seiner Erfahrung hinein in Kultur zu verwandeln.
Daß diese zentripetale und diese zentrifugale Bewegung beide
zugleich möglich sind, ist unter dem Gesichtspunkt der Kausa-
lität nicht denkbar. Nur in der philosophischen Haltung werden
diese Umkehrungen und diese ›Metamorphosen‹ begreiflich und
sogar sichtbar, diese Nähe und diese Distanz der Vergangenheit
und der Gegenwart, des Archaischen und des ›Modernen‹, dieses
jeweilige Zusammenrollen der kulturellen Zeit und des kulturel-
len Raums in sich selbst, diese ständige Überdeterminierung der
menschlichen Ereignisse, die bewirkt, daß, wie einzigartig auch
die lokalen und zeitlichen Bedingungen sein mögen, die soziale
Gegebenheit uns immer als Variante eines einzigen Lebens er-
scheint, zu dem auch das unsrige gehört, und daß alles Andere
für uns ein anderes Wir-selbst ist.
Die Philosophie ist wohl immer ein Bruch mit dem Objekti-
vismus, eine Rückkehr von den constructa zum Erlebten, von der
Welt zu uns selbst. Es ist nur so, daß dieser unerläßliche Schritt,
der sie charakterisiert, sie nicht mehr auf die dünn gewordene
Atmosphäre der Introspektion oder auf ein zahlenmäßig von
dem Bereich der Wissenschaft unterschiedenes Gebiet überträgt,
er bringt sie nicht mehr in Rivalität zum Wissen, seit man an-
erkannt hat, daß das ›Innere‹, auf das sie uns zurückführt, kein
›Privatleben‹ ist, sondern eine Intersubjektivität, die uns nach
und nach wieder mit der gesamten Geschichte verbindet. Wenn
ich bemerke, daß das Soziale nicht nur ein Objekt ist, sondern
zunächst einmal meine Situation, und wenn ich in mir das Be-
wußtsein dieses Sozial-Meinigen erwecke, dann ist es meine
Der Philosoph und die Soziologie 161
ganze Synchronie, die mir gegenwärtig wird, ist es über sie hin-
weg die ganze Vergangenheit, die ich wirklich als die Synchro-
nie zu denken in der Lage bin, die sie zu ihrer Zeit gewesen ist,
und ist es das ganze konvergierende und unvereinbare Handeln
der geschichtlichen Gemeinschaft, das mir tatsächlich in meiner
lebendigen Gegenwart gegeben ist. Der Verzicht auf den Erklä-
rungsapparat des Systems läßt die Philosophie nicht auf den
Rang eines Hilfsmittels oder einer Propagandistin des objektiven
Wissens zurückfallen, da sie über eine eigene Dimension, näm-
lich die der Koexistenz verfügt, nicht im Sinne einer vollendeten
Tatsache oder eines Gegenstandes der Kontemplation, sondern
als ein ständiges Ereignis und ein Milieu der universalen Praxis.
Die Philosophie ist unersetzlich, weil sie uns die Bewegung offen-
bart, durch die Leben zu Wahrheiten werden, und die Zirkulari-
tät dieses einzigartigen Seins, das in gewissem Sinne bereits alles
ist, was es gerade denkt.
1 VON M AUS S Z U C L AU DE L É V I- S T R AUS S
dividuum blieb äußerlich wie die zwischen zwei Dingen. Was der
sozialen Erklärung zugestanden wurde, wurde der psychischen
oder physiologischen Erklärung genommen und umgekehrt.
Was Durkheim im übrigen unter dem Titel einer sozialen
Morphologie anbot, war eine ideelle Genese der Gesellschaften,
gewonnen durch Kombination elementarer Gesellschaften und
durch wechselseitige Zusammensetzung der einzelnen Kompo-
nenten. Das Einfache wurde verwechselt mit dem Wesentlichen
und Alten. Die Idee einer ›prälogischen Mentalität‹, die Lévi- 5
Bruhl aufbrachte, eröffnete uns ebensowenig einen Zugang zu
dem, was sich in den sogenannten archaischen Kulturen mögli-
cherweise nicht auf unsere Kultur zurückführen läßt, denn mit
einer solchen Idee wurden diese Kulturen auf eine unüberwind-
liche Differenz festgenagelt. Auf zweierlei Weise also verpaßte
die französische Schule den Zugang zum Andern, der doch die
Soziologie definiert. Wie den Andern verstehen, ohne ihn unserer
Logik zu opfern oder diese ihm? Ob sie die Realität vorschnell
unseren Ideen anpaßte oder sie umgekehrt für unzugänglich er-
klärte, stets äußerte sich die Soziologie, als könne sie ihr Objekt
überfliegen, der Soziologe war ein absoluter Beobachter. Es fehlte
das geduldige Eindringen in den Gegenstand, die Verständigung
mit ihm.
Marcel Mauss dagegen hat beides instinktiv praktiziert. Weder
seine Lehrtätigkeit noch sein Werk lag im Streit mit den Prinzi-
pien der französischen Schule. Als Neffe und Mitarbeiter Durk-
heims hatte er allen Grund, diesem Gerechtigkeit widerfahren zu
lassen. Erst in seiner besonderen Art, mit dem Sozialen Kontakt
aufzunehmen, kam die Differenz zum Ausbruch. In der Erfor-
schung der Magie, so stellte er fest, hinterlassen die konkomitan- 6
ten Variationen und äußeren Korrelationen ein Residuum, das es
zu beschreiben gilt, denn hier finden sich die tieferen Gründe für
den Glauben. Es kam also darauf an, denkend in das Phänomen
einzudringen, es zu lesen und zu entziffern. Diese Lektüre besteht
jeweils darin, die Art des Austauschs zu erfassen, den die Institu-
tion zwischen den Menschen zustande bringt, dazu die Verknüp-
fungen und Äquivalenzen, die sie stiftet, die systematische Form,
Von Mauss zu Claude Levi-Strauss 165
*
Die Art und Weise, wie in einem Sektor oder im Ganzen der Ge-
sellschaft der Austausch organisiert ist, heißt nun Struktur. Die
sozialen Tatsachen sind weder Dinge noch Ideen, sondern Struk-
turen. Dieses Wort, das heute allzu häufig gebraucht wird, hatte
am Anfang einen präzisen Sinn. Es diente den Psychologen dazu,
die Konfigurationen des Wahrnehmungsfeldes zu bezeichnen,
jene Ganzheiten, die durch Kraftlinien gegliedert sind und wo
Von Mauss zu Claude Levi-Strauss 167
auf diese Weise jedes Phänomen seinen lokalen Wert zuerteilt be-
kommt. In der Linguistik ist die Struktur ebenfalls ein konkretes,
inkarniertes System. Als Saussure die These aufstellte, das Sprach-
zeichen sei diakritisch – es sei wirksam aufgrund seiner bloßen
Differenz, eines bestimmten Abstandes zwischen ihm und den
anderen Zeichen, und nicht zunächst dadurch, daß es eine posi-
11 tive Bedeutung hervorrufe –, entwickelte er eine Anschauung von
der Einheit der Sprache unterhalb der Schwelle expliziter Bedeu-
tungen, einer Systematisierung, die sich in der Sprache abspielt,
bevor ihr ideelles Prinzip erkannt ist. Für die Sozialanthropologie
besteht die Gesellschaft aus Systemen solcher Art, so das System
der Verwandtschaft und der Abstammung mitsamt den passen-
den Heiratsregeln, das System des sprachlichen Austauschs, das
System des ökonomischen Austauschs, der Kunst, des Mythos
und des Ritus… Die Gesellschaft ist selber nichts anderes als die
Totalität dieser in Wechselwirkung begriffenen Systeme. Wenn
man von Strukturen spricht, unterscheidet man sie von den ›kri-
stallisierten Ideen‹ der älteren Sozialphilosophie. Die Subjekte,
die in einer Gesellschaft leben, haben nicht zwangsläufig Kennt-
nis von dem Austauschprinzip, dem sie gehorchen, genauso wie
das Sprachsubjekt nicht darauf angewiesen ist, die linguistische
Analyse seiner Sprache zu durchlaufen, um sprechen zu kön-
nen. Die Struktur wird von ihnen vielmehr als selbstverständlich
praktiziert. Wenn man so will, die Struktur ›hat sie‹ eher, als daß
diese sie haben. Man denke an die Sprache, sei es der lebendige
Gebrauch in der Rede oder auch ihr poetischer Gebrauch, wo
die Worte von sich aus zu sprechen und sich in Eigenwesen zu
verwandeln scheinen …
Die Struktur hat, wie Janus, zwei Gesichter: Einerseits orga-
nisiert sie die Elemente, die in sie eintreten, nach einem inneren
Prinzip, sie ist Sinn. Doch dieser Sinn, den sie trägt, ist sozusagen
ein schwerer Sinn (sens lourd). Wenn also der Wissenschaftler
Strukturen in Begriffen formuliert und fixiert und Modelle kon-
struiert, mit deren Hilfe vorhandene Gesellschaften verständlich
gemacht werden sollen, so handelt es sich für ihn nicht darum,
das Modell an die Stelle des Realen zu setzen. Prinzipiell ist die
168 Von Mauss zu Claude Levi-Strauss
das Soziale umfaßt. Man darf von ihnen nicht erwarten, daß sie
im Reinzustand in der Erfahrung des Individuums auftauchen.
Dagegen muß man die Variablen der Anthropologie früher oder
später auf einer Ebene wiederfinden, wo die Phänomene eine
unmittelbar menschliche Bedeutung haben. Was uns bei dieser
Konvergenzmethode in Verlegenheit bringt, das sind die alten
Vorurteile, die Induktion und Deduktion in einen Gegensatz
bringen, als zeigte nicht schon das Beispiel Galileis, daß das tat-
sächliche Denken ein Hin und Her von Erfahrung und intellektu-
eller Konstruktion oder Rekonstruktion darstellt. Nun bedeutet
Erfahrung in der Anthropologie, daß wir als soziale Subjekte in
ein Ganzes eingefügt sind, wo die Synthese, nach der unser Ver-
stand mühsam sucht, bereits erreicht ist, denn wir durchleben in
der Einheit eines einzigen Lebens alle Systeme, aus denen unsere
Kultur besteht. Aus dieser Synthese, die wir selber sind, läßt sich
einiges an Erkenntnis gewinnen. Mehr noch, der Apparat unseres
sozialen Seins kann durch Reisen entstellt und wiederhergestellt
werden, ähnlich wie wir fremde Sprachen sprechen lernen. Hier
eröffnet sich ein zweiter Weg zum Universalen, nicht mehr zum
vertikalen Universalen, wie wir es bei einer streng objektiven Me-
thode finden, sondern gleichsam zu einem lateralen Universalen,
wie wir es durch die ethnologische Erfahrung erwerben, die un-
aufhörlich das Selbst durch den Andern und den Andern durch
das Selbst erprobt. Es geht darum, ein generelles Bezugssystem
zu errichten, in dem der Gesichtspunkt des Eingeborenen, der
Gesichtspunkt des Zivilisierten und ihre wechselseitige Verken-
nung Platz finden, und eine erweiterte Erfahrung auszubilden,
die prinzipiell empfänglich ist für Menschen eines anderen Lan-
des und einer anderen Zeit. Die Ethnologie ist keine Spezialität,
die durch einen Sondergegenstand definiert wäre: die ›primiti-
ven‹ Gesellschaften; sie ist eine Denkweise, die sich aufdrängt,
wenn der Gegenstand ein ›anderer‹ ist und uns eine Wandlung
unserer selbst abverlangt. Auch werden wir zu Ethnologen der
eigenen Gesellschaft, wenn wir ihr gegenüber auf Distanz gehen.
Seit gut zehn Jahren – seit sie an Selbstsicherheit verloren hat,
öffnet die amerikanische Gesellschaft den Ethnologen die Tür
172 Von Mauss zu Claude Levi-Strauss
sagt, so tut man das gleiche, wie wenn man einer Fremdsprache
die eigene Grammatik und das eigene Vokabular unterlegt. Der
Mythos ist von vorne bis hinten zu entziffern, ohne daß wir auch
nur wie die Spezialisten der Entzifferung voraussetzen können,
daß der zu entdeckende Code dieselbe Struktur hat wie der uns-
rige. Lassen wir beiseite, was der Mythos uns auf den ersten An-
hieb sagt und was uns eher vom wirklichen Sinn ablenken würde,
und erforschen wir seine innere Artikulation, nehmen wir die
Episoden nur, soweit sie – mit Saussure zu sprechen – einen dia-
kritischen Wert haben und diese oder jene rekurrente Relation
oder Opposition ins Spiel bringen. Man würde auf diese Weise
bemerken – dies als Illustration der Methode und nicht als theo-
retische Behauptung –, daß die Schwierigkeit, aufrecht zu gehen,
im Ödipusmythos dreimal wiederkehrt, die Vernichtung eines
14 chthonischen Ungeheuers zweimal. Zwei weitere Gegensatzsy-
steme könnten das bestätigen. Man würde die Überraschung
erleben, Vergleichbares in der Mythologie Nordamerikas wie-
derzufinden. Und man würde durch Wechselvergleiche, die wir
hier nicht wiedergeben können, zu der Hypothese gelangen, daß
der Ödipusmythos in seiner Struktur den Konflikt zwischen dem
Glauben an die Autochthonie des Menschen und der Überbewer-
tung der Verwandtschaftsbeziehungen zum Ausdruck brächte.
Von diesem Gesichtspunkt aus kann man die bekannten Vari-
anten einander zuordnen, eine aus der anderen durch geregelte
Transformation erzeugen und in ihnen ebensoviel logische Werk-
zeuge und Vermittlungsformen erblicken, wie nötig sind, um
einen grundlegenden Widerspruch aufzulösen. Wir haben dem
Mythos Gehör geschenkt und enden bei einem logischen – man
könnte auch sagen ontologischen – Diagramm: Ein bestimmter
Mythos der kanadischen Pazifikküste setzt letzten Endes voraus,
daß dem Eingeborenen das Sein als Negation des Nicht-Seins
erscheint. Die abstrakten Formeln und die gleichsam ethnolo-
gische Anfangsmethode kommen darin überein, daß immerzu
die Struktur leitend ist, die sich anfangs in ihren zwanghaften
Rekurrenzen bemerkbar macht und am Ende in ihrer exakten
Form erfaßt wird.
174 Von Mauss zu Claude Levi-Strauss
tigen und diskutieren könnte, sie heilt nicht mehr, sie überredet,
sie formt selber Subjekte, die ihrer Interpretation des Menschen
gemäß sind, sie hat ihre Bekehrten, vielleicht ihre Aufsässigen,
was sie nicht länger hat, sind Überzeugte. Jenseits von wahr und
falsch bildet sie einen Mythos, und der solcherart abgesunkene
Freudianismus ist keine Interpretation des Ödipusmythos mehr,
er ist eine seiner Varianten.
Tiefer betrachtet, geht es für den Anthropologen weder dar-
um, gegenüber dem Primitiven recht zu behalten, noch darum,
ihm uns gegenüber recht zu geben, sondern es geht darum, sich
auf einem Terrain einzurichten, wo wir, der eine so gut wie der
andere, verständlich sind ohne Reduktion und ohne waghalsige
Transposition. Dazu gelangt man, wenn man die symbolische
Funktion als Quelle jeglicher Vernunft und Unvernunft betrach-
tet, denn Menge und Reichtum an Bedeutungen, die dem Men-
schen zur Verfügung stehen, überschreiten stets den Kreis der de-
finitiven Gegenstände, die den Namen Signifikat verdienen, die
symbolische Funktion ist ihrem Gegenstand notwendigerweise
stets voraus, und sie findet das Reale nur, indem sie ihm ins Ima-
ginäre vorauseilt. Es stellt sich also die Aufgabe, unsere Vernunft
zu erweitern, um sie in den Stand zu setzen, all das zu umgreifen,
was in uns und in den Andern der Vernunft vorausgeht und über
sie hinausgeht.
Dieses Bemühen trifft zusammen mit den Bemühungen der
anderen ›semiologischen‹ Wissenschaften und mit denen der
anderen Wissenschaften überhaupt. Niels Bohr schrieb: »Die
traditionellen Unterschiede (der menschlichen Kulturen) … äh-
neln in vielfacher Hinsicht den unterschiedlichen und gleichwer-
tigen Formen, in denen die physikalische Erfahrung beschrieben
16 werden kann.« Jede traditionelle Kategorie ruft heute nach einer
komplementären, d.h. einer unvereinbaren und unablösbaren
Sichtweise, und unter diesen schwierigen Umständen vollzieht
sich die Suche nach dem, was den Gliederbau der Welt bildet.
Die Zeit der Linguisten besteht nicht mehr in dieser Reihe von
Simultaneitäten, die dem klassischen Denken vertraut war und
an die auch Saussure noch dachte, als er die beiden Perspektiven
176 Von Mauss zu Claude Levi-Strauss
*
Die laufenden und für spätere Zeit geplanten Arbeiten von Lévi-
Strauss zehren offensichtlich von derselben Inspiration; doch
gleichzeitig erneuert die Forschung sich selbst und wirkt zurück
auf ihre eigenen Resultate. Auf dem Boden der Feldforschung
nahm er sich vor, für den melanesischen Bereich eine Doku-
mentation zusammenzustellen, die im Rahmen der Theorie den
Übergang zu komplexeren Verwandtschaftsstrukturen ermög-
licht hätte, d. h. zu den Strukturen, auf die insbesondere unser
Heiratssystem zurückgeht. Inzwischen aber hat er den Eindruck
gewonnen, daß dies keine bloße Ausweitung der vorhergehenden
Arbeiten wäre, sondern daß diese damit eine zusätzliche Trag-
weite erhielten. Die modernen Verwandtschaftssysteme – die den
demographischen, ökonomischen und psychologischen Bedin-
gungen die Wahl des Partners überlassen – sollten im Rahmen
der anfänglichen Perspektiven als ›komplexere‹ Varianten des
Tauschs definiert werden. Doch ein volles Verständnis für den
komplexen Tausch läßt den zentralen Sinn des Tauschphäno-
mens nicht unberührt, es erfordert und ermöglicht eine entschei-
dende Vertiefung. Claude Lévi-Strauss hat nicht die Absicht, die
178 Von Mauss zu Claude Levi-Strauss
die seiner Laune und den Zufällen seines Lebens entspringen, als
Wahrheit ausgibt, die Fragen an ihrem Ausgangspunkt aufgreift
und sie ungelöst an seine Nachfolger weitergibt, ohne daß zwi-
schen dem einen und dem anderen geistigen Universum ein Ver-
gleich möglich wäre. Dieselben Wörter – Idee, Freiheit, Wissen
– haben hier und dort nicht den gleichen Sinn, und wie sollten
wir, da es keinen einzigen Zeugen gibt, der sie auf einen Nenner
bringen könnte, über die Philosophen hinweg eine einzige Phi-
losophie heranreifen sehen?
Müßte man nicht, um das zu berücksichtigen, was sie gesucht
haben, und um angemessen über sie zu reden, ihre Lehrmeinun-
gen ganz im Gegenteil als Momente einer einzigen, sich fortset-
zenden Lehre auffassen und sie auf Hegelsche Weise retten, indem
man ihnen einen Platz in der Einheit eines Systems zuweist?
Es ist wahr, daß das System auf seine Weise anmaßend ist:
Da es die Lehrmeinungen einer integralen Philosophie einver-
leibt, gibt es also vor, das philosophische Unternehmen besser
und weiter voranzubringen als sie. Für eine Philosophie, die das
Sein zum Ausdruck bringen wollte, liegt keine Rettung darin, als
Augenblick des Wahren oder als erster Entwurf eines finalen Sy-
stems, das nicht sie selbst ist, zu überleben. Wenn man ›hinaus-
geht‹ über eine Philosophie ›des Inneren‹, dann raubt man ihr
die Seele, man beleidigt sie, indem man sie ohne ihre ›Begren-
zungen‹ beläßt, über die man urteilt, daß heißt ohne ihre Wörter
und Begriffe zu berücksichtigen, als ließen sich die Mäander des
Parmenides oder der Verlauf der Meditationen ohne jeden Verlust
auf einen Paragraphen des Hegelschen Systems reduzieren.
In Wirklichkeit setzt dieses System sie als bekannt voraus, und
nur deswegen kann es darüber hinausgehen … Selbst wenn es sie
vollendet, schließt es sie doch nicht ein. Erst in der Schule der
anderen begreifen wir den ganzen Sinn der Hegelschen Philoso-
phie, die darüber hinausgehen wollte. Die Bewegung der Wider-
sprüche, die ineinander aufgehoben werden, das Positive, das in
der Negation zutage tritt, und das Negative, das sich als Positives
erweist, all dies beginnt bei Zenon, im Sophisten und im Zwei-
fel Descartes’. Das Hegelsche System beginnt in ihnen. Es ist der
Überall und nirgends 183
2 M. Gueroult.
184 Überall und nirgends
man einmal davon absieht, daß keine Grenze den Punkt mar-
kiert, bis zu dem es noch Descartes ist und ab dem seine Nach-
folger beginnen, und daß nicht mehr Sinn darin läge, die Ge-
danken aufzuzählen, die in Descartes gegeben sind und jene, die
bei ihnen vorhanden sind, als etwa das Verzeichnis einer Sprache
zu erstellen. Unter diesem Vorbehalt ist das, was zählt, wohl das
denkende Leben, das man Descartes nennt und das in seinen
Werken eine glücklicherweise bewahrte Spur hinterlassen hat.
Was Descartes so gegenwärtig erscheinen läßt, ist der Umstand,
daß er inmitten von Verhältnissen, die heute beseitigt sind, und
umgetrieben von Sorgen und manchen Illusionen seiner Zeit,
auf diese Wechselfälle des Lebens in einer Weise geantwortet
hat, die uns auf die Wechselfälle unseres Lebens antworten lehrt,
obwohl sie verschieden sind und auch unsere Antwort verschie-
den ist.
Man wird nicht ins Pantheon der Philosophen aufgenommen,
weil man sich ausschließlich darauf konzentriert hat, Gedanken
für die Ewigkeit hervorzubringen, und nie klingt die Betonung
der Wahrheit so lange nach, als wenn der Autor sein Leben mit
einbezieht. Die Philosophien der Vergangenheit überleben nicht
allein in ihrem Geist, als Momente eines finalen Systems. Ihr Ein-
tritt in die Zeitlosigkeit ist keine Aufnahme ins Museum. Entwe-
der sie dauern mit ihren Wahrheiten und ihren Verrücktheiten
fort, als vollständige Unternehmen, oder sie haben gar keinen
Fortbestand. Hegel selbst, dieser Denker, der das Sein umfassen
wollte, lebt heute unter uns und gibt uns nicht nur durch seine
tiefgründigen Gedanken, sondern auch aufgrund seiner Manien
und wunderlichen Angewohnheiten zu denken. Es gibt nicht
eine Philosophie, die alle anderen Philosophien enthielte; die
Philosophie ist, in bestimmten Augenblicken, als Ganzes in jeder
Philosophie enthalten. Um das berühmte Wort aufzugreifen: Ihr
Zentrum ist überall und ihre Peripherie nirgends.
Die Wahrheit und das Ganze sind also von Anfang an da – aber
im Sinne einer zu erfüllenden Aufgabe, so daß sie folglich doch
noch nicht da sind. Diese besondere Beziehung der Philosophie
zu ihrer Vergangenheit erhellt allgemein ihre Beziehungen zum
Überall und nirgends 185
Augen ihre Rollen, und wir müssen nicht in ihre ewige Debatte
einsteigen, müssen nicht Partei ergreifen gegen eine falsche Vor-
stellung des ›Inneren‹ wie des ›Äußeren‹. Die Philosophie ist
überall, sogar in den ›Fakten‹ – und sie hat nirgends einen Be-
reich, in dem sie vor der Ansteckung durch das Leben geschützt
wäre.
Es liegt viel Arbeit vor uns, wenn wir die Mythen beseitigen
wollen, die mit der reinen Philosophie und der reinen Geschichte
verschwistert sind, und wenn wir ihre tatsächlichen Beziehungen
wiederfinden wollen. Als erstes benötigten wir eine Theorie des
Begriffs oder der Bedeutung, welche die philosophische Idee so
nähme, wie sie ist: nie ganz frei von historischen Importen und
nie auf ihre Ursprünge zurückzuführen. Wie die neuen Formen
der Grammatik und der Syntax, die aus den Bruchstücken ei-
nes einstigen Sprachsystems oder den Zufällen der allgemeinen
Geschichte geboren werden, sich dennoch entsprechend einer
Ausdrucksintention organisieren, die aus ihnen ein neues System
werden läßt, so ist die philosophische Idee, die in den Wechsel-
fällen der persönlichen und sozialen Geschichte geboren wird,
nicht nur ein Ergebnis und ein Gegenstand; sie ist vielmehr ein
Beginn und ein Instrument. Mit ihren genauen Unterscheidun-
gen im Rahmen eines neuen Denktyps und eines neuen Sym-
bolismus konstituiert sie sich einen Anwendungsbereich, der in
keinem Verhältnis steht zu ihren Ursprüngen und der nur von
innen heraus verstanden werden kann. Der Ursprung ist kein
Sündenfall und auch kein Verdienst, und es ist das Gesamte in
seiner Reife, das man beurteilen muß, anhand der Ausblicke und
Zugriffe auf die Erfahrung, die es uns gewährt. Mehr noch als
zur ›Erklärung‹ einer Philosophie dient die historische Annähe-
rung dazu, den Überschuß der philosophischen Bedeutungen
über die Umstände zu verdeutlichen, und zu zeigen, wie sie, was
eine historische Tatsache ist, ihre Anfangssituation in ein Mit-
tel verwandelt, diese Situation selbst zu verstehen und durch sie
auch andere. Das philosophisch Universale besteht in jenem Au-
genblick und in jenem Punkt, in dem die Begrenzungen eines
Philosophen Eingang finden in eine andere Geschichte, die nicht
188 Überall und nirgends
der Geschichte keine Kraft, die dazu bestimmt wäre, diese Form
von Gesellschaft hervorzubringen. Die menschliche Geschichte
ist von nun an nicht so beschaffen, daß sie einen Tag bestimmt
und auf all ihren Zifferblättern gleichzeitig der helle Mittag der
Identität erscheint. Der Fortschritt der sozio-ökonomischen Ge-
schichte und selbst noch die damit verbundenen Revolutionen
sind nicht so sehr ein Übergang zu einer homogenen oder klas-
senlosen Gesellschaft wie die über stets atypische Kultursysteme
hinweg betriebene Suche nach einem Leben, das nicht für die
meisten Menschen unlebbar ist. Zwischen dieser Geschichte, die
stets vom Positiven zum Positiven fortschreitet und sich niemals
zur reinen Negation übersteigt – und dem philosophischen Be-
griff, der seine Verbindungen zur Welt nie abbricht, sind die Be-
ziehungen beliebig eng, nicht etwa weil derselbe Sinn ohne jede
Zweideutigkeit dem Rationalen und dem Realen innewohnte, wie
es Hegel und Marx jeder auf seine Weise dachten, sondern weil
das ›Reale‹ und ›Rationale‹ aus demselben Stoff geschnitten sind,
nämlich der historischen Existenz der Menschen, und weil durch
diese Existenz das Reale gewissermaßen der Vernunft versprochen
wurde.
Selbst wenn man einen einzelnen Philosophen betrachtet,
so wimmelt es in ihm von inneren Differenzen, und man muß
seinen ›vollständigen‹ Sinn über diese Diskordanzen hinweg
wiederfinden. Wenn ich nur mühsam die ›grundlegende Wahl‹
wiedererkennen kann, die der absolute Descartes, von dem Sartre
3 sprach, getroffen hat, der Descartes, der ein für alle Mal vor drei
Jahrhunderten gelebt und geschrieben hat, so liegt dies vielleicht
daran, daß Descartes selbst zu keinem Zeitpunkt ganz mit Des-
cartes übereinstimmte: Was er in unseren Augen und den Texten
zufolge ist, das ist er nur nach und nach gewesen, als Reaktion
seiner selbst auf sich selbst, und die Vorstellung, ihn an seinem
Ursprung ganz zu erfassen, ist vielleicht illusorisch, sofern Des-
cartes nicht irgendeine ›zentrale Intuition‹, ein ewiger Charakter,
ein absolutes Individuum ist, sondern zunächst jener zögerliche
Diskurs, der sich durch Erfahrung und Übung behauptet, der
sich selbst allmählich begreifen lernt und nie ganz aufhört, selbst
190 Überall und nirgends
Ist jene immense Denkliteratur, die für sich allein einen Band
beanspruchen müßte, wirklich Teil der ›Philosophie‹? Ist es mög-
lich, sie dem gegenüberzustellen, was das Abendland mit diesem
Namen bezeichnet? Die Wahrheit ist in ihr nicht wie der Hori-
zont einer unendlichen Serie von Nachforschungen enthalten,
auch nicht wie eine Eroberung und ein intellektueller Besitz des
Seins. Sie gleicht eher einem Schatz, der vor jeder Philosophie im
menschlichen Leben verteilt und nicht einzelnen Lehren zugeteilt
ist. Das Denken fühlt sich nicht dadurch beschwert, die voran-
gegangenen Versuche weiter vorantreiben oder sich sogar gegen
sie entscheiden oder noch weniger, mit der Herausbildung einer
neuen Idee des Gesamten über sie hinausgehen zu müssen. Es
ergibt sich wie ein Kommentar und Synkretismus, wie ein Echo
und eine Versöhnung. Das Alte und das Neue, die entgegenge-
setzten Lehren schließen sich zusammen, und der profane Leser
erkennt nicht, daß hierin etwas Erworbenes oder Abgeschlosse-
nes liegt; er hat das Gefühl, in einer magischen Welt zu stehen,
in der nichts je ein Ende findet, in der die Gedanken nach ihrem
Tod fortdauern und in der jene Gedanken, die man für unverein-
bar hielt, sich miteinander vermischen.
Sicherlich müssen wir hierbei unsere eigene Unwissenheit be-
rücksichtigen: Wenn wir das abendländische Denken mit der-
selben Überheblichkeit und mit demselben Abstand betrachten
wie das indische oder chinesische Denken, dann würde es uns
vielleicht ebenso den Eindruck eines Wiederkäuens, einer ewigen
Neuinterpretation, eines heuchlerischen Verrats und eines un-
freiwilligen und keiner bestimmten Richtung folgenden Wech-
selns vermitteln. Dennoch dauert dieses Gefühl gegenüber dem
Orient bei den Kennern an. Masson-Oursel sagte über Indien:
»Wir haben es hier mit einer unermeßlichen, auf jede Einheit
Überall und nirgends 193
4 C. Lévi-Strauss.
Überall und nirgends 195
*
Diese Bemerkungen, die heute banal erscheinen, führen aller-
dings zu keiner Lösung des Problems. Sie stammen von Hegel.
Er ist es, der auf die Idee kam, den Orient zu ›überwinden‹,
indem man ihn ›versteht‹; er ist es, der dem Orient die abend-
196 Überall und nirgends
sich nicht mehr bewußt auf ein absolut radikales Denken berufen
oder sich den intellektuellen Besitz der Welt und die Strenge des
Begriffs anmaßen. Seine Aufgabe liegt weiterhin in der Überprü-
fung seiner selbst und alles anderen, aber er hat sie zugleich nie
beendet, da er sie von nun an durch das Feld der Phänomene
hinweg verfolgen muß, bei dem ihm kein formales a priori von
vornherein die Herrschaft zusichert.
*
Husserl hatte es verstanden: Unser philosophisches Problem liegt
darin, den Begriff zu erweitern, ohne ihn zu zerstören.
Es gibt im abendländischen Denken etwas Unersetzbares: Das
Bemühen um die begriffliche Vorstellung, die Strenge des Be-
griffs bleiben beispielhaft, selbst wenn sie das Existierende nie
erschöpfend behandeln können. Eine Kultur bewertet man an-
hand ihres Grades an Transparenz, anhand des Bewußtseins, das
sie von sich selbst und von den anderen hat. In dieser Hinsicht
bleibt das Abendland (im weitesten Sinne) ein Bezugssystem: Es
ist das Abendland, das die theoretischen und praktischen Mittel
einer Bewußtwerdung erfunden hat, das den Weg der Wahrheit
eröffnet hat.
Aber dieser Besitz seiner selbst und des Wahren, den nur das
Abendland thematisiert hat, streift gleichwohl die Träume an-
derer Kulturen, und im Abendland selbst ist er nicht vollkom-
men. Was wir über die historischen Beziehungen Griechenlands
zum Orient und umgekehrt gelernt haben, all das, was wir an
›Abendländischem‹ im orientalischen Denken entdeckt haben
(eine Sophistik, einen Skeptizismus, Elemente der Dialektik und
der Logik), verbietet uns, eine geographische Grenze zwischen
der Philosophie und der Nicht-Philosophie zu ziehen. Die reine
oder absolute Philosophie, in deren Namen Hegel den Orient
ausschließt, schließt auch ein gut Teil der abendländischen Ver-
gangenheit aus. Vielleicht würde dieses Kriterium sogar, streng
angewendet, nur Hegel gegenüber Gnade walten lassen.
jeder Kultur zu den anderen Kulturen, in den Echos, die eine Kul-
tur in der anderen auslöst.
Was uns die Reisenden über ihre Berührung mit fremden Zivi-
lisationen erzählen, das müßte man auf das Problem der philoso-
phischen Universalität anwenden. Die Fotografien aus China ver-
mitteln uns den Eindruck eines undurchdringlichen Universums,
wenn sie sich auf das Pittoreske beschränken – das heißt, wenn
sie sich auf unseren Bildausschnitt und unsere Idee von China
beschränken. Sofern jedoch, im Gegensatz dazu, eine Fotografie
einfach versucht, die Chinesen in ihrem Lebenszusammenhang
zu erfassen, beginnen die Chinesen paradoxerweise für uns le-
bendig zu werden, und wir verstehen sie. In den Lehren selbst,
die sich dem Begriff zu widersetzen scheinen, fänden wir, wenn
wir sie in ihrem historischen und menschlichen Zusammenhang
begreifen könnten, eine Spielart der Beziehungen des Menschen
zum Sein, die uns Aufschluß geben würde über uns selbst, im
Sinne einer verborgenen Universalität. Die Philosophien Indiens
und Chinas haben weniger versucht, das Dasein zu beherrschen,
als vielmehr das Echo oder der Resonator unserer Beziehung
zum Sein zu sein. Die abendländische Philosophie kann von
ihnen lernen, die Seinsbeziehung, die anfängliche Option, aus
der sie hervorgegangen ist, wiederzufinden und das Ausmaß der
Möglichkeiten abzuschätzen, die wir uns genommen haben, als
wir ›abendländisch‹ wurden, und vielleicht kann sie uns diese
Möglichkeiten wieder erschließen.
Aus diesem Grunde sollten wir also dem Orient im Museum
der berühmten Philosophen seinen Auftritt gewähren, und aus
diesem Grunde, da wir ihm nicht den ganzen Platz einräumen
können, den eine detaillierte Studie benötigen würde, haben
wir den allgemeinen Ideen einige etwas genauere Ausführungen
vorgezogen, in denen der Leser vielleicht den geheimen, den ver-
steckten Beitrag des Orients zur Philosophie erkennen kann.
Überall und nirgends 203
schritten ist, dann ist es nicht mehr so sehr der Wortlaut oder
die endgültige Formulierung ihrer Überzeugungen, welche die
Menschen trennt oder zusammenführt, sondern vielmehr, ob sie
nun Christen sind oder nicht, die Art und Weise, wie sie mit ihrer
eigenen Dualität umgehen und in sich selbst die Beziehungen des
Begrifflichen und des Wirklichen organisieren.
Die eigentliche Frage, die der Diskussion um die christliche
Philosophie zugrunde liegt, ist die Frage nach der Beziehung von
Wesen und Dasein. Werden wir ein Wesen der Philosophie gel-
ten lassen, ein rein philosophisches Wissen, das im Menschen
einen Kompromiß mit dem Leben (in diesem Fall: mit dem re-
ligiösen Leben) eingegangen ist, aber dennoch bleibt, was es ist,
streng und direkt mitteilbar, ein ewiges Wort, das jedem diese
Welt betretenden Menschen Aufklärung verschafft, oder werden
wir im Gegenteil behaupten, die Philosophie sei radikal, gerade
weil sie das anscheinend unmittelbar Mitteilbare, die verfügba-
ren Gedanken und die in Gestalt von Ideen gegebene Erkenntnis
untergräbt und zwischen den Menschen wie auch zwischen den
Menschen und der Welt eine Verbindung offenbart, die der Idea-
lität vorangeht und sie begründet?
Daß diese Frage die christliche Philosophie beherrscht, läßt
sich anhand der Umwege nachweisen, die sie in der Diskussion
von 1931 genommen hat. Die einen, die in der Ordnung der
Prinzipien, der Begriffe und des Möglichen von der Autonomie
der Philosophie und der Religion ausgehen, räumen, wenn sie
sich den Fakten oder der Geschichte zuwenden, einen religiösen
Beitrag zur Philosophie ein, sei es die Idee einer Schöpfung, der
Vorstellung einer unendlichen Subjektivität oder der Idee einer
Entwicklung und Geschichte. Es gibt also, ungeachtet der Wesen-
heiten, einen Austausch zwischen der Religion und der Vernunft,
was die Frage insgesamt neu stellt, denn letztlich muß man zu-
gestehen, wenn eine Glaubenssache zu denken geben kann (es
sei denn, der Glaube ist hierbei nur die Gelegenheit zu einer Be-
wußtwerdung, die ohne das Bewußtsein möglich ist), daß der
Glaube bestimmte Seiten des Seins enthüllen kann, die das Den-
ken, das diese Seiten nicht kennt, nicht ›abschließend‹ behandelt,
Überall und nirgends 205
und daß sich diese ›nicht gesehenen Dinge‹ des Glaubens und die
Evidenzen der Vernunft nicht wie zwei Bereiche abgrenzen lassen.
Wenn man sich im Gegenteil mit E. Bréhier geradewegs auf die
Geschichte bezieht, um zu zeigen, daß es keine Philosophie gege-
ben hat, die christlich gewesen wäre, so gelangt man nur dann zu
diesem Schluß, wenn man die hinderlichen Begriffe christlichen
Ursprungs als philosophiefremd zurückweist oder um jeden Preis
nach älteren, außerhalb des Christentums geprägten Begriffen
sucht, womit hinreichend bewiesen wäre, daß man sich hier auf
eine gemäß der Idee philosophischer Immanenz vorbereiteten
und gespaltenen Geschichte bezieht. Daher stellt man entweder
eine Tatsachenfrage, aber auf dem Gebiet der ›reinen‹ Geschichte
kann die christliche Philosophie nur in ganz nomineller Weise
bestätigt oder bestritten werden, und das vermeintliche Tatsa-
chenurteil wird nur dann kategorisch sein, wenn es eine begriffli-
che Vorstellung der Philosophie einschließt. Oder aber man stellt
die Frage offen im Wortlaut der Wesenheiten, und in diesem Fall
muß man alles noch einmal beginnen, wenn man von dort aus
zur Ordnung der Mischformen und der existierenden Philoso-
phien übergeht. In beiden Fällen verfehlt man das Problem, das
nur für ein historisch-systematisches Denken existiert, welches in
der Lage ist, unter den Wesenheiten zu graben, zwischen ihnen
und den Tatsachen hin und her zu gehen, die Wesenheiten auf-
grund der Tatsachen anzufechten und die ›Tatsachen‹ wiederum
aufgrund der Wesenheiten, und insbesondere seine eigene Im-
manenz in Frage zu stellen.
*
Für dieses ›offene‹ Denken ist die Frage in gewisser Hinsicht,
sobald sie gestellt wurde, gelöst. Da es seine ›Wesenheiten‹ als
solche nicht für das Maß aller Dinge hält, da es nicht so sehr an
Wesenheiten als vielmehr an Bedeutungsknoten glaubt, die in ei-
nem neuen Netz des Wissens und der Erfahrung gelöst und wie-
der anders geknüpft werden und die nur als Vergangenheit dieses
Denkens fortdauern werden, sieht man nicht, worauf sich jenes
freitragende Denken berufen könnte, um allen indirekten oder
206 Überall und nirgends
Erkenntnis sei natürlich, ist allein der Umstand, daß sie Gesetz-
mäßigkeiten gehorcht und daß Gott, mit anderen Worten, nur
durch allgemeine Willensbekundungen in sie eingreift. Immer
noch handelt es sich nicht um ein absolutes Kriterium. Wenn die
natürliche Erkenntnis aus religiösen Bezügen gewoben ist, dann
imitiert das Übernatürliche im Gegenzug die Natur. Man kann
eine Art Dynamik der göttlichen Gnade skizzieren, Gesetze oder
eine Ordnung voraussehen, denen zufolge das inkarnierte Wort
meist eine Mittlerrolle übernimmt. An die Stelle der Längsspal-
tung der Philosophie in den Bereich des reinen Verstandes und
der geschaffenen und existierenden Welt, und in den Bereich der
natürlichen oder übernatürlichen Erfahrung, setzt Malebranche
eine Querspaltung, und er weist der Vernunft und der Religion
dieselben typischen Strukturen der rationalen Einsicht und des
Gefühls, des Idealen und des Realen zu. Die Begriffe der natür-
lichen Philosophie greifen auf die Theologie über, die religiösen
Begriffe bemächtigen sich der natürlichen Philosophie. Man be-
schränkt sich nicht mehr darauf, an das für uns unbegreifliche
Unendliche zu erinnern, in dem sich für uns unterschiedliche
Ordnungen zusammenschließen würden. Die Artikulationen der
Natur haben nur durch die Tat Gottes Bestand; beinahe alle In-
terventionen der göttlichen Gnade sind Regeln unterworfen. Jede
Idee, die uns in den Sinn kommt, setzt Gott als Ursache voraus,
und Gott als Licht der Erkenntnis ist in beinahe all seinen Wil-
lensäußerungen manifest. Nie war man näher am Augustinischen
Programm: ›Die wahre Religion ist die wahre Philosophie‹ und
›die wahre Philosophie ist ihrerseits die wahre Religion.‹
Auf diese Weise versucht Malebranche, die Beziehung von Re-
ligion und Philosophie zu denken, anstatt sie wie eine Tatsache
hinzunehmen, über die es nichts zu sagen gibt. Kann jedoch die
Identität die Formel dieser Beziehung sein? Wenn man sie als
widersprüchlich begreift, können Vernunft und Glaube mühe-
los nebeneinander bestehen. Sobald man sie jedoch gleichsetzt,
treten sie ebenso und umgekehrt zueinander in Rivalität. Zwi-
schen der natürlichen Offenbarung und dem natürlichen Gebet,
die allen gehören, und der Offenbarung und dem übernatürli-
Überall und nirgends 211
Gefühl und das seinige bringt. Deshalb soll dies auch nicht als
Einleitung in ihr Denken gelten. Es sind vielmehr Reflexionen
und Fragen, die er, um sie ihren Ausführungen zu unterwerfen,
am Rand ihrer Texte notiert.
Diese Texte selbst, und hierin werden wir gewiß übereinstim-
men, vermitteln uns ein lebhaftes Gespür für die Verschieden-
heit der christlichen Forschungen. Sie erinnern daran, daß das
Christentum mehr als nur eine Philosophie genährt hat, welches
Privileg auch immer eine von ihnen beansprucht haben mag,
daß es nicht prinzipiell nur einen einzigen und erschöpfenden
philosophischen Ausdruck umfaßt und daß die christliche Phi-
losophie in diesem Sinne, zu welchen Errungenschaften sie auch
gelangen mag, nie als erledigt gelten kann.
10 Das XVIII. Jahrhundert ist das herausragende Beispiel einer Zeit, die
sich in ihrer Philosophie nicht gut zum Ausdruck bringt. Sein Verdienst
liegt in anderem: in seinem Eifer und in seiner Leidenschaft, zu leben, zu
wissen und zu urteilen, in seinem ›Geist‹. Wie Hegel so gut gezeigt hat,
gibt es beispielsweise einen sekundären Sinn seines ›Materialismus‹, der
aus ihm eine Epoche des menschlichen Geistes formt, obwohl er wörtlich
genommen eine dürftige Philosophie darstellt.
216 Überall und nirgends
eine Art und Weise sein, die Immanenz der determinierten Dinge
in der sich selbst gleichen und positiven Substanz zu betonen.
Nie wird man in der Folge diese Übereinstimmung von Phi-
losophie und Wissenschaft wiederfinden, diese Leichtigkeit, die
Wissenschaft zu überholen, ohne sie zu zerstören, die Metaphysik
zu begrenzen, ohne sie auszuschließen. Selbst jene unter unseren
Zeitgenossen, die sich Cartesianer nennen und die es sind, wei-
sen dem Negativen eine ganz andere philosophische Funktion
zu, und aus diesem Grunde könnten sie das Gleichgewicht des
XVII. Jahrhunderts nicht wiederfinden. Descartes sagte, Gott
werde von uns vorgestellt, aber nicht verstanden, und dieses
nicht bringe einen Mangel in uns und einen Makel zum Aus-
druck. Der moderne Cartesianer11 übersetzt: Das Unendliche ist 15
ebenso Abwesenheit wie Anwesenheit, was bedeutet, das Negative
und den Menschen als Zeugen in die Definition Gottes einzube-
ziehen. Léon Brunschvicg gestand Spinoza alles zu, nur nicht die
auf die Ethik zurückgehende Ordnung: Das erste Buch, sagte er, 16
ist nicht wesentlicher als das fünfte; die Ethik muß kreisförmig
gelesen werden, und Gott setzt den Menschen ebenso voraus, wie
der Mensch Gott voraussetzt. Vielleicht, oder vielmehr sicher, be-
deutet dies, ›seine eigene Wahrheit‹ aus dem Cartesianismus zu
ziehen. Aber eine Wahrheit, die er selbst nie besessen hat. Es gibt
eine unschuldige Art und Weise, ausgehend vom Unendlichen zu
denken, die den großen Rationalismus geschaffen hat und die
von uns durch nichts wiedergefunden werden kann.
Man möge diesen Worten keine Nostalgie unterstellen. Es sei
denn, die träge Sehnsucht nach einer Zeit, in der das geistige Uni-
versum nicht zerrissen war, und in der ein und derselbe Mensch
sich ohne Zugeständnisse und Kunstgriffe der Philosophie, der
Wissenschaft (und, wenn er es wünschte, der Theologie) widmen
konnte. Dieser Frieden aber, diese Ungeteiltheit konnten nur so
lange dauern, wie man am Beginn der drei Wege stehen blieb. Was
uns vom XVII. Jahrhundert trennt, ist nicht der Verfall, sondern
der Fortschritt des Bewußtseins und der Erfahrung. Die nachfol-
12 Jean Wahl.
Überall und nirgends 221
che noch Substanz ist, sondern das Extrem des Besonderen wie
des Allgemeinen, daß sie Proteus gleicht. Die Philosophien fol-
gen ihren Metamorphosen so gut es eben geht, und unter ihren
Abweichungen verbirgt sich diese Dialektik. Es gibt, im Grunde
genommen, nur zwei Ideen der Subjektivität: jene der leeren,
ungebundenen, universellen Subjektivität, und jene der vollen,
in die Welt eingelassenen Subjektivität, und es handelt sich um
dieselbe Idee, wie man bei Sartre gut erkennen kann, die Idee
vom Nichts, das ›zur Welt kommt‹, das die Welt aufsaugt, das
der Welt bedarf, um sein zu können, was immer es will, selbst
ein Nichts, und das, im Opfer seiner selbst für das Sein, der Welt
gegenüber fremd bleibt.
Und gewiß ist dies keine Entdeckung in dem Sinne, in dem
man Amerika oder auch das Kalium entdeckt hat. Es ist dennoch
eine Entdeckung, und zwar in dem Sinne, daß das einmal in die
Philosophie eingeführte Denken des Subjektiven sich nicht mehr
ignorieren läßt. Selbst wenn die Philosophie es letztlich beseiti-
gen sollte, so wird sie doch nie mehr das sein, was sie vor diesem
Denken gewesen ist. Das Wahre, so konstruiert es auch sein mag
(und Amerika ist ebenso eine Konstruktion, die einfach durch die
Unmenge an Zeugenaussagen unvermeidlich geworden ist), wird
dann so fundiert wie eine Tatsache, und das Denken des Subjek-
tiven ist eine dieser festen Grundlagen, die von der Philosophie
verdaut werden müssen. Oder sagen wir, sobald sie einmal von
gewissen Gedanken ›infiziert‹ wurde, kann sie sie nicht mehr von
sich weisen; sie muß sich von ihnen befreien, indem sie Besseres
erfindet. Der Philosoph selbst, der heute Parmenides nachtrau-
ert und uns unsere Beziehungen zum Sein so zurückgeben will,
wie sie vor dem Selbstbewußtsein gewesen sind, verdankt seinen
Sinn und seine Vorliebe für die ursprüngliche Ontologie gerade
dem Selbstbewußtsein. Die Subjektivität ist einer jener Gedan-
ken, angesichts derer man nicht in ein Diesseits zurückkehren
kann, nicht einmal und vor allem nicht, wenn man über diese
Gedanken hinausgeht.
Überall und nirgends 225
*
Nehmen wir das Thema der phänomenologischen Reduktion
– von dem man weiß, daß es für Husserl niemals aufgehört hat,
236 Der Philosoph und sein Schatten
3 Ebd.
4 Ebd., S. 174.
5 Ebd., S. 297.
238 Der Philosoph und sein Schatten
6 Ebd., S. 26.
Der Philosoph und sein Schatten 239
7 Ebd., S. 183.
8 Ebd., S. 22.
240 Der Philosoph und sein Schatten
Ebd., S. 174.
9
10 Ebd., S. 180: »Eine neue Einstellung, die in gewissem Sinn sehr natürlich
[…] ist.«
Der Philosoph und sein Schatten 241
die die Zeit belebt und älter ist als die Intentionalität der mensch-
lichen Akte. So muß es für uns Wesenheiten geben, die noch nicht
durch die zentrifugale Aktivität des Bewußtseins ins Sein getra-
gen sind, Bedeutungen, die dieses nicht spontan zu Inhalten de-
klariert, Inhalte, die auf Umwegen an einem Sinn teilhaben, die
ihn anzeigen, ohne mit ihm zusammenzutreffen, ohne daß er an
ihnen als das Monogramm oder das Gepräge des thetischen Be-
wußtseins schon ablesbar ist. Auch hier gibt es einen Zusammen-
schluß intentionaler Fäden um bestimmte Knoten herum, die sie
leiten; doch die Reihe der Rückdeutungen, die uns immer tiefer
führt, kann nicht beim intellektuellen Besitz eines Noema enden:
Es gibt zwar eine geordnete Folge von Schritten, doch sie ist ohne
Ende und ohne Anfang. Ebenso wie durch den Strudel des abso-
luten Bewußtseins wird das Denken Husserls von der Ecceität der
Natur angezogen. Mangels expliziter Thesen über die Beziehung
des einen zum anderen bleibt uns nur übrig, die Proben einer
»vortheoretischen Konstituierung« zu befragen, die er uns liefert,
und – auf unser Risiko hin – das Ungedachte zu formulieren, das
wir in ihnen zu erahnen glauben. Unbestreitbar gibt es etwas zwi-
schen der transzendenten Natur, dem An-sich des Naturalismus,
und der Immanenz des Geistes, seiner Akte und seiner Noemata.
In diesem Zwischenreich muß man weiterzuforschen versuchen.
*
Unter der »objektiven materiellen Sache« decken die Ideen II
ein Geflecht von Verstrickungen auf, bei dem man nicht mehr
das Pulsieren des konstituierenden Bewußtseins spürt. Zwischen
den Bewegungen meines Körpers und den »Eigenschaften« der
Sache, die sie enthüllen, besteht die Beziehung des »Ich kann« 12
zu den Wundern, die er hervorzurufen vermag. Und doch muß
mein Leib selbst mit der sichtbaren Welt verschränkt sein: Seine
Fähigkeit bezieht er gerade von daher, daß er einen Standort hat,
von dem aus er sieht. Er ist also eine Sache, aber eine Sache, der ich
innewohne. Er steht, wenn man will, auf seiten des Subjekts, aber
ist der Örtlichkeit der Sachen nicht fremd: Zwischen ihm und
ihnen besteht eine Beziehung des absoluten Hier zum Dort, des
Der Philosoph und sein Schatten 243
Sache, die der Pol der Operationen meines Leibes ist, der End-
punkt, in dem sich sein Erkunden erfüllt,17 die also in demselben
intentionalen Geflecht wie er befangen ist. Wenn man sagt, daß
die wahrgenommene Sache leibhaft (en personne, dans sa chair)
erfaßt wird, so ist dies wörtlich zu nehmen: Das Fleisch (chair)
des Sinnlichen, jene dichte Körnigkeit, die das Erkunden beendet,
jenes Optimum, das es abschließt, spiegeln meine eigene Inkar-
nation wider und bilden ihr Gegenstück. Wir haben es hier mit
einer Art von Sein zu tun, einem Universum mit seinem unver-
gleichlichen ›Subjekt‹ und ›Objekt‹, wo das eine sich im ande-
ren artikuliert und ein für allemal zu allen »Relativitäten« der
sinnlichen Erfahrung ein »Irrelatives« »herausbestimmt« wird,
das den »Rechtsgrund« für alle Konstruktionen des Erkennens
bildet.18 Die gesamte Erkenntnis, das ganze objektive Denken
leben von dieser ursprünglichen Tatsache: daß ich empfunden
habe, daß ich, mit jener Farbe oder irgendeinem anderen Sinnli-
chen, eine sonderbare Existenz teile, die mit einem Mal meinen
Blick in Beschlag nahm und ihm dennoch eine unbegrenzte Reihe
von Erfahrungen versprach, als eine Konkretion von schon jetzt
wirklichen Möglichkeiten in den verborgenen Seiten der Sache,
als Zeitraum, der mir auf einmal gegeben ist. Die Intentionalität,
die die Momente meines Erkundens, die Aspekte der Sache und
diese zwei Reihen miteinander verbindet, ist weder eine Verknüp-
fungstätigkeit des geistigen Subjekts, noch wird sie durch die blo-
ßen Zusammenhänge des Objekts gebildet, sie ist der Übergang,
den ich als leibliches Subjekt von einer Phase der Bewegung zur
anderen vollziehe und der für mich prinzipiell immer möglich
ist, weil ich jenes wahrnehmende und sich bewegende Lebewesen
bin, das Leib heißt. Sicher, es gibt hier ein Problem: Was wird
aus der Intentionalität, wenn sie nicht mehr das geistige Erfassen
einer sinnlichen Materie als Exemplar eines Wesens ist, das Wie-
dererkennen dessen in den Dingen, was wir in sie hineingelegt
19 Ebd., S. 165–166.
246 Der Philosoph und sein Schatten
20 Ebd., S. 166.
21 Ebd., S. 166: „übertragene Kompräsenz“.
22 Ebd., S. 181.
Der Philosoph und sein Schatten 247
in dem ich es für mich selbst bin. Doch ist nach allem nichts
weniger sicher als das: Das Denken der Anderen ist für uns nie-
mals ganz und gar ein Denken. Der Einwand impliziert darüber
hinaus, daß es sich hier darum handelt, einen anderen Geist zu
konstituieren, wohingegen das Konstituierende vorerst selbst nur
ein belebter Leib (chair animée) ist; nichts steht dem entgegen,
das Auftreten eines Anderen, der ebenso spricht und hört, für
den Augenblick vorzubehalten, in dem er sprechen und hören
wird. – Aber vor allem würde der Einwand gerade das ignorie-
ren, was Husserl hat sagen wollen: nämlich, daß es für einen Geist
keine Konstitution eines Geistes gibt, aber für einen Menschen die
eines Menschen. Aufgrund der besonderen Aussagekraft des wahr-
nehmbaren Leibes nimmt die Einfühlung den Weg vom Leib zum
15 Geist. Wenn durch ein erstes »intentionales Überschreiten«23
vor mir ein anderer erfahrender Leib, ein anderes Verhalten in
Erscheinung tritt, so ist es der Mensch als Ganzes, der mir mit
allen Möglichkeiten, was sie auch immer sein mögen, gegeben
ist, und dessen unwiderrufliches Zeugnis ich in meinem inkar-
nierten Sein besitze. Niemals werde ich in aller Strenge das Den-
ken des Anderen denken können: Ich kann denken, daß er denkt,
kann hinter jener Gliederpuppe eine Selbstgegenwart nach dem
Modell der meinen konstruieren; aber wieder bin ich es, der ich
mich in ihn hineinversetze, und es kommt dann tatsächlich zu
einer ›Introjektion‹. Demgegenüber weiß ich unzweifelhaft, daß
jener Mensch dort sieht, daß meine wahrnehmbare Welt auch die
seine ist, denn ich wohne seinem Sehen bei, es ereignet sich in dem
auf das Schauspiel gerichteten Blick seiner Augen, und wenn ich
sage: ›Ich sehe, daß er sieht‹, so findet hier kein Ineinanderschach-
teln zweier Aussagen statt, wie es der Fall ist, wenn ich sage: ›Ich
denke, daß er denkt‹, sondern das ›vorgeordnete‹ und das ›nach-
geordnete‹ Sehen dezentrieren hier einander. Da war eine Gestalt,
die mir ähnelt, aber mit geheimen Aufgaben beschäftigt, von ei-
nem unbekannten Traum erfüllt. Plötzlich ist ein wenig vor und
unter den Augen ein Schimmer erschienen, der Blick hebt sich
und erfaßt dieselben Sachen, die ich sehe. Alles, was sich auf mei-
ner Seite auf das wahrnehmende und sich bewegende Lebewesen
stützt, alles, was ich jemals auf ihm aufbauen kann – und auch
mein ›Denken‹, doch als Modulation meiner Gegenwärtigkeit
in der Welt –, geht mit einem Schlag in den Anderen über. Ich
sage, daß dort ein Mensch ist und keine Gliederpuppe, ebenso
wie ich sehe, daß dort der Tisch steht und nicht eine Perspektive
oder die Erscheinung des Tisches. Es ist wahr: Ich würde das nicht
erkennen, wenn ich nicht selbst Mensch wäre; wenn ich nicht über
den unmittelbaren Kontakt des Denkens verfügte (oder nicht
glaubte, über ihn zu verfügen), würde auch kein anderes Cogito
vor mir auftauchen; aber diese negativen Festellungen drücken
nicht das aus, was sich im ganzen ereignet, sie geben nur parti-
elle Abhängigkeiten an, die sich aus dem Auftreten des Anderen
herleiten, aber dieses nicht konstituieren. Jede Introjektion setzt
schon voraus, was man durch sie erklären will. Wenn es wirklich
mein ›Denken‹ wäre, das in den Anderen versetzt werden sollte,
würde ich es niemals in ihn versetzen: Keine Erscheinung hätte
jemals die Wirkung, mich zu überzeugen, daß dort ein Cogito
ist und könnte die Übertragung motivieren, wenn die ganze
Überzeugungskraft des meinen davon herrührt, daß ich Ich bin.
Wenn der Andere für mich existieren soll, so muß dies zuerst un-
terhalb der Ebene des Denkens der Fall sein. Hier ist es möglich,
weil die sinnliche Offenheit zur Welt, die eher eine Enteignung
als eine Besitznahme darstellt, keinen Anspruch auf das Mono-
pol des Seins erhebt und keinen Kampf der Bewußtseine auf Le-
ben und Tod entstehen läßt. Die von mir wahrgenommene Welt,
die halb erschlossenen Dinge vor mir, können mit ihrer Dichte
mehr als ein empfindendes Subjekt mit ›Bewußtseinszuständen‹
versehen, sie besitzen ein Anrecht auf andere Zeugen als mich
selbst. Daß sich in dieser Welt ein Verhalten abzeichnet, das über
mich hinausgeht, bildet nur eine weitere Dimension des ur-
sprünglichen Seins, das sie alle umfaßt. Also bereits auf der
›solipsistischen‹ Stufe ist der Andere nichts Unmögliches, weil
die empfindbare Sache offen ist. Er wird gegenwärtig, wenn ein
anderes Verhalten und ein anderer Blick von meinen Sachen
Der Philosoph und sein Schatten 249
16 Kant sagte, daß diese »der Inbegriff der Gegenstände der Sinne«27
sei. Husserl findet das Sinnliche wieder als allgemeine Form des
rohen Seins (l’être brut). Wahrnehmbar sind nicht nur die Dinge,
sondern auch alles, was sich an ihnen abzeichnet, selbst ihre Höh-
lungen, alles, was seine Spur zurückläßt, alles, was dort auftritt,
selbst als Unterschied und als eine bestimmte Abwesenheit: »Nun
ist aber zu beachten, daß das im ursprünglichen Sinne Erfahr-
bare, das urpräsentierbare Sein, nicht alles Sein ist, auch nicht
alles erfahrbare Sein. Realitäten, die nicht für mehrere Subjekte
in Urpräsenz gegeben sein können, sind die Animalien: Sie ent-
halten ja Subjektivitäten. Sie sind eigentümliche Objektitäten, die
ihre ursprüngliche Gegebenheit derart haben, daß sie Urpräsen-
zen voraussetzen, während sie selbst in Urpräsenz nicht zu geben
sind.«28 Die Animalia und die Menschen sind eben dieses: Wesen,
die absolut gegenwärtig sind und eine negative Spur hinterlassen.
Ein wahrnehmender Leib, den ich sehe, ist ebenso eine gewisse
Abwesenheit; sein Verhalten zieht sie nach sich, sie wird hinter
ihm zurückgelassen. Aber selbst die Abwesenheit ist in der Anwe-
senheit verwurzelt, durch ihren Leib ist die Seele des Anderen in
meinen Augen Seele. Die ›Negativitäten‹ zählen auch zu der Welt
des Sinnlichen, die also das wirklich Universelle ist.
*
Was ergibt sich aus alldem nun für die Konstitution? Indem Hus-
serl auf die vortheoretische, vorthetische oder vorobjektive Ebene
zurückgreift, hat er die Bezüge zwischen dem Konstituierten und
dem Konstituierenden umgekehrt: Das An-sich-Sein, das Sein
für einen absoluten Geist, erhält fortan seine Wahrheit von einer
›Schicht‹ her, in der es weder einen absoluten Geist noch eine Im-
manenz der intentionalen Objekte in diesem Geist gibt, sondern
nur inkarnierte Geister, die durch ihren Leib »zur selben Welt
gehören«29. Das soll natürlich nicht heißen, daß wir von der Phi-
31 Ebd., S. 81.
32 Ebd.
254 Der Philosoph und sein Schatten
33 Ebd.
Der Philosoph und sein Schatten 255
gie, S. 80-81) die absolute Priorität des Wahrgenommenen bei Husserl auf
diese Weise zu verstehen.
Der Philosoph und sein Schatten 257
35 Ideen II, S. 80: »[…] verwickeln wir uns nicht in einen Zirkel, da doch die
setzten wir zu Anfang die Natur schlechthin, in der Weise, wie es jeder Naturfor-
scher und jeder naturalistisch Eingestellte sonst tut, und faßten wir die Menschen
als Realitäten, die über ihre physische Leiblichkeit ein plus haben, so waren die
Personen untergeordnete Naturobjekte, Bestandstücke der Natur. Gingen wir
aber dem Wesen der Personalität nach, so stellte sich Natur als ein im intersub-
jektiven Verband der Personen sich Konstituierendes, also ihn Voraussetzendes
dar.«
258 Der Philosoph und sein Schatten
weiterhin: Ideen III, S. 124: »So ist das ein wichtiges Ergebnis unserer Be-
trachtung, daß die ›Natur‹ und der Leib, in ihrer Verflechtung mit diesem
wieder die Seele, sich in Wechselbezogenheit aufeinander, in eins miteinan-
der konstituieren.«
39 Umsturz der kopernikanischen Lehre in der gewöhnlichen weltan-
schaulichen Interpretation. Die Ur-Arche Erde bewegt sich nicht, 7.–9. Mai
1934.
40 Ebd.
41 Zum Beispiel: Ideen II, S. 179–180. Dieselbe Wendung am Ende von
der Welt der Natur und der Welt der Personen – mehr noch:
zwischen der Welt des konstituierenden Bewußtseins und den
Ergebnissen der Konstitution; und die letzte Aufgabe der Phä-
nomenologie als Philosophie des Bewußtseins ist es, ihren Bezug
zur Nicht-Phänomenologie zu verstehen. Was in uns der Phäno-
menologie widerstrebt – das natürliche Sein, jenes »barbarische
Prinzip«, von dem Schelling sprach –, kann nicht außerhalb der 22
Phänomenologie bleiben, sondern muß in ihr selbst seinen Platz
finden. Der Philosoph wirft seinen Schlagschatten, der nicht bloß
die tatsächliche Abwesenheit künftigen Lichtes ist. Es besteht ge-
mäß Husserl schon eine ganz »außerordentliche« Schwierigkeit
darin, die Beziehung der »Naturwelt« zur »Geisteswelt« nicht nur
zu »erfassen«, sondern »von innen her zu verstehen«. Diese wird
wenigstens in unserem Leben praktisch überwunden, da wir mü-
helos und immer wieder von der naturalistischen Einstellung in
die personalistische gleiten. Es geht nur darum, die Reflexion dem
anzugleichen, was wir in ganz natürlicher Weise tun, indem wir
von einer Einstellung zur anderen übergehen, und darum, die
intentionalen Auffassungs- und Erfahrungsänderungen und die
Wesenszusammenhänge der konstituierenden Mannigfaltigkei-
ten, die über die Seinsunterschiede zwischen den konstituierten
Sachen Aufschluß geben, zu beschreiben. Die Phänomenologie
kann hier das, was verworren ist, entwirren, sie kann Mißver-
ständnisse beheben, die darauf zurückzuführen sind, daß wir
natürlicherweise und ohne unser Wissen von einer Einstellung
zur anderen übergehen. Wenn aber diese Mißverständnisse und
jener ›natürliche‹ Übergang bestehen, so sicher deshalb, weil es
prinzipiell schwierig ist, die Verknüpfung zwischen der Natur
und den Personen aufzuklären. Wie soll es erst werden, wenn es
nötig wird, den Übergang von der naturalistischen oder perso-
nalistischen Einstellung zum absoluten Bewußtsein, von den na-
türlichen Vermögen zu einer künstlichen Einstellung43 von innen
heraus zu verstehen – einer künstlichen Einstellung, die in Wahr-
heit nicht mehr eine Einstellung unter anderen sein soll, sondern
43 Ebd., S. 180.
Der Philosoph und sein Schatten 261
44 Ebd., den Text, den wir kommentieren: »Auf eine solche neue Ein-
stellung, die in gewissem Sinn sehr natürlich, aber nicht natural ist, haben
wir es jetzt abgesehen. ›Nicht natural‹, das sagt, daß das in ihr Erfahrene
nicht Natur ist im Sinne aller Naturwissenschaften, sondern sozusagen
ein Widerspiel der Natur. Selbstverständlich liegt die ganz ausnehmende
Schwierigkeit, den Gegensatz nicht nur zu erfassen, sondern von innen
her zu verstehen, nicht im Vollzug der Einstellungen. Denn sehen wir von
der allerdings künstlichen Einstellung auf das reine Bewußtsein ab, dieses
Residuum der verschiedenen Reduktionen, so gleiten wir beständig ganz
mühelos von einer Einstellung in die andere, von der naturalistischen in
die personalistische, in den bezüglichen Wissenschaften von der naturwis-
senschaftlichen in die geisteswissenschaftliche. Die Schwierigkeiten liegen
in der Reflexion und in dem phänomenologischen Verständnis der Auffas-
sungs- und Erfahrungsänderungen und der durch sie konstituierten Kor-
relate. Nur im Rahmen der Phänomenologie, durch Beziehung der Seins-
unterschiede der sich konstituierenden Gegenstände auf die korrelativen
Wesenszusammenhänge der entsprechenden konstituierenden Mannigfal-
tigkeiten, sind diese Unterschiede unverwirrt zu erhalten, in absolut siche-
rer Sonderung, frei von allen Mißdeutungen, die in den unwillkürlichen
und bei Mangel an reiner Reflexion unmerklichen Einstellungsänderungen
ihre Quelle haben. Durch Rückgang auf das absolute Bewußtsein und die
in ihm zu verfolgenden gesamten Wesenszusammenhänge sind allererst
die sinngemäßen Relativitäten der betreffenden Gegenständlichkeiten der
einen und anderen Einstellungen und ihrer wechselseitigen Wesensbezie-
hungen zu verstehen.«
262 Der Philosoph und sein Schatten
zidenz ist, daß sie sich nicht auf eine einfache Produktion verlegt,
sondern das Schema des intentionalen Lebens nur re-produziert.
Er stellt den ›Rückgang auf das absolute Bewußtsein‹ immer als
eine zusammenfassende Bezeichnung für eine Vielzahl von Voll-
zügen vor, die erlernt werden, nach und nach ausgeführt werden
und niemals abgeschlossen sind. Niemals sind wir eins mit der
konstitutiven Erzeugung, und wir begleiten sie kaum über kurze
Strecken hinweg. Was ist es also (wenn diese Worte einen Sinn
haben), was auf der anderen Seite der Sachen unserer Re-Konsti-
tution entspricht? Auf unserer Seite gibt es nichts als konvergie-
rende, aber diskontinuierliche Absichten, nichts als Augenblicke
der Klarheit. Das konstituierende Bewußtsein konstituieren wir
nur mit Hilfe seltener und diffiziler Anstrengungen. Es ist das
präsumtive oder vorausgesetzte Subjekt unserer Versuche. Der
Autor, sagte Valéry, ist derjenige, der ein Werk, das langsam und
mühevoll entstand, augenblicklich denkt – und dieser Denkende
ist nirgendwo. Wie der Autor für Valéry eine Hochstapelei des
Schriftstellers ist, so ist das konstituierende Bewußtsein die beruf-
liche Hochstapelei des Philosophen … Es ist für Husserl auf jeden
Fall das Artefakt, auf das die Teleologie des intentionalen Lebens
zuläuft – und nicht das spinozistische Attribut des Denkens.
Als Projekt einer intellektuellen Inbesitznahme der Welt wird
die Konstitution für den reiferen Husserl immer mehr zu dem
Mittel, eine Rückseite der Dinge zu enthüllen, die wir nicht kon-
stituiert haben. Es bedurfte jenes überschwenglichen Versuchs,
alles den Regeln des ›Bewußtseins‹ zu unterwerfen, dem durch-
sichtigen Spiel seiner Einstellungen, seiner Intentionen und sei-
ner Sinngebungen – es mußte das Bild einer vernünftigen Welt,
das die klassische Philosophie uns hinterlassen hat, erst vollendet
werden –, um alles andere zu enthüllen: Jene Seinsarten, unter-
halb unserer Idealisierungen und Objektivierungen, die sie heim-
lich nähren und in denen man kaum Noemata erkennen kann,
die Erde zum Beispiel, die nicht in Bewegung ist wie die objek-
tiven Körper, aber ebensowenig in Ruhe, weil man nicht sieht,
woran sie »angeschmiedet« wäre – »Boden« oder »Träger« un- 23
seres Denkens wie unseres Lebens, den wir zwar verlagern oder
Der Philosoph und sein Schatten 263
45 Wir resümieren hier das oben zitierte Fragment Umsturz der koper-
nikanischen Lehre.
264 Der Philosoph und sein Schatten
›Psychismen‹, aber zum Beispiel in der Art, wie wir mit ihnen im
Zorn oder in der Liebe in Berührung kommen. Es sind Gesichter,
Gebärden, Worte, auf die wir mit unseren Blicken, Gebärden und
Worten antworten, ohne ein Denken dazwischen zu setzen – so
daß wir manchmal ihre Worte gegen sie kehren, noch bevor sie
uns erreicht haben, genauso sicher, ja sicherer noch, als wenn wir
verstanden hätten; jeder trägt die Anderen in sich und wird durch
sie in seinem Leib bestätigt. Diese barocke Welt ist nicht ein Zuge-
ständnis des Geistes an die Natur: Denn wenn sich der Sinn über-
all symbolisch darstellt, so handelt es sich doch überall um Sinn.
Diese Erneuerung der Welt ist auch eine Erneuerung des Geistes,
eine Wiederentdeckung des rohen Geistes (l’esprit brut), der von
keiner Kultur gebändigt wurde, und dem es aufgetragen ist, aufs
neue die Kultur zu schaffen. Das Irrelative ist nun nicht die Natur
an sich, noch das System der Inhalte des absoluten Bewußtseins
und ebensowenig der Mensch, sondern jene »Teleologie«, von der
Husserl spricht – die in Anführungsstrichen geschrieben und ge-
dacht wird –, als ein Gefüge und Gerippe des Seins, das sich durch
den Menschen erfüllt.
1 BE RG S ON I M W E R DE N 1
1 Dieser Text wurde auf der Sitzung zu Ehren Bergsons gelesen, die
*
Philosoph ist er zunächst durch seine Art und Weise, die ganze
Philosophie, gewissermaßen ohne daß er darum wußte, wieder-
zuentdecken, indem er eines der Prinzipien der Mechanik unter-
suchte, auf die sich Spencer ohne systematische Strenge bezog.
Bei dieser Gelegenheit bemerkt er, daß wir der Zeit nicht näher-
kommen, wenn wir sie mit genauen Maßeinheiten in die Zange
zu nehmen suchen, sondern daß man sie, ganz im Gegenteil und
sofern man sich eine Vorstellung von ihr machen will, frei ent-
stehen lassen muß, daß man der fortwährenden Geburt beiwoh-
nen muß, die sie immer wieder neu und, gerade dadurch, immer
wieder gleich hervorbringt.
268 Bergson im Werden
und es ist nun das gesamte Sein, das man von der Seite der Zeit
aus angehen muß.
Man sah dies sehr gut, als Matière et Mémoire erschien, oder
zumindest hätte man es sehen müssen. Aber das Buch über-
raschte, es erschien obskur; bis heute ist es das am wenigsten
gelesene der bedeutenden Bücher Bergsons. Und dennoch wer-
den gerade in diesem Buch das Feld der Dauer und die Praxis
der Intuition auf entscheidende Weise erweitert. Indem er, wie
er sagte, das vorangegangene Buch vergaß, einer anderen Linie
von Tatsachen um ihrer selbst willen folgte und mit der Zusam-
mensetzung aus Seele und Körper in Berührung kam, wurde
Bergson wieder auf die Dauer zurückgeführt, aber sie erhielt in
dieser anderen Annäherung neue Dimensionen, und es hieße,
das Gesetz einer Philosophie ignorieren, die keinen Anspruch
auf Systematik, sondern auf eine Fülle der Reflexion erhebt und
die das Sein sprechen lassen will, wenn man Bergson hier das
vorwerfen wollte, was man eine Bedeutungsverschiebung nennt
und was letztlich die Suche selbst ist. Von nun an ist die Dauer
das Milieu, in dem die Seele und der Körper ihre Artikulation
finden, weil die Gegenwart und der Körper, die Vergangenheit
und der Geist, die in der Natur so verschieden sind, gleichwohl
ineinander übergehen. Die Intuition ist ganz entschieden keine
einfache Koinzidenz oder Fusion mehr: Sie erstreckt sich auf
›Grenzen‹, wie die reine Wahrnehmung oder das reine Bewußt-
sein, aber auch auf das zwischen beiden Liegende, auf ein Sein,
das sich, wie Bergson sagt, der Gegenwart und dem Raum genau
in dem Maße öffnet, in dem es auf eine Zukunft abzielt und über
eine Vergangenheit verfügt. Es gibt ein Leben, Maurice Blondel
müßte sagen: eine ›Hybridisierung‹ der Intuitionen, eine ›zweifa-
che Ausdehnung‹ in Richtung der Materie und des Bewußtseins.
Indem sie die Gegensätze in ihrer extremen Unterschiedlichkeit
aufgreift, sieht die Intuition, wie sie sich vereinigen.
Man würde Bergson beispielsweise in höchstem Maße entstel-
len, wenn man die in Matière et Mémoire gegebene erstaunliche
Beschreibung des wahrgenommenen Seins auf ein Minimum
herabsetzte. In keiner Weise sagt er, die Dinge seien im restrikti-
270 Bergson im Werden
ven Sinne Bilder, sei es des ›Psychischen‹ oder der Seelen – er sagt
vielmehr, ihre Fülle unter meinem Blick bestehe darin, daß es so
ist, als würde sich meine Sicht der Dinge eher in ihnen als in mir
herausbilden, als sei die Tatsache, gesehen zu werden, nur eine
Herabwürdigung ihres eminenten Seins, als sei der Umstand,
›vorgestellt‹ zu werden – in der ›Dunkelkammer‹ des Subjekts
zu erscheinen, sagt Bergson –, nicht ihre Definition, sondern das
Resultat ihrer natürlichen Überfülle. Noch nie hatte man zwi-
schen mir und dem Sein diesen Kreis geschlossen, der das Sein
›für mich‹ zum Zuschauer werden läßt, den Zuschauer jedoch
im Gegenzug ›für das Sein‹ da sein läßt. Nie zuvor hatte man
auf diese Weise das rohe Sein (l’être brut) der wahrgenommenen
Welt beschrieben. Indem er ihn nach der entstehenden Dauer
enthüllt, findet Bergson im Innersten des Menschen wieder einen
vorsokratischen und ›vormenschlichen‹ Sinn der Welt.
Durée et simultanéité, das – wie Bergson immer wieder be- 10
tont – ein philosophisches Buch ist, wird sich noch resoluter in
der wahrgenommenen Welt einrichten. Heute wie vor 35 Jahren
werfen die Physiker Bergson vor, in die relativistische Physik den
Beobachter einzuführen, der – so behaupten sie – die Zeit nur
relativ zu den Meßinstrumenten oder zum Bezugssystem setzt.
Was Bergson jedoch zeigen will, ist genau dies, daß es keine Si-
multaneität zwischen Dingen an sich gibt, die, so nah sie auch
beieinander sein mögen, jedes für sich sind. Nur wahrgenom-
mene Dinge können an derselben Linie der Gegenwart teilhaben
– und zum Ausgleich gibt es, sobald es Wahrnehmung gibt und
ohne jede Maßgabe, eine Simultaneität des einfachen Blickes,
nicht nur zwischen zwei Ereignissen desselben Feldes, sondern
sogar zwischen allen Wahrnehmungsfeldern, allen Beobachtern,
allen Dauern. Wenn man alle Beobachter auf einmal nähme, und
nicht so, wie sie von einem unter ihnen gesehen werden, son-
dern so, wie sie für sich selbst und im Absoluten ihres Lebens
sind, dann würden diese vereinzelten Dauern, die nicht mehr
aufeinander angewendet werden und die nicht mehr gegenseitig
als Maßstab dienen könnten, keinerlei zeitlichen Abstand mehr
bieten und folglich aufhören, das Universum der Zeit aufzuteilen.
Bergson im Werden 271
Es stellt sich wirklich die Frage, warum er nicht auch die Ge-
schichte von innen her gedacht hat, so wie er das Leben von innen
her gedacht hatte, warum er nicht auch dort nach einfachen und
ungeteilten Akten gesucht hat, die für jeden Zeitabschnitt oder
jedes Ereignis die Anordnung der parzellierten Fakten bestim-
men. Mit der Annahme, jeder Zeitabschnitt sei alles, was er zu
sein vermag, ein vollständiges, ganz im Akt aufgehendes Ereignis,
und die Vorromantik sei beispielsweise eine nachromantische Il-
lusion, scheint Bergson ein für alle Mal diese Tiefengeschichte
zurückzuweisen. Dennoch hatte Péguy das Eintreten des Ereig-
nisses zu beschreiben versucht, wenn einige etwas beginnen und
andere antworten – ebenso wie die historische Vollendung, die
Antwort einer Generation auf das, was von einer anderen Gene-
ration begonnen wurde. Er sah das Wesen der Geschichte in die-
ser Verbindung der Individuen und der Zeiten, die schwierig ist,
da der Akt, das Werk und die Vergangenheit in ihrer Einfachheit
für jene unzugänglich sind, die sie von außen her sehen – denn
für die Revolution eines Tages bedarf es vieler Jahre, bis Ge-
schichte aus ihr wird, und diese Seite, die innerhalb einer Stunde
geschrieben wurde, kann durch keinen unendlichen Kommentar
ausgeschöpft werden. Die Chancen auf einen Irrtum, einen Ab-
weg oder ein Scheitern sind sehr groß. Es ist jedoch das grausame
Gesetz derer, die schreiben, die handeln oder die ein öffentliches
Leben führen – das heißt letztlich aller inkarnierten Geister –, von
den Anderen oder den Nachfolgern eine andere Vollendung des-
sen, was sie tun, zu erwarten – eine andere und dieselbe, bemerkt
Péguy tiefgründig, weil auch sie Menschen sind, genauer gesagt:
Weil sie sich, im Rahmen dieser Substitution, auf eine Stufe mit
dem anfänglichen Wegbereiter stellen, zu Seinesgleichen werden.
Darin liegt, sagte er, eine Art Skandal, aber ein ›gerechtfertigter
Skandal‹ und infolgedessen ein ›Mysterium‹. Der Sinn bildet sich
erneut auf die Gefahr hin, sich aufzulösen, es ist ein redseliger
Sinn, der sehr wohl mit der Bergsonschen Definition des Sinns
übereinstimmt, der zufolge er »weniger eine gedachte Sache als
13 eine Denkbewegung ist, weniger eine Bewegung als ein Richtung«.
In diesem Netz der Rufe und Antworten, in dem sich der Anfang
274 Bergson im Werden
ob das Prinzip, mit dem sie uns in Berührung bringt, Gott selbst
oder sein Auftrag auf Erden sei. Sie erfährt das für gut geheißene
Eindringen eines Wesens, das ›unermeßlich viel mehr als sie selbst
kann‹. Wir sollten aber nicht von einem allmächtigen Wesen re-
den: Die Idee des Ganzen, sagt Bergson, ist genauso leer wie die
des Nichts, und das Mögliche bleibt für dieses Ganze ein Schat-
ten des Wirklichen. Der Gott Bergsons ist eher unermeßlich als
unendlich, oder anders gesagt: Er ist ein seiner Eigenschaft nach
Unendliches. Er ist das Element der Freude oder das Element
der Liebe, in dem Sinne, wie das Wasser und das Feuer Elemente
sind. Wie die empfindenden und die menschlichen Wesen so ist
auch er ein Strahlen und keine Wesenheit. Die metaphysischen
Attribute, die ihn zu bestimmen scheinen, sind, so sagt Bergson,
wie alle Bestimmungen Negationen. Selbst wenn sie, was nicht
möglich ist, sichtbar werden würden, so würde doch kein religi-
öser Mensch in ihnen den Gott erkennen, zu dem er betet. Berg-
sons Gott ist ein einzigartiges Sein, wie das Universum, ein uner-
meßliches dies hier, und Bergson hat bis in die Theologie hinein
sein Versprechen einer Philosophie gehalten, die für das aktuelle
Sein gemacht und nur darauf zu beziehen sei. Wenn man in die
Berechnung des Imaginären eintritt, dann muß man zugeben,
sagt er, daß »die Gesamtheit deutlich besser gewesen sein könnte
14 als sie es jetzt ist«. Niemand wird es so einrichten, daß der Tod
eines Anderen ein Bestandteil der besten aller möglichen Welten
ist. Aber es sind nicht nur die Lösungen der klassischen Theodi-
zee, die falsch sind, es sind ihre Probleme, die in der Ordnung, in
die Bergson sich einfügt, keinen Sinn haben, nämlich in der Ord-
nung der radikalen Kontingenz. Es geht hier nicht um die Welt
oder um Gott, wie wir sie auffassen, sondern um die Welt und
um Gott, wie sie tatsächlich existieren, und das, was in uns diese
Ordnung erkennt, liegt unter unseren Meinungen und unseren
Äußerungen. Niemand wird es so einrichten, daß die Menschen
ihr Leben nicht lieben, so elend es auch sein mag. Dieses vitale
Urteil setzt das Leben und setzt Gott jenseits aller Anschuldigun-
gen wie Rechtfertigungen ein. Und wollte man verstehen, wie die
Natura naturans eine Natura naturata hervorbringen konnte, in
278 Bergson im Werden
der sie sich nicht wirklich realisierte, und warum die schöpfe-
rische Anstrengung zumindest vorübergehend angehalten hat,
auf welches Hindernis sie getroffen ist und wie ein Hindernis
überhaupt unüberwindbar für sie sein kann, so würde Bergson
zugestehen – mit Rücksicht auf die anderen Planeten, auf denen
das Leben vielleicht besser geglückt ist –, daß seine Philosophie
nicht auf diese Art Fragen antwortet, daß sie sie aber auch nicht
stellen muß, da sie letztlich keine Schöpfungsgeschichte der Welt
ist – nicht einmal, wie sie es beinahe gewesen wäre, eine ›Integra-
tion und Differenzierung‹ des Seins –, sondern die mit Absicht
partielle, unzusammenhängende und beinahe empirische Veror-
tung mehrerer Brennpunkte des Seins.
*
Insgesamt betrachtet, muß man Péguy völlig recht geben, wenn
er sagt, diese Philosophie habe »zum ersten Mal […] die Auf-
merksamkeit auf das gelenkt, was dem Sein selbst und der Arti-
kulation des Gegenwärtigen eigen sei.« Das entstehende Sein, von 15
dem mich keine Repräsentation trennt, das von vornherein alle
Ansichten enthält, selbst die nicht übereinstimmenden, sogar als
Möglichkeit unvereinbaren Ansichten, die wir daraus beziehen
können, das aufrecht vor uns steht, jünger und älter als das Mög-
liche und das Notwendige, und das, sobald es einmal entstanden
ist, nie wird aufhören können, im Hintergrund anderer Gegen-
warten gewesen zu sein und auch weiterhin dort sein wird – man
versteht, daß zu Anfang des Jahrhunderts jene Bücher, die dieses
vergessene Sein und seine Fähigkeiten wiederentdeckten, wie eine
Renaissance, eine Befreiung der Philosophie empfunden wurden,
und ihre Tugend hat in dieser Hinsicht Bestand. Es wäre schön
gewesen, wenn derselbe Blick auf die Ursprünge anschließend
auf die Leidenschaften, die Ereignisse, die Technik, das Recht, die
Sprache und die Literatur übertragen worden wäre, um den ih-
nen eigenen geistigen Gehalt jeweils zu entdecken, indem man sie
als Monumente und Voraussagen eines hieratischen Menschen,
als Chiffren eines fragenden Geistes begreift. Bergson glaubte an
die Feststellung und die Erfindung, aber nicht an das fragende
Bergson im Werden 279
Zur Zeit von Auguste Comte schickte sich die Wissenschaft an,
die Existenz theoretisch und praktisch zu beherrschen. Ob es
nun um das technische oder das politische Handeln ging, man
glaubte, Zugang zu den Gesetzen zu haben, nach denen Natur
und Gesellschaft gemacht sind und sie ihren Prinzipien folgend
lenken zu können. Etwas ganz anderes, beinahe Gegenteiliges, ist
jedoch eingetreten: Statt daß in der Wissenschaft Einsicht und
Wirksamkeit gemeinsam gewachsen wären, wurden jene Anwen-
dungen, die die Welt erschüttern, aus einer höchst spekulativen
Wissenschaft geboren, über deren letzten Sinn man sich nicht
einig ist. Und statt daß die Wissenschaft sich ganz in den Dienst
der Politik gestellt hätte, haben wir vielmehr, ganz im Gegenteil,
eine Physik voller philosophischer und beinahe politischer Dis-
kussionen erhalten.
Einstein selbst war ein klassischer Denker. So kategorisch, wie
er das Recht einfordert, konstruieren zu dürfen, und ohne jeden
Respekt vor den begrifflichen Vorstellungen a priori, die vorge-
2 ben, das unveränderliche Rüstzeug des Geistes zu sein1, hat er
niemals aufgehört zu denken, daß diese Schöpfung eine in die
Welt gelegte Wahrheit einholt. »Ich [glaube] an volle Gesetz-
lichkeit in einer Welt von etwas objectiv Seiendem, das ich auf
3 wild spekulativem Wege zu erhaschen suche.«2 Aber gerade diese
Begegnung der Spekulation mit dem Wirklichen, unseres Bildes
von der Welt mit der Welt, die er gelegentlich als ›prästabilierte
4 Harmonie‹3 bezeichnet, wagt Einstein weder kategorisch, wie
1 Die Wissenschaft ist »eine Schöpfung des menschlichen Geistes, die
sich des Mittels der Ideen und der frei erfundenen Begriffe bedient«. Ein-
stein et Infeld, L’évolution des idées en physique, S. 286.
2 Brief an Max Born, 7. November 1944, zit. von T. Kahan, La philoso-
phie d’Einstein.
3 Einstein, Comme je vois le monde, S. 155.
282 Einstein und die Krise der Vernunft
4 Ebd., S. 35.
5 Einstein et Infeld, L’évolution des idées en physique, S. 289.
6 An Max Born, 3. Dezember 1947, zit. von T. Kahan.
Einstein und die Krise der Vernunft 283
d’Albert Einstein, S. 9.
8 A. Vallentin, ebd.
284 Einstein und die Krise der Vernunft
»Ich bin Maler und soll zwei Personen darstellen, Jean und
Jacques, von denen der eine neben mir steht, während der an-
dere zwei- oder dreihundert Meter von mir entfernt ist. Ich werde
ersteren in seiner natürlichen Größe zeichnen und den anderen
auf die Dimension eines Zwerges schrumpfen lassen. Wer sich
aber unter meinen Fachkollegen in der Nähe von Jacques befin-
det und ebenfalls beide malen will, der wird das Gegenteil von
mir tun; er wird Jean sehr klein wiedergeben und Jacques in sei-
ner natürlichen Größe. Wir werden übrigens beide recht haben.
Aber kann man aus dieser Tatsache, daß wir beide recht haben,
etwa schließen, daß Jean und Jacques weder eine normale Größe
noch die Größe eines Zwerges haben, oder daß sie beide Größen
gleichzeitig haben, oder daß alles ganz beliebig ist? Offensicht-
lich nicht […] Die Vervielfachung der Zeiten, die ich auf diese
Weise erhalte, verhindert nicht die Einheit der wirklichen Zeit;
sie würde sie eher voraussetzen, ebenso wie die Verringerung der
Größe mit wachsender Entfernung bei einer Serie von Gemälden,
auf denen ich Jacques in mehr oder weniger großer Entfernung
darstellen würde, darauf hinweisen würde, daß Jacques dieselbe
10 Größe bewahrt.«9
Eine tiefgreifende Idee: Die Rationalität und das Universelle
werden von neuem gegründet, und zwar nicht auf dem göttli-
chen Recht einer dogmatischen Wissenschaft, sondern auf die-
ser vorwissenschaftlichen Evidenz, daß es eine einzige Welt gibt,
auf dieser Vernunft vor der Vernunft, die in unserer Existenz, in
unserem Umgang mit der wahrgenommenen Welt und mit den
Anderen enthalten ist. Mit diesen Ausführungen läuft Bergson
Einsteins Klassizismus entgegen. Man könnte die Relativität mit
der Vernunft aller Menschen versöhnen, wenn man nur bereit
wäre, die multiplen Zeiten wie mathematische Ausdrücke zu be-
handeln und diesseits oder jenseits des physikalisch-mathema-
tischen Bildes der Welt eine philosophische Sichtweise der Welt
anzuerkennen, die zugleich die Perspektive der existierenden
Menschen ist. Wenn man nur akzeptierte, die konkrete Welt un-
Man meint, alles über ihn gesagt zu haben, wenn man ihn als
Skeptiker bezeichnet, als jemanden, der sich Fragen stellt und
nicht antwortet, der es sogar ablehnt zuzugeben, daß er nichts
weiß und sich lieber an das berühmte Que sais je? hält. All dies
führt nicht sehr weit. Der Skeptizismus hat zwei Gesichter. Er
bedeutet einerseits, daß nichts wahr ist, andererseits aber auch,
daß nichts falsch ist. Er verwirft alle Meinungen und alle Verhal-
tensweisen als absurd, nimmt uns aber dadurch jedes Mittel, eine
bestimmte Meinung oder Verhaltensweise als falsch zurückzu-
weisen. Indem er die dogmatische, partielle oder abstrakte Wahr-
heit zerstört, legt er die Idee einer allumfassenden Wahrheit nahe,
mit allen Facetten und allen notwendigen Vermittlungen. Wenn
er die Gegensätze und die Widersprüche vervielfacht, dann nur
deshalb, weil die Wahrheit dies erfordert. Montaigne beginnt mit
der Lehre, daß sich jede Wahrheit widerspricht, vielleicht endet
er mit der Erkenntnis, daß der Widerspruch Wahrheit ist. Daher
mag ich mir zwar zuweilen widersprechen, aber der Wahrheit, wie
4 Demades sagte, widerspreche ich nie. Der erste und fundamen-
talste Widerspruch ist derjenige, durch den die Ablehnung jeder
Wahrheit eine neue Art von Wahrheit entdeckt. Wir werden also
bei Montaigne alles finden, einen auf sich selbst beruhenden und
fortwährenden Zweifel, die Religion, den Stoizismus. Es wäre ver-
geblich, behaupten zu wollen, er schließe jemals eine dieser ›Po-
sitionen‹ aus oder mache sie sich zu eigen. Aber vielleicht findet
1 Alle Zitate Montaignes sind dem III. Buch der Essais entnommen.
292 Montaignelektüre
*
Das Selbstbewußtsein ist seine Konstante, für ihn der Maßstab
aller Lehren. Man könnte sagen, daß er nie aus einem gewissen
Erstaunen über sich selbst herausgekommen ist, welches das
ganze Wesen und die Weisheit seines Werkes ausmacht. Er ist es
nie müde geworden, das Paradox eines bewußten Seins zu emp-
finden. In jedem Augenblick, in der Liebe, im politischen Leben,
im stillen Erleben der Wahrnehmung, gehören wir ganz einer
Sache, wir machen sie zu unserer Sache, und dennoch ziehen wir
uns aus ihr zurück und wahren zu ihr eine Distanz, ohne die wir
nichts über sie wissen könnten. Descartes wird dieses Paradox
überwinden und das Bewußtsein zum Geist erklären: »Es ist nicht
das Auge, das sich selbst sieht […], sondern der Geist, der als ein-
ziger das Auge und sich selbst erkennt.«2 Montaignes Bewußtsein 5
ist nicht ohne weiteres Geist, es ist gleichzeitig gebunden und frei,
und in einem einzigen vieldeutigen Akt öffnet es sich den äuße-
ren Gegenständen, denen es sich zugleich fremd fühlt. Er kennt
diesen Ort der Ruhe nicht, diesen Selbstbesitz, welcher der car-
tesianische Verstand sein wird. Die Welt ist für ihn kein System
von Gegenständen, von dem er sich aus eigener Kraft eine Vor-
stellung machen könnte, das Ich ist für ihn nicht die Reinheit ei-
nes intellektuellen Bewußtseins. Für ihn – wie später für Pascal –
haben wir Anteil an einer Welt, zu der wir keinen Schlüssel ha-
ben, da wir ebensowenig in der Lage sind, bei uns selbst wie bei
den Dingen zu verweilen, da wir von ihnen auf uns und von uns
auf sie zurückgeworfen werden. Man muß das Orakel von Del-
phi korrigieren. Es ist gut, wenn wir uns auf uns selbst besinnen.
Aber wir sind für uns ebensowenig greifbar wie die Dinge. Bei dir
ist alles Eitelkeit, innen und außen – weniger eitel nur dann, wenn
3 »Könnte meine Seele jemals Fuß fassen, würde ich nicht Versuche mit
mir machen, sondern mich entscheiden. Doch ist sie ständig in der Lehre
und Erprobung.« (III, II)
294 Montaignelektüre
Unsinn rede ich meiner Meinung nach Tag für Tag daher, und wie-
viel mehr noch, steht zu vermuten, nach Meinung der anderen! Es 8
gibt eine für das Bewußtsein ganz wesentliche Verrücktheit, die
in seiner Fähigkeit liegt, zu werden was immer es will, sich selbst
hervorzubringen. Um allein lachen zu können, bedarf es keiner
äußeren Ursache, es genügt zu denken, daß man allein lachen
und sich selbst Gesellschaft leisten kann, es genügt, zugleich
zweifach vorhanden und bewußt zu sein. Man hat die Wesensart
des Königs Perseus von Makedonien als ungewöhnlich empfunden,
da er sich auf keine Daseinsform festlegen ließ, sondern ständig
von einer zur anderen wanderte, so daß bei einem so leichtfüßig
wechselnden, schweifenden Lebenswandel schließlich weder er noch
sonstwer wußte, was für ein Mensch er sei. Das aber, scheint mir,
trifft auf fast alle Menschen zu. – Wir sind mit unseren Gedanken
stets woanders, und es könnte gar nicht anders sein: Bewußt zu 9
sein, bedeutet unter anderem, stets anderswo zu sein.
Selbst die Fähigkeiten, die man beim Tier feststellen kann und
die wir auf den Körper übertragen, werden im Menschen ver-
wandelt und entstellt, weil sie in der Bewegung eines Bewußt-
seins erfaßt werden. Man findet Hunde, die im Traum bellen; sie
haben also bildhafte Vorstellungen. Der Mensch aber hat nicht
nur irgendwelche gemalten Bilder in seinem Kopf. Er kann im
Imaginären leben. Es ist ein erstaunliches Schauspiel, das uns
jene Darsteller bieten, die von einer Trauerrolle derart ergriffen
sind, daß sie noch zu Hause darüber weinen, oder das uns ein ein- 10
zelner Mensch bietet, der sich inmitten einer Menge wähnt und
in dieser unsichtbaren Welt Grimassen schneidet, staunt, lacht,
kämpft und triumphiert, oder jener Königssohn, der seinen ge-
liebten Bruder aufgrund eines schlechten Traumes umbringen
läßt, oder auch jener andere, der sich umbringt, weil seine Hunde
geheult haben. Wenn man allein den Körper betrachtet, dann
dürfte das Geschlecht nur ein genau bestimmtes Vergnügen be-
reiten, vergleichbar dem Vergnügen der anderen Körperfunk-
tionen. Aber bei den meisten Völkern wurde das männliche Glied
zum Gott erhoben. In einer Gegend enthäuteten es sich manche
und brachten ein Stück davon den Göttern als Opfergabe dar, und
Montaignelektüre 295
4 »Wenn ich mir immer wieder […] dieses beim lieblichsten Werk
der Liebe vom Furor der Grausamkeit durchglühte Gesicht, dann dieses
inmitten solch ausgelaßnen Tuns auf einmal völlig entrückte, todernste
Sichanstarren [betrachte]; und wenn ich weiter bedenke, daß […] die
höchste Wollust gleich dem Schmerz von Klagelauten und Ohmachtsäng-
sten begleitet ist […]«
296 Montaignelektüre
denken, weil sie dann für den Verstand klar zu erkennen seien.
Die ›Vermischung‹ von Seele und Körper ist im Gegensatz dazu
der Bereich Montaignes, er interessiert sich nur für unsere tat-
sächliche Beschaffenheit, und sein Buch beschreibt in unend-
licher Fortsetzung jenes paradoxe Faktum, das wir sind. Dies
bedeutet zugleich, daß er an den Tod denkt, die Gegenprobe
unserer Inkarnation. Auf Reisen hat er in keiner Herberge ra-
sten können, ohne sich zu fragen, ob er darin bequem krank
sein und sterben könne. Ich fühle ständig den Krallengriff des
Todes in der Kehle und Lende … Er hat sich sehr treffend gegen 16
das Nachdenken über den Tod ausgesprochen. Es verzerrt und
verfehlt seinen Gegenstand, da es den fernen Tod betrifft, und
da dieser ferne Tod, der sich überall in unserer Zukunft findet,
viel unempfindlicher ist als der nahe Tod, der unter unseren Au-
gen in Form eines Ereignisses näher rückt. Es geht nicht darum,
das Leben durch das Denken des Todes zu korrumpieren. Was
Montaigne interessiert, ist nicht das Pathetische des Todes, seine
Häßlichkeit, die letzten Seufzer, der Leichenzug mit den übli-
chen Reden über den Tod und den zum Nutzen der Lebenden
bestimmten Bildern vom Tod. Jene wollten damit nicht dem Ster-
ben an sich ins Auge sehen, nicht es richtig zu beurteilen lernen –
keineswegs hierauf hefteten sie ihre Gedanken: Ihnen schwebte ein
neues Sein vor, dem sie entgegenzueilen suchten. Diejenigen, die 17
den Tröstungen des Priesters lauschen, heben Augen und Hände
gen Himmel, beten laut und fliehen den Kampf, sie lenken ihre
Gedanken vom Tod ab, so wie man Kinder, die mit der Lanzette
gestochen werden müssen, hiervon ablenkt. Montaigne will, daß 18
wir das Nicht-Sein mit einem trockenen Blick ermessen und daß
wir das Leben ganz unverhüllt erkennen, indem wir dem nackten
Tod ins Auge sehen. Der Tod ist der Akt, den jeder allein spielt. Er 19
trennt aus der ungeordneten Masse des Seins jenen besonderen
Bereich heraus, der wir sind, er läßt jene unerschöpfliche Quelle
der Meinungen, Träume und Leidenschaften, die insgeheim das
Schauspiel der Welt belebt, mit einer Evidenz ohnegleichen her-
vortreten, und er gibt uns auf diese Weise besser als jede andere
Episode des Lebens den fundamentalen Zufall zu verstehen, der
Montaignelektüre 297
*
Unter dieser Vorgabe steht er, der aufmerksam für alles Zufällige
und Unvollendete im Menschen ist, im Gegensatz zur Religion,
Während ich sie träume, nehme ich mir vor, sie im Gedächtnis zu behalten
(denn ich träume oft, daß ich träume), doch am nächsten Tag kann ich mir
zwar ihre Tönung noch vergegenwärtigen: heiter, traurig oder wundersam,
aber wie sie im übrigen waren, entschwindet mir in ein um so tieferes Grab
des Vergessens, je atemloser ich es ihm zu entreißen suche. So bleibt mir,
wie gesagt, auch von den unerwartet mich überfallenden Gedankenspielen
nichts als ein flüchtiges Schattenbild in Erinnrung.«
298 Montaignelektüre
wenn man die Religion als eine Erklärung und einen Schlüssel
zur Welt versteht. Obwohl er sie oft von seiner Suche ausnimmt
und außer Reichweite stellt, redet doch nichts von dem, was er
sagt, dem Glauben das Wort.6 Wir stehen im Schmutz und Kot der 23
Erde, dem totesten und stinkigsten Winkel des Weltalls untrennbar
verhaftet. Der tierische Instinkt ist perfekter als unsere Vernunft. 24
Unsere Religion ist nur Gewohnheit: Christen sind wir im gleichen
Sinne, wie wir Périgorden oder Deutsche sind. Die Beschneidung, 25
das Fasten, die Fastenzeit, das Kreuz, das Bekenntnis, das Zölibat
der Priester, der Gebrauch der heiligen Sprache im Gottesdienst,
die Fleischwerdung Gottes und das Fegefeuer, all diese Elemente
des Christentums finden sich auch in den heidnischen Religio-
nen. In jedem Dorf entstehen die Wunder unter unseren Augen
aufgrund von Unkenntnis und Hörensagen. Einer platonischen
Legende zufolge wird Sokrates von einer Jungfrau geboren, der
Apollo erschienen war. Man hat bei Homer sämtliche Orakel und
sämtliche Vorhersagen, die man brauchte, gesucht und gefunden.
Die Offenbarungsreligion unterscheidet sich alles in allem nicht
sehr von dem, was die Verrücktheit der Menschen auf Erden her-
vorbringt. Fraglich bleibt aber, ob man daraus schließen muß,
wie es bei Montaigne gelegentlich vorkommt, daß auch den bar-
barischen Religionen bereits eine Erleuchtung zugrunde liegt –
oder aber, daß unsere Religion sich noch in einem barbarischen
Anfangsstadium befindet. Wie könnte man an seiner Antwort
zweifeln, wenn er doch selbst Sokrates seine Daimonereien und
seine Ekstasen vorwirft? In der Moral wie bei der Erkenntnis 26
hält er unsere irdische Verbundenheit jeder übernatürlichen Be-
ziehung entgegen. Man kann, so sagt er, eine Tat bereuen, man
kann aber nicht bereuen, man selbst zu sein, obwohl es gerade
dies ist, was man der Religion zufolge tun müßte. Es gibt keine
neue Geburt. Wir können nichts an uns für ungültig erklären:
Was ich tue, pflege ich ganz zu tun, und ich bin mit Leib und Seele
27 dabei. Er behält sich den Fall einiger Menschen vor, die bereits in
der Ewigkeit leben, bringt aber auch ihnen Mißtrauen entgegen,
wenn er hinzufügt: Bei unsereinem aber habe ich stets zwei Dinge
in besonders engem Zusammenspiel gesehn: überhimmlisches Den-
28 ken und unterweltliches Tun.
Was er beim Christentum festhält, ist der Wunsch nach Unwis-
senheit. Warum sollte man in jenen Bereichen Scheinheiligkeit
unterstellen, in denen er die Religion über jede Kritik erhebt? Die
Religion behält ihre Gültigkeit, indem sie dem Merkwürdigen
seinen Platz einräumt und weiß, daß unser Schicksal rätselhaft
ist. Alle Lösungen des Rätsels, die sie uns an die Hand gibt, sind
mit unserer monströsen Beschaffenheit unvereinbar. Als Fra-
gestellung ist sie unter der Bedingung begründet, daß sie ohne
Antwort bleibt. Sie ist eine der Arten unserer Verrücktheit, und
unsere Verrücktheit ist uns wesentlich. Wenn man den Menschen
in den Mittelpunkt rückt, nicht den selbstzufriedenen Verstand,
sondern ein Bewußtsein, das über sich selbst erstaunt, dann kann
man den Traum von einer Kehrseite der Dinge nicht ausklam-
mern und auch die stillschweigende Anrufung eines solchen Jen-
seits nicht von sich weisen. – Sicher ist, daß wir, wenn es denn
eine Art Weltvernunft geben sollte, nicht in ihre Geheimnisse
eingeweiht sind und daß wir unser Leben in jedem Fall nach un-
seren Maßstäben führen müssen … In meiner Unwissenheit über
das große Ganze lasse ich mich für meinen Teil lässig vom allgemei-
nen Weltgesetz führen. Es wird mich genug von sich wissen lassen,
29 wenn ich es fühle. Wer würde es wagen, uns vorzuwerfen, daß wir
von diesem Leben und dieser Welt, die unseren Horizont bilden,
Gebrauch machen?
*
Wenn man nun aber die religiöse Leidenschaft ablehnt, muß man
dann nicht auch alle anderen Leidenschaften ablehnen? Mon-
taigne spricht oft und mit großem Wohlwollen von den Stoikern.
Er, der so viel gegen die Vernunft geschrieben und so gut gezeigt
hat, daß wir keinesfalls unsere Meinung ablegen können, um ei-
ner Idee unmittelbar gegenüberzustehen, er beruft sich auf die
300 Montaignelektüre
über die Bedingungen und die Motive dieser Rückkehr zur Welt
mitteilt.
*
Es geht nicht darum, um jeden Preis zu einer beruhigenden
Schlußfolgerung zu gelangen, und auch nicht darum, am Ende
zu vergessen, was man zwischenzeitlich gefunden hatte. Die Ge-
wißheit wird sich nur aus dem Zweifel heraus einstellen. Mehr
sogar noch: Es ist der Zweifel selbst, der sich als Gewißheit erwei-
sen wird. Man muß also die Tragweite dieses Zweifels erfassen.
Wiederholen wir noch einmal, daß jeder Glaube Leidenschaft ist
und uns außerhalb unserer selbst stellt, daß man nur glauben
kann, wenn man aufhört zu denken, daß die Weisheit eine Be-
ständigkeit der Unbeständigkeit ist und daß sie die Freundschaft,
die Liebe und das öffentliche Leben ablehnt. Damit sind wir zu
uns zurückgekehrt, nur um dort immer noch das Chaos vorzu-
finden, mit dem Tod am Horizont, der das Sinnbild aller Un-
ordnung ist. Von den Anderen und von der Welt abgeschnitten
und unfähig, wie der weise Stoiker in sich und in einer inneren
Beziehung zu Gott das Mittel zu finden, die Komödie der Welt zu
rechtfertigen, steht Montaignes Weiser, wie man meinen könnte,
nur noch mit jenem Leben im Gespräch, das er noch für einige
Zeit wie verrückt aus sich hervorquellen spürt, er hat kein ande-
res Mittel mehr als einen auf alles ausgedehnten Spott und kein
anderes Motiv als die Verachtung seiner selbst und aller Dinge.
Warum sollte man in dieser Unordnung nicht einfach Verzicht
üben? Warum sollte man nicht die Tiere zum Vorbild nehmen –
jene Pferde, die im Augenblick des Todes wiehern, oder jene
Schwäne, die im Sterben singen –, warum sollte man ihnen nicht
in die Unbewußtheit folgen? Am besten wäre es, die kindliche
Sicherheit, den unbewußten Zustand der Tiere wiederzufinden.
Oder aber, entgegen dem Gefühl des Todes, irgendeine Religion
der Natur zu erdenken: Aus einem Leben, das vergeht, entsteht
39 tausendfach neues Leben.
Diese Bewegung findet sich bei Montaigne. Aber ebenso oft
auch eine andere. Denn nach all den Zweifeln – gerade wenn
304 Montaignelektüre
die Sache, die sie entflammt, sondern ihre Selbstsucht. Sie schüren
den Krieg nicht um der Gerechtigkeit, sondern um des Krieges wil-
len. Wenn ich mich willentlich einer Partei anschließe, dann nie mit
so leidenschaftlicher Hingabe, daß mein Verstand davon angesteckt
würde. Man kann einer Partei dienen und doch über das urtei- 50
len, was in ihr geschieht, man kann im Gegner Intelligenz und
Ehre entdecken und damit letztlich weiterhin im Bereich des So-
zialen existieren. Ich habe mich auf öffentliche Ämter einzulassen
vermocht, ohne auch nur einen Fingerbreit von mir abzuweichen,
und mich andern hingeben können, ohne mich preiszugeben. Man 51
wird vielleicht sagen, daß diese Regeln Partisanen, aber keine
Soldaten schaffen. Das ist wahr, und Montaigne weiß es auch.
Er kann sich gelegentlich und mit klarem Verstand zu einer Lüge
zwingen, aber er wird sie nicht zur Gewohnheit und zum Lebens-
inhalt werden lassen. Wer sich meiner nach meiner Art bedienen
will, erteile mir Aufträge, die eines energischen und freimütigen
Anpackens bedürfen und auf gradem und kurzem Wege ausgeführt
werden müssen, möge er durchaus gefährlich sein. Da werde ich
etwas zustande bringen. Muß man dafür jedoch lange und mühse-
lige, krumme und Gerissenheit erfordernde Wege einschlagen, tut
man besser daran, sich an einen andern zu wenden. Vielleicht liegt 52
hierin eine gewisse Verachtung. Vielleicht möchte Montaigne
aber auch noch etwas anderes sagen. Wir pflegen unsere Fragen
so zu stellen, als seien sie universal, als achteten wir bei unse-
rem Wohl zugleich immer auch auf das Wohl aller Menschen.
Wenn dies aber nun ein Vorurteil wäre? Da er ist, was er ist, wird
Montaigne nie ein Partisan sein. Man erledigt nur das gut, was
man von sich aus beginnt. Er braucht sich nicht aufzuspielen. Er
kann mehr und besser dienen, wenn er sich nicht in Reih und
Glied einfügt. Darf man dieses Gewicht, das man seinen Worten
beimaß, geringschätzen, da man ja wußte, daß er weder log noch
schmeichelte? Und hat er nicht um so besser gehandelt, je weni-
ger er daran festhielt?
Die Leidenschaften scheinen der Tod des Ich zu sein, da sie es
über sich selbst hinaustreiben, und Montaigne fühlte sich von
ihnen bedroht wie vom Tod. Er versucht nun, uns zu beschrei-
Montaignelektüre 309
tember 1949.
2 Der Fürst, Kap. XXV.
3 Discorsi, II, 23, zit. von A. Renaudet, Machiavel, S. 305.
4 Der Fürst, Kap. XIV.
5 Kap. XVII.
312 Anmerkung zu Machiavelli
6 Kap. XVIII.
7 Ebd.
8 Kap. III.
9 Kap. XVI.
10 Kap. XVII.
314 Anmerkung zu Machiavelli
tet sich in jenem Zeitabstand ein, der die Kritik vom Widerruf
und die Diskussion vom Mißkredit trennt. Die Beziehungen von
Subjekt und Macht, wie jene von Ich und Anderem, knüpfen un-
tereinander ein festeres Band als es ein Urteil zu sein vermag,
sie überdauern jede Anfechtung, solange es sich nicht um die
radikale Anfechtung der Verachtung handelt.
Da sie weder reine Tatsache noch absolutes Recht ist, kann
die Herrschaft weder zwingend noch überzeugend sein: Sie um-
garnt vielmehr – und man umgarnt viel wirkungsvoller, wenn
man an die Freiheit appelliert, als wenn man Angst und Schrek-
ken verbreitet. Sehr genau beschreibt Machiavelli diesen steten
Wechsel von Spannung und Entspannung, von Repression und
Rechtmäßigkeit, dessen Geheimnis die autoritären Regime für
sich behalten, der aber, als Zuckerguß, das Wesen aller Diploma-
tie ausmacht. Manchmal hat man jene lieber in der Hand, denen
man sein Vertrauen schenkt: »Niemals hat ein neuer Herrscher
seine Untertanen entwaffnet; vielmehr hat er sie, wenn er sie un-
bewaffnet vorfand, stets mit Waffen versorgt; indem du ihnen
nämlich Waffen gibst, werden diese Waffen zu deinen eigenen
[…] Wenn du jedoch die Untertanen entwaffnest, beginnst du,
sie zu beleidigen; du zeigst nämlich, daß du ihnen gegenüber
Mißtrauen hegst, sei es aus Feigheit, sei es aus zu geringem Ver-
trauen; und beides erregt Haß gegen dich.«11 »Leichter läßt sich 11
eine Stadt, die gewohnt ist, frei zu sein, mit Hilfe ihrer eigenen
Bürger beherrschen als auf irgendeine andere Weise.«12 In einer 12
Gesellschaft, in der jeder dem Anderen auf seltsame Weise gleicht,
in der man mißtrauisch ist, wenn der Andere mißtrauisch ist,
und vertrauensvoll, wenn der Andere Vertrauen zeigt – in einer
solchen Gesellschaft gibt es keinen reine Gewaltanwendung: So
wie die Gewaltherrschaft Verachtung nach sich zog, würde die
Unterdrückung eine Revolte hervorrufen. Die besten Stützen ei-
ner Herrschaft sind nicht einmal jene, die sie errichtet haben:
Sie glauben, Anspruch auf diese Herrschaft zu haben, oder zu-
11 Kap. XV.
12 Kap. V.
Anmerkung zu Machiavelli 315
13 Kap. XV.
14 Kap. V.
15 Kap. III.
16 Kap. XVII.
316 Anmerkung zu Machiavelli
daß man uns den Beginn einer Humanität vor Augen führt, die
plötzlich und scheinbar ohne Wissen der Macht aus dem Ge-
meinwesen hervorgeht und die nur auf der Tatsache beruht, daß
sie das Bewußtsein der Menschen zu verführen sucht. Die Falle
des Gemeinwesens öffnet sich in beide Richtungen: Die liberalen
Regierungen sind stets etwas weniger liberal als man annimmt,
die anderen Regierungen hingegen stets etwas mehr. Machiavellis
Pessimismus ist also nicht endgültig. Er hat sogar auf die Bedin-
gungen einer Politik hingewiesen, die nicht ungerecht wäre: Es
müßte eine Politik sein, die das Volk zufriedenstellt. Nicht etwa,
weil das Volk alles wissen sollte, sondern weil, wenn es einen Un-
schuldigen gibt, es nur das Volk sein kann: »Man kann nicht auf
ehrenhafte Weise und ohne anderen Unrecht zu tun die Großen
zufriedenstellen, wohl aber das Volk; denn das Bestreben des Vol-
kes ist ehrenhafter als das der Großen, insofern diese das Volk
unterdrücken wollen, das Volk jedoch nicht unterdrückt werden
will […] Das Volk verlangt lediglich danach, nicht unterdrückt
zu werden.«17 17
Machiavelli äußert sich in Der Fürst nicht weiter über die Be-
ziehungen von Herrschaft und Volk. Man weiß aber, daß er in
den Betrachtungen über die erste Dekade des Titus Livius einen
republikanischen Standpunkt eingenommen hat. Vielleicht kön-
nen wir also seine Aussagen über die Beziehungen des Fürsten
zu seinen Ratgebern auf die Beziehungen von Herrschaft und
Volk übertragen. Unter dem Namen der Tugend beschreibt er
also einen Weg, mit den Anderen zu leben. Der Fürst darf sich
in seinen Entscheidungen nicht nach den Anderen richten: Es
würde ihm nur Verachtung einbringen. Ebensowenig darf er
ganz losgelöst von allem regieren, denn eine solche Absonderung
ist nicht gleichbedeutend mit Autorität. Es gibt aber einen mög-
lichen Mittelweg, der zwischen diesen beiden Formen eines zum
17 Kap. IX. Man ist hier nicht weit entfernt von der Definition des 18
Staates, wie sie in der Utopia von Thomas Morus gegeben wird: »qua-
edam conspiratio divitum de suis commodis reipublicae nomine tituloque
tractantium.«
Anmerkung zu Machiavelli 317
20 Kap. XV.
Anmerkung zu Machiavelli 319
wird man feststellen, daß er so viel mehr Milde besaß als das
Volk von Florenz, das – um dem Ruf der Grausamkeit zu entge-
hen – zuließ, daß Pistoia zerstört wurde.[21] Einen Fürsten darf
es daher nicht kümmern, der Grausamkeit bezichtigt zu werden,
wenn er dadurch bei seinen Untertanen Einigkeit und Ergeben-
heit aufrechterhält; er erweist sich als milder, wenn er nur ganz
wenige Exempel statuiert, als diejenigen, die aus zu großer Milde
Mißstände einreißen lassen, woraus Mord und Raub entstehen;
denn hierdurch wird gewöhnlich einem ganzen Gemeinwesen
Gewalt angetan, während die Exekutionen auf Befehl des Für-
22 sten nur gegen einzelne Gewalt üben.«22 Was Milde bisweilen in
Grausamkeit verwandelt und Härte in einen Wert, und was die
Regeln des Privatlebens durcheinanderbringt, ist der Umstand,
daß die Handlungen der Macht in ein bestimmtes Meinungs-
bild eingreifen, das ihren Sinn verändert; sie rufen mitunter ein
übermäßiges Echo hervor; sie weiten oder schließen die verbor-
genen Risse im Block der allgemeinen Zustimmung und leiten
einen molekularen Prozeß in die Wege, der den ganzen Lauf der
Dinge verändert. Oder anders gesagt: So wie Spiegel, die man
im Kreis aufstellt, eine kleine Flamme in eine ganze Zauberwelt
verwandeln, so nehmen auch die Handlungen der Macht, wenn
sie sich in der Konstellation verschiedener Bewußtseine spiegeln,
eine andere Gestalt an, und die Spiegelungen dieser Spiegelungen
schaffen einen Anschein, welcher der eigentliche Ort und, alles in
allem betrachtet, die Wahrheit der historischen Tat ist. Die Macht
ist von einem Lichthof umgeben, und ihr Fluch – wie übrigens
auch der des Volkes, das sich ebensowenig erkennt – liegt darin,
23 nicht das Bild zu sehen, das sie anderen von sich bietet.23 Eine
grundlegende Voraussetzung der Politik ist folglich, daß sie sich
zu verstehen, und dem Volk angehören, um das Wesen der Fürsten recht
zu erkennen.« (Der Fürst, Widmung)
320 Anmerkung zu Machiavelli
24 Kap. XVIII.
25 Kap. XVII. Hervorhebung von uns.
Anmerkung zu Machiavelli 321
26 Ebd.
27 Kap. VII.
322 Anmerkung zu Machiavelli
Was dazu führt, daß man Machiavelli nicht versteht, ist der
Umstand, daß er das deutliche Gefühl der Kontingenz oder des
Irrationalen in der Welt mit dem Geschmack am Bewußtsein
oder der Freiheit im Menschen verbindet. Beim Blick auf die
Geschichte, in der es so viele Ausschreitungen, so viele Formen
der Unterdrückung, so viel Unerwartetes und so viele Rückent-
wicklungen gibt, sieht er nichts, was sie am Ende unweigerlich
in einen harmonischen Gleichklang münden ließe. Er erinnert
an die Idee eines grundlegenden Zufalls, einer Widersetzlichkeit,
welche die Geschichte dem Zugriff selbst der Intelligentesten
und Stärksten entziehen würde. Und wenn er diesen bösen Ge-
nius schließlich austreibt, so geschieht dies nicht durch irgend-
ein transzendentes Prinzip, sondern durch einen einfachen
Rückgriff auf die Gegebenheiten unserer Lebensumstände. Mit
ein und derselben Geste weist er sowohl Hoffnung als auch Ver-
zweiflung von sich. Wenn es eine Widersetzlichkeit gibt, so ist sie
namenlos, ohne Absichten, wir können nirgends ein Hindernis
finden, zu dessen Errichtung wir nicht durch unsere Irrtümer
oder unsere Fehler beigetragen hätten, wir können unsere Macht
nirgends begrenzen. Welcher Art auch die Überraschungen sein
mögen, die das Ereignis birgt, wir können uns von der Erwartung
und dem Bewußtsein ebensowenig lossagen wie von unserem
Körper. »Dennoch halte ich es – um unseren freien Willen nicht
auszuschließen – für wahrscheinlich, daß Fortuna zwar zur Hälfte
Herrin über unsere Taten ist, daß sie aber die andere Hälfte oder
beinahe so viel unserer Entscheidung überläßt.«28 Selbst wenn 28
wir zufällig dahin gelangen sollten, in den Dingen ein feindli-
ches Prinzip zu vermuten, so hätte es für uns, da wir seine Pläne
nicht kennen, keinerlei Bedeutung: »Die Menschen dürfen sich
nie selber aufgeben. Da sie die Absicht des Schicksals nicht ken-
nen und dieses auf krummen und unbekannten Pfaden wandelt,
so sollen sie immer Hoffnung haben und nie sich selber aufge-
ben, in welcher Lage und in welcher Not sie auch sein mögen.«29 29
28 Kap. XXV.
29 Discorsi, II, 29, zit. von A. Renaudet, Machiavel, S. 132.
Anmerkung zu Machiavelli 323
Der Zufall nimmt nur dann Gestalt an, wenn wir auf das Ver-
stehen und das Wollen verzichten. Fortuna »zeigt ihre Macht
dort, wo man nicht die Kraft aufbringt, ihr zu widerstehen, und
sie lenkt ihre Gewalt dorthin, wo sie weiß, daß sie nicht durch
30 Dämme und Deiche zurückgehalten wird.«30 Wenn es dabei ei-
nen unveränderlichen Lauf der Dinge zu geben scheint, so zeigt
sich dieser nur in der Vergangenheit; wenn Fortuna bald günstig,
bald ungünstig erscheint, so deshalb, weil der Mensch seine Zeit
bald versteht, bald nicht versteht, und dieselben Eigenschaften
bedingen je nach Fall seinen Erfolg oder seinen Untergang, aber
31 nicht zufällig.31 Wie in unseren Beziehungen zum Anderen, so
bestimmt Machiavelli in unseren Beziehungen zu Fortuna eine
Tugend, die ebensoweit von der Einsamkeit wie von der Folg-
samkeit entfernt ist. Als unseren einzigen Rückhalt nennt er jene
Präsenz gegenüber dem Anderen und gegenüber unserer Zeit,
die uns den Anderen in dem Augenblick finden läßt, in dem
wir davon absehen, ihn zu unterdrücken – und die uns in dem
Augenblick den Erfolg finden läßt, in dem wir auf das Abenteuer
verzichten, und uns in dem Augenblick dem Schicksal entkom-
men läßt, in dem wir unsere Zeit verstehen. Selbst die Wider-
setzlichkeit nimmt für uns menschliche Gestalt an: Fortuna ist
eine Frau. »Ich halte es für besser, stürmisch als besonnen zu
sein; denn Fortuna ist ein Weib, und es ist notwendig, wenn man
sie niederhalten will, sie zu schlagen und zu stoßen. Man sieht
auch, daß sie sich von denen, die so verfahren, eher besiegen
läßt als von jenen, die mit kühlem Kopf vorgehen; daher ist sie
als Weib stets den Jünglingen zugetan, weil diese weniger be-
sonnen und stürmischer sind und ihr mit größerer Kühnheit
32 befehlen.«32 Für einen Mann gibt es wahrhaftig nichts, das der
Humanität ganz und gar entgegenstünde, da sie in ihrer Ordnung
für sich steht. Gerade die Vorstellung einer vom Zufall hervorge-
brachten Humanität, die sich nicht aus eigener Kraft durchsetzen
*
Was man bei ihm verurteilt, ist die Vorstellung, daß die Geschichte
ein Kampf ist und die Politik eher ein Umgang mit Menschen als
mit Prinzipien. Gibt es denn aber nichts, das mehr Sicherheit
33 Kap. XXVI.
34 Discorsi, I, 26, zit. von Renaudet, Machiavel, S. 231.
35 Machiavel, S. 301.
Anmerkung zu Machiavelli 325
tionales in Genf.
334 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge
*
Unser Jahrhundert hat die Trennungslinie zwischen dem ›Körper‹
(corps) und dem ›Geist‹ (esprit) ausradiert und sieht das mensch-
liche Leben als durch und durch geistig und körperlich, stets auf
den Körper bezogen, immer, bis in seine sinnlichsten Formen
(modes les plus charnelles), an den zwischenmenschlichen Bezie-
hungen beteiligt. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts war
der Körper (corps) für viele Denker ein Stück Materie, ein Bündel
von Mechanismen. Das zwanzigste Jahrhundert hat den Begriff
des Leibes (chair), d.h. des lebendigen Körpers (corps animé),
wiederhergestellt und vertieft.
Es wäre interessant, zum Beispiel in der Psychoanalyse die Ver-
änderung der Auffassung vom Körper (corps) zu verfolgen, die
ursprünglich bei Freud die der Ärzte des neunzehnten Jahrhun-
derts war und sich zur modernen Auffassung vom erlebten Leib
(corps vécu) entwickelt hat. Trat die Psychoanalyse in ihren Anfän-
gen nicht die Nachfolge der mechanistischen Theorien vom Kör-
3 per an – und versteht man sie nicht noch oftmals so? Erklärt das
Freudsche System nicht die komplexesten und ausgefeiltesten Ver-
haltensweisen des Erwachsenen durch den Trieb, vor allem durch
den Sexualtrieb – also durch die physiologischen Bedingungen –,
durch ein Zusammenwirken von Kräften, das dem Zugriff unse-
res Bewußtseins entzogen ist, oder das sich sogar ein für allemal
in der Kindheit vor dem Alter der rationalen Kontrolle und der
eigentlich menschlichen Bezüge zur Kultur und zu anderen Men-
schen gebildet hat? Vielleicht war das für einen flüchtigen Leser
der Eindruck in den ersten Arbeiten Freuds – in dem Maße aber,
wie die Psychoanalyse bei ihm selbst und seinen Nachfolgern,
im Kontakt mit der klinischen Erfahrung, jene ursprünglichen
Begriffe zurechtrückt, sieht man einen neuen Begriff vom Körper
entstehen, der durch die Ausgangsbegriffe hervorgerufen wurde.
Es ist nicht falsch zu sagen, daß Freud die gesamte menschli-
che Entwicklung auf die Entwicklung des Trieblebens hat grün-
338 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge
den wollen, entscheidender ist jedoch, daß sein Werk von Anfang
an den Begriff ›Trieb‹ umkehrt und die Kriterien auflöst, auf-
grund derer man bisher glaubte, ihn umschreiben zu können.
Wenn das Wort ›Trieb‹ etwas sagen soll, so ist es eine Disposition
im Innern des Organismus, die mit einem Minimum an Auf-
wand bestimmte Reaktionen sichert, die bestimmten charakte-
ristischen Situationen der Art angemessen sind. Das Wesen der
Theorie Freuds besteht jedoch in dem Nachweis, daß der Mensch
in diesem Sinne keinen Sexualtrieb hat, daß das ›polymorph per-
verse‹ Kind zu einer als normal bezeichneten sexuellen Tätigkeit
erst am Ende einer schwierigen individuellen Geschichte gelangt.
Seiner organischen Ausstattung und seiner Ziele ungewiß führt
die Liebesfähigkeit durch eine Reihe von Leistungen, die sich der
kanonischen Gestalt der Liebe annähern, wobei sie vorgreift und
zurückfällt, sich wiederholt und sich übertrifft, ohne daß man
jemals behaupten könnte, daß die als normal bezeichnete sexu-
elle Liebe nichts anderes als sie selbst sei. Die Bindung des Kindes
an die Eltern, so stark sie ist, um jene Geschichte beginnen zu
lassen oder sie zu verzögern, ist selbst nicht triebhafter Natur.
Sie ist für Freud eine geistige Bindung. Nicht weil das Kind von
gleichem Blut ist, liebt es seine Eltern, sondern weil es sich aus
ihnen hervorgegangen weiß oder sie zu ihm hingewendet sieht,
identifiziert es sich mit ihnen und begreift sich nach ihrem und
sie nach seinem Bilde. Die letzte psychologische Wirklichkeit ist
für Freud das System von Anziehungskräften und Spannungen,
die das Kind mit den Eltern verbindet, und dann, durch sie hin-
durch, mit allen anderen; innerhalb dieses Systems versucht es
nacheinander verschiedene Positionen einzunehmen, deren letzte
sein erwachsenes Verhalten sein wird.
Nicht nur das Objekt der Liebe entzieht sich jeder Definition
durch den Trieb, sondern auch die Art des Liebens selbst. Be-
kanntlich ist für die Psychoanalyse die Erwachsenenliebe, die
von einer Zärtlichkeit getragen wird, die Vertrauen schafft, die
nicht in jedem Augenblick neue Beweise einer absoluten Zu-
neigung fordert und den Anderen in seiner Distanz und Auto-
nomie nimmt, wie er ist, einer kindlichen Liebesbedürftigkeit
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge 339
seres Lebens. Da die Aggression nicht auf eine Sache, sondern auf
eine Person zielt, bedeutet das Verschlungensein von Sexuellem
und Aggressivem, daß die Sexualität sozusagen ein Inneres hat,
daß sie in ihrem ganzen Umfang durch einen Bezug von Person
zu Person verdoppelt wird, daß das Sexuelle, da wir Leib (chair)
sind, unsere sinnliche Weise ist, die Beziehung zu Anderen zu
leben. Da die Sexualität Bezug zum Anderen und nicht nur zu
einem anderen Körper ist, spinnt sie zwischen dem Anderen und
mir ein zirkuläres System von Projektionen und Introjektionen
und entfacht die unbegrenzte Serie reflektierender und reflek-
tierter Spiegelbilder, die bewirken, daß ich der Andere bin und
er ich selbst ist.
Das ist letztlich die Freudsche Auffassung vom inkarnierten
Individuum, das sich selbst als auch den Anderen durch seine
Verleiblichung gegeben ist, unvergleichlich und doch seines an-
geborenen Geheimnisses entkleidet, sich Seinesgleichen gegen-
übergestellt sieht. In dem Augenblick, als Freud diese Theorie
aufstellte, brachten die Schriftsteller auf ihre Weise dieselbe Er-
fahrung zum Ausdruck, ohne daß es sich in den meisten Fällen
um einen Einfluß gehandelt hätte.
Auf diese Weise ist zunächst die Erotik der Schriftsteller dieser
Jahrhunderthälfte zu verstehen. Wenn man in dieser Hinsicht das
Werk von Proust oder das von Gide mit den Werken der vor-
hergehenden Generation vergleicht, so springt der Kontrast in
die Augen: Proust und Gide greifen sofort über die Schriftsteller-
generation von 1900 hinweg auf die Sadesche und Stendhalsche
Tradition eines direkten Ausdrucks des Leibes zurück. Mit Proust
und Gide beginnt ein unermüdliches Referat über den Leib; man
entdeckt ihn, man befragt ihn, man hört ihm wie einer Person zu,
und spioniert den Unregelmäßigkeiten seiner Begierde und, wie
man sagt, seiner Inbrunst nach. Mit Proust wird er zum Wächter
des Vergangenen, und er ist es, der trotz der Verwandlungen, die
ihn fast unkenntlich machen, von Zeit zu Zeit eine substantielle
Beziehung zwischen uns und unserer Vergangenheit aufrechter-
hält. Proust beschreibt in den beiden gegensätzlichen Fällen des
Todes und des Erwachens den Berührungspunkt des Geistes mit
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge 343
dem Körper, d.h. wie unsere Gebärden auf die Zerstreuung des
schlafenden Leibes im Erwachen an eine Bedeutung aus dem
Jenseits anknüpfen und wie sich dagegen die Bedeutung in den
Zuckungen des Todeskampfs auflöst. Mit der gleichen Ergriffen-
heit analysiert er die Gemälde von Elstir und die Milchhändlerin,
die er flüchtig auf einem Dorfbahnhof gesehen hat, weil es sich
hier wie dort um dieselbe eigentümliche Erfahrung handelt, die
des Ausdrucks nämlich, um den Augenblick, da die Farbe und der
Leib (chair) zu den Augen und dem Körper (corps) zu sprechen
anfangen. Als Gide einige Monate vor seinem Tod aufzählte, was
er in seinem Leben geliebt hat, nannte er unbesorgt die Bibel und
das Vergnügen nebeneinander.
Auch bei ihnen tritt mit unausweichlicher Konsequenz das
Besessensein vom Anderen in Erscheinung. Wenn der Mensch
darauf schwört, allumfassend zu sein, so unterscheidet sich für
ihn die Sorge um sich selbst nicht von der Sorge um die Anderen:
Er ist Mensch unter Menschen, und die Anderen sind andere Er-
selbst. Aber wenn er dagegen erkennt, was es von innen heraus an
Einzigartigem in der erlebten Verleiblichung gibt, erscheint ihm
der Andere notwendig in Form von Qual, Neid oder zumindest
Beunruhigung. Durch seine Inkarnation bestimmt, unter einem
fremden Blick zu erscheinen und sich vor ihm zu rechtfertigen,
dennoch durch dieselbe Inkarnation an seine eigene Situation ge-
fesselt, fähig, das Fehlen des Anderen und das Bedürfnis nach ihm
zu empfinden, aber unfähig, im Anderen seine Ruhe zu finden, ist
der Mensch in dem Hin und Her des Für-sich-Seins und des Für-
den-Anderen-Seins befangen, was die Tragik der Liebe bei Proust
ausmacht und was vielleicht am ergreifendsten im Tagebuch von
Gide dargestellt ist.
Bewundernswerte Formulierungen derselben Paradoxa findet
man bei dem Schriftsteller, der vielleicht am wenigsten Gefallen
an der Unbestimmtheit der Freudschen Ausdrucksweise fin-
det, nämlich bei Valéry. Denn seine Vorliebe für die Strenge des
Ausdrucks ist bei ihm die Kehrseite eines geschärften Bewußt-
seins vom Zufälligen. Sonst hätte er nicht so treffend vom Leib
gesprochen als von einem Wesen mit zwei Gesichtern, das für
344 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge
es sich selbst akzeptiert, über alles Gesagte und Getane, über die
Verdienste oder Verfehlungen, ja selbst die Verbrechen hinaus?
Aber Malraux, und auch Sartre, haben Freud gelesen, und was
sie auch schließlich von ihm halten, so haben sie doch mit seiner
Hilfe gelernt, sich zu erkennen. Deshalb schien es für uns von
größerer Bedeutung, vor ihnen eine Erfahrung des Leibes aufzu-
decken, von der sie ausgehen, weil sie sich bei den Älteren vor-
bereitet hatte.
*
Ein weiteres Kennzeichen der Untersuchungen der ersten Jahr-
hunderthälfte ist die Annahme einer merkwürdigen Beziehung
zwischen dem Bewußtsein und seinem sprachlichen Ausdruck,
wie zwischen dem Bewußtsein und seinem Körper. Die gewöhn-
liche Sprache läßt jedem Wort oder Zeichen ein Ding oder eine
Bedeutung entsprechen, die auch ohne irgendein Zeichen vor-
handen sein und begriffen werden könne. Doch schon seit lan-
gem wird diese gewöhnliche Sprache in der Literatur nicht mehr
akzeptiert. Derart voneinander abweichende Unternehmen wie
die von Mallarmé und Rimbaud haben dennoch gemeinsam, daß
sie die Sprache von einer Kontrolle durch ›Evidenzen‹ befreien;
sie vertrauen der Sprache, um neue Sinnbezüge zu entwickeln
und zu gewinnen. Die Sprache hört also auf, für den Schriftstel-
ler (wenn sie das je gewesen ist) ein einfaches Instrument oder
Mittel zur Mitteilung von Absichten zu sein, die vorher bereits
vorlagen. Sie bildet jetzt mit dem Schriftsteller eine Einheit, die
Sprache ist er selbst. Die Sprache steht nicht mehr im Dienst von
Bedeutungen, sondern sie ist selbst der Akt des Bedeutens; und
der sprechende Mensch oder der Schriftsteller lenken die Spra-
che nicht willentlich, wie der lebende Mensch die Einzelheiten
oder die Mittel seiner Gebärden nicht bewußt vorausplant. Von
jetzt an gibt es keine andere Art, eine Sprache zu verstehen, als
sich in ihr einzurichten und sie zu handhaben. Der Schriftsteller
als Meister der Sprache ist ein Meister der Unsicherheit. Seine
Ausdrucksweise überbietet sich von Werk zu Werk, jedes Werk
ist, wie man es vom Maler gesagt hat, eine von ihm selbst er-
richtete Stufe, von der aus er mit demselben Risiko eine weitere
346 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge
Stufe baut; und was man das Œuvre nennt, ist die Folge jener
Versuche, die immer unterbrochen wird, sei es durch das Ende
des Lebens oder die Erschöpfung der Sprachkraft. Immer von
neuem beginnt der Schriftsteller, sich mit einer Sprache zu mes-
sen, die er nicht meistert und die doch ohne ihn nichts ist, die
ihre Launen, ihren Reiz hat, welche aber immer erst durch die
schriftstellerische Arbeit verdient werden müssen. Die Unter-
scheidungen von Form und Inhalt, von Sinn und Laut, von Idee
und Ausführung werden undeutlich wie die Grenzen zwischen
Körper und Geist. Geht man von der ›bezeichnenden‹ (signifi-
ant) Sprache zur reinen Sprache über, so befreit sich die Literatur,
ebenso wie die Malerei, von der Ähnlichkeit mit den Dingen und
vom Ideal eines vollendeten Kunstwerkes. Wie schon Baudelaire
gesagt hat, gibt es vollendete Werke, von denen man nicht sa-
gen kann, daß sie jemals fertiggestellt worden seien, und unvoll-
endete Werke, die alles sagen, was sie sagen wollten. Es ist das 9
Wesen des Ausdrucks, daß er immer nur in einer Annäherung
besteht.
Jenes Pathos der Sprache ist in unserem Jahrhundert Schriftstel-
lern gemeinsam, die sich zwar gegenseitig verachten, deren Ver-
wandtschaft es jedoch forthin besiegelt. In seinen Anfängen hatte
der Surrealismus durchaus den Anschein einer Revolte gegen die
Sprache, gegen jeden Sinn und gegen die Literatur selbst. In Wahr-
heit jedoch hatte Breton nach einzelnen zögernden und rasch kor-
rigierten Formulierungen begonnen, nicht die Sprache zugunsten
des Unsinns zu zerstören, sondern einen bestimmten weiterrei-
chenden und radikalen Gebrauch des Wortes zu restaurieren, für
den alle sogenannten ›automatischen‹ Texte, wie er selbst zugibt,
bei weitem kein ausreichendes Beispiel liefern.4 Maurice Blanchot 10
erinnert daran in seiner berühmten Umfrage Warum schreiben
Sie? Breton gibt darauf schon die Antwort, indem er eine Aufgabe
oder Berufung des Wortes beschreibt, die sich seit eh und je im
Schriftsteller ausspricht und die ihn dazu bestimmt, auszudrük-
ken, mit einem Namen zu versehen, was noch niemals benannt
5 Légitime Défense.
348 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge
haben den Sinn mitgeteilt; des weiteren zeigt sich das Wesen der
dichterischen Sprache darin, daß man ein Werk nicht zusammen-
fassen kann, sondern es wieder lesen muß, um es wiederzufinden,
daß hier der Gedanke von den Wörtern hervorgebracht wird,
nicht auf Grund der lexikalischen Bedeutungen, die ihnen in der
Umgangssprache zugeordnet sind, sondern auf Grund von Sinn-
bezügen einer mehr leiblichen Art, auf Grund von Bedeutungs-
höfen, die sie ihrer Geschichte und ihrem Gebrauch verdanken,
auf Grund des Lebens, das sie in uns führen und das wir in ihnen
führen, das von Zeit zu Zeit jene sinnerfüllten Zufälle herbeiführt,
die die großen Bücher sind. Auf seine Weise verlangt auch Valéry
dieselbe Übereinstimmung der Sprache mit ihrem umfassenden
Sinn, die den surrealistischen Gebrauch der Sprache motiviert.
Die einen wie die anderen meinen das, was Francis Ponge die
›semantische Dichte‹ und Sartre den ›Bedeutungshumus‹ der
Sprache nennen, d. h. das der Sprache eigene Vermögen, als Ge- 12
bärde, Akzent, Stimme, Modulation der Existenz über das hinaus
zu bedeuten, was sie im einzelnen nach den geltenden Konven-
tionen bedeutet. Von da ist es nicht mehr weit zu dem, was Clau-
del den ›intelligiblen Bissen‹ des Wortes nannte. Und dasselbe
Sprachempfinden findet man in den zeitgenössischen Definitio-
nen der Prosa wieder. Auch für Malraux heißt Schreiben, »mit
seiner eigenen Stimme sprechen lernen«.6 Und Jean Prévost ent- 13
deckt bei Stendhal, der ›wie der Code Civil‹ zu schreiben glaubte,
einen wirklichen Stil, d. h. eine neue und sehr persönliche An- 14
ordnung der Wörter, der Formen, der Erzählelemente, ein neues
Entsprechungssystem zwischen den Zeichen, eine unmerkliche,
für Stendhal typische Abwandlung des gesamten Sprachappara-
tes, ein durch die Jahre der Übung und des Lebens geschaffenes
System, das Stendhal selbst geworden war, das ihm schließlich zu
improvisieren ermöglicht, und das man nicht ein Gedankensy-
stem nennen kann, weil Stendhal selbst sich dessen viel zu wenig
bewußt war, sondern ein Sprachsystem.
6 Psychologie de l’art.
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge 349
Die Sprache ist also jene eigenartige Vorrichtung, die uns wie
unser Leib mehr gibt als wir hineingesteckt haben, sei es, daß wir
unsere Gedanken erst sprechend erfahren, sei es, daß wir ande-
ren zuhören. Denn wenn ich zuhöre, oder wenn ich lese, lassen
die Wörter in mir nicht immer schon vorhandene Bedeutungen
anklingen. Sie besitzen die außergewöhnliche Fähigkeit, mich von
meinen Gedanken wegzuziehen, sie bringen Risse in meine private
Welt hinein, durch die andere Gedanken einbrechen. »Wenigstens
15 in diesem Augenblick bin ich du gewesen«, sagt Jean Paulhan.
Wie mein Leib, der ja nur ein Stück Materie ist, sich in Gebär-
den findet, die über ihn hinausstreben, so füllen sich die Wörter
der Sprache, die einzeln betrachtet nur tote Zeichen sind, denen
nur eine verschwommene oder banale Idee entspricht, plötzlich
mit einem Sinn, der auf andere Menschen überspringt, wenn das
Sprechen die Wörter zu einem einzigen Ganzen verknüpft. Der
Geist steht nicht mehr abseits, er keimt am Rande der Gebärden,
am Rande der Wörter, wie durch eine spontane Zeugung.
*
Diese Wandlungen unserer Auffassung vom Menschen würden
nicht soviel Widerhall in uns finden, wenn sie sich nicht in so
auffallender Weise mit einer Erfahrung treffen würden, an der
wir alle, Wissenschaftler oder nicht, teilhaben, und die folglich
mehr als jede andere dazu beiträgt, uns zu bilden: Ich meine die
16 Erfahrung der politischen Beziehungen und der Geschichte.
Es scheint uns, daß unsere Zeitgenossen, zumindest seit drei-
ßig Jahren, in dieser Hinsicht ein Abenteuer erleben, das zwar
weitaus gefährlicher und doch dem analog ist, was wir in dem
harmlosen Bereich unserer Beziehungen zur Literatur oder zu
unserem Leib zu finden glaubten. Dieselbe Ambiguität, die bei
der Analyse den Begriff des Geistes auf den des Leibes oder der
Sprache ausdehnt, hat auch unser politisches Leben befallen.
Hier wie dort wird es immer schwieriger, zwischen Gewalt und
Idee, zwischen Macht und Wert zu unterscheiden, wobei als gra-
vierender Umstand hinzutritt, daß dieses Ineinandergreifen hier
auf politische Krisen und Chaos hinauszulaufen droht.
350 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge
und daß darin die Propaganda besteht. Wenn wir jedoch das Ver-
halten der Mächte beobachten, fragen wir uns schließlich, ob es
sich wirklich nur um Vorwände handelt. Möglicherweise glauben
alle Regierungen an ihre Propaganda und wissen in der gegen-
wärtigen Verwirrung selbst nicht mehr, was wahr und was falsch
ist, weil in gewisser Hinsicht alles, was sie gemeinsam sagen, wahr
ist. Es ist möglich, daß jede Politik zugleich und tatsächlich krie-
gerisch und friedlich ist.
Hier wäre eine ganze Reihe merkwürdiger Praktiken zu ana-
lysieren, die in der zeitgenössischen Politik allgemein verbreitet
zu sein scheinen. Zum Beispiel die jeweiligen Praktiken der Säu-
berung und der Geheimpolitik oder der Politik der fünften Ko-
lonnen. Das Rezept solcher Praktiken stammt von Machiavelli,
von dem sie jedoch nur beiläufig empfohlen werden, während
sie sich heute überall zu institutionalisieren scheinen. Das setzt
jedoch voraus, daß man im Grunde immer damit rechnet, beim
Gegner Komplizen und im eigenen Haus Verräter zu finden.
Damit gibt man zu, daß alle Angelegenheiten zweideutig sind.
Die heutige Politik scheint sich von der früheren durch jenen
Zweifel, sogar an der eigenen Sache, zu unterscheiden, der von
Strafmaßnahmen zu seiner Unterdrückung begleitet ist. Dieselbe
grundsätzliche Unsicherheit drückt sich in der Leichtigkeit aus,
mit der die Staatschefs Wendungen vollziehen oder von einer
Politik wieder ablassen, ohne daß natürlich diese Schwankungen
jemals als solche zugegeben werden. Schließlich hat man selten
in der Geschichte erlebt, daß ein Staatschef einen berühmten,
lange Zeit unumstrittenen Oberkommandierenden absetzt und
seinem Nachfolger ungefähr dasselbe zubilligt, was man jenem
einige Monate früher verweigerte. Man hat selten erlebt, daß
eine Großmacht sich weigert zu intervenieren, um einen ihrer
Schützlinge, der im Begriff ist, einen Nachbarn zu überfallen, zur
Mäßigung zu bringen – und nach einem Kriegsjahr die Rückkehr
zum Status quo vorschlägt. Solche Schwankungen lassen sich nur
verstehen, wenn die Regierungen in einer Welt, in der die Völker
gegen den Krieg sind, diesen nicht direkt ins Auge fassen kön-
nen, ohne daß sie jedoch wagen, Frieden zu schließen, weil sie
352 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge
ren, weil die Ideen, auf die sie sich beruft, für ihr Aktionsfeld zu
beschränkt sind.
*
Wenn wir also abschließend für unsere Bemerkungen eine phi-
losophische Formel finden sollten, würden wir sagen, daß unsere
Zeit, vielleicht mehr als irgendeine andere, die Erfahrung des Zu-
fälligen gemacht hat und noch macht. Zunächst die Zufälligkeit
des Übels: Am Ursprung des menschlichen Lebens gibt es keine
Kraft, die es in sein Verderben oder ins Chaos triebe. Im Gegen-
teil, jede Gebärde unseres Leibes oder unserer Sprache, jeder Akt
des politischen Lebens rechnet, wie wir gesehen haben, spontan
mit dem anderen und weist, in dem, was ihm eigentümlich ist,
über sich hinaus auf einen allgemeinen Sinn hin. Wenn unsere
Einfälle in der zähen Masse des Leibes, der Sprache oder in dieser
maßlosen Welt, die wir zu vollenden haben, versinken, so haben
wir es nicht mit einem bösen Geist zu tun, der uns seinen Wil-
len aufzwingt, sondern mit einer Art Trägheit, einem passiven
Widerstand, einer Ohnmacht des Sinnes – einer anonymen Wi-
dersetzlichkeit. Aber auch das Gute ist zufällig. Man lenkt weder
den Leib, indem man ihn unterdrückt, noch die Sprache, indem
man sie vom Denken aus kontrolliert, noch die Geschichte, in-
dem man Werturteile fällt; es gilt immer, jede dieser Situationen
zu der seinen zu machen, und wenn sie jeweils zu einer anderen
werden, so geschieht das spontan. Der Fortschritt hat keine me-
17 taphysische Notwendigkeit: Man kann lediglich sagen, daß sehr
wahrscheinlich die Erfahrung schließlich die falschen Lösungen
ausschalten und aus Sackgassen herausfinden wird. Aber um wel-
chen Preis? Auf wie vielen Umwegen? Es ist nicht einmal prinzi-
piell ausgeschlossen, daß die Menschheit mitten auf dem Wege
scheitert, wie ein Satz, der nicht dazu kommt, zu Ende gebracht
zu werden.
Gewiß, die Gesamtheit der Wesen, die unter dem Namen des
Menschen bekannt sind und durch die bekannten physischen
Merkmale bestimmt werden, haben auch eine natürliche Einsicht,
eine Öffnung zum Sein gemeinsam, die die Errungenschaften
356 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge
der Kultur allen und ihnen allein mitteilbar macht. Aber jener
Funken, den wir in jedem sogenannten menschlichen Blick wie-
derfinden, läßt sich ebensogut in den grausamsten Formen des
Sadismus wie in der italienischen Malerei erkennen. Eben dieser
Funke bewirkt es, daß von seiten des Menschen und bis zum Ende
alles möglich ist. Der Mensch ist von den Tierarten gerade darin
absolut unterschieden, daß er über keine ursprüngliche Ausrü-
stung für seine Existenz verfügt und daß er der Ort des Zufalls ist,
der bald in der Gestalt eines Wunders auftritt, so wie man vom
griechischen Wunder gesprochen hat, bald in der Gestalt einer
ziellosen widersetzlichen Macht. Unsere Zeit ist ebenso weit von
einer Erklärung des Menschen durch niedere Triebe entfernt wie
von einer Erklärung durch ein höheres Geschick, und zwar aus
den gleichen Gründen. Die Mona Lisa aus der sexuellen Lebens-
geschichte Leonardo da Vincis erklären oder durch irgendeinen
göttlichen Auftrag, dessen Instrument Leonardo da Vinci gewesen
wäre, oder durch irgendeine der Schönheit fähigen menschlichen
Natur, heißt immer, dem Trugbild der Retrospektive verfallen,
immer, im voraus das Verbindliche realisieren – kurz, immer den
menschlichen Augenblick par excellence verkennen, in dem ein
aus Zufällen gewebtes Leben sich zu sich selbst zurückwendet,
sich wieder fängt und sich ausdrückt. Wenn es heute einen Hu-
manismus gibt, so löst er sich von der Illusion, die Valéry richtig
bezeichnet hat, als er von »jenem kleinen Menschen« sprach, »der
im Menschen ist und den wir immer in ihm voraussetzen«. Die
Philosophen haben bisweilen geglaubt, unser Sehen durch das
Bild oder die Abbildung der Dinge auf unserer Netzhaut, erklären
zu können. Das lag daran, daß sie hinter dem Netzhautbild einen
zweiten Menschen mit anderen Augen annahmen, ein anderes
Netzhautbild, das die Funktion hätte, das erste zu sehen. Aber mit
diesem inneren Menschen im Menschen bleibt das Problem un-
gelöst, und es bleibt zu verstehen, wie ein Körper sich belebt und
wie jene blinden Organe schließlich Träger einer Wahrnehmung
werden. Der »kleine Mensch, der im Menschen ist«, ist nur das
Phantom unserer gelungenen Ausdruckshandlungen, der Mensch
hingegen, den wir bewundern, ist nicht jenes Phantom, sondern
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge 357
als wenn es eine andere Welt als die andere Welt gäbe! … Hier
schließt er sich ein und vergnügt sich mit dem, was er im Gehirn
hat, hier braut und wiederkäut er jene Mischung aus dem, was er
weiß und dem, was er nicht weiß, was sie Denken nennen […]
Ich kann nicht denken, und ich habe keine Seele […]«7 Denken 18
ist Menschensache, wenn Denken heißt, immer auf sich selbst
zurückkommen, zwischen zwei Ablenkungen den winzigen leeren
Raum einschieben, durch den wir etwas erkennen.
Eine strenge und – wenn man uns das Wort erlaubt – fast
schwindelerregende Idee. Wir müssen uns ein Labyrinth spon-
taner Schritte vorstellen, die sich aufnehmen, sich manchmal
überschneiden und bestätigen, aber auf wie vielen Umwegen und
durch welchen Wust von Unordnung hindurch – das heißt, wir
müssen begreifen, daß das ganze Unternehmen auf sich selbst
beruht. Es wird verständlich, daß unsere Zeitgenossen vor die-
ser Idee, die sie ebenso wie wir ahnen, zurückschrecken und sich
irgendeinem Götzen verschreiben. Der Faschismus ist (von an-
deren Annäherungen an das Phänomen abgesehen) die Flucht
einer Gesellschaft vor einer Situation, in der die Zufälligkeit der
moralischen und gesellschaftlichen Strukturen offenkundig ist.
Er ist die Angst vor dem Neuen, die gerade die Ideen, die die hi-
storische Erfahrung verbraucht hatte, am Leben erhält und be-
kräftigt, ein Phänomen, das von unserer Zeit bei weitem nicht
überwunden ist. Das Wohlwollen, auf das heute in Frankreich
eine okkultistische Literatur stößt, stellt etwas Analoges dar. Un-
ter dem Vorwand, daß unsere ökonomischen, moralischen oder
politischen Ideen sich in einer Krise befinden, will das okkulti-
stische Denken Institutionen, Bräuche und Zivilisationstypen
errichten, die noch viel weniger unseren Problemen entsprechen,
die jedoch ein Geheimnis einschließen sollen, das man zu entzif-
fern hofft, indem man sich von den verbliebenen Dokumenten
zu Träumen verführen läßt. Während es die Rolle der Kunst, der
Literatur, vielleicht sogar der Philosophie ist, Heiliges zu schaffen,
sucht der Okkultismus es als schon Vorhandenes, zum Beispiel
Die New York Times vom 14. Februar 1948 veröffentlichte einen
Artikel ihres eigenen Korrespondenten C.-L. Sulzberger, dessen
Lektüre für uns alle ein Gewinn sein wird. Der Titel lautete: Die
anti-rote Bewegung in Europa bewirkt seltsame Allianzen. Der
Untertitel: Die neuen Koalitionen suchen Unterstützung von links,
um die Arbeiter auf ihre Seite zu ziehen. Hier die wesentlichen
Auszüge des Textes:
Die allmähliche Herausbildung antikommunistischer Fronten
in Europa bringt merkwürdige ideologische Kombinationen
und bizarre politische Idyllen mit sich. Nahezu alle wichtigen
politischen Koalitionen in den Ländern, die auf die finanzielle
Hilfe des Marshall-Plans hoffen, unternehmen außergewöhn-
liche Anstrengungen, sich der Linken zuzuwenden und selbst
in irgendeiner Form als ›links‹ zu erscheinen, um auf diese
Weise die Unterstützung der Arbeiter zu erhalten und das Eti-
kett des Reaktionären zu vermeiden […]. In Frankreich suchen
die Regierungskoalition der ›Dritten Kraft‹ und die rechts von
ihr stehende gaullistische Bewegung beide ständig nach einer
Unterstützung seitens der Arbeiter. So hat mir André Malraux,
der berühmte Schriftsteller, der einst mit der Linken in Spa-
nien und China war und der jetzt einer der wichtigsten Berater
Charles de Gaulles ist, die Kopie eines von Victor Serge kurz
vor seinem Tod im letzten Jahr in Mexiko an ihn adressierten
Briefes gezeigt. Im Brief stand:
›Ich möchte Ihnen sagen, daß ich die politische Haltung, die
Sie angenommen haben, für mutig und wahrscheinlich ver-
nünftig halte. Wenn ich in Frankreich gewesen wäre, dann
hätte ich zu den Sozialisten gezählt, die mit jener Bewegung
zusammenarbeiten, der Sie angehören. Ich halte den Wahler-
folg Ihrer Bewegung für einen großen Schritt, der in Richtung
der unmittelbaren Rettung Frankreichs getan wurde […]. Die
364 Gelegentliche Äußerungen
endgültige Rettung wird in der Folge von der Art und Weise
abhängen, wie Sie und so viele andere das erfüllen werden,
was ich Ihre zweifache Aufgabe nenne: die Feinde der euro-
päischen Wiedergeburt zu bekämpfen und die Gefahren zu
bannen, die wir alle in uns selbst tragen.‹
Herr Malraux, fährt Sulzberger fort, sagt immer, daß er selbst
heute ein trotzkistischer Kommunist wäre, wenn Leo Trotzki
seine politische Schlacht gegen Joseph Stalin gewonnen hätte.
Es ist daher nicht erstaunlich, daß Herr Serge diese Gefühle
teilt. Victor Serge Kibaltschisch, der 52 Jahre alt war, als er
starb, war der Enkel des berühmten Kibaltschisch, der seiner-
seits in Rußland Mitglied des Volkswillens war, der Zar Alex-
ander II. zu ermorden versuchte. In Mexiko war er ein enger
Freund von Herrn Trotzki, bis zu dem Tag, an dem letzterer
ermordet wurde.
[…] Eine der großen Schwierigkeiten, denen man bei dem
Vorhaben begegnet, eine wirklich freie europäische Arbeiter-
bewegung zu schaffen, die sich der von Moskau ausgehenden
Linksdiktatur widersetzt, besteht darin, gleichzeitig die kom-
promittierten Elemente der extremen Rechten auszuschalten.
Das andere Problem besteht darin, Sozialisten und Nicht-
Sozialisten zu einer Zusammenarbeit zu bewegen. Viele
sozialistische Anführer würden die neuen freien Gewerk-
schaften an sich binden wollen. Dennoch bestehen ins-
besondere die amerikanischen Berater auf der Notwen-
digkeit, diese Bewegung außerhalb jeder Art von Politik,
sogar einschließlich des abendländischen Sozialismus, zu be-
lassen.1
*
Die New York Times vom 9. März 1948 veröffentlichte eine kurze
Antwort von Natalia Sedowa Trotzki. Tatsächlich war ihr Brief 2
von der Redaktion gekürzt worden. Im folgenden geben wir den
vollständigen Text wieder:
1 Wir übersetzen.
Die paranoische Politik 365
Der Name Victor Serge dient hier dazu, die Legende ei-
ner trotzkistischen Unterstützung der Bewegung de Gaulles
glaubwürdig erscheinen zu lassen. Der Bruch zwischen Serge
und Trotzki war total und kann durch eine große Anzahl von
veröffentlichten Texten belegt werden. {Folgendes schrieb
Trotzki in der Nummer 73 des Bulletins der russischen Op-
position (Januar 1939): ›Freunde fragen uns, welche Position
Victor Serge gegenüber der Vierten Internationale vertritt. Wir
müssen antworten, daß es die Haltung eines Oppositionellen
ist […] Die russische Sektion wie insgesamt die Vierte Inter-
nationale lehnen jede Verantwortung gegenüber der Politik
von Victor Serge ab.‹ In der Nummer 79 desselben Bulletins
schrieb Leo Trotzki überdies: ›Und Victor Serge? Er hat keiner-
lei festen Standpunkt […] Seine moralisierende Haltung ist,
wie die vieler anderer, die Brücke, die von der Revolution zur
Reaktion führt […]‹ Herr Sulzberger gibt zu verstehen, daß
zwischen Serge und Trotzki in Mexiko freundschaftliche Be-
ziehungen bestanden hätten. Er weiß offensichtlich nicht, daß
Serge im September 1941 in Mexiko ankam, dreizehn Monate
nach dem Tod von L. Trotzki. Der Brief von Serge an Malraux
kann bei Serge nur das Fehlen eines Standpunktes bestätigen,
von dem Trotzki gesprochen hatte.}
Soll Malraux, und sollen andere doch machen, was sie wollen;
sie werden Trotzki und die Bewegung, die er gegründet hat,
nicht in den Schmutz ziehen können.
Mit vorzüglicher Hochachtung.2
Natalia Sedowa Trotzki.
Coyoacan Mexiko, 16. Februar 1948.
*
Der amerikanische Freund, dem einer von uns diesen Text zu
verdanken hat, fügt Malraux’ Erklärungen hinsichtlich seiner
grundsätzlichen Sympathie für die Position Trotzkis, solange
2 Unsere Übersetzung.
Die paranoische Politik 367
Person von Herrn Trotzki und seiner (selbst) bei weitem über-
steige‹. Diese Antwort steht noch aus, und man weiß nicht,
wann und warum Malraux mit Stalins Regime gebrochen hat,
dessen aktiver Verfechter er über so viele Jahre hinweg gewe-
sen ist.3
*
Jeder weiß – außer C.-L. Sulzberger –, daß Victor Serge bereits
seit Jahren kein Trotzkist mehr war. Im Januar 1939 veröffent-
lichten Burnham und Schachtman, die damals Mitglieder der
Socialist Workers Party Trotzkis waren, in The New Internatio-
nal einen Artikel, der gegen die ›Intellektuellen im Ruhestand‹
und die ›Liga der enttäuschten Hoffnungen‹ gerichtet war, und
die Herausgeber des letzten Buches von Trotzki ordnen Victor
Serge, gemeinsam mit Hook, Eastman, Suwarin und anderen, je-
ner ›Bruderschaft der Renegaten‹ zu. Es gibt keine Gemeinsam-
keit zwischen dem Trotzkismus Trotzkis, so wie er uns in seinem
posthum erschienenen Werk In Defense of Marxism (Pioneer
Publishers, Dezember 1942) vorgestellt wird, und der Truppe
der ›Intellektuellen im Ruhestand‹, die keineswegs, nur weil sie
sich dem Trotzkismus angenähert haben, weil sie mit ihm in Be-
rührung gekommen sind oder sogar in seinen Reihen gekämpft
haben, das Recht erworben haben, ihn aus ihren eigenen Enttäu-
schungen heraus zu kompromittieren.
Der Reporter ist nicht nur unwissend. Er trägt auch Züge eines
Doppelagenten. Man meint, daß C.-L. Sulzberger Malraux mit
diesem Minimum an Zustimmung zuhört, ohne das kein Ge-
spräch zustande kommt. Malraux erklärt, daß er seinem heutigen
Handeln den Sinn gibt, den er einer trotzkistischen Aktion gege-
ben hätte, wenn sie sich als wirksam erwiesen hätte. Wieder zu
Hause, spießt Sulzberger Malraux in seiner Sammlung der Hoch-
stapler auf. Seine persönlichen Motivationen (ob sie nun wohlbe-
gründet sind oder nicht, darüber werden wir später noch reden)
3 Unsere Übersetzung.
Die paranoische Politik 369
sind vergessen, und übrig bleibt nichts weiter als ein Komplize im
Täuschungsmanöver des weltweiten Antikommunismus.4
Aber er ist keiner der Reporter ohne Artikel, und der Arti-
kel läßt seine Doppelzüngigkeit zum Ausdruck kommen. Wir
überraschen ihn dabei, wie er zu seinem Publikum spricht. In
seinen Artikeln in der New York Times zeigt Sulzberger keine
Hemmungen: Er spricht offen über die amerikanischen Berater,
welche die neuen Gewerkschaften von der Politik und sogar von
der Ideologie des ›abendländischen Sozialismus‹ fernhalten wol-
len. Ist der sozialistische Rahmen also für unsere Berater noch zu
gefährlich? Ist also jede Anstrengung unserer Koalitionen, sich
rot zu kleiden, von vornherein nicht der Mühe wert? Und sind
diejenigen, die hier das Manöver anführen, auch die ersten, die
von ihm getäuscht werden? Und läßt sich dies alles offen in einer
großen amerikanischen Tageszeitung schreiben? Und versteht
sich für ihre Leser all dies von selbst? Solche Fragen sind es, die
zu denken geben.
Was Malraux’ ›Trotzkismus‹ angeht, so ahnt man über die
Anspielungen unserer Texte hinweg, was geschehen ist. Malraux
schätzte Trotzki und wäre ihm gefolgt, wenn es ihm gelungen
wäre, den Lauf der Ereignisse in der UdSSR und in der Welt
zu verändern. Er glaubte jedoch nicht mehr an seinen Erfolg.
Er glaubte zudem an den revolutionären Sinn des Regimes der
UdSSR. Was er auch gegen die Prozesse hätte einwenden können,
er wollte es nicht sagen, oder zumindest nicht sofort, da er sich
letztlich der kommunistischen Politik anschloß. Alles in allem ist
es die Haltung, die in der Condition humaine und insbesondere
in L’Espoir zum Ausdruck kommt. Wenn Trotzki Malraux, nach-
dem er ihn einer Probe unterworfen hatte und eine Weigerung
hatte hinnehmen müssen, als Stalinisten denunziert – da Malraux
4 Wir gehen nicht eine Minute lang davon aus, daß Malraux sich der
List bewußt ist. Unter diesen Umständen bleibt ihm aber nichts übrig, als
darauf hereinzufallen. Benjamin Péret zufolge (Combat, 3. Juni 1948) wird
die Echtheit des Briefes von Victor Serge von seinem Sohn vor Gericht
bestritten.
370 Gelegentliche Äußerungen
*
Die paranoische Politik 373
*
Es ist also sicher, daß Trotzkis Thesen nichts mit dem falschen
Testament gemein haben – ebensowenig wie mit der Politik
des französischen Antikommunismus. Wenn Trotzki aber 1940
seinen Positionen entschieden treu blieb, so hat er doch sehr
scharfsichtig die damit verbundenen Schwierigkeiten erläutert;
er hat selbst den Fall in Betracht gezogen, in dem sie unerträg-
Die paranoische Politik 379
lich werden würden und weist mit einem Wort darauf hin, was
in diesem Fall zu tun wäre, wobei jeder Kompromiß mit dem
reaktionären Antikommunismus selbstverständlich ausgeschlos-
sen wäre. Konkret ist die Schwierigkeit folgende: Wie soll man
gleichzeitig die These von der Demokratie der Werktätigen und
jene These von der bedingungslosen Verteidigung der UdSSR
anwenden, beispielsweise in einem Moment, in dem die UdSSR
in Polen einmarschiert (1939)? Trotzki definiert seinen Kurs mit
folgenden Worten:
Wir wollen uns für einen Moment vorstellen, die Moskauer
Regierung ließe, gemäß dem Pakt mit Hitler, die Rechte des
Privateigentums in den besetzten Gebieten unberührt und be-
schränke sich auf eine ›Kontrolle‹ nach faschistischem Vorbild.
Ein solches Zugeständnis hätte eine tiefreichende grundsätz-
liche Bedeutung, es könnte der Ausgangspunkt eines neuen
Kapitels in der Geschichte des sowjetischen Regimes sein und
folglich ein Ausgangspunkt für uns, die Natur des sowjetischen
Staates neu einzuschätzen. Es ist jedoch wahrscheinlicher, daß
die Moskauer Regierung in den Gebieten, die Teile der UdSSR
werden sollen, die Enteignung der Großgrundbesitzer und
die Verstaatlichung der Produktionsmittel durchführen wird.
Diese Variante ist wahrscheinlicher, nicht etwa weil die Büro-
kratie dem sozialistischen Programm treu bliebe, sondern weil
sie weder beabsichtigt noch in der Lage ist, die Macht und die
Privilegien, die letztere mit sich bringt, mit den alten herr-
schenden Klassen in den besetzten Gebieten zu teilen. Eine
Analogie bietet sich hier von selbst an. Der erste Bonaparte hat
der Revolution mittels einer Militärdiktatur ein Ende gesetzt.
Dennoch unterschrieb er, als die französischen Truppen in
Polen einmarschierten, einen Erlaß, der besagte: ›Die Leib-
eigenschaft ist aufgehoben.‹ Diese Maßnahme wurde weder
von Napoleons Sympathien gegenüber den Bauern noch von
demokratischen Prinzipien diktiert, sondern eher von der
Tatsache, daß die bonapartistische Diktatur sich selbst nicht
auf feudale, sondern auf bürgerliche Eigentumsverhältnisse
stützte. Da die bonapartistische Diktatur Stalins nicht auf pri-
380 Gelegentliche Äußerungen
Unsere Übersetzung.
6 In Defense of Marxism, S. 6.
382 Gelegentliche Äußerungen
jenen Text folgt, von dem das oben genannte trotzkistische Kom-
muniqué spricht: »Die historische Alternative, zu Ende geführt,
ist folgende: Entweder ist Stalins Regime ein widerlicher Rück-
fall im Prozeß der Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft in
eine sozialistische, oder Stalins Regime ist die erste Phase einer
neuen auf Ausbeutung gegründeten Gesellschaft. Sollte sich die
zweite Prognose als richtig herausstellen, dann wird die Bürokra-
tie selbstverständlich eine neue Ausbeuterklasse werden. Wie be-
schwerlich der zweite Ausblick auch immer sein mag, wenn sich
das Weltproletariat tatsächlich als unfähig erweisen sollte, den
Auftrag zu erfüllen, der ihm vom Verlauf der Entwicklung gestellt
wurde, dann müßte man notgedrungen anerkennen, daß das so-
zialistische Programm, das auf die inneren Widersprüche der
kapitalistischen Gesellschaft gegründet ist, letztlich eine Utopie
ist. Es ist selbstverständlich, daß ein neues ›Minimalprogramm‹
erforderlich wäre – zur Verteidigung der Interessen der Sklaven
der totalitären bürokratischen Gesellschaft.«7
Es handelt sich hierbei, wir wollen es noch einmal wieder-
holen, nur um eine Hypothese, und Trotzki verschob das Urteil
über die Fakten an das Ende der gegenwärtigen Zeitspanne: »Es
ist ganz selbstverständlich, daß, wenn sich das internationale
Proletariat als Ergebnis der Erfahrung unserer ganzen Epoche
und des gegenwärtigen neuen Krieges als unfähig erweisen sollte,
Herr der Gesellschaft zu werden, dies das Scheitern aller Hoff-
nung auf eine sozialistische Revolution bedeuten würde, denn es
ist unmöglich, irgendwelche anderen günstigeren Voraussetzun-
gen dafür zu erwarten; jedenfalls sieht sie niemand voraus oder
wäre in der Lage, sie zu definieren. Marxisten haben nicht das
geringste Recht (wenn Enttäuschung und Ermüdung nicht für
›Rechte‹ gehalten werden), die Folgerung zu ziehen, das Proleta-
riat habe seine revolutionären Möglichkeiten preisgegeben und
müsse alles Streben nach Vorherrschaft in der unmittelbar fol-
genden Zeit aufgeben. Fünfundzwanzig Jahre haben in geschicht-
lichem Maßstab, wenn es um tiefreichendste Veränderungen der
7 Ebd., S. 9.
Die paranoische Politik 383
8 Ebd., S. 15.
384 Gelegentlich Äußerungen
1 M A R X I SM US U N D A BE RG L AU BE
gegen allem, was man über ihn wußte, als amerikanischer Agent
aus. 1946 beanspruchte Lukács für den Schriftsteller das Recht,
über seine Vergangenheit hinauszugehen, 1949 muß er seine
Arbeiten als Kritiker und Ästhetiker abqualifizieren, als sei die
hohe Wertschätzung, die er Tolstoi und Goethe entgegenbrachte,
nur Gedankenlosigkeit und Übereilung gewesen. Auf diese Weise
geht der Kommunismus von der historischen Verantwortung zur
bloßen Disziplin über, von der Selbstkritik zur Verleugnung, vom
Marxismus zum Aberglauben.
(Dezember 1949)
388
DI E U D S S R U N D DI E L AG E R 1
Es steht also fest, daß die sowjetischen Bürger im Laufe der Er-
mittlungen deportiert werden können, ohne Urteil und ohne
zeitliche Begrenzung. Das Gesetzbuch zur Straferziehungsarbeit
der RSFSR1 stellt das Prinzip der administrativen Entscheidung
nur für die Straferziehungsarbeit ohne Freiheitsentzug auf.2 Es
erwähnt es jedoch in Artikel 443 sehr deutlich hinsichtlich des
Straferziehungsarbeit.
6 Dieselbe Sammlung, Gesetzbuch zur Straferziehungsarbeit, Artikel 139 a.
7 Dieselbe Sammlung, Art. 87 des Gesetzbuches: »Ins Überwachungs-
8 Pierre Daix: Pourquoi David Rousset a-t-il inventé les camps soviéti-
ques?, S. 12.
392 Gelegentliche Äußerungen
Ja, die Frage wird immer dringlicher: Wie konnte der Oktober
1917 auf diese grausam hierarchisch gegliederte Gesellschaft
hinauslaufen, deren Züge sich immer deutlicher vor unseren
Augen abzeichnen? Bei Lenin, bei Trotzki, geschweige denn bei
Marx findet sich kein Wort, das nicht vernünftig wäre, das nicht
heute noch zu den Menschen aller Länder sprechen würde, das
uns nicht dazu diente, zu verstehen, was bei uns geschieht. Und,
nach so viel Scharfblick, Aufopferung und Intelligenz – die zehn
Millionen sowjetischer Deportierter, die Dummheit der Zensur,
die Panik der Rechtfertigungen …
Wenn unsere Kommunisten die Frage ignorieren wollen, dann
hören ihre Gegner kaum mehr, daß sie gestellt wurde, und nichts
in dem von ihnen Geschriebenen liefert uns den kleinsten Ansatz
einer Antwort. Von einer Neurose zu sprechen bedeutet nicht,
auf die Frage zu antworten: Liest man die Aussagen ehemaliger
Häftlinge, so findet man in den sowjetischen Lagern nicht jenen
Sadismus, jene Religion des Todes und jenen Nihilismus, die –
in einer paradoxen Verbindung mit präzisen Interessen, und mal
in Einklang, mal im Widerstreit mit ihnen – schließlich die na-
tionalsozialistischen Vernichtungslager hervorgebracht haben.
Ebensowenig bedeutet es, auf unsere Frage zu antworten, wenn
man die Bürokratie und die ihr eigenen Interessen anzweifelt:
Man sieht kaum Menschen, die sich allein vom Interesse lenken
lassen, sie verschaffen sich stets Überzeugungen. Im übrigen sind
das Interesse wie der Sadismus besser getarnt. Man bemerkt nicht
genügend, daß man das Gesetzbuch zur Straferziehungsarbeit, das
von dem britischen Abgeordneten vor der UNO und von Rousset
im Figaro Littéraire wie eine Offenbarung präsentiert wurde, seit
1936 in seiner englischen Version bei den Verlegern Smith und
Maxwell, Chancery Lane, London, für drei Shilling sechs Pence
kaufen konnte. Die Befreiung von hundertsiebenundzwanzigtau-
send Häftlingen wurde offiziell in Moskau bekanntgegeben.9 Es
sertiert war, um sich den Russen anzuschließen, und der von ihnen zur
Zwangsarbeit eingesetzt wurde, sagte uns, die Existenz der Lager und die
Die UdSSR und die Lager 393
bei der Arbeit, die immer noch Menschen sind. Sie sind nie bis zu
diesen Feinheiten vorgedrungen, und ihr Materialismus ist stets
recht wenig dialektisch gewesen … Außerdem ist das alles so weit
weg; es ist doch schon lange her, daß man hinsichtlich der Spon-
taneität der Massen seine Ansprüche zurückschrauben mußte.
Koestler, denken sie, hat dies sehr gut erklärt: Man nimmt keine
Rücksicht auf das Gefühl, wenn man ihm etwas gibt, nimmt es
alles; man darf ihm also nichts überlassen. Denken wir nicht
mehr daran. Der Kanal zum Weißen Meer wird gebaut werden.
Die Grundlagen der Kollektivproduktion werden gefestigt wer-
den … Und die Kommunisten der ganzen Welt erwarten, daß so
viele Kanäle, Fabriken und Reichtümer eines Tages, durch eine
Art magische Emanation, den vollständigen Menschen hervor-
bringen, selbst wenn man, um sie zu schaffen, zehn Millionen
Russen versklaven muß, wenn man ihre Familie in Verzweiflung
stürzen muß, was weitere zwanzig oder dreißig Millionen Rus-
sen ausmacht, wenn man einen anderen Teil der Bevölkerung in
der Polizeikunst und zur Denunziation ausbilden muß und die
Armee der Funktionäre zur Unterwürfigkeit oder zum Egoismus.
So erklärt sich sicherlich der Umstand, warum die besten Kom-
munisten kein Ohr für zehn Millionen Häftlinge haben.
*
Indem wir unseren Blick auf den Ursprung des Systems der Kon-
zentrationslager richten, ermessen wir die Illusion der heutigen
Kommunisten. Es ist aber auch diese Illusion, die es verbietet,
Kommunismus und Faschismus zu vermischen. Wenn unsere
Kommunisten die Lager und die Unterdrückung akzeptieren,
dann deswegen, weil sie erwarten, daß aus ihnen durch das
Wunder des Unterbaus die klassenlose Gesellschaft hervorge-
hen möge. Sie täuschen sich, aber dies ist es, was sie denken. Ihr
Fehler ist, daß sie im Unklaren glauben, aber dies ist es, was sie
glauben. Die nationalsozialistischen Lager trugen ihrerseits eben-
falls die berühmten Devisen einer Umerziehung durch Arbeit,
aber von jenem Moment an, in dem die Gaskammern errich-
tet wurden, konnte niemand mehr glauben, daß es, sei es auch
396 Gelegentliche Äußerungen
Auf das, was wir da behaupten, gibt es eine und nur eine Ant-
wort (es ist merkwürdig, daß uns niemand diese Antwort gege-
ben hat): Die Kritik an allen Unterdrückungszuständen schwächt
die Demokratien, da sie hierzulande greift, aber nicht im Ural.
Wenn es das ist, was man denkt, dann muß man allerdings die
Konsequenz sehen: Die Gesellschaftskritik muß bis zum Ver-
schwinden des sowjetischen Systems verstummen, und wenn sich
die Lager in Sibirien endlich öffnen, werden wir hier eine Gene-
ration ohne politische Bildung haben, die infolge des westlichen
Patriotismus und nach Jahren antikommunistischer Propaganda
an Halluzinationen leidet. Was uns betrifft, so vertrauen wir an-
gesichts dieser Aufgabe auf die Regierungen und die Führungs-
stäbe. Alles zeigt, daß es ihnen nicht an Hilfskräften fehlen wird.
Es ist dringlicher, zumindest einige kleine Inseln zu bewahren,
auf denen man die Freiheit anders als gegen die Kommunisten
liebt und praktiziert.
*
Wir brauchen uns gegenwärtig nicht lange über die Initiative von
David Rousset auslassen, die den Anlaß zu diesen Seiten geboten
hat. Es war notwendig, das sowjetische Gesetzbuch zur Straferzie-
hungsarbeit zu veröffentlichen. Wir sind hiervon so überzeugt,
daß wir uns anschicken, es in dem Augenblick zu drucken, in
dem Rousset, der das Dokument aus anderen Quellen bezogen
hatte, den bekannten Gebrauch von ihm gemacht hat. Wir miß-
billigen diesen Gebrauch ganz entschieden, und wir denken, daß
Rousset von dieser Kampagne an die politische Linie verläßt, die
ihn bis dahin ausgezeichnet hatte, und eine Propaganda einlei-
tet, in die wir uns durch die Erinnerung, die man von unserer
heute endgültig beendeten Zusammenarbeit mit ihm bewahren
konnte, auf keinen Fall einbezogen sehen.
»[…] Um mit der Aussicht auf einigen Erfolg gegen die
Ausbeutung des Menschen kämpfen zu können, muß man die
Schläge auf das System konzentrieren, das sie am schonungs-
losesten walten läßt, das die stärksten Beeinträchtigungen mit
sich bringt und am unerbittlichsten jede Zukunft einer Befrei-
ung verschließt. Wir reden nicht allgemein von Ungerechtig-
Die UdSSR und die Lager 401
gegen das russische System wendet sich hier an all jene, die es
aus schlechten ebenso wie aus guten Gründen verabscheuen, sie
wird über das System der Lager jede sozialistische Inspiration
anstreben und erreichen. Rousset schließt sich alles in allem dem
Prinzip des ›Feindes Nr. 1‹ an, das wir soeben diskutiert haben:
zunächst gegen das russische System; dann, in einem Regime,
das die Zukunft nicht so wie jenes verschließt, wird man weiter-
sehen. Aber entweder will die Ordnung der Dringlichkeit nichts
besagen, oder sie will besagen, daß der Feind Nr. 2 im Moment
kein Feind ist. Die Wahl einer Ordnung der Dringlichkeit ist die
Wahl eines Publikums, die Wahl eines Verbündeten, und sie
paktiert letztlich mit allem, was nicht sowjetisch ist. Dieses
Publikum, dieser Verbündete, das sind nicht mehr die Völker.
Hat Rousset also aufgehört, Marxist zu sein, obwohl er dem Mar-
xismus in seinen Artikeln noch eine offen gestanden sehr diskrete
Ehre erweist? Lenin sagte gerade, den wahren Revolutionär
erkenne man daran, daß er die Ausbeutung und die Unter-
drückung in seinem eigenen Land verurteilt. Rousset hat un-
längst erklärt, der Marxismus müsse noch einmal überprüft
werden, und er hatte Recht. Darüber hinaus muß man, wenn
man eine Überprüfung des Marxismus in Angriff nimmt, wissen,
was man von ihm übernimmt und was man wegläßt. Andernfalls
gelangt man am Ende, wie so viele amerikanische Intellektuelle,
die alles hinter sich gelassen haben, zum politischen Nichts, und
das Nichts ist regierungsfreundlich. Glaubt Rousset noch, ja oder
nein, die einzige politische Kraft, deren Unterstützung man su-
chen muß, sei diejenige, die aufgrund ihrer Stellung so unab-
hängig ist von den nationalen, finanziellen und wirtschaftlichen
Interessen wie die Spekulationen des Führungsstabes – das heißt
das Volk? Und glaubt er noch, diese Kraft verliere das Bewußtsein
ihrer selbst und löse sich auf, wenn man sie Kompromisse mit
der kolonialen und gesellschaftlichen Unterdrückung eingehen
läßt? Wenn man seine jüngste Kampagne heranzieht, muß man
antworten: Nein. Aber dann muß er es sagen. Er muß seine neue
Position formulieren. Sie kann nur unzulässig sein. Sie wird aber
zumindest aufhören, doppelsinnig zu sein.12
Die UdSSR und die Lager 403
12 Rousset reicht vor Gericht Klage ein gegen die Beschimpfungen der
die nie ins Russische übersetzt wurden, die aber jüngst unter dem Titel La
Russie et l’Europe auf französisch erschienen sind.
406 Gelegentliche Äußerungen
*
Ein philosophischer, strenger, kohärenter Marxismus läßt die
Pluralität der Ursachen in der Geschichte zu, entziffert in jeder
Ursache dieselbe Dialektik und bezieht die ›persönlichen Vor-
stellungen‹ ein statt sie auszuschließen. In dem Maße jedoch, in
dem er so verfährt, verwandelt er sich in eine andere Philosophie,
die sich deutlich vom Vulgärmarxismus unterscheidet und in der
Marx sich gewiß nicht hätte wiedererkennen wollen.
Selbst wenn auch die ›Vorstellungen‹ und ›Ideologien‹ ihre in-
terne Logik besitzen, die sie der allgemeinen Logik der Geschichte
einverleibt – daß Stalin, Roosevelt und Churchill von Angesicht
zu Angesicht gedacht, gesprochen und einen Vertrag abgeschlos-
sen haben, wie sie es in Jalta getan haben, daß solche Proben ihrer
Ideologien in diesem Kompromiß hervorgebracht, miteinander
konfrontiert und kombiniert worden waren, dies ist ein Ereig-
Die Verträge von Jalta 407
Die Schwierigkeit gab es bereits vor Stalin, sie war sogar noch
deutlicher spürbar, weil die revolutionäre Idee lebendig war. Sie
ist das Kreuz der revolutionären Politik.
(April 1955)
410
DI E Z U K U N F T DE R R E VOLU T ION 1
und einem Land mit der einst vertretenen Kultur der Politik und
der Arbeiter. Sie erhellen das Problem der Beziehungen zum Au-
ßen, dem die neue Politik entgegentreten will, und geben folglich
vielleicht die Bedeutung dieser Politik innerhalb der Geschichte
der russischen Revolution wieder.
I 4
denjenigen neu, der sich von der Revolution und von der Volks-
demokratie eine vollkommen theoretische Idee bildet. Mangels
ausreichender Informationen stehen wir jedoch beinahe alle an
jenem Punkt, und das größte Verdienst einer Arbeit wie der von
B. Sarel besteht darin, die Fragen so zu stellen, wie sie sich vor
Ort stellen.
1) Die Betriebsleiter
2) Die Techniker
3) Die Arbeiterelite
Berlin FDGB.
14 Neues Deutschland, 20.1.1950.
15 B. Sarel, op. cit., S. 80.
16 Die breite Fächerung der Löhne wird nach 1953 wieder zurückge-
nommen werden.
17 B. Sarel, S. 109. Die Ungleichheit zwischen den verschiedenen Indu-
striebranchen ist ein Mittel, die Arbeitskräfte auf die wesentlichen Sekto-
ren auszurichten.
418 Gelegentliche Äußerungen
zu erhöhen, wenn sich die Möglichkeit bietet (was ihnen oft den
Titel von Normbrechern, Lohnverderbern und Streikbrechern ein-
bringen wird), richtet man ein Zentrum für technisch begründete
Arbeitsnormen ein, das dazu dienen soll, Zeitnehmer auszubil-
den. Die Selbsterrichtung der Normen gab immer wieder Anlaß
zu Mißbrauch, indem die Arbeiter die Normen zu tief ansetzten
und sich auf diese Weise Prämien zur Lohnerhöhung für eine
mittelmäßige Produktion verschafften, ein Verfahren, das un-
ter dem Namen Normenschaukelei bekannt wurde. Andererseits
hatten die Zeitnehmer in Deutschland bereits unter Hitler ge-
arbeitet; es waren oft dieselben Männer, die man wieder in der
Werkstatt erscheinen sah, und die Rationalisierung wurde nach
denselben, gleichwohl vom Taylorismus selbst aufgegebenen
Prinzipien gesteuert: »Die Messung der ›Elementarzeiten‹ jeder
einzelnen Geste in einem Zyklus von Bewegungen, der eine Ar-
beit stereotyp werden läßt und die lebendige und individuelle
Beziehung zerstört, die sich zwischen Mensch und Maschine
einstellen soll.«21 Es ist wahr, daß die ›technische‹, ›objektive‹
oder ›wissenschaftliche‹ Bestimmung der Normen bis 1951 nur
als ein Argument unter vielen präsentiert wurde, ebenso wie
das Beispiel der Aktivisten. Die Arbeiter waren eingeladen, die
Normen im Rahmen einer Gewerkschafterversammlung zu be-
stätigen. Die Versammlung stand jedoch »unter dem Vorsitz des
Repräsentanten eines höheren Komitees […] Die Arbeiter, die
nicht gewohnt waren, in der Öffentlichkeit das Wort zu ergreifen,
sorgten ihrerseits nur für Unterbrechungen […] Im Augenblick
der Abstimmung fragte der Vorsitzende zunächst nach den Ge-
genstimmen, die durch ein Heben der Hand anzuzeigen seien.«22
Die Festlegung der Normen wurde zu einer ideologischen23 oder
politischen Angelegenheit. 1951 gewinnt die autoritäre Norm-
erhöhung aufgrund von Zeitnahme gegenüber der Selbsterrich-
tung der Normen die Oberhand. 1952 kehrt man zur freiwilligen
21 B. Sarel, S. 121–122.
22 B. Sarel, S. 124.
23 Neues Deutschland, 8.6.1949.
420 Gelegentliche Äußerungen
II 5
Diese wenigen Fakten erlauben es, die Natur des Regimes und
den gegenwärtigen Zustand der Revolution zu erahnen. Ange-
sichts der Widersprüche und Spannungen, wie man sie in einer
Gesellschaft wie der Ostdeutschlands feststellt, kommt die anti-
kommunistische Polemik – und kommen auch gewisse Marxi-
sten – zu dem Schluß, das System sei eine erneute Ausbeutung
des Proletariats. In unserem Sinne – und B. Sarel scheint der-
selben Meinung zu sein – kann sich das System weder in sei-
29 B. Sarel, S. 71.
30 Ebd., S. 155.
31 Neues Deutschland, 25.3.1950.
424 Gelegentliche Äußerungen
riat im Recht sein), weil der Austausch zwischen Partei und Pro-
letariat, die revolutionäre Vermittlung, nicht funktioniert haben.
Es ist die gesellschaftliche Form, die erscheint, wenn die Revolu-
tion nicht ›greift‹. Die Partei behauptet um so dringender, mit
dem Proletariat identisch zu sein, als das Proletariat sich weigert,
dies anzuerkennen. Man könnte beinahe sagen, ihre Macht und
ihre Privilegien seien die Form, welche die proletarische Revolu-
tion annimmt, wenn sie vom Proletariat angefochten wird. Selbst
dann sind Macht und Privilegien folglich nie ein göttliches Recht.
Das Regime hat kein einzigartiges Wesen, es besteht einzig und
allein im Hin und Her zwischen seinen beiden Prinzipien. Bald
zieht man in Betracht, mit allen Mitteln Disziplin zu erzwingen,
bald kehrt man zurück zur Beratung und zur Diskussion. Das
Regime würde auseinanderbrechen, wenn es einer der beiden
Tendenzen bis zum Ende folgen würde. Der Zickzack oder die
Spiralbewegung sind sein Gesetz. Es verfügt über kein anderes
Mittel, seinen Fortbestand zu sichern. Es reicht nicht zu sagen,
seine Politik sei widersprüchlich: In Wahrheit gibt es nicht ein-
mal zwischen den Phasen der Entspannung und den Phasen der
Spannung einen Widerspruch. Wenn sich die Münder öffnen,
wenn man zur Selbstkritik übergeht, dann besiegelt diese ›Libe-
ralisierung‹ erneut die Einheit von Proletariat und Partei, sie glie-
dert das Proletariat wieder ein, sie reiht es ein in den Kader und
bereitet es auf eine neue Periode der ›harten‹ Politik vor. Um-
gekehrt ist die Säuberung selten eine reine Repression: Sie stellt
die Vertreter bestimmter Widerstandsbewegungen kalt, aber man
trägt den von ihnen repräsentierten Widerstandsbewegungen
Rechnung, man greift sogar oft ihre Politik auf. Eine wesentliche
Zweideutigkeit, bei der die Freiheit der Autorität zugute kommt,
bei der die Repression die von ihr unterdrückten Widerstands-
bewegungen authentifiziert, bei der die Kritik eine Aussöhnung
ist, die Verurteilung eine Rechtfertigung, bei der sich alles zum
Ausdruck bringt, jeder Ausdruck jedoch indirekt, umgekehrt
und stillschweigend ist, bei der die Wahrheit selbst einen Aus-
druck von Falschheit annimmt, weil man hinter ihr unmittel-
bar drohend die andere Wahrheit spürt, bei der die Lügen selbst
Die Zukunft der Revolution 425
an das erinnern, was das Regime hätte sein sollen, was es sein
wollte …
1950 und 1951 schreibt das Neue Deutschland: »Was die Partei
sagt, ist wahr«, dann: »Die Partei hat immer Recht«, und schließ-
lich: »Was die Partei sagt, ist das einzig Wahre.«32 Am 21. Juni
1953, kurz nach dem Aufstand, nimmt das Zentralkomitee der
Partei eine Entschließung an, die folgendes besagt: »Wenn die
Massen der Arbeiter die Partei nicht verstehen, dann sind nicht
sie die Schuldigen, sondern die Partei.«33 Und Grotewohl erklärt
zwei Tage später vor den Arbeitern der Fabrik Karl Liebknecht:
»Die Partei erfreut sich nicht mehr der Liebe, der vollkomme-
nen Zuneigung der großen Massen an Werktätigen. Wir selbst
sind schuld daran […] Die Partei hat die Aufgabe, diesen Irr-
tümern, diesen Versuchen, den Massen Befehle zu erteilen […]
und sie wie Untergeordnete zu betrachten, radikal ein Ende zu
bereiten.«34 Der Arbeiter Bremse von Siemens-Plania erklärt ge-
genüber Rudolf Herrnstadt, der Mitglied des Zentralkomitees
und Chefredakteur des Neuen Deutschlands ist: »Ich bin stolz auf
den 17. Juni. Am 17. Juni haben die Arbeiter gezeigt, daß sie eine
Kraft sind, daß sie einen Willen haben.«35 Aber dies ist nicht al-
les: Am 24. Juli wird Herrnstadt aus dem Zentralkomitee ausge-
schlossen, und Grotewohl verlangt, man möge in der Partei dem
›Geist der Bußfertigkeit‹ ein Ende bereiten. Man ›macht weiter‹,
6 wie es in Huis Clos heißt … Was kann man der Partei vorwer-
fen? Was hätte sie nach allgemeinem Dafürhalten tun sollen? Alle
Tendenzen sind in diesen Fragen vertreten, alle Schwierigkeiten
kommen hierin zum Ausdruck. »Zwischen Partei und Klasse«,
sagt Ulbricht, »existiert beinahe kein Unterschied, keine Grenze.
Alle Argumente, die unter den Arbeitern oder den Werktätigen
in Umlauf sind, können auf den Versammlungen der Mitglie-
36 Ebd., 22.8.1948.
37 Helden der Arbeit, Berlin, Verlag Kultur und Fortschritt, 1951, S. 63.
Die Zukunft der Revolution 427
III 7
Die Entspannung, welche die UdSSR heute betreibt, ist nicht eine
jener zweideutigen Episoden, die ein erneutes Angehen der An-
gelegenheit vorbereiten. Eine Entspannung, die Tito Recht gibt,
könnte die jugoslawische Partei kaum wieder zur Disziplin brin-
gen. Es ist eine neue und beachtliche Tatsache, daß Malenkow,
der anläßlich der Frage des Atomkrieges Mißbilligung erfahren
hatte, nicht eliminiert wurde. Man kann also der Partei bezüglich
der Wahrheit voraus sein, ohne eine Gefahr für das Regime zu
sein? Man kann also anders sein, ohne ein Feind zu sein? Etwas
funktioniert nicht mehr in jenem Zusammenwirken von Repres-
sion und Selbstkritik, das wir beschrieben haben. Zwar ist die
Verminderung des repressiven Drucks progressiv, auch sie hat
ihre Pausen, ihre plötzlichen Sprünge, ihre Zweideutigkeiten,
aber diesmal scheint sie unumkehrbar zu sein. Überdies betrafen
die taktischen Entspannungen die sozialistischen oder christli-
chen Werktätigen. Bis heute war noch nie die Rede davon, eine
Entspannung gegenüber dem Kapitalismus zu erwägen. Zum er-
sten Mal gesteht das revolutionäre System ein, daß es nicht die
ganze Geschichte abdeckt. Vielleicht hat es durch sein Verlassen
sehen, daß die Linke kein leeres Wort ist, wie die revolutionären
und konterrevolutionären Denker einstimmig behaupten. Was
das Leben der revolutionären Länder umgibt, ist nicht die zivili-
satorische Kraft einer Klasse, es ist das krampfhafte Wunschden-
ken einer ›Elite‹. Um in einer Zivilisation an den Bedürfnissen,
am Leid und an der Ausbeutung der Proletarier etwas zu ändern,
muß man, eher als auf eine in ihrem Namen errichtete Diktatur,
auf ihre erneut mit unmittelbarer Heftigkeit auftretenden An-
sprüche zählen, und auf das, was sie von den neuen Techniken
fordern, derer sich die Menschen in naher Zukunft bemächtigen
werden.
(August 1955)
432
Ü BE R DI E E N T S TA L I N I SI E RU NG 1
nicht leichtsinnig oder vom Pech verfolgt. Wir haben nicht das
moralische Recht, ihnen die Ehre zu erweisen, wenn wir ihre Ent-
scheidung, die das Ende des durch die militärische Intervention
zerstörten kommunistischen Paktes bestätigte, mit Stillschweigen
übergehen.
Nun spricht man jedoch in den ›linken‹ Protesterklärungen
(welche die einzigen sind, auf die ich hier mein Augenmerk
richte), die in diesen Tagen veröffentlicht werden, den sowje-
tischen ›Sozialismus‹ stillschweigend frei von jedem Verdacht.
Man spricht von den ›Irrtümern‹ Chruschtschows, der die Ent-
stalinisierung auf allzu auffällige Weise in Gang gebracht hatte,
vom ›Fehler‹ Gerös, der die Russen um Hilfe ersuchte. Andere
präsentieren die ungarischen Ereignisse wie eine bedauernswerte
Auswirkung der ›Ungleichheit der Entwicklung‹, die dazu führt,
daß die Satellitenstaaten nach Konsumgütern verlangen, die sie
noch nicht produzieren können, während das russische Volk, das
seine Schwerindustrie errichtet hat und sie produzieren könnte,
nicht nach ihnen verlangt: Die Niederschlagung des Budapester
Aufstands wird in der erhabenen Geschichte der ›sozialistischen‹
Wirtschaft zu einer Lappalie. Unterschwellig versteht man, oder
man sagt, daß eine bessere Taktik, eine bessere Planung all dies
hätten vermeiden können und es künftig vermeiden werden.
Als schließe das Problem nicht alles ein, so wie es die Revolte
getan hat. Diese gelehrten Kindereien laufen nur darauf hinaus,
dort eine Krise zu verbergen, wo alles in Frage gestellt ist, sie
setzen eine Ideologie als selbstverständlich voraus, die das Er-
eignis gerade bestreitet. Alles in allem sind die Aufständischen
von Budapest in einem zweifelhaften Fall ums Leben gekommen:
Wir anderen, die nicht tot sind, können Gott sei Dank die Unge-
schicklichkeiten, die Irrtümer, die Fehler und die ungleiche Ent-
wicklung berücksichtigen und unser Vertrauen in den sowjeti-
schen ›Sozialismus‹ beinahe vollständig wahren … Der Aufstand
der ungarischen Kommunisten bedeutet, daß der Stalinismus
bis zum sozialistischen Wesen des Regimes gelangt ist, daß die
Entstalinisierung im System keine Retusche oder ein taktischer
Wechsel ist, sondern eine radikale Transformation, bei der es sein
434 Gelegentliche Äußerungen
1 Les Cahiers du Communisme, März 1956, und der von ihnen unter
Prinzip der autoritären Planung, das die moderne Form des er-
steren ist.
Man dachte, die autoritäre Planung habe das Verdienst, das
zu organisieren, was andernorts dem Schicksal, das heißt den
Interessen, überlassen wird, und in der Planwirtschaft seien bei-
spielsweise die Löhne in Anlehnung an die Bedürfnisse, die Er-
fordernisse der Produktion und die Menge der konsumierbaren
Produkte festgelegt. Im folgenden erfahren wir, was Chruscht-
schow darüber denkt:
»Man muß sagen, […] daß sich im System der Löhne und Ta-
rife eine Menge Unordnung und Verwirrung feststellen läßt […]
Es kommt häufig vor, daß die Löhne vereinheitlicht werden. Es
kommt aber auch vor, daß dieselbe Arbeit in unterschiedlichen
Betrieben und selbst im Rahmen eines einzigen Betriebes unter-
schiedlich bezahlt wird […] Daher stehen wir vor einer wichti-
gen politischen und ökonomischen Aufgabe: Die Vergütung der
Arbeit zu reglementieren.«3
Man dachte, in der Planwirtschaft seien die Menge und das
Tempo der Arbeit in Anlehnung an die Erfordernisse einer vorge-
sehenen, durchdachten und kontrollierten Produktion festgelegt.
Bulganin erklärt, die offiziellen Normen seien im Gegenteil ein
Mittel, diese Erfordernisse zu drehen und den Bedürfnissen der
Lohnempfänger so gut es eben geht gerecht zu werden:
»Die Festlegung herabgesetzter Normen, und infolgedessen
ihr erhebliches Überbieten, steht am Ausgangspunkt eines trü-
gerischen Anscheins von Wohlstand in den Betrieben, und sie
schwächt die Aufmerksamkeit der Arbeiter, Vorarbeiter und In-
genieure gegenüber einer wirklichen Erhöhung der Produktivität
der Arbeit. Im Grunde werden die Normen gegenwärtig nicht
durch das technische Niveau und das Niveau der Organisation
der Arbeit definiert, sondern vom Wunsch, sie an ein bestimm-
tes Lohnniveau anzupassen.«4 Die wirklichen Produktionskosten
stehen also in keinem Verhältnis zu den veranschlagten Kosten,
und die Produktivität wird nicht gesteuert. All dies muß letzten
Endes wohl irgendwo in Erscheinung treten: Es kommt ein Au-
genblick, in dem der Abstand zwischen Wunsch und Ergebnis
offenkundig wird. Dann ist der Druck der Tatsachen so stark, daß
das System darauf verzichtet, Bilanz zu ziehen: »Wenn man unter-
sucht«, sagt Chruschtschow, »wie manche Region oder mancher
Distrikt, wie manche Kolchose oder Sowchose sich ihrer sozia-
listischen Verpflichtungen entledigt, dann wird man bemerken,
daß die Worte nicht den Taten entsprechen. Überzeugt man sich
übrigens ganz allgemein von der Richtigkeit dieser Verpflichtun-
gen? Nein, in den meisten Fällen sieht man davon ab. Niemand
ist in moralischer oder in materieller Hinsicht verantwortlich für
die Nichterfüllung der Verpflichtungen.«5
So näherungsweise sie auch zutreffen mag, wenn sie in einem
unterentwickelten Land auf eine gelehrige Arbeiterschaft ein-
wirkt, so kreativ ist die autoritäre Planung, und es ist hinlänglich
bekannt, zu welcher Macht die UdSSR herangereift ist. Dies ist
nicht die Frage. Sie ergibt sich vielmehr aus der Tatsache, daß
die sowjetischen Machthaber vom XX. Kongreß an vor einer rei-
fer gewordenen Bevölkerung nicht länger zu verbergen suchen,
daß die autoritäre Planung nicht ausreicht, um die Wirtschaft zu
lenken. Nachdem es durch heroische Mittel, ohne einen Appell
an das Kapital, seine eigene Industrie gegründet hat, verspürt
das Regime das Bedürfnis, von der ›Planung‹ zur Bilanzierung
überzugehen, von der reinen Autorität zur Erkenntnis, vom
Heroismus zur Vernunft. Der XX. Kongreß ist ein Appell an die
Wahrheit und an das Bewußtsein, das aus den Erfordernissen
der russischen Wirtschaft entsteht, und nicht etwa eine kühne
Improvisation, die von den Schwierigkeiten der Satellitenstaaten
angeregt wird.
Wenn er zur politischen Kritik übergeht, so ist es dieselbe
Trennung des Offiziellen vom Wirklichen, die in Erscheinung
tritt, diesmal sogar im Zentrum des Regimes. Die Diktatur
müßte vom Proletariat getragen werden, oder – da das Proleta-
von einer Kuh gelieferten Milch beträgt 484 Liter. Den Akten des
Sekretärs zufolge haben die Kolchosbauern gar keine Milch ab-
geliefert. In dieser Hinsicht haben sie sich also als absolut unpro-
duktiv erwiesen.«7 Der Kongreß lacht und applaudiert, merkt das
Protokoll an dieser Stelle an. Ein unvergleichliches Vergnügen,
endlich öffentlich gesagt zu hören, was man seit langem wußte,
ohne es auszusprechen.
Chruschtschow dehnt diese Bemerkungen auf alle politischen
Kader aus: »Auf den ersten Blick«, sagt er, »scheinen sie sehr aktiv
zu sein, und tatsächlich arbeiten sie viel, aber all ihre Aktivität
ist absolut unproduktiv. Sie sitzen bei ihren Versammlungen bis
zum frühen Morgen beisammen, sie rennen in die Kolchosen, ta-
deln die Zuspätkommenden, halten Konferenzen ab und Reden,
die voller Gemeinplätze und in der Regel vorab geschrieben sind
und dazu aufrufen, sich ›auf der Höhe zu zeigen‹, ›die Schwie-
rigkeiten zu überwinden‹, ›eine Wende zu bewirken‹, ›vertrau-
enswürdig zu sein‹ etc. Ein Machthaber dieser Sorte kann sich
jedoch noch so sehr ereifern, am Ende des Jahres wird es keinerlei
Verbesserung geben. So wie man sagt ›Er hat sein Bestes getan‹,
was ihn nicht daran gehindert hat, so unbeweglich wie ein Öl-
götze dazusitzen.«8
Kurz gefaßt sind die Führungskräfte ›beschäftigte Nichtstuer‹.
Und es handelt sich nicht um eine menschliche Schwäche. Die
Wirkungslosigkeit hängt mit der Ideologie zusammen: »Unsere
ideologische Arbeit«, sagt Suslow, »ist größtenteils unnütz, denn
sie beschränkt sich darauf, immer wieder dieselben bekannten
Formeln und Thesen zu wiederholen, und sie zieht mitunter
Glossatoren und Dogmatiker heran, die fernab vom Leben ste-
hen.«9 Die Entartung der Ideologie läßt sich auf allen Ebenen
feststellen. Die Wirtschaftswissenschaftler, sagt Chruschtschow,
»beteiligen sich im Verlauf der vom ZK der KPdSU einberufenen
Konferenzen nicht an der Untersuchung der wesentlichen Fragen der
Doppelgänger oder ein Double ist, und man lädt ihn ein, durch
eine Vervielfachung seiner lästigen Interventionen wieder zu ei-
nem realen Faktor der Geschichte zu werden.12 Der Aufruf zur
Wahrheit und zum Wirklichen konnte also nicht konsequent und
ohne Verheimlichungen sein, wenn die Diktatur die Diktatur
bleiben muß. Der Bruch zwischen der Produktivität und dem
Plan, zwischen dem Proletariat und der Diktatur konnte nicht
offen angeprangert werden, ohne das Wesen und die Philosophie
des Regimes in Frage zu stellen. Und dennoch mußte man, da es
hierbei um die Produktivität und das Leben des Systems geht,
einen entscheidenden Schlag führen …
Die Lösung bestand darin, die Regimekritik in Form einer
Mißbilligung Stalins zu präsentieren. Das Sakrileg war ausrei-
chend und die Parole deutlich genug, um einen Schock auszulö-
sen. Und gleichzeitig ließ die auf eine Person und den Kult, den
man ihr gewidmet hatte, gebündelte Kritik die Prinzipien und
das System unberührt. Man focht das System an, indem man es
verstärkte, man verstärkte es, indem man es anfocht. Darin liegt
vielleicht die Meisterleistung des Kommunismus: in einer Be-
wußtwerdung ohne das Wissen des Subjekts, einer unmerklichen
Revolution und den Vorteilen des Wiedererstarkens ohne die Un-
annehmlichkeiten eines Schuldbekenntnisses. Wie alle Meister-
leistungen, so ist auch diese schwierig. Indem sie die Vorteile auf
sich vereinigte, zog die Entstalinisierung auch die Gefahren auf
sich: Es gab auch jenes Risiko, daß die einen nicht hören wollen,
was man ihnen mit Hilfe von Andeutungen sagte – und daß die
anderen nur zu gut verstehen und alles in eine deutliche Spra-
che übertragen. Dies ist, was sich bis zu diesem Zeitpunkt ereig-
net hat. Man begreift, daß die Offenheit des XX. Kongresses die
westlichen Parteien zusammenfahren ließ. Wenn Suslow ironisch
über die Akten spricht, die keine Milch produzieren, dann geben
sich die Aktivisten ganz dem Vergnügen hin, zu sehen, wie sich
das Offizielle mit dem Wirklichen zusammenschließt, und das
Regime zieht alsbald Gewinn daraus. Um diesen höheren Humor
12 Lefort, S. 55.
442 Gelegentliche Äußerungen
eine wahre Kritik wäre, ist jene, die bis zum System reicht. Wie
immer bei einem guten dialektischen Vorgehen, so kann das Ziel
nicht auf beliebigem Wege erreicht werden: Die Kritik am System
wurde ›von oben her‹ begonnen – und es könnte gar nicht an-
ders sein, da gerade das System ›das demokratische Leben einge-
schränkt‹ hatte. Zumindest muß sie, die von oben gekommen ist,
sich bis hin zur Basis fortentwickeln: »Ein normales demokra-
tisches Leben wieder zu erlernen – nach dem von Lenin in den
ersten Jahren der Revolution errichteten Vorbild –, das heißt die
Initiative im Bereich der Ideen und der Praxis wieder zu erlernen,
die Suche nach der leidenschaftlichen Diskussion, jenen Grad der
Toleranz gegenüber den Irrtümern wieder zu erlernen, der unab-
dingbar ist, um die Wahrheit aufzudecken, die vollkommene Un-
abhängigkeit des Urteils und des Charakters wieder zu erlernen
[…] die Kader einer Partei umzuerziehen, mehrere hunderttau-
send Männer und Frauen, und durch sie die ganze Partei und ein
unendlich großes Land, in dem die zivilen Lebensbedingungen
von Region zu Region immer noch sehr verschieden sind, dies ist
eine gewaltige Aufgabe, die weder durch drei Jahre Arbeit noch
durch einen Kongreß erfüllt werden kann.«
Togliatti kommt dreimal darauf zurück: Das Übel war all-
umfassend, und genauso allumfassend muß die Abhilfe sein. Es
gibt dabei »allgemeine Irrtümer« und ein »zentrales Problem,
das der Gesamtheit der Bewegung gemein ist«. Wenn die Kritik
bis dorthin reicht, wenn es im Regime nichts gibt, das von ihr
ausgenommen werden könnte, stellt sie es dann nicht in seinem
Wesen und seinen Prinzipien in Frage? Es wäre ein Irrtum, dies
zu glauben, sagt Togliatti, aber man kann sich hierin in gutem
Glauben täuschen: »Ich schließe nicht aus […], und ich lege Wert
darauf, dies in aller Offenheit zu sagen, daß es Leute gibt, die sich
in allerbestem Glauben […] schließlich fragen, ob man heute nicht,
angesichts der an Stalin geübten Kritik, und angesichts der Tatsa-
che, daß Stalin über einen sehr langen Zeitraum hinweg der Haupt-
vertreter der kommunistischen Politik gewesen ist, die Glaubwür-
digkeit aller Stufen dieser Politik in Frage stellen muß […], indem
man letztlich […] – warum nicht? – bis zu den entscheidenden
444 Gelegentliche Äußerungen
13 L’Humanité, 3.7.1956.
14 Ebd.
Über die Entstalinisierung 445
mit Trotzkis ›Demokratie der Arbeiter‹ und auch nicht mit den
Thesen aus Der Staat und die Revolution. Die Entstalinisierung
kehrt nicht zu dem zurück, was vor Stalin war. Sie geht über Sta-
lin hinaus einer anderen Zukunft entgegen. Der Horizont eines
entstalinisierten Kommunismus ist nicht Lenins Horizont.
4 Hervé stellt sich zu Beginn von La Révolution et les fétiches die
Frage, ob die Revolution durch die Koexistenz auf unbestimmte
Zeit aufgeschoben wird. Am Ende gelangt er zu dem Schluß: Sie
wird weder aufgeschoben noch ausgelassen, sie verändert ihren
Charakter. Denn die Revolution kommt nicht unbedingt in Form
eines Aufstandes, nicht einmal mit Gewalt oder gar mit einem
5 ›Prager Staatsstreich‹.15 Er verlangt, daß man »den Begriff der
Reform noch einmal überdenkt«, ebenso wie die Begriffe Pla-
nung, Verstaatlichung und Staatskapitalismus.16 Er spricht mit
einem Fragezeichen vom »tatsächlichen Reformismus« und
sieht schließlich »Reformen« entgegen, »die in der politischen
Situation vorübergehend nicht anwendbar wären, die aber auf-
grund ihrer Anziehungskraft auf die Massen den Kampf vor-
antreiben und die Bedingungen ihrer praktischen Umsetzung
6 schaffen könnten.«17 Damit ist er nicht weit von der klassischen
Vorstellung der Reformen als Mittel zur Agitation und Auftakt
zur Machtübernahme entfernt … Wozu sollte man dann aber
noch die Reformen und den Rest berücksichtigen? Diese klu-
gen Untersuchungen werden von der Logik des Kampfes schnell
überholt sein. »Es scheint so, wenn man Chruschtschow Glau-
ben schenkt, als könne die Form der Diktatur des Proletariats
gar nicht notwendig sein.« Zu einem Thema dieser Art würde
man lieber etwas Positiveres hören. Man müßte wissen, daß es
nur darum geht, den Voluntarismus der Diktatur des Proletari-
ats und der autoritären Planung – und einer intelligenteren und
offeneren Form des Stalinismus – auf andere Weise in Gang zu
bringen.
Man sieht also, was man über die Parole einer Volksfront den-
ken muß, die von Hervé, und jüngst auch noch von Sartre, auf-
gegriffen wurde. Sie gehört nicht zu jenen Parolen, die zur poli-
tischen Klarheit beitragen. Denn von welcher Volksfront spricht
man schließlich? Es gibt die gesellschaftliche Bewegung von
1936, die Streiks mit ihren Fabrikbesetzungen, die eine Über-
nahme der Produktionsmittel durch die Arbeiterklasse auf die
Tagesordnung setzten. Es ist sicher nicht diese Volksfront, an die
man als ein Mittel zur Vereinigung der Linken denkt. Ist es die
Volksfront im Sinne von Thorez, die den Streiks ein Ende berei-
tet, die aber, kraft verbaler Gewaltanwendung, die Partei aus ihrer
Verantwortung entläßt? Oder denkt man gar an das Dreipartei-
ensystem der Nachkriegszeit, bei dem kommunistische Minister
gegen eine Regierung stimmten, der sie weiterhin angehörten?
Es ist das genaue Gegenteil dieser ›konstitutionellen Politik‹, die-
ses Engagements für die Probleme des Tages, dieser ernsthaften
Gemeinschaftsaktion mit den Nicht-Kommunisten, das Hervé
mit Togliatti ersehnt. Denkt man schließlich an die Volksfront
im Sinne Blums, dieser janusköpfigen, die sich der Arbeiterklasse
wie der Beginn des Sozialismus präsentiert und den Betriebslei-
tern wie ihre letzte Chance, die letztlich weder das eine noch das
andere ist und auf der Ebene der Reform ebenso scheitert wie
auf der Ebene der Revolution? Man kann nur dann ernsthaft von
einer Volksfront reden, wenn man das Problem aufgreift, auf das
Blum selbst gestoßen ist – wenn man eine Aktion bestimmt, die
tatsächlich die Überwindung der kapitalistischen Anarchie ist,
ohne der Beginn der Diktatur des Proletariats zu sein. Dies nennt
man einen Reformismus.
In Wahrheit ist der Reformismus keine alte Sache: Er steht al-
lein auf der Tagesordnung. Gomulka stellt fest, daß man eine
Bilanz der Nation ziehen müsse, daß es ohne Bilanz keinen Plan
gibt, daß das Problem einer effektiven Führung der Wirtschaft
durch den Menschen nach der Übertragung der Produktions-
mittel an den Staat ganz erhalten bleibt und daß die diktatorische
Wirtschaft nur an der Schwelle zu diesem Problem steht. Dies
bedeutet, daß die rivalisierenden Formen des Eigentums anhand
454 Gelegentliche Äußerungen
Ü BE R DI E E RO T I K 1
Ist die Erotik eine Form des intellektuellen Mutes und der Frei-
heit? Was aber würde aus Valmont ohne die Unschuld Céciles
werden, ohne die Keuschheit der Präsidentin? Es gäbe für ihn 2
nichts zu tun. Was würde ohne die guten Gefühle aus den schlech-
ten Gefühlen werden? Das Gefallen an der Profanierung setzt die
Vorurteile und die Unschuld voraus. Es setzt sie vielleicht sogar
beim Schänder selbst voraus, und am Ende des Buches vermutet
man, daß zumindest Mme de Merteuil sich nur deshalb auf den
Wettstreit der Boshaftigkeit, den sie und Valmont untereinander
begonnen haben, eingelassen hat, weil ihr an Valmont lag. Es gibt
nur Blumen des Bösen, wenn es ein Gut und ein Böse gibt, und
nur dann läßt sich die Sache Satans vertreten, wenn auch Gottes 3
Sache vertreten wird. Eine bestimmte Art von Erotik setzt alle
traditionellen Verbindungen voraus und hat weder den Mut, sie
zu akzeptieren, noch den Mut, mit ihnen zu brechen. In diesem
Fall ist ›libertin‹ eine Verkleinerungsform.
Die surrealistische Erotik wäre eine eigene Studie wert. Sie ist
etwas ganz anderes als das Gefallen an der Profanierung. Sie ist
die Rückkehr zur primordialen Einheit, zum Unmittelbaren, zur
Unterschiedslosigkeit von Liebe und Begehren, so wie das auto-
matische Schreiben der Aufruf zu einem nicht geleiteten und in
seinem Sinn unklaren Sprechen war. Zu Recht haben die Sur-
realisten jedoch bald begriffen, daß nicht jedes unwillkürliche
Schreiben diese Kraft besitzt: Die Worte der Sibylle nutzen sich
ab, jene, die überdauern, liegen nicht fertig vorgeformt in unserer
Kehle, sondern zeichnen sich im Versuch des Lebens und Spre-
chens ab. Es hat einen Surrealismus gegeben, der nach den Wun-
dern im Rohzustand suchte, in jeder Zersetzung der bestehenden
Welt. Im Extremfall ist dies die Kunst der Possen und Neckereien.
Der Surrealismus, der Bestand hatte, begnügte sich nicht damit,
die gewohnte Welt zu zerreißen, er bildete aus ihr eine neue. Die
Über die Erotik 457
Amour fou gilt es erst noch zu schaffen, über die Eigenliebe, die
Lust an der Herrschaft und das Gefallen an der Sünde hinweg.
Die profanierende Erotik hängt zu sehr mit dem zusammen,
was sie leugnet, um eine Form der Freiheit sein zu können. Sie
ist nicht immer ein Zeichen seelischer Stärke. Ich kannte einen
Schriftsteller, der von nichts als Blut und Zerstörung sprach, und
der, da man ihn fragte, was er fühle, nachdem er getötet habe,
antwortete, er habe ja überhaupt niemanden getötet, aber wenn
er es getan hätte, dann hätte er sicher das Gefühl, ›in ein Loch
gefallen‹ zu sein. Unsere sadistischen Mitmenschen sind oft
sehr gutmütig. Es gibt Briefe von de Sade, die ihn als jämmer-
lich und eingeschüchtert von der öffentlichen Meinung zeigen.
Weder Laclos noch de Sade haben während der Französischen
Revolution die Rolle Luzifers gespielt. Und andererseits zeigt uns
das, was wir vom privaten Leben Lenins und Trotzkis wissen,
daß sie herkömmliche Menschen waren. Die Treuherzigkeit und
der Optimismus der marxistischen Thesen über die Sexualität
haben keinen großen Bezug zur Libertinage. Das Abenteuer einer
Revolution wird auf einer luftigeren Bühne als der von de Sade
gespielt, und Lenin gleicht eher Richelieu als de Sade.
Ziehen wir auch in Betracht, daß unsere großen Erotiker stets
die Feder in der Hand halten: Die Religion der Erotik könnte sehr
wohl nur ein literarisches Faktum sein. Die Eigenart der Litera-
tur besteht darin, dem Leser glaubhaft zu machen, man finde im
Menschen und in dem, was er erlebt, in konzentrierter Form jene
seltene Substanz, die seine Werke erahnen lassen. Dies ist jedoch
nicht wahr: Im Buch ist alles vorhanden, oder zumindest das Be-
ste. Die Leserschaft glaubt lieber, der Schriftsteller müsse, wie ein
Wesen von unbekannter Art, bestimmte Empfindungen haben,
in denen alles enthalten sei und die gewissermaßen schwarze
Sakramente sind. Der erotische Schriftsteller setzt auf diese Le-
gende (und verbreitet sie nur um so mehr, desto mehr Menschen
allein das Geschlecht einen Zugang zum Außergewöhnlichen
verschafft). Darin zeigt sich jedoch ein Spiel der wechselseitigen
Spiegelung von Geschriebenem und Erlebtem. Ein gut Teil der
Erotik findet nur auf dem Papier statt. Der nicht erotische, offe-
458 Gelegentliche Äußerungen
1 Ü BE R DI E L OK A L NAC H R IC H T E N
*
Es gibt also einen guten und einen schlechten Gebrauch der Lo-
kalnachrichten, vielleicht sogar zwei Sorten von Lokalnachrich-
ten, je nach der Art der Enthüllung, die sie mit sich bringen. Was
verborgen bleibt, ist zunächst einmal das Blut, der Leib, die Wä-
sche, das Innere der Häuser und der Lebensläufe, die Leinwand
unter der abblätternden Malerei, die Materialien unter dem, was
Form angenommen hatte, die Kontingenz und schließlich der
Tod. Den Unfall auf der Straße (den man durch eine Scheibe
sieht), den Handschuh auf dem Gehweg, eine Rasierklinge dicht
vor dem Auge, das Prickeln des Begehrens und seine Lähmung –
Buñuels Der andalusische Hund hat all diese Begegnungen mit
dem Vormenschlichen beschrieben, und man kann stets die-
selbe Klarheit des Traumes erlangen, man kann dieselbe über-
raschende Gefühlsregung jedesmal erzielen, wenn man sich vom
Geschehen abschneidet, wenn man sich zum Fremden macht: Bei
einem Mann, der am Telefon spricht und dessen Worte ich nicht
hören kann, ist jener Anschein einer lächerlichen Intelligenz, sind
jene Abstufungen ins Absurde ein faszinierendes Schauspiel –,
aber sie geben uns alles in allem nur unseren Standpunkt eines
verständnislosen Beobachters zu verstehen.
Wir müssen die kleinen wahren Begebenheiten Stendhals bei-
seite oder in übergeordneter Position lassen. Sie decken nicht
bloß das Darunterliegende auf, den Staub, den Schmutz und den
Bodensatz eines Lebens – sondern vielmehr die unbestrittenen
Über die Lokalnachrichten 461
*
Die kleine wahre Begebenheit braucht nicht heldenhaft oder an-
mutig zu sein. Sie kann auch ein Leben sein, das im gesellschaft-
lichen Arrangement erstickt und untergeht: der Provokateur
Korthis, dem ein Soldat eine Kugel in den Bauch schießt und
der den Innenminister, der ihn einstellt, seine Geheimnisse aus-
plaudern läßt – aber nur ein wenig, weil er weiß, daß man ihn im
Krankenhaus vergiften kann, da er, wie Leuwen, ein ehemaliger
Soldat ist, da er an das Elend gewöhnt ist und ahnt, daß man das
462 Gelegentliche Äußerungen
Ü BE R C L AU DE L 1
Wenn ein Genie derjenige ist, dessen Worte mehr Sinn enthal-
ten, als er selbst in sie hineinlegen könnte, derjenige, der mit
der Beschreibung der Reliefs seines privaten Universums in den
verschiedensten Menschen eine Art Erinnerung an das wecken
kann, was er im Begriff ist zu sagen, so wie die Tätigkeit unserer
Augen ganz unschuldig ein Schauspiel vor uns entfaltet, das auch
die Welt der Anderen ist, dann ist Claudel manchmal ein Genie
gewesen. Ob er es genauso oft gewesen ist wie Shakespeare oder
wie Dostojewski, zwei seiner Vorbilder, oder ob im Gegenteil das
Claudelsche Schnurren, wie Adrienne Monnier es ausdrückte,
eine gewisse Art, das Verpuffen der Worte zu organisieren, nicht
oftmals Claudels Wort ersetzen würde, dies ist eine andere Frage,
die nicht so wichtig ist. Auf jeden Fall gibt es kein Genie, das auf
Dauer ein solches wäre, das Genie ist keine bestimmte Gattung
oder Rasse der Menschheit.
Ob man es nun tut, um Claudel zu ehren, indem man ihn
zu den Übermenschen zählt, oder im Gegenteil, um das Werk
auf Umwegen mittels einiger ausgewählter Anekdoten einzuho-
len, von Genie zu sprechen bedeutet, zu postulieren, ein Mensch
könne aus demselben Stoff gemacht sein wie das, was er geschrie-
ben hat, und er habe das Geschriebene so hervorgebracht wie ein
Apfelbaum Äpfel hervorbringt. Im Augenblick des Todes, in dem
der Lebende und der Schriftsteller mehr denn je miteinander
verbunden sind, da sie gemeinsam enden und man zum ersten
Mal das Schweigen jener Stimme vernimmt, in diesem Augen-
blick ist es natürlich, daß man versucht ist, die Frage nach dem
Genie zu stellen. Ob man dies aber pietätvoll oder boshaft tut,
man unterliegt immer demselben grausamen Irrtum hinsichtlich
der schriftstellerischen Situation. Liebe und Haß kommen darin
überein, daß man ihnen die Ehre erweist, aber auch die Pflicht
auferlegt, unvermeidlich gewesen zu sein. Wollte man ihm ge-
Über Claudel 465
Auf diese Weise ist es wohl deutlich: Er, der das Unverständnis
zu seinen Eigenschaften zählte, hatte perfekt verstanden. Warum
also stritt er es ab? Wenn man das Werk betrachtet, drängt sich
die Frage noch weit mehr auf. Denn die Welt der Dramen Clau-
dels ist so wenig konventionell, so wenig vernünftig und so wenig
›theologisch‹, wie man sich nur denken kann. Dieser Botschafter
hat nie Monarchen oder große Persönlichkeiten in Szene gesetzt,
die nicht unmerklich lächerlich waren: der spanische König und
5 sein Hof, in Le Soulier de Satin, die bei ihren Ausführungen stän-
dig von den Bewegungen des Pontons unterbrochen werden,
auf dem sie ihren Wohnsitz gewählt haben – Papst Pius, der vor
Coûfontaine einschläft, und es ist diese Schläfrigkeit eines alten
Mannes, die auf Erden und auf der Bühne des Théâtre-Fran-
çais den Widerstand der Kirche gegenüber der Gewalt verkör-
6 pern soll – der amputierte Rodrigue, der sich in die Gespräche
einer provozierenden Schauspielerin verwickeln läßt, die der
König von Spanien geschickt hat, gibt sich die Blöße, vor dem
Hof, und in was für einem Tonfall, dreiste Machtansprüche zu
erheben, um letztlich zwei Soldaten übergeben zu werden, de-
nen es nicht einmal gelingt, ihn zu verkaufen … Die einzigen
Personen, die Claudel ganz ernst nimmt, sind jene, die ganz in
einer einfachen Leidenschaft, einem Kummer oder einem ir-
dischen Gut aufgehen: Mara ist zu recht eifersüchtig, weil sie
7 häßlich und ungefällig ist, Sygne hat recht, im letzten Moment
das Opfer abzulehnen, das sie dennoch gebracht hat, weil ›alles
ausgeschöpft ist‹ und niemand von einem menschlichen Wesen
8 verlangen kann, darüber hinauszugehen, und Turelure hat auf
ihre Weise nicht unrecht daran getan, die Mönche der Abtei in je-
nem Jahr I, in dem die Renekloden so gut waren, ins Paradies zu
stoßen.
»Wir waren im Begriff, alles zu öffnen, wir waren im Be-
griff, alle zusammen zu schlafen, wir wollten gerade ohne
Zwang und ohne Höschen inmitten des wiederbelebten Univer-
sums spazieren gehen, wir wollten uns gerade über die ganze,
von Göttern und Tyrannen befreite Erde hinweg in Bewegung
setzen!
468 Gelegentliche Äußerungen
Schuld sind auch all diese alten Dinge, die nicht solide waren,
es war zu verlockend, ein wenig an ihnen zu rütteln, um zu sehen,
was passiert!
Ist es unsere Schuld, wenn alles über uns hereingebrochen ist?
Wahrhaftig, ich bereue nichts.« 9
Man muß wirklich lesen können, um in diesen gewundenen
Linien die gerade Schrift Gottes wiederzufinden. Im ersten Au-
genblick handelt es sich eher um ein überbordendes Chaos, ein
Übermaß an nutzlosen oder abgeschmackten Details. Von Don
Mendez Leal, der durch die Nase spricht, bis zur Negerin Jobar-
bara, vom heiligen Adlibitum bis zum neapolitanischen Un-
teroffizier, von den Kaiserreichen bis zu den Kontinenten, den
Rassen, den Krankheiten und den Sternbildern bietet auf den
ersten Blick nichts einen Anlaß zur Ehrerbietung. Wenn diese
Welt ein Gedicht ist, dann nicht etwa deshalb, weil man zuerst
ihren Sinn erkennen würde, sondern weil sie aus Zufällen und
Paradoxen besteht. »Ich sehe Waterloo; und dort unten, im In-
dischen Ozean, sehe ich zur selben Zeit einen Perlenfischer, des-
sen Kopf plötzlich nahe bei seinem Katamaran aus dem Wasser
auftaucht.«5 Wenn Claudel, wie man weiß, nie aufgehört hat, das 10
in diesem Durcheinander wirkende Prinzip zu verehren, dann
hat er es einmal als Stille, als Abgrund bezeichnet, und nie hat er
jene zweideutige Aussage zurückgezogen, die lautet: »Die Zeit ist
das allem je Seienden dargebotene Mittel, zu sein, damit es nicht
mehr sein muß. Es ist die Einladung zum Sterben, sich mit jedem
Satz im erklärenden und totalen Einverständnis aufzulösen, das
Wort der Verehrung im Ohr von Sigè dem Abgrund verklingen
zu lassen.«6
Was ihn so viele seinen Glaubensüberzeugungen gleichwohl
fremd gegenüberstehenden Menschen berühren läßt, ist der Um-
stand, daß er einer der wenigen französischen Schriftsteller ist,
die das Getöse und die Verschwendungssucht der Welt fühlbar
gemacht haben. Die neue Logik, von welcher die Art poétique
sprach, hat nichts zu tun mit jener Logik der klassischen Theo-
dizeen. Claudel macht es sich nicht zur Aufgabe, zu beweisen,
daß diese Welt die beste aller möglichen Welten sei, und auch
nicht, die Schöpfung herzuleiten. Er nimmt sie, wie sie ist, mit
ihren Wunden, ihren Beulen, ihrem schwankenden Schritt, und
er bestätigt nur, daß man in ihr von Zeit zu Zeit unverhoffte Be-
gegnungen feststellen kann, daß das Schlimmste nicht immer ge-
wiß ist. Durch diese Zurückhaltung, diesen Freimut und diesen
Humor reicht sein Handeln über den Katholizismus hinaus. Aber
dies führt uns auf unsere Frage zurück: Noch einmal sei gefragt,
warum der so überaus ›offene‹ Dichter im denkbar verschlossen-
sten Menschen zu finden war?
Es ist ein religiöser Widerspruch: Alle Dinge tragen zum Gu-
ten bei, auch die Sünden, sagt Augustinus, und Claudel wieder-
holt: »das Gute fügt zusammen«, es ist in der Lage, das Schlechte
vergleichsweise gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Ohne Mara,
ohne Turelure und ohne Coûfontaine würde es keine Violaine
und keine Sygne geben. Das Schlechte ist jedoch nur dann ge-
rechtfertigt, wenn es nun einmal geschehen ist. Vor dem Tatbe-
stand bleibt es das Schlechte, und das Gesetz lautet weiterhin,
es um jeden Preis zu vermeiden. In der Religion gibt es ein uni-
verselles Verzeihen, aber in jedem Augenblick auch die Gefahr
der Verdammnis. Deshalb strebte Coûfontaine eilig seinem Ziel
entgegen, in der Gewißheit, daß man ihm verzeihen werde, wenn
er es nur schnell genug erreichte: »Was wissen wir über Gottes
Willen, wenn für uns das einzige Mittel, ihn zu kennen, darin
liegt, ihm zu widersprechen?« Deshalb hat Claudel aber auch nie
erkennen lassen, wie sehr er die Anderen verstand. Deshalb hat
er dieses Bollwerk aus absichtlichem Unverständnis um sich er-
richtet. Zunächst einmal muß man auf das Schlechte verzichten,
und erst dann kann man es vergleichsweise rechtfertigen. Diese
jungen Leute oder diese Literaten, die sich nähern, muß man
grob behandeln. Sie wollen geradewegs zur Freiheit fortschreiten,
ohne Opfer in Kauf nehmen zu müssen. Gott weiß, was ihnen
einfallen würde, um ihre persönliche Führung aus dem etiam
peccata zu ziehen. Beginnen wir damit, sie in den Beichtstuhl
470 Gelegentliche Äußerungen
1 Ü BE R DI E E N T H A LT U NG
Gide, so sagt man, ging unter dem Vorwand nicht zur Wahl, daß
seine Stimme genausoviel zähle wie die seiner Concierge. Diese
Bemerkung ist der Überlegung wert. Hätte Gide ein Mehrstim-
menwahlrecht für kultivierte Menschen gefordert, dann wäre die
Forderung seinerseits übertrieben gewesen. Er wußte besser als
jeder andere, daß die Kultur keine Gewähr für die Urteilskraft
bietet. In den Augen des Gide von 1930 muß der Gide von 1916,
der Leser der Action Française, so etwas wie ein ›Concierge‹ ge-
wesen sein. In den Augen des Gide von 1940, war es auch jener
von 1930. Die kleinste Rückbesinnung auf sich selbst mußte Gide
davon abbringen, Anspruch auf ein Lenken der Menschen zu er-
heben.
Sicher wollte er etwas anderes sagen. Nicht, daß die Wahrheit
in den Händen der Kulturmenschen liegt, sondern daß sie diese
Wahrheit nur aus den Händen anderer empfangen können. Wer
an der Wahl teilnimmt, legt seine sorgfältig gereiften Überzeu-
gungen ab, er ist einverstanden damit, daß sie nur als eine ›Mei-
nung‹ in der allgemeinen Bestandsaufnahme der Meinungen zäh-
len, er billigt im voraus die Entscheidung der Anderen. Warum
sollte er ihnen auf einmal bei einer Abstimmung zugestehen, was
er ihnen in einem Gespräch nicht zugestehen würde? Wenn es
eine Wahrheit gibt, dann aufgrund freier Überlegung. Gide wird
folglich eine Zeremonie ablehnen, bei der sich das eigene Urteil
dem Urteil der Anderen unterwirft. Sollen sie doch gegen ihn
regieren, wenn sie wollen, aber nicht daß man ihn bitte, hierzu
seine Unterschrift zu leisten …
Was Gides Besonderheit ausmacht, ist der Purismus, der ihn
daran hindert, zur Wahl zu gehen, weil er das Prinzip der Wahl
nicht zuläßt. Die meisten Wähler ziehen es vor, ihre List in den
Spielregeln selbst anzuwenden. Aber im Grunde akzeptieren sie
das Prinzip genausowenig wie er. Wer unter uns respektiert denn
472 Gelegentliche Äußerungen
*
Die revolutionäre Politik weiß dies seit langem, und sie widmet
sich dem Spiel nur, um darüber hinauszugehen. Der Revolutio-
när, der die wahren Interessen des Proletariats vertritt, kann die-
ses nicht in jedem Augenblick zum Richter über diese Aufgabe
erheben: Es ist nicht wahrscheinlich, daß die Mehrheit – selbst
unter den Proletariern – jene Notwendigkeiten erkennt, die nur
den am stärksten Benachteiligten und den am besten Informier-
ten bewußt werden. Die Wahl befragt die Menschen, während sie
sich erholen, außerhalb der Berufstätigkeit und außerhalb des
Lebens, sie appelliert an die Vorstellungskraft, die oft schwach ist,
so daß die Frage, wie man leben will, die Schwelle zur Wahlkabine
nicht überschreitet. Wie sollte eine Mehrheit revolutionär sein?
Die Vorhut ist nicht der Großteil des Heeres. Nicht das Über-
einkommen der Meinungen wird irgendwann eine Revolution
bewirken, sondern die praktische Übereinstimmung der Unter-
drückten im Gesellschaftskampf. Nicht ihre Gedanken zählen,
sondern das ›Geheimnis ihrer Existenz‹ (Marx). Es geht nicht
darum, eine vorgefertigte Gesellschaft zu verwalten, man muß
sie zuerst hervorbringen, und zwar ebenso wahr, ebenso le-
bendig wie die Übereinstimmung der Unterdrückten in ihrem
Kampf. Herr Dulles erklärt gegenüber Herrn Molotow, nie sei
ein kommunistisches Regime freiwillig akzeptiert worden. Er
erzählt ihm nichts Neues. Es ist, als ob er sagte, unsere wichti-
gen Entscheidungen seien nie ganz deutlich und auch nicht zu
verdeutlichen.
Daran wäre nichts auszusetzen, wenn die Revolution wirklich
über das Spiel der Stimmabgabe hinausginge, wenn sie nicht, in
Über die Enthaltung 473
*
Weder ist alles so einfach noch so schwarz zu sehen. Die Men-
schenfeindlichkeit wird immer Unrecht haben, weil die Laster
der Politik am Ende darauf bestehen, daß es bei den Menschen
etwas von größerer Gültigkeit gibt: ihre Idee der Wahrheit. Wer
etwas gesehen hat und es für wahr hält, der glaubt, es sei für alle
wahr. Sehen die Anderen es nicht, so liegt es daran, daß sie Fa-
natiker sind, daß sie nicht frei urteilen können. Auf diese Weise
macht der freie Mensch seine Evidenzen zum Maß aller Dinge,
und er wird gerade in dem Augenblick zum Fanatiker, in dem
er sich über den Fanatismus der Anderen beklagt. Alles in al-
lem läßt sich jedoch sagen, daß der Umstand, daß jeder ›sich in
die Angelegenheiten der Anderen einmischt‹, und daß er sich an
ihre Stelle setzt, auch darauf zurückzuführen ist, daß er ›sich in
ihre Lage versetzt‹, weil die Menschen nicht wie Kieselsteine ne-
beneinander liegen, sondern weil jeder einzelne in allen anderen
lebt.
Es kommt also ein Tag, an dem derjenige, der sich aus dem
politischen Spiel zurückziehen wollte, gerade durch jenen Ge-
schmack der Freiheit, den er zu seinem Vorteil kultivierte, wieder
auf die Politik zurückgeführt wird. Gide hat es oftmals geäußert:
Der extreme Individualismus sensibilisiert für die anderen In-
dividuen, und sein Tagebuch erzählt, wie sprachlos er war, als er
beim Einsteigen in ein Taxi, mit dem er einen Kranken in der
(einst luxuriösen) Klinik der Rue Boileau besuchen fahren wollte,
und verwundert darüber, daß der Fahrer diese nicht kannte, die
einfache Antwort erhielt: ›Unsereins geht nach Lariboisière.‹
Man kann mit den Anderen sein Spiel treiben oder Träume er-
finden, in denen sie verschwimmen – das ›wirkliche Frankreich‹,
das reine Proletariat –, aber man kann es nicht ablehnen, jeman-
Über die Enthaltung 475
1 Ü BE R I N D O C H I NA
über die sehr provinzielle Idee hinweg, den Verfasser eines kollektiven Leit-
artikels erraten zu können. Das Komischste dabei ist, daß sich der Grapho-
loge in seiner Vermutung irrt.
478 Gelegentliche Äußerungen
Moralität. Aus diesem Grund schließen wir uns nicht den Anti-
kommunisten an, die den Kommunismus verurteilen, ohne die
Probleme der UdSSR zu betrachten. Darüber hinaus müssen die
Werte in ihrem momentanen Erscheinungsbild erkennbar sein.
Aus diesem Grund, da wir im heutigen Kommunismus nicht die
Werte des marxistischen Humanismus erkennen, sind wir keine
Kommunisten. In der Indochinafrage haben wir uns nicht der
Kolonisierung der prinzipiellen Argumente, wie etwa der Gleich-
heit der Menschen oder ihrem Recht auf Selbstbestimmung, wi-
dersetzt. Wir sind zu jener sehr konkreten Feststellung gelangt,
daß wir nach achtzig Jahren in Indochina kaum tolerierte ›Besat-
zungsautoritäten‹ sind,2 daß dies einem Scheitern gleichkommt
und daß eine militärische Lösung eine Bestätigung dieses Miß-
erfolgs wäre. Wir möchten, daß man zwischen der reinen und
der angewandten Moral unterscheidet. Darüber hinaus muß es
zwischen ihnen irgendeine Beziehung geben. Wenn sie aus nichts
als verbalen Allgemeinplätzen besteht, dann wird die reine Moral
zum Alibi und zur Finte. Man muß sie also wörtlich nehmen.
Man muß sagen, und wir wiederholen es noch einmal: ›Laßt uns
Frieden schließen oder gehen‹. Wenn man sich auf eine relative
Moral einläßt, dann muß man genau wissen, was man am Ende
will, und man muß entschlossen sein, nicht irgendeinen Ausgang
zu akzeptieren. François Mauriac verwechselt den Sinn für das
Reale mit dem Respekt vor dem Realen.
Wie könnt ihr es wagen, so fährt er fort, zu schreiben, das Ge-
sicht der Franzosen in Indochina sei das Gesicht der Deutschen
in Frankreich? Die Deutschen haben Europa geplündert, und wir
haben dort unten eine ›wohltuende Zivilisation‹ errichtet. Wir
geben zur Antwort, daß die Deutschen, wenn sie ein Dreivier-
teljahrhundert in Frankreich geblieben wären, sicherlich irgend-
wann Fabriken errichtet hätten, in denen Franzosen gearbeitet
hätten, sowie Straßen und Brücken, die wir benutzt hätten – und
sie hätten am Ende sogar, für die Pflege der Weinberge in Fami-
lienbesitz, Schwefel und Sulfat an die Eigentümer verteilt. Da-
durch wären ihnen die hingerichteten Geiseln noch lange nicht
verziehen worden. Wenn die Italiener in Abessinien hätten blei-
ben können, dann hätten sie das Land versorgt. François Mauriac
war wohl leichtsinnig, als er das äthiopische Unternehmen ver-
urteilte. Er mußte nur die Stunde der Brücken und der Straßen
abwarten. Was sagen wir? Zumindest die strategischen Straßen
3 waren bereits in Betrieb genommen. Die französische Politik in
Indochina hat nicht nur die Bauern nicht aus dem Wucherzins
befreit, sondern auch nicht einmal die Bildung eines Industrie-
bürgertums zugelassen. So erklärt sich, warum wir dort unten
eine Besatzungsmacht bleiben. Man beurteilt uns anhand dessen,
was wir getan haben und anhand dessen, was wir nicht getan
haben.
Letztlich, sagt François Mauriac, ist die Kolonisierung eine
Art Kreuzzug, genauso zweideutig wie alle Kreuzzüge. Ihre Ge-
walttaten sind nur »die Korruption einer großen Idee«. Die Idee
aber findet sich im Geist François Mauriacs oder in unseren Ge-
schichtsbüchern. Die Vietnamesen jedoch haben von ihr vor al-
lem die ›Korruption‹ zu Gesicht bekommen. Es ist geradezu skan-
dalös, daß ein Christ sich dermaßen unfähig zeigt, von sich selbst
und seinen ›Ideen‹ Abstand zu nehmen, und daß er es ablehnt,
sich auch nur einen Moment lang mit den Augen des Anderen
zu sehen. Die weniger revolutionär Gesinnten unter uns haben
durch den Spanischen Bürgerkrieg und die deutsche Besatzung
ein für alle Mal begriffen, daß die Ehre mitunter in den Gefäng-
nissen zu suchen ist. Sie haben gelernt, was die großen ›Ideen‹ der
Macht für die Unterdrückten bedeuten. Aber der Krieg ist vorbei,
die Deutschen sind gegangen, und alles ist zur Ordnung zurück-
gekehrt. Die jetzige Macht sind wir, sie kann also nur ehrenhaft
sein. Erneut zählt der Standpunkt der Irregulären nicht. Wie in
den Tagen seiner behüteten Kindheit ist François Mauriac taub
gegenüber den Schreien derer, die sich mit dem Töten und Ster-
ben befassen. Seien wir geduldig. Es ist nichts als die Korruption
480 Gelegentliche Äußerungen
1 Ü BE R M A DAG A S K A R 1
(Interview)
ber-November 1957 statt, und der Text des Interviews stammt von Januar-
Februar 1958. Wir ordnen ihn hier wieder seinem Entstehungsdatum zu.
Obwohl er bereits im Express vom 3. Juli angekündigt worden war, erschien
er darin erst am 21. August 1958.
486 Gelegentliche Äußerungen
Dennoch ist klar, daß man ohne ihre treibende Kraft, das heißt
ohne die proletarische Macht, keine revolutionäre Politik auf-
rechterhalten kann. Wenn es keine ›universelle Klasse‹ und keine
Ausübung der Macht seitens dieser Klasse gibt, dann wird der
revolutionäre Geist wieder zu einer reinen Moral oder zu einem
moralischen Radikalismus. Die revolutionäre Politik, das war ein
Schaffen, ein Realismus, die Geburt einer Kraft. Die nicht-kom-
munistische Linke bewahrt davon oft nur die Negationen. Dieses
Phänomen ist ein Kapitel des großen Niedergangs der Revolu-
tionsidee.
Und warum dieser Niedergang?
Weil die wichtigste Hypothese, die Annahme einer revolutio-
nären Klasse, vom tatsächlichen Lauf der Dinge nicht bestätigt
wurde. Es genügt, eines der Länder in Übersee zu bereisen, um
gleichzeitig zu verstehen, in welchen Punkten das revolutionäre
Schema fiktiv ist und warum es dennoch aus den Ereignissen
eine ganz offensichtliche Rechtfertigung erfährt. Nehmen wir
zum Beispiel Madagaskar, wo ich vor einigen Monaten gewesen
bin. Man ist zunächst einmal von der Tatsache erschüttert, daß
die nationalistischen Intellektuellen von Tananarive sehr weit
von dem entfernt sind, was uns eine revolutionäre Vorstellung
von Geschichte vermuten ließe. Einer von ihnen äußerte mir
gegenüber, die Unterscheidung zwischen den Adligen und den
Bürgerlichen sei ein durchgängiger Zug der madagassischen Per-
sönlichkeit; ein anderer sagte, man müsse sich nach der Unab-
hängigkeit damit befassen, die in die Stadt ziehende Bevölkerung
im Dorf zu halten; noch ein anderer, ein Katholik, sagte, man
müsse eine Art Feudalsozialismus errichten; ein anderer, Liberia
sei ein Beispiel für alle Völker Afrikas; schließlich meinte einer,
nichts sei wichtiger als die Unterschiede zwischen Katholiken
und Protestanten in Tananarive.
Diese Intellektuellen sind weit davon entfernt, für eine mögli-
che Revolution bereit zu sein. Darauf wird ein Marxist antwor-
ten, daß sie eine nationalistische Bourgeoisie bilden und daß
diese Bourgeoisie den Massen und den spontan eingesetzten An-
führern, die sich die Massen wählen werden, die Türen zur Macht
488 Gelegentliche Äußerungen
öffnen wird. Trotz aller Bedenken, die man angesichts der Un-
zulänglichkeit einer kurzen Reise und auch angesichts der Mög-
lichkeit unerwarteter Ereignisse (1947 glaubte beinahe niemand
an den Aufstand) äußern kann, muß man doch zugeben, daß
man im Land zu keinem Zeitpunkt den Eindruck einer schlum-
mernden Revolution hatte. Daß viele Madagassen, insbesondere
in Tananarive, von der französischen Macht genug haben, ist eine
Sache. Daß dies ein schnelleres Heranreifen des Proletariats im
marxistischen Sinne ankündigt, ist eine andere. In der Region
Betsileo, im Süden, in der Gegend von Tulear und Fort-Dauphin
und sogar in Issotry, dem Vorort von Tananarive, wo das Was-
ser der Reisfelder in der Regenzeit die Häuser überschwemmt,
und wo man in den Auslagen der Geschäfte undefinierbare Ge-
genstände zum Verkauf findet, die das grausamste Symbol des
Elends sind, fühlt sich der einsam Reisende nicht von Zorn um-
geben. Selbst wenn all dies morgen explodieren sollte, so wird
zu beweisen bleiben, daß es sich um einen von der Geschichte
vorbereiteten Ausbruch handelt. Ich weiß, daß man unter der äu-
ßeren Erscheinung suchen muß, aber man müßte beweisen, daß
es in ›den Tiefen‹ ein revolutionäres Proletariat im klassischen
Sinne von Marx gibt.
Das ist also der Grund, weswegen die Geschichte dennoch
den Eindruck erweckt, im Sinne des Kommunismus zu verlau-
fen: Wenn die Franzosen Madagaskar unverzüglich und voll-
ständig aufgeben würden, dann würde die Bourgeoisie, von der
ich vorhin gesprochen habe, die zwar gut ausgebildet, aber nicht
zahlreich genug ist, wahrscheinlich versuchen, sich des Landes
zu bemächtigen, und wahrscheinlich würde ein Teil der Küsten-
bevölkerung sich gegen sie erheben (wir versuchen nur, diese
Haßgefühle auszunutzen, aber sie existieren wirklich, und wir
haben sie nicht geschaffen; im Anschluß an eine Konferenz über
die Rassenidee habe ich festgestellt, daß die Merina von Tanana-
rive mich wirklich zu wenig rassistisch fanden: Es gelang ihnen
nicht, die Schwarzen der Küste als ihresgleichen zu empfinden).
Kurzum, die nationalistischen Madagassen geben bereitwillig zu,
daß dem Abzug der Franzosen blutige Auseinandersetzungen
Über Madagaskar 489
Kann man aus dem von Ihnen Gesagten schließen, daß es den
traditionellen Kritiken, die man dem Kolonialismus entgegen-
bringt, an Realismus und insbesondere an Aktualität mangelt?
Der Kolonialismus ist, von welcher Annahme man auch aus-
gehen mag, zu drei Vierteln beendet. Als die Europäer fünfzehn
Millionen Schwarzafrikaner nach Amerika verschleppten, als sie
die Herden der argentinischen Pampa wie Steinbrüche für Leder
und Talg behandelten, als sie in Brasilien die Wanderkultur des
Zuckerrohrs entwickelten, die den Boden ausgezehrt zurück-
ließ und das Land, unterstützt durch die tropische Erosion, in
eine Wüste verwandelte, oder als die französische Verwaltung in
Afrika noch von den großen Kompanien dominiert wurde, da
gab es einen Kolonialismus.
Ich denke über die vergangenen Tatsachen, von denen ich
gerade gesprochen habe, was ich über alle Niederträchtigkeiten
denke, die in den historischen Unternehmungen nie fehlen, in
der römischen Geschichte ebensowenig wie in der Geschichte der
französischen Monarchie. Auf diese Weise haben doch Nantes
oder Bordeaux die Geldmittel angehäuft, welche die industrielle
Revolution ermöglichen sollten. Ich billige dieses Blut, diese Lei-
den und diese Schrecken ebensowenig wie ich die Hinrichtung
von Vercingetorix billige. Ich sage, daß man, unter der Bedin-
gung, daß dies aufhört, nicht zum Prinzip erheben muß, die Wei-
ßen müßten nach Hause zurückkehren, denn in Afrika sind sie
heute etwas anderes als jener Kolonialismus.
Sie werden in dem von Ballandier herausgegebenen Buch Le
2 Tiers Monde sehen, daß die öffentlichen Investitionen Frankreichs
in den Ländern südlich der Sahara seit dem Gesetz vom August
1946 rund eine Milliarde Dollar betragen, in zehn Jahren so viel
wie in den vierzig vorangegangenen Jahren, die Entsprechung,
hat man gesagt, zu einem afrikanischen Marshallplan.
3 Sie werden in Germaine Tillions Buch sehen, daß unter den
1.200.000 Nicht-Muslimen in Algerien 19.000 im strengen Sinne
Kolonisten sind, von denen 7.000 arm, 300 reich und etwa zehn
sehr reich sind. Der Rest der Algerienfranzosen sind Angestellte,
Ingenieure und Händler, die drei Viertel der ökonomischen In-
492 Gelegentliche Äußerungen
Einer von ihnen sagte mir: ›Wir bringen ihnen bei, ohne uns
auszukommen.‹ Er hatte Recht. Dies ist genau die Mission der
französischen Verwalter in einem Regime der internen Auto-
nomie.
Wenn es jedoch um die Karriere geht, so gibt es dort genug,
womit man eine ganze Karriere ausfüllen kann, so groß ist die
Aufgabe der Schaffung von Schulen und der Bildung, so lange
wurde sie hinausgeschoben. Man muß hinzufügen, daß manche
Verwalter das Spiel mit einer Offenheit, einer Aktivität und üb-
rigens auch einem Erfolg betreiben, die bewundernswert sind;
mit viel Charakter, Unabhängigkeit und Talent habe ich einige
gesehen, denen es gelungen war, hier und dort im Anschluß an
Wahlen, welche die alte Regierungsschicht hinweggefegt hat-
ten, ihre moralische Autorität durchzusetzen. Mehr noch: Ein
Verwalter, ein Mann der Rechten, sagte mir mit Bedauern: ›Als
Herr Defferre Minister war, wurden wir mit Runderlässen vol-
ler Durchführungsrichtlinien bedrängt. Man verlangte von uns
das Unmögliche, aber man verlangte es immerhin von uns.‹ Ich
glaube, daß viele Menschen, die zögern oder taktieren, sich an die
Arbeit machen würden, wenn sie hinter sich eine Bewegung und
eine Erwartung spüren würden …
Sie wünschen nicht, daß Frankreich sich aus Afrika zurück-
zieht. Können Sie die wesentlichen Gründe für diese Haltung
erläutern?
Ich sage es ganz ungeniert: Weil ich glaube, daß Frankreich
dort etwas Gutes ausrichten konnte oder noch kann, und weil ich
lieber einem Land angehöre, das in der Geschichte etwas bewirkt,
als einem Land, das sie hinnehmen muß. Im Grunde genommen
ist das, was mich bei jenen unter meinesgleichen stört, die allzu
leicht von Unabhängigkeit reden, der Umstand, daß die Aufga-
ben, die sie uns vorschlagen, immer Unterlassungen sind.
Ich habe Leute gesehen, die Mendès-France große Ehre erwie-
sen, weil er die Genfer Abkommen unterzeichnet hat. In Genf
hat er getan, was er konnte. Was ihn ehrt, ist nicht Genf, sondern
Tunis, die Abkommen von Karthago, die nichts mit der franzö-
sischen Politik in Marokko zu tun haben. Auf der einen Seite
Über Madagaskar 497
eine Initiative; auf der anderen eine Mischung aus Schwäche und
Gerissenheit.
Sie scheinen an eine Überlegenheit unserer Werte zu glauben,
der Werte der abendländischen Zivilisationen, gegenüber jenen
der unterentwickelten Länder …
Gewiß nicht an ihren moralischen Wert, und noch weniger
an ihre überlegene Schönheit, aber, wie soll ich sagen, an ihren
historischen Wert. Wie überrascht war ich, als ich nach einem
Monat auf Madagaskar frühmorgens in Orly landete, so viele
Straßen, so viele Objekte, so viel Geduld, Mühe und Wissen zu
sehen und in den angehenden Lichtern so viele unterschiedliche
Leben zu erahnen, die am Morgen erwachen. Dieses große fieb-
rige und überwältigende Arrangement der sogenannten entwik-
kelten Menschheit ist es, das letztlich eines Tages bewirken wird,
daß alle Menschen auf dieser Erde genug zu essen haben. Es hat
bereits bewirkt, daß die Menschen jeweils in den Augen des An-
deren existieren, statt daß sie sich nur, jeder für sich, wie Bäume
in ihrem Land ausbreiten. Die Begegnung ist mit Blut, Angst und
Haß einhergegangen, und dies ist es, was enden muß. Ich kann
sie nicht ernsthaft als ein Übel betrachten. In jedem Fall, so viel
ist abgemacht, kann keine Rede davon sein, den Archaismus neu
zu erschaffen, wir sind alle in diese Angelegenheit verstrickt, und
es ist nicht nichts, diese Partie begonnen zu haben.
498
Ü BE R DE N 13. M A I 195 8 1
Kräfte der Rechten und der Linken«, ruft dies bei Sirius nichts
in Erinnerung? Es sind dieselben Worte, die Herr Pflimlin ver-
wendet hat. Wir haben es hier mit der Sprache des ›Systems‹ zu
tun. Wenn man die kommunistische Partei und die CGT so brav
erlebt hat, wie sollte man dann nicht spüren, daß es auch die
Sprache der politischen Erpressung und der Mythen ist? Diesen
Beitrag, den Sirius von uns fordert, hat General de Gaulle gar
nicht von den Franzosen erbeten. Seit er in sein Amt eingesetzt
wurde, hat er sich überhaupt nicht an sie gewandt. So beschäftigt,
wie er damit ist, das System unschädlich zu machen, schont er
seine Kräfte sicherlich für Algier. Dies beruhigt keineswegs. Zwi-
schen ihm und Algier gilt es noch eine Rechnung zu begleichen.
Ihn allein betrifft dies, nicht uns. Er ist allein, wie er es gewollt
hat. Sein Scheitern wäre schlimm, aber wir können ihm weder zu
einem Erfolg verhelfen noch ›Alles oder nichts‹ bei seinem Un-
ternehmen spielen, als gäbe es nach ihm und nach uns nichts.
Unsere Rolle besteht darin, zu verstehen, was gerade aufgehört
hat und was beginnt. Ich für meinen Teil möchte den Lesern zwei
untrennbare Überlegungen unterbreiten. Die erste lautet, daß in
Übersee keine liberale Politik möglich sein wird, solange die Re-
gierungen, die in der Lage wären, sie auszuüben, auf die Unter-
stützung der Franzosen verzichten müssen, die einhundertvierzig
kommunistische Abgeordnete ins Parlament entsenden. Diesmal
wird recht deutlich, daß der berühmte Abzug der kommuni-
stischen Stimmen Frankreich um eine bestimmte Zahl seiner
Staatsbürger beschneidet, die sind, was sie sind, aber sicher keine
Ultras, er deckt im voraus die Operationen der Rechten, kündigt
den Entschluß zur Kapitulation an und ist im Bürgerkrieg der
erste Akt der Erpressung. Mendès-France hat die kommunisti-
schen Stimmen in dem Augenblick in Abzug gebracht, in dem
er mit Rußland und China in Verhandlungen eintrat; er hatte
Recht damit, es zu jenem Zeitpunkt zu tun, falls verhandeln nicht
gleichzusetzen ist mit kapitulieren. Der Erfinder des ›Systems‹
bleibt General de Gaulle, mit dem Thema der ›Separatisten‹. Die
Erpressungen seitens einer Rechten in der Minderheit und ihre
Allmacht, die Unterstellungen von Absichten, der generalisierte
Über den 13. Mai 1958 503
MORG E N … 1
(Interview)
nicht mehr. Er wird ein heimlicher Krieg sein, oder vielmehr ist
es schon. Seit 1917 setzt sich allmählich in aller Welt der Wunsch
nach Subversion durch, dessen Theorie uns der Bolschewismus
geliefert hat und der sich Punkt für Punkt nach dem bolschewi-
kischen Kalender entwickelt: »Wir haben Tunesien und Marokko
aufgegeben, als die subversive Aktion erst bei der zweiten der von
Trotzki definierten Phasen angelangt war. In Algerien ist schon jetzt
die vierte Phase erreicht. Wer kann mit aller Vernunft behaupten,
3 die Hauptstadt selbst befinde sich erst in der ersten Phase?«
Wir sind im Bereich des Geheimen. Die ganze Geschichte
des Kommunismus seit Trotzki, die Aktionen und Reaktionen,
die Höhen und Tiefen, die Säuberungen und die Wendepunkte,
alles Feststellbare, alle Ereignisse werden unserem Blick entzo-
gen: Es gibt nur eine Substanz der Geschichte, die Fortschritte
der Subversion. Dieser abstrakte Feind ist ständig um uns und
rechtfertigt einen permanenten Verdacht, unabhängig davon,
wohlgemerkt, ob es sich nun um die UdSSR oder die Vereinig-
ten Staaten handelt. Es könnten auch Deutschland, Italien oder
drei Viertel Frankreichs sein. Der Feind lauert selbst dann in uns,
wenn wir im engagierten Kampf gegen ihn von manchen Din-
gen Abstand nehmen. Man darf nicht, sagt Pierre Debray, vor
der Einbeziehung der Armee und der Polizei zurückschrecken.
Der Soldat, der sich zum Lehrer und Verwalter gewandelt hat,
muß wieder zum Kämpfer oder sogar zum Henker werden. »Das
Waffenhandwerk hat sich verändert, das ist alles. Wir führen einen
Krieg, der uns aufgezwungen wurde, einen Krieg ohne Regeln, einen
Krieg ohne ›Ehre‹, einen plebejischen Krieg.« Wenn der Soldat et-
was an dieser Rolle ablehnt, »so wird er von der Partei des Verrates
annektiert«. »Wer der Wahl aus dem Weg geht, der verdammt sich
dazu, sich wenn nicht subjektiv, so doch zumindest objektiv wie ein
4 Partisan des Verzichts zu verhalten.« Was die Antikommunisten
aus ihrer Erfahrung und ihren Lektüren behalten, ist also ge-
rade der Apparat des dekadenten Kommunismus, die Guillotine
des ›objektiv Gesehenen‹, der Formalismus, der Manichäismus,
das agglutinierte oder amalgamierte Denken, das sich bei ihnen
noch verschlimmert, da ihre Bewegung sich keinerlei Perspek-
506 Gelegentliche Äußerungen
Helden der alten Tage zurückgefunden hatte, dies ist ein Bild, das
man nicht vergißt. Es wird keine korrekte oder wahre Demokra-
tie geben, solange die Kommunisten es ablehnen, positiv in die
Regierung einzutreten, solange sie ihre Praxis des Kompromisses
hinter den lautstarken und ablenkenden Thesen von einer ›ab-
soluten Verarmung der Massen‹ verbergen. Dennoch wissen sie
sehr wohl, daß es erst dann eine Volksdemokratie in Frankreich
geben wird, wenn die Vereinigten Staaten durch einen Atomkrieg
besiegt wurden. Was erwarten sie also? Niemand weiß es, nicht
einmal sie selbst, vermute ich.
Wie stehen die Chancen für eine wahre Demokratie?
Wenn dies die Gründe sind, die sie verfälscht haben, dann gibt
es kaum eine Chance, daß wieder eine wahre Demokratie entsteht.
Es ist nicht erkennbar, was die Unabhängigen aufklären könnte.
Es ist nicht erkennbar, wie der verbrauchte Führungsstab, dem
es gelungen war, die Entstalinisierung wie ein Schwamm ›auf-
zusaugen‹, in dem Moment zu einer politischen Initiative in der
Lage sein sollte, in dem ihn die Hinrichtung von Imre Nagy und
seiner Gefährten gerade in seiner tiefen Einsicht bestätigt hat. Es
ist nicht erkennbar, wie er vor dem Land das Problem der Vor-
aussetzungen für Demokratie und Freiheit stellen könnte. Wäre
die Demokratie von 1956-58 lebensfähig? Das ist die Frage, die
zählt, und es ist die Frage, welche die Kommunisten ignorieren
wollen. Sie werden die Franzosen also einladen, für die Wieder-
errichtung jener Demokratie zu kämpfen, die sich selbst zerstört
hat.
Wenn aber die neue Verfassung im Referendum bestätigt
wird?
In den Versammlungen, die sie schaffen wird, werden sich die
Regierungen, ob sie nun präsidial sind oder nicht, ob mit oder
ohne ein Recht zur Auflösung ausgestattet, von dem man prin-
zipiell nicht häufig Gebrauch machen darf, vor demselben Di-
lemma wiederfinden: Entweder man befürwortet die Volksfront,
das heißt eine Politik, die keine ist: die Evakuierung der Länder
in Übersee, eine rein der Geltendmachung von Forderungen die-
nende Sozialpolitik, keinerlei Steuerung des Kapitalismus, nichts
Morgen … 515
Regimes ist, nicht mehr als die Wirklichkeit eines Menschen, eine
instantane Serie von Meinungen. Es gibt keine Freiheit in der
Gefügigkeit gegenüber jedem Zittern der Meinung. Die Freiheit
bedarf des Wesentlichen, wie Hegel sagte, sie bedarf eines Staates,
der sie trägt und dem sie Leben verleiht.
Eine Analyse des Parlamentes müßte ein Unternehmen aus
diesem Blickwinkel sein: Wir wissen nahezu nichts über sein
wirkliches Funktionieren. Ich weiß nur, da ich einigen Sitzungen
der Nationalversammlung beigewohnt habe, daß es dort weder
an Intelligenz noch an Wissen fehlte, daß man aber in den Sitzun-
gen dasselbe Unbehagen verspürte wie in einem ›Kreis‹, in dem
man nicht eingeführt ist. In manchen Augenblicken entbehrte
das Ganze nicht der Größe, bei anderen Gelegenheiten (ich er-
innere mich an einige Lacher unter den Eingeweihten, an einige
versteckte Anspielungen) war es eher eine schlechte Gesellschaft
oder der Salon von Mme Verdurin. Der Höhepunkt des Regimes
war sicherlich erreicht, als die Kommunisten für die Regierung
Pflimlin stimmten, um sie zu verpflichten, sie mit einzubezie-
hen, und als die Unabhängigen, aus Angst vor einer Volksfront,
ebenfalls für diese Regierung stimmten, während Herr Pflimlin
sich ganz leise darauf vorbereitete, zu gehen. Darin liegt vielleicht
etwas erhaben Parlamentarisches, und ich bezweifle, daß die Na-
tion es ausgekostet hat.
Wenn die Regierung Mendès-France das politische Leben
Frankreichs einen Augenblick lang, so wie es keine andere Re-
gierung seit 1944 getan hat, aus der Angst und dem Überdruß
befreien konnte, dann deshalb, weil sie die Regierung als eine
Initiative auffaßte, die zusammenschließt, und die Aktion als eine
Bewegung, die nicht in jedem Augenblick mit Fragen bedrängt
werden kann, sondern die sich Begegnungen mit der Nation
verschafft, ihre eigene Pädagogik organisiert und alles in dem
Maße offenlegt, wie sie, die Bewegung, sich entwickelt. Genau
das zeichnet eine lebendige Macht aus, nicht die Erscheinung
auf dem Sinai. Mendès-France aber handelte instinktiv auf diese
Weise, ich möchte behaupten: weil er aus gutem Hause stammt;
er hat nie versucht, seine Praxis in eine Theorie zu überführen.
Morgen … 517
Die Frage ist, wie man Institutionen schaffen kann, die diese Pra-
xis der Freiheit in den Umgangsformen etablieren.
Diese Verständigung zwischen dem Staatsmann und der Na-
tion, die bewirkt, daß die Nation nicht mehr einem Schicksal
unterliegt und daß sie sich in dem wiederfindet, was in ihrem
Namen unternommen wird, dies ist, wie ich befürchte, gerade
das, was de Gaulle nie, außer in den ›großen Ereignissen‹ von
1940 und 1944, erfahren und auch nicht gespürt hat. Als Beweis
möchte ich nur die globale Zustimmung anführen, die er allen
Männern des Systems gegeben hat, Pleven ebenso und noch deut-
licher gegenüber Mendès-France. Der Geist, der stets verneint,
sagte er neulich. Wie man sich doch täuschen kann! Was uns auf
der Hut sein läßt, ist gerade sein Skeptizismus. Es bedürfte eines
großen Skeptizismus, um mir den Respekt zu nehmen, den ich de
Gaulle entgegenbringe. Wir schulden ihm jedoch etwas anderes,
und mehr als nur Ergebenheit: Wir schulden ihm unsere Stel-
lungnahme. Er ist zu jung, um unser Vater zu sein, und wir sind
nicht mehr in dem Alter, die Kinder zu spielen.
Haben die Oppositionspolitiker ein besseres Gespür für das
Problem? Man ist tief bestürzt, wenn man jene Überlegungen
der Kommissionsmitglieder liest. Man möchte ihnen entgegnen:
Dieses Kapitel ist abgeschlossen, es geht nicht mehr darum, eine
Regierung zu untergraben, ihr müßt vielmehr eine Regierungs-
form schaffen. Konfrontiert die Ideen miteinander, und wenn ihr
könnt, sprecht mit den Franzosen. Man ist überrascht, in Le Po-
pulaire anläßlich der jüngsten Wahlen und angesichts der »Stabi-
lität der Wählerschaft« zu lesen, daß »es dem System gut gehe«. Um
den heutigen Fragen entgegentreten zu können, müßte nicht nur
der kommunistische Parteiapparat ein Gebet sprechen. Wer wird
einmal die Komödie der sozialistischen Partei beschreiben, deren
ganze Struktur, die einst als Struktur einer Arbeiterpartei und
einer marxistischen Partei entworfen wurde, um die Gewählten
der Aufmerksamkeit der Aktivisten zu unterstellen, heute in den
Händen des Generalsekretärs ein weiteres Mittel ist, die parla-
mentarische Gruppe seinen Manövern zu unterwerfen? Alles in
allem wissen dies aber viele Menschen besser als ich … Wer bin
518 Gelegentliche Äußerungen
ich denn, daß ich so lange darüber rede? Die Offiziere ergehen
sich in Weissagungen, und die Professoren spitzen ihre Schreib-
federn. Wo sind die Berater des Volkes, und haben sie uns nichts
anderes zu sagen, als nur ihr Bedauern auszudrücken?
(Juli 1958)
SIGL E N V E R Z E IC H N I S
7 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Unter-
wegs zu Swann, in: Werke II, Bd. I, hrsg. v. Luzius Keller, Frankfurt/M.
1994, 42002, hier: S. 269: »Weil ich an die Dinge, die Wesen glaubte,
während ich jene Gegenden durchschritt, sind die Dinge und Wesen,
die ich in ihnen kennenlernte, die einzigen, die ich heute noch ernst
nehmen kann und die mir Freude schenken. Ob nun der schöpfe-
rische Glaube in mir versiegt ist oder die Wirklichkeit sich nur aus
der Erinnerung formt, jedenfalls kommen mir Blumen, die man mir
heute zum ersten Mal zeigt, nicht mehr wie richtige Blumen vor.«
8 Paul Nizan, Aden – Die Wachhunde – Zwei Pamphlete, a. a. O.,
S. 37.
9 Ebd., S. 35.
10 Ebd., S. 40.
11 Ebd., S. 30.
12 Nizan sowie seine Frau Henriette und Merleau-Ponty trafen
sich im Sommer 1939 auf Korsika im Ministerium für ehemalige
Frontkämpfer mit Laurent Casanova; danach gemeinsame Rückkehr
nach Paris, von wo aus Nizan sich am nächsten Tag zur Truppe nach
Orléans begeben mußte; vgl. hierzu Dossier zum »Fall Nizan«, in: Paul
Nizan, Aden – Die Wachhunde – Zwei Pamphlete, a. a. O.
13 Paul Nizan, Aden – Die Wachhunde – Zwei Pamphlete, a. a. O.,
S. 41.
14 Ebd., S. 43.
15 Ebd., S. 42.
16 Ebd., S. 32.
17 Ebd., S. 12.
18 Ebd., S. 21.
19 Ebd., S. 22.
20 Ebd., S. 32.
21 Ebd., S. 13.
22 Ebd., S. 21.
23 Ebd., S. 13.
24 Ebd., S. 44.
25 Ebd., S. 36.
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 523
ses Zitat Bohrs (aus: Natural philosophy and human culture, in: Na-
ture 143 (1939), S. 9) zuweilen anführt: C. Lévi-Strauss, Strukturale
Anthropologie I, a. a. O., S. 321, 389.
17 Vgl. hierzu auch C. Lévi-Strauss, Einleitung in das Werk von
Marcel Mauss, a. a. O., S. 28 f.; vgl. weiterhin die Arbeit Lévi-Strauss’
L’Analyse structurale en linguistique et en anthropologie (1945), auf-
genommen, in: C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, a. a. O.,
S. 43–67.
20 Ebd., S. 324.
21 Zur ›Phänomenologie der Phänomenologie‹ vgl. auch Merleau-
Pontys Ausführungen in PdW, S. 418; vgl. zu diesem Topos ebenso die
Ausführungen Eugen Finks in seinem Entwurf zu einer VI. Cartesia-
nischen Meditation, den Merleau-Ponty bereits früh und eingehend
rezipiert hat: Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation, Teil 1: Die
Idee einer transzendentalen Methodenlehre, hrsg. von Hans Ebeling
u. a., Husserliana-Dokumente, Bd.II/1, Dordrecht/Boston/London
1988, S. 8 f.
22 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Die Weltalter, Fragmente
in den Urfassungen von 1811 und 1813, hrsg. v. Manfred Schröter,
München 1946, S. 51; vgl. zu Merleau-Pontys Diskussion der Philoso-
phie Schellings auch: Vorl., S. 94 ff. und Natur, S. 60 ff.
23 Merleau-Ponty bezieht sich hier auf die bereits angeführten
Überlegungen Husserls in dem Fragment Umsturz der kopernikani-
schen Lehre in der gewöhnlichen weltanschaulichen Interpretation. Die
Ur-Arche Erde bewegt sich nicht, a. a. O., hier: S. 314.
24 Merleau-Ponty rekuriert auf folgende Gedankengänge Husserls
aus dem Fragment Umsturz der kopernikanischen Lehre, ebd. S. 318:
»Es ist aber auch möglich, daß der Erdboden sich erweitert, etwa in der
Art, daß ich verstehen lerne, daß im Raum meines ersten Erdbodens
große Luftschiffe sind, die in ihm längere Zeit fahren: auf einem bin
ich geboren, lebt meine Familie, es war mein Seinsboden, bis ich lernte,
daß wir nur Schiffer sind auf der größeren Erde, etc. So kann eine
Vielheit von Bodenstätten, Heimstätten zur Einheit einer Bodenstätte
kommen.« S. 319 f.: »Nehmen wir nun Sterne, nachdem wir uns klar-
gemacht haben die Möglichkeit von fliegenden Archen (das könnte
auch ein Name sein für Urheimstätte), die sich herausstellen in der
›Erfahrung‹ (das ist in der Historizität, in der sich die Welt und in ihr
körperliche Natur, naturaler Raum und Raumzeit, Menschheit und
animalisches Universum konstituieren) als bloße ›Luftschiffe‹, ›Raum-
schiffe‹ der Erde, von ihr ausgegangen und wieder zurückkehrend,
von Menschen bewohnt und geführt, die nach ihrem letztlichen ge-
nerativen und für sie selbst historischen Ursprung auf dem Erdboden
als ihrer Arche beheimatet sind. Dafür nehmen wir also jetzt ›Sterne‹
– zunächst Lichtpunkte, Lichtflecke. Im Lauf der sich ausbildenden
538 Anmerkungen des Herausgebers
Die Physik als Abenteuer der Erkenntnis, a. a. O., S. 198: »Die Quan-
tenphysik formuliert Gesetze für Gesamtheiten einer großen Anzahl
von Systemen und nicht für Individuen. Nicht Eigenschaften, sondern
Wahrscheinlichkeiten werden beschrieben; nicht Gesetze für das zu-
künftige Verhalten von Systemen werden angegeben, sondern Gesetze,
welche die zeitlichen Änderungen der Wahrscheinlichkeiten beherr-
schen und sich auf große Gesamtheiten von Individuen beziehen.«
7 Vgl. Albert Einstein, Hedwig und Max Born, Briefwechsel
1916 – 1955, a. a. O., S. 161 ff., Brief Albert Einsteins an Max Born
vom 03.03.1947 (!), hier S. 162: »Aber davon bin ich fest überzeugt,
daß man schließlich bei einer Theorie landen wird, deren gesetzmä-
ßig verbundene Dinge nicht Wahrscheinlichkeiten sondern gedachte
Tatbestände sind, wie man es bis vor kurzem als selbstverständlich
betrachtet hat. Zur Begründung dieser Überzeugung kann ich aber
nicht logische Gründe, sondern nur meinen kleinen Finger als Zeu-
gen beibringen, also keine Autorität, die außerhalb meiner Hand ir-
gendwelchen Respekt einflößen kann.«
8 Vgl. Antonina Vallentin, Le drame d’Albert Einstein, Paris 1955,
S. 9: »[…] il a livré – incidemment – un des rares mots-clés sur lui-
même en remerciant G.-B. Shaw des paroles flatteues ›adressées à
mon homonyme mythique qui me rend la vie singulièrement dure‹«;
dt.: Antonina Vallentin, Das Drama Albert Einsteins, Eine Biogra-
phie, Stuttgart 1955, S. 11: »[…] als er G. B. Shaw für schmeichelhafte
Worte dankte, die dieser ›an seinen mythischen Namensbruder ge-
richtet habe, der ihm das Leben so seltsam schwer mache‹.«
9 Merleau-Ponty bezieht sich hier auf das Treffen Einsteins mit
Bergson, Léon, Langevin, Hadamard, Cartan, Painlevé, Lévy, Perrin,
Becquerel, Brunschvicg, Le Roy, Meyerson und Piéron, das am 6. April
1922 in der Société française de Philosophie stattfand; zu beachten ist
im folgenden, daß Merleau-Ponty die Zitate aus dem Protokoll mit
Durée et simultanéité vermischt und Einstein auf Fragen antworten
läßt, die Bergson zwar geschrieben, so jedoch nicht in der Diskussion
formuliert hat.
10 Henri Bergson, Durée et simultanéité. A propos de la théorie
d’Einstein, Paris 1922, in: Mélanges, textes publiés et annotés par An-
dré Robinet, Paris 1972, S. 126.
Montaignelektüre 545
1 Der Aufsatz ist zuerst erschienen in: Les Temps Modernes 3/27
(1947–1948), S. 1044–1060.
2 Michel de Montaigne, Essais, Bd. III. Erste moderne Ge-
samtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt/M. 1998, S. 342: »Mein
Blick ist klar, aber ich hefte ihn auf nur wenige Gegenstände; und
obwohl meine Sinne empfindsam und beeindruckbar sind, bin ich
schwer von Begriff und weiß mit vielem nichts recht anzufangen;
ebendarum lasse ich mich selten auf etwas ein.«
3 Ebd., S. 229: »Kurz, man muß mit den Lebenden leben und das
Wasser unter der Brücke hinfließen lassen, ohne sich darum zu küm-
mern – oder zumindest, ohne deswegen den Kopf zu verlieren.«
4 Ebd., S. 33: »Daher mag ich mir zwar zuweilen widersprechen,
aber der Wahrheit, wie Demades sagte, widerspreche ich nie. Könnte
meine Seele jemals Fuß fassen, würde ich nicht Versuche mit mir ma-
chen, sondern mich entscheiden. Doch sie ist ständig in der Lehre
und Erprobung.«
5 Léon Brunschvicg, Descartes et Pascal. Lecteurs de Montaigne,
New York/Paris 1944, S. 154. Vgl. René Descartes, Meditationen über
die Grundlagen der Philosophie. Mit den sämtlichen Einwänden und
Erwiderungen, übers. und hrsg. von Arthur Buchenau, Hamburg
1915, Nachdruck 1994, S. 337.
6 Montaigne, Essais, Bd. III, a. a. O., S. 341.
7 Ebd., S. 34.
8 Ebd., S. 229.
9 Ebd., S. 459.
10 Ebd., S. 88: »Quintilian behauptet, Schauspieler gesehen zu ha-
ben, die von einer Trauerrolle derart ergriffen worden seien, daß sie
noch zu Hause geweint hätten; und er selbst habe sich den Schmerz,
den er jemand anderm zugefügt, einmal so zu eigen gemacht, daß er
546 Anmerkungen des Herausgebers
ber als im Bett zu Pferde sterben, fern von meinem Haus und den
Meinen. Das letzte Abschiednehmen von unsren Lieben zerreißt uns
mehr das Herz, als es uns tötet.«
17 Ebd., S. 79.
18 Ebd., S. 79 f.
19 Ebd., S. 306: »Im Gegensatz zum Aberglauben der Römer, bei
denen der als unglücklich galt, der wortlos starb und seine nächsten
Angehörigen nicht um sich hatte, ihm die Augen zu schließen, habe
ich mit der eignen Tröstung genug zu tun, ohne andre trösten zu
müssen, Gedanken genug, die mir durch den Kopf gehen, ohne daß
ich die Umstehenden brauchte, mir neue beizusteuern, und Stoff ge-
nug, mich zu beschäftigen, ohne daß ich auf erborgten angewiesen
wäre. Dieser Akt ist nicht mehr Teil des gesellschaftlichen Rollenspiels
– diesen Akt spielt jeder allein.«
20 Ebd., S. 452.
21 Ebd., S. 228: »Die Welt ist nur eine Schule der Erkenntnissuche.
Trefflich zu zielen zählt in ihr mehr, als zu treffen. Einer, der Rich-
tiges sagt, kann es auf so falsche Weise tun, daß er an Narrheit dem
gleichkommt, der Falsches sagt: Keineswegs um das Was geht es hier,
sondern um das Wie. Ich möchte die Form jedenfalls nicht minder im
Auge behalten als den Inhalt und gemäß der Empfehlung des Alkibia-
des den Sachwalter nicht minder als die Sache.«
22 Ebd., S. 148, weiter heißt es: » – gerade noch deutlich genug,
um mich zur quälenden und aufreibenden Suche nach dem Ent-
schwundnen anzutreiben. Vergebens.«
23 Léon Brunschvicg, Descartes et Pascal. Lecteurs de Montaigne,
a. a. O., S. 64–93.
24 Montaigne, Essais, Bd. II, a. a. O., S. 186: »Die Anmaßung ist un-
sere naturgegebene Erbkrankheit. Das unglückseligste und gebrech-
lichste aller Geschöpfe ist der Mensch, gleichzeitig jedoch das hoch-
mütigste. Er sieht und fühlt sich hienieden im Schmutz und Kot der
Erde angesiedelt, dem übelsten, totesten und stinkigsten Winkel des
Weltalls untrennbar verhaftet, hausend im untersten und vom Him-
melsgewölbe entferntesten Geschoß des Bauwerks, nur den Tieren
des Landes zugesellt, die von allen drei Gattungen doch am schlechte-
sten weggekommen sind; und da geht er hin, setzt sich in seiner Ein-
548 Anmerkungen des Herausgebers
bildung über den Mondkreis und macht den Himmel zum Schemel
seiner Füße!«
25 Ebd., S. 176.
26 Montaigne, Essais, Bd. III, a. a. O., S. 523: »Nichts im Leben
des Sokrates fände ich schwer nachvollziehbar, wären da nicht seine
Ekstasen und Daimonereien, und nichts an Platon dünkt mich so
menschlich wie gerade das, wofür man ihn, wie es heißt, göttlich
nannte; und von unsren Wissenschaften scheinen mir die am nied-
rigsten und erdverfallendsten, die sich am höchsten verstiegen haben;
und nichts im Leben Alexanders finde ich so armselig und sterblich
wie die Gedankenspiele, mit denen er sich seine Erhebung in die Un-
sterblichkeit ausmalte.«
27 Ebd., S. 45.
28 Ebd., S. 522.
29 Ebd., S. 452, weiter heißt es: »Kein mir eignes Wissen könnte
es je von seinem Weg abbringen: Mir zuliebe wird es sich gewiß nicht
ändern! Es wäre Torheit, das zu erhoffen, und eine noch größere, sich
deswegen zu grämen, bleibt dieses Gesetz doch aus Notwendigkeit
immer gleich, allumfassend und allgültig.«
30 Ebd., S. 431: »Ich hingegen liebe eine Tugend, welche die Ge-
setze und Religionen nicht erschaffen, sondern der sie lediglich Gel-
tung und Spielraum zur Vervollkommnung verschaffen – eine Tugend,
die sich stark genug fühlt, ohne fremde Hilfe zu bestehn, und die mit
ihren eignen Wurzeln aus der Saat der allumfassenden Vernunft her-
anwächst, an der jeder der Natur nicht entfremdete Mensch in seinem
Innern teilhat.«
31 Ebd., S. 343: »Jenen Leidenschaften, die mich von mir wegziehn
und an sonstwen binden wollen, widersetze ich mich folglich mit al-
ler Kraft. Meine Meinung ist, daß man andern sich zwar leihen sollte,
sich hingeben aber nur ans eigne Selbst.«
32 Ebd., S. 171: »Ein junger Mann fragte den Philosophen Pa-
naitios, ob es sich für einen Weisen gezieme, verliebt zu sein. ›Las-
sen wir den Weisen beiseite‹, antwortete er, ›aber du und ich, die wir
keine sind, sollten uns nicht in etwas derart Ungestümes und Auf-
wühlendes hineinziehen lassen, das uns zu Sklaven anderer und zu
Verächtern unserer selbst macht!‹ Er hatte damit insoweit recht, als
Montaignelektüre 549
vernünftig. Um mir einen Zweifel zu nehmen, gibt man mir drei da-
für: das Haupt der Hydra!«
41 Ebd., S. 38.
42 Ebd., S. 313: »So lasse ich an Kenntnis von mir nichts zu wünschen
oder zu erraten. Wenn man sich über mich unterhalten will, möchte
ich, daß es der Wirklichkeit entspreche und mir gerecht werde. Stellte
einer mich anders dar, als ich war – und sei es, um mich zu ehren –,
käme ich stracks aus dem Jenseits zurück, um ihn Lügen zu strafen.
Selbst von den Lebenden spricht man, wie mir auffällt, stets anders,
als sie sind; und hätte ich mich nicht für das lebenswahre Bild eines
Freundes nach dessen Tod mit aller Kraft eingesetzt, würde man ihn
mir in tausend sich widersprechende Teile auseinandergerissen haben.«
43 Ebd., S. 171.
44 Es handelt sich hier um eine Ergänzung im Exemplaire de Bor-
deaux von 1588, die in den meisten Ausgaben nicht verzeichnet ist.
Siehe: Montaigne, Œuvres complètes, ed. par Albert Thibaudet et
Maurice Rat, Paris 1962, S. 961, Fußnote 3 sowie S. 1652.
45 Montaigne, Essais, Bd. III, a. a. O., S. 67.
46 Ebd., S. 130 f.
47 Ebd., S. 348.
48 Ebd., S. 370.
49 Ebd., S. 211.
50 Ebd., S. 13, 15, 356.
51 Ebd., S. 349.
52 Ebd., S. 370.
53 Ebd., S. 398: »Haltet Einkehr, und ihr werdet in euch alle Argu-
mente der Natur gegen den Tod finden – wahrhafte, die euch in der
Not am besten helfen können. Sie sind es, die einen Bauern, ja ganze
Völker ebenso standhaft sterben lassen wie einen Philosophen.«
54 Ebd., S. 418.
55 Ebd., S. 229.
56 Ebd., S. 322.
57 Ebd., S. 185.
58 Ebd., S. 304.
59 Ebd., S. 245.
60 Ebd., S. 168.
Anmerkung zu Machiavelli 551
ein Fürst mit Besonnenheit und Geduld verfährt und die Zeit wie
die Umstände sich so gestalten, daß seine Methode geeignet ist, so
wird er Erfolg haben; wenn aber die Zeiten und die Umstände sich
ändern, so geht er unter, da er seine Handlungsweise nicht geändert
hat.«
32 Ebd., XXV, S. 199.
33 Ebd., XXVI, S. 203.
34 Renaudet, Machiavel, a. a. O., S. 231. Es handelt sich um eine
Anmerkung in Fußnote 26.
35 Vgl. hier und die folgenden Zitate entsprechend in: C. L. R. Ja-
mes, Die schwarzen Jakobiner. Toussaint L’Ouverture und die Unab-
hängigkeitsrevolution in Haiti, übers. v. Günter Löffler, Köln 1984.
36 Renaudet, Machiavel, a. a. O., S. 70 f.
37 Ebd., S. 73.
gelegentliche äusserungen
1 Zuerst erschienen unter dem Titel Les jours de notre vie in: Les
Temps Modernes 5/51 (1949–1950) zusammen mit Jean-Paul Sartre,
S. 1153–1168; der Beitrag reagiert auf den von Pierre Daix veröffent-
lichten Artikel Pourquoi D. Rousset a-t-il inventé les camps soviéti-
ques?
2 Vgl. VIII. Gesamtrussischer Sowjetkongreß, 22.–29. Dezember
1920, in: W. I. Lenin, Werke, Bd. 31, April – Dezember 1920, Berlin
4
1970, S. 457–531, hier S. 513: »Kommunismus – das ist Sowjetmacht
plus Elektrifizierung des ganzen Landes.«
3 Sidney Hook, Report on the International Day against Dictator-
ship and War, in: Partisan Review, Juli 1949, XVI, no. 7, S. 722–732.
1 Zuerst erschienen in: L’Express Nr. 118, 27. August 1955, S. 7–10.
2 Simone de Beauvoir, La pensée de droite, aujourd’hui, in: Les
Temps Modernes, 10, nos. 112–113, numéro spécial ›La Gauche‹,
1955, S. 1539–1575, hier S. 1539.
3 Benno Sarel, La classe ouvrière en Allemagne orientale. Essai
de chronique (1945–1958), (Les Editions Ouvrières), Paris 1958; dt.:
Benno Sarel, Arbeiter gegen den ›Kommunismus‹ – Zur Geschichte
des proletarischen Widerstandes in der DDR (1945–1958), (Schrif-
ten zum Klassenkampf 43), übers. v. Heidrun Leschke und Peter Liebl,
München 1975.
4 Im Original betitelt mit La ›médiation‹ révolutionnaire.
5 Im Original betitelt mit La médiation avorte.
6 Jean-Paul Sartre, Huis Clos. Pièce en un acte, in: ders., Théa-
tre. Les Mouches. Huis Clos, Paris 1947, S. 111–168, hier: S. 168; dt. in
Jean-Paul Sartre, Bei geschlossenen Türen. Tote ohne Begräbnis. Die
ehrbare Dirne. Drei Dramen, Hamburg 1949, S. 7–43, hier: S. 43.
7 Im Original betitelt Conclusion: Un communisme ›détendu‹?
1 Zuerst erschienen unter dem Titel Le goût pour les faits divers
est-il malsain? in: L’Express no. 82, 18. Dezember 1954, S. 3–4. Vor-
angestellt ist folgende Frage von Françoise Longemeau: »Ce qu’on
560 Anmerkungen des Herausgebers
1 Zuerst erschienen unter dem Titel Indochine S.O.S. in: Les Temps
Modernes, 2, no. 18, 1946–1947, S. 1039–1052. Der von Merleau-Ponty
in Signes aufgenommene Text gibt die Seiten 1039 bis 1044 wieder,
nicht aufgenommen wurden die Seiten 1045 bis 1052.
2 Vgl. Et Borreaux, et victimes… in: Les Temps Modernes, 2/1, no.
15, 1946, S. 23–24.
3 An dieser Stelle im Original aus den Temps Modernes: »[…] par
l’article de Claude Lefort […]«.
562 Anmerkungen des Herausgebers
Machiavelli, Niccolò 311 f., 314, 221, 223, 291–293, 295 f., 298,
316, 318, 320–322, 324, 326–331 300, 302 f., 305 f., 308–310
Malebranche, Nicolas 203, 206,
209–211, 215, 217 Nagy, Imre 432, 514
Malenkow, Georgi Maximilia- Napoléon Bonaparte 326, 330, 379
nowitsch 410, 434 Nikolaus von Kues 206
Mallarmé, Stéphane 60, 114, Nizan, Paul-Yves 32–49
345
Mallet, Serge 15 f. Ockham, Wilhelm von 206
Malraux, André 64–66, 69–73, Ödipus 99
76 f., 79, 81, 83, 87, 89, 104, 148,
344 f., 348, 363–372, 384 Parmenides 182, 224
Mandelbaum, Kurt 494 Pascal, Blaise 111, 203, 206, 221,
Maritain, Jacques 40, 203 292, 298, 300
Marivaux, Pierre Carlet de 30 Paulhan, Jean 24, 349
Marquis de Sade, Donatien Péguy, Charles Pierre 83, 265,
Alphonse François 342, 273 f., 278, 390
457 f. Péret, Benjamin 369
Marx, Karl 7, 9, 12–16, 106, 186, Pflimlin, Pierre Eugène Jean 502,
189, 329 f., 385, 392, 394, 399, 504, 516
404, 406, 411 f., 449 f., 472, 488 Picasso, Pablo Ruiz 6
Maspéro, François 32 Platon 113, 183
Masson-Oursel, Paul 192 Pleven, René 517
Matisse, Henri 62 Plutarch 306
Maulnier, Thierry 384 Ponge, Francis 104, 348
Mauriac, François 359, 477–483 Pos, Hendrik J. 118, 120, 148, 150
Maurras, Charles 1 Poussin, Nicolas 61
Mauss, Marcel 163–166 Prévost, Jean 348
Mencius 193 Proust, Marcel 334 f., 342 f.
Mendelejew, Dimitrij
Iwanowitsch 169 Rajk, László 386
Mendès-France, Pierre 497 f., 502, Ramadier, Paul 513
516 f. Ramdane, Abane 506
Mérimée, Prosper 462 Renaudet, Augustin 324, 327
Merleau-Ponty, Maurice 36 Renoir, Pierre-Auguste 76, 86
Mikojan, Anastas Richelieu 457
Iwanowitsch 448 f. Ricœur, Paul 93
Mill, John Stewart 141 Rimbaud, Arthur 345
Mollet, Guy 498–501, 512 f. Rivière, Jacques 465 f.
Molotow, Wjatscheslaw Robespierre, Maximilien Marie
Michailowitsch 472 Isidore de 447
Mornard, Jacques 378 Romm, Vladimir 367
Monnier, Adrienne 464 Roosevelt, Theodore 405 f.
Montaigne, Michel Eyquem de 30, Rosmer, Alfred 408
568 Personenverzeichnis
Rousset, David 389, 391, 400–403 Tito, Josip Broz 428, 434
Rubaschow, Schneur Salman 370 Togliatti, Palmiro 434, 442–444,
Sacher-Masoch, Leopold von 458 446, 449, 453
Sarel, Benno 411, 413 f., 417, 419, Tolstoi, Leon 386 f.
421, 423, 425, 429 Toussaint-Louverture, François-
Sartre, Jean-Paul 7, 23, 31–39, Dominique 326, 330
41–47, 49 f., 53, 75, 78, 86, 137, Trinquier, Roger 504
189, 224, 226, 348, 451, 452 Trotzki, Leo Lew
Saussure, Ferdinand de 53–55, 59, Dawidowitsch 364–369,
112, 120, 123, 175 372–379, 381–384, 392, 407 f.,
Sauvy, Alfred 427, 493 450, 457, 505
Schachtman, Max 368 Trotzki, Natalia Sedowa 364, 366
Schelling, Friedrich Wilhelm Troubetzkoy, Nikolai
Joseph 260 Sergejewitsch 176
Serge Kibaltschisch, Victor 363 f., Truman, Harry S. 370
366, 386, 369, 374 f. Tschang Kai-Shek 406
Sertillanges, Antonin-Gilbert 266 Tschuang-Tse 193 f.
Sforza, Francesco 321 Tschu-Hi 194
Shakespeare, William 464
Shaw, Bernard 283 Ulbricht, Walter Ernst Paul 414,
Sirius 502 425
Sokrates 298
Sophokles 36 Valéry, Paul Ambroise 19, 25, 83,
Sorel, Georges 265 262, 334 f., 343 f., 347 f., 356 f.
Spencer, Herbert 267 Vallentin, Antonina 283
Spinoza, Baruch 41, 215, 217, Van Gogh, Vincent Willem 20,
230 f., 282 72, 78
Stalin, Joseph 7, 367 f., 372–374, Velan, Yves 15
379 f., 382, 405 f., 408 f., 440–445, Vermeer, Jan 83 f.
451 Vettori, Francesco 327
Stark, Alexander 417 Viète, François 283
Starobinski, Jean 30 Vuillemin, Jules 87
Stendhal 28, 71, 111, 342, 348,
459, 461, 470, Wahl, Jean 220
Sulzberger, Cyrus L. 363–365, Wallon, Henri 67
368, 372 Warnke, Herbert 418
Suslow, Michail Andrejewitsch Weber, Max 407
434, 437 f., 441, 449 Wilberforce, William 325
Suwarin, Boris 368 Wischinsky, Andrej 375
Wurmser, André 391
Thomas Morus 316
Thomas von Aquin 206 Yeou-Lan, Fong 193
Thorez, Maurice 453
Tillion, Germaine 493 Zenon 53, 182