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MAURICE MERLEAU-PONTY

ZEICHEN

auf der Grundlage


der Übersetzungen von Barbara Schmitz,
Hans Werner Arndt und Bernhard Waldenfels

unter Mitarbeit von Annika Hand und Dominic Harion

kommentiert und mit einer Einleitung


herausgegeben von
chr ist ia n b e r me s

FELIX MEINER VERLAG


HAMBURG
PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 590

Veröffentlicht mit Unterstützung des französischen


Kulturministeriums (Nationales Buchzentrum).
Ouvrage publié avec le concours du Ministère français chargé
de la culture – Centre national du livre.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in


der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-7873-1832-2

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2007. Alle Rechte an dieser Aus-


gabe, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechani-
schen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft
auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnit-
te durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf
Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, so-
weit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type
& Buch Kusel, Hamburg. Druck: GGP Media, Pößneck. Bindung:
Litges & Dopf, Heppenheim. Gedruckt auf säurefreiem, alterungs-
beständigem Werkdruckpapier. Printed in Germany.
INHALT

Einleitung. Von Christian Bermes ................................................ VII


Editorische Notiz ......................................................................... XXI

Vorwort ........................................................................................ 1
Das Indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens ....... 53
Über die Phänomenologie der Sprache ...................................... 117
Der Philosoph und die Soziologie .............................................. 139
Von Mauss zu Claude Lévi-Strauss ............................................. 163
Überall und nirgends .................................................................. 181
Der Philosoph und sein Schatten ............................................... 233
Bergson im Werden ..................................................................... 265
Einstein und die Krise der Vernunft ........................................... 281
Montaignelektüre ........................................................................ 291
Anmerkung zu Machiavelli ......................................................... 311
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge ..................... 333
Gelegentliche Äußerungen .......................................................... 361
Die paranoische Politik ........................................................... 363
Marxismus und Aberglaube ................................................... 385
Die UdSSR und die Lager ....................................................... 388
Die Verträge von Jalta ............................................................. 404
Die Zukunft der Revolution ................................................... 410
Über die Entstalinisierung ...................................................... 432
Über die Erotik ........................................................................ 456
Über die Lokalnachrichten ..................................................... 459
Über Claudel ........................................................................... 464
Über die Enthaltung ............................................................... 471
VI Inhalt

Über Indochina ....................................................................... 477


Über Madagaskar .................................................................... 485
Über den 13. Mai 1958 ............................................................ 498
Morgen … ............................................................................... 504

Siglenverzeichnis .......................................................................... 519


Anmerkungen des Herausgebers ................................................ 521
Personenregister .......................................................................... 565
EINLEITUNG

Kurz vor seinem plötzlichen Tod im Jahre 1961 erscheint unter


dem Titel Zeichen (Signes) die letzte große Veröffentlichung Mer-
leau-Pontys. Er versammelt darin die wichtigsten seiner philo-
sophischen Aufsätze und weitere kleinere Beiträge, die zum Teil
der Politik, zum Teil den aktuellen und hitzigen Diskussionen im
Nachkriegsfrankreich der 50er Jahre gewidmet sind. Die inhalt-
liche und stilistische Bandbreite der von Merleau-Ponty 1960 für
den vorliegenden Band ausgewählten Analysen, deren Erstveröf-
fentlichung in den Zeitraum von 1948 bis 1960 fällt, ist beeindru-
ckend. Sie reicht von subtilen Diskussionen und durchkompo-
nierten Aufsätzen, die die Sprachphilosophie, das Verhältnis von
Wissenschaft und Philosophie, die Phänomenologie, den Struk-
turalismus und Existentialismus, die Psychoanalyse, die Sozio-
logie und Ethnologie sowie die Philosophiegeschichte betreffen,
über tagesaktuelle Einschätzungen der marxistischen Politik bzw.
des stalinistischen Terrors sowie des Kolonialismus bis hin zu es-
sayistischen Gelegenheitsschriften und Interviews zur politischen
und kulturellen Situation Frankreichs. Angesichts der Vielfalt an
Themen und der an der Phänomenologie geschulten Dichte der
Gedankenführung kann gerade dieser Band als eine Einführung
in das Denken Merleau-Pontys angesehen werden. Das von ihm
in der Phänomenologie der Wahrnehmung initiierte Programm ei-
ner Analytik der inkarnierten Vernunft wird in den vorliegenden
Aufsätzen im Stil einer phänomenologischen Kulturphilosophie
fortgeführt, auf eine Philosophie der Expressivität hin erweitert
und durch eine ontologische Betrachtung fundiert.1

1 Zur Philosophie Merleau-Pontys und zu seinem Lebensweg vgl.

Christian Bermes, Merleau-Ponty zur Einführung, Hamburg 22004. Vgl.


weiterhin zu der Entwicklung des Denkens Merleau-Pontys in den 40er
und 50er Jahren die Sammlung: Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und
VIII Christian Bermes

Die nun vorliegende vollständige Übersetzung der Signes


kommt einem Desiderat nach, das schon seit langem formuliert
wird. Lagen doch bereits relativ früh die philosophischen Haupt-
schriften Merleau-Pontys, die Phänomenologie der Wahrnehmung
und die Struktur des Verhaltens, in deutscher Sprache vor, und
wurden peu à peu wichtige weitere Werke ins Deutsche über-
tragen wie etwa die Aufsatzsammlung Sinn und Nicht-Sinn oder
die aus dem Nachlaß edierten Bände Die Prosa der Welt und Das
Sichtbare und das Unsichtbare.2 Nur die Signes konnten bislang
als vollständiges Werk vom deutschsprachigen Publikum nicht
rezipiert werden. Diese Lücke ist nun geschlossen.

*
Greift man auf Merleau-Pontys eigene Bestimmung eines philo-
sophischen Klassikers zurück, so gehört er sicherlich in den Ka-
non der Philosophie: »Man erkennt«, so bemerkt er, die Klassiker
»daran, daß sie niemand wörtlich nimmt und daß die neuen Ge-
gebenheiten dennoch nie völlig außerhalb ihres Zuständigkeits-
bereichs stehen, daß sie neue Echos auslösen, in sich neue Reliefs
offenbaren.« (S. 13)3 Merleau-Pontys Philosophie löst innerhalb
und außerhalb der philosophischen Diskussion bis heute eine
Vielfalt von Echos aus, und in seinem Denken werden stets neue

der Geist. Philosophische Essays, hrsg. v. Christian Bermes, Hamburg 2003.


Vier der dort aufgenommenen Aufsätze (Das Indirekte Sprechen und die
Stimmen des Schweigens, Von Mauss zu Claude-Lévi Strauss, Der Philosoph
und sein Schatten, Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge) stam-
men ursprünglich aus den Signes und werden hier dementsprechend wie-
der aufgenommen. Beide Bände zusammen dokumentieren den Denkweg
Merleau-Pontys, wie er sich nach der Veröffentlichung der Phänomenologie
der Wahrnehmung vollzieht.
2 Zur vollständigen Bibliographie der Schriften Merleau-Pontys vgl.

Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, a. a. O. S. 357–365.


3 Verweise auf Belegstellen in der hier vorgelegten Übersetzung der

Signes werden in Klammern den Zitaten angefügt und beziehen sich auf
den nachfolgenden Text.
Einleitung IX

Formationen erkennbar, zu deren Entstehen seine offene, kei-


nem Dogma, sondern den verhandelten Problemen verpflich-
tete Art des Philosophierens selbst beiträgt. Gleichzeitig, oder
vielleicht auch deshalb, wird man von Merleau-Ponty auch das
sagen dürfen, was er zu Machiavelli bemerkt: »Aber man mag
diesen schwierigen Denker nicht, der zudem ohne Götzen aus-
kommt.« (S. 311) Denn einfach ist die Lektüre der Schriften Mer-
leau-Pontys, insbesondere das Studium der hier veröffentlichten
Beiträge, keineswegs. Auch sie kommen ohne Götzen aus, und sie
präsentieren eine auf den ersten Blick unübersichtliche Mannig-
faltigkeit an Themen- und Problemstellungen, die zudem durch
eine sich stets weiterentwickelnde, sich in der Sachauseinander-
setzung erst ausformulierende philosophische Theorie vorstellig
werden. Merleau-Ponty stellt Fragen, er wirft Probleme auf, er
konfrontiert seine Zeitgenossen mit ihren eigenen Voraussetzun-
gen, was diejenigen verwirrt und bis heute irritieren kann, die in
der Philosophie eher Ausrufezeichen anstelle von Fragezeichen
suchen. Merleau-Ponty selbst weiß um die Heterogenität der ver-
sammelten Schriften, und er versucht in seinem umfangreichen,
eigens für die Sammlung verfaßten Vorwort die verschiedenen
Fäden zusammenzuführen und die Diskussions- sowie Metho-
denstränge aufeinander zu beziehen. Dementsprechend kann es
nicht das Ziel dieser einleitenden Bemerkungen sein, ein weiteres
Vorwort zu präsentieren, es kann nur darum gehen, den thema-
tischen und systematischen Rahmen der Überlegungen Merleau-
Pontys zu konturieren.
Denn so vielfältig die verhandelten Themen des Buches sein
mögen, so konkret stellt sich die von Merleau-Ponty behandelte
Problemlage dar. In der Vielfalt der sich ausdifferenzierenden
Wissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts wird die Orientie-
rung in der überbordenden Mannigfaltigkeit der empirischen
Befunde in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen wird
der Maßstab der Vermessung der Fakten prinzipiell in Frage
gestellt, so daß er nicht mehr einem souveränen Subjekt zuge-
sprochen oder in einer absoluten Wirklichkeit gesucht werden
kann, wenngleich immer wieder die »ultra-subjektive« und die
X Christian Bermes

»ultra-objektive« (S. 372) Haltung wissenschaftlicher Theorie-


konstitution als Fluchtpunkte markiert werden;4 zum anderen
scheint ein einheitliches, zentriertes und fixiertes Koordinaten-
system zur Beurteilung der Wirklichkeit nicht mehr gegeben; die
substantielle Ordnung scheint einer funktionalen Logik weichen
zu müssen.5
Diese Diagnose teilt Merleau-Ponty mit nicht wenigen sei-
ner Zeitgenossen – z. B. auch mit Ernst Cassirer. In seinem nur
wenige Jahre vor der Publikation der Zeichen verfaßten Versuch
über den Menschen kommt Cassirer im Anschluß an die Ana-
lysen Max Schelers auf eine Krise eigener Art zu sprechen, die
das Denken des 20. Jahrhunderts und mit ihm die Kultur und
den Menschen zu zerreißen droht. Zum einen verweist Cassi-
rer auf den Umstand, daß die gegenwärtigen Bestimmungen des
Menschen und der Kultur »ihr intellektuelles Organisations-
zentrum« verloren haben und an dessen Stelle »die Anarchie der
verschiedenen Denkansätze« getreten ist. »Die wirkliche Krise«,
so Cassirers Einschätzung, »trat zutage, als eine zentrale Kraft,
die imstande war, die individuellen Bemühungen zu bündeln
und zu lenken, nicht mehr existierte«.6 Zum anderen droht die

4 Was Merleau-Ponty zur »paranoischen« Situation der Politik aus-

führt, wird in diesem Sinne von ihm auch auf die Wissenschaften und de-
ren Krise bezogen: »Die ultra-objektive und die ultra-subjektive Haltung
sind zwei Aspekte einer einzigen Krise des politischen Denkens und der
politischen Welt.« (S. 372)
5 Zur Logik der Prozesse, deren Verstehen insbesondere als Aufgabe der

Philosophie zu begreifen ist, vgl. u. a. die folgende Bemerkung: »Die Philo-


sophie ist unersetzlich, weil sie uns die Bewegung offenbart, durch die Le-
ben zu Wahrheiten werden, und die Zirkularität dieses einzigartigen Seins,
das in gewissem Sinne bereits alles ist, was es gerade denkt.« (S. 161)
6 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine

Philosophie der Kultur (engl. 1944), aus dem Englischen übersetzt von
Reinhard Kaiser, Hamburg 22007, S. 44. Die Cassirersche Herleitung und
Beschreibung dieses Befunds ist als eine Ausformulierung der eher knap-
pen These Schelers zu verstehen, der in der Stellung des Menschen im
Kosmos darauf aufmerksam macht, daß wir »eine naturwissenschaftliche,
eine philosophische und eine theologische Anthropologie« besitzen, »die
Einleitung XI

geistige Aufarbeitung und praktische Bewertung der vielfältigen


empirischen Befunde in den Wissenschaften durch den Primat
eines sich selbst seines intellektuellen Vermögens beraubenden
und sich als Hyperrationalismus maskierenden Naturalismus
verloren zu gehen. Die Tatsachen scheinen das Denken ersetzen
zu können: »Aber Tatsachenreichtum«, so wendet Cassirer ein,
»erzeugt nicht notwendig Ideenreichtum.«7
Auch Husserl äußert sich ähnlich, wenn er in den 30er Jahren
in seiner Schrift zur Krisis der europäischen Wissenschaften an die
Entwicklung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts erinnert
und die darin vollzogene »Umwendung der allgemeinen Bewer-
tung« kritisch auf den Begriff bringt: »Die Ausschließlichkeit, in
welcher sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ganze
Weltanschauung des modernen Menschen von den positiven
Wissenschaften bestimmen und von der ihr verdankten ›pro-
sperity‹ blenden ließ, bedeutete ein gleichgültiges Sichabkehren
von den Fragen, die für ein echtes Menschentum die entschei-
denden sind.« Und er fügt ähnlich wie Cassirer, jedoch noch in
einer schärferen Tonart hinzu: »Bloße Tatsachenwissenschaften
machen bloße Tatsachenmenschen.«8
Diese Form wissenschaftlicher ›Rationalität‹, die sich nicht
auf das Faktum beruft, um es zu bewerten, sondern ihren letz-
ten Anspruch darin zu erkennen sucht, sich im Faktum zu ver-
lieren und aufzugeben, bezeichnet Merleau-Ponty als ›kleinen
Rationalismus‹ des späten 19. Jahrhunderts, den er dem ›gro-

sich nicht umeinander kümmern – eine einheitliche Idee vom Menschen


aber besitzen wir nicht.« Dementsprechend ist nach Scheler »zu keiner Zeit
der Geschichte der Mensch sich so problematisch geworden […] wie in
der Gegenwart«; vgl. Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos
(1928), in: ders., Späte Schriften, Gesammelte Werke IX, hrsg. v. Manfred
Frings, Bonn 1995, S. 7–71, hier: S. 11.
7 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, a. a. O., S. 45.
8 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und

die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänome-


nologische Philosophie, hrsg. v. Walter Biemel, Husserliana VI, Den Haag
21962, S. 3 f.
XII Christian Bermes

ßen Rationalismus‹ des 17. Jahrhunderts entgegenstellt. Ist das


17. Jahrhundert offen für die Unterschiedlichkeit der Seinsregio-
nen, wird das Sein »nicht gänzlich auf die Ebene des äußeren
Seins beschränkt oder abgeflacht«, und gibt es »das Sein des Sub-
jekts oder der Seele, das Sein seiner Ideen, die Beziehungen der
Ideen untereinander und den internen Wahrheitsbezug« (S. 215),
so zeichnet sich der ›kleine Rationalismus‹ durch die bis heute
unüberbietbare, aber auch naive Sehnsucht aus, Ursachen auf
Fakten zu reduzieren und Gründe zu vergessen. Dieser ›kleine
Rationalismus‹ »ging von einer unermeßlichen, bereits in den
Dingen geleisteten Wissenschaft aus, die von der tatsächlichen
Wissenschaft am Tag ihrer Vollendung eingeholt würde und die
für uns keine Frage mehr offen ließe, da auf jede sinnvolle Frage
eine Antwort gegeben werde«. (S. 213) »Die Vernunft verschmolz
mit der Erkenntnis der Bedingungen oder der Ursachen: Überall,
wo man eine bestimmte Konditionierung aufdeckte, dachte man,
jede Frage zum Verstummen gebracht, das Problem des Wesens
mit dem Problem des Ursprungs gelöst und die Tatsache wieder
zum Gehorsam gegenüber der Ursache verpflichtet zu haben.«
(S. 214) Dieser Ansatz, der damals seine Popularität besaß und bis
heute wohl seine Verlockungskraft nicht eingebüßt hat, erscheint
Merleau-Ponty nicht nur »voller Mythen« (S. 213), er präsentiert
sich ihm vielmehr als eine Form der Selbstverleugnung. Denn die
Berufung auf das Faktum ist keine Tatsache, sondern eine These.
Und in diesem Sinne stehen sich nicht Faktum und Idee gegen-
über, sondern zwei philosophische Konzepte: »Was man dem in-
ternen Studium der Philosophie entgegenhält, ist nie die sozio-
historische Erklärung« oder die naturwissenschaftliche Katalogi-
sierung von Ursachen, »sondern immer eine andere Philosophie,
die in ihr verborgen ist.« (S. 185) Die Philosophie ist in diesem
Sinne nicht dem Faktum entgegengestellt, das Geistige tritt nicht
in Widerstreit mit der Tatsache, die Naturwissenschaften sind
nicht der Opponent der Geisteswissenschaften – jedes Faktum
selbst ist vielmehr eine philosophische Tatsache und als solche
zugleich eine These: »Die Philosophie ist überall, sogar in den
›Fakten‹ – und sie hat nirgends einen Bereich, in dem sie vor der
Einleitung XIII

Ansteckung durch das Leben geschützt ist.« (S. 187) Dieses Leben
aber »wird nicht nur auf einem Register gespielt: Vom einen zum
anderen gibt es Echos, Formen des Austauschs«. (S. 458)
Vor diesem Hintergrund läßt sich die Vielfalt und Pluralität
der in den Zeichen vorgestellten Analysen verstehen. Selbst in den
politischen Traktaten, die den letzten Teil des Bandes ausmachen,
erkennt man noch das Anliegen Merleau-Pontys, hinter einem
meist nur postulierten Widerstreit das Konkrete der Philosophie
und des Lebens zu suchen. Zwar mag die ein oder andere Frage
der Zeit geschuldet und heute kaum mehr verständlich sein, die
Art und Weise aber, wie Merleau-Ponty der jeweiligen Frage be-
gegnet, belegt sein philosophisches Gespür für eine Archäologie
der Kultur, die unter der Rhetorik der Differenz von Idee und
Tatsache, Überbau und Unterbau oder Geist und Natur das je-
weilige Konkretum als Verkörperung eines komplexen Ganzen
entdeckt. Fast könnte man es als eine List der Vernunft bezeich-
nen, wenn Merleau-Ponty in einem kurzen Beitrag, der die Re-
levanz von Lokalnachrichten diskutiert, folgendes ausführt und
sich damit unterderhand auch selbst kommentiert: »Das Gefallen
an der Lokalnachricht ist der Wunsch zu sehen, und sehen heißt,
in einer Falte des Gesichts eine Welt zu erahnen, die der unsrigen
gleicht.« (S. 459)
Um diese Welt nicht nur zu erahnen, sondern tatsächlich zu
verstehen, greift Merleau-Ponty das Husserlsche Projekt der Kri-
sis der europäischen Wissenschaften auf und fahndet nach dem
verborgenen, jedoch stets manifesten Logos der Lebenswelt, in-
dem er nun nicht mehr wie Husserl allein die Naturwissenschaf-
ten, sondern die Sozial- und Kulturwissenschaften, die Sprach-
wissenschaften sowie die Psychoanalyse – um hier nur einige
Disziplinen zu nennen – in ihrer Begriffsbildung verfolgt. Nicht
etwa jenseits der Wissenschaften, sondern diesseits derselben, in
ihrem methodischen Fortschritt stößt er auf Entwicklungen, die
das klassische Wissenschaftsverständnis in Frage stellen, so daß
beispielsweise auch die Position des Wissenschaftlers als eines
souveränen Beobachters relativiert wird. »Man wird sehen«, so
kündigt Merleau-Ponty im Vorwort an, »daß die standpunkt-
XIV Christian Bermes

lose Überblicksphilosophie nur eine Episode war und daß diese


Episode beendet ist.« (S. 17)9 An die Stelle einer theoretischen
Erklärung von Objekten durch einen unparteiischen Zuschauer
tritt die Analytik von Prozessen, deren Logik sich nur aus dem
Prozeß selbst erschließen läßt – eine, wie Merleau-Ponty selbst
gesteht, »strenge und […] fast schwindelerregende Idee. Wir
müssen uns ein Labyrinth spontaner Schritte vorstellen, die sich
aufnehmen, sich manchmal überschneiden und bestätigen, aber
auf wie vielen Umwegen und durch welchen Wust von Unord-
nung hindurch – das heißt, wir müssen begreifen, daß das ganze
Unternehmen auf sich selbst beruht.« (S. 358)
Der Dynamisierung korrespondiert eine Öffnung und Wei-
tung des philosophischen Rationalitätskonzepts, das Merleau-
Ponty auf Hegel10 zurückführt und mit Husserls Phänomeno-
logie erkundet. »Die Reflexion wird nicht von dem Unreflektier-
ten in Frage gestellt, es ist die Reflexion, die sich selbst in Frage
stellt, weil ihr Bemühen um Wiederaufnahme, Inbesitznahme,
Verinnerlichung oder Immanenz per definitionem nur sinnvoll
ist im Hinblick auf ein schon gegebenes Etwas, das sich unter
dem Blick selbst, der sich anschickt, es darin zu suchen, in seine
Transzendenz zurückzieht.« (S. 236) Diese Öffnung des philoso-
phischen Blicks auf eine präreflexive Wirklichkeit, die nicht der

9 Als Beispiel sei hier auf die Einführung des Strukturbegriffs in die

Soziologie, Ethnologie und Sprachwissenschaft verwiesen, die Merleau-


Ponty aufgreift, um die neue Logik wissenschaftlicher Forschung zu dis-
kutieren; vgl. S. 166 ff.
10 Zur Einschätzung der Hegelschen Öffnung der Philosophie auf Re-

gionen der Präreflexivität vgl. Maurice Merleau-Ponty, Der Existentialis-


mus bei Hegel, in: ders., Sinn und Nicht-Sinn (frz. 1948), aus dem Fran-
zösischen von Hans-Dieter Gondek, München 2000, S. 83–93, hier: S. 83:
»In Hegel hat all das seinen Anfang, was sich seit einem Jahrhundert an
Großem in der Philosophie ereignet hat, beispielsweise der Marxismus,
Nietzsche, die Phänomenologie und der deutsche Existentialismus, die
Psychoanalyse; er hat das Unternehmen einer Erkundung des Irrationalen
und seiner Integration in eine erweiterte Vernunft eingeleitet, das nach wie
vor die Aufgabe unseres Jahrhunderts ist.«
Einleitung XV

Vernunft entgegengesetzt ist, sondern als Artikulationsfeld des


Vernünftigen begriffen werden muß, erlaubt es Merleau-Ponty,
die Konturen einer phänomenologischen Kulturphilosophie zu
skizzieren. In ihr geht es darum, eine Ambiguität eigener Art zu
verstehen und philosophisch zu explizieren, in der Nähe und
Distanz, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit sowie Gleichzeitigkeit
und Ungleichzeitigkeit einander nicht gegenüberstehen, sondern
miteinander in einer eigenen Form der Simultanität existieren.
Nicht zuletzt dies kann als ein Faktum der Kultur angesehen
werden, das Merleau-Ponty erläutert, wenn er das Verhältnis
von Philosophie und Geschichte anspricht: »Die Philosophie
ist weder Sklavin noch Herrin der Geschichte. Die Beziehungen
zwischen beiden sind weniger einfach, als man geglaubt hat: Es
handelt sich im wörtlichen Sinne um eine Aktion auf Distanz, bei
der jede vom Grund ihrer jeweiligen Differenz die Mischung und
Vermischung einfordert. Wir müssen den richtigen Gebrauch
dieses Ineinandergreifens noch erlernen.« (S. 17)
Zur Erläuterung der kulturphilosophischen Perspektive lohnt
es, noch einmal an Cassirers Bestimmung des Menschen in der
Kultur zu erinnern: »Der Begriff der Vernunft ist höchst ungeeig-
net, die Formen der Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu
erfassen. Alle diese Formen sind symbolische Formen. Deshalb
sollten wir den Menschen nicht als animal rationale, sondern
als animal symbolicum definieren. Auf diese Weise können wir
seine spezifische Differenz bezeichnen und lernen wir, welcher
neue Weg sich ihm öffnet – der Weg der Zivilisation.«11 Wenn
Merleau-Ponty den Wandlungen der ethnologischen Theoriebil-
dung nachspürt, so kommt er zu einem durchaus vergleichbaren
Ergebnis: Zu einem adäquaten Verständnis fremder Kulturen, ja
der Kultur überhaupt gelangt man, »wenn man die symbolische
Funktion als Quelle jeglicher Vernunft und Unvernunft betrach-
tet, denn Menge und Reichtum an Bedeutungen, die dem Men-
schen zur Verfügung stehen, überschreiten stets den Kreis der de-
finitiven Gegenstände, die den Namen Signifikat verdienen, die

11 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, a. a. O., S. 51.


XVI Christian Bermes

symbolische Funktion ist ihrem Gegenstand notwendigerweise


stets voraus, und sie findet das Reale nur, indem sie ihm ins Ima-
ginäre vorauseilt. Es stellt sich also die Aufgabe, unsere Vernunft
zu erweitern, um sie in den Stand zu setzen, all das zu umgreifen,
was in uns und in den Andern der Vernunft vorausgeht und über
sie hinausgeht.« (S. 175)
Eine derart konzipierte Kulturphilosophie ist kein Irrationalis-
mus, sie präsentiert sich auch nicht als ein schlichtes Verzeichnis
kultureller Zufälligkeiten – sie vollzieht sich im Gegenteil als eine
radikalisierte, einem ihrem Ursprung und ihrem Entstehen ver-
pflichtete Konzeption der Rationalität. Dieses Projekt hat Mer-
leau-Ponty bereits in der Phänomenologie der Wahrnehmung in
Angriff genommen,12 als er der leiblich situierten, der inkarnier-
ten Vernunft auf den Grund ging. Die vorliegenden Studien nun
erweitern den Blickwinkel, indem explizit die kulturellen Berei-
che der Sprache, der Geschichte, der Ästhetik, der Wissenschaften
und der Politik thematisch werden.
Doch anders als Cassirer, der die Logik der symbolischen For-
men erkundet, indem er der Frage nachgeht, »wie überhaupt ein
bestimmter sinnlicher Einzelinhalt zum Träger einer allgemeinen
geistigen ›Bedeutung‹ gemacht werden kann«13, und die einzel-
nen symbolischen Formen differenziert, stellt sich Merleau-Ponty
weniger die Aufgabe, die interne Logik einer jeden kulturellen
Region zu explizieren und auf ein, wie Cassirer es nennt, »allge-

12 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (frz.

1945), aus dem Französischen übersetzt von Rudolf Boehm, Berlin 1966,
S. 418: »Wir müssen die Deskriptionen zum Anlaß nehmen, ein Verstehen
und eine Reflexion zu begründen, die sich als radikaler erweisen als alles
objektive Denken. Der Phänomenologie im Sinne direkter Beschreibung
muß sich eine Phänomenologie der Phänomenologie zur Seite stellen.«
Vgl. ebd. S. 257: »Radikal ist eine Reflexion, die mich erfaßt im Begriff,
die Idee des Subjekts und die des Objekts zu bilden und zu formulieren,
die den Ursprung beider Ideen zutage legt, die nicht allein operierende,
sondern in dieser Operation ihrer selbst bewußte ist.«
13 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1: Die

Sprache (1923), Darmstadt 101994, S. 27.


Einleitung XVII

meines Formprinzip«14 zu beziehen, er sucht vielmehr vorausset-


zungslos, d. h. im Prozeß selbst, der Entstehung von Welt und Ich,
Subjektivität und Intersubjektivität, Geistigem und Faktischem
nachzugehen. Und zusätzlich verbinden sich seine Analysen im
Gegensatz zu Cassirers Ansatz immer mit einer ontologischen
Perspektive, die das Fundament der Kultur in der Lebenswelt
aufzudecken sucht.
Es ist insbesondere das Ausdrucksphänomen, das ihm bei die-
sem Vorgehen als Leitfaden dient und das er auf eine virtuose
Weise – besonders in dem umfangreichen Aufsatz Das indirekte
Sprechen und die Stimmen des Schweigens (S. 53–116) philoso-
phisch auseinanderlegt. »Im Ausdruck geht es […] darum, die
gesagten Dinge neu zu ordnen, sie mit einem neuen Merkmal
einer Krümmung zu versehen, sie an ein bestimmtes Relief an-
zupassen. Es gibt das, was auf viel geheimnisvollere Weise, vom
Grund der Sprache her, alle Dinge von vornherein als benenn-
bare einfordert – und es gibt das, was zu sagen ist, was noch nicht
mehr als eine deutliche Unruhe in der Welt der gesagten Dinge
ist. Es gilt, einen Modus zu finden, bei dem sich beide wieder
zusammenschließen oder einander begegnen.« (S. 25)
Damit realisiert er ein Projekt, das er Anfang der 50er Jahre im
Zuge seiner Berufung an das Collège de France angekündigt hat
und das auch den vieldeutigen Titel der vorliegenden Sammlung
in einigen Konnotationen verständlich werden läßt: »Im allge-
meinen haben Ausdrucksgebärden, an denen die Physiognomik
vergeblich zureichende Anzeichen eines emotionalen Zustandes
aufweisen wollte, einen eindeutigen Sinn nur in einer solchen
Situation, die durch sie hervorgehoben oder unterstrichen wird.
Aber wie ein Phonem, das noch selbst ohne Sinn ist, bereits ei-
nen diakritischen Wert besitzt, zeigen die Ausdrucksgebärden die
Konstitution eines Symbolsystems an, das eine unendliche Anzahl

14 Ebd., S. 11: »Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur.

Sie sucht zu verstehen und zu erweisen, wie aller Inhalt der Kultur, sofern
er mehr als bloßer Inhalt ist, sofern er in einem allgemeinen Formprinzip
gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat.«
XVIII Christian Bermes

von Situationen nachzeichnen kann. Sie stellen eine Sprache dar.


Umgekehrt kann die Sprache als eine derart manifeste, präzise,
systematische Gestikulation angesehen werden, die zahlreiche
Überschneidungen herstellen kann, so daß die innere Struktur
der Aussage nur auf jene geistige Situation paßt, auf die sie ant-
wortet. Sie wird so zum eindeutigen Zeichen derselben.«15
Wenngleich Merleau-Ponty in den 50er Jahren auf das Phä-
nomen des Ausdrucks immer wieder zurückkommt, so bleibt er
nicht bei einer Philosophie der Expressivität stehen, seine Stu-
dien münden vielmehr in eine Ontologie, mit deren Ausarbei-
tung er besonders in seinen letzten Jahren beschäftigt war und
die er ebenfalls bereits Anfang der 50er Jahre in Aussicht stellte:
»Es soll eine Besinnung sein auf den Logos, der uns die bisher
stumm gebliebene Welt zur Sprache bringen läßt, wie auch auf
den Logos der wahrgenommenen Welt […] Wir greifen hier die
Fragen der traditionellen Metaphysik auf, doch in einer Weise,
die ihnen den Charakter der Probleme nimmt, d. h. derjenigen
Schwierigkeiten, die ohne große Mühe mit einigen metaphysi-
schen Entitäten, die zu diesem Zweck gebildet wurden, gelöst
werden können. Die Begriffe ›Natur‹ und ›Vernunft‹ zum Beispiel
können diese Fragen gar nicht verständlich machen, vielmehr
bergen sie die Metamorphosen in sich, die wir von der Wahr-
nehmung bis zu den komplexen Weisen menschlichen Verkehrs
vorgefunden haben.«16 Dieses angekündigte Projekt ist nicht
vollendet worden. Ansätze und Hinweise finden sich in dem
letzten großen Aufsatz Merleau-Pontys, der mit dem Titel Das
Auge und der Geist 17 überschrieben ist, sowie in der Fragment
gebliebenen und postum veröffentlichen Studie Das Sichtbare
und das Unsichtbare.18 Eine derart konzipierte Ontologie soll das

15 Maurice Merleau-Ponty, Schrift für die Kandidatur am Collège de

France (1951/52), in: ders., Das Auge und der Geist, a. a. O., S. 99–110, hier:
S. 105 f.
16 Ebd., S. 109 f.
17 Ebd., S. 275–317.
18 Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, hrsg.
Einleitung XIX

Fundament der kulturphilosophischen Betrachtung bereitstellen,


sie öffnet den philosophischen Blick auf die verwickelte Struktur
derjenigen Seinsart, aus der heraus die menschliche Praxis erst
verständlich werden kann: »Ebenso hat die Welt und das Sein
nur in der Bewegung Bestand; und allein auf diese Weise können
alle Dinge gemeinsam sein. Die Philosophie ist die Erinnerung an
dieses Sein, mit dem sich die Wissenschaft nicht beschäftigt, weil
sie die Beziehungen des Seins und des Bewußtseins wie die des
Geometrals und seiner Projektionen auffaßt und dabei das Sein
der Verwicklungen vergißt, das man die Topologie des Seins nen-
nen könnte.« (S. 30) Auch die folgenden Texte Merleau-Pontys
bewegen sich auf unterschiedliche Art und Weise auf eine solche
ontologische Grundlegung zu. Dabei variiert Merleau-Ponty die
Husserlsche Phänomenologie in entscheidender Weise und gibt
ihr damit eine neue Wendung. Denn das Ziel der Phänomeno-
logie besteht nun nicht mehr darin, die – wie Husserl bemerk-
te – »noch stumme Erfahrung […] zur reinen Aussprache ihres
eigenen Sinnes zu bringen«,19 Merleau-Ponty radikalisiert viel-
mehr diesen Ansatz, indem er versucht, das noch stumme Sein
zur Aussprache seines eigenen Sinnes zu bringen, um in seiner
Archäologie der Kultur das Fundament derselben freizulegen: die
ontologische Struktur der Lebenswelt.20

v. Claude Lefort, aus dem Französischen übers. v. Regula Giuliani und


Bernhard Waldenfels, München 1986.
19 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge,

hrsg. v. Stephan Strasser, Husserliana I, Den Haag 21963, S. 77.


20 Zum Projekt dieser ›neuen‹ Ontologie vgl. das folgende Fragment

Merleau-Pontys, das zum einen den Ausgangspunkt, aber auch den Ziel-
punkt des Unterfangens markiert und somit den Rahmen angeben kann,
in dem sich dieses Vorhaben entfalten sollte, das zum anderen aber auch
auf die Darstellungsschwierigkeiten hinweist: »Wenn ich zur inkarnierten
Subjektivität des menschlichen Leibes gelange, den ich weiterhin auf die
Lebenswelt beziehe, muß ich auf etwas anderes als das ›Psychische‹ im Sinne
der Psychologie (das heißt auf eine bloße Gegenabstraktion zur Natur an
sich, zur Natur der bloßen Sachen) stoßen, muß ich auf eine Subjektivität
XX Christian Bermes

Die Publikation dieses Bandes hätte nicht realisiert werden kön-


nen, wenn das Vorhaben nicht auf wohlwollende Unterstützung
und großzügige Förderung sowie auf die nicht minder große Ge-
duld und Ausdauer aller Beteiligten gegenüber dem Herausgeber
gestoßen wäre. Dem Französischen Außenministerium ist für
die finanzielle Unterstützung der Übersetzungsarbeit zu danken,
dem Forschungsfonds der Universität Trier gebührt Dank für fi-
nanzielle Hilfen, ohne die die Kommentierung und Redaktion
des Buches nicht hätte erledigt werden können. Der größte Dank
gilt Barbara Schmitz, die umsichtig und kompetent den weitaus
umfangreichsten Teil der Signes übersetzt hat und dem Heraus-
geber mit größter Geduld fast jede Verzögerung der Redaktion
nachsah. Besonders auch ist dem Meiner Verlag zu danken, nicht
nur für die bereitwillige Aufnahme des Bandes in die Philosophi-
sche Bibliothek, sondern ebenso für die im Verlagswesen selten
gewordene Sorgfalt, mit der der Band im Lektorat und in der
Herstellung betreut wurde. Schließlich gilt Annika Hand und

und auf eine Intersubjektivität, auf ein Universum des Geistes stoßen, das,
selbst wenn es nicht eine zweite Natur ist, doch seine Gediegenheit und
Vollständigkeit hat, sie aber ebenfalls im Modus der Lebenswelt verkör-
pert. – Das bedeutet: noch in der Objektivierung der Linguistik muß ich
den Logos der Lebenswelt antreffen. […] Im Grunde wäre ich erst dann
in der Lage, eine Ontologie und die Philosophie zu definieren. Die Onto-
logie wäre die Ausarbeitung von Begriffen, die jene der transzendentalen
Subjektivität, des Subjektes, des Objektes und des Sinnes ersetzen müs-
sen – die Definition der Philosophie enthielte eine Erhellung des philoso-
phischen Ausdrucks selbst […] als Wissenschaft der Vor-Wissenschaft, als
Ausdruck dessen, was vor dem Ausdruck liegt und ihn untergründig trägt.
– Hier die Schwierigkeit zur Sprache bringen: die Philosophie enthält sich
selbst, wenn sie absolut sein will. In Wirklichkeit aber verschaffen uns alle
Einzelanalysen der Natur, des Lebens, des menschlichen Leibes, der Spra-
che nach und nach einen Zugang zur Lebenswelt und zum ›wilden Sein‹,
und ich darf es mir unterwegs nicht nehmen lassen, mit einer positiven
Beschreibung derselben und ebenfalls mit der Analyse verschiedener Zeit-
lichkeiten zu beginnen«; Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das
Unsichtbare, a. a. O., S. 217 f.
Einleitung XXI

Dominic Harion mein Dank, die beide an der Kommentierung


und Redaktion mit großem Engagement beteiligt waren.

Editorische Notiz

Der Übersetzung liegt die 1960 erstmals bei Gallimard erschie-


nene Ausgabe der Signes zugrunde. Bis auf die Aufsätze Das
indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, Von Mauss
zu Claude Lévi-Strauss, Der Philosoph und sein Schatten sowie
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge wurde die Über-
setzung von Barbara Schmitz angefertigt. Die zuvor genannten
Aufsätze wurden bereits in dem von dem Herausgeber betreuten
Band Das Auge und der Geist (Philosophische Bibliothek 530)
veröffentlicht und stammen in der ursprünglichen Übersetzung
von Hans Werner Arndt bzw. Bernhard Waldenfels.
Die Kommentierung wird durch eine jeweils fortlaufende Zif-
fer im Bundsteg kenntlich gemacht und im Anmerkungsappa-
rat im Anhang nachgewiesen. Dort auch findet sich zu jedem
Aufsatz die bibliographische Angabe der Erstpublikation des
jeweiligen Beitrags. Die Anmerkungen, die Merleau-Ponty als
Fußnoten seinen Texten angefügt hat, werden in fortlaufender
Zählung wie gewohnt am Seitenende angeführt. Diese Fußnoten
wurden nicht aktualisiert; allein offensichtliche Versehen wurden
stillschweigend verbessert.
Auslassungen von fehlenden Satzbestandteilen in Zitaten
werden durch Auslassungszeichen in eckigen Klammern […]
kenntlich gemacht. Auslassungen, die zuweilen am Ende von
Abschnitten, seltener noch im Text von Merleau-Ponty plaziert
wurden, werden im Original mit Auslassungszeichen ohne eckige
Klammern wiedergegeben.
Ausdrücke und Redewendungen, die Merleau-Ponty im Origi-
naltext in deutscher Sprache anführt, werden in einer kursivierten
Groteskschrift wiedergegeben. In einigen Fällen wird der Deut-
lichkeit wegen der französische Ausdruck in runden Klammern
und in kursiver Schrift der Übersetzung nachgestellt.
XXII Christian Bermes

Von einem Sach- bzw. Begriffsregister wurde abgesehen, da die


operative und sich wandelnde Terminologie Merleau-Pontys ein
solches Register unhandlich werden läßt. Abgeschlossen wird der
Band mit einem Personenregister.
MAURICE MERLEAU-PONTY

ZEICHEN
VORWORT

Welch ein Unterschied, welch eine Uneinheitlichkeit herrscht


doch auf den ersten Blick zwischen den philosophischen Essays
und den gelegentlich verfaßten, in nahezu allen Fällen politischen
Äußerungen, die in diesem Band versammelt sind! In der Philo-
sophie mag der Weg schwierig sein, aber man ist gewiß, daß jeder
Schritt weitere Schritte ermöglicht. In der Politik hat man den
niederschmetternden Eindruck, stets von neuem einen Durch-
bruch erzielen zu müssen. Die Rede ist dabei nicht einmal von
den Zufällen und von dem Unvorhersehbaren: Der Leser wird in
dieser Hinsicht einige Fehler in der Prognose finden; offen gesagt
wird er weniger Irrtümer entdecken, als man hätte befürchten
können. Der Fall ist weitaus ernster: Es ist so, als ob ein durchtrie-
bener Mechanismus das Ereignis genau in dem Augenblick ver-
schwinden ließe, in dem es sich anschickte, sein Gesicht zu zeigen,
als übte die Geschichte eine Zensur aus angesichts der Dramen,
aus denen sie gemacht ist, als liebte sie es, sich zu verbergen, sich
nur in kurzen Momenten äußerster Bestürzung einen Spalt breit
der Wahrheit zu öffnen und sich in der übrigen Zeit angestrengt
zu bemühen, diese ›Überschreitungen‹ zu überspielen, die For-
meln und Rollen des Repertoires wieder zurückzunehmen und
uns alles in allem davon zu überzeugen, daß nichts geschieht.
Maurras sagte, er habe in der Politik Evidenzen gekannt, in der
reinen Philosophie hingegen niemals. Dies liegt wohl daran, daß
er nur die längst vergangene Geschichte betrachtet hat und von
einer ebenso etablierten Philosophie träumte. Wenn man beide
im Verlaufe ihrer Entwicklung vergleicht, so wird man sehen,
daß die Philosophie ihre sichersten Evidenzen im Augenblick ih-
res Beginns findet und daß die Geschichte im Augenblick ihres
Entstehens einem Traum oder Alptraum gleicht. Wenn es einmal
vorkommt, daß sie eine Frage stellt, wenn die Vielzahl der Ängste
und der geballte Zorn im menschlichen Raum schließlich eine
2 Vorwort

erkennbare Form angenommen haben, so stellt man sich vor, daß


nachher nichts mehr so sein könne wie zuvor. Wenn es aber totale
Fragestellungen gibt, kann die Antwort in ihrer Positivität nicht
erschöpfend sein. Es ist vielmehr die Frage, die sich abnutzt, und
ein fragloser Zustand tritt ein, gerade so, wie eine Leidenschaft
eines Tages verblaßt, zerstört von ihrer eigenen Dauer. Dieses
durch einen Krieg oder eine Revolution ausgeblutete Land zeigt
sich plötzlich heil und unbeschädigt. Die Toten sind mitschuldig
an dieser Beruhigung: Nur lebend könnten sie das Fehlen jener
und das Bedürfnis nach jenen wieder aufleben lassen, die all-
mählich aus der Erinnerung verschwinden. Die Historiker, die
die Erinnerung zu wahren suchen, verzeichnen die Unschuld von
Dreyfus wie eine Selbstverständlichkeit – und bewahren sie doch
gleichwohl nicht. Dreyfus wurde nicht gerächt, nicht einmal re-
habilitiert. Seine zum Gemeinplatz gewordene Unschuld wiegt
den Preis seiner Schande nicht auf. Sie ist der Geschichte nicht
im gleichen Sinne eingeschrieben, in dem sie ihm geraubt wurde,
in dem sie von seinen Verteidigern eingefordert wurde. Denen,
die alles verloren haben, nimmt die Geschichte noch mehr, und
sie gibt jenen noch, die schon alles genommen haben. Denn die
Verjährung, die alles einschließt, erklärt den Ungerechten für
unschuldig und weist die Klage der Opfer ab. Die Geschichte ist
niemals geständig.
Obwohl all dies bekannt ist, wirkt es jedes Mal kaum weniger
erstaunlich, wenn man sich damit konfrontiert sieht. Das große
Anliegen dieser Zeit wird darin bestehen, die alte Welt mit ih-
rem Gegenpart zu versöhnen. Vielleicht stehen die UdSSR und
ihre einstigen Gegner angesichts dieses Problems auf derselben
Seite, der Seite der alten Welt. Jedenfalls spricht man offen vom
Ende des Kalten Krieges. Im friedlichen Wettbewerb kann das
Abendland nur noch bestehen, wenn es das Modell einer demo-
kratischen Regulierung der ökonomischen Verhältnisse entwirft.
Tatsächlich entwickelt sich die industrielle Gesellschaft hier in
einer außergewöhnlichen Unordnung. Der Kapitalismus treibt
seine weitläufigen Verzweigungen ganz nach Belieben und bringt
die Wirtschaft einer Nation in die Gewalt einer herrschenden In-
Vorwort 3

dustrie, die ihre Straßen und Städte verstopft und die klassischen
Formen menschlicher Einrichtungen zerstört … Auf allen Ebe-
nen tauchen gewaltige Probleme auf: Es gilt, nicht nur Techniken
zu erfinden, sondern auch politische Formen, Leitgedanken, ei-
nen bestimmten Geist, Lebensinhalte … Aber gerade in diesem
Moment fällt eine Armee, die lange Zeit im Kolonialkrieg von
der Welt abgeschieden war und die dort den Gesellschaftskampf
gelernt hat, mit all ihrem Gewicht auf den Staat zurück, von dem
sie eigentlich abhängen sollte, und sie drängt die Ideologie des
Kalten Krieges wieder in eine Zeit zurück, die gerade im Begriff
war, sich von ihr zu befreien. Jemand, der es vor zwanzig Jahren
verstanden hat, die ›Eliten‹ (und insbesondere die militärischen
Eliten) zu verurteilen, glaubt nun, eine dauerhafte Herrschaft zu
errichten, indem er sich allein an die Spitze des Staates setzt, und
er befreit den Staat von den Störmanövern jeder Versammlung,
nur um ihn umstürzlerischen Gruppen auszusetzen. Er, der gesagt
hat, daß man sich nicht an die Stelle eines Volkes setzen könne
(aber zweifellos handelte es sich dabei nur um eine Formel der
Verzweiflung, des ›unnützen Dienstes‹), er trennt das nationale
Streben von dem, was er das Lebensniveau nennt – als könne eine
gereifte Nation diese Dilemmata nicht akzeptieren, als könnten
die ökonomischen Verhältnisse einer realen Gesellschaft jemals
dieser Art der Intendantur einer künstlichen Gesellschaft der Ar-
mee untergeordnet sein, als seien Brot, Wein und Arbeit von sich
aus weniger ernste, weniger heilige Dinge als Geschichtsbücher.
Man könnte vielleicht sagen, diese immer gleiche und pro-
vinzielle Geschichte sei die Geschichte Frankreichs. Setzt sich
aber die übrige Welt offener mit jenen Fragen auseinander, die
sie bewegen? Weil diese Fragen Gefahr laufen, die Grenzen von
Kommunismus und Kapitalismus zu verwischen, läßt die Kir-
che nichts unversucht, um sie zu ersticken, sie erneuert manchen
längst vergessenen Bann, verurteilt von neuem den Sozialismus,
wenn nicht gar die Demokratie, sucht die Stellungen der Staats-
religion wieder zu beziehen und unterbindet überall, vor allem in
den eigenen Reihen, jeden Forschungsgeist und jedes Vertrauen
auf die Wahrheit.
4 Vorwort

Was die kommunistische Politik angeht, so weiß man ja, durch


wie viele Filter der Wind der Entstalinisierung hat wehen müs-
sen, bevor er Paris oder Rom erreichte. Nach so vielen Widerru-
fen des ›Revisionismus‹, und insbesondere nach Budapest, muß
man schon genau hinsehen, um zu erkennen, daß die sowjetische
Gesellschaft sich in ein neues Zeitalter vorwagt, daß sie mit dem
Stalinismus auch den Geist des gesellschaftlichen Krieges ablöst
und sich an den neuen Formen der Machtausübung orientiert.
Offiziell nennt man dies den Übergang zur höheren Entwick-
lungsstufe des Kommunismus. Verhüllt die Vorhersage einer
selbsttätigen Evolution zu einem weltweiten Kommunismus
nun die unverändert aufrechterhaltenen Herrschaftsabsichten,
oder ist sie nur eine dezente Weise zu sagen, daß man davon
absieht, diesen Übergang zu erzwingen? Auf welche Seite wird
man sich zwischen diesen beiden Linien schlagen, immer bereit,
sich bei Gefahr wieder auf die einstige Position zurückzuziehen?
Die Frage nach den Zielen ist nicht die eigentliche Frage, auch
nicht die Frage, ob man eine Maske oder aber das wahre Ge-
sicht sieht. Vielleicht zählen die übereinstimmenden Absichten
weniger als die menschliche Wirklichkeit und die Bewegung des
Ganzen. Vielleicht hat die UdSSR mehrere Gesichter, und die
Zweideutigkeit liegt in den Dingen selbst. Man muß also den
mit Chruschtschow auf der internationalen Bühne aufgetrete-
nen schwarzen Humor und den eingetretenen heißen Frieden
als einen Fortschritt in Richtung der Klarheit begrüßen. Wenn
der Humor, wie Freud sagt, die Sanftmut des Über-Ichs ist, dann 1
ist dies vielleicht schon das Maximum an Entspannung, die das
Über-Ich der Geschichte zuläßt.
Was nützt es, gestern gegenüber dem Stalinismus, heute gegen-
über Algerien im Recht zu sein, wozu soll man geduldig die fal-
schen Verknüpfungen von Kommunismus und Antikommunis-
mus auflösen und schwarz auf weiß festhalten, was beide Seiten
doch besser als wir wissen, wenn diese zukünftigen Wahrheiten
einen jungen Menschen nicht schon heute von den Abenteuern
des Faschismus und des Kommunismus befreien und wenn diese
Wahrheiten doch nicht auf fruchtbaren Boden fallen, solange sie
Vorwort 5

nicht auf politische Art und Weise ausgesprochen werden – in


jener Sprache, die spricht, ohne zu sagen, die in jedem einzelnen
die treibende Kraft des Zorns und der Hoffnung weckt – und die
nie die Prosa des Wahren sein wird? Handelt es sich nicht um ein
unglaubliches Mißverständnis, wenn alle Philosophen, oder fast
alle, sich verpflichtet glaubten, eine bestimmte Politik ihr eigen zu
nennen, während diese doch aus dem ›Lebensvollzug‹ hervorgeht
und sich dem Verstand entzieht? Die Politik der Philosophen ist
die Politik, die niemand macht. Handelt es sich also um eine Po-
litik? Gibt es nicht viele Dinge, über die sie mit mehr Gewißheit
reden können? Und wenn sie kluge Perspektiven aufzeigen, von
denen die Beteiligten nichts wissen wollen, geben sie dann nicht
einfach nur zu, daß sie nicht wissen, worum es geht?

*
Diese Überlegungen sind hier und da latent vorhanden. Man
kann sie bei Lesern und Schriftstellern erahnen, die Marxisten
sind oder waren und die, wenngleich sie in allen übrigen Belan-
gen nicht der gleichen Ansicht sind, offenbar darin übereinkom-
men, daß sie die Trennung von Philosophie und Politik feststel-
len. Sie haben mehr als jeder andere versucht, auf beiden Ebenen
zugleich zu leben. Ihre Erfahrung herrscht über die Frage, und
aus dieser Erfahrung heraus müßte die Frage neu durchdacht
werden.
Zunächst einmal ist nur sicher, daß es bei den Philosophen
eine politische Besessenheit gab, die weder zu guter Politik noch
zu guter Philosophie geführt hat. Da die Politik, wie man weiß,
die moderne Tragödie ist, erwartete man von ihr auch eine Auflö-
sung der dramatischen Verknüpfung. Unter dem Vorwand, alle
menschlichen Fragen seien darin enthalten, wurde jeder politi-
sche Zorn zum heiligen Zorn und die Zeitungslektüre, wie Hegel
sie einmal in jungen Jahren genannt hat, zum philosophischen
Morgengebet. Der Marxismus sah in der Geschichte all die ab-
strakten Dramen des Seins und des Nichts, und er hatte ihr damit
eine enorme metaphysische Last aufgebürdet – zu Recht, denn er
dachte an die Gliederung, die Architektonik der Geschichte, an
6 Vorwort

die Einfügung von Geist und Materie, Mensch und Natur, Exi-
stenz und Bewußtsein, zu der die Philosophie nur die Algebra
oder das Schema liefert. Als vollständige Wiederaufnahme der
menschlichen Ursprünge in den Entwurf einer neuen Zukunft
ist die revolutionäre Politik durch dieses metaphysische Zen-
trum hindurchgegangen. In letzter Zeit aber hat man alle For-
men des Geistes und des Lebens mit einer rein taktischen Politik
verbunden, die nichts als eine unzusammenhängende Serie von
Handlungen und Nebenhandlungen ohne Folge ist. Anstatt ihre
Tugenden zu vereinigen, haben Philosophie und Politik seitdem
ihre Laster ausgetauscht: Man verfügte über eine listenreiche
Praxis und ein abergläubisches Denken. Wie viele Stunden und
wie viele Argumente wurden anläßlich einer Wahl der Parla-
mentsfraktion oder einer Zeichnung von Picasso verschwendet,
als seien die Weltgeschichte, die Revolution, die Dialektik oder
die Negativität unter diesen dürftigen Fällen wirklich präsent.
Tatsächlich waren die Technik, die Kunst, die Wandlungen der
Ökonomie und die großen historisch-philosophischen Ideen völ-
lig blutleer, da ihnen jeder Kontakt mit dem Wissen versagt blieb,
und der politische Rigorismus ging – außer bei den besten –
Hand in Hand mit der Trägheit, der fehlenden Neugier und der
Improvisation. Sollte dies die Vermählung von Philosophie und
Politik gewesen sein, so darf man annehmen, daß man sich an-
läßlich ihrer Scheidung glücklich schätzen muß. Marxistische
Schriftsteller haben mit all dem gebrochen und finden wieder in
ihre Rolle zurück: Wie könnte es besser sein? Und dennoch gibt
es zwischen der Philosophie und der Politik einen ›schlechten‹
Bruch, der nichts zu retten vermag und der sie in ihrer mißlichen
Lage beläßt.
Wenn man diesen Schriftstellern zuhört, verspürt man manch-
mal ein Unbehagen. Bald sagen sie, in wesentlichen Punkten blie-
ben sie Marxisten, ohne jedoch diese Punkte näher zu bestimmen
oder gar genau anzugeben, wie man in gewissen Punkten Marxist
sein kann – auf die Gefahr hin, untereinander das Durcheinan-
der zu belächeln, in dem Marxisten, Marxianer und Marxolo-
gen aneinandergeraten –, bald behaupten sie, ganz im Gegenteil,
Vorwort 7

es bedürfe einer neuen Lehre, wenn nicht eines neuen Systems,


aber sie wagen sich kaum über einige Anleihen bei Heraklit, Hei-
degger oder Sartre hinaus. Die schüchterne Zurückhaltung ist
in beiden Fällen verständlich. Unter marxistischen Vorzeichen
haben sie seit Jahren Philosophie betrieben. Als sie den jungen
Marx entdeckten, wieder hinaufstiegen zur Hegelschen Quelle
und von dort wieder hinabstiegen zu Lenin, sind sie oftmals auf
die abstrakte Formel ihres zukünftigen Dramas gestoßen, sie wis-
sen, daß man in dieser Tradition sämtliches Rüstzeug für einen
oder für mehrere Einwände finden kann, und es ist nur natürlich,
daß sie sich immer noch als Marxisten fühlen. Da es aber auch
der Marxismus ist, der ihnen lange Zeit die Gründe geliefert hat,
alles in allem Kommunisten zu bleiben und für den Kommunis-
mus das Privileg eines Geschichtsdeuters zu erneuern, mag man
verstehen, daß sie in dem Augenblick, in dem sie zu den Dingen
selbst zurückkehren, Lust verspürten, jede Vermittlung beiseite
zu lassen, und daß sie eine ganz neue Lehre fordern. Ob man
nun dem treu bleibt, was man einst war, oder ob man mit allem
noch einmal von vorn beginnt, es handelt sich in jedem Fall um
eine gewaltige Aufgabe. Um genau sagen zu können, worin man
Marxist bleibt, müßte man auch sagen, worin das Wesentliche
bei Marx liegt und wann man davon abkam, an welcher Verzwei-
gung des Stammbaums man sich positioniert, ob man ein neuer
Zweig sein will, ein neuer, tragender Ast, oder ob man gedenkt,
der Achse des wachsenden Stammes zu folgen, oder ob man letz-
ten Endes den ganzen Marx wieder einem viel älteren und viel
naheliegenderen Denken eingliedern will, bei dem er nichts als
eine Übergangsform wäre – kurz gesagt, man müßte die Bezie-
hungen des jungen Marx zu Marx, des einen wie des anderen zu
Hegel, dieser ganzen Tradition zu Lenin, von Lenin zu Stalin und
sogar zu Chruschtschow neu definieren, wie letztlich auch die
Beziehungen des Hegel-Marxismus zu allem, was ihm vorange-
gangen und was ihm gefolgt ist. Eine ungeheure Arbeit, von der
die Schriften Lukács’ in ihrer Gesamtheit nur ein sehr verhaltener
Entwurf sind, die aber die marxistischen Schriftsteller zu Zei-
ten ihrer Parteiangehörigkeit reizen konnte, weil dies damals die
8 Vorwort

einzige Art war, Philosophie zu betreiben, ohne allzusehr diesen


Anschein zu erwecken, und der ihnen nun, da sie nicht mehr der
Partei angehören, bedrückend oder lächerlich erscheinen muß.
Sie wenden sich folglich den Wissenschaften und der Kunst, der
parteiunabhängigen Forschung zu. Aber welch ein Durchein-
ander herrscht, wenn man nicht mehr auf den beinahe säku-
laren Hintergrund des Marxismus setzen kann, wenn man sich
auf eigene Verantwortung, ohne Parteiapparat, ganz unverhüllt
dem Versuch überläßt, und dies auch noch in der unbequemen
Nachbarschaft zu denen, die nie etwas anderes gemacht haben
und mit denen man einst keine Diskussionen geführt, sondern
kurzen Prozeß gemacht hat …
Man bleibt also unentschlossen zwischen der Forderung nach
Treue und der Forderung nach einem Bruch, und man akzeptiert
weder ganz die eine noch die andere. Bisweilen schreibt man, als
hätte es den Marxismus nie gegeben, wenn man beispielsweise
der Geschichte mit dem Formalismus der Spieltheorie begegnet.
Andererseits hält man jedoch den Marxismus in Reserve, man
geht jeder Revision aus dem Wege. Tatsächlich ist eine Revision
längst im Gange, aber man verbirgt sie vor sich selbst, man ver-
schleiert sie auf dem Weg zurück zu den Quellen. Denn alles in
allem, so sagt man, ist es der Dogmatismus, ist es die Philoso-
phie, die gemeinsam mit der Orthodoxie in Konkurs gegangen
ist. Der wahre Marxismus war seinerseits keine Orthodoxie, und
wir halten an genau diesem Marxismus fest, der im übrigen alles
einschließt, sowohl den Stalinismus und den Antistalinismus als
auch das ganze Weltgeschehen. Eines Tages wird das Proletariat
vielleicht, nach einer Reihe unglaublicher Umwege, seine Rolle als
universelle Klasse wieder einnehmen und sich diese universelle
marxistische Kritik, die im Augenblick ohne Träger und ohne
geschichtliche Wirkung ist, wieder zur Aufgabe machen … Auf
diese Weise verlagert man die marxistische Identität von Denken
und Handeln, die gegenwärtig in Frage gestellt wird, auf einen
späteren Zeitpunkt. Der Appell an eine unbestimmte Zukunft
bewahrt die marxistische Lehre in dem Augenblick als eine Denk-
weise und Ehrensache, in dem sie als eine Lebensweise in Schwie-
Vorwort 9

rigkeiten geraten ist. Worin, Marx zufolge, genau das Laster der
Philosophie liegt. Wer aber würde dies vermuten, wo es im selben
Augenblick doch auch die Philosophie ist, die man als Sünden-
bock heranzieht? Die Nicht-Philosophie, die Marx zugunsten der
revolutionären Praxis lehrte, dient nun als Deckmantel der Unsi-
cherheit. Jene Schriftsteller wissen selber am besten, daß die mar-
xistische Anbindung der Philosophie und der Politik zerbrochen
ist. Aber sie tun so, als bliebe sie im Prinzip in einer zukünftigen,
das heißt imaginären Welt genau das, als das Marx sie bezeichnet
hatte: die in der Geschichte zugleich verwirklichte und zerstörte
2 Philosophie, die rettende Negation, die vollendende Destruktion.
Diese metaphysische Operation hat nicht stattgefunden – aus
diesem Grund haben sich jene Schriftsteller ja vom Kommunis-
mus abgewandt, der die abstrakten Werte, die er zerstörte, um
seine eigenen Werte an ihre Stelle zu setzen, so wenig zu verwirk-
lichen vermochte. Sie sind sich nicht ganz sicher, ob diese Ope-
ration überhaupt jemals stattfinden wird. Woraufhin sie, anstatt
den philosophischen Hintergrund zu untersuchen, ausgerechnet
diese metaphysische Operation, die Kühnheit und Resolution
sein will, in eine träumerische Hoffnung verwandeln. Ein keines-
wegs unschuldiger Trost, denn er beendet die in ihrer Mitte und
in ihrem Umfeld entstandene Diskussion wieder und erstickt
die aufkommenden Fragen im Keim: Allen voran die Frage, ob
es eine Operation der gleichzeitigen Zerstörung und Verwirkli-
chung gibt, namentlich eine Verwirklichung des Denkens, die es
als unabhängige Instanz überflüssig werden läßt, oder ob dieses
Schema nicht stillschweigend eine absolute Positivität der Natur
einbezieht, eine absolute Negativität der Geschichte oder eine
Antiphysis, die Marx in den ihn umgebenden Dingen festzustel-
len glaubte, obwohl diese Fragen vielleicht nur eine bestimmte
Art der Philosophie wiedergeben und nicht von der neuerlichen
Untersuchung ausgenommen werden können. Sodann die Frage,
ob dieses Nein, das der philosophischen Formel der Revolution
zufolge ein Ja ist, nicht eine Praxis der unbegrenzten Autorität
rechtfertigt, wobei die Parteifunktionäre, die die historische Rolle
des Negativs innehaben, aus dieser Sicht über jede Zuweisung von
10 Vorwort

Kritik erhaben wären und ihnen kein berechtigter ›Widerspruch‹,


auch nicht in der Form von Budapest, entgegenzusetzen wäre. Es
ist die Vielzahl all dieser Fragen an die marxistische Ontologie,
die man geschickt umgeht, indem man den Marxismus gleich
als eine erst später zutage tretende Wahrheit gelten läßt. Diese
Fragen haben immer schon das Pathos und das tiefste Innere des
Marxismus ausgemacht: Er war der Versuch oder der Beweis der
schöpferischen Negation, der Verwirklichung und gleichzeitigen
Zerstörung; indem man sie vergißt, stellt man ihn als Revolution
in Abrede. Wenn man jedenfalls dem Marxismus ohne jede Dis-
kussion die anmaßende Forderung zubilligt, keine Philosophie
zu sein, sondern Ausdruck einer einzigen großen geschichtli-
chen Tatsache (und seine Kritik an jeder Philosophie als Alibi
und Verfehlung gegenüber der Geschichte durchgehen läßt), und
da man auf anderem Wege zur Feststellung gelangt, daß sich ge-
genwärtig im weltweiten Maßstab keine proletarische Bewegung
erkennen läßt, stellt man ihn als vorübergehend unwirksam zur
Disposition und definiert sich selbst als Marxisten ehrenhalber.
Wenn die Scheidung von Philosophie und Politik zum alleinigen
Nachteil der Philosophie ausgesprochen wird, dann wäre sie eine
gescheiterte Scheidung. Denn man kann eine Scheidung ebenso
als gescheitert betrachten wie eine Ehe.
Wir gehen hier nicht von einer vorformulierten These aus;
insbesondere vermischen wir Marxismus und Kommunismus
nicht vor dem Tribunal der Philosophie im Sinne eines abso-
luten Wissens, wohl wissend, daß der eine wie der andere sie
auszuschließen suchen: Der Unterschied zwischen der marxi-
stischen Regel, die Philosophie nicht zu zerstören, ohne sie zu
verwirklichen, und der stalinistischen Praxis, sie einfach nur zu
zerstören, ist deutlich. Wir unterstellen nicht einmal, daß diese
Regel angesichts einer solchen Praxis unvermeidlich entartet. Wir
behaupten, daß der Marxismus durch die Ereignisse der letzten
Jahre ganz entschieden in eine neue Phase seiner Geschichte
eingetreten ist, in der er zu Analysen anregen und ihnen eine
Richtung weisen mag, in der er einen ernsthaften heuristischen
Wert bewahrt, aber mit Sicherheit nicht mehr in dem Sinne wahr
Vorwort 11

ist, in dem er sich selbst für wahr hielt, und daß die jüngste Er-
fahrung, die ihn in einer Ordnung der sekundären Wahrheit eta-
bliert, den Marxisten eine neue Grundlage und beinahe schon
Methode gibt, die alle Mahnungen hinfällig werden läßt. Wenn
man sie fragt – und wenn sie sich selbst fragen –, ob sie noch
Marxisten sind, so gibt es auf diese schlechte Frage nur schlechte
Antworten, nicht nur deshalb, weil – wie wir weiter oben be-
merkt haben – eine präzise Antwort die immense Arbeit einer
umfassenden Sichtung für beendet erklären würde, sondern weil
diese Arbeit, selbst wenn sie geleistet worden wäre, niemals mit
einer einfachen Antwort enden könnte, da eine solche Frage, so-
bald sie sich stellt, ein klares Ja oder Nein ausschließt. Es wäre
unsinnig, sich die jüngsten Ereignisse als eine Art ›experimentum
crucis‹ vorzustellen, das es, entgegen der hartnäckig verbreite-
ten Legende, nicht einmal in der Physik gibt, und aus dem man
folgern könnte, daß eine Theorie sich ›bewahrheitet‹ habe oder
›widerlegt‹ sei. Es ist unerhört, diese Frage überhaupt in diesen
rudimentären Begrifflichkeiten zu stellen, als seien ›wahr‹ oder
›falsch‹ die beiden einzigen intellektuellen Seinsweisen. Sogar in
den Wissenschaften kann ein überholtes theoretisches Konstrukt
wieder in die Sprache derjenigen Theorie integriert werden, die es
überholt, es bleibt bedeutsam, es bewahrt seine Wahrheit. Wenn
es um die ganze innere Geschichte des Marxismus geht und um
seine Beziehungen zur prä- und postmarxistischen Philosophie
und Geschichte, so wissen wir von nun an, daß die Schlußfolge-
rung niemals eine dieser allzu oft gehörten Platitüden sein kann:
daß er ›immer noch gültig‹ oder ›von den Tatsachen‹ widerlegt
sei. Der Marxismus bildet immer noch und unabhängig davon,
ob sie sich nun bewahrheitet haben oder ob sie widerlegt wur-
den, den Hintergrund der marxistischen Äußerungen, wie eine
Matrix der intellektuellen und historischen Erfahrungen, so daß
der Marxismus immer noch mittels einiger Hilfshypothesen
vor dem Scheitern bewahrt werden kann, wie man im übrigen
auch immer noch behaupten kann, daß ihm der Erfolg nicht
gleich in allen Belangen Recht gibt. Die marxistische Lehre hat
seit einem Jahrhundert so viele theoretische und praktische Un-
12 Vorwort

tersuchungen bewirkt, ist das Laboratorium so vieler geglück-


ter oder mißlungener Experimente gewesen, hat selbst für ihre
Gegner den Anreiz zu so vielen Antworten, Befürchtungen und
so tief bedeutsamen Gegenentwürfen geboten, daß es nach all
dem schlichtweg barbarisch wäre, von einer ›Widerlegung‹ wie
übrigens auch von einer ›Bewahrheitung‹ zu sprechen. Selbst
wenn sich ›Irrtümer‹ in den grundlegenden Formulierungen des
Marxismus finden, in seiner Ontologie, von der wir gerade ge-
sprochen haben, so sind diese Irrtümer doch nicht derart, daß
man sie einfach streichen oder vergessen könnte. Selbst wenn es
keine reine Negation gibt, die ein Ja wäre oder die eine absolute
Negation ihrer selbst wäre, so erschiene der ›Irrtum‹ hier nicht
wie das bloße Gegenteil der Wahrheit, sondern eher wie eine ver-
fehlte Wahrheit. Es gibt eine innere Beziehung von Positivem und
Negativem, und auf diese Beziehung zielte Marx ab, selbst wenn
er sie zu Unrecht der Dichotomie von Objekt und Subjekt un-
terwarf; diese Beziehung bestimmt weite Teile seines Werkes, sie
eröffnet seiner historischen Analyse ganz neue Dimensionen und
ermöglicht diesen, in dem von Marx verstandenen Sinne nicht
länger zu abschließenden Ergebnissen zu führen, ohne daß sie
deshalb aufhörten, Quellen des Sinns und immer neuer Interpre-
tationen zu sein. Marx’ Thesen können ebenso wahr bleiben, wie
der Satz des Pythagoras wahr ist, wahr nicht mehr in dem Sinne,
wie er es für seinen Erfinder war – als eine identische Wahrheit
und eine Eigenschaft des Raumes selbst –, sondern als Eigenschaft
eines bestimmten Modells des Raumes unter anderen möglichen
Räumen. Die Geschichte des Denkens verkündet nicht zusam-
menfassend: Dies ist richtig, jenes ist falsch. Wie jede Geschichte,
so trifft auch sie stillschweigend Entscheidungen: Sie entschärft
oder konserviert bestimmte Lehren, verwandelt sie in ›Botschaf-
ten‹ oder Museumsstücke. Andere wiederum hält sie nicht etwa
deshalb aufrecht, weil es zwischen ihnen und einer unveränder-
lichen ›Realität‹ irgendeine wundersame Entsprechung oder Kor-
respondenz gäbe – diese punktuelle oder dürftige Wahrheit ist
weder hinreichend noch überhaupt notwendig, um einer Lehre
Größe zu verleihen –, sondern weil sie über alle Aussagen und
Vorwort 13

Sätze hinaus sprechend bleiben, notwendige Vermittler, wenn


man noch weiter gehen will. Wir haben es hier mit den Klassikern
zu tun. Man erkennt sie daran, daß sie niemand wörtlich nimmt
und daß die neuen Gegebenheiten dennoch nie völlig außerhalb
ihres Zuständigkeitsbereichs stehen, daß sie neue Echos auslösen,
in sich neue Reliefs offenbaren. Wir behaupten, daß eine neuer-
liche Beschäftigung mit Marx die Studie eines Klassikers wäre
und daß sie ebensowenig mit einem nihil obstat wie mit einer
Verbannung auf den Index enden könnte. Sind Sie oder sind Sie
nicht Cartesianer? Die Frage ergibt keinen großen Sinn, denn all
jene, die dieses oder jenes bei Descartes ablehnen, tun dies nur im
Rückgriff auf Vernunftgründe, die wiederum bis auf Descartes
zurückreichen. Wir meinen, daß Marx im Begriff ist, zu einer
solchen zweiten Wahrheit zu werden.
Und wir sagen dies allein im Namen der jüngsten Erfahrung,
insbesondere der Erfahrung der marxistischen Schriftsteller.
Denn als es für sie, die seit langem Kommunisten waren, darum
ging, aus der Partei auszutreten oder aber sich von ihr ausschlie-
ßen zu lassen, haben sie da als ›Marxisten‹ oder als ›Nicht-Marxi-
sten‹ gehandelt? Indem sie der Partei den Rücken kehrten, gaben
sie genauestens zu verstehen, daß das Dilemma ein verbales ist,
daß man darüber hinausgehen müsse, daß keine Doktrin gegen-
über den Dingen die Oberhand behalten oder die Repression
von Budapest in einen Sieg des Proletariats umwandeln könne.
Sie haben mit der Orthodoxie nicht im Namen der Freiheit des
Bewußtseins und des philosophischen Idealismus gebrochen,
sondern weil die Orthodoxie ein Proletariat bis zur Revolte und
der Kritik an den Waffen hatte dahinsiechen lassen, und mit ihm
das Leben seiner Gewerkschaften und der Wirtschaft, und mit ihr
die innere Wahrheit sowie das Leben der Wissenschaft und der
Kunst. Sie haben den Bruch folglich als Marxisten vollzogen. Und
dennoch haben sie mit diesem Bruch die ebenfalls marxistische
Regel verletzt, die besagt, daß es zu jeder Zeit ein Lager des Pro-
letariats und ein Lager seiner Gegner gibt, daß jede Initiative in
Relation zu diesem feinen Riß in der Geschichte bewertet wird
und daß man auf keinen Fall ›das Spiel des Gegners spielen‹ darf.
14 Vorwort

Sie täuschen sich nicht, und sie täuschen auch uns nicht, wenn
sie heute sagen, sie blieben Marxisten, aber dies gilt nur, wenn
man hinzufügt, daß ihr Marxismus sich mit keinem Parteiappa-
rat mehr identifiziert, daß er eine Sichtweise der Geschichte ist
und nicht die wirkliche Bewegung der Geschichte – kurz, daß er
eine Philosophie ist. In dem Augenblick, in dem sie den Bruch
vollzogen, haben sie im Zorn oder in der Verzweiflung eins der
lautlosen Ereignisse der Geschichte vorweggenommen oder sich
ihm angeschlossen, und letztlich sind sie es, die Marx zu einem
Klassiker oder einem Philosophen gemacht haben.
Man sagte ihnen: Jede Initiative, jede politische oder nicht po-
litische Forschung wird an ihren politischen Folgen gemessen,
die politische Linie am Interesse der Partei und das Interesse der
Partei letzten Endes an der Sichtweise der Parteiführer. Sie ha-
ben diese Verkettung von Reduktionen aller Instanzen und aller
Kriterien auf nur noch ein einziges Kriterium von sich gewiesen,
und sie haben bekräftigt, daß die Bewegung der Geschichte sich
anderer Mittel bedient, daß sie auf der Ebene der politischen Or-
ganisation und im Proletariat, ebenso wie in den Gewerkschaften
und in der Kunst und der Wissenschaft, von anderen Rhythmen
geprägt wird und daß es mehr als einen Brennpunkt der Ge-
schichte gibt, oder mehr als eine Dimension, mehr als eine Refe-
renzebene, mehr als eine Quelle des Sinns. Sie haben damit eine
bestimmte Idee des Objekt-Seins, ebenso wie der Identität und
der Differenz, zurückgewiesen. Haben die Idee eines an mehreren
Brennpunkten oder in mehreren Dimensionen kohärenten Seins
angenommen. Und sie behaupten, keine Philosophen zu sein?
Man fährt fort: Ihr sprecht vom Marxismus; aber sprecht ihr
aus einer Innen- oder einer Außenansicht über ihn? Die Frage
ergibt in dem Augenblick keinen großen Sinn mehr, in dem der
Marxismus vielleicht zersplittert, in dem er sich aber auf jeden
Fall öffnet. Man spricht von innen heraus über ihn, wenn man
kann, und von außen, wenn es nicht mehr anders geht. Und wer
handelt dabei besser? Steht man außerhalb oder innerhalb, wenn
man die berühmte ›Überwindung des Inneren‹, die er gegenüber
allen Doktrinen empfohlen hat, nun auf ihn selbst anwendet?
Vorwort 15

Man ist schon außerhalb, sobald man versucht, sich selbst und
die existierenden Dinge anhand der gesagten Dinge zu verstehen,
statt diese noch einmal zu sagen. Die Frage, ob man beteiligt ist
oder nicht, stellt sich nur angesichts einer neu entstehenden hi-
storischen Bewegung oder einer neu aufgestellten Doktrin. Der
Marxismus ist zugleich weniger und mehr als dies, nämlich ein
weites Feld, auf dem sich die Geschichte und das Denken abgela-
gert haben und auf dem man sich üben und lernen wird, zu den-
ken. Die Veränderung fällt ihm schwer, wo er doch die Operation
einer in Worte gefaßten Geschichte sein wollte. Aber gerade darin
lag der Gipfel der philosophischen Arroganz.
Sicherlich gibt es in der Welt verschiedene Situationen eines
Klassenkampfes. Es gibt sie in den alten Ländern – etwa der
Schweiz von Yves Velan –, und es gibt sie in den jüngst in die
Unabhängigkeit entlassenen Ländern. Ihre Unabhängigkeit wird
mit Sicherheit nur ein Wort bleiben, wenn die Endpunkte ihrer
Entwicklung nach den Interessen der fortgeschrittenen Länder
definiert werden und wenn der linke Flügel der neuen Nationa-
lismen darüber mit den lokalen Bourgeoisien in Streit gerät. Es
ist im übrigen gewiß, daß die neuen wirtschaftlichen Bereiche
und die Entwicklung der industriellen Gesellschaft in Europa,
die das althergebrachte parlamentarische und politische Leben
hinfällig werden lassen, den Kampf um die Kontrolle und die
Führung des neuen Wirtschaftsapparates auf die Tagesordnung
setzen. Ausgehend vom Marxismus kann man zwar Kategorien
aufstellen, die der Analyse der Gegenwart eine Richtung geben,
und der ›strukturelle Imperialismus‹ wäre dann eine dieser Ka-
tegorien.1 Es ist sogar erlaubt zu bekräftigen, daß keine Politik
sich auf lange Sicht als Politik unserer Zeit behaupten kann, wenn
sie diese Probleme und das marxistische Bezugssystem, das diese
aufdeckt, ignoriert. Genau das ist es, was wir vorhin mit dem
Satz zu verstehen gaben, daß Marx ein Klassiker sei. – Aber ist ein
solcher Marxismus überhaupt der Entwurf einer Politik? Geht
der theoretische Zugriff, den er auf die Geschichte gewährt, auch

1 Serge Mallet, Gaullisme et néo-capitalisme, Esprit, Februar 1960.


16 Vorwort

mit einem praktischen Eingreifen einher? Im Marxismus, wie ihn


Marx sah, hingen beide unmittelbar zusammen. Man entdeckte
mit der Frage auch die Antwort, die Frage war nur der Beginn
einer Antwort, und der Sozialismus war die Unruhe, die Bewe-
gung des Kapitalismus. Wenn wir lesen, daß die unabhängigen
Länder Nordafrikas durch einen Zusammenschluß in der Lage
wären, ihre Entwicklung zu kontrollieren, nicht aber »auf das
Kapital, die Techniker und den fortwährenden Austausch mit
Frankreich«2 zu verzichten, daß andererseits aber die politische
und gewerkschaftliche Linke in Frankreich sehr weit davon ent-
fernt ist, den neuen Problemen entgegenzusehen, daß insbeson-
dere die kommunistische Partei gegenüber dem Neokapitalismus
eine schlichtweg negative Haltung bewahrt und daß schließlich
in der UdSSR, selbst nach dem XX. Parteikongreß, der ›struktu-
relle Imperialismus‹ nicht aufgegeben wird – dann müßte man
großen Optimismus aufbringen, wenn man darauf hoffen wollte,
daß »der fortschrittlichste Flügel der afrikanischen Nationalis-
men bald in die Lage versetzt sein wird, seine Sorgen den Sorgen
der Arbeiterklassen in den wirtschaftlich führenden Ländern
gegenüberzustellen«3. Selbst wenn diese vergleichende Gegen-
überstellung stattfinden würde, welche Politik sollte man daraus
ableiten? Selbst wenn die unterschiedlichen Klassen der Proleta-
rier sich gegenseitig anerkennen würden, welche Art von gemein-
samer Aktion könnten sie sich vornehmen? Wie könnte man die
leninistische Vorstellung der Partei unverändert beibehalten, und
wie könnte man sie nur zur Hälfte aufgreifen? Man spürt den
Abstand des als theoretisches Instrument der Analyse dienenden
Marxismus zu einem Marxismus, der die Theorie als Bewußtsein
einer Praxis definierte. Es gibt Situationen eines Klassenkampfes,
und man kann, wenn man will, die weltweite Lage mit Hilfe der
Begriffe von Proletariat und Bourgeoisie ausdrücken: Dies ist
aber nicht mehr als eine bestimmte Sprechweise, und das Prole-
tariat ist nur ein anderer Name für eine vernünftige Politik.

2 Serge Mallet, a. a. O., S. 211.


3 Ebd., S. 214.
Vorwort 17

Was wir hier unter dem Namen der Philosophie verteidigen,


ist ganz genau die Art des Denkens, zu der die Marxisten durch
die Dinge wieder zurückgeleitet werden. Unsere Zeit kann ei-
ner naiven Rationalität jeden Tag eine Enttäuschung bereiten:
Indem sie über alle ihre Risse hinweg das Wesentliche an den
Tag bringt, erfordert sie eine philosophische Lektüre. Sie hat
die Philosophie nicht absorbiert, wie die Philosophie nicht ih-
rerseits über sie hinausragt. Die Philosophie ist weder Sklavin
noch Herrin der Geschichte. Die Beziehungen zwischen beiden
sind weniger einfach, als man geglaubt hatte: Es handelt sich
im wörtlichen Sinne um eine Aktion auf Distanz, bei der jede
vom Grund ihrer jeweiligen Differenz die Mischung und Vermi-
schung einfordert. Wir müssen den richtigen Gebrauch dieses
Ineinandergreifens noch erlernen – ebenso wie eine Philosophie,
die um so weniger an politische Verantwortlichkeiten gebunden
ist, je mehr sie ihre eigenen wahrnimmt, und die um so freier
wird, sich auf alle Gebiete vorzuwagen, je weniger sie sich an die
Stelle anderer setzt, je weniger sie die Leidenschaften, die Poli-
tik und das Leben nur wie ein Spiel betrachtet, je weniger sie all
dies im Imaginären umgestaltet und statt dessen genau das Sein
enthüllt, das wir bewohnen.

*
Man lacht über den Philosophen, der sich wünscht, der ›ge-
schichtliche Prozeß‹ möge den Weg über seinen Schreibtisch
nehmen. Er rächt sich, indem er gerade den Absurditäten der
Geschichte Tribut zollt. Dies ist sein Auftritt in einem mittler-
weile säkularen Vaudeville. Ob man nun weiter zurück in die
Vergangenheit blickt, oder ob man sich fragt, welche Rolle die
Philosophie heute spielen kann: Man wird sehen, daß die stand-
punktlose Überblicksphilosophie nur eine Episode war und daß
diese Episode beendet ist.
Heute wie einst beginnt die Philosophie mit der Frage: Was
ist denken? Und sie geht zunächst einmal ganz darin auf. Es gibt
hierbei weder Instrumente noch Organe, nur ein reines: Mir
scheint, daß … Derjenige, vor dem alles erscheint, kann sich
18 Vorwort

selbst nicht verborgen bleiben, er kommt selbst als erster zum


Vorschein, er ist diese Erscheinung seiner selbst vor sich selbst,
er taucht aus dem Nichts auf, und nichts und niemand kann ihn
daran hindern oder ihm dabei helfen, ein Selbst zu sein. Er war
immer schon, er ist überall, und er ist König auf seiner einsamen
Insel.
Die erste Wahrheit kann jedoch nur eine halbe Wahrheit sein.
Sie gibt den Blick frei auf etwas anderes. Es gäbe nichts, wenn
da nicht dieser Abgrund des Selbst wäre. Allein, ein Abgrund
ist nicht nichts, er hat seine Ränder, seine Umrandungen. Man
denkt immer an etwas, man denkt über etwas nach, man denkt
ausgehend von oder im Anschluß an etwas, in bezug auf oder im
Gegensatz zu etwas. Selbst die Tätigkeit des Denkens unterliegt
dem Druck des Seins. Ich kann nicht länger als einen Augen-
blick lang auf genau dieselbe Weise an dieselbe Sache denken.
Der Spalt, der sich am Ursprung des Denkens auftut, schließt
sich sogleich wieder, als sei das Denken nur im Augenblick sei-
nes Entstehens lebendig. Wenn es sich behauptet, dann nur auf
Abwegen – durch das Abgleiten, das jedes Denken ins Inaktuelle
abschiebt. Denn es gibt das Inaktuelle des Vergessens, aber auch
das Inaktuelle des Erworbenen. Aufgrund der Zeitlichkeit ver-
alten meine Gedanken, durch sie machen sie aber auch Epoche,
eröffnen sie eine Zukunft des Denkens, einen Zyklus, ein Feld,
bilden sie gemeinsam eine Einheit, sind sie ein einziges Denken,
sind sie ein Ich. Das Denken perforiert nicht die Zeit, es setzt die
Spur der vorangegangenen Gedanken fort, ohne die gleichwohl
erahnte Macht auszuüben, diese Spur von neuem zu ziehen, so
wie wir, wenn wir wollten, die andere Seite des Hügels noch ein-
mal sehen könnten: Aber wozu wäre dies gut, da doch der Hügel
nun einmal da ist? Wozu sollte ich mich versichern, daß mein
heutiges Denken mein gestriges enthält: Ich bin mir dieser Tatsa-
che doch bewußt, da ich heute darüber hinaussehen kann. Wenn
ich denke, springe ich nicht aus der Zeit hinaus in eine intelligible
Welt, ich schaffe auch nicht jedesmal von neuem aus dem Nichts
heraus die Bedeutung, es ist vielmehr so, daß der Pfeil der Zeit
alles mit sich reißt, daß er meine sukzessiven Gedanken in einem
Vorwort 19

sekundären Sinne simultan sein läßt oder sie zumindest recht-


mäßig ineinandergreifen läßt. Ich funktioniere auf diese Weise
durch Konstruktion. Ich befinde mich auf einer Pyramide der
Zeit, die mein Ich gewesen ist. Ich hole weit aus und erfinde mich
neu, aber nur unter Einbezug meiner zeitlichen Ausstattung, so
wie ich mich in der Welt nur unter Einbezug der unbekannten
Masse meines Leibs bewege. Die Zeit ist dieser ›Leib des Geistes‹,
von dem Valéry sprach. Zeit und Denken sind miteinander ver-
flochten. Die Nacht des Denkens wird von einem Schimmer des
Seins bewohnt.
Wie könnte das Denken den Dingen keine Notwendigkeit auf-
erlegen? Wie könnte es die Dinge auf die reinen Objekte redu-
zieren, die es sich konstruiert? Mit der verborgenen Anbindung
an die Zeit erfahre ich auch die Anbindung des sensiblen Seins,
seine unvereinbaren und simultanen ›Seiten‹. Ich sehe es so, wie
es sich meinen Augen zeigt, aber auch so, wie ich es von einem
anderen Standpunkt aus sehen würde, und dies nicht nur mög-
licherweise, sondern zum gegenwärtigen Zeitpunkt, denn schon
jetzt leuchten anderswo viele seiner Feuer, die mir verborgen sind.
Wenn man von Simultanität spricht, meint man dann die Zeit
oder den Raum? Diese Linie von mir bis zum Horizont ist für die
Bewegung meines Blicks wie eine Schiene. Das Haus am Hori-
zont leuchtet feierlich wie etwas Zurückliegendes oder wie etwas
Erhofftes. Und umgekehrt hat auch meine Vergangenheit ihren
Raum, ihre Wege, ihre ausgewiesenen Orte, ihre Monumente.
Unter den gekreuzten, aber verschiedenen Ordnungen des Suk-
zessiven und des Simultanen, unter der Folge von Synchronien,
die Linie für Linie hinzukommen, findet man ein namenloses
Geflecht wieder, Konstellationen von räumlichen Stunden und
ereignishaften Punkten. Muß man überhaupt etwas sagen, muß
man von einem Imaginären oder einer Idee sprechen, wenn jede
Sache noch über sich hinausreicht, wenn jedes Faktum zur Di-
mension werden kann, wenn die Ideen ihre eigenen Regionen
haben? Die ganze Beschreibung der Landschaft und der Linien
unseres Universums, ebenso wie die Beschreibung unseres inne-
ren Monologes, müßte neu unternommen werden. Die Farben,
20 Vorwort

die Töne und die Dinge sind, wie die Sterne bei Van Gogh, die
Brennpunkte und die Strahlen des Seins.
Kommen wir auf die Anderen bei ihrem Erscheinen im Fleisch
der Welt (la chair du monde). Sie könnten für mich nicht sein, so
sagt man, wenn ich sie nicht wiedererkennen würde, wenn ich
bei ihnen nicht irgendein Zeichen der Selbstpräsenz entzifferte,
deren Modell nur ich selbst vorgeben kann. Wenn aber mein
Denken nur die Kehrseite meiner Zeit ist, meines passiven und
sensiblen Seins, dann ist es der ganze Stoff der sinnlichen Welt,
der hinzukommt, wenn ich mich, ebenso wie die Anderen, die in
diesem Stoff erfaßt sind, zu begreifen suche. Bevor sie sind, und
weil sie meinen Bedingungen der Möglichkeit unterworfen und
nach meinem Bild rekonstruiert sind, müssen sie als Reliefs da
sein, als Abweichungen, als Varianten einer einzigen Erscheinung,
an der auch ich teilhabe. Denn sie sind keine Fiktionen, mit de-
nen ich meine Wüste bevölkerte, keine Söhne meines Geistes,
keine ewig inaktuellen Möglichkeiten, sie sind vielmehr meine
Zwillinge oder das Fleisch meines Fleisches. Zwar lebe ich nicht
ihr Leben, sie bleiben definitiv entfernt von mir, und ich bleibe
entfernt von ihnen. Aber diese Distanz erweist sich als eine selt-
same Nähe, sobald man das Sein des Sinnlichen wiederfindet,
denn das Sensible ist genau das, was mehr als einen Körper heim-
sucht, ohne sich vom Fleck zu rühren. Diesen Tisch, der meinen
Blick streift, wird niemand sehen: Es müßte schon ich sein. Und
dennoch weiß ich, daß er im selben Augenblick, auf genau die-
selbe Weise auf jedem Blick lastet. Denn auch die anderen Blicke
sehe ich, sie zeichnen in demselben Feld, in dem die Dinge sind,
eine Leitlinie des Tisches, sie verbinden die Teile des Tisches
miteinander zu einer neuen Kompräsenz. Darunter, unter dem
Deckmantel jener Artikulation, die ich in dem Moment in Bewe-
gung setze, erneuert oder verbreitet sich die Artikulation eines
Blickes über ein Sichtbares. Mein Sehen überlagert ein anderes,
oder sie funktionieren vielmehr gemeinsam und fallen prinzipiell
auf dasselbe Sichtbare zurück. Eine meiner Sichtbarkeiten wird
sehend. Ich wohne dieser Metamorphose bei. Von nun an ist das
Sichtbare nicht mehr eines der Dinge, es ist vielmehr kreisförmig
Vorwort 21

mit ihnen zusammengeschlossen oder tritt vermittelnd zwischen


sie. Wenn ich es betrachte, dann bleibt mein Blick nicht mehr
an ihm hängen, er endet nicht mehr bei ihm, so wie er an den
Dingen hängen bleibt oder bei ihnen endet; durch das Sichtbare
verlängert sich mein Blick in Richtung der Dinge, als sei er durch
ein Relais weitergeleitet worden – es sind dieselben Dinge, die
nur ich gesehen habe, die immer noch ich allein sehen werde,
die aber auch das Sichtbare von nun an auf seine Weise allein zu
sehen vermag. Ich weiß jetzt, daß es seinerseits auch allein dabei
ist, ein Selbst zu sein. Alles beruht auf dem unübertrefflichen
Reichtum, auf der wundersamen Vervielfachung des Sensiblen.
Sie bewirkt, daß dieselben Dinge die Kraft haben, für mehr als
nur einen Betrachter Dinge zu sein, und daß einige unter ihnen
– die menschlichen und die animalischen Körper – nicht nur ver-
borgene Gesichter haben, daß ihre »andere Seite«4 auch ein ande-
res Empfinden ist, das ausgehend von dem für meine Sinne Wahr-
nehmbaren zählt. Alles ist so angelegt, daß dieser Tisch, den mein
Blick in diesem Augenblick abtastet und dessen Textur er befragt,
keinem Raum des Bewußtseins angehört und sich ebensogut in
den Kreis der anderen Körper einfügt – daß unsere Blicke keine
Bewußtseinsakte sind, von denen jeder einen unveränderlichen
Vorrang für sich in Anspruch nehmen würde, sondern eine Öff-
nung unseres Fleisches, die sogleich vom universellen Fleisch
der Welt angefüllt wird – daß sich auf diese Weise die lebenden
Körper über der Welt schließen, daß sie zu sehenden Körpern,
berührenden Körpern werden, und a fortiori empfindsam gegen
sich selbst, denn man könnte nicht berühren oder sehen, ohne
daß man fähig wäre, auch sich selbst zu berühren und zu sehen.
Das ganze Rätsel liegt im Sensiblen, in diesem Fern-Sehen, das
uns im privatesten Bereich unseres Lebens simultan mit den An-
deren und mit der Welt sein läßt.
Was wird sein, wenn einer von ihnen sich mir zuwenden wird,
meinen Blick aushalten und den seinen auf meinen Leib und
mein Gesicht richten wird? Diese Erfahrung ist unerträglich, es

4 Husserl.
22 Vorwort

sei denn, wir greifen auf die List des Sprechens zurück und set-
zen einen gemeinsamen Bereich an Gedanken als ein Drittes zwi-
schen uns ein. Es gibt nichts mehr zu betrachten als einen Blick,
der Sehende und das Gesehene sind vollkommen austauschbar,
die beiden Blicke legen sich unbeweglich übereinander, nichts
kann sie ablenken und sie voneinander unterscheiden, denn die
Dinge sind außer Kraft gesetzt und jeder hat nur noch mit sei-
nem Doppelgänger zu tun. Für die Reflexion gibt es dabei nur
noch zwei ›Gesichtspunkte‹ ohne gemeinsames Maß, zwei Ich
denke, von denen jedes sich für den Sieger in diesem Wettstreit
halten kann, denn alles in allem handelt es sich doch nur um
einen meiner Gedanken, wenn ich denke, daß der andere mich
denkt. Das Sehen bewirkt, was die Reflexion niemals verstehen
wird: daß aus einem Kampf manchmal kein Sieger hervorgeht
und das Denken in Zukunft ohne einen Titelverteidiger aus-
kommen muß. Ich sehe ihn an. Er sieht, daß ich ihn ansehe. Ich
sehe, daß er es sieht. Er sieht, daß ich sehe, daß er es sieht … Die
Analyse läßt sich endlos fortsetzen, und wenn sie das Maß aller
Dinge wäre, dann würden die Blicke auf unbestimmte Zeit über-
einander hinweggleiten, es gäbe niemals nur ein einziges cogito
auf einmal. Folglich bewirkt das Sehen, obwohl die Spiegelungen
der Spiegelungen im Prinzip bis ins Unendliche weitergehen,
daß sich die ungewissen Ausgänge der beiden Blicke aneinander
anpassen und daß man nicht mehr zwei Bewußtseine mit ihrer
jeweils eigenen Teleologie hat, sondern zwei ineinander ruhende
Blicke, die allein auf der Welt sind. Das Sehen skizziert, was das
Verlangen ausführt, wenn es zwei ›Gedanken‹ auf diese zwischen
ihnen liegende Kampflinie zutreibt, diese brennende Oberfläche,
an der sie eine Verwirklichung suchen, die für beide von ihnen
auf identische Weise dieselbe wäre, so wie die sinnliche Welt allen
gemeinsam ist.
Das Sprechen, so möchten wir sagen, würde diese Faszination
durchbrechen. Es würde sie nicht beseitigen, aber es würde sie
aufschieben, sie verlagern. Denn es ist Teil einer Woge der stum-
men Kommunikation und nimmt aus ihr heraus seinen Elan.
Es entreißt oder zerreißt Bedeutungen im ungeteilten Ganzen
Vorwort 23

des Benennbaren, vergleichbar unseren Gesten im Bereich des


sinnlich Wahrnehmbaren. Man zerbricht die Sprache, wenn man
aus ihr ein Mittel oder einen Code für das Denken macht, und
man verbietet sich zu verstehen, wie tief die Wörter in uns drin-
gen, ob es ein Bedürfnis, eine Leidenschaft gibt, zu sprechen, eine
Notwendigkeit, miteinander zu sprechen, sobald man denkt, ob
die Wörter die Macht haben, Gedanken hervorzurufen – Dimen-
sionen des Denkens festzusetzen, die von nun an unveräußerlich
sein werden –, ob sie Antworten über unsere Lippen bringen,
derer wir uns nie für fähig hielten, ob sie uns nicht, wie Sartre
sagt, unser eigenes Denken lehren. Die Sprache wäre, mit Freud
gesprochen, keine totale ›Reinvestition‹ unseres Lebens, wäre
nicht unser Element, so wie das Wasser das Element der Fische
ist, wenn sie von außen einen Gedanken verdoppelte, der in sei-
ner Einsamkeit Gesetze für jeden anderen möglichen Gedanken
erließe. Ein Gedanke und ein Ausdruck, die parallel zueinander
stünden, müßten jeder innerhalb seiner Ordnung vollständig
sein, man könnte kein Eindringen des einen in den anderen fest-
stellen, kein Abfangen des einen durch den anderen. Folglich ist
die Vorstellung von einer vollständigen Aussage selbst inkonsi-
stent: Nicht, weil sie an sich vollständig wäre, verstehen wir sie,
sondern weil wir verstanden haben, können wir sie vollständig
oder in hinreichendem Maße zur Sprache bringen. Es gibt kein
Mehr an Gedanken, das ganz und gar Denken wäre und das nicht
in Wörtern das Mittel suchte, sich selbst gegenwärtig zu sein.
Denken und Sprechen rechnen miteinander. Sie setzen sich fort-
während an die Stelle des anderen. Sie sind Mittler und Stimu-
lus füreinander. Jeder Gedanke kommt aus dem Gesprochenen
und kehrt dorthin zurück, jedes gesprochene Wort wird in den
Gedanken geboren und endet wieder in ihnen. Es gibt zwischen
den Menschen und in jedem einzelnen eine unglaubliche Vegeta-
tion sprachlicher Äußerungen, deren Adern die ›Gedanken‹ sind.
– Man wird sagen: Wenn nun das Sprechen etwas anderes ist als
nur Geräusch oder Laut, dann liegt es doch daran, daß es durch
das Denken eine Zuschreibung von Sinn erfährt – allem voran
einen lexikalischen oder grammatikalischen Sinn –, so daß es
24 Vorwort

letztlich stets nur eine Berührung des Denkens mit dem Denken
gibt. Natürlich sind Laute nur im Hinblick auf einen Gedanken
sprechend, aber dies will nicht heißen, daß das Sprechen abge-
leitet oder sekundär wäre. Natürlich hat das System der Sprache
selbst seine denkbare Struktur. Wenn wir aber sprechen, dann
denken wir sie nicht so mit, wie der Linguist sie denkt, wir den-
ken nicht einmal an sie, sondern denken an das, was wir sagen. Es
ist nicht nur so, daß wir gar nicht gleichzeitig an zwei Dinge den-
ken könnten: Man würde sagen, damit wir ein Signifikat vor uns
haben, sei es auf seiten des Senders oder des Empfängers, müssen
wir aufhören, uns den Code und sogar die Botschaft vorzustellen,
wir müssen zu rein Ausführenden des Sprechens werden. Das
wirksame Sprechen führt zum Nachdenken, und das lebendige
Denken findet auf magische Weise seine Wörter. Es gibt nicht das
Denken und die Sprache, jede der beiden Ordnungen verdoppelt
sich bei näherem Hinsehen und verzweigt sich in der anderen.
Es gibt das verständige Sprechen, das wir als Denken bezeichnen
– und das versagende Sprechen, das wir als Sprache bezeichnen.
Es liegt dann vor, wenn wir nicht verstehen, was wir sagen: Die
Wörter sind da, und dennoch erscheint uns unser eigenes Re-
den wie reines Denken.5 Es gibt ein unartikuliertes Denken (das 3
›Aha-Erlebnis‹ der Psychologen), und es gibt das vollendete Den-
ken – das sich plötzlich, ohne daß es darum wußte, von Wör-
tern umgeben sieht. Die Ausdruckshandlungen vollziehen sich
zwischen dem denkenden Sprechen und dem sprechenden Den-
ken, und nicht, wie wir leichthin sagen, zwischen Denken und
Sprache. Wir sprechen nicht etwa, weil sie parallel nebeneinander
stehen, vielmehr stehen sie nur parallel nebeneinander, weil wir
sprechen. Die Schwäche eines jeden ›Parallelismus‹ besteht darin,
daß er sich den Anschein von Korrespondenzen zwischen den
Ordnungen gibt und uns die Handlungsvorgänge verschleiert,
die diese Ordnungen zunächst einmal durch einen Übergriff her-
vorgebracht haben. Die ›Gedanken‹, die das Sprechen überziehen
und aus ihm ein verständliches System werden lassen, die Felder

5 Jean Paulhan.
Vorwort 25

oder Dimensionen des Denkens, welche die großen Autoren so-


wie unsere eigene Arbeit in uns errichtet haben, sind offene Ein-
heiten verfügbarer Bedeutungen, die wir nicht wieder aktivieren,
es sind Spuren des Denkens, die wir nicht nachzeichnen, sondern
fortsetzen. Wir haben diese erworbenen Kenntnisse, ebenso wie
wir Arme und Beine haben, wir machen davon Gebrauch, ohne
darüber nachzudenken, so wie wir, ohne an sie zu denken, un-
sere Arme und Beine ›finden‹, und Valéry hat diese sprechende
Fähigkeit, in der sich der Ausdruck mit Vorbedacht abzeichnet,
sehr treffend ein ›Tier aus Wörtern‹ genannt. Diese Fähigkeit läßt
sich nicht als Zusammenschluß zweier positiver Ordnungen ver-
stehen. Wenn aber das Zeichen nur einen gewissen Sinnabstand
zwischen den Zeichen markiert und die Bedeutung einen eben-
solchen Sinnabstand zwischen den Bedeutungen, dann schließen
sich Denken und Sprechen wieder wie zwei Reliefs zusammen.
Als reine Differenzen sind sie nicht voneinander zu unterschei-
den. Im Ausdruck geht es vielmehr darum, die gesagten Dinge
neu zu ordnen, sie mit einem neuen Merkmal einer Krümmung
zu versehen, sie an ein bestimmtes Relief des Sinns anzupassen.
Es gab das, was sich von selbst versteht und zur Sprache bringt
– insbesondere das, was auf viel geheimnisvollere Weise, vom
Grund der Sprache her, alle Dinge von vornherein als benenn-
bare einfordert – und es gibt das, was zu sagen ist, was noch nicht
mehr als eine deutliche Unruhe in der Welt der gesagten Dinge
ist. Es gilt, einen Modus zu finden, bei dem sich beide wieder
zusammenschließen oder einander begegnen. Ich würde niemals
einen Schritt zurücklegen, wenn das von mir anvisierte ferne
Ziel in meinem Leib nicht auf eine natürliche Fertigkeit treffen
würde, es in ein nahes Ziel zu verwandeln. Mein Denken wäre zu
keinem Schritt in der Lage, wenn der Horizont des Sinns, den es
eröffnet, durch das Sprechen nicht zu dem werden würde, was
man im Theater ein Versatzstück nennt.
Die Sprache kann die zwischenleibliche Kommunikation
(communication intercorporelle) nach Belieben variieren und er-
weitern: Sie hat dieselbe Triebfeder, denselben Stil wie sie. Noch
einmal sei wiederholt: Was verborgen war, muß öffentlich und
26 Vorwort

beinahe sichtbar werden. Hier wie dort werden die Bedeutungen


in ganzen Bündeln hervorgebracht, kaum unterstützt durch ei-
nige entscheidende Gesten. Hier wie dort betrachte ich die Dinge
und die Anderen mit einer gegenseitigen Verpflichtung. Wenn
ich zu den Anderen (oder zu mir selbst) spreche, dann spreche
ich nicht über meine Gedanken, sondern spreche sie aus, ebenso
wie alles, was noch zwischen ihnen liegt, meine Hintergedanken,
meine unterschwellig vorhandenen Gedanken. Man wird erwi-
dern: Das ist aber doch nicht das, was Sie sagen, sondern das,
was der Gesprächspartner heraushört … Hören wir, was Mari-
vaux sagt: »Ich habe nicht daran gedacht, Sie kokett zu nennen.
– Dies sind Dinge, die schon gesagt sind, bevor man darüber
nachdenkt.« Gesagt von wem? Gesagt zu wem? Nicht von einem
Geist zu einem anderen Geist, sondern von einem Wesen mit
Leib und Sprache zu einem anderen Wesen mit Leib und Spra-
che, von denen die eine Seite die jeweils andere mit unsichtbaren
Fäden, gleich jenen, mit denen Marionetten geführt werden, zu
lenken versteht und diese andere Seite sprechen läßt, sie denken
läßt, sie werden läßt, was sie ist und was sie von allein nie hätte
sein können. Auf diese Weise sind die Dinge schon gesagt, und
sie sind schon gedacht, wie durch ein Sprechen und ein Denken,
über die wir nicht verfügen, sondern die über uns verfügen.
Man sagt, es gibt eine Mauer zwischen uns und den Anderen,
aber diese Mauer errichten wir alle gemeinsam: Jeder setzt sei-
nen Stein in die Leerstelle, die der Andere gelassen hat. Selbst
die Werke der Vernunft sind auf solch unendlichen Gesprächen
errichtet. All jene, die wir geliebt, verabscheut, gekannt oder nur
kurz getroffen haben, sprechen durch unsere Stimme. So wie
der Raum nicht aus lauter an sich simultanen Punkten besteht,
so wie unsere Dauer nicht ihre enge Verbindung zu einem alle
Dauer umfassenden Raum lösen kann, so ist die kommunikative
Welt kein Bündel paralleler Bewußtseine. Die Spuren vermischen
sich und gehen ineinander über, sie bilden eine einzige Spur von
›öffentlicher Dauer‹.
Diesem Modell folgend müßte man die historische Welt den-
ken. Was nützt es, sich zu fragen, ob die Geschichte von den
Vorwort 27

Menschen oder von den Dingen gemacht wurde, wenn doch


ganz offenkundig die menschlichen Initiativen das Gewicht der
Dinge nicht aufheben können und die ›zwingende Kraft der
Dinge‹ stets im Handeln der Menschen ihre Wirkung entfaltet?
Es ist genau dieses Scheitern der Analyse, sobald sie alles auf ei-
nen einzigen Plan zurückzuführen sucht, das den wahren Kern
der Geschichte offenbart. Es gibt keine Analyse, die letzthin gül-
tig wäre, denn es gibt ein Fleisch (une chair) der Geschichte, in
dem, wie in unserem Leib (notre corps), alles verbucht ist und
alles zählt – sowohl der Unterbau als auch die Vorstellung, die
wir uns von ihm machen, und vor allem auch der beständige
Austausch zwischen dem einen und dem anderen, bei dem das
Gewicht der Dinge ebenfalls zum Zeichen wird, die Gedanken zu
Kräften und die Bilanz zum Ereignis. Man fragt sich: Wo wird die
Geschichte gemacht? Wer macht sie? Welche ist die Bewegung,
die einen Weg bahnt und hinter sich die Figuren einer Spur fol-
gen läßt? Sie entstammt derselben Ordnung wie die Bewegung
des Sprechens und Denkens und letztlich auch wie die Auf-
spaltung der sensiblen Welt zwischen uns: Überall gibt es Sinn,
Dimensionen, Figuren über das hinaus, was jedes ›Bewußtsein‹
hätte hervorbringen können, und dennoch sind es Menschen,
die sprechen, denken, sehen. Wir sind im Feld der Geschichte
ebenso vorhanden, wie wir es im Feld der Sprache oder des Seins
sind.
Die Metamorphosen des Privaten ins Öffentliche, der Ereig-
nisse in Meditationen, des Denkens in Worte und der Worte in
Denken, dieses Echo aus allen Richtungen, das bewirkt, daß man
auch mit sich selbst spricht, wenn man mit anderen spricht, und
daß man vom Sein spricht, diesem Wimmeln von Wörtern hin-
ter den Wörtern, von Gedanken hinter den Gedanken – diese
universelle Substitution ist auch eine Art von Stabilität. Joubert
schrieb an Chateaubriand, er müsse nur ›seinen Talisman schüt-
teln‹. Obwohl es schwieriger ist, zu leben als Bücher zu schrei-
ben, ist es doch eine Tatsache, daß alles, was wir tun, letztlich,
da unsere körperlichen und sprachlichen Anlagen nun einmal
vorgegeben sind, einen Sinn und einen Namen hat – selbst wenn
28 Vorwort

wir zunächst nicht wissen, welchen. Die Ideen sind keine zweite
Positivität mehr, keine zweite Welt, die ihre Reichtümer unter
einer zweiten Sonne zur Schau stellen würde. Indem wir die
Welt oder das ›vertikale‹ Sein wiederfinden, jenes Sein, das auf-
recht vor meinem aufrechten Leib steht und in dem die Ande-
ren enthalten sind, erfahren wir eine Dimension, in der auch die
Ideen ihre wahre Solidität erhalten. Sie sind die geheimen Ach-
sen oder, wie Stendhal sagte, das ›Pfahlwerk‹ unserer Worte, die
Zentren unserer Gravitation, dieser genau definierte Hohlraum,
über dem das Gewölbe der Sprache konstruiert wird und der
gegenwärtig nur im Gewicht und im Gegengewicht der Steine
existiert. Aber sind denn die sichtbaren Dinge und die sichtbare
Welt anders beschaffen? Sie liegen immer hinter dem, was ich
von ihnen sehen kann, am Horizont, und was man Sichtbarkeit
nennt, ist diese Transzendenz selbst. Jede Sache, jede Seite einer
Sache zeigt sich nur, indem sie aktiv alle anderen verbirgt, indem
sie sie im Akt ihrer Maskierung verrät. Sehen heißt, prinzipiell
mehr zu sehen als man sieht, heißt Zugang zu einem latenten
Sein zu haben. Das Unsichtbare ist das Relief und die Tiefe des
Sichtbaren, und das Sichtbare weist ihm gegenüber kein größeres
Maß an reiner Positivität auf. Was die Quelle der Gedanken selbst
angeht, so wissen wir nun, daß wir nach ihr unter den Aussagen
und insbesondere unter der berühmten Äußerung von Descartes
suchen müssen, wenn wir sie finden wollen. Die logische Wahr-
heit – die lautet, daß ›man sein muß, um zu denken‹ – und ihre
Bedeutung als Aussage üben prinzipiell Verrat an dieser Äuße-
rung, denn sie beziehen sich gerade in dem Augenblick auf einen
Gegenstand des Denkens, in dem man Zugang zu dem finden
müßte, der denkt, und zu seinem natürlichen Zusammenhalt,
auf den das Sein der Dinge und das Sein der Ideen antworten.
Descartes’ Ausspruch ist die Geste, die in jedem von uns die-
ses Denken aufzeigt, das daran denkt zu entdecken, das ›Sesam
öffne dich‹ des fundamentalen Denkens. Fundamental, weil es
durch nichts transportiert wird. Aber nicht in dem Sinne fun-
damental, als könne man mit ihm einen Grund berühren, auf
dem man sich einrichten und verharren müßte. Es ist von seiner
Vorwort 29

Anlage her grundlos und, wenn man so will, ein Abgrund; dies
bedeutet, daß es niemals bei sich selbst ist, daß wir es in der Nähe
oder im Ausgang von den gedachten Dingen finden und daß es
eine Öffnung ist, der andere unsichtbare Endpunkt der Achse,
die uns an die Dinge und die Ideen bindet. Muß man sagen, daß
dieser äußerste Endpunkt nichts ist? Wenn er ›nichts‹ wäre, dann
würden die Unterschiede von nah und fern, würde das Relief des
Seins vor ihm verschwinden. Dimensionalität und Öffnung hät-
ten keinen Sinn mehr. Das absolut Offene würde vollständig in
einem unbegrenzten Sein aufgehen, und mangels einer anderen
Dimension, von der es sich unterscheiden könnte, würde das,
was wir die ›Vertikalität‹ nennen – die Gegenwärtigkeit –, nichts
mehr bedeuten. Eher als vom Sein und vom Nichts müßte man
vom Sichtbaren und vom Unsichtbaren reden und dabei wie-
derholen, daß sie sich nicht widersprechen. Man spricht vom
Unsichtbaren so, wie man vom Unbeweglichen spricht: nicht
im Hinblick auf das, was der Bewegung fremd ist, sondern im
Hinblick auf das, was in ihr als Unbewegliches fortdauert. Dies
ist der Ausgangspunkt oder der Nullpunkt der Sichtbarkeit, die
Öffnung einer Dimension des Sichtbaren. Mit einem Nullpunkt
in jeder Hinsicht und mit einem uneingeschränkten Sein muß
man sich nicht befassen. Wenn ich vom Nichts rede, gibt es schon
das Sein, dieses Nichts vernichtet also nicht ernsthaft, und dieses
Sein ist ohne Frage nicht mit sich identisch. Auf gewisse Weise
liegt der Gipfel der Philosophie vielleicht nur darin, wieder zu
diesen Binsenweisheiten zurückzufinden: Das Denken denkt, das
Sprechen spricht, der Blick blickt – aber zwischen diesen bei-
den identischen Wörtern liegt jedes Mal der ganze Sinnabstand,
den man überbrücken muß, um zu denken, zu sprechen und zu
sehen.
Die Philosophie, die diesen Chiasmus des Sichtbaren und des
Unsichtbaren enthüllt, ist das genaue Gegenteil einer Überblicks-
philosophie. Sie vertieft sich in das sinnlich Wahrnehmbare, die
Zeit und die Geschichte, sie beschäftigt sich eingehend mit ihren
jeweiligen Verfugungen und geht nicht mittels nur ihr eigener
Kräfte über sie hinaus, sie überholt sie nur in ihrem je eigenen
30 Vorwort

Sinne. Man hat vor kurzem den Ausspruch Montaignes wieder


in Erinnerung gerufen, daß »jede Bewegung uns entdeckt«, und 4
man hat zu Recht daraus geschlossen, daß der Mensch nur in
Bewegung sein kann.6 Ebenso hat die Welt und hat das Sein nur 5
in der Bewegung Bestand, und allein auf diese Weise können alle
Dinge gemeinsam sein. Die Philosophie ist die Erinnerung an
dieses Sein, mit dem sich die Wissenschaft nicht beschäftigt, weil
sie die Beziehungen des Seins und des Bewußtseins wie die des
Geometrals und seiner Projektionen auffaßt und dabei das Sein
der Verwicklungen vergißt, das man die Topologie des Seins nen-
nen könnte. Diese Philosophie aber, die unter der Wissenschaft
forscht, ist andererseits nicht ›tiefer‹ als die Leidenschaften, die
Politik und das Leben. Es gibt nichts Tieferes als die Erfahrung,
welche die Mauer des Lebens durchbricht. Marivaux schrieb
noch: »Unser Leben ist uns weniger teuer als wir, als unsere Lei-
denschaften es sind. Sieht man zuweilen, was hierbei in unserem
Instinkt vorgeht, so könnte man meinen, es sei nicht notwendig
zu leben, um zu sein, und es sei reiner Zufall, daß wir leben,
wohingegen es ganz natürlich sei, daß wir sind.« Jene, die mit
Leidenschaft und Verlangen bis zu diesem Sein vordringen, wis-
sen alles, was es zu wissen gibt. Die Philosophie versteht sie nur
in dem Maße, in dem sie ihre Leidenschaften und ihr Verlan-
gen versteht, es ist ihre Erfahrung, aus der sie das Sein verste-
hen lernt. Die Welt liegt ihr nicht zu Füßen, sie ist kein ›höherer
Standpunkt‹, von dem aus man alle lokalen Ansichten überblik-
ken könnte, sie sucht vielmehr die Berührung mit dem rohen
Sein und erwirbt ihre Kenntnisse ebensogut bei jenen, die sich
von ihm nie entfernt haben. Während die Literatur, die Kunst
und die Praxis des Lebens, die mit den Dingen selbst einhergeht,
während die sinnliche Wahrnehmung und die Lebewesen selbst,
außer an ihren äußersten Grenzen, einfach die Illusion wecken
und wahren können, im Gewohnten und Bestehenden zu ver-
harren, läßt uns die Philosophie, die ohne Farben, in schwarz
und weiß, wie ein Kupferstich malt, die Fremdheit der Welt

6 Jean Starobinski, Montaigne en mouvement, N.R.F., Februar 1960.


Vorwort 31

nicht verkennen, der die Menschen ebensogut und besser als sie
die Stirn bieten, jedoch gleichsam wie zur Hälfte in Schweigen
gehüllt.
*
So ist in jedem Fall die Philosophie beschaffen, von der man hier
einige Versuche finden wird. Nicht sie ist es, wie man sehen wird,
die man zur Debatte stellen müßte, wenn man zur Ansicht ge-
langt, daß wir in der Politik ein wenig zu hochtrabend, ein wenig
zu klug daherreden. Die Wahrheit ist vielleicht einfach, daß man
mehrere Leben haben müßte, um in jeden Erfahrungsbereich mit
der ganzen Hingabe, die er verlangt, Eintritt zu finden.
Aber ist dieser Ton wirklich so falsch, so wenig empfehlens-
wert? Alles, was man erdacht und wohldurchdacht glaubte – die
Freiheit und die Machtverhältnisse, den Staatsbürger gegenüber
der Staatsgewalt, den Heroismus des Staatsbürgers, den liberalen
Humanismus – die formale Demokratie und die reale, die sich
über sie hinwegsetzt und sie verwirklicht, den revolutionären
Heroismus und Humanismus – all dies liegt in Trümmern. An-
gesichts dieser Lage werden wir von Skrupeln erfaßt, wir werfen
uns vor, zu nüchtern darüber zu reden. Aber Vorsicht. Was wir
Unordnung und Trümmer nennen, erleben andere, jüngere als
natürlich, und vielleicht werden sie in ihrer Unbefangenheit Herr
der Lage sein, gerade weil sie nicht mehr dort ihre Bezugspunkte
suchen, wo wir sie noch fanden. Im Getöse des Niederreißens
verschwinden auch viele verdrießliche Leidenschaften, viele
Scheinheiligkeiten oder Verrücktheiten und viele falsche Dilem-
mata. Wer hätte dies vor zehn Jahren zu hoffen gewagt? Vielleicht
befinden wir uns an einem dieser Punkte, in dem die Geschichte
über uns hinweggeht. Wir sind betäubt von den französischen
Ereignissen oder den lautstarken Episoden auf diplomatischer
Ebene. Aber unter all dem Lärm bildet sich ein Schweigen her-
aus, eine Erwartung. Warum sollte es nicht sogar eine Hoffnung
sein?
Man zögert, diese Worte in dem Moment niederzuschreiben,
in dem Sartre, mit einer schönen Erinnerung an unsere Jugend,
zum ersten Mal einen Ton der Verzweiflung und der Revolte an-
32 Vorwort

schlägt.7 Diese Revolte ist aber keine Nörgelei, keine Beschuldi- 6


gung der Welt und der Anderen, keine Absolution seiner selbst.
Sie dient nicht dem reinen Selbstzweck, sondern verfügt über das
ganze Wissen um ihre Grenzen. Es handelt sich eher um eine
Revolte der Reflexion. Genauer gesagt: Es ist das Bedauern, nicht
mit der Revolte begonnen zu haben, es ist ein ›Ich hätte gemußt‹,
das nicht kategorisch sein kann, nicht einmal rückblickend, denn
heute wie einst weiß Sartre sehr wohl, was er bei Nizan auch per-
fekt nachweisen kann, daß die Revolte im Verlauf der Revolution
weder sie selbst bleiben noch vollendet werden kann. Er liebäu-
gelt folglich mit der Idee von einer revoltierenden Jugend, und
dies ist ein Trugbild, nicht nur deshalb, weil es nicht mehr zeit-
gemäß ist, sondern weil seine frühreife Verstandesschärfe im Ver-
gleich zu den hitzigen Irrtümern der Anderen kein so schlechtes
Bild abgibt: Man mag zweifeln, ob Sartre diese Verstandesschärfe,
wenn er noch im Alter der Illusionen wäre, gegen die Illusionen
des zornigen Aufbegehrens eintauschen würde. Sie war nicht, wie
er zu verstehen gibt, ein natürliches Bedürfnis, sondern bereits
dieselbe Schärfe, dieselbe Ungeduld angesichts der mit sich selbst
eingegangenen Kompromisse und der zweideutigen Haltungen,
dieselbe Schamhaftigkeit und dasselbe Desinteresse, die ihn da-
vor bewahrt haben, rücksichtslos er selbst zu sein und ihn gerade
zu jener erhabenen Kritik seiner selbst bewegt haben, die man
soeben lesen konnte. Dieses Vorwort zu Aden Arabie ist der Tadel
des gereiften Sartre gegenüber dem jungen, der sich, wie alle jun-
gen Leute, nicht darum kümmert und dort unten, in unserer Ver-
gangenheit, ausharrt – mehr noch: Der beim Umblättern einer
Seite wiedergeboren wird, der seinen Richter vereinnahmt und
durch seinen Mund spricht, und dies auf so unerschütterliche
Weise, daß man ihn kaum für derart überholt, derart verdam-
mungswürdig halten mag und daß man sich folgerichtig fragt,
ob es nicht doch, wie es alles in allem doch wahrscheinlich ist,
nur einen einzigen Sartre gibt. Den jungen Lesern sei nicht an-
geraten, allzuschnell zu glauben, daß Sartre sein Leben verfehlt

7 Vorwort zu Aden Arabie, F. Maspéro édit.


Vorwort 33

hat, weil er die Revolte verpaßt hat – und daß ihnen folglich,
wenn sie davon genug haben, rund vierzig, vielleicht auch fünf-
zig untadelige Jahre versprochen sind. In dieser zwischen Sartre
und Sartre ausgetragenen Debatte über die Vergangenheit, die
Gegenwart und die Anderen hinweg, in dieser auf die Offenba-
rung einer Wahrheit abzielenden, ernsthaften Konfrontation des
zwanzigjährigen Sartre, des Sartre der Libération und der nicht
so weit zurückliegenden Jahre, und all dieser Personen mit dem
zwanzigjährigen Nizan, dem kommunistischen Nizan und dem
vom September 1939, und all dieser Leute mit den angry young
men von heute, dürfte man nicht vergessen, daß das Szenario von
Sartre stammt, daß seine immerwährende Regel, da dieses Sze-
nario seine Freiheit ist, darin besteht, sich selbst jene Entschuldi-
gungen zu verweigern, mit denen er die Anderen überhäuft, daß
sein einziges Unrecht, wenn es denn eines ist, darin besteht, die
Diskriminierung festzuschreiben, daß wir unsererseits in jedem
Fall zu weit gehen, wenn wir uns auf sie verlassen, daß wir also
unsere Ziele korrigieren und die Bilanz neu ziehen müssen, oder
aber seine verfluchte Verstandesschärfe liefert uns, indem sie die
labyrinthisch verschlungenen Wege der Revolte und der Revolu-
tion erhellt, gegen seinen Willen alle notwendigen Argumente,
um ihn freizusprechen. Dieser Text ist kein Spiegel, der auf
Sartres Weg gerichtet ist, er ist eine Handlung des heutigen Sartre.
Wir, die wir lesen und uns erinnern, können nicht so leicht den
Schuldigen von seinem Richter trennen, wir entdecken bei ihnen
familiäre Züge. Nein, der zwanzigjährige Sartre war desjenigen
nicht so unwürdig, der ihn jetzt zu desavouieren sucht; und sein
heutiger Richter gleicht ihm noch in der Strenge seines Richter-
spruchs. Als Anstrengung eines Experiments, sich zu verstehen,
als Interpretation seiner selbst und Deutung aller Dinge durch
sich selbst ist dieser Text nicht geschrieben, um passiv gelesen zu
werden, wie eine Feststellung oder eine Bestandsaufnahme, son-
dern um entziffert, durchdacht und erneut gelesen zu werden. Er
hat – dies ist das Schicksal jeder guten Literatur – mit Sicherheit
einen vielfältigeren, vielleicht auch einen anderen Sinn als den,
den der Autor hineingelegt hat.
34 Vorwort

Man müßte bei Gelegenheit einmal, dreißig Jahre danach,


diese außergewöhnliche Wiederentdeckung des verlorenen An-
deren analysieren, und wieviel an ihr der Phantasie entspringt,
nicht etwa deswegen, weil Nizan unter dem äußeren Anschein
von Eleganz und der größten Talente nicht auch der rechtschaf-
fene, mutige und seinen Begabungen treue Mann gewesen wäre,
den Sartre beschrieben hat – sondern weil der Sartre von einst
nicht weniger Realität oder Gewicht in unserer Erinnerung be-
sitzt.
Ich wiederholte vor ihm immer wieder, sagt er, daß wir frei
sind, und das dünne Lächeln aus dem Mundwinkel, das er mir
zur einzigen Antwort gab, sagte mehr über diese Freiheit als all
meine Reden. Ich wollte weder das physische Gewicht meiner
Ketten spüren noch die äußeren Ursachen kennen, die mein wah-
res Sein vor mir verbergen und mich an den ehrenhaften Punkt
der Freiheit binden. Ich sah nichts, das sie hätte erschüttern oder
bedrohen können, ich gab der irrsinnigen Vorstellung nach,
unsterblich zu sein, ich fand weder im Tod noch in der Angst
etwas, das man hätte denken können. In mir spürte ich nichts,
das Gefahr gelaufen wäre, abhanden zu kommen, ich war geret-
tet, ich war auserwählt. Tatsächlich war ich ein denkendes oder
schreibendes Subjekt, ich lebte außer mir, und der Geist, in dem
ich wohnte, war nur die abstrakte Bedingung meines Daseins als
Zögling des Prytaneums. Da ich meine Bedürfnisse und meine
Ketten nicht beachten wollte, konnte ich sie auch nicht bei den
Anderen beachten, was bedeutet, daß ich die Arbeit ihres Lebens
unbeachtet ließ. Wenn ich Leiden oder Angst zu sehen bekam,
schrieb ich sie der Selbstgefälligkeit oder sogar der Geltungssucht
zu. Die Gehässigkeit, die Panik, der Widerwille gegen Freund-
schaften und Liebesbeziehungen, die vorgefaßte Meinung, miß-
fallen zu wollen, mit einem Wort: alles Negative, ließ sich nicht
ernstlich leben: Dies waren nur gewählte Haltungen. Ich glaubte,
daß Nizan beschlossen hatte, ein perfekter Kommunist zu sein.
Da ich außerhalb jedes Kampfes stand, insbesondere der Politik
(und als ich in sie eintrat, war es nur, um meinen Anstand sowie
meinen konstruktiven und versöhnlichen Humor einzubringen),
Vorwort 35

habe ich nicht im geringsten die Anstrengung verstanden, die Ni-


zan auf sich nehmen mußte, um seine Kindheit hinter sich zu las-
sen, ebensowenig wie ich seine Einsamkeit und seine Suche nach
dem Heil verstehen konnte. Sein Haß auf so vieles entsprang
seinem Leben, er war reines Gold, während meine Abneigungen
Kopfgeburten waren, Falschgeld …
In einem einzigen Punkt geben wir Sartre Recht. Es ist in der
Tat verblüffend, daß er bei Nizan nicht sehen konnte, was sofort
ins Auge sprang: das Nachdenken über den Tod und die Hinfäl-
ligkeit unter all der nach außen vorgetragenen Mäßigung, der
Ironie und der Beherrschung. Das bedeutet, daß es wohl zwei
Arten gibt, jung zu sein, und daß sie einander nicht ohne weite-
res verstehen: Manche sind fasziniert von ihrer Kindheit, sie hat
von ihnen Besitz ergriffen und bewahrt sie in der Verzückung
einer Ordnung privilegierter Möglichkeiten. Andere werden von
ihr in das erwachsene Leben zurückgeworfen, sie glauben, ihre
Vergangenheit losgeworden und ebenso nah an allen Möglich-
keiten zu sein. Sartre war von der zweiten Sorte. Es war nicht
leicht, sein Freund zu sein. Der Abstand, den er zwischen sich
und seine Grundideen legte, trennte ihn auch von dem, was die
Anderen durchleben mußten. Nicht mehr als sich selbst erlaubte
er ihnen, zu ›nehmen‹ – in seinen Augen ihr Unbehagen oder ihre
Angst zu sein, wie sie es sonst nur heimlich, verschämt, bei sich
waren. Im Hinblick auf sich selbst und auf die Anderen mußte
er lernen, daß niemand ohne Wurzeln ist und daß die vorgefaßte
Meinung, keine Wurzeln zu haben, nur eine andere Art ist, sie
einzugestehen.
Die Anderen aber, die ihre Kindheit fortsetzten oder die sie
zu bewahren suchten, als sie sie hinter sich ließen, und die in-
sofern nur ein Heilsversprechen suchten, muß man von ihnen
sagen, daß sie ihm gegenüber Recht hatten? Sie mußten ihrerseits
lernen, daß man nicht hinter sich läßt, was man bewahrt, daß
ihnen nichts die Totalität wiedergeben kann, nach der sie sich in
ihrer Nostalgie sehnten, und daß sie in ihrem Beharren bald nur
noch die Wahl haben würden, Dummköpfe oder Lügner zu sein.
Sartre hat sie bei ihrer Suche nicht begleitet. Konnte sie jedoch
36 Vorwort

überhaupt öffentlich sein? Bedurfte sie nicht, von Kompromiß


zu Kompromiß, des Dämmerlichts? Und dies wußten sie sehr
wohl. Von daher rührten zwischen Sartre und ihnen die ebenso
engen wie distanzierten Beziehungen des Humors. Sartre wirft
sie sich heute vor: Aber hätten sie eine andere Art der Beziehung
zugelassen? Sagen wir höchstens, daß die Zurückhaltung und die
Ironie ansteckend sind. Sartre hat Nizan nicht verstanden, er hat
den Leidenden nur als Dandy sehen können. Es bedurfte seiner
Bücher, seines weiteren Lebens und, bei Sartre, zwanzig Jahre der
Erfahrung nach seinem Tod, damit Nizan endlich verstanden
wurde. Aber wollte Nizan, daß man ihn versteht? Ist sein Leiden,
von dem Sartre heute spricht, nicht die Sorte von Geständnis, die
man lieber vor dem Leser als vor sonst jemandem ablegt? Hätte
Nizan jemals zwischen sich und Sartre diesen vertraulichen Ton
toleriert? Sartre weiß dies besser als wir. Steuern wir dennoch
einige unbedeutende Fakten dazu bei.
Eines Tages, als wir uns auf die Lehrerausbildung der École
Normale vorbereiteten, sahen wir einen der Ehemaligen, der
hierher zurückkehrte, um irgendeinen Besuch abzustatten, mit
der Aura der Erwählten unsere Klasse betreten. Er war prächtig
in dunkles Blau gekleidet und trug die dreifarbige Kokarde des
Valois. Man sagte mir, es sei Nizan. In seiner Kleidung und in
seinem Gang deutete nichts auf die Mühsal der Vorbereitungs-
klasse oder der École Normale hin, und da unser Lehrer, der im
Gegensatz zu ihm immer nach mühsamer Arbeit aussah, Nizan
lächelnd vorschlug, doch wieder unter uns Platz zu nehmen,
sagte er mit eisiger Stimme ›Warum nicht?› und setzte sich flink
auf den freien Platz neben mir, um sich mit unerschütterlicher
Miene in meinen Sophokles zu vertiefen, als sei dies an diesem
Vormittag tatsächlich sein einziges Ziel gewesen. Als er aus Aden
zurückkehrte, fand ich in meiner Post die Karte von Paul-Yves
Nizan, der den Rekruten Merleau-Ponty, dessen Cousin er dort
unten gut gekannt hatte, an einem der nächsten Tage zu einem
Besuch in die Bude einlud, die er mit Sartre teilte. Die Begegnung
entsprach dem Protokoll. Der Platz von Sartre war nackt und leer.
Nizan dagegen hatte an der Wand zwei unter einer Fechtmaske
Vorwort 37

gekreuzte Florette aufgehängt, und vor diesem Hintergrund


zeichnete sich das Bild desjenigen ab, von dem ich wenig später
erfuhr, daß er in Arabien beinahe Selbstmord begangen hätte.
Sehr viel später traf ich ihn an der Haltestelle der Buslinie S wie-
der, verheiratet, kämpferisch und an jenem Tag mit einer schwe-
ren Aktentasche unter dem Arm und, ungewöhnlich, einem Hut
auf dem Kopf. Er kam von sich aus auf Heidegger zu sprechen,
brachte seine Wertschätzung in einigen Sätzen zum Ausdruck, in
denen er nach meinem Gespür hervorzuheben wünschte, daß er
sich nicht ganz von der Philosophie verabschiedet habe, aber dies
klang so kühl, daß ich nicht gewagt hätte, ihm die Frage offen zu
stellen. Ich erinnere mich gern an diese unbedeutenden Fakten:
Sie beweisen nichts, aber sie kommen mitten aus dem Leben.
Sie lassen erahnen, daß sich Nizan seinerseits, wenngleich Sartre
nicht aus nächster Nähe die Arbeit verfolgte, die sich in Nizan
vollzog, mit Humor, Zurückhaltung und Höflichkeit mehr als
nur zur Hälfte ins Spiel einbrachte. Es wurde bereits erwähnt,
daß Sartre ihn erst dreißig Jahre später verstehen würde, weil
es Sartre war, aber auch, weil es Nizan war. Und vor allem, weil
beide jung waren, das heißt keinen Widerspruch duldend und
schüchtern. Und schließlich vielleicht aus einem letzten und
schwerwiegenderen Grund.
Existierte der Nizan, den Sartre sich vorwirft, verkannt zu ha-
ben, tatsächlich schon im Jahr 1928 – vor der Familie, den Bü-
chern, dem Leben als Aktivist, dem Bruch mit der Partei und vor
allem dem Tod mit fünfunddreißig Jahren? Weil er mit diesen
knapp fünfunddreißig Jahren eine Vollendung, eine Geschlossen-
heit und einen Stillstand erreicht hat, sind diese Jahre als Ganzes
zwanzig Jahre hinter uns zurückgeblieben, und wir wollen nun,
daß alles, was er hätte sein müssen, bereits an ihrem Anfang und
in jedem ihrer Augenblicke gegeben war. Sein Leben ist fiebrig
wie etwas, das eben erst beginnt, aber auch solide wie etwas, das
seine Vollendung gefunden hat; er bleibt für immer jung. Und
weil uns auf der anderen Seite die Zeit gegeben war, mehr als
einem Irrtum zu erliegen und ihn später einzusehen, verwischt
dieses Hin und Her unsere Spuren, und unsere eigene Jugend ist
38 Vorwort

für uns verbraucht, unbedeutend und nur das, was sie in ihrer
unzugänglichen Wahrheit war. An ein anderes, allzu vorzeitig
beendetes Leben lege ich den Maßstab der Hoffnung an. Mein
eigenes, noch andauerndes Leben bemesse ich nach den strengen
Maßstäben des Todes. Ein junger Mensch hat vieles unternom-
men, wenn er eine Möglichkeit gewesen ist. Bei einem gereif-
ten Menschen, der immer noch da ist, will es uns scheinen, als
hätte er nichts unternommen. Wie in den Dingen der Kindheit,
so finde ich auch in dem verlorenen Kameraden die Fülle, sei
es, weil der schöpferische Glaube in mir versiegt ist oder die Wirk-
lichkeit sich erst in der Erinnerung formt.8 Eine andere retrospek- 7
tive Illusion, von der Bergson nicht gesprochen hat: nicht mehr
die Illusion der Präexistenz, sondern die des Verfalls. Vielleicht
entströmt die Zeit weder der Zukunft noch der Vergangenheit.
Vielleicht ist es der Abstand, der für uns die Realität des Ande-
ren, und insbesondere des verlorenen Anderen, ausmacht. Dieser
Abstand würde uns aber rehabilitieren, wenn wir ihn uns selber
gegenüber einnehmen könnten. Um einen Ausgleich zu finden
zwischen dem, was Sartre heute über sich selbst und über den
zwanzigjährigen Nizan schreibt, wird stets das fehlen, was der
fünfzigjährige Nizan über ihre Jugend hätte sagen können. Für
uns waren sie zwei Männer, die noch am Anfang standen und die
dabei im genauen Gegensatz zueinander standen.
Was Sartres Bericht seine Melancholie verleiht, ist der Um-
stand, daß man die beiden Freunde hier ganz allmählich lauter
Dinge begreifen sieht, die sie von Anfang an hätten voneinander
lernen können. Vom Bild seines Vaters in Beschlag genommen,
von jenem Drama besessen, das älter als er selbst ist und das ei-
nen Arbeiter zeigt, der sich von der eigenen Klasse gelöst hat und
der bemerkt, daß sein Leben von diesem Moment an unwirklich
und verfehlt war, und dessen Leben im Haß auf sich selbst endet,
wußte Nizan ohne weiteres um das Gewicht der Kindheit, des
Körpers, des Sozialen, und er wußte, daß die Bezüge zur Kindheit
und die Bezüge zur Geschichte ineinander verwoben und ein und

8 Swann, I, S. 265.
Vorwort 39

dieselbe Beklemmung sind. Er hätte der Faszination kein Ende


gesetzt, er hätte sie vielleicht ins Negative gekehrt, wenn er sich
einfach nur für die Hochzeit und die Familie entschieden hätte
und wenn er die Rolle des Vaters für sich wiederentdeckt hätte.
Wenn er in den Kreislauf des Lebens zurückkehren wollte, aus
dem das Leben seines Vaters ihn vertrieben hatte, mußte er die
Quelle reinigen, mit jener Gesellschaft brechen, die ihrer aller
Einsamkeit hervorgebracht hatte, niederreißen, was sein Vater
aufgebaut hatte, und seinen Weg in entgegengesetzter Richtung
wieder aufnehmen. In dem Maße, in dem die Jahre vergehen,
mehren sich die Vorzeichen und nähert sich die Evidenz. Die
Flucht nach Aden ist der letzte Versuch, im Abenteuer eine Lö-
sung zu finden. Sie wäre nur eine Ablenkung gewesen, wenn Ni-
zan nicht – zufällig, oder weil er insgeheim gerade jene Lektion
suchte – in der Kolonialherrschaft das genaue Abbild unserer Ab-
hängigkeit von einem Äußeren gefunden hätte. So aber hat unser
Leiden äußere Ursachen, sie sind identifizierbar, sie haben einen
Namen, man kann sie beseitigen. So gibt es einen äußeren Feind,
gegen den wir nichts ausrichten können, wenn wir allein bleiben.
So ist das Leben zugleich Krieg und gesellschaftlicher Krieg. Ni-
zan wußte bereits, was Sartre erst sehr viel später geäußert hat:
daß am Anfang nicht das Spiel steht, sondern das Bedürfnis, daß
wir nicht die Herren der Welt sind, auch nicht Herr der Lage oder
Herr über Andere, die unter unserem Blick wie ein Schauspiel
erschienen, daß wir vielmehr mit ihnen verschmolzen sind, daß
wir sie mit all unseren Poren aufsaugen, daß wir das sind, was
sonst überall fehlt, und daß durch uns, mit unserem zentralen
Nichtsein, ein allgemeines Prinzip der Entfremdung gegeben ist.
Nizan ist all dem in diesem alles umfassenden Gefühl der Tragik,
in diesem Kommen und Gehen der Angst, das den wechselhaften
Gezeiten der Geschichte entspricht, sehr vital vorangeschritten.
Gerade aus diesem Grund aber, und da er selbst dieses tra-
gische Lebensgefühl nicht teilte, hat Sartre sehr viel früher die
Kunstgriffe der Rettung und der Rückkehr zum Positiven ver-
standen. Er war, genau genommen, kein Optimist: Er hat das Gute
und das Sein niemals gleichgesetzt. Noch weniger war er gerettet
40 Vorwort

oder auserwählt. Er war kraftvoll, heiter und unternehmungslu-


stig, vor ihm waren alle Dinge neu und interessant. Genauer ge-
sagt, er war ein Supralapsarier, jenseits von Tragik und Hoffnung,
und insofern gut gerüstet, um die verborgenen Knoten zu lösen.
Nizans Erfahrung in den zehn Jahren vor dem Krieg ist eine Be-
stätigung seiner Vorahnungen, und wenn er sie heute wiedergibt
– wenn er sie gründlich und brüderlich mit in seine Abrechnung
aufnimmt –, so kann er nur wieder genau auf das verweisen, was
er uns gegenüber seitdem zum Thema Bekehrungen bemerkt hat.
Mal erklärt man, Christ zu sein, mal Kommunist. Was genau will
man damit sagen? Man hat sich nicht von einem Augenblick auf
den anderen komplett gewandelt. Vielmehr ist es einfach so, daß
der Mensch, sobald er für sein Schicksal eine äußere Ursache ver-
antwortlich macht, plötzlich die Erlaubnis und sogar den Auftrag
erhält – wie es, wenn ich mich recht erinnere, Maritain formu-
liert hat –, im innigsten Glauben an sein naturgegebenes Leben
zu leben. Es ist weder notwendig noch möglich, dem Haß, der
ihn erfüllte, ein Ende zu bereiten: Er ist von nun an »sanktio-
niert«9. Die Qualen seiner Zerrissenheit sind nun die Stigmata, 8
mit denen ihn eine unermeßliche Wahrheit zeichnet. Das Böse,
an dem er zugrunde geht, hilft ihm nun, wie den Anderen, zu
leben. Es wird ihm nicht abverlangt, auf seine Talente, so er sie
denn besitzt, zu verzichten. Im Gegenteil, man befreit ihn, indem
man die Beklemmung löst, die ihm die Kehle zuschnürte. Leben,
glücklich sein, schreiben hieß, in den Schlaf einzuwilligen, und
dies war verdächtig und niederträchtig. Nun heißt es, der Sünde
wieder das zu nehmen, was sie sich widerrechtlich angeeignet
hatte, oder, wie Lenin sagte, der Bourgeoisie zu stehlen, was sie
gestohlen hat. Der Kommunismus sieht aus dieser Perspektive
einen anderen Menschen, eine andere Gesellschaft voraus. Im
Augenblick und in der ganzen langen, sogenannten negativen
Phase, ist es jedoch der Staatsapparat, der sich gegen den bürger-
lichen Staat richtet. Es sind die Mittel des Bösen, die er gegen das
Böse richtet. Von nun an hat jedes Ding zwei Seiten, je nachdem,

9 Vorwort zu Aden Arabie, S. 51.


Vorwort 41

ob man es in seinem schlechten Ursprung betrachtet oder in der


Perspektive jener Zukunft, die es heraufbeschwört. Der Marxist
ist der Bedauernswerte, der er war – er ist zugleich auch diese
bedauernswerte Lage, die wieder in die Totalität eingeordnet
und anhand ihrer Ursachen erkannt wird. Als Schriftsteller der
›Demoralisierung‹ setzt er die bürgerliche Dekadenz fort; aber
selbst darin wird er zum Zeugen und geht über sie hinaus, einer
anderen Zukunft entgegen. Der kommunistische Nizan »sah die
9 Welt und sich in ihr«10. Er war zugleich Subjekt und Objekt. Als
Objekt ging er mit seiner Zeit unter, als Subjekt war er mit der
Zukunft gerettet. Dieses Leben als doppeltes Spiel ist gleichwohl
nur ein einziges Leben. Der marxistische Mensch ist ein Produkt
der Geschichte, und gleichzeitig nimmt er auch von innen heraus
an der Geschichte teil, die eine andere Gesellschaft und einen an-
deren Menschen hervorbringt. Wie ist das möglich? Als endliches
Wesen müßte er wieder in die unendliche Produktivität einge-
gliedert werden. Aus diesem Grunde waren viele Marxisten ver-
sucht, auf den Spinozismus zurückzugreifen, und Nizan zählte
auch zu ihnen. Wie er hat auch Sartre Spinoza geliebt, sich aber
gegen das Transzendente und gegen jede Versöhnung ausgespro-
chen, und er erkannte bald schon bei Spinoza das Äquivalent ih-
rer eigenen Kunstgriffe, »die affirmative Fülle des endlichen Mo-
dus, der damit seine Schranken zerbricht und zur unendlichen
10 Substanz zurückkehrt«11. Alles in allem betrachtet, ist Spinoza
stets darum bemüht, die eigentliche Tugend und die Arbeit des
Negativen zu verschleiern, und der spinozistische Marxismus ist
lediglich eine betrügerische Art, uns schon in diesem Leben eine
Rückkehr zum Positiven zuzusichern. Das Bekenntnis zu einer
unendlichen Positivität ist ein Pseudonym der nackten Angst,
der Anmaßung, das Negative durchschritten und das andere
Ufer erreicht zu haben, den Tod ausgeschöpft, totalisiert, ver-
innerlicht zu haben. »Wir haben nicht einmal das, wir können
nicht einmal unmittelbar mit unserem Nichtsein in Verbindung

10 Ebd., S. 48.
11 Ebd., S. 55.
42 Vorwort

treten«12. Diese philosophische Formulierung hat Sartre viel spä- 11


ter gefunden. Aber er hat mit fünfundzwanzig schon gespürt, daß
List und Fälschung im Spiel sind, wenn der heilsuchende Mensch
sich selbst von der Rechnung nimmt. Nizan wollte nicht mehr an
sich denken und hat dies auch erreicht, er richtete seine Aufmerk-
samkeit ganz auf die Verkettung der Ursachen. Aber immer noch
ist er der Verneiner, der Unersetzliche, der sich in den Dingen
bricht.13 Die wahre Negativität kann nicht aus zwei miteinander
verknüpften Positivitäten bestehen: meinem Dasein als Produkt
des Kapitalismus und der über mich hinausgehenden Bejahung
einer anderen Zukunft. Denn es gibt eine Rivalität zwischen ih-
nen, und nur eine von beiden kann den Sieg davontragen. Es sei
denn, die Revolte, die zu einem Konstruktionsmittel und zu ei-
ner professionellen Angelegenheit geworden ist, wird nicht mehr
empfunden, nicht mehr gelebt. Der marxistische Mensch wird
durch die Doktrin und durch die Bewegung gerettet, er versteht
sich auf sein Metier – seinen einstigen Kriterien zufolge ist er
verloren. Es sei denn, und dies ist, was den Besten geschieht, er
vergißt nicht und belügt sich nicht selbst, seine Weisheit geht in
jedem Augenblick wieder aus seinem Leiden hervor und sein
Glauben liegt allein in seiner Ungläubigkeit, ohne daß er dies
jedoch zum Ausdruck bringen könnte, und es sind daher die An-
dern, die er belügen muß. Auf diesen Umstand ist der Eindruck
zurückzuführen, den so viele Gespräche mit den Kommunisten
bei uns hinterlassen: der Eindruck eines so objektiv wie möglich
gehaltenen, aber in größter Beklemmung vollzogenen Denkens
und eines unter der harten Schale liegenden weichen Kerns, ei-
ner verborgenen Humidität. Sartre hat immer gewußt, immer
gesagt, und gerade dies hat ihn davon abgebracht, Kommunist
zu sein, daß die kommunistische Negation, indem sie nur eine
umgekehrte Positivität ist, etwas anderes ist als sie behauptet,
oder daß sie zwei Dinge behauptet, daß sie eine Bauchredne-
rin ist.

12 Ebd., S. 41.
13 Ebd., S. 55.
Vorwort 43

Da er die Ausflüchte des ›negativen Menschen‹ so gut sieht,


könnte man darüber erstaunt sein, daß er über die streng kriti-
sche Phase vor 1930 manchmal mit einem Hauch von Nostalgie
spricht: Genau wie in ihrer ›konstruktiven‹ Phase betrieb die
Revolution damals schon ihre Falschmünzerei. Nur daß Sartre
sich später, nach einiger Überlegung, mit ihr als einem kleine-
ren Übel abgefunden hat. Nie hat er einfach nur die Positionen
wieder eingenommen, die Nizan vor dreißig Jahren besetzte. Er
legitimiert sie auf vielschichtige Weise, aus Gründen, die er für
sich behält, im Namen einer Erfahrung, die ihn zum Engagement
bewegt hat, ohne seine Vorstellung vom Heil zu verändern. Diese
Legitimierungen aber, die 1939 einsetzen, sollten wir noch ein-
mal nachzeichnen.
Im Jahr 1939 wird Nizan plötzlich entdecken, daß man nicht
ganz so schnell gerettet ist, daß das Bekenntnis zum Kommu-
nismus nicht von allen Zwangslagen und inneren Zerrissenhei-
ten befreit – während Sartre, der dies bereits wußte, mit jener
Lehrzeit des Positiven und der Geschichte begann, die ihn später
zu einer Art Kommunismus von außen führen sollte. Auf diese
Weise kreuzten sich ihre Wege. Nizan kehrte von der kommuni-
stischen Politik zurück zur Revolte, und der unpolitische Sartre
machte Bekanntschaft mit dem Sozialen. Man muß diesen schö-
nen Bericht lesen. Man muß ihn über Sartres Schulter hinweg
lesen, man muß seiner Feder im Moment des Schreibens folgen
und sich dabei ganz in seine Reflexionen hineinziehen lassen,
während man gleichzeitig unsere heutigen Reflexionen mit ein-
bezieht.
Nizan, so sagt er, hatte zugegeben, daß es den neuen Men-
schen, daß es die neue Gesellschaft noch nicht gebe, daß er selbst
sie vielleicht gar nicht sehen würde, daß man sich auf diese
unbekannte Zukunft einlassen müsse, ohne das Opfer abzuwä-
gen, ohne zu geizen und ohne ständig die Mittel und Wege der
Revolution anzufechten. Über die Moskauer Prozesse hatte er
kein Wort verloren. Aber es kam eine andere, für ihn noch deut-
lichere Prüfung auf ihn zu. Als für die Außenpolitik zuständi-
ger Mitarbeiter einer Parteizeitung hat er hundertmal erklärt,
44 Vorwort

das sowjetische Bündnis würde sowohl den Faschismus als auch


den Krieg von uns fernhalten. Er wiederholt dies auch noch im
Juli 1939 in Marseille, wo ihn Sartre zufällig trifft. – An dieser
Stelle sei eine kurze Anmerkung eingefügt: Nizan wußte, daß
wir vielleicht nicht beides zugleich, den Faschismus und den
Krieg, würden verhindern können, und er selbst hatte den Krieg
innerlich bereits akzeptiert, wenn er denn das einzige Mittel
wäre, den Faschismus aufzuhalten. Ich kann Belege für diese Be-
hauptung anführen. Etwa drei Wochen nach seiner Begegnung
mit Sartre traf ich Nizan meinerseits. Es war auf Korsika, in
Porto, bei Casanova, wenn ich nicht irre. Er war fröhlich und 12
strahlte, so wie Sartre ihn gesehen hatte. Aber – ob seine Freunde
ihn auf die Wende vorbereiteten oder ob sie ihrerseits von hö-
herer Stelle bearbeitet wurden, weiß ich nicht – er äußerte nicht
mehr, der Faschismus wäre bis zum Herbst in die Knie gezwun-
gen. Er sagte: Wir werden den Krieg gegen Deutschland erle-
ben, aber in einem Bündnis mit der UdSSR, und letztendlich
werden wir ihn gewinnen. Er sagte dies mit unerschütterli-
cher, heiterer Miene, ich höre noch seine Stimme, als wäre er
endlich von sich selbst befreit worden … Vierzehn Tage später
wurde der deutsch-russische Nichtangriffspakt geschlossen, und
Nizan trat aus der kommunistischen Partei aus. Nicht, wie er
erklärte, aufgrund des Paktes, der die westlichen Freunde Hit-
lers in ihrem Spiel besiegte. Aber die französische Partei hätte
ihre Würde bewahren und Entrüstung vortäuschen müssen, sie
hätte sich wenigstens zum Schein nicht solidarisch erklären
dürfen. Nizan wurde bewußt, daß Kommunist sein nicht be-
deutet, eine selbstgewählte Rolle zu spielen, sondern in einem
Drama gefangen zu sein, in dem man, ohne es zu wissen, eine
ganz andere Rolle bekommt. Es ist das Unternehmen eines gan-
zen Lebens, das sich im Glauben fortsetzt oder im Losreißen en-
det, das aber in jedem Fall über die vereinbarten Grenzen und die
kopflastigen Versprechen hinausgeht. Wenn es so ist, und wenn
es wahr ist, daß man im kommunistischen Leben wie im andern
nie wirklich etwas unternimmt, wenn all die Jahre der Arbeit
und der Aktion in einem Augenblick so ins Lächerliche gezo-
Vorwort 45

gen werden können, dann, so denkt er, kann und will ich nicht
mehr.
Was aber denkt Sartre zur selben Zeit? Er hätte gern geglaubt,
daß Nizan ihn getäuscht habe. Aber nein. Nizan erklärt seinen
Rücktritt. Er ist derjenige, der getäuscht wurde. Sie sind zwei
Kinder in der Welt der Politik. Einer ernsten Welt, in der man die
Risiken nicht abschätzen kann und in der Frieden vielleicht nur
denen gegeben ist, die den Krieg nicht fürchten. Man zeigt die
eigene Stärke in seinen Handlungen nur dann, wenn man ent-
schlossen ist, sie auch einzusetzen. Wenn man sie nur halbherzig
zeigt, kommt es zum Krieg und zur Niederlage. »Ich entdeckte …
den monumentalen Irrtum einer ganzen Generation …: Man
trieb uns durch die blutdürstige Vorkriegszeit auf die Massaker
zu, und wir glaubten, wir wandelten auf den Rasenteppichen
13 des Friedens.«14 So ist bei ihm und bei Nizan die Enttäuschung
unterschiedlicher Art, ebenso wie die daraus gezogene Lektion.
Nizan hatte die Stärke, den Krieg und den Tod aus einem sehr
deutlichen Grund akzeptiert; mit seinem Opfer wurde er zum
Spielball des Geschehens; er fand nur noch bei sich selbst Asyl.
Sartre, der an den Frieden geglaubt hatte, entdeckte ein namen-
loses Unglück, dem man sehr wohl Rechnung tragen mußte.
Eine Lektion, die er nicht vergessen wird. Sie steht am Beginn
seines politischen Pragmatismus. In einer verhexten Welt stellt
sich nicht die Frage, wer Recht hat oder wer den ehrlichsten Weg
einschlägt, sondern wer es mit dem Großen Betrüger aufnehmen
kann, welche Tat nachgiebig, aber auch hart genug wäre, um ihn
zur Vernunft zu bringen.
Man versteht nun die Einwände, die Sartre heute gegen den
Nizan von 1939 vorbringt, und auch, warum sie ihm gegenüber
wirkungslos sind. Nizan, sagt er, war wütend. Aber läßt sich diese
Wut nur auf eine Laune zurückführen? Sie ist vielmehr ein Mo-
dus der Erkenntnis, der nicht unpassend ist, wenn es um Grund-
sätzliches geht. Für denjenigen, der zum Kommunisten geworden
ist und Tag für Tag in der Partei aktiv war, haben die gesagten und

14 Ebd. S. 57.
46 Vorwort

getanen Dinge Gewicht, denn es ist auch er selbst, der sie gesagt
und getan hat. Um die Wende von 1939 so aufzufassen, wie es
von ihm verlangt wurde, hätte Nizan eine Marionette sein müs-
sen, er hätte in seiner Persönlichkeit gebrochen werden müssen,
denn er ist nicht Kommunist geworden, um den Skeptiker zu
spielen. Oder aber er hätte nur Sympathisant sein dürfen. Die
Partei steht jedoch nicht zur Debatte, fügt Sartre hinzu. Nicht
durch die Partei kommt er zu Tode. »Das Massaker wurde von
der Erde hervorgebracht und entstand überall.«15 Das glaube 14
ich. Aber es bedeutet dennoch, daß man die Partei durch die-
sen Bezug als ein Faktum der Geschichte der Erde rechtfertigt.
Für Nizan, der ihr angehört, geht es um alles oder nichts … »Ein
unüberlegtes Vorgehen«, erwidert Sartre erneut. »Ich sage mir,
daß die Résistance, hätte er sie erlebt, ihn wie so viele andere
in Reih und Glied zurückgebracht hätte.«16 In Reih und Glied 15
zurückgebracht, selbstverständlich. Aber auch in die Reihen der
Partei? Das ist etwas ganz anderes. Es ist beinahe schon das ge-
naue Gegenteil: eine autoritäre Funktion, ein Unterscheidungs-
merkmal. Selbst politisch ausgesöhnt hätte er diese Episode doch
nicht vergessen können. Der Kommunismus, von dem er sich
verabschiedet hatte, war die sittsame Doktrin, die das Vater-
land und die Familie mit in die Revolution aufnahm. Er hätte
einen abenteuerlichen Kommunismus wiedergefunden, der die
Rolle der Revolution auf dem Wege des Widerstandes zu spielen
suchte, später dann den Part des Defätismus übernahm und nach
dem Krieg, in einer Zeit des Abwartens, den Part der Rekonstruk-
tion und des Kompromisses. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte
er auf diesen Zug aufspringen können, er, der an die Wahrheit
des Marxismus geglaubt hatte? Er hätte es unter der Bedingung
gekonnt, nicht jedes Mal Stellung bezogen zu haben. Es ist eine
Sache, von außen oder nachträglich (was auf das Gleiche hinaus-
läuft) mit den Bruchstücken in der Hand die Umwege des Kom-
munismus zu rechtfertigen, es ist aber eine andere Sache, die List

15 Ebd., S. 60.
16 Ebd., S. 58.
Vorwort 47

zu organisieren und der Betrüger zu sein. Ich erinnere mich, im


Oktober 1939 aus Lothringen prophetische Briefe geschrieben
zu haben, die auf machiavellistische Weise die Rollen unter der
UdSSR und uns aufteilten. Aber ich hatte nicht Jahre damit ver-
bracht, das sowjetische Bündnis zu predigen. Wie Sartre war auch
ich parteilos: eine gute Position, um der strengsten aller Parteien
heiteren Blickes Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wir hatten
nicht Unrecht, aber Nizan war im Recht. Ein Kommunismus von
außen hat den Kommunisten keine Lektionen zu erteilen. Indem
er bald mehr, bald weniger zynisch ist als sie, dort revoltiert, wo
sie zustimmen, sich mit dem abfindet, was sie ablehnen, zeigt er
sein natürliches Unverständnis für das kommunistische Leben.
Nizan ›verlernte‹, aber auch dies bedeutet zu lernen. Unter diesen
Umständen wollen wir den Budapester Aufstand, sofern er auf
diese bei Nizan sichtbaren Seinsgründe und die Gründe seines
Daseins als Kommunist zurückzuführen ist, und unter der Vor-
aussetzung, daß seine Revolte von 1939 ein Rückzug war, ebenso
einen Rückzug nennen.
Da der eine von der Angst, der andere von der Freude aus-
ging, und der eine dem Glück, der andere der Tragödie entge-
genlief, da beide sich dem Kommunismus annäherten, der eine
von seiner klassischen Seite her, der andere von seiner Schatten-
seite, und da schließlich beide vom Geschehen zurückgeworfen
wurden, sind sich Sartre und Nizan vielleicht nie näher gewesen
als heute, wo ihre Erfahrungen in diesen tiefgründigen Seiten
wechselseitig erhellt werden. Um jetzt schon sagen zu können,
zu welchem Fazit all dies führen wird, müßte man den Faden
einiger glänzender Bemerkungen weiterspinnen, zu denen sich
Sartre in seiner Betrachtung hinreißen ließ. Was bei ihm nicht im
geringsten beeinträchtigt wird, ist der Sinn für das Neue und die
Freiheit: »Man findet die verlorene Freiheit nicht wieder, wenn
man sie nicht erfindet; sich umdrehen verboten, und sei es auch
16 nur, um unsere ›authentischen‹ Bedürfnisse abzuschätzen.«17 Wo
sollte man aber gegenwärtig die Embleme und die Waffen dieser

17 Ebd., S. 44 f.
48 Vorwort

wahren Negativität finden, jener Negativität, die sich nicht damit


begnügt, dieselben Dinge mit anderen Namen zu versehen? Kann
man von dem neuen Kurs oder den neuen Völkern das erwarten,
was das Rußland der Oktobergeneration der Welt nicht gegeben
hat? Können wir unseren Radikalismus verlagern? Es gibt aber in
der Geschichte keinen reinen und einfachen Übertrag. Werden
wir zu den jungen Leuten sagen: »Werdet Kubaner, werdet Rus-
sen oder Chinesen, wie ihr wollt, werdet Afrikaner? Sie werden
uns antworten, daß es ein wenig spät sei, die Herkunft zu wech-
seln.«18 Was in China vielleicht klar zutage tritt, ist hier zumin- 17
dest implizit und undeutlich vorhanden, die unterschiedlichen
geschichtlichen Entwicklungen greifen aber nicht ineinander.
Wer würde die These wagen, daß China, selbst wenn es eines Ta-
ges die Macht dazu hätte, beispielsweise Ungarn oder Frankreich
befreien würde? Und worin sollte im Frankreich des Jahres 1960
der Sinn der ungezähmten Freiheit bestehen? Einige junge Leute
bewahren ihn in ihrem Leben, einige dieser wie Diogenes Auf-
tretenden bewahren ihn in ihren Büchern. Wo ist dieser Sinn zu
finden, der offenbar nicht einmal im öffentlichen Leben, sondern
bei den Massen zu suchen ist? Die Freiheit und die Erfindung
sind minoritär, sind Opposition. Der Mensch bleibt verborgen,
sehr gut verborgen, und diesmal darf man sich nicht mißverste-
hen: Es bedeutet nicht, daß er unter einer Maske vorhanden wäre
und bereit, sich zu zeigen. Die Entfremdung besteht nicht einfach
nur darin, uns das zu nehmen, was uns durch ein natürliches
Recht zugeeignet war, und um ihr ein Ende zu setzen, genügt es
nicht, zu stehlen, was uns gestohlen wurde, uns zurückzugeben,
was uns zusteht. Es ist viel bedenklicher: Hinter den Masken gibt
es gar keine Gesichter, der historische Mensch ist nie Mensch ge-
wesen, und dennoch ist kein Mensch allein …
Man sieht also, in welcher Hinsicht, in welchem Sinne Sartre
heute den Anspruch des jungen Nizan aufgreifen und den jungen
Leuten in der Revolte offerieren kann: »Nizan sprach mit Bitter-
keit von den Alten, die mit unseren Frauen schliefen und uns zu

18 Ebd., S. 17.
Vorwort 49

18 kastrieren trachteten.«19 Nizan schrieb: »Solange die Menschen


19 nicht vollkommen und frei sind, werden sie nachts träumen.«20
Sartre entgegnete, »daß es wahre Liebe gebe und daß wir daran
gehindert würden, zu lieben; daß das Leben wahr sein könne,
daß es einen wahren Tod hervorbringen könne, daß man uns
20 aber umbringe, noch bevor wir geboren seien.«21 So sind auch
unsere Schwestern, die Liebe und das Leben, wieder da, sogar un-
ser Bruder, der leibliche Tod, der ebenso vielversprechend ist wie
eine Geburt. Das Sein ist greifbar nahe, man muß es nur aus der
Herrschaft der Greise und der Reichen befreien. Begehrt, seid un-
ersättlich, »richtet euren Zorn gegen die, die ihn hervorgerufen
haben, versucht nicht, eurem Unheil zu entwischen, findet seine
21 Ursachen und zerschlagt sie.«22 Ach! Die Geschichte Nizans, die
er im folgenden erzählt, zeigt nur zu gut, daß es nicht so einfach
ist, die wahren Ursachen ausfindig zu machen – und der Aus-
druck zerschlagt sie verweist gerade auf einen Krieg, in dem der
Gegner ungreifbar ist. Der vollkommene Mensch, derjenige, der
nicht träumt, der gut sterben kann, weil er gut lebt und der sein
Leben lieben kann, weil er dem Tod ins Auge sieht, dies ist, wie
der Mythos des Androgynen, das Sinnbild dessen, was uns fehlt.
Da diese Wahrheit jedoch schlichtweg zu hart wäre, übersetzte
Sartre sie in die Sprache der jungen Leute, in die Sprache des jun-
gen Nizan. »In einer Gesellschaft, die ihre Frauen für die Greise
22 und die Reichen reserviert …«23 Dies ist die Sprache der Söhne.
Es ist der ödipale Satz, den man in jeder Generation vernimmt.
Sartre bringt es sehr schön zum Ausdruck: Jedes Kind tötet seinen
Vater und setzt ihn zugleich wieder ein, wenn es selbst zum Vater
wird. Ergänzen wir: Der gute Vater ist ein Komplize der uralten
Kinderei; er bietet sich selbst für den Mord an, wo seine Kind-
heit wieder auflebt und ihn als Vater bestätigt. Lieber schuldig

19 Ebd., S. 29.
20 Ebd., S. 30.
21 Ebd., S. 45.
22 Ebd., S. 18.
23 Ebd., S. 29.
50 Vorwort

sein als zeugungsunfähig gewesen zu sein. Eine vornehme List,


um das Leben vor den Kindern zu verbergen. Diese schlechte
Welt ist die, »die wir für sie zurechtgezimmert haben«.24 Diese 23
beschädigten Existenzen sind es, »die man vorgefertigt hat …
die man heute den jungen Leuten zurechtzimmert«.25 Aber dies 24
entspricht nicht der Wahrheit. Es ist nicht wahr, daß wir zu kei-
nem Zeitpunkt Herr der Dinge waren oder daß wir, mit klaren
Problemen vor Augen, alles in Bedeutungslosigkeit vertan hät-
ten. Die jungen Leute werden gerade beim Lesen dieses Vorwor-
tes begreifen, daß ihre Vorgänger kein so leichtes Leben gehabt
haben. Sartre verdirbt sie. Oder er überläßt vielmehr alles den
Nachfolgenden, indem er dem zeitlos gültigen Modell folgt, das
streng mit seinen geistigen Ziehsöhnen verfährt, die nun schon
Vierzigjährige sind – und er wirft sie zurück in den Kreislauf
der ewig wiederkehrenden Rivalität. Nizan ist es, der Recht hatte,
das ist euer Mann, lest ihn … Ich möchte hinzufügen: Lest auch
Sartre. Zum Beispiel diesen kleinen Satz, der so schwer wiegt:
»Dieselben Gründe, die uns das Glück nehmen, machen uns für
immer unfähig, es zu genießen.«26 Meint er dieselben Ursachen, 25
und daß es eine andere Menschheit ist, die glücklich sein wird,
aber nicht diese? Dies hieße, wie Pascal alles auf ein Jenseits zu
setzen. Im übrigen spricht er von denselben Gründen. Der Fall ist
also kein Unfall, wir sind mitschuldig an den Ursachen. Ob man
dabei nur sich selbst die Schuld gibt oder ob man nur an äußere
Ursachen glaubt, es ist die gleiche Schwäche, die offenbar wird.
Auf die eine oder andere Weise bedeutet es immer, sich mit Se-
kundärem aufzuhalten. Das Schlechte wurde nicht von uns oder
von anderen geschaffen, es entsteht in diesem Gewebe, das wir
zwischen uns gesponnen haben und das uns den Atem nimmt.
Welche neuen Menschen werden so zäh und so geduldig sein,
diesen Stoff noch einmal ganz neu zu weben?

24 Ebd., S. 18.
25 Ebd., S. 61.
26 Ebd., S. 51.
Vorwort 51

Das Fazit dieser Überlegungen ist nicht die Revolte, sondern


die antike Tugend, die virtu ohne jede Resignation. Eine Enttäu-
schung für denjenigen, der an das Heil und an einen in allen
Ordnungen allein möglichen Heilsweg geglaubt hat. Unsere
Geschichte, in der die räumliche Dimension wieder eine Rolle
spielt, in der China, Afrika, Rußland und das Abendland nicht im
Gleichschritt voranschreiten, erscheint demjenigen wie ein Ver-
fall, der geglaubt hat, die Geschichte würde sich wieder, wie ein
Fächer, in sich zusammenfalten. Wenn jedoch diese Philosophie
der Zeit noch eine Träumerei der alten Misere wäre, warum soll-
ten wir dann in ihrem Namen so hochmütig über die Gegenwart
urteilen? Es gibt kein universelles Zeitmaß, sondern nur lokale
Geschichten, die unter unseren Augen Gestalt annehmen und be-
ginnen, sich selbst zu regeln, die sich auf gut Glück miteinander
verbinden und ihr Leben einfordern, und die die Mächtigen in
jener Weisheit bestätigen, die ihnen die unermeßlichen Risiken
und das Bewußtsein ihrer eigenen Unordnung verschafft haben.
Die Welt ist sich selbst in all ihren Teilen deutlicher gegenwärtig,
als sie es je war. Im weltweiten Kapitalismus, im weltweiten Kom-
munismus und zwischen beiden zirkuliert heute mehr Wahrheit
als vor zwanzig Jahren. Die Geschichte ist niemals geständig, sie
gesteht nicht einmal ihre verlorenen Illusionen ein, aber sie er-
neuert sie auch nicht.
(Februar und September 1960)
DA S I N DI R E K T E S PR E C H E N U N D DI E
1 S T I M M E N DE S S C H W E IG E NS

Für Jean-Paul Sartre

2 Bei Saussure haben wir gelernt, daß die einzelnen Zeichen für
sich genommen nichts bedeuten, daß jedes von ihnen weniger
einen Sinn ausdrückt, als daß es einen Sinnabstand zwischen
sich selbst und den anderen Zeichen angibt. Da man von diesen
dasselbe sagen kann, besteht die Sprache also aus Unterschieden
ohne Ausdrücke, oder genauer, die Ausdrücke der Sprache wer-
den erst durch die zwischen ihnen auftauchenden Unterschiede
hervorgebracht. Das kann man sich schwer vorstellen, denn der
gesunde Menschenverstand antwortet: Wenn der Ausdruck A und
der Ausdruck B ganz und gar keinen Sinn haben, so ist nicht er-
sichtlich, wie es zwischen ihnen einen Sinngegensatz geben kann,
und wenn sich die Kommunikation wirklich zwischen dem Gan-
zen der gesprochenen Sprache und dem Ganzen der gehörten
Sprache herstellte, müßte man die Sprache schon kennen, wenn
man sie erlernen will … Dieser Einwand ist jedoch von dersel-
ben Art wie die Paradoxa Zenons: Wie diese durch die Ausübung
einer Bewegung widerlegt werden, so wird jener durch den Ge-
brauch der Sprache widerlegt. Und jene Art von Zirkel, daß die
Sprache bei denen, die sie erlernen, sich selbst vorausgeht, sich
selbst lehrt und uns ihre eigene Aufschlüsselung vorschlägt, ist
vielleicht das Wunder, das das Sprechen bestimmt.
Die Sprache wird erlernt, und insofern muß man sicher von
den Teilen zum Ganzen gehen. Das Ganze, das bei Saussure pri-
mär ist, kann also nicht das ausdrückliche und artikulierte Ganze
der vollständigen Sprache sein, wie es die Grammatiken und die
Wörterbücher verzeichnen. Er denkt ebensowenig an die logi-
sche Ganzheit eines philosophischen Systems, dessen Elemente
(im Prinzip) alle aus einer einzigen Idee abgeleitet werden kön-
nen. Da er ja gerade den Zeichen jede andere Bedeutung als eine
54 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

›diakritische‹ abspricht, kann er die Sprache nicht auf ein Sy-


stem positiver Ideen gründen. Die Einheit, von der er spricht, ist
die Einheit eines Miteinander, wie die der Elemente eines Ge-
wölbes, von denen eines das andere abstützt. In einem solchen
Ensemble gelten die erlernten Teile der Sprache auf Anhieb als
Ganzes, und Fortschritte werden weniger durch Hinzufügen und
Beiordnen gemacht als durch die innere Artikulation einer in
ihrer Art schon vollständigen Funktion. Man weiß seit langem,
daß beim Kind das Wort zunächst als Satz fungiert und vielleicht
sogar bestimmte Phoneme als Wörter. Aber die heutige Lingui-
stik faßt die Einheit der Sprache noch genauer, indem sie beim
Entstehen der Wörter – vielleicht sogar der Formen und des Stils
– ›oppositive‹ und ›relative‹ Prinzipien herausstellt, auf welche
die Saussuresche Definition des Zeichens sich noch strenger
anwenden läßt als auf die Wörter, da es sich ja hier um Kom-
ponenten der Rede handelt, die für sich keinen bezeichenbaren
Sinn haben und deren einzige Funktion es ist, das Unterscheiden
der eigentlichen Zeichen möglich zu machen. Jene ersten pho-
nematischen Entgegensetzungen können zwar lückenhaft sein,
sie werden sich in der Folge gewiß mit anderen Dimensionen
anreichern können, und die sprachliche Kette wird andere Mit- 3
tel finden, sich aus sich selbst heraus zu differenzieren; wichtig
ist, daß die Phoneme von vornherein Variationen eines einzigen
Sprechapparats sind und daß das Kind mit ihnen das Prinzip
einer gegenseitigen Differenzierung der Zeichen ›aufgeschnappt‹
und damit auf einen Schlag den Sinn des Zeichens erworben
zu haben scheint. Denn die phonematischen Gegensätze – die
mit den ersten Kommunikationsversuchen auftreten – erschei-
nen und entwickeln sich ohne irgendeine Beziehung zum
kindlichen Geplapper, das durch sie oft zurückgedrängt wird,
fortan jedenfalls nur noch eine Randexistenz führt und dessen
Bestandteile nicht in das neue System des wirklichen Sprechens
eingehen, als wenn es nicht dasselbe wäre, einen Laut als Element
des Geplappers zu besitzen, das sich nur an sich selbst richtet,
oder als Moment eines Kommunikationsversuches. Man kann
jetzt also sagen, daß das Kind spricht und daß es in der Folge
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 55

nur das Prinzip des Sprechens unterschiedlich anwenden lernt.


Der Gedanke von Saussure wird deutlicher: Mit den ersten pho-
nematischen Entgegensetzungen wird das Kind vertraut mit der
lateralen Verbindung zwischen Zeichen und Zeichen als Grund-
lage einer finalen Beziehung zwischen Zeichen und Sinn – in
der speziellen Form, die diese Verbindung in der entsprechen-
den Sprache erhalten hat. Wenn die Phonologen ihre Analyse
schließlich über die Wörter hinaus ausdehnen können bis zu
den Formen, bis zur Syntax und selbst bis zu den stilistischen
Unterschieden, so ist es die gesamte Sprache als Ausdrucksstil, als
eine einzigartige Weise, mit dem Wort zu spielen, die vom Kind
mit den ersten phonematischen Entgegensetzungen antizipiert
wird. Das Ganze der um es herum gesprochenen Sprache erfasse
es wie ein Wirbel, reize es durch seine inneren Artikulationen
und führe es fast an den Moment heran, da all dieser Lärm et-
was bedeutet. Die ständige Selbstüberprüfung der Wortreihe,
das eines Tages ununterdrückbare Auftauchen einer bestimmten
phonematischen Skala, nach der das Reden offensichtlich zusam-
mengesetzt ist, treibe das Kind schließlich auf die Seite der Spre-
chenden. Nur die Sprache als Ganzes kann verständlich machen,
wie die Sprache es zu sich hinüberzieht und wie es schließlich
jenen Bereich betritt, dessen Pforten sich doch scheinbar nur von
innen her öffnen. Eben weil das Zeichen von Anfang an diakri-
tisch ist, weil es sich mit sich selbst zusammensetzt und organi-
siert, hat es ein Innen und verlangt schließlich nach einem Sinn.
Dieser Sinn, der am Rand der Zeichen entsteht, und dieses Auf-
treten eines Ganzen in den Teilen finden sich in der ganzen Kul-
turgeschichte wieder. Es gibt jenen Augenblick, da Brunelleschi
die Kuppel des Florenzer Domes in einem bestimmten Verhältnis
zur Gestalt der Landschaft baut. Kann man sagen, daß er mit dem
geschlossenen Raum des Mittelalters gebrochen und den univer-
4 sellen Raum der Renaissance gefunden hat?1 Aber es ist noch ein
weiter Weg von einem künstlerischen Vorgehen bis zur bewuß-
ten Verwendung des Raumes als Medium des Weltganzen. Kann

1 Pierre Francastel, Peinture et sociéte, S. 17 ff.


56 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

man also sagen, daß dieser Raum noch nicht da ist? Brunelleschi
hatte sich einen merkwürdigen Apparat konstruiert,2 in dem zwei 5
Ansichten des Baptisteriums und des Rathauses, mit den Stra-
ßen und Plätzen, die sie einrahmen, in einem Spiegel reflektiert
wurden, während eine Platte aus poliertem Metall das Himmels-
licht darauf projizierte. Bei ihm gibt es also ein Forschen, ein
Befragen des Raumes. Ebenso schwer läßt sich sagen, wann die
reelle Zahl in der Geschichte des Mathematischen beginnt: An
sich (das heißt, wie Hegel sagt, für uns, die wir sie hinein proji-
zieren) ist sie schon in der Bruchzahl, die vor der algebraischen
Zahl die ganze Zahl in eine fortlaufende Reihe einfügt – aber
sie ist es gleichsam, ohne es zu wissen und nicht für sich selbst.
Ebenso muß man darauf verzichten, den Zeitpunkt zu fixieren,
wo das Lateinische zum Französischen wird, weil die grammati-
kalischen Formen wirksam werden und sich abzeichnen, bevor
sie systematisch angewandt werden, weil die Sprache manchmal
lange mit den Veränderungen, die endlich auftreten, schwanger
geht und weil die Aufzählung ihrer Ausdrucksmittel keinen Sinn
hat, da diejenigen, die außer Gebrauch kommen, weiterhin ein
abgeschwächtes Leben in ihr führen und die Stelle jener, welche
sie ablösen, manchmal schon angegeben ist, sei es auch nur als
Lücke, Bedarf oder Tendenz. Selbst wenn man genau datieren
kann, wann ein Prinzip für sich auftaucht, so war es doch schon
früher in der Kultur vorhanden, als eine Art Besessenheit oder
als Antizipation, und der Bewußtseinsakt, der es als ausdrückli-
che Bedeutung setzt, bringt nur seine lange Inkubation in einem
wirksamen Sinn zum Abschluß. Es bleibt jedoch immer ein Rest:
Der Raum der Renaissance wird seinerseits später als ein ganz
spezieller Fall des möglichen Bildraumes neu gedacht. Die Kultur
vermittelt uns also niemals absolut transparente Bedeutungen,
die Genesis des Sinns ist niemals abgeschlossen. Was wir zu Recht
unsere Wahrheit nennen, betrachten wir immer nur in einem
Kontext von Symbolen, die unser Wissen datieren. Wir haben
immer nur mit ganzen Zeichengefügen zu tun, deren Sinn nicht

2 Ebd., S. 17 ff.
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 57

für sich gesetzt werden kann, da sie nichts anderes sind als die Art
und Weise, in der sie sich zueinander verhalten, sich voneinan-
der unterscheiden – ohne daß wir auch nur den kläglichen Trost
eines vagen Relativismus hätten, weil jeder dieser Schritte eine
Wahrheit schlechthin ist und in die umfassendere Wahrheit der
Zukunft gerettet werden wird.Was die Sprache angeht, wenn sie
die laterale Beziehung von Zeichen zu Zeichen ist, die jedes von
ihnen bedeutend macht, so taucht der Sinn erst im Schnittpunkt
und gleichsam im Zwischenraum der Wörter auf. Das verbietet
uns, die Unterschiedenheit und Einheit der Sprache und ihres
Sinns so aufzufassen, wie man es gewöhnlich tut. Man glaubt,
daß der Sinn den Zeichen prinzipiell transzendent sei, wie es das
Denken für akustische oder visuelle Anzeichen wäre. Und man
meint, daß er den Zeichen insofern immanent sei, als jedes von
ihnen, da es ein für allemal seinen Sinn hat, zwischen sich und
uns keinen undurchsichtigen Bezug bringen, ja uns nicht einmal
zu denken geben kann: Die Zeichen hätten nur die Rolle einer
Ermahnung, sie wiesen den Hörer darauf hin, daß er diesen oder
jenen seiner Gedanken zu erwägen habe. So wohnt jedoch der
Sinn nicht dem Redefluß inne und so unterscheidet er sich nicht
von diesem. Wenn das Zeichen nur insofern etwas bedeutet, als
es sich von den anderen Zeichen abhebt, ist sein Sinn ganz in
die Sprache eingelassen, ein sprachlicher Ausdruck wirkt immer
vor dem Hintergrund anderer sprachlicher Ausdrücke und ist
immer nur eine Falte im unermeßlichen Gewebe des Sprechens.
Um ihn zu verstehen, brauchen wir kein inneres Lexikon zu be-
fragen, das uns im Hinblick auf die Wörter oder Formen reine
Gedanken angäbe, mit denen sie sich deckten: Es genügt, daß
wir seinem Leben, seiner Differenzierungs- und Artikulationsbe-
wegung, seiner sprechenden Gestik zustimmen. Es gibt folglich
eine Undurchdringlichkeit der Sprache: Nirgends nimmt sie sich
ganz zurück, um dem reinen Sinn Platz zu machen, immer wird
sie nur wieder durch Sprache selbst umgrenzt, und der Sinn er-
scheint in ihr nur als ein in den Wörtern Eingefaßtes. Wie die
Scharade läßt sie sich nur durch die Wechselwirkung der Zeichen
verstehen, von denen jedes für sich genommen mehrdeutig oder
58 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

banal ist und deren Zusammenfügung erst einen Sinn ergibt. Für
den, der spricht, nicht weniger als für den, der zuhört, ist die
Rede etwas ganz anderes als eine Technik des Verschlüsselns oder
Dechiffrierens für schon feststehende Bedeutungen: Zunächst
muß sie diese als erkennbare Gebilde existieren lassen, indem
sie sie an der Kreuzung sprachlicher Gesten ansiedelt, als das,
was diese übereinstimmend zeigen. Unsere Analysen des Den-
kens tun so, als ob dieses, bevor es seine Wörter gefunden hat,
schon eine Art idealer Text wäre, den unsere Sätze zu übersetzen
suchten. Aber der Autor selbst hat keinen Text, den er mit seiner
Schrift konfrontieren könnte, keine Sprache vor der Sprache.
Wenn er mit seiner Ausdrucksweise zufrieden ist, dann wegen
eines Gleichgewichts, dessen Bedingungen sie selbst definiert,
aufgrund einer Vollkommenheit ohne Vorbild. Weit mehr als ein
Mittel ist die Sprache so etwas wie ein Sein, und eben deshalb
kann sie uns so gut jemanden gegenwärtig machen: Die Sprech-
weise eines Freundes am Telefon gibt ihn uns selbst, als wenn
er ganz da wäre in jener Art, wie er uns anredet und sich verab-
schiedet, wie er seine Sätze beginnt und beendet, wie er durch
die ungesagten Dinge voranschreitet. Der Sinn ist die ganze Be-
wegung des Sprechens, und deshalb treibt sich unser Denken in
der Sprache herum. So durchzieht es diese, wie die Geste den
Raum übergreift, den sie durchläuft. In eben dem Augenblick,
da die Sprache unseren Geist zur Gänze erfüllt, ohne den ge-
ringsten Platz für einen Gedanken zu lassen, der nicht von ihrer
Vibration erfaßt wäre, und gerade in dem Maße, wie wir uns
ihr ganz überlassen, führt sie über die ›Zeichen‹ hinaus zu deren
Sinn. Und von diesem Sinn trennt uns nichts mehr: Die Sprache
setzt ihre Liste der Korrespondenz nicht voraus, sie enthüllt selbst
ihre Geheimnisse, sie lehrt sie jedem Kind, das zur Welt kommt,
sie ist ganz und gar Einweisung. Ihre Undurchdringlichkeit, ihr
unaufhörlicher Selbstbezug, ihre Rückwendungen und Rückzüge
auf sich als Sprache sind gerade das, was ihr geistiges Vermögen
ausmacht: Denn jetzt wird sie selbst so etwas wie ein Universum,
fähig, die Dinge selbst in sich zu beherbergen – nachdem sie sie
in ihren Sinn verwandelt hat.
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 59

Wenn wir nun aber die Idee von einem ursprünglichen Text,
dessen Übersetzung oder chiffrierte Version unsere Sprache wäre,
aus unserem Geist verbannen, dann werden wir erkennen, daß
die Vorstellung von einem vollständigen Ausdruck sinnlos ist,
daß jede Rede indirekt oder anspielend, und wenn man so will,
Schweigen ist. Die Beziehung des Sinnes zum Sprechen kann
nicht mehr jene punktuelle Korrespondenz sein, die wir im-
mer vor Augen haben. Saussure bemerkt noch weiter, daß der
Engländer, wenn er sagt the man I love, sich ebenso vollständig
6 ausdrückt wie der Franzose, wenn er sagt l’homme que j’aime.
Das Relativpronomen kommt, würde man sagen, im Englischen
nicht zum Ausdruck. In Wahrheit aber ist es, anstatt durch ein
Wort ausgedrückt zu werden, durch eine Leerstelle zwischen den
Wörtern in die Sprache eingegangen. Nicht einmal, daß es still-
schweigend mitverstanden wird, sollten wir sagen. Der Begriff
des Mitverstandenen bringt in naiver Weise unsere Überzeugung
zum Ausdruck, daß eine Sprache (im allgemeinen unsere Mutter-
sprache) in ihren Formen die Dinge selbst einzufangen vermag
und daß jede andere Sprache, wenn sie diese auch in sich fas-
sen will, sich zumindest stillschweigend ähnlicher Instrumente
bedienen muß. Wenn für uns das Französische zu den Dingen
selbst vorstößt, dann sicher nicht, weil es das Gefüge des Seins
kopiert hätte: Es hat zwar ein eigenes Wort, um die Relation aus-
zudrücken, aber es kennzeichnet die Objektfunktion nicht durch
eine besondere Endung; man könnte sagen, daß es die Deklina-
tion mitversteht, die das Deutsche zum Ausdruck bringt (ebenso
wie den Aspekt, den das Russische, und den Optativ, den das
Griechische ausdrücklich bezeichnet). Wenn das Französische
uns als Abdruck der Dinge erscheint, so nicht deshalb, weil es so
ist, sondern weil es uns durch die inneren Beziehungen zwischen
den Zeichen diese Illusion vermittelt. Aber mit dem Satz the man
I love ist es das gleiche. Das Fehlen eines Zeichens kann selbst ein
Zeichen sein, und das Ausdrücken besteht nicht darin, daß jedem
Sinnelement ein Element der Sprache angepaßt wird, sondern in
einem Einwirken der Sprache auf die Sprache, das sich plötzlich
in Richtung auf ihren Sinn hin verlagert. Sprechen heißt nicht,
60 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

jedem Gedanken eín Wort unterschieben: Wenn wir es täten,


würde niemals etwas gesagt werden, und wir hätten nicht das
Gefühl, in der Sprache zu leben, wir würden im Schweigen ver-
harren, weil das Zeichen sofort vor einem Sinn verlöschen würde,
der der seine wäre, und weil das Denken nur mit Gedanken be-
faßt wäre – nämlich mit demjenigen, den es ausdrücken will, und
mit demjenigen, den eine ganz eindeutige Sprache bilden würde.
Ganz im Gegenteil dazu haben wir manchmal das Gefühl, daß
ein Gedanke zur Sprache kommt – nicht indem er durch Sprach-
erstellt von ciando
zeichen ersetzt wird, sondern indem er sich den Wörtern ein-
verleibt und dadurch verfügbar wird –, und schließlich gibt es
deshalb eine Macht der Wörter, weil sie, indem sie aufeinander
einwirken, von weitem durch den Gedanken beeinflußt werden
wie die Gezeiten durch den Mond, und in diesem Treiben ihren
Sinn viel nachdrücklicher zutage treten lassen, als wenn ein je-
des von ihnen nur eine matte Bedeutung mit sich führte, deren
gleichgültiger und vorausbestimmter Index es wäre. Die Sprache
drückt dies unumstößlich aus, wenn sie darauf verzichtet, die Sa-
che selbst auszusprechen. Wie die Algebra mit Größen befaßt ist,
die man als solche nicht kennt, macht das Sprechen Bedeutungen
unterscheidbar, von denen jede für sich nicht bekannt ist, und in-
dem sie sie als bekannte behandelt, uns von ihnen und ihren Ver-
hältnissen ein abstraktes Porträt gibt, zwingt sie uns schließlich
blitzartig die genaueste Identifizierung auf. Die Sprache bedeu-
tet, wenn sie, anstatt das Denken zu kopieren, sich durch dieses
auflösen und wieder herstellen läßt. Sie trägt ihren Sinn, so wie
die Spur eines Schrittes die Bewegung und die Anstrengung ei-
nes Körpers bedeutet. Wir müssen unterscheiden zwischen dem
empirischen Gebrauch der schon geformten Sprache und dem
schöpferischen Gebrauch, von dem jener ja nur ein Resultat sein
kann. Ein Sprechen im Sinne der empirischen Sprache – näm-
lich das passende Aufrufen eines bereits festgelegten Zeichens
– ist kein Sprechen im Sinn der authentischen Sprache. Es ist,
wie Mallarmé gesagt hat, die abgegriffene Münze, die man mir
schweigend in die Hand drückt. Das wahre Sprechen dagegen,
das, was bedeutet, was schließlich das »allen Sträußen Fehlende« 7
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 61

präsent macht und den in den Dingen gefangenen Sinn befreit,


ist hinsichtlich des empirischen Gebrauchs nur Schweigen, da es
ja nicht bis zum gemeinsamen Namen vordringt. Die Sprache ist
von sich aus versteckt und autonom, und wenn sie einen Gedan-
ken oder ein Ding direkt bedeutet, so ist das nur ein zweitran-
giges Vermögen, das ihrem inneren Leben entstammt. Wie der
Weber also arbeitet der Schriftsteller von der Kehrseite her: Er
hat nur mit der Sprache zu tun, und eben dadurch findet er sich
plötzlich von Sinn umgeben.
Wenn das wahr ist, so ist seine Arbeit nicht sehr verschieden
von der des Malers. Man sagt gewöhnlich, daß der Maler uns
durch die schweigende Welt der Farben und Linien hindurch
erreicht, er wende sich an ein unformuliertes Entzifferungsver-
mögen in uns, das wir erst dann unter unsere Kontrolle bringen,
wenn wir es vorher blind ausgeübt haben, wenn uns das Werk
gefallen hat. Der Schriftsteller dagegen siedelt sich in schon aus-
gebildeten Zeichen an, in einer schon sprechenden Welt, und ver-
langt von uns nur die Fähigkeit, unsere Bedeutungen nach der
Anweisung der Zeichen, die er uns vorlegt, neu zu ordnen. Wenn
nun aber die Sprache ebensoviel durch das ausdrückt, was zwi-
schen den Wörtern ist, als durch die Wörter selbst? Durch das,
was sie nicht ›sagt‹, wie durch das, was sie ›sagt‹? Wie, wenn es, in
der empirischen Sprache verborgen, eine Sprache in der zweiten
Potenz gäbe, wo die Zeichen wiederum das verschwommene Le-
ben der Farben führen und wo die Bedeutungen sich nicht ganz
und gar von den Beziehungen der Zeichen befreien?
8 Der Akt des Malens hat zwei Seiten: Da ist der Farbfleck oder
-strich, den man an einem bestimmten Punkt der Leinwand an-
bringt, und da ist die Wirkung im Ganzen, zwischen beiden gibt
es kein allgemeines Maß, da die Punkte ja fast nichts sind und
doch ausreichen, ein Porträt oder eine Landschaft zu verändern.
Wer dem Maler aus zu großer Nähe zusehen würde, wie er mit
der Nase am Pinsel klebt, sähe nur die Kehrseite seiner Arbeit.
Die Kehrseite ist eine schwache Bewegung des Pinsels oder der
Feder von Poussin, die Vorderseite dagegen ist der Durchbruch
der Sonne, den er auslöst. Man hat einmal Zeitlupenaufnahmen
62 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

von Matisse bei der Arbeit gemacht. Der Eindruck war unge-
heuer, so daß sogar Matisse beeindruckt gewesen sein soll. Den-
selben Pinsel, der, mit bloßem Auge betrachtet, von einem Zug
zum anderen sprang, sah man jetzt in einer langgezogenen und
feierlichen Zeit meditieren, beim unmittelbaren Bevorstehen ei-
nes Weltbeginns zehn mögliche Bewegungen versuchen, vor der
Leinwand tanzen, sie mehrmals streifen und schließlich wie der
Blitz zum einzig notwendigen Strich niedergehen. Natürlich hat
diese Analyse etwas Künstliches, und Matisse täuschte sich, wenn
er auf Grund des Films glaubte, daß er tatsächlich an jenem Tage
zwischen allen möglichen Pinselstrichen gewählt und wie Leib-
nizens Gott ein ungeheures Problem des Minimum und Maxi-
mum gelöst habe; er war kein Demiurg, er war Mensch. Er hat
nicht alle möglichen Gesten unter dem Blick des Geistes gehabt
und brauchte sie nicht alle außer einer zu eliminieren, indem
er seine Wahl begründete. Erst die Zeitlupenaufnahme zählt die
Möglichkeiten auf. Matisse hat, einer menschlichen Zeit und ei-
nem menschlichen Sehen verhaftet, das noch offene Ganze sei-
nes begonnenen Bildes betrachtet und den Pinsel dann zu dem
Strich angesetzt, der nötig war, damit das Gemälde schließlich
das wurde, was es zu werden im Begriffe war. Mit einer einfachen
Geste hat er das Problem gelöst, das nachträglich eine unendliche
Anzahl von Gegebenheiten zu implizieren scheint, wie nach Berg-
son die Hand im Eisenstaub auf einen Schlag die komplizierte 9
Anordnung hervorbringt, die an ihrer Stelle zurückbleibt. Alles
hat sich in der menschlichen Welt der Wahrnehmung und der
Geste abgespielt, und die Kamera liefert uns von diesem Ereignis
nur deshalb eine faszinierende Version, weil sie uns vortäuscht,
daß die Hand des Malers in der physischen Welt operiere, wo
unendlich viele Optionen möglich sind. Es ist jedoch wahr, daß
die Hand von Matisse gezögert hat, es stimmt also, daß ein Wäh-
len stattgefunden hat und daß der gewählte Strich zwanzig im
Bilde liegenden Bedingungen genügen mußte, unformuliert und
unformulierbar für jeden anderen als Matisse, da sie ja nur durch
die Intention bestimmt und auferlegt wurden, eben jenes Bild, das
noch nicht existierte, zu malen.
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 63

Nicht anders steht es mit dem wirklich ausdrückenden Spre-


chen und also mit jeder Sprache in ihrer Phase des Entstehens.
Das Sprechen wählt nicht nur ein Zeichen für eine schon defi-
nierte Bedeutung, wie man einen Hammer holt, um einen Na-
gel einzuschlagen, oder eine Zange, um ihn herauszuziehen. Es
tastet sozusagen um eine Bedeutungsintention herum, die sich
nicht von einem Text leiten läßt, sondern eben gerade erst im
Begriff ist, ihn zu schreiben. Wenn wir ihm gerecht werden wol-
len, müssen wir uns einige der Ausdrücke vergegenwärtigen, die
an seine Stelle hätten treten können und verworfen worden sind,
müssen wir empfinden, wie sie den Sprachfluß anders ergriffen
und ins Wanken gebracht hätten, in welchem Maße eben jener
Ausdruck wirklich der einzig mögliche war, wenn diese Bedeu-
tung zutage treten sollte … Kurz und gut, wir müssen den Aus-
druck betrachten, bevor er ausgesprochen ist, jenen Hintergrund
des Schweigens, der nicht aufhört, ihn zu umgeben, und ohne
welchen er nichts aussagen würde, oder auch, wir müssen die
Fäden des Schweigens bloßlegen, von denen er durchzogen ist.
Für die schon erworbenen Ausdrücke gibt es einen direkten Sinn,
der Punkt für Punkt etablierten Wendungen, Formen, Wörtern
entspricht. Hier gibt es scheinbar keine Lücke, kein sprechendes
Schweigen. Aber der Sinn der gerade entstehenden Ausdrücke
kann nicht von dieser Art sein: Es ist ein lateraler oder indirekter
Sinn, der zwischen den Wörtern laut wird – eine andere Weise,
den Apparat des Sprechens oder des Erzählens aufzurütteln, um
ihm einen neuen Ton abzugewinnen. Wenn wir das Sprechen in
seinem ursprünglichen Vollzuge verstehen wollen, müssen wir
so tun, als hätten wir niemals gesprochen, müssen wir es einer
Reduktion unterwerfen, ohne die es uns entgehen würde, indem
es uns wieder zu dem zurückführte, was es uns bedeutet, müssen
wir es betrachten wie die Tauben die Sprechenden, müssen wir
die Kunst des Sprechens mit den anderen Ausdruckskünsten ver-
gleichen und versuchen, es wie eine von jenen stummen Künsten
anzusehen. Es kann sein, daß der Sinn des Sprechens ein ent-
scheidendes Privileg hat, aber gerade, indem wir die Parallele su-
chen, werden wir erkennen, was sie vielleicht am Ende unmöglich
64 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

macht. Beginnen wir damit, zu verstehen, daß es ein stillschwei-


gendes Sprechen gibt und daß die Malerei auf ihre Weise spricht.

*
Malraux bemerkt, daß Malen und Sprechen nur dann vergleich- 10
bar sind, wenn man sie von dem, was sie ›darstellen‹, losgelöst
hat, um sie unter der Kategorie des schöpferischen Ausdruckes
wieder zu versammeln. Dann erkennen sie sich gegenseitig als
zwei Gestaltungsweisen desselben Versuchs. Jahrhundertelang
haben Maler und Schriftsteller gearbeitet, ohne von ihrer Ver-
wandtschaft etwas zu ahnen. Es ist jedoch eine Tatsache, daß
sie dasselbe Abenteuer erlebt haben. Kunst und Dichtung sind
zunächst der Polis, den Göttern, dem Sakralen gewidmet, sie
sehen ihr eigenes Wunder nur im Spiegel einer äußeren Macht
entstehen. Die eine wie die andere erleben später ein klassisches
Zeitalter, das die Säkularisierung der Epoche des Sakralen ist: Die
Kunst ist nun Darstellung einer Natur, die sie höchstens verschö-
nern kann, jedoch nach Regeln, die jene sie selbst lehrt; wie La
Bruyère es wollte, hat das Wort keine andere Rolle, als den richti- 11
gen Ausdruck wiederzufinden, der durch eine Sprache der Dinge
selbst jedem Gedanken im voraus zukommt, und jener doppelte
Rekurs auf eine Kunst vor der Kunst, wie auf ein Wort vor dem
Wort schreibt dem Kunstwerk einen bestimmten Grad an Voll-
kommenheit, Vollendung oder Fülle vor, der es der Zustimmung
aller aufdrängt wie die Dinge, die in den Bereich unserer Sinne
fallen. Malraux hat jenes ›objektivistische‹ Vorurteil, das die
moderne Kunst und Literatur in Frage stellen, genau analysiert
– aber vielleicht hat er nicht ermessen, wie tief es verwurzelt ist,
vielleicht hat er ihm zu schnell den Bereich der sichtbaren Welt
überlassen, was ihn möglicherweise dazu gebracht hat, die mo-
derne Malerei ihrerseits als eine Rückkehr zum Subjekt – jenem
›unvergleichlichen Ungeheuer‹ – zu definieren und sie in ein ge- 12
heimes Leben fern der Welt zu vergraben … Wir müssen seine
Analyse wieder aufnehmen.
Das Privileg der Ölmalerei, die mehr als jede andere Malerei
jedem Element des Gegenstandes oder des menschlichen Gesichts
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 65

eine besondere malerische Darstellung zukommen läßt, das Su-


chen nach Zeichen, die die Vorstellung von räumlicher Tiefe oder
Volumen erzeugen können, das Suchen nach der Bewegung, den
Formen, den taktilen Werten und den verschiedenen Materialien
(man denke an die geduldigen Studien, die die Darstellung des
Samtes perfektioniert haben), all diese Verfahrensweisen, diese
mit jeder Generation vermehrten Geheimnisse, sind die Elemente
einer allgemeinen Technik der Darstellung, die im Grenzfalle mit
der Sache selbst, dem Menschen selbst übereinkommen würde,
denen schwerlich Zufall oder Verschwommenheit anhaften kann,
und deren eigenes Funktionieren die Malerei wiedergeben muß.
Auf diesem Wege werden Schritte gemacht, die keine Umkehr er-
möglichen. Der Werdegang eines Malers, die Werke einer Schule,
ja die Entwicklung der Malerei selbst bewegen sich auf Meister-
werke hin, bei denen das lang Gesuchte endlich gefunden ist, und
die, zumindest vorläufig, die früheren Versuche überflüssig ma-
chen und einen Fortschritt der Malerei markieren. Die Malerei
will ebenso überzeugend sein wie die Dinge und glaubt, uns nur
ebenso erreichen zu können wie diese: Nämlich indem sie unse-
ren Sinnen ein unwiderlegbares Schauspiel aufzwingt. Im Prinzip
verläßt sie sich auf den Wahrnehmungsapparat als ein natürli-
ches und vorgegebenes Kommunikationsmittel der Menschen.
Haben wir nicht alle Augen, die ungefähr gleich funktionieren,
und werden wir nicht, wenn der Maler ausreichende Zeichen für
Tiefe oder Samt entdeckt hat, bei der Betrachtung des Gemäldes,
alle denselben Anblick haben, der mit der Natur rivalisiert?
Dennoch waren die klassischen Maler wirkliche Maler, und
keine ernst zu nehmende Malerei hat jemals in der bloßen Dar-
stellung bestanden. Malraux zeigt, daß die moderne Auffassung
von der Malerei – als schöpferischer Ausdruck – für die Öffent-
lichkeit in viel stärkerem Maße ein Novum gewesen ist als für
die Maler selbst, die sie stets praktiziert hatten, auch ohne dar-
aus eine Theorie zu machen. Eben deshalb haben die Werke der
Klassiker einen anderen Sinn und vielleicht mehr Sinn, als sie
glaubten, deshalb antizipieren sie oft eine von ihren kanonischen
Regeln befreite Malerei und bleiben so die prädestinierten Ver-
66 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

mittler für jede Einführung in die Malerei. Im selben Augenblick,


in dem sie, den Blick auf die Welt gerichtet, ihr das Geheimnis ei-
ner ausreichenden Darstellung zu entreißen wähnten, bewirkten
sie unbewußt jene Metamorphose, deren sich die Malerei später
bewußt geworden ist. Dann aber kann man die klassische Malerei
nicht durch die Darstellung der Natur oder durch den Bezug auf
›unsere Sinne‹ definieren, ebensowenig wie die moderne Malerei
durch den Bezug auf das Subjektive. Schon die Wahrnehmung
der Klassiker war von ihrer Kultur abhängig, wie auch unsere
Kultur unsere Wahrnehmung des Sichtbaren formen kann, man
darf weder die sichtbare Welt für die klassischen Regeln aufge-
ben, noch die moderne Malerei in das Verlies des Individuums
einschließen, es gibt keine Wahl zwischen der Welt und der Kunst,
zwischen ›unseren Sinnen‹ und einer bedingungslosen Malerei:
Sie gehen eins in das andere über.
Malraux spricht manchmal so, als hätten sich die ›Gegeben-
heiten der Sinne‹ durch die Jahrhunderte hindurch niemals ver-
ändert und als wenn, solange sich die Malerei auf jene bezog, die
klassische Perspektive sich aufdrängte. Es ist jedoch gewiß, daß
jene Perspektive eines der vom Menschen erfundenen Mittel ist,
die wahrgenommene Welt vor sich zu projizieren, und nicht de-
ren bloßes Abbild. Sie ist eine mögliche Interpretation des spon-
tanen Sehens, nicht weil die wahrgenommene Welt ihre Gesetze
verleugnet und uns andere aufzwingt, sondern vielmehr, weil sie
keine verlangt und weil sie nicht zur Ordnung der Gesetze gehört.
In der freien Wahrnehmung haben die in der Raumtiefe gestaf-
felten Gegenstände keinerlei bestimmte ›erscheinende Größe‹.
Man kann nicht einmal sagen, daß die Perspektive ›uns täuscht‹
und daß die entfernten Gegenstände für das bloße Auge ›größer‹
sind als ihre Projektion auf eine Zeichnung oder eine Fotogra-
fie vermuten ließe – zumindest gilt dies nicht von jener Größe,
die ein gemeinsames Maß für die entfernten und die näher ge-
legenen Flächen wäre. Die Größe des Mondes am Horizont ist
nicht meßbar durch eine bestimmte Anzahl entsprechender Teile
des Geldstückes, das ich in meiner Hand halte; vielmehr han-
delt es sich hier um eine ›Größe-auf-Entfernung‹, um eine Art
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 67

Eigenschaft, die dem Monde zugehört wie anderen Objekten das


Warm- und Kaltsein. Wir befinden uns hier in der Ordnung der
13 ›Ultra-Dinge‹, von denen Henri Wallon spricht, die mit den na-
hegelegenen Gegenständen nicht in ein und derselben abgestuf-
ten Perspektive stehen. Ist eine bestimmte Größe und Entfernung
überschritten, so stehen wir vor dem Absoluten der Größe, in
der alle ›Ultra-Dinge‹ übereinkommen, weshalb auch die Kinder
von der Sonne sagen, sie sei ›groß wie ein Haus‹. Wenn ich von
hier zur Perspektive zurückkehren will, so muß ich aufhören, das
Ganze unbefangen wahrzunehmen, muß meine Sicht eingrenzen,
muß an einer Maßeinheit, über die ich verfüge, markieren, was
ich die ›erscheinende Größe‹ des Mondes und des Geldstückes
nenne, und schließlich jene Maße zu Papier bringen. Während-
dessen ist die wahrgenommene Welt jedoch mit der wirklichen
Gleichzeitigkeit der Gegenstände verschwunden, die nicht in
deren ungestörter Zugehörigkeit zu einer einzigen Größenord-
nung besteht. Als ich das Geldstück und den Mond zusammen
sah, mußte mein Blick auf eines von beiden fixiert sein, während
das andere mir nur am Rande erschien – ›der kleine von nahem
gesehene Gegenstand‹ oder ›der große von weitem gesehene Ge-
genstand‹ –, inkommensurabel mit dem ersten. Was ich zu Papier
bringe, ist nicht diese Koexistenz der wahrgenommenen Dinge,
ihre Rivalität vor meinem Blick. Ich finde das Mittel, ihren Kon-
flikt, der die Tiefe ausmacht, zu schlichten. Ich entscheide mich
dafür, sie auf ein und derselben Ebene als miteinander vereinbar
darzustellen, was mir auch gelingt, indem ich auf dem Papier
eine Reihe von lokalen und mit einem Auge wahrnehmbare An-
sichten zusammenfüge, von denen keine mit den Momenten des
lebendigen Wahrnehmungsfeldes deckungsgleich ist. Während
die Dinge sich meinen Blick streitig machten und ich, an einem
von ihnen festhaftend, den Appell der anderen auf ihm spürte,
der sie mit dem ersten koexistieren ließ, während ich die Forde-
rung eines Horizonts und seinen Anspruch auf Existenz emp-
fand, konstruiere ich jetzt eine Darstellung, bei der jedes Ding
aufhört, die ganze Sicht auf sich zu lenken, sondern den anderen
Zugeständnisse macht und sich damit begnügt, auf dem Papier
68 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

nur noch den Raum einzunehmen, der ihm von ihnen übrigge-
lassen wird. Während mein Blick, als er Tiefe, Höhe und Breite
frei durchstreifte, keinem Gesichtspunkt unterworfen war, weil er
sie alle nacheinander einnahm und wieder aufgab, verzichte ich
nun auf jene Ubiquität und bin bereit, in meiner Zeichnung nur
das darzustellen, was von einem bestimmten Standort aus von
einem unbeweglichen Auge, das auf einen bestimmten ›Flucht-
punkt‹ einer bestimmten ›Horizontlinie‹ fixiert wäre, gesehen
werden könnte. (Eine trügerische Bescheidenheit, denn wenn ich
auf die Welt selbst verzichte, indem ich den schmalen Ausschnitt
einer Perspektive aufs Papier werfe, so höre ich auch auf, wie ein
Mensch zu sehen, der der Welt gegenüber offen ist, weil er in ihr
situiert ist, ich denke und beherrsche meine Sicht wie Gott es
tun kann, wenn er die Idee, die er von mir hat, betrachtet.) Wäh-
rend ich die Erfahrung einer Welt machte, in der es von Dingen
wimmelt, die sich ausschließen, die nur mittels eines zeitlichen
Durchlaufens umfaßt werden können, bei dem jeder Gewinn zu-
gleich Verlust ist, kristallisiert sich das unausschöpfliche Sein zu
einer geordneten Perspektive, wo die Fernen sich begnügen, nur
Fernen zu sein, unzugänglich und verschwommen, wie es ihnen
zukommt, wo die nahen Gegenstände etwas von ihrer Aggressi-
vität aufgeben, ihre inneren Linien nach dem gemeinsamen Ge-
setz des Schauspiels ordnen und sich bereits anschicken, sobald
es erforderlich ist, entfernte Gegenstände zu werden – kurz, wo
nichts den Blick fesselt und nichts gegenwärtig erscheint. Das ge-
samte Gemälde steht im Modus des Vergangenen oder der Ewig-
keit; alles nimmt einen dezenten und diskreten Ausdruck an; die
Dinge sprechen mich nicht mehr an und ich werde nicht mehr
von ihnen kompromittiert. Und wenn ich jenem Kunstgriff den
der Vogelperspektive hinzufüge, so spürt man, bis zu welchem
Grade ich, der ich male, und jene, die meine Landschaft betrach-
ten, die Situation beherrschen. Die Perspektive ist viel mehr als
eine geheime Technik zur Nachahmung einer Realität, die sich
allen Menschen dergestalt darböte; sie ist die Erfindung einer
beherrschten Welt, die man in einer momentanen Synthese ganz
und gar besitzt, von der der spontane Anblick uns höchstens die
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 69

Umrisse bietet, wenn er vergeblich versucht, alle jene Dinge, von


denen jedes für sich ihn gänzlich fesseln will, zusammenzuhal-
ten. Die Gesichter des klassischen Porträts, das immer im Dienste
eines Charakters, einer Leidenschaft oder einer Stimmung steht
– stets voller Bedeutung –, die Kleinkinder und die Tiere der klas-
sischen Malerei, die so sehr danach verlangen, in die menschliche
Welt einzugehen, so wenig darauf bedacht sind, sie zurückzusto-
ßen, sie alle bekunden denselben ›erwachsenen‹ Bezug des Men-
schen zur Welt, und sei es nur, wenn der große Maler, seinem
seligen Dämon nachgebend, jener zu selbstsicheren Welt eine
neue Dimension hinzufügt, indem er in ihr die Kontingenz an-
klingen läßt …
Wenn nun aber selbst die ›objektive‹ Malerei eine Schöpfung
ist, besteht kein Grund mehr, die moderne Malerei, eben weil sie
Schöpfung sein will, als einen Übergang zum Subjektiven, als eine
Zeremonie zum Ruhme des Individuums zu begreifen – und die
Analyse von Malraux scheint uns hier wenig gesichert. Es gibt
14 nur noch ein Sujet in der Malerei, sagt er: der Maler selbst.3 Man
sucht nicht mehr, wie Chardin, das samtene Aussehen der Pfir-
siche wiederzugeben, sondern, wie bei Braque, das Samtene auf
der Leinwand. Die Klassiker waren, ohne es zu wissen, sie selbst;
der moderne Maler will zunächst originell sein, und sein Aus-
drucksvermögen vermengt sich für ihn mit seiner individuellen
15 Verschiedenheit.4 Da die Malerei nicht mehr für den Glauben
16 oder für die Schönheit ist, ist sie für das Individuum,5 ist sie »die
17 Annexion der Welt durch das Individuum«6. Der Künstler ge-
18 hört also zur »Familie der Besessenen, der Süchtigen«7, wie jene
dem starrsinnigen Genuß seiner selbst, dem Genuß des Dämons

3 Le mussée imaginaire, S. 59. Diese Seiten waren bereits geschrieben,

als die endgültige Ausgabe der Psychologie de l’art (Les voix du silence, Gal-
limard) erschien. Wir zitieren nach der Skira-Ausgabe.
4 Le musée imaginaire, S. 79.
5 Ebd., S. 83.
6 La monnaie de l’absolu, S. 118.
7 La création artistique, S. 144.
70 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

geweiht, das heißt alldem, was im Menschen den Menschen zer-


stört … Es ist jedoch klar, daß man die größte Mühe hätte, diese
Definitionen beispielsweise auf Cézanne oder Klee anzuwenden.
Und was jene Modernen betrifft, die mehr Skizzen als Gemälde
liefern und von denen jedes Bild, als Signatur eines Lebensmo-
mentes, in einer ›Ausstellung‹ in der Reihe der aufeinanderfolgen-
den Bilder betrachtet werden muß – so kann jenes Hinnehmen
des Unvollendeten zweierlei bedeuten: Entweder haben sie tat-
sächlich auf das Werk verzichtet und suchen nur noch das Unmit-
telbare, das Empfundene, das Individuelle, den ›rohen Ausdruck‹,
wie Malraux sagt – oder aber die Vollendung; die objektive und
für die Sinne überzeugende Darstellung ist nicht mehr das Mittel
noch das Zeichen des wahrhaft vollendeten Werkes, weil der Aus-
druck fortan vom Menschen zum Menschen durch die gemein-
same Welt, die sie erleben, hindurchgeht, ohne den anonymen
Bereich der Sinne oder der Natur zu durchlaufen. Baudelaire hat
geschrieben – Malraux erinnert zu Recht daran –, »daß ein vollen-
detes Werk nicht notwendig fertig sei und ein fertiges Werk nicht
notwendig vollendet«.8 Vollendet ist ein Werk also nicht, wenn es 19
an sich existiert wie ein Ding, sondern wenn es seinen Betrachter
berührt, ihn auffordert, die Geste wieder aufzunehmen, die es ge-
schaffen hat, indem er alle Vermittlungen überspringt und ohne
einen anderen Führer als eine Bewegung der erfundenen Linie
oder einen fast unkörperlichen Strich in die schweigende Welt des
Malers einzudringen, die nun vor uns ausgebreitet und zugäng-
lich ist. Es gibt die Improvisation kindlicher Maler, die ihre eigene
Geste nicht erlernt haben, und unter dem Vorwand, daß ein Ma-
ler eine Hand ist, meinen, es genüge, eine Hand zum Malen zu
haben. Sie gewinnen aus ihrem Körper kleine Wunderdinge, wie
ein verdrießlicher junger Mann dem seinen, vorausgesetzt, daß er
ihn mit genügend Selbstgefälligkeit beobachtet, immer irgendeine
kleine Seltsamkeit abgewinnen kann, die dazu gut ist, die Religion
seiner selbst zu nähren. Aber es gibt auch die Improvisation des-
sen, der der Welt, die er aussagen will, zugewandt, sich schließlich,

8 Le musée imaginaire, S. 63.


Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 71

indem ein Wort das andere gibt, eine erlernte Stimme aneignet,
die ihm mehr zugehört als sein ursprünglicher Schrei. Es gibt die
20 Improvisation der ›écriture automatique‹ und die der Kartause
von Parma Stendhals. Da die Wahrnehmung selbst niemals fertig
ist, da unsere Perspektiven uns eine Welt auszudrücken und zu
bedenken geben, die sie vereinigt, sie übersteigt und sich durch
blitzartige Zeichen wie ein Wort oder eine Arabeske ankündigt,
warum sollte dann das Ausdrücken der Welt der Prosa der Sinne
oder des Begriffs unterworfen sein? Es muß vielmehr Poesie sein,
das heißt, es muß unser reines Ausdrucksvermögen zur Gänze
über die schon gesagten oder gesehenen Dinge hinaus wecken
und versammeln. Die moderne Malerei wirft ein ganz anderes
Problem als das einer Rückkehr zum Individuum auf: das Pro-
blem, herauszufinden, wie man ohne die Hilfe einer im voraus
eingerichteten Natur, auf die hin all unsere Sinne geöffnet wären,
kommunizieren kann, wie wir durch das, was uns am eigentüm-
lichsten ist, mit dem Allgemeinen verbunden sind.
Das ist eine der philosophischen Betrachtungsweisen, zu denen
man die Analyse von Malraux ausweiten kann. Man muß sie le-
diglich von der Philosophie des Individuums oder des Todes lö-
sen, die bei ihm im Vordergrund steht und nicht frei ist von einer
gewissen Sehnsucht nach den sakralen Kulturepochen. Was der
Maler im Bild festhält, ist nicht sein unmittelbares Selbst, eine
Nuance des Empfindens, sondern seinen Stil, den er nicht weni-
ger seinen eigenen Versuchen abgewinnen muß als der Malerei
der anderen oder der Welt. Wieviel Zeit, sagt Malraux, braucht ein
Schriftsteller, bevor er mit seiner eigenen Stimme zu sprechen
gelernt hat. Und wieviel Zeit braucht der Maler, der nicht, wie wir,
das entfaltete Werk vor sich hat, sondern es schafft, bevor er in
seinen ersten Bildern die Umrisse dessen erkennt, was – jedoch
nur dann, wenn er sich nicht über sich selbst täuscht – sein ferti-
ges Werk sein wird. Mehr noch, er ist ebensowenig fähig, seine
Bilder zu sehen, wie der Schriftsteller, sich selbst zu lesen. Erst in
den anderen erhält der Ausdruck seine Gestalt und wird wirklich
zur Bedeutung. Für den Schriftsteller oder für den Maler gibt es
nur Anspielungen auf sich selbst, eine Vertrautheit mit dem per-
72 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

sönlichen Raunen, das man auch inneren Monolog nennt. Der


Maler arbeitet und zieht seine Furche und, außer wenn es sich um
alte Werke handelt, bei denen er mit Vergnügen wiederfindet, was
er geworden ist, betrachtet er sie nicht allzu gern: Er hat Besseres
zur Hand; die Sprache seiner Reifezeit enthält den schwachen Ton
seiner ersten Werke in höchster Potenz. Ohne zu ihnen zurückzu-
kehren, und nur deshalb, weil sie bestimmte Ausdrucksmöglich-
keiten verwirklicht haben, fühlt er sich mit neuen Organen aus-
gestattet, und indem er das spürt, was über diese schon erprobte
Möglichkeit hinaus zu sagen ist, wird er fähig – falls nicht jene
mysteriöse Ermüdung auftritt, für die sich mehr als ein Beispiel
findet –, im selben Sinne ›weiter‹ zu gehen, wie wenn jeder voll-
zogene Schritt einen anderen herausforderte und möglich machte,
wie wenn jeder gelungene Ausdruck dem geistigen Mechanismus
eine andere Aufgabe vorschriebe oder sogar eine Institution be-
gründete, deren Funktionieren er nie bis zum letzen ergründen
wird. Jenes ›innere Schema‹, das mit jedem neuen Bilde zwingen-
der wird – so daß der berühmte Stuhl von van Gogh, wie Malraux
sagt, zu »einem brutalen Ideogramm seines eigenen Namens
wird« –, ist für van Gogh weder an seinen ersten Werken noch an 21
seinem ›Innenleben‹ ablesbar (denn dann brauchte van Gogh
nicht zu malen, um sich selbst zu finden und würde zu malen
aufhören), es ist jenes Leben selbst, insofern es aus seiner inneren
Gebundenheit heraustritt, aufhört, sich seiner selbst zu erfreuen
und zu einem universellen Mittel wird, zu verstehen und ver-
ständlich zu machen, zu sehen und sehen zu lassen – nicht also,
indem es im Innersten des stummen Individuums eingeschlossen
bleibt, sondern sich in alles, was es sieht, verströmt. Bevor der Stil
für die anderen zum Gegenstand einer Vorliebe wird, für den
Künstler selbst (sehr zum Schaden seines Werkes) zum Gegen-
stand eines Genusses, muß jener fruchtbare Augenblick eingetre-
ten sein, in dem er in seiner Erfahrung aufgekeimt ist, in dem ein
fungierender und latenter Sinn seine Sinnbilder gefunden hat, die
ihn freigeben und ihn gleichzeitig für den Künstler anwendbar
und für die anderen zugänglich machen. Selbst wenn der Maler
bereits gemalt hat und in gewisser Hinsicht Meister seiner selbst
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 73

geworden ist, ist dasjenige, was ihm mit seinem Stil gegeben ist,
keine Manier, nicht eine bestimmte Anzahl von Verfahrensweisen
oder sonderbaren Gewohnheiten, von denen er ein Verzeichnis
anlegen könnte, sondern eine Formulierungsweise, die für die
anderen ebenso erkennbar, für ihn selbst aber so wenig sichtbar
ist wie seine Silhouette oder seine alltäglichen Gesten. Wenn also
Malraux schreibt, daß der Stil »das Mittel ist, die Welt nach den
22 Werten des Menschen, der sie entdeckt, neu zu schaffen«,9 oder
daß er »der Ausdruck einer der Welt geliehenen Bedeutung ist, ein
23 Appell, und nicht die Folge eines Sehens«,10 oder schließlich »die
Rückführung der ewigen Welt auf eine fragile menschliche Per-
spektive, die uns nach einem geheimnisvollen Rhythmus in einen
24 Sog der Gestirne hineinzieht«11 – so versetzt er sich nicht in die
Wirkungsweise des Stils selbst hinein; wie das Publikum betrach-
tet er sie von außen; er gibt einige Konsequenzen an, die geradezu
sensationell sind – der Sieg des Menschen über die Welt –, die der
Maler jedoch nicht im Blick hat. Der Maler bei der Arbeit weiß
nichts von der Antithese von Mensch und Welt, Bedeutung und
Absurdem, Stil und ›Darstellung‹: Er ist viel zu sehr beschäftigt,
sein Verhältnis zur Welt auszudrücken, als sich etwas auf einen
Stil einzubilden, der gleichsam ohne sein Wissen entsteht. Zwar
ist der Stil für die Modernen viel mehr als ein Darstellungsmittel:
Es gibt kein äußeres Modell, die Malerei existiert nicht vor der
Malerei. Daraus darf man aber nicht folgern, wie Malraux es tut,
25 daß die Darstellung der Welt für den Maler nur ein Stilmittel 12
sei, als wenn der Stil außerhalb jeden Kontakts zur Welt erkannt
und gewollt werden könnte, als wenn er ein Zweck wäre. Vielmehr
muß man ihn aus der Tiefe der Wahrnehmung des Malers als ei-
nes Malers auftreten sehen: Er ist ein Anspruch, der von ihr aus-
geht. Malraux sagt es in seinen besten Passagen: Schon die Wahr-
nehmung stilisiert. Eine vorübergehende Frau ist für mich zu-

9 La création artistique, S. 51.


10 Ebd., S. 154.
11 Ebd.
12 Ebd., S. 158.
74 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

nächst nicht ein körperlicher Umriß, eine bemalte Gliederpuppe,


ein inszeniertes Schauspiel, sondern ›ein individueller, gefühls-
mäßiger und sexueller Ausdruck‹, sie ist eine bestimmte Art, Leib
(chair) zu sein, die ganz und gar in dem Gang oder auch nur in
dem Klang des Absatzes auf dem Boden gegeben ist, wie die Span-
nung des Bogens in jeder Holzfaser gegenwärtig ist – eine sehr
auffällige Abwandlung der Norm des Gehens, des Betrachtens,
des Berührens, des Sprechens, die ich besitze, weil ich selbst Leib
(corps) bin. Wenn ich außerdem Maler bin, wird das, was auf die
Leinwand kommt, nicht mehr nur ein vitaler oder sinnlicher Wert
sein, auf dem Bild wird nicht nur ›eine Frau‹, ›eine unglückliche
Frau‹ oder ›eine Schneiderin‹ sein, sondern das Sinnbild einer
bestimmten Art, die Welt zu bewohnen, mit ihr umzugehen, sie
zu interpretieren durch das Gesicht wie durch die Kleidung,
durch die Bewegtheit der Gebärde wie durch die Trägheit des
Körpers, kurz, das Sinnbild einer bestimmten Beziehung zum
Sein. Wenn jedoch jener Stil und jener wahrhaft bildnerische Sinn
nicht in der gesehenen Frau sind – denn dann wäre das Bild schon
fertig –, so werden sie zumindest durch sie herausgefordert. »Je-
der Stil ist das Gestaltwerden von Elementen der Welt, die erlau-
ben, diese nach einem ihrer wesentlichen Teile hin auszurichten.« 26
Eine Bedeutung ist immer dann vorhanden, wenn die Gegeben-
heiten der Welt durch uns einer »kohärenten Deformierung«13 27
unterworfen werden. Jene Konvergenz aller sichtbaren und geisti-
gen Kraftlinien des Bildes auf ein und dieselbe Bedeutung hin, ist
in der Wahrnehmung des Malers bereits skizziert. Sie beginnt,
sobald er wahrnimmt – das heißt, sobald er in der unzugängli-
chen Fülle der Dinge bestimmte Hohlräume, bestimmte Risse,
Figuren und Hintergründe, ein Oben und Unten, eine Norm und
eine Abweichung anbringt, sobald bestimmte Elemente der Welt
den Wert von Dimensionen erhalten, nach denen wir fortan alles
übrige ausrichten, in deren Sprache wir sie zum Ausdruck brin-
gen. Der Stil ist bei jedem Maler ein System von Äquivalenzen,
das er sich für dieses Werk des Ausdrucks schafft, das allgemeine

13 La création artistique, S. 152.


Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 75

Kennzeichen der ›kohärenten Deformierung‹, durch welche er


den in seiner Wahrnehmung noch verstreuten Sinn zusammen-
faßt und ihn ausdrücklich existieren läßt. Das Werk entsteht nicht
in der Entfernung von den Dingen und in irgendeinem inneren
Labor, zu dem der Maler, und nur er allein, den Schlüssel besäße.
Ob er nun wirkliche Blumen oder Papierblumen betrachtet, er
bezieht sich immer auf seine Welt, wie wenn das Prinzip der Äqui-
valenzen, durch die er sie bekunden will, immer schon in ihr ge-
legen hätte.
Die Schriftsteller dürfen hierbei die Arbeit und das Studium
des Malers nicht unterschätzen, jene der Anstrengung des Den-
kens so ähnliche Anstrengung, die uns von einer Sprache der Ma-
lerei reden läßt. Zwar überträgt der Maler sein Äquivalenzensy-
stem, kaum daß er es dem Schauspiel der Welt entnommen hat,
wiederum in Farben, in einen Quasi-Raum, auf eine Leinwand.
Der Sinn prägt sich eher dem Bild ein, als daß das Bild ihn aus-
drückt. »Der gelbe Riß am Himmel über Golgatha […] das ist
eine Ding gewordene Angst, eine Angst, die sich in einen gelben
Riß am Himmel verwandelt hat und plötzlich von den besonde-
ren Eigenschaften der Dinge verschlungen und überzogen
28 wird«.14 Der Sinn sickert vielmehr in das Bild ein, flimmert um
29 es herum »wie ein Hitzedunst«15, mehr noch, als daß er durch es
sichtbar würde. Er ist »wie eine riesige und vergebliche Anstren-
gung, die stets auf halbem Wege zwischen Himmel und Erde ste-
30 hen bleibt«, um auszudrücken, was die Natur des Gemäldes die-
sem auszudrücken versagt. Vielleicht ist dieser Eindruck für die-
jenigen unvermeidlich, die einen professionellen Umgang mit der
Sprache pflegen, es passiert ihnen dasselbe, was uns passiert,
wenn wir eine fremde Sprache hören, die wir schlecht sprechen:
Wir finden sie eintönig, von zu scharfem Akzent und Geschmack,
eben weil sie nicht die unsere ist und wir sie nicht zum Hauptin-
strument unserer Beziehungen zur Welt gemacht haben. Der Sinn
des Gemäldes bleibt für uns, die wir nicht durch die Malerei mit

14 Sartre, Situations II, S. 61.


15 Ebd., S. 60.
76 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

der Welt kommunizieren, gefangen. Aber für den Maler und selbst
für uns, wenn wir bereit sind, in der Malerei zu leben, ist er viel
mehr als ein ›Hitzedunst‹ auf der Oberfläche der Leinwand, da er
ja fähig ist, diese Farbe oder diesen Gegenstand eher als alle ande-
ren einzufordern, und da er das Arrangement des Gemäldes
ebenso gebieterisch bestimmt wie eine Syntax oder eine Logik.
Denn das ganze Bild liegt nicht in jenen kleinen Ängsten oder
jenen begrenzten Freuden, von denen es durchsetzt ist: Sie sind
nur Komponenten in einem totalen, weniger pathetischen als
vielmehr lesbaren und dauerhaften Sinn. Ganz zu Recht führt
Malraux die Anekdote des Wirtes von Cassis an, der Renoir bei
der Arbeit am Meer zusieht und zu ihm herantritt: »[…] da wa-
ren nackte Frauen drauf, die irgendwo anders badeten. Er be-
trachtete irgend etwas, ich weiß nicht was, und er veränderte nur
eine kleine Ecke.« Malraux bemerkte dazu: »Das Blau des Meeres
war zu dem des Baches der Wäscherinnen geworden […] Sein
Blick war weniger eine Weise, das Meer zu betrachten, als das ver-
borgene Hervorbringen einer Welt, der gerade jenes tiefe Blau
zugehörte, das er bis ins Unermeßliche wiederholte.« 16 Dennoch 31
betrachtete Renoir das Meer. Warum aber gehörte das Blau des
Meeres der Welt seiner Malerei an? Wie konnte es ihn etwas leh-
ren, was den Bach der Wäscherinnen betraf? Eben deshalb, weil
jedes Fragment der Welt – und besonders das Meer, das bald von
Wirbeln, Kräuseln und Schaumkronen überzogen, bald massiv
und unbeweglich in sich selbst ruht – vielerlei Gestalten des Seins
in sich birgt, es durch die Art, wie es dem Angriff des Blickes be-
gegnet, eine Reihe möglicher Varianten wachruft und so eine all-
gemeine Weise lehrt, das Sein auszusagen und über sich hinaus-
zugehen. So kann man am Meer bei Cassis badende Frauen und
einen Süßwasserbach malen, weil man von dem Meer – wie nur
dieses es lehren kann – die Art und Weise abverlangt, wie es die
flüssige Substanz interpretiert, sie sichtbar macht, wie es diese mit
sich selbst verbindet, kurz, wegen einer Typik der Erscheinungs-
weisen des Wassers. Man kann malen, indem man die Welt be-

16 La création artistique, S. 113.


Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 77

trachtet, weil es dem Maler scheint, daß er den Stil, der ihn in den
Augen der anderen definieren wird, in den Erscheinungen selbst
findet, und er glaubt, die Natur in dem Augenblick buchstabieren
zu können, wo er sie neu schafft. »Ein bestimmtes unaufhebbares
Gleichgewicht oder Ungleichgewicht von Farben und Linien
überwältigt den, der entdeckt, daß die halb geöffnete Tür zu einer
32 anderen Welt führt.«17 Eine andere Welt – nämlich dieselbe, die
der Maler sieht und die seine eigene Sprache spricht, doch von
jenem namenlosen Gewicht befreit, das sie zurückhielt und in der
Mehrdeutigkeit beließ. Wie sollten der Maler oder der Dichter
etwas anderes aussagen als ihre Begegnung mit der Welt? Wovon
spricht denn selbst die abstrakte Kunst, wenn nicht von einer Ab-
lehnung oder Zurückweisung der Welt? Denn die Strenge, das
Besessensein von Oberflächen und geometrischen Formen (oder
von Infusorien und Mikroben, denn das Tabu, unter dem das Le-
ben steht, beginnt merkwürdigerweise erst mit den mehrzelligen
Lebewesen) vermitteln noch einen Hauch von Leben, auch wenn
es sich um ein schamhaftes oder verzweifeltes Leben handelt. Im-
mer also sagt das Gemälde etwas aus, ist es ein neues Äquivalen-
zensystem, das gerade diese Umwälzung erfordert, und im Namen
eines wahreren Verhältnisses zwischen den Dingen werden ihre
gewöhnlichen Beziehungen aufgelöst. Ein endlich freies Sehen
und Handeln hebt im Falle der Maler die gewöhnliche Anord-
nung der Dinge auf und gruppiert sie neu – im Falle der Dichter
geschieht dies mit den Worten. Aber es genügt nicht, die Sprache
33 zu zerschlagen oder in Brand zu setzen, um die Illuminationen zu
schreiben; und Malraux bemerkt scharfsinnig von den modernen
Malern: »Obwohl keiner von ihnen von Wahrheit sprach, spra-
chen alle hinsichtlich der Werke ihrer Gegner von Hochstape-
lei.«18 Sie wollen nichts wissen von einer Wahrheit, die in der
Ähnlichkeit zwischen Malerei und Welt bestünde. Sie würden den
Gedanken einer Wahrheit akzeptieren, die in der Kohärenz des
Gemäldes mit sich selbst bestünde, in der Anwesenheit eines ein-

17 Ebd., S. 142.
18 La monnaie de l’absolu, S. 125.
78 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

zigen Prinzips in ihr, das jedem Ausdrucksmittel einen bestimm-


ten Gebrauchswert zuordnet. Wenn nun aber ein Pinselstrich die
im Prinzip vollständige Wiederherstellung der Erscheinungen
ersetzt, um uns die Wolle oder das Fleisch zu vergegenwärtigen,
so tritt nicht das Subjekt an die Stelle des Gegenstands, sondern
die anspielungsreiche Logik der wahrgenommenen Welt. Man
will immer etwas bedeuten, es gibt stets etwas zu sagen, dem man
mehr oder weniger nahekommt. Das ›Weitergehen‹ van Goghs
weist jedoch in dem Augenblick, wo er Die Raben malt, nicht
mehr auf irgendeine Realität hin, die man anstreben muß, son-
dern einfach auf das, was noch zu tun bleibt, um die Begegnung
des Blickes mit den Dingen, die ihn anziehen, dessen, was sein
soll, mit dem, was ist, wiederherzustellen. Diese Beziehung ge-
hört sicher nicht zu denen, die sich nachahmen lassen. »Wie im-
mer in der Kunst, gilt es zu lügen, um die Wahrheit zu sagen«,
bemerkt Sartre mit Recht. Man sagt, daß die genaue Wiedergabe
eines Gespräches, das brillant erschien, hinterher dürftig er-
scheint. Es fehlt ihr die Gegenwart derer, die sprachen, die Ge-
sten, die Physiognomien, das Empfinden eines Ereignisses, das
sich plötzlich ergibt, einer fortgesetzten Improvisation. Das Ge-
spräch findet fortan nicht mehr statt, es besteht, verflacht zur al-
leinigen Dimension des Akustischen, um so enttäuschender,
wenn jenes auditive Medium das eines gelesenen Textes ist. Da-
mit gerade das Kunstwerk, das sich oft nur an einen unserer
Sinne wendet und uns niemals ganz umfängt wie das Erlebte, uns
den Geist erfüllt, wie es das tut, muß es etwas anderes sein als die
unterkühlte Existenz, muß es, wie Gaston Bachelard sagt, eine
›Überexistenz‹ sein. Doch gehört es nicht der Willkür oder, wie
man sagt, der Fiktion an. Die moderne Malerei, wie ganz allge-
mein das moderne Denken, zwingt uns, eine Wahrheit anzuer-
kennen, die nicht den Dingen ähnelt, die kein äußeres Modell
hat, die ohne prädestinierte Ausdrucksinstrumente besteht und
die dennoch Wahrheit ist.Wenn man den Maler, wie wir es zu tun
versuchen, in Kontakt mit seiner Welt versetzt, wird man viel-
leicht die Metamorphose weniger rätselhaft finden, mit der er die
Welt in Malerei verwandelt, die Metamorphose, die ihn von sei-
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 79

nen Anfängen bis zu seiner Reife hinsichtlich seiner selbst verän-


dert und die schließlich in jeder Generation bestimmten Werken
der Vergangenheit einen Sinn verleiht, den man vorher nicht
wahrgenommen hat. Wenn ein Schriftsteller die Malerei und die
Maler betrachtet, ist er ungefähr in der Lage der Leser gegenüber
dem Schriftsteller oder in der eines Verliebten, der an die abwe-
sende Frau denkt. Wir erfassen den Schriftsteller vom Werk her,
der Verliebte faßt die abwesende Geliebte in den wenigen Wor-
ten, den wenigen Haltungen, in denen sie sich am reinsten aus-
gedrückt hat. Begegnet er ihr wieder, so ist er versucht, das be-
rühmte ›Quoi, ce n’est que cela?‹ Stendhals zu wiederholen.
Wenn wir die Bekanntschaft eines Schriftstellers machen, sind
wir auf eine fast törichte Art enttäuscht, nicht in jedem Augen-
blick seiner Gegenwart jenes Wesentliche wiederzufinden, jene
untadelige Sprache, die wir mit seinem Namen zu verbinden
pflegen. Das also macht er mit seiner Zeit? So ein häßliches Haus
bewohnt er? Das sind seine Freunde, die Frau, deren Leben er
teilt? Um so kleinliche Dinge ist er besorgt? – All das aber sind
nur Hirngespinste oder sogar Neid, geheimer Haß. Man bewun-
dert, wo man es tun sollte, nur, nachdem man verstanden hat,
daß es keine Übermenschen gibt, keinen Menschen, der nicht ein
Menschenleben zu leben hätte, und daß das Geheimnis der ge-
liebten Frau, des Schriftstellers oder des Malers nicht irgendwo
jenseits seines empirischen Lebens liegt, sondern so mit seinen
alltäglichen Erfahrungen vermischt, mit seiner Wahrnehmung
der Welt so diskret verwoben ist, daß es gar nicht möglich ist,
ihm davon unabhängig von Angesicht zu Angesicht zu begegnen.
Wenn man die Psychologie der Kunst liest, hat man manchmal
den Eindruck, daß Malraux, der als Schriftsteller das alles sicher
weiß, es vergißt, wenn es sich um die Maler handelt, daß er ihnen
dieselbe Art von Kult widmet, den er, so meinen wir, bei seinen
Lesern ablehnen würde, kurz, daß er sie in Götter verwandelt.
»Welcher Genius ist nicht fasziniert von diesem Äußersten der
Malerei, von jenem Appell, vor dem die Zeit ins Wanken gerät?
Es ist der Augenblick der Besitznahme der Welt. Wenn die Male-
rei noch weiter gehen könnte, so würde der alte Frans Hals Gott
80 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

sein.«19 Das ist vielleicht der Maler, wie er von den anderen gese- 34
hen wird. Der Maler selbst ist ein Mensch bei der Arbeit, der jeden
Morgen in der Gestalt der Dinge denselben Fragen, derselben
Aufforderung begegnet, auf die er nie endgültig geantwortet hat.
In seinen Augen ist sein Werk niemals fertig, es ist immer im Wer-
den, so daß niemand es gegen die Welt ins Feld führen kann. Ein-
mal entzieht sich das Leben, erschlafft der Körper; ein anderes
Mal, noch trauriger, hört die im Schauspiel der Welt versteckte
Frage auf, sich zu stellen. Dann ist der Maler nicht mehr Maler,
oder der Maler ist zu einem Maler honoris causa geworden. Aber
solange er malt, geschieht es immer im Hinblick auf sichtbare
Dinge, oder wenn er blind ist oder erblindet, im Gedanken an
jene unausweichliche Welt, zu der er durch andere Sinne vor-
dringt und über die er mit den Worten eines Sehenden spricht.
Und deshalb ist seine Arbeit, die für ihn selbst dunkel bleibt, den-
noch gelenkt und orientiert. Es geht immer nur darum, dieselbe
schon offene Furche weiterzuziehen, einen Akzent wieder aufzu-
greifen und zu verallgemeinern, der schon im Winkel eines frü-
heren Gemäldes oder in irgendeinem Augenblick seiner Erfah-
rung aufgetaucht war, ohne daß der Maler selbst jemals sagen
könnte – da diese Unterscheidung keinen Sinn hat –, was von ihm
und was von den Dingen stammt, was das neue Werk den alten
hinzufügt, was er von den anderen entnommen hat und was ihm
gehört. Jene dreifache Wiederaufnahme, welche die Gestaltung
des Ausdrucks zu einer Art provisorischer Ewigkeit macht, ist
nicht nur eine Metamorphose im Sinne der Feenmärchen – Wun-
der, Magie, absolute Schöpfung in einer aggressiven Einsam-
keit –, sondern auch eine Antwort auf das, wonach die Welt, die
Vergangenheit, die schon fertigen Werke fragten: Vollendung,
Brüderschaft. Husserl hat dafür das schöne Wort der Stiftung ge- 35
braucht, um zunächst die unbegrenzte Fruchtbarkeit jeder Ge-
genwart zu bezeichnen, die, eben weil sie einzigartig ist und
vorübergeht, niemals aufhören kann, gewesen und also universell
zu sein – vor allem aber die Fruchtbarkeit der Kulturgüter, die

19 La création artistique, S. 150.


Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 81

noch nach ihrem Erscheinen Geltung beanspruchen und ein For-


schungsfeld eröffnen, in dem sie unaufhörlich wieder aufleben.
So geschieht es, daß der bereits gewonnene Anblick der Welt,
seine ersten Malversuche und die gesamte Vergangenheit der Ma-
lerei dem Maler eine Tradition vermitteln, das heißt, wie Husserl
anmerkt, die Fähigkeit, die Ursprünge zu vergessen und der Ver-
gangenheit nicht ein schlichtes Überleben zu gewähren, das die
heuchlerische Form des Vergessens ist, sondern ihr ein neues Le-
ben zu geben, welches die edle Form der Erinnerung ist.
Malraux hebt nachdrücklich das Trügerische und Lächerliche
in der Komödie des Geistes hervor: jene zeitgenössischen Feinde,
Delacroix und Ingres, in denen die Nachwelt Zwillinge erkannte,
36 jene Maler, die Klassiker sein wollen und nur Neo-Klassiker, das
heißt das Gegenteil sind, jene Stilarten, die dem Blick des Schöp-
fers entgehen und erst sichtbar werden, wenn das Museum Werke
zusammenträgt, die über die ganze Erde verstreut sind, wenn
die Fotografie Miniaturen vergrößert, durch ihre Ausschnitte
ein Stück des Gemäldes umwandelt, Glasmalereien, Teppiche
und Geldmünzen in Gemälde verwandelt, und der Malerei ein
Bewußtsein ihrer selbst vermittelt, das immer retrospektiv
bleibt … Wenn aber der künstlerische Ausdruck neu erschafft
und verwandelt, so galt das schon für die Zeiten, die der unseren
vorausgegangen sind, und es galt auch von unserer Wahrneh-
mung der Welt vor der Malerei, da sie ja schon in den Dingen
die Spur einer menschlichen Bearbeitung hinterließ. Die Er-
zeugnisse der Vergangenheit, die die Gegebenheiten unserer Zeit
sind, überschritten ebenfalls die früheren Erzeugnisse auf eine
Zukunft hin, die wir sind, und verlangten insofern von vielen
anderen die Verwandlung, die wir mit ihnen vornehmen. Man
kann ebensowenig das Inventar einer Malerei aufstellen – sagen,
was da ist und was nicht –, wie man nach den Linguisten kein
Vokabular vollständig auflisten kann, und zwar aus demselben
Grunde: Hier wie dort handelt es sich nicht um eine endliche
Summe von Zeichen, sondern um ein offenes Feld oder ein neues
Organ menschlicher Kultur. Kann man leugnen, daß jener klassi-
sche Maler beim Malen irgendeines Teilstückes seines Bildes eben
82 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

schon die Geste jenes modernen Malers erfunden hat? Kann man
aber vergessen, daß er sie nicht zum Prinzip seiner Malerei er-
hoben hat und daß er sie in diesem Sinne nicht erfunden hat,
wie der Heilige Augustinus sich nicht das Cogito zur Überschrift
seiner wichtigsten Gedanken ausgedacht hat, sondern ihm ledig-
lich begegnet ist? Die Träumereien, mit denen jede Zeit, wie Aron
sagte, sich ihre Ahnen sucht, sind indessen nur möglich, weil alle
Zeiten einem selben Universum zugehören. Die Klassik und die
Moderne gehören zum Universum der Malerei, begriffen als eine
einzige Aufgabe von den ersten Höhlenzeichnungen an bis zu
unserer ›bewußten‹ Malerei. Wenn diese in Kunstarten, die an
eine ganz andere Erfahrung als die unsere gebunden sind, etwas
findet, was sie wieder aufgreift, dann sicher so, daß sie jene umge-
staltet, aber auch so, daß jene sie schon ahnen lassen, daß sie ihr
zumindest etwas zu sagen haben und daß ihre Künstler in dem
Glauben, die furchterregenden Gebilde der Primitiven oder die
Asiens und Ägyptens fortzusetzen, insgeheim eine andere Zeit
einleiteten, die noch die unsere ist und die uns jene gegenwärtig
erhält, wohingegen die Herrschafts- und Glaubensformen, de-
nen sie anzugehören meinten, seit langem verschwunden sind.
Die Einheit der Malerei findet sich nicht nur im Museum, sie liegt
in jener einzigen Aufgabe, die sich allen Malern stellt und die
es ermöglicht, daß sie eines Tages im Museum vergleichbar sein
werden und daß diese Leuchtfeuer sich in der Nacht gegenseitig
antworten. Die ersten Höhlenzeichnungen gaben die Welt ›zu
malen‹ oder ›zu zeichnen‹ auf, appellierten an eine unbegrenzte
Zukunft der Malerei, und deshalb sprechen sie zu uns, und wir
antworten ihnen durch Metamorphosen, in denen sie mit uns
zusammenwirken. So gibt es zwei Geschichtlichkeiten, die eine
ironisch oder sogar spöttisch und aus Widersinn bestehend, weil
jede Zeit gegen die anderen wie gegen Fremdlinge kämpft, indem
sie ihnen ihre Probleme und Perspektiven aufzwingt. Sie ist eher
Vergessen als Gedächtnis, sie ist Zerstückelung, Ignoranz, Äu-
ßerlichkeit. Aber die andere, ohne die die erste unmöglich wäre,
wird Schritt für Schritt konstituiert und rekonstituiert durch das
Interesse, das wir dem entgegenbringen, was wir nicht sind, durch
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 83

jenes Leben, das uns die Vergangenheit in einem steten Austausch


zuträgt und in uns findet, die lebendige Vergangenheit, die in
jedem Maler, der mit jedem neuen Werk das ganze Unternehmen
der Malerei neu belebt, aufnimmt und weiterführt.
Jene kumulative Geschichte, in der die Gemälde durch das, was
sie zum Ausdruck bringen, zueinanderfinden, ordnet Malraux oft
jener unerbittlichen Geschichte unter, in der die Maler sich ge-
genüberstehen, weil sie sich gegenseitig verleugnen. Für ihn fin-
det die Aussöhnung erst im Tod statt, und immer erst nachträg-
lich erkennt man das einzigartige Problem, auf das die rivalisie-
renden Gemälde antworten und das sie zu Zeitgenossen macht.
Wenn es aber nicht schon wirklich in den Malern gegenwärtig
und wirksam gewesen wäre – wenn auch nicht im Zentrum ih-
res Bewußtseins, so doch am Horizont ihrer Arbeit –, so begreift
man nicht, wie das zukünftige Museum es herausfinden könnte.
Man kann vom Maler ungefähr sagen, was Valéry vom Priester
sagte: daß er ein Doppelleben führe und die Hälfte seines Brotes
geweiht sei. Er ist zwar jener reizbare und leidende Mensch, für
den jede andere Malerei eine Rivalin ist. Aber seine Zorn- und
Haßausbrüche sind der Ausstoß eines Werkes. Von Eifersucht be-
herrscht, trägt der Unglückliche überall jenes Unsichtbare, seinen
Albträumen entbundene Double mit sich herum: sich selbst, so
wie sein Malen ihn definiert, und das ›historische Siegel‹, wie
Péguy sagte, welches nur Abstammungen und Verwandtschaften
anzeigt, die der Maler sehr wohl anerkennen kann, wenn er nur
bereit ist, sich nicht für Gott zu halten und nicht jede Bewegung
seines Pinsels als einzigartig zu verherrlichen. Was für uns ›einen
37 Vermeer‹ ausmacht – Malraux weist es genau nach –, ist nicht
die Tatsache, daß diese bemalte Leinwand eines Tages aus den
Händen des Menschen Vermeer gekommen ist, sondern daß das
Bild dem Äquivalenzsystem entspricht, nach dem jedes seiner
Elemente, wie hundert Zeiger auf hundert Zifferblättern, die-
selbe Abweichung aufweist, daß es die Sprache Vermeers spricht.
Selbst wenn es dem Bilderfälscher gelänge, nicht nur die Verfah-
rensweisen, sondern auch den Stil der großen Vermeers zu über-
nehmen – so wäre er kein Fälscher mehr, sondern einer jener
84 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

Maler, die im Atelier der Klassiker für den Meister malten. Das ist
zwar nicht möglich: Man kann nicht nach Jahrhunderten ande-
rer Malerei, in denen das Problem der Malerei selbst seinen Sinn
verändert hat, auf einmal wie Vermeer malen. Daß aber das Bild
heimlich von einem unserer Zeitgenossen ausgeführt worden sei,
ist nur insofern für die Qualifikation des Fälschers relevant, als
es ihn daran hindert, den Stil Vermeers tatsächlich zu erreichen.
So dient der Name Vermeers wie derjenige jedes großen Malers
schließlich dazu, eine Art von Institution zu bezeichnen; und ge-
nau wie es Aufgabe der Geschichte ist, hinter ›dem Parlament im
Ancien Régime‹ oder hinter ›der Französischen Revolution‹ zu
entdecken, was sie in der Dynamik der menschlichen Beziehun-
gen wirklich bedeuten, welche Modulation dieser Beziehungen
sie darstellen, und deshalb das eine als nebensächlich und das
andere als wesentlich bezeichnet wird, ebenso müßte eine wirk-
liche Geschichte der Malerei hinter der unmittelbaren Erschei-
nungsform der Vermeer zugeschriebenen Bilder eine Struktur,
einen Stil, einen Sinn suchen, demgegenüber mögliche unstim-
mige Einzelheiten, die seinem Pinsel durch Müdigkeit, zufällige
Umstände oder Selbstnachahmung herausgerutscht sind, neben-
sächlich erscheinen. Wenn sie über die Echtheit eines Bildes nur
durch dessen Prüfung urteilen kann, so nicht nur deshalb, weil
uns die Informationen über die Herkunft fehlen, sondern weil
der vollständige Werkkatalog eines Meisters nicht ausreicht, um
in Erfahrung zu bringen, was wirklich von ihm stammt, weil er
selbst einen bestimmten Ausdruck in der Sprache der Malerei
bildet, der nach der Vergangenheit wie nach der Zukunft hin wi-
derhallt in eben dem Maße, wie er das gar nicht beabsichtigt,
und weil er zu allen anderen Versuchen genau in dem Maße in
Beziehung tritt, wie er sich nachdrücklich mit seiner Welt befaßt.
Der Rückblick kann durchaus unentbehrlich sein, damit diese
wirkliche Geschichte sich von der empirischen abhebt, die nur
auf Vorfälle (événements) achtet und den eigentlichen Ereignis-
sen (avènements) gegenüber blind ist – zunächst jedoch ist sie
vorgezeichnet im gesamten Wollen des Malers. Die Geschichte
schaut nur auf die Vergangenheit zurück, weil der Maler zunächst
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 85

auf das zukünftige Werk geschaut hat. Eine brüderliche Gemein-


samkeit der Maler besteht im Tode nur deshalb, weil sie dasselbe
Problem erleben.
Insofern ist die Funktion des Museums wie die der Bibliothek
nicht nur von Vorteil. Das Museum ermöglicht es uns zwar, Werke
als Momente einer einzigen Anstrengung zusammen zu sehen, die
in der Welt verstreut waren und die versunken in den Kulten oder
Zivilisationen, deren Schmuck sie sein wollten, verborgen lagen;
dadurch begründet es unser Bewußtsein von der Malerei als Ma-
lerei. Dieses ist jedoch zunächst in jedem Maler, der arbeitet, und
zwar dort in reiner Form; wohingegen das Museum es mit dem
zweifelhaften Vergnügen der Retrospektive kompromittiert. Man
sollte ins Museum gehen wie die Maler, in der nüchternen Freude
an der Arbeit, und nicht wie wir, mit einer Ehrfurcht, die nicht
ganz echt ist. Das Museum vermittelt uns ein Bewußtsein von
Dieben. Ab und zu fällt uns ein, daß jene Werke ja nicht geschaf-
fen worden sind, um zwischen diesen finsteren Mauern zu enden,
zum Vergnügen der Sonntagsspaziergänger oder der Montags-
›Intellektuellen‹. Wir spüren den Verlust und daß jene Friedhofs-
ruhe nicht die wahre Umgebung der Kunst ist, daß soviel Freuden
und Leiden, soviel Besessenheit und Arbeit nicht dazu bestimmt
waren, eines Tages das fahle Licht eines Museums zu reflektieren.
Indem das Museum Versuche in ›Werke‹ verwandelt, macht es
eine Geschichte der Malerei möglich. Vielleicht aber ist es den
Menschen wesentlich, nur dann in ihren Werken Größe zu errei-
chen, wenn sie sie nicht allzusehr suchen, vielleicht ist es gar nicht
schlecht, daß der Maler und der Schriftsteller nicht allzu genau
wissen, daß sie im Begriff sind, dem Menschsein ein Fundament
zu schaffen, vielleicht endlich haben sie für die Geschichte der
Kunst ein echteres und lebendigeres Empfinden, wenn sie sie in
ihrer Arbeit fortsetzen, als wenn sie sie als ›Kunstliebhaber‹ im
Museum betrachten. Das Museum fügt dem wahren Wert der
Werke einen falschen Nimbus hinzu, indem es sie den Zufällen
entzieht, unter denen sie entstanden sind, und indem es uns glau-
ben macht, daß schicksalhafte Vorbestimmungen die Hand der
Künstler seit eh und je leiten. Während der Stil in jedem Maler
86 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

wie der Pulsschlag seines Herzens lebendig war und ihn deshalb
befähigte, jedes andere Bemühen als das seine wiederzuerkennen,
kehrt das Museum diese verborgene, schamhafte, unüberlegte,
unwillkürliche Geschichtlichkeit in eine offizielle und pompöse
Geschichte um. Eine sich ankündigende Regression verleiht un-
serer Zuneigung für irgendeinen Maler eine pathetische Nuance,
die ihm durchaus fremd war. Er hat ein ganzes Menschenleben
hindurch gearbeitet – wir aber sehen sein Werk wie Blumen am
Rande eines Abgrundes. Das Museum macht uns die Maler so
geheimnisvoll wie Tintenfische oder Langusten. Jene Werke, die
in der Hitze eines Lebens entstanden sind, verwandelt es in Wun-
der einer anderen Welt, und der Hauch, der sie belebte, ist in der
bedächtigen Atmosphäre des Museums und hinter schützenden
Glasscheiben nur noch ein schwaches Zucken auf ihrer Oberflä-
che. Das Museum tötet die Vehemenz der Malerei, wie die Biblio-
thek, nach Sartre, Schriften, die zunächst Gesten eines Menschen
waren, in ›Botschaften‹ verwandelt. Es ist die Geschichtlichkeit 38
des Todes. Doch gibt es eine Geschichtlichkeit des Lebens, von
der jene nur ein entstelltes Abbild bietet: die Geschichtlichkeit
nämlich, die den Maler bei der Arbeit beseelt, wenn er mit einer
einzigen Geste die Tradition, die er aufgreift, mit der Tradition,
die er stiftet, verknüpft, jene, die ihn auf einen Schlag mit allem,
was jemals in der Welt gemalt worden ist, verbindet, ohne daß er
seinen Ort, seine Zeit, seine gesegnete und verfluchte Arbeit auf-
zugeben hätte, und die die Malweisen miteinander versöhnt, in-
sofern jede von ihnen die gesamte Existenz zum Ausdruck bringt,
insofern sie alle gelungen sind – anstatt sie zu versöhnen, insofern
sie alle als abgeschlossen und ausnahmslos als hohle Gesten be-
griffen werden.
Wenn man die Malerei in ihre Gegenwart zurückversetzt, wird
man sehen, daß sie nicht die Schranken zuläßt, die unser Puris-
mus zwischen dem Maler und den anderen, zwischen dem Maler
und seinem eigenen Leben wiederholen möchte. Selbst wenn der
Wirt von Cassis die Metamorphose nicht versteht, mit der Re-
noir das Blau des Mittelmeeres in das Wasser der Wäscherinnen
verwandelt, so hat er doch immerhin Renoir bei der Arbeit sehen
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 87

wollen; das interessiert auch ihn, und letztlich gibt es nichts, was
ihn hindern könnte, den Weg wiederzufinden, den die Höhlenbe-
wohner eines Tages ohne Tradition eröffnet haben. Renoir hätte
wohl unrecht gehabt, den Wirt um Rat zu fragen oder ihm zu ge-
fallen zu versuchen. In diesem Sinne malte er nicht für den Wirt.
Er selbst definierte durch seine Malerei die Bedingungen, unter
denen er sich verstanden wissen wollte. Schließlich aber malte
er; er befragte das Sichtbare und brachte Sichtbares zustande.
Der Welt und dem Wasser des Meeres rang er das Geheimnis des
Wassers der Wäscherinnen ab. So öffnete er für diejenigen, die
wie er von der Welt benommen waren, den Übergang vom einen
zum anderen. Wie J. Vuillemin gesagt hat, ging es nicht darum,
ihre Sprache zu sprechen, sondern sie im eigenen Ausdruck aus-
drücklich werden zu lassen. Die Beziehung des Malers zu seinem
eigenen Leben liegt auf derselben Ebene: Sein Stil ist nicht der
Lebensstil, aber er zieht ihn auch in seinen künstlerischen Aus-
druck mit hinein. Man versteht, daß Malraux psychoanalytische
Erklärungen in der Malerei nicht schätzt. Selbst wenn der Mantel
der Heiligen Anna ein Geier ist, selbst wenn man zugibt, daß,
39 während da Vinci ihn als Mantel malte, ein zweiter da Vinci in da
Vinci den Mantel mit geneigtem Kopf nach Art eines Rätselraters
als einen Geier entzifferte (schließlich ist das nicht unmöglich:
Im Leben da Vincis zeigt sich eine Vorliebe für die Mystifizierung
des Schrecklichen, die ihm sehr wohl eingeben konnte, seine
Ungeheuer in ein Kunstwerk zu bannen) – so würde niemand
mehr von jenem Geier sprechen, wenn das Gemälde nicht einen
anderen Sinn hätte. Die Erklärung gibt nur über Einzelheiten
Aufschluß und höchstens über Materialarten. Selbst wenn man
zugibt, daß der Maler deshalb gern mit Farben umgeht, der Bild-
hauer mit Ton, weil er dem ›analen‹ Typus angehört – so sagt uns
das noch nicht, was es heißt, zu malen oder zu bildhauern.20 Aber
auch die ganz entgegengesetzte Haltung, die devote Verehrung

20 So hat Freud auch niemals behauptet, daß er da Vinci durch den

Geier erklären würde; er hat in etwa gesagt, daß die Analyse dort aufhört,
wo die Malerei beginnt.
88 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

der Künstler, die uns verbietet, irgend etwas über ihr Leben in
Erfahrung zu bringen und ihr Werk wie ein Wunder fern von je-
der persönlichen oder öffentlichen Geschichte und außerhalb der
Welt situiert, verdeckt uns ebenso ihre wahre Größe. Wenn Leo-
nardo da Vinci etwas anderes ist als eines der unzähligen Opfer
einer unglücklichen Kindheit, so nicht deshalb, weil er ein Halb-
gott war, sondern weil es ihm gelang, aus allem, was er erlebt hat,
ein Mittel zur Interpretation der Welt zu machen – und dies nicht
etwa deshalb, weil er keinen Körper oder kein Gesicht gehabt
hätte, sondern genau weil durch ihn seine leibliche oder vitale Si-
tuation zur Sprache gekommen ist. Beim Übergang von der Ord-
nung der Ereignisse zu der des Ausdrucks wechselt man nicht die
Welt: Dieselben Gegebenheiten, die hingenommen wurden, wer-
den zu einem bedeutsamen System. Mögen sie aus dem Inneren
noch so sehr ausgegraben, herausgearbeitet und schließlich von
ihrem Gewicht, das schmerzhaft und verletzend auf uns lastete,
befreit sein, mögen sie transparent oder sogar leuchtend gewor-
den sein und geeignet, nicht nur die Aspekte der Welt, die ihnen
ähneln, sondern auch die anderen zu erhellen, mögen sie noch
so sehr verwandelt sein – so hören sie doch nicht auf, einfach da
zu sein. Die Kenntnis, die man von ihnen haben kann, kann nie-
mals die Erfahrung des Werkes selbst ersetzen. Aber sie hilft, den
Schöpfungsakt zu ermessen, und sie lehrt uns jenes Überschrei-
ten an Ort und Stelle, das als einziges ohne Rückkehr ist. Wenn
wir uns in den Maler hineinversetzen, um jenem entscheidenden
Augenblick beizuwohnen, wo ihm das, was ihm an körperlichem
Geschick, persönlichen Erlebnissen oder historischen Ereignissen
gegeben ist, zu einem ›Motiv‹ kristallisiert, werden wir erkennen,
daß sein Werk, das niemals eine Wirkung der Vorkommnisse ist,
immer eine Antwort auf jene Gegebenheiten darstellt und daß
der Leib, das Leben, die Landschaften, die Schulen, die Gelieb-
ten, die Gläubiger, die Versicherungen, die Revolutionen, die die
Malerei ersticken können, auch das Brot sind, das diese zu ihrem
Sakrament macht. In der Malerei leben, das heißt immer noch,
diese Welt einatmen – vor allem für den, der in der Welt etwas zu
malen sieht, und das geht jedem Menschen ein wenig so.
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 89

Gehen wir dem Problem auf den Grund. Malraux denkt über
die Miniaturen und die Geldstücke nach, bei denen die foto-
grafische Vergrößerung in wunderbarer Weise den Stil auch
der Werke großen Formates aufdeckt, oder über Werke, die au-
ßerhalb der Grenzen Europas ausgegraben wurden, weitab von
jedem ›Einfluß‹, und bei denen die Modernen fassungslos den-
selben Stil entdecken, den eine bewußte Malerei anderswo wie-
der neu erfunden hat. Wenn man die Kunst in das Innerste des
Individuums eingeschlossen hat, dann erklärt sich die Konver-
genz der Werke nur durch irgendein Schicksal, das sie beherrscht.
»[…] Wie wenn ein imaginärer Geist der Kunst – von der Minia-
tur zum Gemälde, vom Fresko zum Glasfenster – überall dieselbe
Eroberung vorwärtstriebe und sie abrupt wieder aufgäbe für eine
andere, parallele oder plötzlich entgegengesetzte, so wie wenn ein
unterirdischer Strom der Geschichte all jene verstreuten Werke
vereinte, indem er sie mit sich risse […] Ein Stil, der in seiner
Entwicklung und seinen Verwandlungen bekannt ist, wird weni-
ger zu einer Idee als zum Trugbild einer lebendigen Fatalität. Die
Reproduktion, und nur sie, hat jene imaginären Über-Künstler in
die Kunst eingeführt, deren Geburt im Dunkeln bleibt, die ein Le-
ben führen, Eroberungen und Zugeständnisse an den Geschmack
des Reichtums oder der Verführung machen, die untergehen und
40 wieder auferstehen, und die sich Stile nennen.«21 Malraux be-
gegnet also zumindest als Metapher der Idee einer Geschichte,
die die entferntesten Versuche vereinigt, einer Malerei, die hinter
dem Rücken des Malers wirkt, einer Vernunft in der Geschichte,
41 deren Instrument er ist. Diese Hegelschen Ungeheuer sind die
Antithese und die Ergänzung seines Individualismus. Was wird
aus ihnen, wenn die Theorie der Wahrnehmung den Maler in die
sichtbare Welt zurückversetzt und den Leib als spontanen Aus-
druck wiederfindet?
Gehen wir von der einfachsten Tatsache aus – über die wir ja
schon einige Aufklärung gegeben haben. Die Lupe bringt auf der
Medaille oder der Miniatur eben den Stil der großformatigen

21 Le musée imaginaire, S 52.


90 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

Kunstwerke zutage, weil die Hand ihren Stil überall hinträgt; die-
ser ist ungeteilt in der Geste, und er hat es nicht nötig, auf jedem
Punkt der Zeichnung schwer zu lasten, um die Materie mit seiner
Linienführung zu prägen. Unsere Schrift erkennt man wieder,
ob wir nun mit drei Fingern der Hand Buchstaben auf Papier
zeichnen oder mit unserem ganzen Arm auf die Tafel mit Kreide
schreiben; denn sie ist kein Automatismus, der in unserem Kör-
per an bestimmte Muskeln gebunden wäre, der nur bestimmte
materiell definierte Bewegungen ausführte, sondern ein allge-
meines Vermögen motorischer Gestaltung, das Transpositionen
ermöglicht, die die Konstanz des Stils ausmachen. Oder vielmehr,
es handelt sich nicht einmal um eine Transposition: Wir schrei-
ben einfach nicht im Raum an sich, mit einer Ding-Hand und
einem Ding-Körper, denen jede neue Situation neue Probleme
stellte. Wir schreiben im wahrgenommenen Raum, wo Ergeb-
nisse gleicher Form auf Anhieb vergleichbar sind und wo die
Unterschiede des Maßstabes unbekannt bleiben, genau wie auch
dieselbe Melodie, in verschiedenen Tonlagen vorgetragen, unmit-
telbar identifiziert wird. Und die Hand, mit der wir schreiben, ist
eine Phänomen-Hand, die zugleich mit einer Bewegungsformel
so etwas wie das Anwendungsgesetz auf Einzelfälle besitzt, in de-
nen sich die Bewegung verwirklichen können muß. Das ganze
Wunder des Stils, das schon in den unsichtbaren Elementen eines
Werkes gegenwärtig ist, rührt also daher, daß der Künstler, der
in der menschlichen Welt wahrgenommener Dinge wirkt, seinen
Stempel auch der nichtmenschlichen Welt aufprägt, welche die
optischen Apparate enthüllen; so wie der Schwimmer, ohne es
zu wissen, über eine ganze verborgene Welt hinweggleitet, die er
durch die Unterwasserbrille geradezu entsetzt entdeckt – oder
wie Achilles mit einem einfachen Schritt eine unendliche Sum-
mierung von Räumen und Augenblicken bewirkt. Sicher liegt
da ein großes Wunder, dessen Merkwürdigkeit nicht durch das
Wort Mensch verdeckt werden sollte. Wenigstens können wir hier
sehen, daß dieses Wunder uns natürlich ist, daß es mit unserem
leiblichen Leben beginnt und daß es keinen Anlaß gibt, die Erklä-
rung dafür in irgendeinem Weltgeist zu suchen, der ohne uns in
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 91

uns wirkt und an unserer Stelle über die wahrgenommene Welt


hinaus im mikroskopischen Maßstab wahrnähme. Der Weltgeist
sind wir hier selbst, sobald wir uns bewegen können, sobald wir
blicken können. Diese einfachen Akte schließen schon das Ge-
heimnis der Ausdruckshandlung in sich ein: Ich bewege meinen
Leib, ohne auch nur zu wissen, welche Muskeln, welche Ner-
venbahnen mitwirken müssen, noch wo die Instrumente dieser
Handlung zu suchen sind – wie der Künstler seinen Stil bis in die
letzten Fasern der Materie ausstrahlen läßt, die er bearbeitet. Ich
will dort hingehen, und schon bin ich da, ohne daß ich in das
nichtmenschliche Geheimnis der körperlichen Maschinerie ein-
gedrungen bin, ohne daß ich diese der Problemstellung angepaßt
hätte, wie zum Beispiel der Lage des Zieles innerhalb irgendeines
Koordinatensystems. Ich sehe das Ziel, werde von ihm angezo-
gen, und schon macht die Körpermaschine das, was zu tun ist,
damit ich mich dort befinde. Alles spielt sich vor meinen Augen
in der menschlichen Welt der Wahrnehmung und der Geste ab,
aber mein ›geographischer‹ oder ›physischer‹ Körper gehorcht
den Anforderungen dieses kleinen Dramas, das ständig in sich
tausend neue natürliche Wunder hervorruft. Schon mein Blick
zum Ziel hin hat seine Wunder: Auch er richtet sich souverän im
Sein ein und verhält sich dort wie in einem eroberten Land. Nicht
der Gegenstand ist es, der auf meine Augen einwirkt und die Ak-
komodations- und Konvergenzbewegungen bewirkt. Man hat be-
wiesen, daß ich im Gegenteil niemals etwas klar sehen würde und
daß es keinen Gegenstand für mich gäbe, wenn ich nicht meine
Augen so einstellen könnte, daß die Wahrnehmung eines einzigen
Gegenstands möglich wird. Und es ist hier nicht etwa der Geist,
der den Körper ersetzt und das, was wir sehen werden, vorweg-
nimmt. Nein, es sind meine Blicke selbst, ihr Zusammenwirken,
ihr Erkunden und Vorausschauen, die den kommenden Gegen-
stand in die rechte Position bringen; und unsere Wahrnehmungs-
korrekturen wären niemals schnell und genau genug, wenn sie
auf einem tatsächlichen Kalkül der Wirkungen gründen müßten.
So ist unter dem Blick, der Hand und ganz allgemein dem Leib
ein System von Systemen zur Kenntnisnahme einer Welt zu ver-
92 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

stehen, das fähig ist, Entfernungen zu überbrücken, bis in das zu-


künftige Wahrnehmen hinein vorzustoßen, in die unbegreifliche
Ebenmäßigkeit des Seins Höhlungen und Reliefs, Entfernungen
und Abstände, kurz, einen Sinn einzuzeichnen … Die Bewegung
des Künstlers, der seine Arabeske in die unendliche Materie zeich-
net, entfaltet das einfache Wunder der gerichteten Fortbewegung
oder der zugreifenden Gesten und setzt es fort. Schon in der Geste
des Zeigens dehnt der Körper sich nicht nur auf eine Welt aus,
deren Schema er in sich trägt: Er besitzt sie auf Entfernung in viel
stärkerem Maße, als sie ihn besitzt. Um so mehr ist es die Geste
des Ausdrucks, die es selbst übernimmt, das von ihr Gesehene
zu gestalten, es nach außen in Erscheinung treten zu lassen, und
so die Welt wiedergewinnt. Aber schon mit unserer ersten orien-
tierten Gebärde hatten die unendlich vielen Bezüge von irgend
jemandem zu seiner Situation unseren mediokren Planeten in
Besitz genommen und unserem Verhalten ein unerschöpfliches
Feld eröffnet. Jede Wahrnehmung, jedes Handeln, das jene vor-
aussetzt, kurz, jeder menschliche Gebrauch des Leibes ist schon
ursprünglicher Ausdruck – nicht jene abgeleitete Arbeit, die das
zum Ausdruck Gebrachte durch Zeichen ersetzt, deren Sinn und
Anwendungsregel anderswoher kommen, sondern die ursprüng-
liche Operation, die erst die Zeichen zu Zeichen macht, die durch
die Eloquenz ihres Anordnens und ihres Zusammenstellens das
Ausdrückliche in ihnen leben läßt, die einen Sinn einpflanzt, wo
zuvor noch keiner war, die also, weit entfernt davon, in dem Au-
genblick, wo sie statthat, wieder zu vergehen, eine Ordnung ein-
führt und eine Institution oder Tradition begründet …
Wenn aber nun die Präsenz des Stils in Miniaturen, die nie-
mand je gesehen hat und die in gewissem Sinne auch niemals ge-
macht wurden, mit dem Faktum unserer Leiblichkeit in Zusam-
menhang steht und dergestalt keine okkulte Erklärung erfordert,
so scheint es uns, daß man dasselbe von den seltsamen Überein-
stimmungen sagen kann, die ohne irgendeine gegenseitige Beein-
flussung von dem einen bis zu dem anderen Ende der Welt Kunst-
werke erscheinen lassen, die sich gleichen. Wir suchen nach einem
Grund, der jene Ähnlichkeiten erklärt, und wir sprechen von ei-
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 93

ner Vernunft in der Geschichte oder von Über-Künstlern, welche


die Künstler anleiten. Aber wenn man von Ähnlichkeiten spricht,
ist man das Problem schon falsch angegangen: Schließlich fallen
sie nur wenig ins Gewicht im Vergleich zu den unzähligen Unter-
schieden und der Vielfalt der Kulturen. Die, wenn auch geringe,
Wahrscheinlichkeit einer Neuerfindung ohne Anleitung und
ohne Modell genügt, um jene außergewöhnlichen Übereinstim-
mungen zu begreifen. Das eigentliche Problem besteht darin zu
verstehen, warum so verschiedene Kulturen ihr Suchen auf ein
und dasselbe richten, sich dieselbe Aufgabe stellen (bei deren Be-
wältigung sie gelegentlich auf dieselben Ausdrucksweisen stoßen),
warum das, was die eine Kultur hervorbringt, für andere Kulturen
einen Sinn hat, selbst wenn es nicht sein ursprünglicher Sinn ist,
warum wir uns die Mühe machen, Fetische in Kunst zu verwan-
deln, endlich, warum es eine Malerei oder ein Universum der Ma-
lerei gibt. Das ist jedoch nur dann ein Problem, wenn man sich
zunächst in die geographische oder physische Welt versetzt und
die Kunstwerke als ebensoviele voneinander getrennte Vorkomm-
nisse in sie hineinstellt, deren Ähnlichkeit oder auch nur Ver-
wandtschaft dann unwahrscheinlich ist und nach einem Erklä-
rungsprinzip verlangt. Wir dagegen schlagen vor, die Ordnung
der Kultur oder des Sinnes als ursprüngliche Ordnung des Auf-
kommens (avènement)22 zu verstehen, die weder von der Ord-
nung bloßer Vorkommnisse (événements) – wenn es eine solche
überhaupt gibt – abgeleitet werden darf, noch als einfache Wir-
kung außerordentlicher Begegnungen behandelt werden kann.
Wenn es das Wesen der menschlichen Gebärde ist, über ihre bloß
faktische Existenz hinaus etwas zu bedeuten, einen Sinn zu eröff-
nen, so ergibt sich daraus, daß jede Geste jeder anderen vergleich-
bar ist, daß sie alle auf eine einzige Syntax zurückgehen, daß eine
jede von ihnen ein Anfang (und eine Folge) ist, eine Folge oder
Neuanfänge ankündigt, insofern sie nicht wie ein schlichtes Vor-
kommnis auf ihre Einmaligkeit begrenzt bleibt und ein für alle-
mal abgelaufen ist, sondern über ihre einfache Gegenwart hinaus

22 Der Ausdruck stammt von Paul Ricœur.


94 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

Geltung hat und darin von vornherein der Verbündete oder Kom-
plize aller anderen Ausdrucksversuche ist. Das Schwierige und
Wesentliche besteht hier darin zu verstehen, daß wir mit dem Ab-
stecken eines Feldes, das von demjenigen der empirischen Ord-
nung der Vorkommnisse verschieden ist, nicht auch einen Geist
der Malerei setzen, der sich auf der Rückseite der Welt selbst be-
sitzt und sich nach und nach zeigen würde. Es gibt keine zweite
Kausalität über derjenigen der empirischen Vorkommnisse, die
aus der Welt der Malerei eine ›übersinnliche Welt‹ mit ihren eige-
nen Gesetzen machte. Die Kulturschöpfung bleibt unwirksam,
wenn sie nicht in den äußeren Umständen ein Vehikel findet.
Aber wenn jene dies auch nur im geringsten leisten, so entwickelt
ein erhaltenes und tradiertes Bild bei seinen Erben ein Vermögen
der Gestaltung, das keinen Vergleich zuläßt mit dem, was es nicht
nur als ein Stück gemalter Leinwand ist, sondern auch als ein
Werk, das von seinem Schöpfer mit einer bestimmten Bedeutung
versehen wurde. Jener Überschuß des Kunstwerks, der über die
bewußten Intentionen hinausgeht, reiht es in eine Fülle von Be-
zügen ein, von denen die kurze Geschichte der Malerei und selbst
die Psychologie des Malers nur wenige Reflexe geben können, so
wie die zur Welt hin ausgreifende Geste des Körpers in eine Ord-
nung von Bezügen einführt, von denen die reine Physiologie und
Biologie keine Ahnung haben. Trotz der Verschiedenartigkeit sei-
ner Teile, die ihn gebrechlich und verwundbar machen, ist der
Leib fähig, sich in einer Geste zu sammeln, die die Zerstreuung
seiner Teile für einen Augenblick zügelt; allem, was er tut, prägt er
so sein Monogramm ein. Auf dieselbe Weise kann man, über die
Entfernungen des Raumes und der Zeit hinweg, von einer Einheit
des menschlichen Stiles sprechen, die die Gesten aller Maler zu
einem einzigen Versuch vereinigt und ihre Produkte in einer ein-
zigen kumulativen Geschichte, einer einzigen Kunst, zusammen-
faßt. Die Einheit der Kultur bildet über die Grenzen eines einzel-
nen Lebens hinaus dieselbe Art von Rahmen, der von vornherein
alle Momente dieser Kultur im Augenblick ihrer Stiftung oder
Geburtsstunde einfaßt, sobald ein Bewußtsein (wie man zu sagen
pflegt) in einen Leib eingelassen ist, und ein neues Wesen in der
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 95

Welt auftaucht, dem irgend etwas zustoßen wird, was fortan auch
gar nicht ausbleiben kann, und sei es nur das Ende jenes kaum
begonnenen Lebens. Das analytische Denken zerbricht den Wahr-
nehmungsübergang von einem Moment zum anderen, von einem
Ort zum anderen, von einer Perspektive zur anderen und sucht
schließlich auf seiten des Geistes die Garantie einer Einheit, die es
jedoch schon gibt, wenn wir wahrnehmen. Es zerbricht auch die
Einheit der Kultur und versucht sie dann von außen wieder her-
zustellen. Alles in allem, sagt es, gäbe es nur Werke, die für sich
genommen tote Buchstaben bleiben, und Individuen, die ihnen
nach Gutdünken einen Sinn geben. Wie kommt es dann aber, daß
Kunstwerke sich gleichen, daß Individuen sich verstehen? Hier
führt man dann den Geist der Malerei ein. Aber ebenso, wie wir
das Überbrücken des Verschiedenartigen durch die Existenz und
im besonderen die leibliche Besitznahme des Raumes als eine
letzte Gegebenheit anerkennen und zugeben müssen, daß unser
Leib, indem er lebt und zur Gebärde wird, sich nur auf seine ei-
gene Bemühung stützt, um zur Welt zu sein, sich aufrecht hält,
weil er nach oben strebt, daß seine Wahrnehmungsfelder ihm
diese gewagte Haltung aufzwingen und daß er diese Fähigkeiten
nicht von einem unabhängigen Geist empfangen kann – ebenso
beruht die Geschichte der Malerei, die von einem Werk zu einem
anderen fortschreitet, auf sich selbst und wird nur von der Karya-
tide unserer Bemühungen getragen, die nur deshalb in einem
Punkt zusammenlaufen, weil sie Ausdrucksbemühungen sind.
Die innere Ordnung des Sinnes ist nicht ewig: Wenn sie auch
nicht jedem Zickzack der empirischen Geschichte folgt, so ver-
zeichnet und verlangt sie doch eine Reihe aufeinanderfolgender
Maßnahmen. Denn sie definiert sich nicht nur, wie wir es vorläu-
fig sagten, durch die Verwandtschaft all ihrer Momente mit einer
einzigen Aufgabe: Eben deshalb, weil sie alle Momente der Male-
rei sind, modifiziert jedes von ihnen, wenn es bewahrt und über-
mittelt wird, den Stand des ganzen Unternehmens und zwingt
dazu, daß jene, die nach ihm kommen, eben anders als es selbst
sind. Zwei kulturelle Gesten können nur identisch sein, wenn sie
sich gegenseitig ignorieren. Es ist der Kunst also wesentlich, sich
96 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

zu entwickeln; das heißt zugleich, sich zu verändern und, wie He-


gel sagt, ›in sich selbst zurückzukehren‹, sich also in geschichtli-
cher Gestalt darzustellen. So ist der Sinn der Ausdrucksgeste, auf
den wir die Einheit der Malerei gegründet haben, prinzipiell ein
Sinn im Entstehen. Sein Auftreten (avènement) ist eine Verhei-
ßung von Ereignissen (événements). Die Herrschaft des Einen
über das Vielfältige läßt in der Geschichte der Malerei ebensowe-
nig wie bei der Betätigung des wahrnehmenden Leibes die Auf-
einanderfolge in der Ewigkeit aufgehen: Sie erfordert vielmehr die
Aufeinanderfolge, sie braucht sie, während sie ihr zur gleichen
Zeit einen Sinn verleiht. Und zwischen diesen beiden Problemen
besteht nicht einfach eine Analogie. Es ist vielmehr die Ausdrucks-
handlung des Leibes, angefangen von der geringsten Wahrneh-
mung, die sich zur Malerei und zur Kunst hin erweitert. Das Feld
der malerischen Bedeutungen ist seit dem Auftreten des ersten
Menschen auf der Welt offen. Und die erste Höhlenzeichnung
begründete nur deshalb eine Tradition, weil sie schon eine andere
übernahm: nämlich die der Wahrnehmung. Die Quasi-Ewigkeit
der Kunst vermischt sich mit der Quasi-Ewigkeit der inkarnierten
Existenz; und mit der Tätigkeit unseres Leibes und unserer Sinne
kommt, insofern sie uns der Welt einfügen, auch unsere kulturelle
Gestik zum Verständnis, insofern sie uns in die Geschichte ein-
fügt. Die Linguisten sagen manchmal, daß man strenggenommen 42
nicht datieren könne, wann zum Beispiel das Lateinische aufhört
und das Französische beginnt, es gebe nur eine Sprechweise und
eigentlich nur eine Sprache, die sich ständig verändere. Noch all-
gemeiner möchten wir sagen, daß der fortwährende Versuch des
Ausdrucks eine einzige Geschichte gründet – so wie die Einwir-
kung unseres Leibes auf jeden möglichen Gegenstand einen ein-
zigen Raum gründet.
In diesem Sinne wäre die Geschichte – wir können hier nur
darauf hinweisen – den verworrenen Diskussionen, die heute
über sie geführt werden, entzogen; sie würde wieder zu dem
werden, was sie für den Philosophen zu sein hat: das Zentrum
seiner Überlegungen, und zwar nicht als eine in sich vollkommen
klare ›einfache Natur‹, sondern im Gegenteil als der Ort unseres
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 97

Fragens und Staunens. Ob man die Geschichte nun vergöttert


oder haßt, heute begreift man sie und die historische Dialektik
43 als eine äußere Macht. Zwischen ihr und uns müsse man wählen,
und die Geschichte wählen heißt, sich mit Leib und Seele dem
Auftreten eines zukünftigen Menschen verschreiben, dessen Ent-
wurf wir selbst nicht sind; dies bedeutet, zugunsten einer solchen
Zukunft auf jedes Urteil über die Mittel, zugunsten der Effizienz
auf jede Wertung zu verzichten wie ebenso auf die ݆bereinstim-
mung mit sich selbst‹. Eine solche Götzengeschichte säkularisiert
eine rudimentäre Gottesauffassung, und nicht zufällig laufen die
zeitgenössischen Auseinandersetzungen so gern auf eine Par-
allele zwischen dem, was man die ›horizontale Transzendenz‹
der Geschichte nennt, und der ›vertikalen Transzendenz‹ Gottes
hinaus.
In Wahrheit aber bedeutet dies, beide Male das Problem falsch
zu stellen. Die schönsten Enzykliken der Welt vermögen nichts
gegen die Tatsache, daß seit mindestens zwanzig Jahrhunderten
Europa und ein großer Teil der Welt auf die sogenannte verti-
kale Transzendenz verzichtet haben; und man sollte auch nicht
vergessen, daß das Christentum unter anderem in der Anerken-
nung eines Mysteriums in den Beziehungen des Menschen zu
Gott besteht; denn gerade der christliche Gott will keine vertikale
Beziehung der Unterordnung. Er ist nicht einfach ein Prinzip,
dessen Folgen wir wären, ein Wille, dessen Instrumente wir ver-
körperten, oder gar ein Modell, von dem die menschlichen Werte
nichts anderes als ein schwaches Abbild wären; ohne uns gibt es
gleichsam eine Ohnmacht Gottes, wie ja auch Christus bezeugt,
daß Gott nicht vollkommen Gott wäre, ohne die menschliche
Existenz zu seiner eigenen zu machen. Claudel sagt sogar, daß
Gott nicht über, sondern unter uns ist – und er will damit sagen,
daß er uns nicht als eine übersinnliche Idee begegnet, sondern
als ein anderes Wir-Selbst, das unsere Finsternis bewohnt und
bezeugt. Die Transzendenz überragt den Menschen nicht mehr:
Er wird in seltsamer Weise zu ihrem privilegierten Träger.
Im übrigen hat keine Philosophie der Geschichte jemals die
gesamte Substanz der Gegenwart auf die Zukunft übertragen,
98 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

noch das Selbst zerstört, um etwas anderem Platz zu machen.


Diese Zukunftsneurose wäre gerade die Nicht-Philosophie, die
bewußte Ablehnung, zu wissen, woran man glaubt. Keine Philo-
sophie hat jemals darin bestanden, zwischen Transzendenzen zu
wählen – zum Beispiel zwischen der Transzendenz Gottes und
der Transzendenz der menschlichen Zukunft –, sie sind alle da-
mit beschäftigt, sie zu vermitteln, zum Beispiel zu verstehen, wie
Gott menschlich oder wie der Mensch göttlich wird; sie versu-
chen jenes seltsame Ineinandersein aufzuklären, das bewirkt, daß
die Wahl der Mittel schon die Wahl eines Zweckes ist, daß das
Selbst weltlich, kulturell, geschichtlich wird, aber daß die Kultur
zur gleichen Zeit untergeht wie es selbst. Bei Hegel ist, wie stän-
dig wiederholt wird, alles Wirkliche vernünftig und also gerecht- 44
fertigt – gerechtfertigt jedoch bald als wirklicher Erwerb, bald
als Unterbrechung, bald als Zurückweichen und Rückgang zu-
gunsten eines neuen Anlaufs; kurz, es ist relativ gerechtfertigt als
Moment der gesamten Geschichte, insofern sich diese Geschichte
entwickelt, also in dem gleichen Sinne, wie man sagt, daß selbst
unsere Irrtümer Früchte tragen und daß unsere Fortschritte un-
sere verstandenen Irrtümer sind, wodurch der Unterschied zwi-
schen Wachstum und Niedergang, Geburt und Tod, Rückschritt
und Fortschritt nicht verwischt wird.
Zwar scheint nach Hegels Theorie des Staates und des Krieges
nur dem absoluten Wissen des Philosophen, der in das Geheimnis
der Geschichte eingeweiht ist, das Urteil über das Werk der Ge-
schichte vorbehalten zu sein, während es die anderen davon dis-
pensiert. Das ist jedoch kein Grund zu vergessen, daß Hegel,
selbst in seiner Philosophie des Rechts, ein Urteil über das Handeln
allein nach seinen Resultaten ebenso verwirft wie ein Urteil über
das Handeln allein nach seinen Absichten: »Der Grundsatz: bei
den Handlungen die Konsequenzen verachten, und der andere:
die Handlungen aus den Folgen beurteilen und sie zum Maßstabe
dessen, was recht und gut sei, zu machen – ist beides gleich ab-
strakter Verstand.«23 Lebensläufe, die derart aufgeteilt sind, daß 45

23 Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 118.


Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 99

man ihre Verantwortlichkeit auf die bewußten und notwendigen


Folgen dessen, was sie erträumt haben, begrenzen kann, eine Ge-
schichte, die die Geschichte gleichermaßen unverdienter Erfolge
und Mißerfolge wäre und also die ehrenvollen oder die nieder-
trächtigen Menschen je nach den äußeren Zufällen beurteilen
würde, die das, was sie taten, entstellt oder beschönigt haben – das
sind die von Hegel abgelehnten verschwisterten Abstraktionen.
Was er im Sinn hat, ist der Moment, in dem das Innere sich ent-
äußert, der Dreh oder die Wendung, wodurch wir zum Anderen
und zur Welt kommen, so wie die Welt und der Andere zu uns –
mit anderen Worten, das Handeln. Durch das Handeln werde ich
für alles verantwortlich, nehme ich die Hilfe wie den Verrat der
äußeren Umstände in Anspruch, »das Umschlagen von Notwen-
digkeit in Zufälligkeit und umgekehrt«24. Ich betrachte mich
nicht nur als Herr meiner Absichten, sondern auch dessen, was
die Dinge daraus machen werden, ich nehme die Welt, die Ande-
ren, wie sie sind, ich nehme mich selbst, wie ich bin und mache
mich für all das stark. »Handeln heißt … sich diesem Gesetze preis-
geben.«25 Das Handeln macht sich ein Ereignis so sehr zu eigen,
daß man das gescheiterte Verbrechen eher bestraft als das gelun-
gene und daß selbst Ödipus sich als Vatermörder und Blutschän-
der empfindet, obwohl er es nur der Tat nach ist. Gegenüber einer
solchen Manie der Handlung, die den Lauf der Dinge auf sich
nimmt, ist man versucht, unterschiedslos zu schließen, daß es nur
Schuldige gibt, da ja handeln und sogar leben schon bedeutet, das
Risiko der Schande mit der Chance des Ruhms auf sich zu neh-
men – und daß es nur Unschuldige gibt, da ja nichts, ja nicht
einmal das Verbrechen, ex nihilo gewollt worden ist, weil niemand
aus freiem Willen geboren wurde. Aber über jene philosophischen
Theorien des Inneren und Äußeren hinaus, in denen alles gleich-
wertig ist, deutet Hegel an, daß es – da, wenn alles gesagt ist, ein
Unterschied zwischen dem Gültigen und dem Ungültigen, zwi-
schen dem, was wir auf uns nehmen, und dem, was wir ablehnen,

24 Ebd.
25 Ebd.
100 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

besteht – ein Urteil über den Versuch, das Unternehmen oder das
Werk gibt, nicht nur allein über die Absicht oder allein über die
Konsequenzen, sondern über den Gebrauch, den wir von unse-
rem guten Willen gemacht haben, über die Art und Weise, wie wir
die tatsächliche Lage eingeschätzt haben. Was einen Menschen
auszeichnet, ist nicht die Absicht und nicht die Tat, sondern ob er
seine Handlungen mit Werten versehen hat oder nicht. Wenn
dem so ist, erschöpft sich der Sinn des Handelns weder in der
Situation, die dessen Anlaß gewesen ist, noch in irgendeinem un-
klaren Werturteil, sondern bleibt exemplarisch und wird in ande-
ren Situationen wieder aufleben, wenn auch in anderer Gestalt.
Das Handeln eröffnet ein Feld, manchmal stiftet es sogar eine
Welt, auf jeden Fall entwirft es eine Zukunft. Die Geschichte ist
für Hegel jenes Heranreifen einer Zukunft in der Gegenwart,
nicht das Aufopfern der Gegenwart für eine unbekannte Zukunft;
und die Maxime des Handelns besteht für ihn nicht darin, um
jeden Preis effizient zu sein, sondern zunächst einmal fruchtbar
und produktiv zu wirken.Die Polemiken gegen die ›horizontale
Transzendenz‹ im Namen einer ›vertikalen Transzendenz‹ (ob sie
nun angenommen oder nur ersehnt wird) sind also gegenüber
Hegel ebenso unbillig wie gegenüber dem Christentum. Indem
sie mit der Geschichte nicht nur ein, wie sie meinen, blutbe-
schmiertes Idol über Bord werfen, sondern auch die Pflicht, Prin-
zipien in die Dinge zu bringen, kehren sie zu einer falschen Un-
befangenheit zurück, die dem Mißbrauch der Dialektik keine
Abhilfe tut. Der Pessimismus der Neo-Marxisten, aber auch die
Denkfaulheit der Nicht-Marxisten, die wie immer als Komplizen
auftreten, stellen heute die Dialektik in uns und außer uns als eine
Macht der Lüge und des Scheiterns, als einen Umschlag des Gu-
ten ins Böse, als Fatalität aus Enttäuschung dar. Bei Hegel war das
nur eine ihrer Seiten: Sie war ebensosehr so etwas wie eine Gnade
des Ereignisses, die uns vom Schlechten zum Guten zieht, die uns
zum Beispiel ins Allgemeine wirft, wenn wir nur unserem Inter-
esse nachzugehen glauben. Sie war, wie Hegel ungefähr sagt, ein
Fortschreiten, das seinen Verlauf selbst hervorbringt und in sich
selbst zurückkehrt – eine Bewegung also, die nur ihre eigene Initia-
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 101

tive zum Führer hat und dennoch nicht vor sich selbst entweicht,
die sich dann und wann bekräftigt und bestätigt. So war sie also
dasjenige, was wir mit einem anderen Namen das Ausdrucksphä-
nomen nennen, das sich durch eine geheime Rationalität wieder
aufgreift und sich aufs neue entfaltet. Sicher würde man den Be-
griff der Geschichte in seinem wahren Sinne zurückgewinnen,
wenn man sich daran gewöhnte, ihn nach dem Beispiel der Kün-
ste und der Sprache zu bilden. Denn die Nähe jedes Ausdrucks zu
jedem anderen Ausdruck, ihre Zugehörigkeit zu einer einzigen
Ordnung, stellt faktisch die Verknüpfung des Individuellen mit
dem Allgemeinen her. Die zentrale Tatsache, auf die die Hegelsche
Dialektik in hundert verschiedenen Weisen immer wieder zu-
rückkommt, besteht darin, daß wir nicht zwischen dem Für sich
und dem Für andere zu wählen haben, zwischen einem Denken,
das uns gemäß ist, und einem Denken, das den Anderen gemäß
ist, sondern daß im Moment des Ausdrucks der Andere, an den
ich mich wende, und ich selbst, der ich mich ausdrücke, auf Ge-
deih und Verderb aneinander gebunden sind. Die Anderen, so wie
sie sind (oder so wie sie sein werden), sind nicht allein die Richter
meiner Handlungen: Wenn ich mich zu ihren Gunsten verleug-
nen wollte, würde ich auch sie als ein anderes ›Ich‹ verleugnen; sie
haben genau den gleichen Wert wie ich, und alle Befugnisse, die
ich ihnen gebe, gebe ich gleichzeitig auch mir. Ich unterwerfe
mich dem Urteil eines Anderen, der selbst dessen würdig ist, was
ich versucht habe; das heißt letztlich, ich unterwerfe mich dem
Urteil eines Ebenbürtigen, der von mir selbst gewählt wurde. Die
Geschichte ist Richter – nicht die Geschichte als die Gewalt eines
Augenblicks oder eines Jahrhunderts, sondern die Geschichte als
eine die Grenzen der Länder und Zeiten überschreitende Einprä-
gung und Ansammlung dessen, was wir, je nach der Situation, an
Wahrem und Gültigem gesagt und getan haben. Die Anderen
werden über das, was ich getan habe, urteilen, weil ich in das
Sichtbare hinein gemalt und für diejenigen gesprochen habe, die
Ohren haben, aber weder die Kunst noch die Politik bestehen
darin, ihnen zu gefallen oder zu schmeicheln. Sie erwarten vom
Künstler oder vom Politiker, daß er sie zu Werten hinführt, in
102 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

denen sie nachträglich nur ihre Werte erkennen. Der Maler oder
der Politiker formt die Anderen weit mehr, als er ihnen folgt; das
Publikum, das er anspricht, ist nicht gegeben, sondern es ist das
Publikum, das durch sein Werk erst entsteht. Die Anderen, an die
er denkt, sind nicht die empirischen ›Anderen‹, die durch das be-
stimmt sind, was sie in diesem Augenblick von ihm erwarten
(und noch weniger die Menschheit, als eine Art, die die ›Men-
schenwürde‹ oder ›die Ehre, Mensch zu sein‹ besitzen würde, so
wie andere Arten einen Panzer oder eine Schwimmblase haben),
sondern es sind die Anderen, die so geworden sind, daß er mit
ihnen leben könnte. Die Geschichte, mit der sich der Schriftsteller
verbündet (und dies um so besser, als er nicht daran denkt, ›Ge-
schichte zu machen‹, sich in der Literaturgeschichte zu verewigen,
und nur redlich sein Werk hervorbringt), ist nicht eine Macht, vor
der er das Knie zu beugen hätte, sondern das anhaltende Ge-
spräch, das zwischen allen Worten und allen gültigen Handlun-
gen geführt wird, wobei jedes von seinem Platz aus das andere
anficht und bestätigt, jedes alle anderen neu schafft. Der Appell
an das Urteil der Geschichte ist kein Appell an das Wohlgefallen
des Publikums und natürlich noch weniger ein Appell an die
weltliche Macht: Er ist eins mit der inneren Gewißheit, gesagt zu
haben, was in den Dingen darauf wartete, gesagt zu werden, und
was deshalb auf jeden Fall von irgend jemandem verstanden wer-
den wird … In hundert Jahren wird man mich lesen, denkt Stend-
hal. Das bedeutet, daß er gelesen werden will, aber auch, daß er
bereit ist, ein Jahrhundert zu warten, und daß seine Freiheit eine
Welt, die noch in ihren Anfängen steht, hervorruft, die ebenso frei
sein wird wie er, indem sie dasjenige als Erwerb anerkennt, was
ihm zu erfinden gegeben war. Jener reine Appell an die Geschichte
ist eine Anrufung der Wahrheit, die niemals durch eine histori-
sche Aufzeichnung geschaffen wird, diese aber als Wahrheit erfor-
dert. Nicht nur der Kunst oder der Literatur ist er eigen, er kenn-
zeichnet jedes menschliche Unterfangen. Abgesehen vielleicht
von einigen Unseligen, die nur gewinnen oder recht haben wol-
len, geistert durch jedes Handeln, jede Liebe die Erwartung eines
Berichts, der ihre Wahrheit hervortreten läßt, eines Augenblicks,
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 103

da man endlich weiß, was es damit auf sich hatte – ob es an


irgendeinem Tag, unter dem Vorwand der Achtung vor dem An-
deren, der Vorbehalt des einen war, der den Anderen endgültig
abgewiesen hat, ein Vorwand, den dieser fortan hundertfach auf
jenen zurückgeworfen hat, oder ob im Gegenteil von jenem Au-
genblick an die Würfel gefallen waren und jene Liebe unmöglich
geworden war … Vielleicht wird jene Erwartung immer in irgen-
deiner Form enttäuscht: Die Anleihen, die ein Mensch beim an-
deren macht, sind so häufig, daß jede Regung unseres Wollens
und Denkens seinen Aufschwung bei den Anderen nimmt, daß es
also nur in groben Zügen möglich ist, zu sagen, was auf jeden
einzelnen zurückgeht. Immerhin beseelt jener Wunsch eines voll-
ständigen Ausdrucks sowohl das Leben wie die Literatur, und
jenseits der unbedeutenderen Motive bewirkt er es, daß der
Schriftsteller gelesen werden will, daß der Mensch manchmal
zum Schriftsteller wird, daß er auf jeden Fall spricht, daß jeder
vor irgendeiner x-beliebigen Person von sich selbst Rechenschaft
ablegen will, was so viel heißt wie sein Leben und alle anderen
Leben als etwas denken, das in jeder Bedeutung des Wortes als
eine Geschichte erzählt werden kann. Die wahre Geschichte lebt
also ganz und gar von uns. Aus unserer Gegenwart schöpft sie die
Kraft, alles übrige wieder gegenwärtig werden zu lassen. Der An-
dere, den ich achte, lebt von mir wie ich von ihm. Eine Philoso-
phie der Geschichte nimmt mir keines meiner Rechte, keine mei-
ner Initiativen. Es trifft lediglich zu, daß sie meinen Verpflichtun-
gen als eines einzelnen jene Verpflichtung hinzufügt, andere
Situationen als die meine zu verstehen, zwischen meinem Leben
und dem der anderen einen Weg zu bahnen, das heißt mich aus-
zudrücken. Durch das kulturelle Handeln versetze ich mich in
Lebensformen, die nicht die meinen sind, ich vergleiche sie mit-
einander, bringe die eine gegenüber der anderen zum Ausdruck,
mache sie in einer Wahrheitsordnung untereinander verträglich,
werde selbst für alle verantwortlich und stifte ein universelles Le-
ben, so wie ich mich durch die lebendige und kompakte Gegen-
wart meines Leibes mit einem Schlag im Raum einrichte. Und wie
die Funktion des Leibes bleibt mir auch die der Worte und der
104 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

Malweisen verborgen: Die Wörter, die Striche, die Farben, die


mich ausdrücken, gehen von mir aus wie meine Gesten, sie wer-
den mir entlockt durch das, was ich sagen will, wie meine Gesten
durch das, was ich tun will. Insofern liegt in jedem Ausdruck eine
Spontaneität, die keine Anweisungen duldet, nicht einmal die, die
ich mir selbst geben wollte. Die Wörter versetzen wie in der Kunst
der Prosa den Sprecher und den Zuhörer in ein gemeinsames
Universum, indem sie sie durch ein Vermögen der Benennung,
das über die herkömmliche Definition hinausgeht, zu einer neuen
Bedeutung hinführen, durch das stumme Leben, das sie in uns
geführt haben und weiterhin in uns führen, durch dasjenige, was
Francis Ponge treffend ihre ›semantische Dichte‹ und Sartre ihren
›Bedeutungshumus‹ genannt haben. Diese Spontaneität der Spra- 46
che, die uns miteinander verbindet, ist keine Anweisung, wie die
Geschichte, die sie begründet, kein äußeres Idol ist: Wir selbst
sind die Geschichte mit unseren Wurzeln, unserem Drängen und
sozusagen mit den Früchten unserer Arbeit.
Wahrnehmung, Geschichte, Ausdruck – nur durch die Zusam-
menstellung dieser drei Problembereiche wird man die Analysen
von Malraux ihrem eigentlichen Sinn nach berichtigen können.
Zugleich aber wird man sehen, warum es legitim ist, die Male-
rei als eine Sprache zu behandeln: Diese Behandlung stellt einen
perzeptiven Sinn heraus, der in der sichtbaren Gestaltung ver-
borgen liegt und dennoch fähig ist, in einer immer wieder neu
zu schaffenden Ewigkeit eine Folge vorangegangener Ausdrücke
wiederherzustellen. Der Vergleich kommt nicht nur unserer
Analyse der Malerei zugute, sondern auch unserer Analyse der
Sprache. Denn er wird uns vielleicht unterhalb der gesproche-
nen Sprache noch eine andere, eine fungierende oder sprechende
Sprache entdecken lassen, deren Wörter von einem wenig be-
kannten Leben leben, sich vereinigen und sich trennen, wie es
ihre laterale oder indirekte Bedeutung verlangt, selbst wenn jene
Bezüge, sobald der sprachliche Ausdruck einmal vollendet ist, uns
evident erscheinen mögen. Die Transparenz der gesprochenen
Sprache, diese redliche Klarheit des Wortes, das nur Schall ist,
und des Sinnes, der nur Sinn ist, ihre scheinbare Eigenschaft, den
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 105

Sinn aus den Zeichen herauszuziehen und ihn im Reinzustand


zu isolieren (was vielleicht die einfache Vorwegnahme mehrerer
verschiedener Formulierungen ist, in denen er wirklich derselbe
bleiben würde), ihr vorgebliches Vermögen, in einem einzigen
Akt eine ganze Ausdrucksentfaltung zusammenzufassen und
wirklich in sich zu schließen, sollten sie nur der Gipfelpunkt ei-
ner stillschweigenden und impliziten Akkumulation derselben
Art wie der der Malerei sein?

*
Ein Roman drückt sich ebenso stillschweigend aus wie ein Ge-
mälde. Sein Sujet kann man ebenso wie das eines Gemäldes er-
zählen. Worauf es aber ankommt, ist nicht so sehr, daß Julien
Sorel, als er hört, daß Madame de Rênal ihn verraten hat, nach
Verrières geht und sie zu töten versucht, sondern vielmehr je-
nes Schweigen nach der Nachricht, jene Traumreise, jene ge-
dankenlose Gewißheit, jener endgültige Entschluß. Davon aber
wird nirgendwo gesprochen. Ein ›Julien dachte‹, ›Julien wollte‹ ist
unnötig. Um es auszudrücken, genügt es, daß sich Stendhal in
Julien hineinversetzt und die Gegenstände, Hindernisse, Mittel
und Zufälle in der Geschwindigkeit der Reise vor unseren Au-
gen erscheinen läßt. Es genügt, daß er sich entschließt, eine Seite
statt fünf Seiten lang zu erzählen. Jene Kürze, jenes ungewohnte
Verhältnis der nicht ausgesprochenen zu den ausgesprochenen
Dingen ergibt sich nicht einmal aufgrund einer Auswahl. Indem
Stendhal seine eigene Sensibilität gegenüber anderen befragt, hat
er für sie plötzlich einen imaginären Leib gefunden, der gewand-
ter ist als sein eigener, er hat wie in einem zweiten Leben selbst
die Reise nach Verrières unternommen nach dem Rhythmus
einer kühleren Leidenschaft, die für ihn das Sichtbare und das
Unsichtbare auswählte, das, was gesagt und das, was verschwie-
gen werden mußte. Der Wille zu töten findet sich deshalb nir-
gends in den Worten: Er ist zwischen ihnen, in den Höhlungen
des Raumes, der Zeit, der Bedeutungen, die sie umschreiben, wie
die Bewegung im Film zwischen den unbeweglichen Bildern, die
aufeinander folgen, liegt. Der Schriftsteller spricht mit seinem
106 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

Leser, wie jeder Mensch mit jedem Menschen, eine Sprache von
Eingeweihten: eingeweiht in die Welt, in das Universum von
Möglichkeiten, über die ein menschlicher Leib, ein menschliches
Leben verfügt. Was er zu sagen hat, setzt er als bekannt voraus,
er versetzt sich in das Verhalten einer Person und vermittelt dem
Leser nur deren Signatur, die unruhige und fortlaufende Spur
in der Umgebung. Wenn der Autor Schriftsteller ist, das heißt,
wenn er fähig ist, die Auslassungen und Zäsuren zu finden, die
das Verhalten prägen, antwortet der Leser auf seinen Appell und
trifft ihn im virtuellen Zentrum seines Werks, selbst wenn weder
der eine noch der andere es kennen. Der Roman als Ereignisbe-
richt, als Ausdruck von Ideen, Thesen oder Schlußfolgerungen,
als manifeste oder prosaische Bedeutung steht in einer einfachen
homonymen Beziehung zu dem Roman als Anwendung eines
Stils, als indirekte oder latente Bedeutung. Genau das hatte Marx
begriffen, als er sich Balzac zu eigen machte. Es handelte sich da-
bei keineswegs, man kann es glauben, um eine Rückkehr zum Li-
beralismus. Marx wollte sagen, daß eine bestimmte Art, die Welt
des Geldes und die Konflikte der modernen Gesellschaft sichtbar
zu machen, wichtiger sei als die Thesen, auch die politischen The-
sen, von Balzac und daß diese einmal erworbene Sicht mit oder
ohne die Zustimmung Balzacs zu Konsequenzen führen würde.
Mit Recht verurteilt man den Formalismus, aber man vergißt
gewöhnlich, daß sein Fehler nicht darin liegt, die Form zu über-
schätzen, sondern sie zu unterschätzen, insofern er sie nämlich
vom Sinn abtrennt. Darin unterscheidet er sich nicht von einer
Literatur des ›Sujets‹, die ebenso den Sinn des Werkes von sei-
ner Gestaltung trennt. Das eigentliche Gegenteil des Formalis-
mus ist eine gute Theorie des Stils oder der Rede, die sie über
die ›Technik‹ oder das ›Instrument‹ stellt. Die lebendige Rede ist
kein Mittel im Dienst eines äußeren Zweckes, sie trägt ihre An-
wendungsregel, ihre Moral und ihre Weltsicht in sich selbst, so
wie eine Geste manchmal die ganze Wahrheit eines Menschen
ausdrückt. Jener lebendige Gebrauch der Sprache, von dem der
Formalismus ebensowenig weiß wie die Literatur des ›Sujets‹,
ist die Literatur selbst als Forschung und Erwerb. Eine Sprache
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 107

nämlich, die nur die Dinge selbst zu reproduzieren suchte, wie


wichtig sie auch immer sein mögen, würde ihr Mitteilungsver-
mögen in bloßen Feststellungen erschöpfen. Eine Sprache da-
gegen, die unsere Perspektiven der Dinge wiedergibt und ihnen
Konturen verleiht, eröffnet eine Diskussion, die es nicht dabei
beläßt, sondern selbst zu Nachforschungen anregt. Das, was im
Kunstwerk unersetzbar ist, was aus ihm weit mehr als ein Mittel
des Vergnügens macht, nämlich ein Organ des Geistes, dessen
Analogon sich in jedem philosophischen oder politischen Den-
ken wiederfindet, sofern es schöpferisch ist, dieses Unersetzbare
liegt eben darin, daß es mehr als Ideen eine Ideenmatrix enthält,
daß es uns Sinnbilder liefert, deren Sinn wir nie endgültig ent-
wickeln werden, und daß es uns sehen lehrt – gerade weil es sich
und uns in eine Welt versetzt, deren Schlüssel wir nicht haben
– und uns zum Denken anregt, wie kein analytisches Werk es je
tun könnte, weil die Analyse im Objekt nur das wiederfindet, was
wir schon hineingelegt haben. Das Gewagte in der literarischen
Kommunikation und das Mehrdeutige, nicht auf eine These Re-
duzierbare ist nicht eine vorläufige Schwäche, von der man sie
zu befreien hoffen könnte, sondern der Preis, den es zu zahlen
gilt, um eine Literatur zu haben, das heißt eine erobernde Spra-
che, die uns in fremde Perspektiven einführt, anstatt uns in der
unseren zu bestätigen. Wir sähen nichts, wenn wir mit unseren
Augen nicht das Mittel hätten, in unbegrenzter Zahl räumliche
und farbliche Konfigurationen zu entdecken, zu befragen und
zu gestalten. Wir täten nichts, wenn wir mit unserem Leib nicht
das Mittel hätten, die Vorgänge in den Nervenbahnen und der
Bewegungsmuskulatur gleichsam zu überspringen, um zum Ziel
zu gelangen. Eine ähnliche Funktion erfüllt die literarische Spra-
che, in ähnlich gebieterischer Weise versetzt uns der Schriftsteller
kurzerhand ohne Übergänge oder Vorbereitungen aus der schon
bekannten Welt in eine andere. Und wie unser Leib uns durch
die Welt der Dinge nur führen kann, wenn wir ihn nicht ana-
lysieren, sondern ihn gebrauchen, so ist die Sprache nur dann
literarisch, das heißt schöpferisch, wenn wir ihr nicht mehr auf
Schritt und Tritt Rechtfertigungen abverlangen, sondern ihr auf
108 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

ihrem Wege folgen, wenn wir die Wörter und alle Ausdrucksmit-
tel eines Buches zu jenem Bedeutungshof entwickeln lassen, der
sich ihrer besonderen Anordnung verdankt, und wenn wir das
Geschriebene auf einen Wert zweiter Stufe hin ausrichten, wo es
fast die stumme Ausstrahlung der Malerei erreicht. Auch der Sinn
des Romans ist zunächst nur wahrnehmbar als eine kohärente
Verformung des Sichtbaren. Und er wird niemals auf eine andere
Weise wahrnehmbar sein. Die Kritik mag soviel sie will die Aus-
drucksweise eines Schriftstellers mit der eines anderen verglei-
chen und irgendeine Erzählweise in die Gruppe anderer mögli-
cher einordnen. Dieses Vorgehen ist nur dann legitim, wenn ihm
eine Wahrnehmung des Romans vorangegangen ist, bei der die
Besonderheiten der ›Technik‹ mit denen der Gesamtkonzeption
und des Sinnes untrennbar verbunden sind, und wenn es uns
dadurch nur das erklären will, was wir bereits wahrgenommen
haben. Ebenso wie der Steckbrief eines Gesichtes nicht ausreicht,
es sich vorzustellen, selbst wenn gewisse Merkmale genauer an-
gegeben werden, ersetzt die Sprache des Kritikers, der seinen
Gegenstand zu beherrschen vorgibt, nicht die des Schriftstellers,
der das Wahre aufzeigt oder es durchsichtig werden läßt, ohne es
zu berühren. Es ist dem Wahren wesentlich, sich von Anfang an
und für immer in einer Bewegung darzubieten, die unser Bild
der Welt zu einem Mehr an Sinn hin dezentriert, ausweitet und
führt. Auf diese Weise eröffnet die Hilfslinie, die wir in eine Figur
einzeichnen, den Weg zu neuen Bezügen, und so wirkt auch das
Kunstwerk und wird immer auf uns wirken, so lange es Kunst-
werke gibt.
Diese Bemerkungen sind indessen weit entfernt davon, un-
sere Frage erschöpfend zu beantworten: Es bleiben die exakten
Formen der Sprache, es bleibt die Philosophie. Man kann sich
fragen, ob deren Anspruch, das Gesagte wirklich in Besitz zu neh-
men und das durch die Literatur in unserer Erfahrung nur locker
Greifbare in den Griff zu bekommen, das Wesentliche der Spra-
che nicht gerade viel besser zum Ausdruck bringt. Dieses Problem
erforderte logische Analysen, für die hier kein Platz ist. Ohne es
vollständig abzuhandeln, können wir ihm wenigstens als Problem
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 109

einen Platz geben und zeigen, daß auf jeden Fall keine Sprache
sich ganz und gar von der Ungewißheit der stummen Ausdrucks-
formen befreit, daß keine Sprache ihre eigene Zufälligkeit auflöst
und sich darin aufbraucht, die Dinge selbst erscheinen zu lassen,
daß also in diesem Sinn das Privileg der Sprache gegenüber der
Malerei oder den Vollzügen des Lebens relativ bleibt und daß
schließlich der Ausdruck nicht eine jener Eigentümlichkeiten ist,
die der Geist einer Prüfung unterziehen kann, sondern daß der
Ausdruck die lebendige Existenz des Geistes ist.
Gewiß nimmt jemand, der sich zum Schreiben entschließt,
gegenüber der Vergangenheit eine Haltung ein, die nur ihm ei-
gen ist. Jede Kultur führt die Vergangenheit fort: Die Eltern von
heute sehen ihre Kindheit in der ihrer eigenen Kinder und neh-
men ihnen gegenüber die Verhaltensweisen ihrer eigenen Eltern
an. Oder aber sie fallen aus Groll ins gegenteilige Extrem; haben
sie eine autoritäre Erziehung erfahren, lassen sie ihre Kinder ganz
frei aufwachsen – und auf diesem Umweg stellen sie oft die Tra-
dition wieder her, da der Freiheitstaumel dem Kind den Boden
unter den Füßen nimmt, so daß es zum System der Sicherheit
zurückkehrt und 25 Jahre später selbst wieder zu einem autoritä-
ren Vater wird. Das Neue der Künste des Ausdrucks besteht dem-
gegenüber darin, daß sie der stummen Kultur aus ihrem tödli-
chen Kreislauf einen Ausweg eröffnen. Der Künstler begnügt sich
nicht mehr damit, die Vergangenheit durch Ehrfurcht oder Re-
volte fortzusetzen. Er beginnt seinen Versuch wieder von Grund
auf neu. Wenn der Maler zum Pinsel greift, so deshalb, weil in
gewisser Hinsicht die Malerei erst noch geschaffen werden muß.
Die Künste der Sprache aber gehen sehr viel weiter in der wirkli-
chen Schöpfung. Wenn die Malerei eben immer noch geschaffen
werden muß, so treten die noch zu schaffenden Werke des neuen
Malers zu den bereits fertiggestellten hinzu: Sie machen sie nicht
überflüssig, sie enthalten sie nicht ausdrücklich, sie rivalisieren
mit ihnen. Die gegenwärtige Malerei verleugnet in einer allzu
absichtsvollen Weise die Vergangenheit, um sich wirklich von ihr
lösen zu können: Sie kann sie nur vergessen, indem sie aus ihr
Gewinn schöpft. Indem sie alles, was vor ihr war, als einen ge-
110 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

scheiterten Versuch darstellt, läßt sie eine künftige Malerei ahnen,


die sie ihrerseits für einen gescheiterten Versuch ausgeben wird
– das ist der Preis für ihre Neuartigkeit. Die gesamte Malerei tritt
so als ein mißlungenes Unternehmen auf, etwas zu sagen, was
immer noch zu sagen bleibt. Wer schreibt, will zwar auch nicht
die Sprache einfach fortsetzen, aber er will sie ebensowenig durch
ein Idiom ersetzen, das sich wie das Gemälde selbst genügt und
in seiner inneren Bedeutung eingeschlossen bleibt. Wenn man so
will, zerstört er die gewöhnliche Sprache, indem er sie verwirk-
licht. Die gegebene Sprache, die ihn voll und ganz durchdringt
und die schon seinen geheimsten Gedanken eine allgemeine Ge-
stalt vorzeichnet, steht ihm nicht wie ein Feind gegenüber, sie ist
im Gegenteil ganz und gar bereit, alles, was er, der Schriftsteller,
von neuem bedeutet, zu ihrem Erwerb zu machen. Es ist, als wäre
sie für ihn geschaffen und er für sie, als ob die Aufgabe zu spre-
chen, zu der er sich genötigt sah, als er die Sprache erlernte, im
eigentlicheren Sinne er selbst wäre als sein Herzschlag, als ob die
instituierte Sprache mit ihm eine ihrer Möglichkeiten zur Exi-
stenz kommen ließe. Die Malerei erfüllt ein Gelübde der Vergan-
genheit, von dieser hat sie ihre Vollmacht, sie handelt in ihrem
Namen, aber sie enthält sie nicht auf eine manifeste Weise, sie ist
Gedächtnis für uns, wenn wir bereits anderswoher die Geschichte
der Malerei kennen, sie ist nicht Gedächtnis für sich und erhebt
nicht den Anspruch, dasjenige vollständig zu umgreifen, was sie
möglich gemacht hat. Der sprachliche Ausdruck hingegen, nicht
zufrieden damit, über die Vergangenheit hinauszugehen, will
diese wiederholen, zurückgewinnen, sie im Wesen fassen; und
da die Sprache uns die Vergangenheit nicht in ihrer Gegenwart
geben kann, außer wenn sie buchstäblich wiederholt würde, un-
terzieht sie die Vergangenheit einer Aufbereitung, die das Wesen
der Sprache ausmacht: Sie bietet uns ihre Wahrheit. Der sprachli-
che Ausdruck begnügt sich nicht damit, sich in der Welt Platz zu
verschaffen, indem er das Vergangene beiseite stößt. Er will das
Vergangene in seinem Geist oder in seinem Sinn erhalten. Er ver-
bindet sich also mit sich selbst, nimmt sich wieder auf und greift
sich wieder von neuem auf. Es gibt einen kritischen, philosophi-
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 111

schen, universalen Gebrauch der Sprache, der den Anspruch er-


hebt, die Dinge so zurückzugewinnen, wie sie sind, wohingegen
die Malerei sie in Malerei verwandelt – der alles wiedergewinnen
will, auch die Sprache selbst, und den Gebrauch, den andere Leh-
ren von ihr gemacht haben. Sobald es dem Philosophen um die
Wahrheit geht, glaubt er nicht, daß sie auf ihn gewartet hätte, um
wahr zu sein; er betrachtet sie als Wahrheit aller zu jeder Zeit. Es
ist der Wahrheit wesentlich, umfassend zu sein, was keine Malerei
jemals vorgegeben hat. Der Geist der Malerei erscheint nur im
Museum, weil es ein Geist ist, der außerhalb seiner selbst auftritt.
Das Wort hingegen sucht sich zu besitzen, in das Geheimnis sei-
ner eigenen Erfindung einzudringen; der Mensch malt die Male-
rei nicht, aber er spricht über das Wort, und der Geist der Sprache
will alles nur aus sich selbst heraus haben. Das Bild legt seinen
Zauber von vornherein in eine träumerische Ewigkeit, von ihm
können wir uns viele Jahrhunderte später mühelos gefangenneh-
men lassen, selbst ohne die Geschichte der Kleider, des Mobiliars,
der Utensilien, der Zivilisation zu kennen, von der es geprägt ist.
Das geschriebene Wort dagegen bietet uns seinen dauerhaftesten
Sinn nur mittels einer ganz bestimmten Geschichte dar, von der
wir einige Kenntnis haben müssen. Pascals Lettres provinciales
vergegenwärtigen die theologischen Diskussionen des 17. Jahr-
hunderts, Stendhals Le Rouge et le Noir die Finsternis der Restau-
rationsepoche. Aber diesen unmittelbaren Zugang zum Dauer-
haften, den die Malerei sich gönnt, bezahlt sie seltsamerweise,
indem sie, weit mehr als das geschriebene Wort, der Bewegung
der Zeit unterliegt. In unsere Betrachtung von Gemälden mischt
sich ein Vergnügen am Anachronismus, während Stendhal und
Pascal uns ganz gegenwärtig sind. In eben dem Maße, wie die
Literatur auf die scheinheilige Zeitlosigkeit der Kunst verzichtet,
wie sie sich wacker mit der Zeit herumschlägt, sie zeigt, anstatt
sie nur vage zu beschwören, geht sie siegreich aus ihr hervor und
verwandelt sie in Sinn. Soviel die Statuen von Olympia dazu bei-
tragen, uns für Griechenland einzunehmen, so nähren sie doch
in dem Zustand ihrer Überlieferung – verwittert, zerbröckelt,
von dem Gesamtwerk getrennt – einen trügerischen Mythos vom
112 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

Griechentum, denn sie vermögen der Zeit nicht wie ein Manu-
skript zu widerstehen, selbst wenn es unvollständig, zerrissen
oder fast unleserlich ist. Der Text des Heraklit läßt für uns Blitze
aufleuchten, wie keine zerstückelte Statue es vermag, weil in ihm
die Bedeutung in anderer Art aufbewahrt, auf eine andere Weise
konzentriert ist als in jenen, und weil nichts der Elastizität des
Wortes gleichkommt. Kurz, die Sprache spricht, und die Stim-
men der Malerei sind die Stimmen des Schweigens.
Es ist die Aussage, die die Sache selbst enthüllen will, sie über-
schreitet sich auf ihre Bedeutung hin. Jedes Wort kann seinen
Sinn noch so sehr von allen anderen beziehen, wie Saussure er-
klärt; in dem Augenblick, wo es auftritt, wird die Aufgabe des
Ausdrückens nicht weiter aufgeschoben, auf andere Wörter ver-
wiesen: Sie ist ausgeführt, und wir verstehen etwas. Saussure kann
wohl zeigen, daß jede Ausdruckshandlung nur als Modulation
eines allgemeinen Ausdruckssystems bedeutsam wird, insofern
sie sich von anderen sprachlichen Gesten differenziert – aber das
Wunder bleibt, daß wir vor Saussure nichts davon wußten und es
auch jedesmal, wenn wir sprechen, wieder vergessen, auch dann,
wenn wir über die Ideen von Saussure sprechen. Das beweist, daß
jeder einzelne Ausdrucksakt, als ein Teil der ganzen Sprache, sich
nicht darauf beschränkt, die in ihr angesammelten Ausdrucks-
kräfte zu verausgaben; in jedem Akt wird vielmehr das Ganze der
Sprache immer wieder von neuem erzeugt, indem er uns in der
Evidenz des gegebenen und übernommenen Sinnes die Fähigkeit
der Sprechenden bezeugt, die Zeichen in Richtung auf den Sinn
hin zu überschreiten. Für uns rufen die Zeichen nicht nur fort-
während andere Zeichen hervor, die Sprache ist kein Gefängnis,
in dem wir eingeschlossen sind, sie ist kein Führer, dem wir blind
zu folgen hätten, weil im Schnittpunkt aller sprachlichen Gesten
schließlich das erscheint, was sie sagen wollen; und dazu gewäh-
ren sie uns einen so vollständigen Zugang, daß wir meinen, ihrer
nicht mehr zu bedürfen, um uns darauf zu beziehen. Wenn man
also die Sprache mit den stummen Ausdrucksformen vergleicht
– mit der Geste, mit der Malerei –, so muß man hinzufügen, daß
sie sich nicht wie jene damit begnügt, auf der Oberfläche der
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 113

Welt Richtungen, Vektoren, eine ›kohärente Verformung‹, einen


stummen Sinn einzuzeichnen – nach Art der tierischen ›Intelli-
genz‹, die sich darin erschöpft, wie in einem Kaleidoskop neue
Handlungsbereiche hervorzubringen. Wir haben es hier nicht
nur mit der Vertretung eines Sinnes durch einen anderen zu tun,
sondern mit einer Ersetzung von gleichwertigen Sinnen; die neue
Struktur erweist sich als schon in der alten enthalten, diese be-
steht in ihr fort, die Vergangenheit ist jetzt begriffen …
Daß die Sprache auf eine vollständige Akkumulation aus ist,
ist gewiß, und das jeweilig gesprochene Wort stellt den Philo-
sophen vor das Problem jener provisorischen Inbesitznahme,
die vorläufig, aber nicht nichts ist. Doch könnte die Sprache die
Sache selbst nur dann preisgeben, wenn sie aufhörte, der Zeit
und einer Situation verhaftet zu sein. Hegel glaubt als einziger,
daß sein System die Wahrheit aller anderen enthalte und daß der,
der sie durch seine Synthese nicht erkenne, sie überhaupt nicht
erkennen könne. Selbst wenn Hegel von Anfang bis Ende wahr
wäre, so würde uns doch nichts der Verpflichtung entheben, die
›Vorhegelianer‹ zu lesen, denn er kann sie nur enthalten ›in dem,
was sie bejahen‹. Durch das, was sie verneinen, zeigen sie dem
Leser eine andere Situation des Denkens, die bei Hegel nicht aus-
drücklich, ja überhaupt nicht anzutreffen ist; von hier aus zeigt
sich Hegel unter einem Aspekt, von dem er selbst nichts weiß.
Hegel glaubt als einziger, er habe kein Sein-für-Andere und sei
in den Augen der Anderen genau dasjenige, was er von sich selbst
weiß. Selbst wenn man zugibt, daß es einen Fortschritt von den
anderen Philosophen zu Hegel gibt, findet vielleicht in dem ein
oder anderen Gedankengang der Meditationen Descartes’ oder
der Dialoge Platons – gerade wegen der ›Naivitäten‹, die diese
noch von der Hegelschen Wahrheit trennen – ein Kontakt mit
den Dingen statt, trifft man einen Funken von Sinn, den man
bei Hegel nur wiederfinden kann, wenn man ihn vorher bei
jenen gefunden hat und auf die man immer wird zurückgrei-
fen muß, und wäre es nur, um Hegel zu verstehen. Hegel, das
ist das Museum, das sind alle Philosophien, wenn man so will,
aber sie wurden ihrer Endlichkeit und ihrer Durchschlagskraft
114 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

beraubt, sie sind einbalsamiert und, wie er meint, in sich selbst


verwandelt, in Wahrheit jedoch wurden sie in ihn verwandelt.
Es genügt zu sehen, wie eine Wahrheit verkümmert, wenn sie
in eine andere integriert wird – wie zum Beispiel das ›Cogito‹,
indem es von Descartes auf die Cartesianer kommt, fast zu einem
Ritual wird, das man geistesabwesend wiederholt –, um einzuse-
hen, daß die Synthese nicht wirklich alle vergangenen Gedanken
enthält, daß sie nicht all das ist, was jene gewesen sind, und daß
sie schließlich niemals zugleich eine Synthese an und für sich
ist, das heißt eine Synthese, die gleichzeitig ist und erkennt, ist,
was sie erkennt, erkennt, was sie ist, bewahrt und aufhebt, ver-
wirklicht und zerstört. Wenn Hegel sagen will, daß die Vergan-
genheit in dem Maße, wie sie sich entfernt, sich in ihren Sinn
verwandelt und daß wir nachträglich eine einsichtige Geschichte
des Denkens aufzeichnen können, so hat er recht, aber nur un-
ter der Bedingung, daß in jener Synthese ein jedes Glied zum
gegebenen Zeitpunkt das Ganze der Welt repräsentiert, und daß
die Verkettung der Philosophien sie alle wie offene Bedeutungen
an ihrem Platz beläßt und zwischen ihnen ein Austausch von
Antizipationen und Metamorphosen möglich bleibt. Der Sinn
der Philosophie ist der Sinn einer Genese, er läßt sich folglich
nicht von einem Punkt außerhalb der Zeit vollständig umgreifen,
sondern er bleibt Ausdruck. Um so mehr kann der Schriftsteller,
außerhalb der Philosophie, nur durch den Gebrauch der Spra-
che und nicht jenseits der Sprache das Gefühl haben, die Dinge
selbst zu erreichen. Mallarmé selbst weiß sehr wohl, daß nichts
aus seiner Feder käme, wenn er seinem Vorhaben, restlos alles
zu sagen, absolut treu bliebe und daß er nur deshalb hat über-
sichtliche Bücher schreiben können, weil er auf das eine Buch
verzichtet hat, das ihm alle anderen erspart hätte. Die Bedeu-
tung ohne jedes Zeichen, die Sache selbst – dieses Höchstmaß an
Klarheit wäre gleichbedeutend mit dem Verlust aller Klarheit und
das, was wir an Klarheit gewinnen können, liegt nicht am Anfang
der Sprache wie ein goldenes Zeitalter, sondern am Ende ihres
Einsatzes. Auch wenn die Sprache und das System der Wahrheit
das Gravitationszentrum unseres Lebens versetzen, indem sie
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 115

uns veranlassen, unsere Tätigkeiten nacheinander aufzunehmen


und miteinander zu kreuzen, so daß jede einzelne in alle ande-
ren übergeht und von den jeweiligen Formulierungen, die uns
zunächst gegeben sind, unabhängig erscheinen – wenn sie eben
dadurch die anderen Ausdrucksoperationen als ›stumm‹ und un-
tergeordnet erscheinen lassen, so geschieht dies doch nicht ohne
Vorbehalt, und der Sinn wird durch das Gefüge der Worte eher
impliziert, als daß er durch sie bezeichnet würde.
Von der Beziehung zwischen Sprache und Sinn muß man also
sagen, was Simone de Beauvoir von der Beziehung zwischen Leib
47 und Seele sagt: In dieser Beziehung gibt es nichts Primäres oder
Sekundäres. Niemand hat jemals den Leib zum bloßen Instru-
ment oder Mittel gemacht, noch jemals behauptet, daß man auf
Grund von Prinzipien lieben könne. Und da es ebensowenig der
Körper allein ist, der liebt, kann man sagen, er macht alles und
er macht nichts, sind wir es und sind wir es doch nicht. Weder
Zweck noch Mittel, immer in Angelegenheiten verstrickt, die ihn
überschreiten, jedoch immer eifersüchtig auf seine Autonomie
bedacht, ist er mächtig genug, sich jedem nur erdachten Zweck
entgegenzustellen, aber er hat uns keinen anderen anzubieten,
wenn wir uns schließlich an ihn wenden und ihn befragen.
Manchmal jedoch, und dann haben wir das Gefühl, wir selbst zu
sein, läßt er sich beseelen, nimmt ein Leben an, das nicht nur das
seine ist. Dann ist er glücklich und spontan, und wir mit ihm.
Ebenso steht die Sprache weder im Dienste des Sinnes, noch ist
sie seiner Herr. Sprache und Sinn sind einander nicht unterge-
ordnet, niemand befiehlt und niemand gehorcht. Was wir sagen
wollen, haben wir nicht außerhalb des Wortes als reine Bedeu-
tung vor uns. Es ist nur der Überschuß dessen, was wir erleben,
gegenüber dem, was schon gesagt worden ist. Wir richten uns
mit unserem Ausdrucksapparat in einer Situation ein, für die er
sensibel ist, konfrontieren ihn mit ihr, und unsere Äußerungen
sind nur die Schlußbilanz dieses Austauschs. Selbst das politische
Denken hat diesen Charakter: Es ist immer die Aufklärung einer
historischen Wahrnehmung, in die all unsere Kenntnisse, all un-
sere Erfahrungen und all unsere Werte zugleich hineinspielen,
116 Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens

und zu der unsere Thesen nur die schematische Formulierung


liefern. Jede Handlung und jede Erkenntnis, die diesen Prozeß
nicht durchlaufen haben, und die Werte setzen wollen, die nicht
in unserer individuellen oder kollektiven Geschichte Gestalt an-
genommen haben, oder, was auf dasselbe hinausläuft, die die
entsprechenden Mittel durch einen Kalkül oder ein ganz und gar
technisches Verfahren auswählen wollen, fallen hinter die Pro-
bleme, die sie lösen wollten, zurück. Das persönliche Leben, der
Ausdruck, die Erkenntnis und die Geschichte schreiten indirekt
voran, sie kommen nicht geradlinig zu Zielen oder Begriffen. Was
man allzu absichtsvoll sucht, das erreicht man nicht. Dagegen
wird derjenige Ideen und Werte nicht verfehlen, der in der Lage
war, in einer lebendigen Besinnung ihren spontanen Ursprung
freizulegen.
1 Ü BE R DI E PH Ä NOM E NOL O GI E DE R S PR AC H E 1

I. Husserl und das Problem der Sprache

Gerade weil das Problem der Sprache in der philosophischen


Tradition nicht zur Ersten Philosophie gehört, findet Husserl zu
ihm einen freieren Zugang als zu den Problemen der Wahrneh-
mung oder der Erkenntnis. Er verleiht ihm einen zentralen Rang,
und das wenige, was er dazu äußert, ist originell und rätselhaft.
Mehr als jedes andere erlaubt dieses Problem also, die Phäno-
menologie zu befragen und dabei Husserl nicht nur zu wieder-
holen, sondern sein Bemühen erneut zu beginnen, und mehr
noch als seine Thesen die Bewegung seiner Reflexion aufzu-
greifen.
Der Gegensatz zwischen bestimmten älteren und neueren Tex-
2 ten ist frappierend. In der vierten der Logischen Untersuchungen
trägt Husserl die Idee einer Eidetik der Sprache und einer uni-
versalen Grammatik vor, welche die für jede Sprache, wenn sie
denn Sprache sein soll, unverzichtbaren Bedeutungsformen fest-
legten und erlauben würden, die empirischen Sprachen in voller
Deutlichkeit als ›verworrene‹ Realisierungen der idealen Sprache
zu denken. Dieses Projekt geht davon aus, daß die Sprache eines
der Objekte sei, die das Bewußtsein auf souveräne Weise kon-
stituiert, und daß die aktuellen Sprachen besondere Fälle einer
möglichen Sprache seien, deren Geheimnis allein vom Bewußt-
sein bewahrt wird – Zeichensysteme, die mit ihrer Bedeutung, in
ihrer Struktur ebenso wie in ihrer Funktionsweise, durch die ein-
deutigen und geeigneten Bezüge einer vollständigen Erklärung
verbunden sind. Indem sie solchermaßen als Objekt dem Denken
gegenübergestellt wird, könnte die Sprache im Hinblick auf das

1 Beitrag anläßlich des ersten Internationalen Kolloquiums der Phäno-

menologie, Brüssel 1951.


118 Über die Phänomenologie der Sprache

Denken nur die Rolle einer Begleiterscheinung, eines Substituts,


einer Gedächtnisstütze oder eines Hilfsmittels der Kommunika-
tion spielen.
Demgegenüber erscheint die Sprache in jüngeren Texten wie
eine ursprüngliche Art und Weise, bestimmte Objekte ins Auge
zu fassen, wie der Leib des Denkens (Formale und transzenden-
tale Logik2) oder sogar wie jene Operation, durch welche die 3
Gedanken, die ohne sie private Phänomene blieben, einen in-
tersubjektiven Wert und letztlich eine ideale Existenz erlangen
(Ursprung der Geometrie 3). Das philosophische Denken, das 4
über die Sprache reflektiert, wäre von nun an Nutznießer der
Sprache, es wäre von ihr umhüllt und in ihr situiert. Pos (Phéno-
ménologie et linguistique, Revue Internationale de philosophie,
1939) bestimmt die Phänomenologie der Sprache nicht als eine 5
Bemühung, die bestehenden Sprachen wieder in den Rahmen
einer Eidetik jeder möglichen Sprache einzufügen, das heißt sie

2 »Diese aber (sc.: die Meinung) liegt nicht äußerlich neben den

Worten; sondern redend vollziehen wir fortlaufend ein inneres, sich mit
den Worten verschmelzendes, sie gleichsam beseelendes Meinen. Der
Erfolg dieser Beseelung ist, daß die Worte und die ganzen Reden in
sich eine Meinung gleichsam verleiblichen und verleiblicht in sich als Sinn
tragen« (S. 20).
3 »Objektives Dasein ›in der Welt‹, das als solches zugänglich ist für

jedermann, kann aber die geistige Objektivität des Sinngebildes letzt-


lich nur haben vermöge der doppelschichtigen Wiederholungen und
vornehmlich der sinnlich verkörpernden. In der sinnlichen Verkörperung
geschieht die ›Lokalisation‹ und ›Temporalisation‹ von Solchem, das
seinem Seinssinn nach nicht-lokal und nicht-temporal ist… Wir fragen
nun: … Wie macht die sprachliche Verleiblichung aus dem bloß inner-
subjektiven Gebilde, dem Gedanken, das objektive, das etwa als geome-
trischer Begriff oder Satz in der Tat für jedermann und in aller Zukunft
verständlich da ist? Auf das Problem des Ursprunges der Sprache in
ihrer idealen und durch Äußerung und Dokumentierung begründeten
Existenz in der realen Welt wollen wir hier nicht eingehen, obschon wir
uns bewußt sind, daß eine radikale Aufklärung der Seinsart der ›idealen
Sinngebilde‹ hier ihren tiefsten Problemgrund haben muß« (Revue Inter-
nationale de philosophie, 1939, S. 210).
Über die Phänomenologie der Sprache 119

vor einem konstituierenden, universalen und zeitlosen Bewußt-


sein zu objektivieren, sondern als Rückkehr zum sprechenden
Subjekt, zu meiner Berührung mit der Sprache, die ich spreche.
Der Gelehrte und der Beobachter sehen die Sprache in der Ver-
gangenheit. Sie bedenken die lange Geschichte einer Sprache, mit
all den Zufällen, all den Sinnverschiebungen, die aus ihr letztlich
das gemacht haben, was sie heute ist. So wird unverständlich,
wie die Sprache, als Ergebnis so vieler Zufälle, irgend etwas ohne
jede Zweideutigkeit sollte bedeuten können. Indem er die Spra-
che als fait accompli, als Residuum vergangener Bedeutungsakte
und als Aufzeichnung bereits erworbener Bedeutungen begreift,
verfehlt der Gelehrte unweigerlich die eigentliche Klarheit des
Sprechens, die Fülle des Ausdrucks. Aus phänomenologischer
Sicht, das heißt für das sprechende Subjekt, das sich seiner Spra-
che als Mittel der Kommunikation in einer Lebensgemeinschaft
bedient, findet die Sprache zu ihrer Einheit zurück: Sie ist nicht
mehr das Ergebnis einer chaotischen Vergangenheit unabhängi-
ger linguistischer Fakten, sondern ein System, dessen Elemente
alle zu einem einzigartigen Ausdrucksbemühen beitragen, das
der Gegenwart oder der Zukunft zugewandt ist und folglich von
einer aktuellen Logik gesteuert wird.
Unter Vorgabe dieses von Husserl im Hinblick auf die Sprache
gesetzten Ausgangs- und Zielpunktes möchten wir einige Aus-
führungen zur Diskussion stellen, die zunächst das Phänomen
der Sprache und anschließend den Begriff der Intersubjektivität,
der Rationalität sowie jener Philosophie berühren, die von dieser
Phänomenologie impliziert wird.

II. Das Phänomen der Sprache

I. Die Sprache und das Sprechen

Können wir die beiden Perspektiven auf die Sprache, die wir
gerade voneinander unterschieden haben, einfach nebeneinan-
derstellen – die Sprache als Objekt des Denkens und die Sprache
120 Über die Phänomenologie der Sprache

als mir eigene? Genau dies tat zum Beispiel Saussure, wenn er
zwischen einer synchronen Linguistik des Sprechens und einer
diachronen Linguistik der Sprache unterschied, die nicht in der 6
jeweils anderen aufgehen, da eine panchrone Sicht unweigerlich
die Ursprünglichkeit des Gegenwärtigen auslöschen würde. Aus
denselben Gründen beschränkt sich Pos darauf, abwechselnd
die objektive und die phänomenologische Haltung zu beschrei-
ben, ohne sich über ihre Beziehung zueinander zu äußern. Man
könnte nun glauben, daß die Phänomenologie sich von der Lin-
guistik nur in dem Maße unterscheidet, wie die Psychologie von
der Sprachwissenschaft unterschieden ist: Die Phänomenologie
fügte der Sprachkenntnis die Erfahrung der Sprache in uns hinzu,
so wie die Pädagogik der Kenntnis der mathematischen Begriffe
die Erfahrung dessen hinzufügt, was aus diesen im Geist derer
wird, die sie erlernen. Die Erfahrung des Sprechens könnte uns
also nichts über das Sein der Sprache beibringen, sie hätte keine
ontologische Relevanz.
Genau dies ist jedoch unmöglich. Sobald man neben der ob-
jektiven Wissenschaft der Sprache eine Phänomenologie des
Sprechens erkennt, setzt man eine Dialektik in Gang, durch die
beide Disziplinen miteinander in Verbindung treten.
Zunächst einmal schließt der ›subjektive‹ Standpunkt den ›ob-
jektiven‹ Standpunkt ein; die Synchronie schließt die Diachronie
ein. Die Vergangenheit der Sprache hat damit begonnen, eine
Gegenwart zu sein, die Serie der zufälligen linguistischen Fak-
ten, die in der objektiven Sicht betont werden, verkörpert sich in
einer Sprache, die in jedem Augenblick ein System mit innerer
Logik war. Wenn also die Sprache, im Querschnitt betrachtet, ein
System ist, dann muß sie dies auch im Verlauf ihrer Entwicklung
sein. Saussure mag noch so sehr an der Dualität der Perspektiven
festhalten, seine Nachfolger können doch nicht umhin, mit dem
sublinguistischen Schema (Gustave Guillaume) ein vermittelndes 7
Prinzip in ihre Überlegungen einzuführen.
In anderer Hinsicht schließt die Diachronie die Synchronie
ein. Wenn die Sprache, im Längsschnitt betrachtet, Zufälle ent-
hält, dann muß das System der Synchronie in jedem einzelnen
Über die Phänomenologie der Sprache 121

Augenblick Risse enthalten, an denen es dem rohen Ereignis ge-


lingen kann, sich einzufügen.
Wir stehen also vor einer zweifachen Aufgabe.
a) Wir müssen einen Sinn im Werden der Sprache finden, wir
müssen ihn wie einen Ausgleich innerhalb der Bewegung auf-
fassen. Im Hinblick auf bestimmte Formen des Ausdrucks, die
allein dadurch in Verfall geraten, daß sie verwendet wurden und
ihre ›Ausdrucksfähigkeit‹ verloren haben, wird beispielsweise zu
zeigen sein, wie die so geschaffenen Lücken oder geschwächten
Zonen auf seiten der sprechenden Subjekte, die kommunizieren
wollen, zu einer Wiederaufnahme der sprachlichen Bruchstücke
führen, die das in Regression befindliche System hinterlassen
hat, und ihrer Verwendung gemäß zu einem neuen Prinzip. Auf
diese Weise bildet sich in der Sprache ein neues Ausdrucksmittel
heraus, und eine eigensinnige Logik durchzieht die Auswirkun-
gen des Verschleißes und selbst der Redseligkeit der Sprache. Auf
dieselbe Weise hat sich auch das auf die Präposition gegründete
Ausdruckssystem des Französischen an die Stelle des auf der De-
klination und den Wechseln der Flexion beruhenden Ausdrucks-
systems des Lateinischen setzen können.
b) Korrelativ dazu müssen wir verstehen, daß bei der Syn-
chronie, da sie nur ein Querschnitt der Diachronie ist, das in ihr
realisierte System nie vollständig verwirklicht ist, es trägt immer
latent oder im Keim vorhandene Veränderungen in sich, es setzt
sich niemals nur aus absolut eindeutigen Bedeutungen zusam-
men, die sich aus dem Blickwinkel eines konstituierenden trans-
parenten Bewußtseins vollständig darlegen ließen. Es wird sich
dabei nicht um ein System klar gefügter Bedeutungsformen han-
deln, auch nicht um ein Gebäude linguistischer Ideen, das nach
einem strengen Plan errichtet wurde, sondern um ein Ensemble
konvergierender sprachlicher Gesten, unter denen jede einzelne
weniger durch eine Bedeutung als durch einen Gebrauchswert
definiert sein wird. Statt daß die einzelnen Sprachen wie die
›verworrene‹ Realisierung bestimmter idealer und universaler
Bedeutungsformen erscheinen, wird nun die Möglichkeit einer
solchen Synthese problematisch. Wenn eine Universalität erreicht
122 Über die Phänomenologie der Sprache

wird, dann nicht auf dem Wege einer universalen Sprache, die
aus der Verschiedenheit der Sprachen ins Diesseits zurückkehren
würde, um uns die Grundlagen jeder möglichen Sprache zu lie-
fern, sondern auf dem krummen Pfad jener bestimmten Sprache,
die ich spreche und die mich in das Ausdrucksphänomen auch
zu jedweder anderen Sprache, die ich zu sprechen lerne und die
den Akt des Ausdrückens in ganz anderem Stil vollzieht, einführt.
Beide Sprachen, und letztlich alle gegebenen Sprachen, sind da-
bei unter Umständen nur am Ende des Weges und als Totalitäten
vergleichbar, ohne daß man in ihnen die gemeinsamen Elemente
einer einzigen kategorialen Struktur erkennen könnte.
Statt daß man also eine Sprachpsychologie und eine Sprach-
wissenschaft nebeneinanderstellen könnte, indem man der ersten
die gegenwärtige Sprache vorbehält, der zweiten hingegen die ver-
gangene Sprache, breitet sich die Gegenwart in der Vergangenheit
als einer gewesenen Gegenwart aus, und die Geschichte ist die
Geschichte sukzessiver Synchronien – so daß auch die Kontin-
genz der sprachlichen Vergangenheit bis in das synchrone System
hineinreicht. Was mir durch die Phänomenologie der Sprache
beigebracht wurde, ist nicht nur eine psychologische Neugier:
Die Sprache der Linguisten in mir, mit den Besonderheiten, die
ich ihr hinzufüge – es ist eine neue Vorstellung vom Sein der
Sprache, die nun in der Kontingenz logisch und ein ausgerich-
tetes System ist und die dennoch stets die Zufälle zu verarbeiten
sucht, als Wiederaufnahme des Zufälligen in einer sinnhaften
Totalität, als inkarnierte Logik.

II. Die Quasi-Leiblichkeit des Signifikanten

Wenn wir auf die gesprochene oder lebendige Sprache zurück-


kommen, so entdecken wir, daß ihr Ausdruckswert nicht die
Summe der Ausdruckswerte ist, die etwa jedes Element der ›ver-
balen Kette‹ für sich besitzt. Im Gegenteil, diese Elemente bilden 8
in dem Sinne in der Synchronie ein System, daß jedes von ihnen
nur seinen Unterschied gegenüber den anderen bedeutet – die
Über die Phänomenologie der Sprache 123

Zeichen sind, wie Saussure sagt, im wesentlichen ›diakritisch‹ –,


und da dies für alle Elemente gilt, gibt es in der Sprache nur Be-
deutungsunterschiede. Wenn sie schließlich etwas sagen will und
sagt, dann ist es nicht etwa so, daß jedes Zeichen eine ihm eigene
Bedeutung transportiert, sondern vielmehr so, daß sie alle zu-
sammen auf eine stets aufgeschobene Bedeutung anspielen, wenn
man sie einzeln betrachtet, und ich überschreite die Zeichen in
Richtung dieser Bedeutung, ohne daß sie sie jemals enthalten.
Jedes von ihnen bringt nur durch den Verweis auf eine bestimmte
geistige Ausstattung, auf eine bestimmte Einrichtung unserer
kulturellen Utensilien zum Ausdruck, und alle zusammen sind
sie wie ein leeres Formular, das noch nicht ausgefüllt wurde, wie
die Gesten eines Anderen, die auf einen Gegenstand der Welt,
den ich nicht sehe, gerichtet sind und ihn umschreiben.
Die Sprechfähigkeit, die sich das Kind aneignet, indem es seine
Sprache erlernt, ist nicht die Summe der morphologischen, syn-
taktischen und lexikalischen Bedeutungen: Diese Kenntnisse
sind weder notwendig noch hinreichend, um eine Sprache zu
erwerben, und der Sprechakt setzt, sobald er einmal erlernt ist,
keinerlei Vergleich zwischen dem voraus, was ich ausdrücken
will, und dem begrifflichen Arrangement der von mir verwen-
deten Ausdrucksmittel. Die Wörter und die nötigen Wendun-
gen, um meine Bedeutungsintention auszudrücken, empfehlen
sich mir beim Sprechen nur durch das, was Humboldt die innere
9 Sprachform nannte (und was man etwas moderner den Wortbegriff
nennt), das heißt durch einen bestimmten Stil des Sprechens,
aus dem sie hervorgehen und der sie organisiert, ohne daß ich
sie mir vorstellen müßte. Es gibt eine ›sprachliche‹ Bedeutung
der Sprache, die vollständig zwischen meiner noch stummen
Intention und den Wörtern vermittelt, und zwar so, daß meine
Worte mich selbst überraschen und mich mein Denken lehren.
Die organisierten Zeichen haben ihren immanenten Sinn, der
nicht aus dem »Ich denke«, sondern aus dem »Ich kann« hervor-
10 geht.
Diese Aktion auf Distanz der Sprache, welche die Bedeutun-
gen trifft, ohne sie zu berühren, und diese Beredsamkeit, die sie
124 Über die Phänomenologie der Sprache

auf unwiderrufliche Weise bezeichnet, ohne sie jemals in Wörter


zu verwandeln oder das Schweigen des Bewußtseins zu beenden,
sie sind ein ausgezeichneter Fall von leiblicher Intentionalität. Ich
habe ein unwiderlegbares Bewußtsein von der Reichweite meiner
Gesten oder von der Räumlichkeit meines Körpers, das es mir er-
laubt, mit der Welt in verschiedenen Beziehungen zu stehen, ohne
mir die Gegenstände, die ich ergreifen werde, oder die Größen-
verhältnisse zwischen meinem Körper und den Wegen der Annä-
herung, die mir die Welt anbietet, thematisch vorzustellen. Unter
der Bedingung, daß ich nicht ausdrücklich über es nachdenke, ist
das Bewußtsein, das ich von meinem Körper habe, unmittelbar
bedeutsam im Hinblick auf eine bestimmte, mich umgebende
Landschaft, es ist jenes Bewußtsein, das ich durch meine Finger
von einer gewissen faserigen oder körnigen Beschaffenheit des
Gegenstandes habe. Auf dieselbe Art und Weise trägt das gespro-
chene Wort, das ich äußere oder das ich höre, eine Bedeutung
in sich, die in der Textur der sprachlichen Geste selbst ablesbar
ist, und zwar in dem Maße, daß ein Zögern, eine Veränderung
der Stimme oder die Auswahl einer bestimmten Syntax ausreicht,
um sie zu modifizieren. Und dennoch ist die Bedeutung nie ganz
in dieser sprachlichen Geste enthalten, jeder Ausdruck erscheint
stets nur wie eine Spur, keine Idee ist mir nur in Transparenz
gegeben, und jedes Bemühen, unsere Hand über jenem Denken
zu schließen, das dem gesprochenen Wort innewohnt, hinterläßt
nur einen Rest Wortmaterial zwischen unseren Fingern.

III. Die Beziehung vom Bezeichnenden zum Bezeichneten.


Die Sedimentierung.

Wenn das gesprochene Wort einer Geste vergleichbar ist, dann


steht das, was es ausdrücken soll, zu ihm in derselben Beziehung
wie das Ziel in Beziehung zu der Geste steht, die es anvisiert, und
unsere Bemerkungen über die Wirkungsweise des Bedeutungs-
apparates bringen bereits eine bestimmte Theorie der Bedeutung
mit sich, die das gesprochene Wort ausdrückt. Meine körperliche
Über die Phänomenologie der Sprache 125

Ausrichtung auf die mich umgebenden Dinge ist implizit und


verlangt nach keiner Thematisierung, keiner ›Repräsentation‹
meines Körpers oder der Umwelt. Die Bedeutung belebt das ge-
sprochene Wort, so wie die Welt meinen Körper belebt: durch
eine verborgene Gegenwart, die meine Absichten weckt, ohne
sich vor ihnen ganz zu entfalten. Die Bedeutungsintention in mir
(wie auch bei dem Zuhörer, der sie wiederfindet, indem er mir
zuhört) ist in diesem Augenblick, und selbst wenn sie später in
›Gedanken‹ ihre Früchte tragen soll, nur eine determinierte Leer-
stelle, die mit Wörtern zu füllen ist – der Überschuß dessen, was
ich sagen will, über das, was gesagt wird oder was bereits gesagt
wurde. Dies bedeutet:
a) daß die Bedeutungen der gesprochenen Sprache immer
Ideen im Kantischen Sinne sind, die Pole einer bestimmten An-
zahl konvergierender Ausdrucksakte, die den Diskurs magneti-
sieren, ohne im eigentlichen Sinne selbst gegeben zu sein;
b) daß infolgedessen der Ausdruck niemals vollständig ist. Wie
Saussure bemerkt, haben wir das Gefühl, daß unsere Sprache die
Dinge vollständig zum Ausdruck bringt. Es ist jedoch nicht so,
daß sie deshalb unsere Sprache ist, weil sie etwas vollständig zum
Ausdruck bringt, vielmehr glauben wir, daß sie etwas vollständig
zum Ausdruck bringt, weil sie unsere Sprache ist. »The man I
love« ist für einen Engländer ein ebenso vollständiger Ausdruck
11 wie »l’homme que j’aime« für einen Franzosen. Und »Ich liebe
diesen Menschen« ist für einen Deutschen, der durch die Dekli-
nation ausdrücklich die Funktion des direkten Objekts bezeich-
nen kann, eine vielsagende Art, sich auszudrücken. Es liegt also
stets eine Anspielung im Ausdruck – oder es gilt vielmehr, den
Begriff der Anspielung zu verwerfen: Er ergibt nur einen Sinn,
wenn wir eine Sprache (im Normalfall unsere eigene) als Modell
und als ein gegenüber dem jeweiligen Ausdruck Absolutes an-
sehen, eine Sprache, die uns tatsächlich, wie alle anderen auch,
niemals gleichsam ›bei der Hand nehmen‹ und uns auf die Be-
deutung oder auf die Dinge selbst hinführen kann. Sagen wir
also nicht, daß jeder Ausdruck unvollkommen ist, weil er eine
Anspielung enthält, sagen wir, daß jeder Ausdruck in dem Maße
126 Über die Phänomenologie der Sprache

vollständig ist, in dem er ohne Zweideutigkeit verstanden wird,


und gestehen wir hinsichtlich des Ausdrucks als grundlegende
Tatsache zu: ein Überschreiten des Bezeichnenden (signifiant)
durch das Bezeichnete (signifíé), welches zu ermöglichen das Ver-
mögen des Bezeichnenden (signifiant) selbst ist.
c) daß dieser Ausdrucksakt, diese durch die Transzendenz des
sprachlichen Sinns der gesprochenen Sprache und der von ihr
anvisierten Bedeutung bewirkten Verbindung für uns, die spre-
chenden Subjekte, keine sekundäre Handlung ist, auf die wir nur
zurückgreifen, um dem anderen unsere Gedanken mitzuteilen,
sondern eine Besitznahme unsererseits, das Erwerben von Be-
deutungen, die uns andernfalls nur unbestimmt gegenwärtig
wären. Wenn die Thematisierung des Bezeichneten nicht dem
Sprechen vorangeht, dann nur deswegen, weil sie ihr Resultat
ist. Bleiben wir noch einen Moment bei dieser dritten Konse-
quenz.
Etwas auszudrücken bedeutet für das sprechende Subjekt, sich
bewußt zu werden; es bringt nicht nur für die Anderen etwas
zum Ausdruck, sondern um selbst zu wissen, worauf es abzielt.
Wenn das Sprechen eine Bedeutungsintention inkarnieren will,
die nur eine gewisse Leerstelle ist, dann will sie dies nicht nur,
um im Anderen denselben Mangel, denselben Entzug erneut
herzustellen, sondern um zu wissen, worin dieser Mangel und
dieser Entzug bestehen. Wie könnte ihr dies gelingen? Die Be-
deutungsintention gibt sich einen Leib und erkennt sich selbst,
indem sie sich im System der verfügbaren Bedeutungen, die die
von mir gesprochene Sprache und die Gesamtheit der Schrif-
ten und der Kultur repräsentieren und deren Erbe ich bin, ein
Äquivalent sucht. Für diesen stummen Wunsch in Form einer
Bedeutungsintention geht es darum, ein bestimmtes Arrange-
ment von bereits bedeutsamen Instrumenten oder von bereits
sprechenden Bedeutungen (morphologische, syntaktische und
lexikalische Instrumente, literarische Genres, Erzählformen,
verschiedene Darstellungsformen des Ereignisses etc.) zu rea-
lisieren, ein Arrangement, das beim Zuhörer die Ahnung einer
anderen und neuen Bedeutung entstehen läßt und die umgekehrt
Über die Phänomenologie der Sprache 127

beim Sprecher oder beim Schreibenden die bislang unbekannte


Bedeutung in den bereits verfügbaren Bedeutungen verankert.
Aber warum und wie, in welchem Sinne sind diese verfügbar?
Sie sind es geworden, als sie, zu ihrer Zeit, als Bedeutungen ge-
stiftet (institutées) wurden, auf die ich zurückgreifen kann, die
ich habe – durch eine auf dieselbe Weise durchgeführte Aus-
druckshandlung. Sie ist es also, die es zu beschreiben gilt, wenn
ich das Vermögen der gesprochenen Sprache verstehen will. Die
Wörter und die Formen des Französischen verstehe ich, oder ich
glaube, sie zu verstehen; ich habe eine gewisse Erfahrung mit den
literarischen und philosophischen Ausdrucksweisen, die mir die
gegebene Kultur anbietet. Ich bringe etwas zum Ausdruck, indem
ich all diese bereits sprechenden Instrumente bei ihrem Einsatz
dazu bringe, etwas zu sagen, das sie noch nie gesagt haben. Wir
beginnen mit der Lektüre eines Philosophen, indem wir den
von ihm verwendeten Wörtern ihren allgemein ›üblichen‹ Sinn
zuschreiben, und ganz allmählich, mit einer zunächst unmerk-
lichen Umkehrung, gewinnt sein Sprechen über seine Sprache
die Oberhand, und es ist auf den Einsatz dieser gesprochenen
Sprache zurückzuführen, daß er den Wörtern letztlich eine neue
und ihm eigene Bedeutung verleiht. In diesem Augenblick hat er
sich verständlich gemacht, und seine Bedeutung hat sich in mir
festgesetzt. Man sagt, ein Gedanke sei ausgedrückt, wenn die kon-
vergenten Äußerungen, die auf ihn gerichtet sind, zahlreich und
beredt genug sind, um ihn mir, als Autor, oder den Anderen un-
zweideutig darstellen zu können, und um uns allen die Erfahrung
seiner leiblichen Präsenz (présence charnelle) im gesprochenen
Wort vermitteln zu können. Wenngleich nur die Abschattungen
der Bedeutungen thematisch gegeben sind, so ist es doch eine
Tatsache, daß sich diese Abschattungen, sobald ein bestimmter
Punkt des Diskurses überschritten ist, und wenn man sie in ihrer
Bewegung nimmt, außerhalb derer sie nicht existieren, plötzlich
in einer einzigen Bedeutung zusammenziehen. Wir spüren, daß
etwas gesagt wurde, so wie wir, über ein Minimum sensorischer
Botschaften hinweg, etwas wahrnehmen, obwohl die Erklärung
der Sache grundsätzlich bis ins Unendliche reicht – oder so, wie
128 Über die Phänomenologie der Sprache

wir als Zuschauer einer bestimmten Anzahl von Verhaltenswei-


sen schließlich dahin gelangen, jemanden wahrzunehmen, ob-
wohl bei genauer Reflexion niemand als ich selbst wirklich und
in demselben Sinne Ego sein kann … Die Konsequenzen der
gesprochenen Sprache reichen, wie im Falle der Wahrnehmung
(und insbesondere der Wahrnehmung des Anderen) immer über
ihre Prämissen hinaus. Wir selbst, die wir sprechen, wissen nicht
unbedingt besser, was wir ausdrücken als jene, die uns zuhören.
Ich sage, daß ich eine Idee begriffen habe, wenn sich in mir das
Vermögen eingestellt hat, in ihrem Umfeld Diskurse anzuordnen,
die einen kohärenten Sinn ergeben, und dieses Vermögen selbst
rührt nicht etwa daher, daß ich diese Idee bei mir besitzen würde
und sie von Angesicht zu Angesicht betrachten könnte, sondern
daher, daß ich mir einen bestimmten Denkstil angeeignet habe.
Ich sage, daß eine Bedeutung erworben wurde und von nun an
verfügbar ist, sobald es mir gelungen ist, sie einem Gefüge der
gesprochenen Sprache innewohnen zu lassen, das zunächst ein-
mal nicht für sie bestimmt war. Selbstverständlich enthielten die
Elemente dieses Ausdrucksgefüges sie nicht wirklich: Die fran-
zösische Sprache enthielt, als sie eingeführt wurde, noch nicht
die französische Literatur – ich mußte ihre Bedeutungen erst
dezentrieren und wieder zentrieren, damit sie das bedeuten, auf
das ich abzielte. Es ist genau diese ›kohärente Deformierung‹
(A. Malraux) der verfügbaren Bedeutungen, die sie zu einem 12
neuen Sinn zusammenfügt und die Zuhörer, aber auch das spre-
chende Subjekt, einen entscheidenden Schritt tun läßt. Denn von
nun an werden die vorbereitenden Schritte des Ausdrucks – die
ersten Seiten des Buches – im endgültigen Sinn des Gesamten
wieder aufgegriffen, und sie ergeben sich mit einem Mal wie Ab-
leitungen dieses Sinns, der nun fest in der Kultur verankert ist. Es
wird dem sprechenden Subjekt (und den Anderen) möglich sein,
geradewegs zum Ganzen voranzuschreiten, es braucht nicht wie-
der den ganzen Prozeß in Gang zu setzen, es wird ihn in seinem
Resultat auf herausragende Weise sein eigen nennen, und eine
personale und interpersonale Tradition wird gegründet worden
sein. Der Nachvollzug, der von den tastenden Versuchen des Voll-
Über die Phänomenologie der Sprache 129

zugs befreit ist, zieht die Schritte zu einer einzigen Sichtweise zu-
sammen, es kommt zu einer Sedimentierung, und mein Denken
wird darüber hinausgehen können. Die gesprochene Sprache ist,
sofern sie von der Sprache unterschieden ist, dieser Moment, in
dem sich die noch stumme, aber im Handeln begriffene Bedeu-
tungsintention als fähig erweist, sich der Kultur, meiner wie auch
der des Anderen, einzuverleiben, mich und ihn zu formen, indem
sie den Sinn der Kulturinstrumente transformiert. Sie wird ihrer-
seits ›verfügbar‹, weil sie uns hinterher vortäuscht, sie sei auch
in den verfügbaren Bedeutungen enthalten gewesen, obwohl sie
sich, durch eine Art von List, mit diesen nur vermählt hat, um
ihnen neues Leben einzuhauchen.

III. Konsequenzen für die phänomenologische Philosophie

Welche philosophische Bedeutung muß man in diesen Beschrei-


bungen erkennen? Die Beziehung der phänomenologischen
Analysen zur Philosophie im engeren Sinn ist nicht eindeutig.
Man betrachtet erstere oft als vorbereitend, und Husserl selbst
hat stets zwischen den ›phänomenologischen Untersuchungen‹
im weiteren Sinn und der ›Philosophie‹ unterschieden, die diese
krönen sollte. Dennoch ist es schwierig, zu behaupten, das phi-
losophische Problem bliebe auch nach der phänomenologischen
Entdeckung der Lebenswelt in seiner Gesamtheit bestehen. Wenn
die Rückkehr zur ›Lebenswelt‹ in den letzten Schriften Husserls
als ein erster, absolut notwendiger Schritt angesehen wird, dann
sicherlich deshalb, weil sie nicht ohne Auswirkungen auf die
Tätigkeit einer universalen Konstitution ist, die darauf folgen
muß, weil in mancher Hinsicht ein Teil des ersten Schrittes im
zweiten enthalten bleibt, er in ihm auf irgendeine Weise bewahrt
wird, weil er folglich nie gänzlich überholt und die Phänome-
nologie bereits Philosophie ist. Wäre das philosophische Sub-
jekt ein transparentes konstituierendes Bewußtsein, vor dem
sich die Welt und die Sprache so vollkommen explizit darböten
wie ihre Bedeutungen und ihre Gegenstände, dann würde eine
130 Über die Phänomenologie der Sprache

beliebige, phänomenologische oder nicht-phänomenologische


Erfahrung ausreichen, den Übergang zur Philosophie zu mo-
tivieren, und die systematische Erkundung der Lebenswelt wäre
nicht notwendig. Wenn die Rückkehr zur Lebenswelt, und ins-
besondere die Rückkehr der objektivierten Sprache zur gespro-
chenen Sprache, als absolut notwendig angesehen wird, so liegt
es daran, daß die Philosophie über den Modus der Präsenz des
Objekts für das Subjekt nachdenken muß, die begriffliche Vor-
stellung vom Objekt und die vom Subjekt, so wie sie in der phä-
nomenologischen Entdeckung erscheinen, ohne daß sie durch
die Beziehung des Objekts zum Subjekt ersetzt werden, wie sie
in einer idealistischen Philosophie der umfassenden Reflexion
entworfen wird. Von nun an umhüllt die Phänomenologie die
Philosophie, die sich ihr nicht schlicht und einfach anschließen
kann.
Dies wird besonders deutlich, wenn es um die Phänomenolo-
gie der Sprache geht. Dieses Problem, offensichtlicher als jedes
andere, zwingt uns hinsichtlich der Beziehungen von Phänome-
nologie und Philosophie oder Metaphysik eine Entscheidung zu
treffen. Denn dieses Problem erscheint, deutlicher als jedes an-
dere, wie ein spezielles Problem und wie ein Problem, das alle an-
deren enthält, auch das der Philosophie. Wenn das gesprochene
Wort das ist, was wir gesagt haben, wie sollte es dann eine Idea-
tion geben, die diese Praxis beherrschen könnte, wie sollte die
Phänomenologie des gesprochenen Wortes nicht auch die Phi-
losophie des gesprochenen Wortes sein, wie sollte nach ihr noch
Raum sein für eine Erklärung auf höherer Stufe? Wir müssen
unbedingt den philosophischen Sinn der Rückkehr zur gespro-
chenen Sprache unterstreichen.
Die Beschreibung, die wir vom Bedeutungsvermögen (puis-
sance signifiante) der gesprochenen Sprache und allgemein vom
Leib als Mittler unserer Beziehung zum Objekt gegeben haben,
lieferte keinerlei philosophischen Hinweis, wenn man sie als An-
gelegenheit einer psychologischen Pittoreske ansehen könnte.
Man würde damit zugeben, daß der Leib, so wie wir ihn leben,
uns tatsächlich die Welt zu implizieren scheint, so wie die ge-
Über die Phänomenologie der Sprache 131

sprochene Sprache eine Landschaft des Denkens impliziert.


Aber dies wäre nur der äußere Anschein: Vor dem ernsthaften
Denken bliebe mein Leib Objekt, mein Bewußtsein bliebe reines
Bewußtsein und ihre Koexistenz der Gegenstand einer Apperzep-
tion, deren Subjekt ich, als reines Bewußtsein, bliebe (ungefähr
so präsentieren sich die Dinge in den älteren Schriften Husserls).
Ebenso scheint es, wenn mein gesprochenes Wort oder dasjenige,
das ich höre, sich selbst in Richtung einer Bedeutung überstei-
gen, daß diese Beziehung, wie jede Beziehung, nur durch mich
als Bewußtsein hergestellt werden kann, die radikale Autonomie
des Denkens fände sich im selben Augenblick wiederhergestellt,
in dem sie infragegestellt schien… Dennoch kann ich das Phä-
nomen der Inkarnation weder im einen noch im anderen Fall
auf den lediglich psychologischen Anschein zurückführen, und
wenn ich versucht wäre, es zu tun, würde ich durch die Wahrneh-
mung des Anderen daran gehindert. Denn deutlicher noch (aber
nicht anders) als in der Erfahrung der gesprochenen Sprache oder
der wahrgenommenen Welt, begreife ich meinen Körper in der
Erfahrung des Anderen unvermeidlich als eine Spontaneität, die
mich das lehrt, was ich nicht anders als durch sie verstehen könnte.
Die Setzung des Anderen als ein anderes Ich-selbst ist tatsäch-
lich nicht möglich, wenn es das Bewußtsein ist, das sie bewirken
soll: Ein Bewußtsein zu haben bedeutet, zu konstituieren, und
ich kann folglich kein Bewußtsein von jemand Anderem haben,
da dies hieße, ihn als Konstituierenden zu konstituieren, und als
Konstituierenden im Hinblick auf den Akt selbst, durch den ich
ihn konstituiere. Diese grundsätzliche Schwierigkeit, die wie ein
13 Markstein am Beginn der fünften Cartesianischen Meditation
steht, wird nirgends behoben. Husserl geht darüber hinaus: Da
ich eine Vorstellung vom Anderen habe, muß man davon aus-
gehen, daß auf irgendeine Weise die erwähnte Schwierigkeit fak-
tisch bereits überwunden wurde. Dies hat nur dann geschehen
können, wenn derjenige in mir, der den Anderen wahrnimmt,
den radikalen Widerspruch zu ignorieren vermag, der die theore-
tische Konzeption des Anderen unmöglich macht, oder vielmehr,
wenn er (da er es, wenn er ihn ignorieren würde, nicht mehr
132 Über die Phänomenologie der Sprache

mit dem Anderen zu tun haben würde) in der Lage wäre, diesen
Widerspruch als Bestimmung selbst der Präsenz des Anderen zu
erleben. Dieses Subjekt, das sich in dem Moment, in dem es als
Konstituierendes fungiert, als Konstituiertes erfährt, dieses Sub-
jekt ist mein Leib. Man rufe sich in Erinnerung, wie Husserl im
Falle der Fundierung auf dasjenige kommt, was er ein ›Phäno-
men der Paarung‹ und eine ›intentionale Überschreitung‹ nennt, 14
meine Wahrnehmung eines Gebarens im mich umgebenden
Raum. Es findet sich, daß mein Blick an manchen Schauspielen
– nämlich den anderen menschlichen Körpern und, im weiteren
Sinne, auch den animalischen – hängenbleibt, daß er von ihnen
umgarnt wird. Ich werde von ihnen beansprucht, obwohl ich sie
selbst beanspruchen wollte, und ich sehe, wie sich im Raum eine
Gestalt abzeichnet, welche die Möglichkeiten meines eigenen
Körpers weckt und zusammenruft, als handele es sich um meine
eigenen Gesten oder Verhaltensweisen. Alles geschieht, als seien
die Funktionen der Intentionalität und des intentionalen Ob-
jekts auf paradoxe Weise ausgetauscht worden. Das Schauspiel
lädt mich ein, sein adäquater Zuschauer zu werden, als würde
mit einem Mal ein anderer Geist als der meinige meinen Leib be-
wohnen, oder vielmehr, als wäre mein Geist dort hineingezogen
worden und wanderte nun aus in jenes Schauspiel, das er selbst
sich gerade darbot. Ich bin gepackt von einem zweiten, außer mir
seienden Ich-selbst, ich nehme den Anderen wahr… Die gespro-
chene Sprache ist nun ganz offensichtlich ein herausragender Fall
dieses ›Gebarens‹, das meine gewöhnliche Beziehung zu den Ob-
jekten umkehrt und bestimmten Objekten unter ihnen den Wert
von Subjekten zuschreibt. Und wenn, angesichts des lebendigen
Körpers, sei es der meinige oder der des Anderen, die Objektivie-
rung keinen Sinn ergibt, so muß man doch die Inkarnation des-
sen, was ich ihr Denken in seiner vollständigen Sprachäußerung
nenne, für das letztmögliche und für den Anderen konstitutive
Phänomen halten. Wenn die Phänomenologie unsere Auffassung
vom Sein und unsere Philosophie in Wirklichkeit nicht schon
längst in ihre Dienste genommen hätte, dann wären wir, sobald
wir bei dem philosophischen Problem angelangt sind, vor die
Über die Phänomenologie der Sprache 133

gleichen Schwierigkeiten gestellt, die ihrerseits die Phänomeno-


logie haben entstehen lassen. In gewissem Sinne ist die Phäno-
menologie alles oder nichts. Diese Ordnung der lehrenden Spon-
taneität – das ›Ich kann‹ des Leibes, die ›intentionale Überschrei-
tung‹, die den Anderen hervorbringt, das ›gesprochene Wort‹, das
die Idee einer reinen oder absoluten Bedeutung erzeugt – kann
nicht anschließend wieder, bei Strafe einer erneuten Umkehr in
Unsinn, der Gerichtsbarkeit eines akosmischen und pankosmi-
schen Bewußtseins unterstellt werden. Sie muß mich vielmehr
lehren, das zu erkennen, was kein konstituierendes Bewußtsein
wissen kann: meine Zugehörigkeit zu einer ›prä-konstituierten‹
Welt. Wie aber, wird man einwenden, können mir der Leib und
die gesprochene Sprache mehr geben als ich in sie hineingelegt
habe? Ganz offensichtlich ist es nicht mein Körper als Organis-
mus, der mich lehrt, in einem Gebaren, dessen Zuschauer ich
bin, das Auftauchen eines anderen Ich-selbst zu sehen: Er könnte
sich höchstens in einem anderen Organismus widerspiegeln und
wiedererkennen. Damit das Alter ego und das andere Denken
vor mir erscheinen, muß ich das Ich von diesem meinem Kör-
per sein, das Denken von diesem inkarnierten Leben. Das Sub-
jekt, das die intentionale Überschreitung begeht, kann dies nur
vollbringen, sofern es situiert ist. Die Erfahrung des Anderen
ist genau in dem Maße möglich, in dem die Situation Teil des
Cogito ist.
Unter diesen Umständen müssen wir aber auch das wörtlich
nehmen, was uns die Phänomenologie über die Beziehung von
Bezeichnendem und Bezeichneten gelehrt hat. Wenn das zentrale
Phänomen der Sprache tatsächlich der gewöhnliche Akt des Be-
zeichnenden und des Bezeichneten ist, dann würden wir ihm seine
Wirksamkeit nehmen, indem wir das Ergebnis der Ausdrucks-
handlungen vorab in einem Ideenhimmel realisierten, wir wür-
den den Schritt aus den Augen verlieren, den sie zwischen den
bereits verfügbaren Bedeutungen und den Bedeutungen, die wir
gerade erst konstruieren und erwerben, getan haben. Und das
zweifach Intelligible, auf das man sie zu gründen suchte, würde
uns nicht davon befreien zu verstehen, wie sich unser Erkennt-
134 Über die Phänomenologie der Sprache

nisapparat erweitert, bis er das begreift, was er nicht umfaßt. Wir


würden unsere Transzendenz nicht einsparen, wenn wir sie ei-
nem faktisch Transzendenten unterstellen würden. Der Ort der
Wahrheit bliebe in jedem Fall diese Vorhabe, durch die jedes ge-
sprochene Wort oder jede gesicherte Wahrheit ein Feld der Er-
kenntnis eröffnet, und der Nachvollzug, durch den wir auf dieses
Werden der Erkenntnis oder diesen Umgang mit dem Anderen
schließen und sie zu einer neuen Sicht zusammenziehen. Anstatt
ihren Vorgängern hinterherzujagen, ihnen nachzufolgen und sie
einfach nur für ungültig zu erklären, retten unsere gegenwärti-
gen Ausdruckshandlungen ihre Vorgänger, sie bewahren sie und
greifen sie wieder auf, insofern als sie eine gewisse Wahrheit ent-
hielten, und dasselbe Phänomen zeigt sich angesichts der Aus-
druckshandlungen des Anderen, seien sie nun längst vergangen
oder eben erst vollzogen. Unsere Gegenwart hält die Versprechen
unserer Vergangenheit, und wir halten die Versprechen der Ande-
ren. Jeder Akt des literarischen oder philosophischen Ausdrucks
trägt dazu bei, den Wunsch nach einer Wiedergewinnung der
Welt zu erfüllen, der sich mit dem Erscheinen einer Sprache, das
heißt eines endlichen Systems von Zeichen, geäußert hat, das
vorgab, im Prinzip in der Lage zu sein, jedes Sein, das sich ihm
präsentierte, zu erfassen. Er verwirklicht seinerseits einen Teil
dieses Projekts und verlängert überdies den Vertrag, der gerade
hinfällig geworden war, als dieser Akt ein neues Feld an Wahr-
heiten eröffnete. Dies ist nur durch dieselbe ›intentionale Über-
schreitung‹ möglich, die den Anderen hervorbringt, und wie sie
wird das theoretisch unmögliche Phänomen der Wahrheit nur
kenntlich durch die Praxis, die sie herstellt. Zu behaupten, daß
es eine Wahrheit gibt, heißt behaupten, daß sich, wenn meine
Wiederaufnahme mit dem alten oder fremden Projekt zusam-
mentrifft, und wenn der gelungene Ausdruck das freisetzt, was
im Sein seit jeher gefangen war, in der Dichte der personalen und
interpersonalen Zeit eine innere Kommunikation bildet, durch
die unsere Gegenwart zur Wahrheit über alle anderen erkennen-
den Ereignisse wird. Es ist ein Keil, den wir in die Gegenwart
treiben, ein Markstein, der bezeugt, daß in diesem Moment etwas
Über die Phänomenologie der Sprache 135

stattgefunden hat, das vom Sein immer schon erwartet wurde


oder das es seit jeher ›sagen wollte‹, und das niemals aufhören
wird – es sei denn, es hörte auf, wahr zu sein –, wenigstens zu
bedeuten und unseren Denkapparat anzuregen, notfalls auch, in-
dem es ihm verständlichere Wahrheiten als diese entlockt. In die-
sem Moment wurde etwas in Bedeutung gesetzt, eine Erfahrung
wurde in ihren eigenen Sinn transformiert, sie ist Wahrheit ge-
worden. Die Wahrheit ist ein anderer Name der Sedimentierung,
die ihrerseits die Präsenz aller Gegenwarten in der unsrigen ist.
Das bedeutet, daß es selbst und vor allem für das letzte philoso-
phische Subjekt keine Objektivität gibt, die unsere überobjektive
Beziehung zu allen Zeiten bezeugen könnte, kein Licht, das über
das der lebendigen Gegenwart hinausreicht.
In jenem späten Text, den wir eingangs zitiert haben, schreibt
Husserl, die gesprochene Sprache verwirkliche eine ›Lokalisa-
tion‹ und eine ›Temporalisation‹ eines idealen Sinns, der ›sei-
nem Seinssinn nach‹ nicht-lokal und nicht-temporal sei – und
er ergänzt weiter unten, daß die gesprochene Sprache überdies
objektiviere und als Begriff oder als Satz für die Mehrzahl der
Subjekte öffne, was zuvor ein bloß innersubjektives Gebilde ge-
15 wesen sei. Es müßte folglich eine Bewegung geben, mittels derer
die ideale Existenz in die Lokalität und Temporalität hinabsteigt
– und eine umgekehrte Bewegung, durch die der Sprechakt hier
und jetzt die Idealität des Wahren begründet. Diese beiden Be-
wegungen wären widersprüchlich, wenn sie sich zwischen den-
selben extremen Begrifflichkeiten abspielen würden, und es er-
scheint uns notwendig, hierbei von einem Kreis der Reflexion
auszugehen: Bei ihrer ersten Annäherung begreift die Reflexion
die ideale Existenz als nicht-lokal und nicht-temporal – dann
bemerkt sie eine Lokalität und Temporalität der gesprochenen
Sprache, die man nicht von jenen der objektiven Welt ableiten
kann und übrigens auch nicht an eine Welt der Ideen anhängen
kann, und schließlich läßt sie die Seinsart der idealen Sinngebilde
auf der gesprochenen Sprache beruhen. Die ideale Existenz ist
auf dem Dokument fundiert, sicher nicht im Sinne eines physi-
schen Objekts, auch nicht als Träger einzelner Bedeutungen, die
136 Über die Phänomenologie der Sprache

ihm die Konventionen der Sprache zuweisen, in der es geschrie-


ben wurde, sondern auf ihm, insofern es, wiederum durch eine
›intentionale Überschreitung‹, sämtliche erkennenden Leben
anspricht und sie konvergieren läßt, womit es einen ›Logos‹ der
kulturellen Welt einsetzt und erneuert.
Die Eigenart einer phänomenologischen Philosophie scheint
uns also darin zu liegen, daß sie sich definitiv in der Ordnung
der lehrenden Spontaneität einrichtet, die dem Psychologismus
und dem Historismus, ebenso wie den dogmatischen Lehren der
Metaphysik, unzugänglich ist. Unter all diesen Lehren ist allein
die Phänomenologie der gesprochenen Sprache in der Lage, uns
diese Ordnung zu enthüllen. Wenn ich spreche oder wenn ich
verstehe, erfahre ich die Präsenz des Anderen in mir oder meine
Präsenz in ihm, was zugleich der Stein des Anstoßes in der Theo-
rie der Intersubjektivität ist, so wie die Präsenz des Repräsentier-
ten der Stein des Anstoßes in der Theorie der Zeit ist, und ich
verstehe schließlich, was der rätselhafte Satz Husserls sagen will:
»Die transzendentale Subjektivität ist Intersubjektivität.« In dem 16
Maße, in dem das, was ich sage, einen Sinn hat, bin ich, wenn
ich spreche, für mich selbst ein anderer ›Anderer‹, und in dem
Maße, in dem ich verstehe, weiß ich nicht mehr, wer spricht und
wer zuhört. Der letzte philosophische Schritt besteht darin, das
zu erkennen, was Kant die ›transzendentale Affinität‹ der Zeit- 17
momente und der Zeitlichkeiten nennt. Danach strebt Husserl
sicherlich, wenn er das finalistische Vokabular der metaphysi-
schen Lehren aufgreift und von ›Monaden‹, ›Entelechien‹ und
›Teleologie‹ spricht. Aber diese Wörter setzt er oft in Klammern,
um anzudeuten, daß er mit ihnen keine wirkende Kraft einzu-
führen sucht, die von außen die Verbindung der zueinander in
Beziehung gesetzten Begrifflichkeiten zusicherte. Die Finalität
im dogmatischen Sinne wäre ein Kompromiß: Sie ließe die zu
verbindenden Ausdrücke und das verbindende Prinzip einander
gegenüberstehen. Oder aber ich finde im tiefsten Inneren meiner
Gegenwart den Sinn jener Gegenwarten, die ihr vorausgegangen
sind, finde dort etwas, durch das ich die Präsenz des Anderen in
derselben Welt begreifen kann, und durch die Ausübung der ge-
Über die Phänomenologie der Sprache 137

sprochenen Sprache selbst lerne ich zu verstehen. Finalität gibt es


nur in dem Sinne, in dem Heidegger sie definierte, als er in etwa
sagte, daß sie das Beben einer Einheit sei, die der Kontingenz
ausgesetzt ist und die sich unermüdlich neu erschafft. Und es ist
auch dieselbe unabsichtliche, unerschöpfliche Spontaneität, auf
die Sartre anspielte, wenn er sagte, daß wir ›zur Freiheit verur-
teilt‹ sind.
1 DE R PH I L O S OPH U N D DI E S OZ IOL O GI E

Die Philosophie und die Soziologie haben lange Zeit streng von-
einander getrennt nebeneinander existiert, wenngleich diese
Trennung ihre Rivalität nur dadurch verbergen konnte, daß sie
ihnen jeden Raum der Begegnung verweigerte, ihr Wachstum be-
hinderte, sie füreinander unverständlich werden ließ und folglich
die Kultur in einen andauernden Krisenzustand versetzte. Wie
immer war es der Geist der Forschung, der diesen Bann gebro-
chen hat, und es scheint uns, als erlaube der Fortschritt der Phi-
losophie wie der Soziologie heute eine neuerliche Untersuchung
ihrer Beziehungen.
Wir möchten die Aufmerksamkeit auch auf die Meditationen
richten, die Husserl diesen Problemen gewidmet hat. Husserl
scheint uns darin beispielhaft zu sein, daß er vielleicht besser als
jeder andere gespürt hat, daß alle Formen des Denkens in ge-
wisser Weise miteinander verbunden sind, daß man weder die
Sozialwissenschaften zugrunde richten darf, um die Philoso-
phie zu fundieren, noch die Philosophie zugrunde richten darf,
um die Sozialwissenschaften zu begründen, daß vielmehr jede
Wissenschaft eine Ontologie absondert und jede Ontologie ein
Wissen antizipiert, und daß es letztlich bei uns liegt, uns damit
abzufinden und es so einzurichten, daß die Philosophie und die
Wissenschaft beide möglich sind …
Die Trennung von Philosophie und Soziologie ist vielleicht
nirgends mit den Worten erklärt worden, in denen wir sie zur
Sprache bringen werden. Glücklicherweise sind die Arbeiten der
Philosophen und der Soziologen oft weniger exklusiv als ihre
Prinzipien. Aber die Trennung ist nichtsdestoweniger Teil eines
gewissen Common sense der Philosophen und der Soziologen,
der letztlich, durch seine Rückführung der Philosophie und der
Sozialwissenschaften auf das, von dem er glaubt, es sei ihre reine
Form, das Wissen ebenso wie die Reflexion kompromittiert.
140 Der Philosoph und die Soziologie

Während alle großen Philosophien an ihrem Bemühen zu er-


kennen sind, den Geist und seine Abhängigkeit – die Ideen und
ihre Bewegung, den Verstand und die Empfindung – zu denken,
gibt es gleichzeitig einen Mythos der Philosophie, der sie als au-
toritäre Bestätigung einer absoluten Autonomie des Geistes dar-
stellt. Die Philosophie ist kein Fragen mehr. Sie ist ein bestimmter
Korpus an Lehren, der gemacht wurde, um einem absolut losgelö-
sten Geist die Freude an sich selbst und seinen Ideen zuzusichern.
Auf der anderen Seite gibt es einen Mythos des wissenschaftli-
chen Wissens, der sich von der einfachen Bezeichnung der Fakten
nicht nur die Wissenschaft von den Dingen der Welt verspricht,
sondern sogar die Wissenschaft von dieser Wissenschaft, bei der
eine Soziologie des Wissens (die ihrerseits auf empiristische Weise
konzipiert wäre) das Universum der Fakten in sich abschließen
müßte, indem sie ihm letztlich sogar die Ideen einfügte, die wir
erfinden, um die Fakten interpretieren zu können, und bei der sie
uns sozusagen von uns selbst befreite. Diese beiden Mythen sind
Antagonisten und Komplizen. Der Philosoph und der Soziologe,
die auf diese Weise einander gegenübergestellt sind, kommen
zumindest hinsichtlich einer Grenzziehung ihrer Fachgebiete
überein, die ihnen zusichert, daß sie sich niemals treffen werden.
Wenn aber der Sperrgürtel aufgehoben würde, dann würden sich
die Philosophie und die Soziologie gegenseitig zugrunde richten.
Schon jetzt machen sie sich wechselseitig ihren Geist streitig. Ihre
Trennung ist der kalte Krieg.
In dieser Atmosphäre wird jede Forschung, die sowohl den
Ideen als auch den Fakten Rechnung tragen will, alsbald ausein-
ander dividiert, weil die Fakten, statt daß sie wie die Stimulanzien
und Garanten eines Konstruktionsbemühens verstanden werden,
das sich an ihre interne Dynamik anschließt, in den Rang einer
unwiderlegbaren Gnade erhoben werden, von der man alles er-
warten muß, und weil die Ideen grundsätzlich von jeder Kon-
frontation mit unserer Welterfahrung, des Anderen und unserer
selbst freigestellt sind. Das Hin und Her von den Fakten zu den
Ideen und von den Ideen zu den Fakten wird als ein Mischver-
fahren diskreditiert – weder Wissenschaft noch Philosophie –,
Der Philosoph und die Soziologie 141

das den Gelehrten die endgültige Interpretation der Fakten, die


sie gleichwohl selbst zusammengetragen haben, entzieht und die
Philosophie mit den stets provisorischen Resultaten der wissen-
schaftlichen Forschung kompromittiert …
Man muß sich der obskurantistischen Konsequenzen dieses
Rigorismus sehr wohl bewußt sein. Wenn die ›vermischten‹ For-
schungen tatsächlich jene Nachteile mit sich bringen, die wir
gerade erwähnt haben, dann ist dies wiederum gleichbedeutend
mit der Einsicht, daß die philosophische und die wissenschaftli-
che Perspektive nicht nebeneinander bestehen können und daß
Philosophie und Soziologie nur unter der Bedingung zu einer
Sicherheit gelangen werden, daß sie einander nicht beachten.
Man wird also vor dem Gelehrten jene ›Idealisierung‹ des rohen
Faktums verbergen müssen, die dennoch das Wesentliche seiner
Arbeit ist. Er wird die Entschlüsselung der Bedeutungen, die der
Grund seines Daseins ist, nicht kennen dürfen, auch nicht die
Konstruktion der geistigen Modelle des Wirklichen, ohne die es
heute ebensowenig eine Soziologie gäbe wie es einst die Physik
von Galilei gegeben hätte. Man wird ihm die Scheuklappen der
Baconschen oder Millschen Induktion wieder überstreifen, selbst
wenn sich seine eigenen Forschungen ganz offensichtlich diesen
kanonischen Rezepten entziehen. Er wird folglich vorgeben, die
soziale Gegebenheit so anzugehen, als sei sie ihm fremd, als ver-
danke seine Studie gerade jener Erfahrung nichts, die er, als sozi-
ales Subjekt, von der Intersubjektivität hat. Unter dem Vorwand,
daß mit dieser erlebten Erfahrung noch längst keine Soziologie
geschaffen sei, daß letztere vielmehr ihre Analyse, Erklärung und
Objektivierung sei, daß sie unser anfängliches Bewußtsein der
sozialen Beziehungen erschüttere und schließlich jene Bezüge
zutage fördere, die wir wie eine ganz besondere Variante einer
anfänglich nicht in uns vermuteten Dynamik leben, die ihrerseits
nur aus der Berührung mit anderen kulturellen Gebilden heraus
verständlich wird, vergißt der Objektivismus jene andere Evi-
denz, daß wir unsere Erfahrung der sozialen Beziehungen nicht
erweitern können und die Idee wahrer sozialer Beziehungen nur
durch die Analogie oder den Kontrast zu jenen Beziehungen her-
142 Der Philosoph und die Soziologie

stellen können, die wir erlebt haben, kurzum: durch eine imagi-
näre Variation dieser Beziehungen, angesichts derer sie sicherlich
eine neue Bedeutung erhalten werden – so wie der Fall eines Kör-
pers auf eine schiefe Ebene durch die reine Idee des freien Falls in
ein neues Licht gerückt wird –, der sie aber all das liefern werden,
was sie an soziologischem Sinn enthalten kann. Die Anthropolo-
gie lehrt uns, daß in bestimmten Kulturen manche der Cousins
von den Kindern wie ihre eigenen ›Eltern‹ behandelt werden,
und Fakten dieser Art erlauben schließlich, ein Diagramm vom
System der Verwandtschaftsverhältnisse in der betrachteten Zi-
vilisation zu erstellen. Aber die auf diese Weise festgehaltenen
Korrelationen geben nur die Silhouette oder den Umriß der
Verwandtschaftsverhältnisse in dieser Zivilisation wieder, einen
Vergleich der Verwandtschaftsverhältnisse, die durch eine nomi-
nelle Definition in bestimmten bedeutsamen, aber noch anony-
men Punkten X …Y …Z … als ›verwandtschaftlich‹ bezeichnet
werden, kurzum: Sie haben noch keinen soziologischen Sinn,
und die Formeln, die sie zusammenfassen, könnten ebensogut
einen beliebigen physikalischen oder chemischen Prozeß dersel-
ben Form wiedergeben, solange es uns nicht gelungen ist, uns
in der solchermaßen umschriebenen Institution einzurichten,
solange wir den Stil der Verwandtschaftsverhältnisse, auf den all
diese Formeln anspielen, nicht verstanden haben und auch nicht
verstanden haben, in welchem Sinne in dieser Kultur bestimmte
Subjekte andere Subjekte ihrer Generation als ihre eigenen ›El-
tern‹‚ wahrnehmen, und solange wir schließlich nicht die grund-
legende personale und interpersonale Struktur begriffen haben,
die institutionellen Beziehungen zur Natur und zum Anderen,
die jene festgestellten Korrelationen ermöglichen. Noch einmal
sei es gesagt: Die tiefgreifende Dynamik des sozialen Miteinan-
ders ist ganz sicher nicht mit unserer beschränkten Erfahrung
des Lebens zu mehreren gegeben, es gelingt uns vielmehr nur
durch die Dezentrierung und Rezentrierung dieser beschränk-
ten Erfahrung, uns diese Dynamik vorzustellen, so wie die all-
gemeine Zahl für uns nur durch ihre Verbindung zu der ganzen
Zahl der elementaren Arithmetik eine Zahl bleibt. Wir können
Der Philosoph und die Soziologie 143

anhand der Freudschen Vorstellungen der prägenitalen Sexuali-


tät ein Verzeichnis aller möglichen Modi der Akzentuierung der
kindlichen Körperöffnungen erstellen, und in diesem Verzeich-
nis erscheinen jene Akzentuierungen, die in unserem kulturel-
len System verwirklicht und von den Freudianern beschrieben
wurden, wie einzelne Varianten innerhalb einer großen Anzahl
möglicher Varianten, die vielleicht in uns bislang noch unbe-
kannten Zivilisationen aktuell sind. Dieses Verzeichnis sagt uns
jedoch nichts über die Beziehungen zum Anderen und zur Natur,
die diese Kulturformen bestimmen, solange wir uns nicht auf die
psychologische Bedeutung des Mundes, des Anus oder des Geni-
talapparates in unserer erlebten Erfahrung beziehen, so daß wir
im unterschiedlichen Gebrauch, den verschiedene Kulturen von
ihnen machen, unterschiedliche Kristallisationen eines anfängli-
chen Polymorphismus des Körpers als Vehikel des Zur-Welt-seins
erkennen können. Das Verzeichnis, das man uns präsentiert, ist
nur eine Einladung, sich ausgehend von unserer Erfahrung des
Körpers andere Techniken des Körpers vorzustellen. Jene Tech-
nik, die in uns aktualisiert wurde, ist nie auf die Bedingung eines
einfach Möglichen unter allen Formen des Möglichen reduziert,
da wir den Körper gerade aufgrund dieser privilegierten Erfah-
rung als ›strukturierendes‹ Prinzip begreifen lernen, und da wir
die anderen Formen des ›Möglichen‹, so verschieden sie auch
von dieser Erfahrung sein mögen, erahnen. Es kommt darauf
an, die soziologische Forschung nie von unserer Erfahrung als
soziale Subjekte zu trennen (die selbstverständlich nicht nur das
einschließt, was wir unsererseits erlebt haben, sondern auch die
Verhaltensweisen, die wir aus den Gesten, den Erzählungen oder
den Schriften der anderen Menschen heraus erschließen kön-
nen), denn die Gleichungen des Soziologen werden erst in dem
Moment zu einem Abbild des Sozialen, in dem die Korrelationen,
die sie zusammenfassen, zueinander in Beziehung gesetzt und in
eine bestimmte einzigartige Sicht auf das Soziale und auf die der
betrachteten Gesellschaft eigene Natur eingeschlossen werden,
und in dem sie in dieser Gesellschaft, selbst wenn sie reichlich
verschieden ist von den offiziellen Vorstellungen, die in ihr ge-
144 Der Philosoph und die Soziologie

bräuchlich sind, zu einer Institution geworden sind, einem ver-


borgenen Prinzip all des offensichtlichen Funktionierens. Sollte
es dem Objektivismus oder dem Szientismus jemals gelingen,
der Soziologie jeden Rekurs auf die Bedeutungen zu verwehren,
so würde er sie doch nur dann vor der ›Philosophie‹ bewahren,
wenn er den Verstand ihres Gegenstandes vor ihr verschließen
würde. Wir würden dann vielleicht Mathematik im Sozialen
betreiben, wir verfügten jedoch nicht über die Mathematik der
betrachteten Gesellschaft. Der Soziologe betreibt überall dort
Philosophie, wo er seiner Aufgabe nachkommt, die Fakten nicht
nur festzuhalten, sondern sie zu verstehen. Im Augenblick der
Interpretation ist er selbst bereits Philosoph. Dies bedeutet, daß
der professionelle Philosoph nicht dafür herabgewürdigt werden
kann, daß er Fakten neu interpretiert, die er nicht selbst beobach-
tet hat, wenn diese Fakten etwas anderes und mehr sagen, als der
Gelehrte in ihnen gesehen hatte. Wie Husserl sagt, hat die Eidetik
der physischen Sache nicht erst mit der Phänomenologie begon-
nen, sondern mit Galilei. Und umgekehrt hat der Philosoph auch
das Recht, Galilei zu lesen und zu interpretieren.
Die von uns bekämpfte Trennung ist für die Philosophie nicht
weniger nachteilig als für die Entwicklung des Wissens. Wie
könnte ein verständiger Philosoph der Philosophie ernsthaft
den Umgang mit der Wissenschaft untersagen? Denn schließlich
denkt der Philosoph immer über etwas nach: über das in den Sand
gezeichnete Quadrat, über den Esel, das Pferd und das Maultier,
über den Kubikfuß der Ausdehnung, über das Zinnoberrot, über
den römischen Staat, über die Hand, die in den Eisenfeilspä-
nen versinkt … Der Philosoph denkt seine Erfahrung und seine
Welt. Wie sollte man ihm anders als durch strikte Anordnung,
das Recht zugestehen, zu vergessen, was die Wissenschaft über
genau diese Erfahrung und diese Welt sagt? Unter dem Sam-
melbegriff der Wissenschaft verbirgt sich nur eine – enger oder
weiter gefaßte, mehr oder weniger klar sehende – systematische
Einteilung, eine methodische Überprüfung derselben Erfahrung,
die mit unseren ersten Wahrnehmungen beginnt. Es ist eine Ge-
samtheit der Mittel, wahrnehmen, vorstellen und letztlich leben
Der Philosoph und die Soziologie 145

zu können, die alle auf dieselbe Wahrheit gerichtet sind, deren


Erfordernis uns seit dem Moment unserer ersten Erfahrungen
begleitet. Es kann vorkommen, daß die Wissenschaft ihre Ge-
nauigkeit um den Preis einer Schematisierung erkauft. Aber das
Heilmittel besteht dann darin, sie mit einer integralen Erfahrung
zu konfrontieren, und nicht etwa darin, ihr ein philosophisches
Wissen von unbestimmter Herkunft gegenüberzustellen.
Es ist das außerordentliche Verdienst Husserls, in seiner zur
Reife gelangten Philosophie, und immer deutlicher, je länger er
sein Bemühen fortsetzte, mit der ›Wesensschau‹, den ›gestalthaf-
ten Wesenheiten‹ und der ›phänomenologischen Erfahrung‹ ei-
nen Bereich und eine Forschungshaltung umschrieben zu haben,
in der sich die Philosophie und das tatsächliche Wissen begegnen
konnten. Man weiß, daß er anfangs die strenge Unterscheidung
zwischen beiden bekräftigt hat – und auch stets aufrechterhal-
ten hat. Dennoch scheint uns seine Idee eines psycho-phänome-
nologischen Parallelismus – sagen wir etwas allgemeiner: seine
These von einem Parallelismus zwischen positivem Wissen und
Philosophie, der bewirkt, daß jede Bestätigung der einen Seite
mit einer Bestätigung der anderen einhergeht – in Wahrheit zur
Idee eines wechselseitigen Einschließens zu führen. Was das Soziale
angeht, so geht es alles in allem um die Frage, wie es zugleich eine
vorurteilslos zu erkennende ›Sache‹ und eine ›Bedeutung‹ sein
kann, der die Gesellschaften, die wir zur Kenntnis nehmen, nur
eine Gelegenheit bieten, zu erscheinen, und wie das Soziale an
sich und in uns sein kann. Folgen wir, da wir in dieses Labyrinth
eingetreten sind, den Etappen, die Husserl auf seinem Weg zu
den letzten Vorstellungen zurücklegt, in denen diese Wegstrecken
im übrigen letztlich ebenso bewahrt wie überschritten werden.
Am Ausgangspunkt erhebt er dergestalt mit Begriffen An-
spruch auf die Rechte der Philosophie, daß die Begriffe des tat-
sächlichen Wissens abgeschafft scheinen. Wenn er von jenem
herausragenden sozialen Bezug spricht, der die Sprache ist, dann
2 geht er grundsätzlich davon aus,1 daß wir das Funktionieren un-

1 Logische Untersuchungen, II, 4. Unters., S. 339.


146 Der Philosoph und die Soziologie

serer eigenen Sprache nur dann verstehen können und uns von
den Pseudo-Evidenzen, die darin bestehen, daß wir an ihr als
unserer Sprache festhalten, lösen und zur wahren Erkenntnis der
anderen Sprachen vordringen, wenn wir zunächst ein Bild der
›idealen Form‹ der Sprache und der Ausdrucksweisen entwor-
fen haben, die unbedingt zu ihr gehören, wenn sie Sprache sein
will: Nur unter diesen Umständen werden wir verstehen können,
wie Deutsch, Latein oder Chinesisch, jedes auf seine Weise, an
dieser universalen Eidetik teilhaben, und wir werden jede dieser
Sprachen als eine den ursprünglichen Proportionen entspre-
chende Mischung der universalen ›Bedeutungsformen‹, als eine
›verworrene‹ und unvollständige Realisierung der ›allgemeinen
und vernünftigen Grammatik‹ bestimmen können. Es galt also,
die faktische Sprache durch eine synthetische Operation zu re-
konstruieren, ausgehend von den wesentlichen Strukturen jeder
möglichen Sprache, die sie in ihrer reinen Klarheit umgaben. Das
philosophische Denken erschien als absolut autonom, als fähig,
und zwar allein fähig, die wahre Kenntnis durch den Rückgriff
auf solche Wesenheiten zu erlangen, die den Schlüssel zu den
Dingen lieferten.
Im allgemeinen wird unter diesen Umständen die ganze ge-
schichtliche Erfahrung des sozialen Bezugs zugunsten der We-
sensschau angezweifelt. Sie zeigt uns zwar ›soziale Prozesse‹,
›kulturelle Gebilde‹, Formen des Rechts, der Kunst, der Religion,
aber solange wir mit diesen empirischen Realisierungen in Be-
rührung bleiben, wissen wir nicht einmal, was jene Rubriken
bedeuten, unter denen wir sie einordnen, und wir wissen sogar
noch viel weniger, wenn es denn so ist, daß das geschichtliche
Werden mancher Religion, mancher Rechts- oder Kunstform
wirklich mit ihrer Wesenheit zusammenhängt und über ihren
Wert entscheidet, oder wenn umgekehrt dieses Recht, diese Kunst
oder diese Religion noch andere Möglichkeiten einschließen. Die
Geschichte, sagte Husserl in diesem Zusammenhang, kann nicht
über eine Idee urteilen, und wenn sie es doch tut, dann entleiht
diese wertende Geschichte der ›idealen Sphäre‹ heimlich jene
notwendigen Verbindungen, die sie angeblich aus den Fakten
Der Philosoph und die Soziologie 147

3 ableitet.2 Was die ›Weltanschauungen‹ angeht, die sich damit


abfinden, unter Berücksichtigung der Errungenschaften des
faktischen Wissens nur die in jedem Augenblick gezogene Bi-
lanz dessen zu sein, was zu denken erlaubt ist, so räumt Husserl
sehr wohl ein, daß sie ein wirkliches Problem darstellen, es aber
in Begriffe von der Art kleiden, daß sie eine ernsthafte Lösung
des Problems vereiteln. Das wahre Problem liegt darin, daß die
Philosophie ihren Sinn verlieren würde, wenn sie auf ein Urteil
über die Gegenwart verzichtete. Genau wie eine Sittlichkeit, die
als »Idee von einem prinzipiell transfiniten Unendlichen« keine
Sittlichkeit mehr wäre, so wäre auch eine Philosophie, die prin-
zipiell auf jede Stellungnahme in der Gegenwart verzichtete,
4 keine Philosophie mehr.3 Tatsächlich ist es allerdings so, daß die
Philosophen der Weltanschauung mit ihrem Willen, den aktuel-
len Problemen entgegenzutreten, »ihr System haben wollen, und
5 zeitig genug, um auch danach leben zu können«,4 alles verfehlen:
Sie können in die Lösung dieser Probleme nicht mehr Strenge
einbringen als die anderen Menschen, denn sie sind, wie sie, in
der Weltanschauung und verfügen über keine Weltwissenschaft
und während sie ihre Energie dafür verwenden, die Gegenwart
zu denken, entziehen sie der wahren Philosophie die unbedingte
Hingabe, die sie erfordert. Sie würde folglich, wenn sie erst ein-
mal konstituiert ist, ein Denken der Gegenwart ebenso wie der
Vergangenheit und der Ewigkeit erlauben. Auf die Gegenwart
zuzugreifen bedeutet also, das Solide für das Trügerische fallenzu-
lassen …
Als Husserl im zweiten Abschnitt seiner Karriere auf die
Probleme der Geschichte, und zunächst auf die Probleme der
Sprache zurückkommt, stoßen wir nicht mehr auf die Idee ei-
nes Philosophensubjekts, das Herr über alle Formen des Mögli-
chen wäre und zunächst seine Sprache von sich selbst entfernen
müßte, um jenseits aller Aktualität die idealen Formen einer

2 Die Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 325.


3 Ebd., S. 332.
4 Ebd., S. 338.
148 Der Philosoph und die Soziologie

universalen Sprache wiederzufinden. Angesichts der Sprache


scheint nun die erste Aufgabe der Philosophie zu sein, unsere
Inhärenz mit einem bestimmten System der gesprochenen Spra-
che wieder vor uns aufzudecken, das wir genau deswegen mit
voller Wirksamkeit einsetzen, weil es uns ebenso unmittelbar
präsent ist wie unser Leib. Die Philosophie der Sprache steht
der empirischen Sprachwissenschaft nicht länger so gegenüber
wie ein vollständiger Objektivierungsversuch der Sprache einem
stets von den Vorurteilen der Ausgangssprache bedrohten Wissen
entgegengesetzt ist, sie ist vielmehr, ganz im Gegenteil, die Wie-
derentdeckung des sprechenden Subjekts bei seinem Einsatz, die
im Gegensatz steht zu einer Sprachwissenschaft, welche die Spra-
che unvermeidlich wie eine Sache behandelt. Pos5 hat sehr gut 6
gezeigt, in welchem Sinne die phänomenologische Haltung, im
Gegensatz zur wissenschaftlichen oder beobachtenden Haltung,
die auf die bereits gebildete Sprache gerichtet ist, welche sie als
etwas Vergangenes sieht und in eine Summe sprachlicher Fak-
ten zerlegt, hinter der ihre Einheit verschwindet, nun diejenige
ist, die den direkten Zugang zur lebendigen und gegenwärtigen
Sprache in einer Sprachgemeinschaft erlaubt, die sich ihrer nicht
nur bedient, um zu bewahren, sondern auch, um zu begründen,
um eine Zukunft anzustreben und zu bestimmen. In diesem Fall
wird die Sprache also nicht mehr in Elemente zerlegt, die sich
nach und nach summierten, sie gleicht vielmehr einem Organ,
dessen Teile zu seinem einzigartigen Funktionieren beitragen, so
verschieden sie auch in ihrer Herkunft sein mögen, und so zufäl-
lig ihre ursprüngliche Einfügung in das Ganze sein mag … Wenn
nun das Eigentliche der Phänomenologie tatsächlich darin liegt,
sich der Sprache auf diese Weise zu nähern, dann bedeutet dies,
daß sie nicht länger eine synthetische Bestimmung aller Formen
des Möglichen ist; die Reflexion ist nicht mehr die Rückkehr zu
einem vorempirischen Subjekt, das die Schlüssel zur Welt besitzt;
sie ist nicht mehr im Besitz der konstitutiven Elemente des ak-

5 H. Pos: »Phénoménologie et Linguistique«, Revue Internationale de

Philosophie, Januar 1939.


Der Philosoph und die Soziologie 149

tuellen Objekts, und sie umkreist es nicht länger. Sie muß sich
seiner vielmehr durch einen Kontakt oder eine Vertrautheit be-
wußt werden, die ihr Verständnisvermögen zunächst übersteigen.
Der Philosoph ist erst einmal derjenige, der bemerkt, daß er in
der Sprache situiert ist, daß er spricht; und die phänomenolo-
gische Reflexion wird sich nicht mehr darauf beschränken, in
aller Deutlichkeit die ›notwendigen Bedingungen‹ aufzuzählen,
ohne die es keine Sprache geben würde; sie muß das aufdecken,
was bewirkt, daß es eine gesprochene Sprache gibt, das Paradox
eines zugleich sprechenden und verstehenden Subjekts, das der
Zukunft zugewandt ist, trotz allem, was wir über die Zufälle und
die Sinnverschiebungen wissen, die zur Sprache geführt haben.
Es gibt also in der Aktualität des Gesprochenen eine Einsicht, die
sich in keinem einfach nur ›möglichen‹ Ausdruck findet, es gibt
in unserem sprachlichen ›Präsenzfeld‹ eine Operation, die uns
als Modell dient, um uns andere Systeme möglicher Ausdrücke
vorzustellen, ohne daß diese Operation ein ganz besonderer Fall
jener Ausdrücke wäre. Die Reflexion ist nicht mehr der Übergang
zu einer anderen Ordnung, welche die Ordnung der aktuellen
Dinge aufsaugte, sie ist vielmehr zunächst ein schärferes Bewußt-
sein unserer Verwurzelung in ihnen. Der Durchgang durch das
Aktuelle ist von nun an die absolute Bedingung einer gültigen
Philosophie.
Offen gestanden muß man nicht erst die Anerkennung der
Lebenswelt als erstes phänomenologisches Thema abwarten, um
bei Husserl die Ablehnung einer formalen Reflexion zu verzeich-
nen. Der Leser der Ideen I wird bereits bemerkt haben, daß die
eidetische Intuition immer schon eine ›Feststellung‹ war und
die Phänomenologie eine ›Erfahrung‹ (Eine Phänomenologie
der Anschauung, sagte Husserl, muß auf der Basis einer Sich-
tigkeit konstruiert werden, die wir erst einmal tatsächlich er-
proben, und er lehnte die Möglichkeit einer ›Mathematik der
Phänomene‹, einer ›Geometrie des Erlebens‹ im allgemeinen
7 ab.). Die aufsteigende Bewegung wurde dabei einfach nicht
hervorgehoben. Das Denken stützte sich kaum auf seine tat-
sächlichen Strukturen, um seine möglichen Strukturen daraus
150 Der Philosoph und die Soziologie

abzuleiten: Eine vollkommen imaginäre Variation zog aus der


kleinsten Erfahrung einen Reichtum an eidetischen Affirmatio-
nen. Wenn die Anerkennung der Lebenswelt, und damit auch
der erlebten Rede, wie in den letzten Schriften, charakteristisch
wird für die Phänomenologie, dann ist dies nur eine resolutere
Art und Weise, zum Ausdruck zu bringen, daß die Philosophie
nicht ohne weiteres im Besitz der Wahrheit der Sprache und der
Welt ist, sondern daß sie eher die Wiedererlangung und die er-
ste Formulierung eines in unserer Welt und in unserem Leben
verstreuten Logos ist, der an ihre konkreten Strukturen gebun-
den ist – dieser ›Logos der ästhetischen Welt‹, von dem schon die 8
Formale und transzendentale Logik gesprochen hat. Husserl wird
nur die Bewegung seines ganzen früheren Denkens vollenden,
wenn er in einem posthum veröffentlichten Fragment schreiben
wird, die sprachliche Inkarnation überführe das vorübergehende
innere Phänomen in eine ideale Existenz.6 Die ideale Existenz, 9
welche die Möglichkeit der Sprache an ihrem Ausgangspunkt be-
gründen sollte, ist nun ihre ureigenste Möglichkeit … Wenn dann
aber die Philosophie kein Übergang mehr zur Unendlichkeit des
Möglichen ist, kein Sprung mehr in die absolute Objektivität,
wenn sie zunächst einmal eine Berührung mit dem Aktuellen
darstellt, so versteht man, daß bestimmte sprachwissenschaftli-
che Forschungen Husserls Forschungen vorwegnehmen und daß
manche Linguisten, ohne es zu wissen, ihren Fuß bereits auf das
Feld der Phänomenologie gesetzt haben. Weder Husserl noch Pos
erwähnen ihn, aber es fällt schwer, nicht an Saussure zu denken,
wenn er verlangt, man müsse von der Objekt-Sprache wieder zur
gesprochenen Sprache zurückkehren.
In Wirklichkeit verändert sich die ganze Beziehung der Phi-
losophie zur Geschichte gerade in der Bewegung der Reflexion,
welche die Philosophie von der Geschichte zu befreien suchte.
Je länger er über die Beziehung der ewigen Wahrheiten zu den
faktischen Wahrheiten nachdenkt, desto mehr ist Husserl ge-

6 »Ursprung der Geometrie«, in: Revue Internationale de Philosophie,

Januar 1939, S. 210.


Der Philosoph und die Soziologie 151

zwungen, seine anfänglichen Abgrenzungen durch eine weitaus


weniger einfache Beziehung zu ersetzen. Seine über mindestens
zwanzig Jahre hinweg fortgeführten Meditationen über die
transzendentale Reflexion und über ihre Möglichkeit zeigen in
hinreichendem Maße, daß dieses Wort in seinen Augen keine
Bezeichnung einer eindeutigen Fähigkeit darstellte, sondern
daß es vielmehr möglich gewesen sei, etwas zu umschreiben,
mit dem Finger auf etwas zu zeigen und es tatsächlich, neben
den anderen Modalitäten der Erfahrung, für sich zu betrach-
ten. Trotz aller einschlägigen Formeln, die stets nur wieder die
radikale Unterscheidung von natürlicher und transzendentaler
Einstellung bekräftigen, weiß Husserl doch von Anfang an, daß
sie tatsächlich ineinander übergehen und daß jede Tatsache des
Bewußtseins das Transzendentale in sich trägt. Was jedenfalls die
Beziehung der Tatsache zur Wesenheit angeht, so sah ein so al-
ter Text wie Die Philosophie als strenge Wissenschaft, nachdem er,
wie wir in Erinnerung gerufen haben, die ›ideale Sphäre‹ und
die geschichtlichen Fakten klar voneinander unterschieden hatte,
ausdrücklich das Überschneiden der beiden Ordnungen vor, als
er festhielt, falls die geschichtliche Kritik wirklich zeige, daß eine
solche Ordnung der Institutionen ohne substantielle Realität sei
und letztlich nichts weiter als ein Überbegriff, um eine Masse an
Tatsachen ohne internen Bezug zu bezeichnen, sei dies darauf
zurückzuführen, daß die empirische Geschichte die Intuitionen
einer verworrenen Wesenheit einschließe und die Kritik stets die
Kehrseite oder das Auftreten einer schon vorhandenen positiven
Bestätigung sei … Im selben Artikel räumte Husserl bereits ein,
daß die Geschichte für den Philosophen wertvoll sei, weil sie ihm
den Gemeingeist offenbare. Es ist nicht allzu schwierig, den Bo-
gen von diesen ersten zu den ganz späten Formulierungen zu
schlagen. Zu behaupten, die Geschichte lehre den Philosophen,
was der Gemeingeist sei, heißt behaupten, sie gebe ihm das Be-
ziehungsgeflecht der Subjekte zu denken. Sie versetzt ihn in die
Notwendigkeit, zu verstehen inwiefern es nicht nur Geister gibt,
die jeder für sich ihre eigene Sicht der Welt haben, die der Phi-
losoph der Reihe nach prüfen kann, ohne daß es ihm erlaubt
152 Der Philosoph und die Soziologie

oder noch weniger vorgeschrieben wäre, sie zusammen zu den-


ken, sondern eine Gemeinschaft der Geister, die füreinander
und miteinander existieren und aufgrund dieser Tatsache jeder
für sich wieder mit einem Äußeren versehen sind, durch das sie
sichtbar werden. Und zwar so, daß der Philosoph nicht mehr
vom Geist im Allgemeinen reden und alle unter einem einzigen
Namen abhandeln kann, daß er sich nicht einmal einbilden kann,
sie zu konstituieren, sondern sich vielmehr selbst im Dialog der
Geister sehen muß, situiert wie alle anderen, und ihnen im sel-
ben Augenblick, in dem er sie für sich beansprucht, die Würde
von Konstituierenden zugestehen muß. Man ist ganz nahe an der
rätselhaften Formel, zu der Husserl in den Texten der Krisis der
europäischen Wissenschaften gelangen wird, wenn er schreibt, daß
»die transzendentale Subjektivität Intersubjektivität« sei. Wie 10
aber kann man vermeiden, daß die Grenzen des Transzenden-
talen und des Empirischen verschwimmen, wenn das Transzen-
dentale Intersubjektivität ist? Denn mit dem Anderen ist es alles,
was der Andere von mir sieht, ist es meine ganze Faktizität, die
sich der Subjektivität wieder eingegliedert, oder zumindest wie
ein unentbehrliches Element seiner Definition gesetzt findet. Auf
diese Weise steigt das Transzendentale in die Geschichte hinab,
oder – wenn man so will – das Geschichtliche ist keine äußere
Beziehung zweier oder mehrerer absolut autonomer Subjekte
mehr, es hat vielmehr ein Innenleben, es schließt sich der den
Subjekten eigenen Definition an, und die Subjekte wissen nicht
mehr nur jedes für sich, sondern auch eins für das andere, daß sie
Subjekte sind.
In den unveröffentlichten Schriften der letzten Schaffenspe-
riode wird dieser Gegensatz von Tatsache und Wesenheit aus-
drücklich durch jene Idee vermittelt, daß die absolut reine Re-
flexion, die ihre Gegenstände enthält, eine Sinngenesis entdecke,
die Forderung nach einer Entwicklung, einem ›Vorher‹ und ei-
nem ›Nachher‹ in der Darlegung, einer Serie von Schritten oder
Maßnahmen, die einander wieder aufgreifen und von denen die
eine nicht ›gleichzeitig‹ zur anderen sein könnte und sie vielmehr
als einen Horizont der Vergangenheit annimmt. Selbstverständ-
Der Philosoph und die Soziologie 153

lich ist diese intentionale Geschichte nicht die einfache Summe


der für sich genommenen Darlegungen: Sie greift sie wieder auf
und ordnet sie, in der Aktualität einer Gegenwart belebt und be-
richtigt sie eine Genese, die ohne sie fehlschlagen könnte. Aber
sie kann dies nur in unmittelbarer Berührung mit dem Gege-
benen tun, indem sie in ihm ihre Motive sucht. Die Studie der
Bedeutungen und die Studie der Fakten greifen nicht mehr allein
durch einen unglücklichen Zufall ineinander: Eine Bedeutung
wäre leer, wenn sie nicht ein bestimmtes Werden der Wahrheit
verdichtete.
Man muß hoffen, daß wir bald, in den gesammelten Werken
Husserls,7 den Brief lesen können, den er am 11. März 1935 an
Lévy-Bruhl schrieb, nachdem er La mythologie primitive gelesen
11 hatte. Er scheint hier zuzugeben, daß der Philosoph keinen un-
mittelbaren Zugang zu einem Universellen der einfachen Refle-
xion finden kann, daß er nicht in der Lage ist, auf die anthro-
pologische Erfahrung zu verzichten, ebensowenig wie er durch
eine einfach imaginäre Variation seiner eigenen Erfahrungen
das konstruieren kann, was den Sinn der anderen Erfahrungen
und der anderen Zivilisationen ausmacht. »Es ist eine mögliche
und höchst wichtige Aufgabe«, schreibt er, »es ist eine große
Aufgabe, uns in eine in lebendiger generativer Sozialität abge-
schlossen lebende Menschheit einzufühlen und sie zu verstehen
als in ihrem sozial vereinheitlichten Leben und aus ihm die Welt
habend, die für sie nicht ›Weltvorstellung‹, sondern die für sie
wirklich seiende Welt ist.« Folglich wird uns der Zugang zu den
archaischen Welten durch unsere eigene Welt versperrt: Die Pri-
mitiven bei Lévy-Bruhl sind »geschichtslos«, es handelt sich bei

7 Die Gesamtausgabe wird gerade unter der Leitung von H. L. Van

Breda bei Martinus Nijhof in Den Haag veröffentlicht. Wir haben für das
Zitat der wenigen unveröffentlichten Sätze, die man im folgenden lesen
wird, keinerlei Auflagen seitens der Herausgeber erhalten. Daher bitten
wir den Leser, hierin nur einen Vorgeschmack der Texte zu suchen, deren
einzig autorisierte Herausgabe vom Leuvener Husserl-Archiv vorbereitet
wird.
154 Der Philosoph und die Soziologie

ihnen um »ein Leben, das nur strömende Gegenwart ist«. Im Ge-


gensatz dazu leben wir in einer geschichtlichen Welt, daß heißt
in einer Welt, die »teils verwirklichte Zukunft hat (nationale
›Vergangenheit‹), teils erst zu verwirklichende Zukunft«. Die
intentionale Analyse, welche die Strukturen der archaischen
Welt wiederfinden und wiederherstellen wird, kann sich nicht
darauf beschränken, die Strukturen unserer Welt zu erklären:
Denn was diesen Strukturen Sinn verleiht, ist allein die Umwelt,
deren typischer Stil sie sind, und man kann sie folglich nur dann
verstehen, wenn man zumindest versteht, wie die Zeit strömt
und wie das Sein sich in den Kulturen konstituiert. Husserl
geht so weit, zu schreiben, daß »auf diesem Wege einer schon
weit durchgearbeiteten Intentionalanalytik der historische Re-
lativismus sein zweifelloses Recht behält – als anthropologische
Tatsache […]«
Was macht er also mit der Philosophie, um zu einem Ende zu
kommen? Die letzten Zeilen des Briefes deuten es an: Die Philo-
sophie muß sämtliche Errungenschaften der Wissenschaft, die
das erste Wort der Erkenntnis sind, übernehmen, und mit ihnen
folglich auch den geschichtlichen Relativismus. Als Philosophie
aber begnügt sie sich nicht damit, die Verschiedenartigkeit der
anthropologischen Fakten zu registrieren: »Die Anthropologie ist
jedoch, wie alle positive Wissenschaft und auch deren Universi-
tas, zwar das erste, aber nicht das letzte Wort der Erkenntnis.« Es
würde nach dem positiven Wissen, nicht vorher, eine Autonomie
der Philosophie geben. Sie würde den Philosophen nicht davon
befreien, alles zusammenzutragen, was die Anthropologie uns
geben kann, daß heißt im Grunde unsere tatsächliche Kommu-
nikation mit den anderen Kulturen auf die Probe zu stellen; sie
könnte der Kompetenz des Gelehrten nichts entziehen, das seinen
Verfahren der Forschung zugänglich wäre. Sie würde sich einfach
in einer Dimension einrichten, in der sie kein wissenschaftliches
Wissen anfechten kann. Versuchen wir zu sagen, in welcher.
Wenn der Philosoph nicht mehr das unbedingte Vermögen für
sich in Anspruch nimmt, ganz und gar sein eigenes Denken zu
denken – wenn er zugesteht, daß seine ›Ideen‹, seine ›Evidenzen‹
Der Philosoph und die Soziologie 155

in gewisser Hinsicht immer naiv sind und daß es, betrachtet man
sie im Geflecht der Kultur, der er selbst angehört, nicht genügt,
sie, um sie in Wahrheit zu erkennen, eingehend zu untersuchen
und sie im Denken variieren zu lassen, sondern daß man sie mit
anderen kulturellen Gebilden konfrontieren und sie vor dem
Hintergrund anderer Vorurteile sehen muß – hat er dann nicht
von diesem Moment an abgedankt und seine Rechte wieder an
die positiven Disziplinen und die empirische Forschung abgetre-
ten? Genau das macht er nicht. Dieselben geschichtlichen Abhän-
gigkeiten, die dem Philosophen verbieten, sich einen unmittel-
baren Zugang zum Allgemeinen oder zum Ewigen anzumaßen,
verbieten dem Soziologen, sich in dieser Funktion an seine Stelle
zu setzen und der wissenschaftlichen Objektivierung des Sozialen
den Wert einer Ontologie zuzuschreiben. Der tiefste Sinn des Be-
griffs von Geschichte liegt nicht darin, das denkende Subjekt in
einem Punkt der Zeit und des Raums einzuschließen: Es kann
auf diese Weise nur im Blickwinkel eines Denkens erscheinen,
das seinerseits in der Lage ist, jede Lokalität und jede Tempo-
ralität zu verlassen, um es an seinem Ort und in seiner Zeit zu
sehen. Dies aber ist genau das Vorurteil eines absoluten Denkens,
das der geschichtliche Sinn diskreditiert. Es geht nicht darum,
der Wissenschaft, wie es der Historizismus betreibt, jene höchste
Autorität zu übertragen, die man der systematischen Philosophie
versagt. Ihr glaubt, für immer und für jeden zu denken, sagt der
Soziologe zum Philosophen, und gerade darin bringt ihr doch
nur die Vorurteile und Anmaßungen eurer Kultur zum Aus-
druck. Das stimmt, aber dies gilt ebenso für den dogmatischen
Soziologen wie für den Philosophen. Er selbst, der so spricht, von
welchem Standpunkt aus spricht er? Diese Idee einer geschichtli-
chen Zeit, welche die Philosophen so enthielte wie eine Schachtel
einen Gegenstand enthält, kann von dem Soziologen nur gebildet
werden, indem er sich seinerseits außerhalb der Geschichte stellt
und das Privileg des absoluten Beobachters für sich beansprucht.
In Wirklichkeit ist es die Vorstellung der Beziehungen des Gei-
stes und seines Gegenstandes selbst, zu deren Neubearbeitung
uns das geschichtliche Bewußtsein einlädt. Es ist genau so, daß
156 Der Philosoph und die Soziologie

die Inhärenz meines Denkens angesichts einer bestimmten, ihm


eigenen geschichtlichen Situation und, über diese hinweg, auch
angesichts anderer geschichtlicher Situationen, die es interessie-
ren – da mein Denken in Bezug auf die objektiven Beziehungen,
mit denen uns die Wissenschaft unterhält, originär ist – aus dem
Bewußtsein des Sozialen eine Erkenntnis meiner selbst werden
läßt, daß sie eine Sicht der Intersubjektivität als meiner eigenen auf
den Plan ruft und autorisiert, welche die Wissenschaft vergißt,
obwohl sie sie anwendet, die aber gerade das der Philosophie Ei-
gene ist. Wenn die Geschichte uns alle umgibt, dann ist es an uns,
zu verstehen, daß unser Anteil an der Wahrheit nicht gegen die
geschichtliche Inhärenz, sondern vielmehr durch sie zu erreichen
ist. Oberflächlich gedacht, zerstört sie jede Wahrheit; radikal ge-
dacht, gründet sie eine neue Idee der Wahrheit. Solange ich für
mich das Ideal eines absoluten Beobachters, einer Erkenntnis
ohne Standpunkt bewahre, kann ich in meiner Situation nur das
Prinzip eines Irrtums sehen. Wenn ich aber einmal erkannt habe,
daß ich durch sie mit jeder Handlung und jeder Erkenntnis, die
für mich einen Sinn haben kann, verbunden bin und daß sie
nach und nach alles enthält, was für mich sein kann, dann er-
weist sich meine Berührung mit dem Sozialen in der Endlichkeit
meiner Situation mir gegenüber als Ausgangspunkt jeder Wahr-
heit, einschließlich der wissenschaftlichen Wahrheit, und da wir
eine Idee der Wahrheit haben, da wir in der Wahrheit sind und
nicht aus ihr heraustreten können, brauche ich nur noch eine
Wahrheit in der Situation zu bestimmen. Das Wissen wird sich
auf jene unwiderlegbare Tatsache gründen, daß wir nicht in der
gleichen Situation sind wie ein Objekt im objektiven Raum und
daß diese Situation für uns ein Prinzip der Neugier, der Nachfor-
schung und des Interesses zunächst für die anderen Situationen
ist, als Varianten der unsrigen, dann für unser eigenes Leben,
das von den anderen erhellt wird und diesmal als Variante der
anderen angesehen wird, und schließlich ist diese Situation das,
was uns mit der Totalität der menschlichen Erfahrung verbindet,
ebenso wie das, was uns von ihr trennt. Man wird den Versuch,
ideale Variablen zu konstruieren, die das Funktionieren dieser
Der Philosoph und die Soziologie 157

tatsächlichen Kommunikation objektivieren und schematisieren,


als Wissenschaft und als Soziologie bezeichnen. Als Philosophie
wird man hingegen das Bewußtsein bezeichnen, daß wir die of-
fene und sukzessive Gemeinschaft der lebenden, sprechenden
und denkenden Alter egos bewahren müssen, die Gemeinschaft
des einen in Gegenwart des Anderen und die Gemeinschaft aller
in Bezug zur Natur, so wie wir sie hinter uns, um uns und vor
uns erahnen, an den Grenzen unseres geschichtlichen Feldes wie
auch der letzten Realität, deren Funktionieren unsere theoreti-
schen Konstruktionen nachzeichnen und die sie nicht ersetzen
könnten. Die Philosophie definiert sich also nicht über einen
bestimmten Bereich, der ihr zu eigen wäre: Sie spricht, wie die
Soziologie auch, nur von der Welt, den Menschen und dem Geist.
Sie unterscheidet sich aber durch einen bestimmten Modus des
Bewußtseins, das wir von den Anderen, von der Natur oder von
uns selbst haben: Es ist die Gegenwärtigkeit der Natur und des
Menschen, die nicht ›abgeflacht‹ (Hegel) sind in einer sekundä-
ren Objektivität, sondern so, wie sie sich in unserem aktuellen
Umgang des Bewußtseins und des Handelns mit ihnen darbieten,
es ist die Natur in uns, es sind die Anderen in uns und wir in
ihnen. Daher muß man nicht nur sagen, daß die Philosophie mit
der Soziologie vereinbar ist, man muß sogar sagen, daß diese für
jene als eine beständige Erinnerung an ihre Aufgaben notwendig
ist und daß der Soziologe jedesmal, wenn er zu den lebendigen
Quellen seines Wissens zurückkehrt, zu dem, was in ihm wie ein
Mittel wirkt, die noch so weit von ihm entfernten kulturellen
Gebilde zu verstehen, unwillkürlich Philosophie betreibt … Die
Philosophie ist kein bestimmtes Wissen, sie ist die Wachsamkeit,
die uns die Quelle allen Wissens nicht vergessen läßt.
Wir behaupten nicht, Husserl habe jemals irgendeiner Defini-
tion dieser Art zugestimmt, da er die Rückkehr zur lebendigen
Sprache und Geschichte, die Rückkehr zur Lebenswelt bis zum
Ende stets als eine vorbereitende Maßnahme betrachtet hat, auf
welche die eigentliche philosophische Aufgabe der universalen
Konstitution folgen müsse. Dennoch ist es eine Tatsache, daß die
Rationalität in seinem letzten veröffentlichten Werk nur noch
158 Der Philosoph und die Soziologie

eine der beiden Formen des Möglichen ist, vor denen wir uns
befinden, wobei das andere Mögliche das Chaos ist. Und gerade
im Bewußtsein einer Art von anonymer Widersetzlichkeit, wel-
che die Rationalität bedroht, sucht Husserl nach dem, was die
Erkenntnis und das Handeln stimulieren könnte. Die Vernunft
als Aufruf und Aufgabe, die ›latente Vernunft‹, die es in sie selbst
zu transformieren und zu sich selbst zu bringen gilt, wird das
Kriterium der Philosophie. »Damit allein entscheidet sich, ob
das dem europäischen Menschentum mit der Geburt der grie-
chischen Philosophie eingeborene Telos, ein Menschentum aus
philosophischer Vernunft sein zu wollen und nur als solches sein
zu können – in der unendlichen Bewegung von latenter zu of-
fenbarer Vernunft und im unendlichen Bestreben der Selbstnor-
mierung durch diese seine menschliche Wahrheit und Echtheit,
ein bloßer historisch-faktischer Wahn ist, ein zufälliger Erwerb
einer zufälligen Menschheit, inmitten ganz anderer Menschheiten
und Geschichtlichkeiten; oder ob nicht vielmehr im griechischen
Menschentum erstmalig zum Durchbruch gekommen ist, was als
Entelechie im Menschentum als solchen wesensmäßig beschlos-
sen ist. Menschentum überhaupt ist wesensmäßig Menschsein
in generativ und sozial verbundenen Menschheiten, und ist der
Mensch Vernunftwesen (animal rationale), so ist er es nur, sofern
seine ganze Menschheit Vernunftmenschheit ist – latent auf Ver-
nunft ausgerichtet oder offen ausgerichtet auf die zu sich selbst
gekommene, für sich selbst offenbar gewordene und nunmehr
in Wesensnotwendigkeit das menschheitliche Werden bewußt
leitende Entelechie. Philosophie, Wissenschaft wäre demnach die
historische Bewegung der Offenbarung der universalen, dem Men-
schentum als solchen ›eingeborenen‹ Vernunft.«8 Auf diese Weise 12
ist das Wesen des Menschen nicht gegeben, ebensowenig wie die
unbedingte Wesensnotwendigkeit: Sie wird nur dann eine Rolle
spielen, wenn die Rationalität, deren Idee uns Griechenland hin-
terlassen hat, sich durch die Erkenntnis und das Handeln, das

8 Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale

Phänomenologie, I, Philosophia, Belgrad, 1936, S. 92.


Der Philosoph und die Soziologie 159

sie ermöglicht, als wesentlich erweist, statt immer nur Zufall zu


bleiben, und wenn sie von den irrationalen Menschheiten an-
erkannt wird. Die Husserlsche Wesenheit wird nun durch eine
›Entelechie‹ übertragen.
Die Rolle der Philosophie als Bewußtsein der Rationalität in
der Kontingenz ist unter dem Strich kein unbedeutender Rest.
Allein das philosophische Bewußtsein der Intersubjektivität
erlaubt uns in letzter Analyse, das wissenschaftliche Wissen zu
verstehen. Ohne dieses Bewußtsein bleibt es auf unbestimmte
Weise aufgeschoben, immer bis zu jenem Grenzpunkt der Kau-
salitätsdiskussionen verschoben, die ihrer Natur nach, wenn sie
sich auf den Menschen beziehen, endlos sind. Man fragt sich
beispielsweise, ob die sozialen Beziehungen nicht nur, wie es
eine psychoanalytische Soziologie gern hätte, die Erweiterung
und die Verallgemeinerung des sexuell-aggressiven Dramas sind,
oder ob nicht vielmehr dieses Drama selbst in der Form, in der
es von der Psychoanalyse beschrieben wird, nur ein besonderer
Fall der institutionellen Beziehungen in den abendländischen
Gesellschaften ist. Diese Diskussionen verfolgen das Ziel, die
Soziologen zur Beobachtung aufzufordern, Fakten aufzudecken,
Analysen und Intuitionen entstehen zu lassen. Aber sie enthalten
keine Schlußfolgerung, solange man auf dem Gebiet des kausalen
und ›objektiven‹ Denkens bleibt, da man ebensowenig eine der
kausalen Ketten auf nichts reduzieren kann noch alle zusammen
als kausale Kette denken kann. Man kann diese Ansichten nur
unter der Bedingung alle zusammen für so wahr halten, wie sie
es sind, daß man zu einem Modus akausalen Denkens übergeht,
der Philosophie ist: Man muß zugleich verstehen, daß sich das
individuelle Drama zwischen Rollen abspielt, die bereits in der
institutionellen Gesamtheit festgeschrieben sind, und daß das
Kind folglich, von Beginn seines Lebens an, durch die einfache
Wahrnehmung der Zuwendung, die man ihm zukommen läßt,
und der Utensilien, die es umgeben, eine Entschlüsselung der
Bedeutungen vornimmt, die sein eigenes Drama ohne weiteres
zum Drama seiner ganzen Kultur verallgemeinert – und daß
dennoch das ganze symbolische Bewußtsein letzten Endes das
160 Der Philosoph und die Soziologie

ausarbeitet, was das Kind erlebt oder nicht erlebt, erleidet oder
nicht erleidet, fühlt oder nicht fühlt, so daß es kein Detail seiner
ganz individuellen Geschichte gibt, das nicht etwas zu dieser ihm
eigenen Bedeutung beiträgt, die es an den Tag legen wird, wenn
es, nachdem es zunächst so gedacht und gelebt hatte wie es ihm
gut schien, und nachdem es dem Imaginären seiner Kultur ge-
mäß wahrgenommen hatte, schließlich dorthin gelangt, diese Be-
ziehung umzukehren und in die Bedeutungen seiner Worte und
seines Verhaltens hineinzuschlüpfen, sie bis in die verborgensten
Einzelheiten seiner Erfahrung hinein in Kultur zu verwandeln.
Daß diese zentripetale und diese zentrifugale Bewegung beide
zugleich möglich sind, ist unter dem Gesichtspunkt der Kausa-
lität nicht denkbar. Nur in der philosophischen Haltung werden
diese Umkehrungen und diese ›Metamorphosen‹ begreiflich und
sogar sichtbar, diese Nähe und diese Distanz der Vergangenheit
und der Gegenwart, des Archaischen und des ›Modernen‹, dieses
jeweilige Zusammenrollen der kulturellen Zeit und des kulturel-
len Raums in sich selbst, diese ständige Überdeterminierung der
menschlichen Ereignisse, die bewirkt, daß, wie einzigartig auch
die lokalen und zeitlichen Bedingungen sein mögen, die soziale
Gegebenheit uns immer als Variante eines einzigen Lebens er-
scheint, zu dem auch das unsrige gehört, und daß alles Andere
für uns ein anderes Wir-selbst ist.
Die Philosophie ist wohl immer ein Bruch mit dem Objekti-
vismus, eine Rückkehr von den constructa zum Erlebten, von der
Welt zu uns selbst. Es ist nur so, daß dieser unerläßliche Schritt,
der sie charakterisiert, sie nicht mehr auf die dünn gewordene
Atmosphäre der Introspektion oder auf ein zahlenmäßig von
dem Bereich der Wissenschaft unterschiedenes Gebiet überträgt,
er bringt sie nicht mehr in Rivalität zum Wissen, seit man an-
erkannt hat, daß das ›Innere‹, auf das sie uns zurückführt, kein
›Privatleben‹ ist, sondern eine Intersubjektivität, die uns nach
und nach wieder mit der gesamten Geschichte verbindet. Wenn
ich bemerke, daß das Soziale nicht nur ein Objekt ist, sondern
zunächst einmal meine Situation, und wenn ich in mir das Be-
wußtsein dieses Sozial-Meinigen erwecke, dann ist es meine
Der Philosoph und die Soziologie 161

ganze Synchronie, die mir gegenwärtig wird, ist es über sie hin-
weg die ganze Vergangenheit, die ich wirklich als die Synchro-
nie zu denken in der Lage bin, die sie zu ihrer Zeit gewesen ist,
und ist es das ganze konvergierende und unvereinbare Handeln
der geschichtlichen Gemeinschaft, das mir tatsächlich in meiner
lebendigen Gegenwart gegeben ist. Der Verzicht auf den Erklä-
rungsapparat des Systems läßt die Philosophie nicht auf den
Rang eines Hilfsmittels oder einer Propagandistin des objektiven
Wissens zurückfallen, da sie über eine eigene Dimension, näm-
lich die der Koexistenz verfügt, nicht im Sinne einer vollendeten
Tatsache oder eines Gegenstandes der Kontemplation, sondern
als ein ständiges Ereignis und ein Milieu der universalen Praxis.
Die Philosophie ist unersetzlich, weil sie uns die Bewegung offen-
bart, durch die Leben zu Wahrheiten werden, und die Zirkulari-
tät dieses einzigartigen Seins, das in gewissem Sinne bereits alles
ist, was es gerade denkt.
1 VON M AUS S Z U C L AU DE L É V I- S T R AUS S

Was wir heute Sozialanthropologie nennen – ein Wort, das sich


außerhalb Frankreichs längst eingebürgert hat und nun auch in
2 Frankreich Verbreitung findet –, ist das, was aus der Soziologie
wird, sobald sie zugibt, daß das Soziale, wie auch der Mensch
selbst, zwei Pole oder zwei Gesichter hat: Es ist bedeutungshaft,
man kann es von innen her verstehen, doch zugleich ist hier die
persönliche Intention generalisiert, abgeschwächt, sie tendiert
zum Prozeß hin, sie ist, wie das bekannte Wort sagt, vermittelt
(médiatisée) durch die Dinge. Nun hat niemand in Frankreich
diese geschmeidige Form der Soziologie so deutlich vorwegge-
nommen wie Marcel Mauss. Die Sozialanthropologie ist in vie-
lerlei Hinsicht identisch mit dem Werk von Mauss, das unter
unseren Augen fortlebt.
Nun, fünfundzwanzig Jahre nach seinem ersten Erschei-
nen, wurde der berühmte Essai sur le don, forme archaïque de
l’échange, für die angelsächsische Leserschaft übersetzt und ein-
geleitet durch ein Vorwort von Evans-Pritchard. »Kaum einer«,
so schrieb Claude Lévi-Strauss, »hat Die Gabe lesen können ohne
die noch undefinierbare, aber unabweisbare Gewißheit, einem
für die Entwicklung der Wissenschaft entscheidenden Ereignis
3 beizuwohnen«. Es lohnt sich, diesen Augenblick der Soziologie,
der solche Erinnerungen hinterlassen hat, nachzuzeichnen.
Die neue Wissenschaft war, nach den bekannten Worten
Durkheims, entschlossen, die sozialen Tatsachen ›als Dinge‹ zu
4 behandeln und nicht als ›Systeme objektivierter Ideen‹. Doch
sobald es in die Details ging, kam sie nicht darüber hinaus, das
Soziale als ›Psychisches‹ zu definieren. Es handelt sich, wie es
hieß, um ›Vorstellungen‹, nur daß diese ›kollektiv‹ statt indivi-
duell sein sollten. Von daher stammt die umstrittene Idee eines
›Kollektivbewußtseins‹, das als eigenständiges Sein inmitten der
Geschichte auftaucht. Die Beziehung zwischen ihm und dem In-
164 Von Mauss zu Claude Levi-Strauss

dividuum blieb äußerlich wie die zwischen zwei Dingen. Was der
sozialen Erklärung zugestanden wurde, wurde der psychischen
oder physiologischen Erklärung genommen und umgekehrt.
Was Durkheim im übrigen unter dem Titel einer sozialen
Morphologie anbot, war eine ideelle Genese der Gesellschaften,
gewonnen durch Kombination elementarer Gesellschaften und
durch wechselseitige Zusammensetzung der einzelnen Kompo-
nenten. Das Einfache wurde verwechselt mit dem Wesentlichen
und Alten. Die Idee einer ›prälogischen Mentalität‹, die Lévi- 5
Bruhl aufbrachte, eröffnete uns ebensowenig einen Zugang zu
dem, was sich in den sogenannten archaischen Kulturen mögli-
cherweise nicht auf unsere Kultur zurückführen läßt, denn mit
einer solchen Idee wurden diese Kulturen auf eine unüberwind-
liche Differenz festgenagelt. Auf zweierlei Weise also verpaßte
die französische Schule den Zugang zum Andern, der doch die
Soziologie definiert. Wie den Andern verstehen, ohne ihn unserer
Logik zu opfern oder diese ihm? Ob sie die Realität vorschnell
unseren Ideen anpaßte oder sie umgekehrt für unzugänglich er-
klärte, stets äußerte sich die Soziologie, als könne sie ihr Objekt
überfliegen, der Soziologe war ein absoluter Beobachter. Es fehlte
das geduldige Eindringen in den Gegenstand, die Verständigung
mit ihm.
Marcel Mauss dagegen hat beides instinktiv praktiziert. Weder
seine Lehrtätigkeit noch sein Werk lag im Streit mit den Prinzi-
pien der französischen Schule. Als Neffe und Mitarbeiter Durk-
heims hatte er allen Grund, diesem Gerechtigkeit widerfahren zu
lassen. Erst in seiner besonderen Art, mit dem Sozialen Kontakt
aufzunehmen, kam die Differenz zum Ausbruch. In der Erfor-
schung der Magie, so stellte er fest, hinterlassen die konkomitan- 6
ten Variationen und äußeren Korrelationen ein Residuum, das es
zu beschreiben gilt, denn hier finden sich die tieferen Gründe für
den Glauben. Es kam also darauf an, denkend in das Phänomen
einzudringen, es zu lesen und zu entziffern. Diese Lektüre besteht
jeweils darin, die Art des Austauschs zu erfassen, den die Institu-
tion zwischen den Menschen zustande bringt, dazu die Verknüp-
fungen und Äquivalenzen, die sie stiftet, die systematische Form,
Von Mauss zu Claude Levi-Strauss 165

in der sie den Gebrauch von Werkzeugen, handwerklichen Pro-


dukten, Nahrungsmitteln, von magischen Formeln, Ornamen-
ten, Gesängen, Tänzen und mythischen Elementen regelt, gerade
so, wie die Sprache den Gebrauch der Phoneme, Morpheme,
des Vokabulars und der Syntax regelt. Diese soziale Tatsache, die
keine massive Realität mehr ist, sondern ein wirksames System
von Symbolen oder ein Netz aus symbolischen Werten, findet
sich eingesenkt in die tiefsten Tiefen des Individuellen. Doch die
Regulierung, die das Individuum umgarnt, beseitigt es nicht. Es
gibt keine Wahl mehr zwischen Individuellem und Kollektivem.
»Wahr ist nicht«, so schreibt Mauss, »das Gebet oder das Recht,
7 sondern der Melanesier dieser oder jener Insel, Rom, Athen«.
Ebenso gibt es kein schlichtes Absolutes mehr noch eine pure
Summierung, sondern überall finden wir Totalitäten oder geglie-
derte Ganzheiten von mehr oder weniger großer Reichhaltigkeit.
In dem angeblichen Synkretismus der primitiven Mentalität ent-
deckt Mauss Oppositionen, die für ihn ebenso bedeutsam sind
wie die berühmten ›Partizipationen‹. Indem er das Soziale als
Symbolik begriff, schuf er sich eine Handhabe, die Realität des
Individuums, die des Sozialen und die Verschiedenartigkeit der
Kulturen zu respektieren, ohne eines gegen das andere abzudich-
ten. Eine erweiterte Vernunft sollte dazu imstande sein, bis zum
Irrationalen der Magie und der Gabe vorzudringen. »Es gilt vor
allem, den größtmöglichen Katalog von Kategorien anzulegen,
man muß von allen Kategorien ausgehen, von denen man nur
wissen kann, daß die Menschen sich ihrer bedient haben, man
wird dann sehen, daß es sehr wohl noch tote oder trübe oder
8 dunkle Monde am Firmament der Vernunft gibt.«
Doch begnügte Mauss sich eher mit diesem intuitiven Einblick
in das Soziale, als daß er daraus eine Theorie gemacht hätte. Dies
ist vielleicht der Grund dafür, daß er dort, wo er die Bilanz zieht,
hinter seiner Entdeckung zurückbleibt. Das Prinzip des Tauschs
9 sucht er im mana, so wie er das der Magie im hau gesucht hatte.
Rätselhafte Begriffe, die weniger eine Theorie des Tatbestandes
liefern, als vielmehr die Theorie der Eingeborenen reproduzie-
ren. Sie bezeichnen eigentlich nur eine Art von affektivem Bin-
166 Von Mauss zu Claude Levi-Strauss

demittel in der Fülle von Tatsachen, die es zu verknüpfen gälte.


Doch sind diese Tatsachen von Anfang an derart unterschieden,
daß man nach ihrer Vereinigung suchen müßte? Kommt nicht
die Synthese zuerst? Verkörpert sich im mana für das Indivi-
duum nicht gerade die Einsicht in bestimmte Äquivalenzbezie-
hungen zwischen dem, was es gibt, empfängt und erwidert, die
Erfahrung eines bestimmten Abstands zwischen ihm selbst und
seinem institutionellen Gleichgewicht mit dem Andern, die Ur-
tatsache eines doppelten Verhaltensbezugs auf ihn selbst und auf
den Andern, die Forderung nach einer unsichtbaren Totalität,
von der er selbst und der Andere in seinen eigenen Augen substi-
tuierbare Elemente sind? Der Tausch wäre mithin keine Wirkung
der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft selbst in actu. Das Nu-
minose, das von dem mana ausstrahlt, erwüchse aus dem Wesen
der Symbolik und wäre uns zugänglich auf dem Weg über die
Paradoxien der Rede und der Beziehung zum Andern – ähnlich
dem ›Null-Phonem‹, von dem die Linguisten sprechen und das
sich, bar jeden angebbaren Eigenwerts, der bloßen Abwesenheit
von Phonemen entgegensetzt, oder ähnlich dem ›flottierenden
Signifikanten‹, der nichts artikuliert und doch ein mögliches 10
Bedeutungsfeld eröffnet … Doch indem wir uns so äußern, ver-
folgen wir den Gedankengang von Mauss über das Gesagte und
Geschriebene hinaus, betrachten ihn nachträglich unter dem
Blickwinkel der Sozialanthropologie und haben damit bereits
die Grenze überschritten zu einer anderen Konzeption und zu
einer anderen Behandlung des Sozialen, die Claude Lévi-Strauss
glanzvoll verkörpert.

*
Die Art und Weise, wie in einem Sektor oder im Ganzen der Ge-
sellschaft der Austausch organisiert ist, heißt nun Struktur. Die
sozialen Tatsachen sind weder Dinge noch Ideen, sondern Struk-
turen. Dieses Wort, das heute allzu häufig gebraucht wird, hatte
am Anfang einen präzisen Sinn. Es diente den Psychologen dazu,
die Konfigurationen des Wahrnehmungsfeldes zu bezeichnen,
jene Ganzheiten, die durch Kraftlinien gegliedert sind und wo
Von Mauss zu Claude Levi-Strauss 167

auf diese Weise jedes Phänomen seinen lokalen Wert zuerteilt be-
kommt. In der Linguistik ist die Struktur ebenfalls ein konkretes,
inkarniertes System. Als Saussure die These aufstellte, das Sprach-
zeichen sei diakritisch – es sei wirksam aufgrund seiner bloßen
Differenz, eines bestimmten Abstandes zwischen ihm und den
anderen Zeichen, und nicht zunächst dadurch, daß es eine posi-
11 tive Bedeutung hervorrufe –, entwickelte er eine Anschauung von
der Einheit der Sprache unterhalb der Schwelle expliziter Bedeu-
tungen, einer Systematisierung, die sich in der Sprache abspielt,
bevor ihr ideelles Prinzip erkannt ist. Für die Sozialanthropologie
besteht die Gesellschaft aus Systemen solcher Art, so das System
der Verwandtschaft und der Abstammung mitsamt den passen-
den Heiratsregeln, das System des sprachlichen Austauschs, das
System des ökonomischen Austauschs, der Kunst, des Mythos
und des Ritus… Die Gesellschaft ist selber nichts anderes als die
Totalität dieser in Wechselwirkung begriffenen Systeme. Wenn
man von Strukturen spricht, unterscheidet man sie von den ›kri-
stallisierten Ideen‹ der älteren Sozialphilosophie. Die Subjekte,
die in einer Gesellschaft leben, haben nicht zwangsläufig Kennt-
nis von dem Austauschprinzip, dem sie gehorchen, genauso wie
das Sprachsubjekt nicht darauf angewiesen ist, die linguistische
Analyse seiner Sprache zu durchlaufen, um sprechen zu kön-
nen. Die Struktur wird von ihnen vielmehr als selbstverständlich
praktiziert. Wenn man so will, die Struktur ›hat sie‹ eher, als daß
diese sie haben. Man denke an die Sprache, sei es der lebendige
Gebrauch in der Rede oder auch ihr poetischer Gebrauch, wo
die Worte von sich aus zu sprechen und sich in Eigenwesen zu
verwandeln scheinen …
Die Struktur hat, wie Janus, zwei Gesichter: Einerseits orga-
nisiert sie die Elemente, die in sie eintreten, nach einem inneren
Prinzip, sie ist Sinn. Doch dieser Sinn, den sie trägt, ist sozusagen
ein schwerer Sinn (sens lourd). Wenn also der Wissenschaftler
Strukturen in Begriffen formuliert und fixiert und Modelle kon-
struiert, mit deren Hilfe vorhandene Gesellschaften verständlich
gemacht werden sollen, so handelt es sich für ihn nicht darum,
das Modell an die Stelle des Realen zu setzen. Prinzipiell ist die
168 Von Mauss zu Claude Levi-Strauss

Struktur keine platonische Idee. Denkt man sich unvergängliche


Archetypen aus, die das Leben aller nur möglichen Gesellschaften
beherrschen würden, so verfällt man auf denselben Irrtum wie
die alte Linguistik, als sie in einem bestimmten Lautmaterial na-
türliche Affinitäten für einen bestimmten Sinn vermutete. Damit
vergißt man, daß dieselben Züge der Physiognomie in verschie-
denen Gesellschaften verschiedenen Sinn annehmen können je
nach dem System, in dem sie vorkommen. Wenn die amerika-
nische Gesellschaft heutzutage in ihrer Mythologie einen Weg
wiederfindet, der schon früher einmal oder anderswo beschrit-
ten wurde, so besagt dies nicht, daß ein transzendenter Archetyp
sich dreimal verkörpert, in den römischen Saturnalien, in den
mexikanischen Katchinas und im amerikanischen Weihnachten.
Es liegt daran, daß diese mythische Struktur einen Ausweg bie-
tet für die Lösung bestimmter lokaler und aktueller Spannungen
und daß sie in der Dynamik der Gegenwart neu geschaffen wird.
Die Struktur nimmt der Gesellschaft nichts von ihrer Dichte und
ihrer Schwere. Sie ist selber eine Struktur von Strukturen: Wie
sollte es zwischen dem in ihr praktizierten Sprachsystem, Wirt-
schaftssystem und Verwandtschaftssystem keine Beziehung ge-
ben? Doch diese Beziehung ist subtil und variabel: Manchmal ist
es eine Homologie. In anderen Fällen – so im Falle von Mythos
und Ritus – ist die eine Struktur Widerpart und Gegenspieler
der andern. Die Gesellschaft als Struktur bleibt eine Realität mit
verschiedenen Facetten, die verschiedene Sichtweisen zuläßt. Wie
weit reichen die möglichen Vergleiche? Finden wir am Ende, wie
die eigentliche Soziologie es gern sähe, universale Invarianten?
Das bleibt abzuwarten. Es gibt nichts, was in dieser Hinsicht der
Strukturforschung eine Grenze setzen könnte – aber auch nichts,
was sie nötigen könnte, von vorneherein zu postulieren, daß es
solche Invarianten gibt. Ihr Hauptinteresse hat diese Forschung
darin, überall Antinomien durch komplementäre Beziehungen
zu ersetzen.
Sie wird demgemäß in alle Richtungen ausstrahlen, in Rich-
tung des Universellen und in Richtung der Einzelbeschreibung,
wobei sie jeweils so weit wie möglich geht, um gerade das her-
Von Mauss zu Claude Levi-Strauss 169

auszufinden, was den einzelnen Ansätzen, für sich genommen,


abgeht. Im Bereich der Verwandtschaftssysteme wird sich die Su-
che nach dem Elementaren, durch alle Verschiedenartigkeit der
Sitten hindurch, auf ein Strukturschema ausrichten, als dessen
Varianten die Sitten betrachtet werden können. Von dem Augen-
blick an, wo die Blutsverwandtschaft eine Heiratsbeziehung aus-
schließt, wo der Mann darauf verzichtet, aus seiner biologischen
Familie oder seiner Eigengruppe eine Frau zu nehmen und er
nach außen hin eine Heiratsbeziehung anknüpfen muß, die – aus
Gründen des Gleichgewichts – eine unmittelbare oder mittelbare
Gegenleistung erfordert, beginnt ein Tauschphänomen, das sich
endlos komplizieren kann, wenn die direkte Reziprozität einem
verallgemeinerten Tausch Platz macht. Man muß also Modelle
entwerfen, in denen die möglichen Konstellationen, die innere
Anordnung der verschiedenen Typen von Präferenzheirat und
die verschiedenen Verwandtschaftssysteme ans Licht rücken.
Um diese äußerst komplexen und vieldimensionalen Strukturen
aufzudecken, ist unsere gewöhnliche Geistesausstattung unzurei-
chend, und es kann sich als nötig erweisen, auf eine quasi-mathe-
matische Ausdrucksform zurückzugreifen, die um so brauchba-
rer ist, als die heutigen Mathematiken sich nicht auf das Meßbare
und auf quantitative Relationen beschränken. Man kann sogar
an eine periodische Tafel der Verwandtschaftsstrukturen denken,
12 ähnlich der Tafel chemischer Elemente von Mendelejew. Es hat
durchaus Sinn, auf das Programm eines universalen Codes für
Strukturen hinzuarbeiten, der es uns erlauben würde, Strukturen
nach geregelten Transformationen voneinander abzuleiten und
über die bestehenden Systeme hinaus die verschiedenen mögli-
chen Systeme zu konstruieren – und sei es auch nur, um – wie
bereits geschehen – die empirische Beobachtung auf gewisse be-
stehende Institutionen zu lenken, die ohne solche theoretische
Antizipation unbemerkt bleiben würden. So erscheint auf dem
Boden der sozialen Systeme eine formale Infrastruktur, man ist
versucht zu sagen: ein unbewußtes Denken, eine Antizipation
des menschlichen Geistes, als ob unsere Wissenschaft schon in
den Dingen fertig vorhanden wäre, als ob die menschliche Kul-
170 Von Mauss zu Claude Levi-Strauss

turordnung eine zweite natürliche Ordnung wäre, beherrscht


durch andere Invarianten. Doch selbst, wenn es diese gäbe, selbst
wenn – ähnlich wie die Phonologie unterhalb der Phoneme – die
Sozialwissenschaft unterhalb der Strukturen eine Metastruktur
vorfände, denen die Strukturen gehorchen, so würde das Uni-
versale, zu dem man auf solche Weise gelangte, ebensowenig das
Besondere ersetzen, wie die verallgemeinerte Geometrie nicht die
lokale Wahrheit der Relationen des Euklidschen Raumes hinfällig
macht. Auch in der Soziologie sind Stufen zu berücksichtigen,
und die Wahrheit der verallgemeinerten Soziologie nähme der
Mikrosoziologie nichts von ihrer Wahrheit. Die Implikationen
einer formalen Struktur können zwar die innere Notwendigkeit
dieser oder jener genetischen Abfolge ins Licht rücken. Doch sie
sind nicht dafür verantwortlich, daß es Menschen, eine Gesell-
schaft, eine Geschichte gibt. Ein formales Portrait der Gesellschaf-
ten oder selbst ein formales Portrait der generellen Gliederungs-
formen, die für jede Gesellschaft gelten, sind keine Metaphysik.
Die reinen Modelle und die Diagramme, die eine rein objektive
Methode entwirft, sind Erkenntniswerkzeuge. Das Elementare,
das die Sozialanthropologie sucht, sind immer noch elementare
Strukturen, das heißt Knotenpunkte eines Gedankennetzes, das
uns von sich aus auf das andere Gesicht der Struktur und ihre
Inkarnation zurückführt.
Die überraschenden logischen Operationen, die durch die
formale Struktur der Gesellschaften bezeugt werden, müssen auf
irgendeine Weise von den Bevölkerungen ausgeführt werden, die
diese Verwandtschaftssysteme durchleben. Es muß also eine Art
von gelebtem Äquivalent geben, das der Anthropologe zu erfor-
schen hat, und zwar in diesem Falle mit einer Arbeit, die nicht
mehr bloß mental ist und die auf Kosten seiner Bequemlichkeit
und seiner Sicherheit geht. Dieser Rückanschluß der objektiven
Analyse an das Erleben ist vielleicht die ureigene Aufgabe der
Anthropologie, wodurch sie sich von anderen Sozialwissen-
schaften wie der Wirtschaftswissenschaft und der Demographie
unterscheidet. Wert, Rentabilität, Produktivität und Bevölke-
rungshöchstgrenze sind die Gegenstände eines Denkens, daß
Von Mauss zu Claude Levi-Strauss 171

das Soziale umfaßt. Man darf von ihnen nicht erwarten, daß sie
im Reinzustand in der Erfahrung des Individuums auftauchen.
Dagegen muß man die Variablen der Anthropologie früher oder
später auf einer Ebene wiederfinden, wo die Phänomene eine
unmittelbar menschliche Bedeutung haben. Was uns bei dieser
Konvergenzmethode in Verlegenheit bringt, das sind die alten
Vorurteile, die Induktion und Deduktion in einen Gegensatz
bringen, als zeigte nicht schon das Beispiel Galileis, daß das tat-
sächliche Denken ein Hin und Her von Erfahrung und intellektu-
eller Konstruktion oder Rekonstruktion darstellt. Nun bedeutet
Erfahrung in der Anthropologie, daß wir als soziale Subjekte in
ein Ganzes eingefügt sind, wo die Synthese, nach der unser Ver-
stand mühsam sucht, bereits erreicht ist, denn wir durchleben in
der Einheit eines einzigen Lebens alle Systeme, aus denen unsere
Kultur besteht. Aus dieser Synthese, die wir selber sind, läßt sich
einiges an Erkenntnis gewinnen. Mehr noch, der Apparat unseres
sozialen Seins kann durch Reisen entstellt und wiederhergestellt
werden, ähnlich wie wir fremde Sprachen sprechen lernen. Hier
eröffnet sich ein zweiter Weg zum Universalen, nicht mehr zum
vertikalen Universalen, wie wir es bei einer streng objektiven Me-
thode finden, sondern gleichsam zu einem lateralen Universalen,
wie wir es durch die ethnologische Erfahrung erwerben, die un-
aufhörlich das Selbst durch den Andern und den Andern durch
das Selbst erprobt. Es geht darum, ein generelles Bezugssystem
zu errichten, in dem der Gesichtspunkt des Eingeborenen, der
Gesichtspunkt des Zivilisierten und ihre wechselseitige Verken-
nung Platz finden, und eine erweiterte Erfahrung auszubilden,
die prinzipiell empfänglich ist für Menschen eines anderen Lan-
des und einer anderen Zeit. Die Ethnologie ist keine Spezialität,
die durch einen Sondergegenstand definiert wäre: die ›primiti-
ven‹ Gesellschaften; sie ist eine Denkweise, die sich aufdrängt,
wenn der Gegenstand ein ›anderer‹ ist und uns eine Wandlung
unserer selbst abverlangt. Auch werden wir zu Ethnologen der
eigenen Gesellschaft, wenn wir ihr gegenüber auf Distanz gehen.
Seit gut zehn Jahren – seit sie an Selbstsicherheit verloren hat,
öffnet die amerikanische Gesellschaft den Ethnologen die Tür
172 Von Mauss zu Claude Levi-Strauss

zum Staatsdienst und zu den Führungsstäben. Eine einzigartige


Methode: Es geht darum zu lernen, wie man das, was unser ist,
als fremd, und das, was uns fremd war, als unsriges betrachtet.
Und wir können nicht einmal darauf bauen, daß wir die Dinge
mit den Augen Heimatflüchtiger sehen: Der Entschluß wegzu-
gehen hat selbst seine persönlichen Motive, die auf das Zeugnis
abfärben können. Diese Motive muß man daher in die Lektüre
einbeziehen, gerade wenn man auf Wahrheit aus ist, nicht als ob
die Ethnologie Literatur wäre, sondern weil sie ihre Ungewißheit
nur abstreift, wenn der Mensch, der vom Menschen spricht, nicht
selber eine Maske trägt. Wahrheit und Irrtum wohnen beieinan-
der an den Schnittpunkten zweier Kulturen, sei es, daß unsere
Bildung uns verbirgt, was es zu erkennen gilt, sei es umgekehrt,
daß sie – im Verlaufe eines Lebens sur le terrain – zu einem Mittel
wird, die Differenzen des Anderen zu gewahren. Als Frazer von
der Feldforschung sagte, »Gott behüte mich davor«, beraubte er 13
sich nicht nur bestimmter Tatsachen, sondern einer Erkenntnis-
weise. Es ist selbstverständlich weder möglich noch notwendig,
daß derselbe Mensch alle Gesellschaften, von denen er spricht,
aus Erfahrung kennt. Es genügt, daß er überhaupt einmal und
lange genug gelernt hat, sich von einer anderen Kultur belehren
zu lassen; denn von da ab verfügt er über ein neues Erkenntnis-
organ, er hat von neuem Besitz ergriffen von der wilden Region
seiner selbst, die nicht in seiner eigenen Kultur eingeschlossen ist
und über die er mit den anderen Kulturen in Verbindung steht.
Fortan kann er selbst an seinem Arbeitstisch und selbst aus weiter
Ferne die Korrelationen einer noch so objektiven Analyse anhand
einer wahrhaften Wahrnehmung überprüfen.
Nehmen wir zum Beispiel die Erkenntnis der Strukturen des
Mythos. Es ist bekannt, wie enttäuschend die Versuche einer
allgemeinen Mythologie waren. Sie wären es vielleicht weniger
gewesen, wenn wir gelernt hätten, auf den Mythos zu hören, wie
man auf den Bericht eines Berichterstatters an Ort und Stelle
hört: d.h. auf den Ton, das Tempo, den Rhythmus und die Wie-
derholungen nicht weniger als auf den manifesten Gehalt. Will
man den Mythos wie einen Satz von dem her verstehen, was er
Von Mauss zu Claude Levi-Strauss 173

sagt, so tut man das gleiche, wie wenn man einer Fremdsprache
die eigene Grammatik und das eigene Vokabular unterlegt. Der
Mythos ist von vorne bis hinten zu entziffern, ohne daß wir auch
nur wie die Spezialisten der Entzifferung voraussetzen können,
daß der zu entdeckende Code dieselbe Struktur hat wie der uns-
rige. Lassen wir beiseite, was der Mythos uns auf den ersten An-
hieb sagt und was uns eher vom wirklichen Sinn ablenken würde,
und erforschen wir seine innere Artikulation, nehmen wir die
Episoden nur, soweit sie – mit Saussure zu sprechen – einen dia-
kritischen Wert haben und diese oder jene rekurrente Relation
oder Opposition ins Spiel bringen. Man würde auf diese Weise
bemerken – dies als Illustration der Methode und nicht als theo-
retische Behauptung –, daß die Schwierigkeit, aufrecht zu gehen,
im Ödipusmythos dreimal wiederkehrt, die Vernichtung eines
14 chthonischen Ungeheuers zweimal. Zwei weitere Gegensatzsy-
steme könnten das bestätigen. Man würde die Überraschung
erleben, Vergleichbares in der Mythologie Nordamerikas wie-
derzufinden. Und man würde durch Wechselvergleiche, die wir
hier nicht wiedergeben können, zu der Hypothese gelangen, daß
der Ödipusmythos in seiner Struktur den Konflikt zwischen dem
Glauben an die Autochthonie des Menschen und der Überbewer-
tung der Verwandtschaftsbeziehungen zum Ausdruck brächte.
Von diesem Gesichtspunkt aus kann man die bekannten Vari-
anten einander zuordnen, eine aus der anderen durch geregelte
Transformation erzeugen und in ihnen ebensoviel logische Werk-
zeuge und Vermittlungsformen erblicken, wie nötig sind, um
einen grundlegenden Widerspruch aufzulösen. Wir haben dem
Mythos Gehör geschenkt und enden bei einem logischen – man
könnte auch sagen ontologischen – Diagramm: Ein bestimmter
Mythos der kanadischen Pazifikküste setzt letzten Endes voraus,
daß dem Eingeborenen das Sein als Negation des Nicht-Seins
erscheint. Die abstrakten Formeln und die gleichsam ethnolo-
gische Anfangsmethode kommen darin überein, daß immerzu
die Struktur leitend ist, die sich anfangs in ihren zwanghaften
Rekurrenzen bemerkbar macht und am Ende in ihrer exakten
Form erfaßt wird.
174 Von Mauss zu Claude Levi-Strauss

Die Anthropologie tritt hier in Beziehung zur Psychologie.


Die Freudsche Version des Ödipusmythos fügt sich als Sonder-
fall in die strukturale Version ein. Die Beziehung des Menschen
zur Erde findet sich dort nicht, doch das, was für Freud die Ödi-
puskrise hervorruft, das ist durchaus die Dualität der Erzeuger,
das Paradox der menschlichen Ordnung der Verwandtschaft.
Die Freudsche Hermeneutik ist in dem, was an ihr am wenigsten
umstritten ist, ebenfalls die Entzifferung einer traumhaften und
verschwiegenen Sprache, der Sprache unseres Verhaltens. Die
Neurose ist ein individueller Mythos. Und genauso wie sie klärt
der Mythos sich auf, wenn darin eine Reihe von Schichtungen
oder Blättern, man könnte auch sagen: ein Denken in Spiralen,
zum Vorschein kommt, das stets aufs neue seinen grundlegenden
Widerspruch zu maskieren versucht.
Doch den erworbenen Erkenntnissen der Psychoanalyse und
der Psychologie gibt die Anthropologie eine neue Tiefe, indem
sie diese Erkenntnisse in ihre eigene Dimension einfügt: Freud
oder der heutige Psychologe sind keine absoluten Beobachter,
sie gehören zur Geschichte des abendländischen Denkens. Man
darf daher nicht glauben, daß die Komplexe, Träume und Neu-
rosen des abendländischen Menschen uns die helle Wahrheit
von Mythos, Magie und Zauberei vermitteln. Nach der Regel der
doppelten Kritik, die auch die der ethnologischen Methode ist,
kommt es genauso darauf an, die Psychoanalyse als Mythos und
den Psychoanalytiker als Zauberer oder Schamanen zu betrach-
ten. Unsere psychosomatischen Forschungen machen verständ- 15
lich, auf welche Weise der Schamane heilt, wie er zum Beispiel
bei einer schwierigen Geburt hilft. Doch der Schamane macht
uns auch verständlich, daß die Psychoanalyse unsere Zauberei
ist. Selbst in ihren kanonischsten und achtbarsten Formen er-
reicht die Psychoanalyse die Wahrheit eines Lebens nur über
die Beziehung zweier Leben, in der feierlichen Atmosphäre der
Übertragung, die keine (wenn es so etwas gibt) rein objektive
Methode ist. Und wenn sie zur Institution wird, wenn sie selbst
auf sogenannte ›normale‹ Subjekte angewandt wird, ist sie erst
recht keine Konzeption mehr, die man von Fall zu Fall rechtfer-
Von Mauss zu Claude Levi-Strauss 175

tigen und diskutieren könnte, sie heilt nicht mehr, sie überredet,
sie formt selber Subjekte, die ihrer Interpretation des Menschen
gemäß sind, sie hat ihre Bekehrten, vielleicht ihre Aufsässigen,
was sie nicht länger hat, sind Überzeugte. Jenseits von wahr und
falsch bildet sie einen Mythos, und der solcherart abgesunkene
Freudianismus ist keine Interpretation des Ödipusmythos mehr,
er ist eine seiner Varianten.
Tiefer betrachtet, geht es für den Anthropologen weder dar-
um, gegenüber dem Primitiven recht zu behalten, noch darum,
ihm uns gegenüber recht zu geben, sondern es geht darum, sich
auf einem Terrain einzurichten, wo wir, der eine so gut wie der
andere, verständlich sind ohne Reduktion und ohne waghalsige
Transposition. Dazu gelangt man, wenn man die symbolische
Funktion als Quelle jeglicher Vernunft und Unvernunft betrach-
tet, denn Menge und Reichtum an Bedeutungen, die dem Men-
schen zur Verfügung stehen, überschreiten stets den Kreis der de-
finitiven Gegenstände, die den Namen Signifikat verdienen, die
symbolische Funktion ist ihrem Gegenstand notwendigerweise
stets voraus, und sie findet das Reale nur, indem sie ihm ins Ima-
ginäre vorauseilt. Es stellt sich also die Aufgabe, unsere Vernunft
zu erweitern, um sie in den Stand zu setzen, all das zu umgreifen,
was in uns und in den Andern der Vernunft vorausgeht und über
sie hinausgeht.
Dieses Bemühen trifft zusammen mit den Bemühungen der
anderen ›semiologischen‹ Wissenschaften und mit denen der
anderen Wissenschaften überhaupt. Niels Bohr schrieb: »Die
traditionellen Unterschiede (der menschlichen Kulturen) … äh-
neln in vielfacher Hinsicht den unterschiedlichen und gleichwer-
tigen Formen, in denen die physikalische Erfahrung beschrieben
16 werden kann.« Jede traditionelle Kategorie ruft heute nach einer
komplementären, d.h. einer unvereinbaren und unablösbaren
Sichtweise, und unter diesen schwierigen Umständen vollzieht
sich die Suche nach dem, was den Gliederbau der Welt bildet.
Die Zeit der Linguisten besteht nicht mehr in dieser Reihe von
Simultaneitäten, die dem klassischen Denken vertraut war und
an die auch Saussure noch dachte, als er die beiden Perspektiven
176 Von Mauss zu Claude Levi-Strauss

des Simultanen und Sukzessiven deutlich voneinander abhob:


Mit Troubetzkoy greift die Synchronie, ähnlich wie die legen-
däre oder mythische Zeit, auf die Sukzession und die Diachronie
über. Wenn die symbolische Funktion dem Gegebenen voraus- 17
eilt, so ist es unvermeidlich, daß ein gewisses Durcheinander in
jede Kulturordnung eindringt, die von ihr getragen wird. Es gibt
keine scharfe Antithese mehr zwischen Natur und Kultur. Die
Anthropologie kommt zurück auf eine beachtliche Menge von
Kulturtatsachen, die sich der Regel des Inzestverbots entziehen.
Die indische Endogamie, die iranische, ägyptische oder arabische
Praxis der konsanguinen oder kollateralen Heirat bezeugen, daß
die Kultur bisweilen mit der Natur gemeinsame Sache macht.
Nun handelt es sich gerade hierbei um Kulturformen, die wis-
senschaftliche Kenntnisse und ein sich anreicherndes und fort-
schreitendes Gesellschaftsleben ermöglicht haben. In ihren, wenn
nicht schönsten, so doch wirksamsten Ausformungen bestünde
die Kultur recht eigentlich in einer Umgestaltung der Natur, ei-
ner Reihe von Vermittlungen, aus denen die Struktur niemals fix
und fertig als reines Universales hervorgeht. Wie soll man dieses
Milieu nennen, wo eine kontingenzbehaftete Form plötzlich eine
zukunftsträchtige Entwicklung anbahnt und sie mit der Autorität
einer instituierten Instanz steuert – wie, wenn nicht Geschichte?
Freilich handelt es sich nicht um jene Geschichte, die das gesamte
Feld des Menschlichen aus lokalisierten und datierten Ereignissen
einer seriellen Zeit und aus Augenblicksentscheidungen zusam-
mensetzen möchte, sondern um eine Geschichte, die sehr wohl
weiß, daß der Mythos und die legendäre Zeit immer noch unter
anderen Formen die menschlichen Unternehmungen heimsu-
chen, eine Geschichte, die diesseits oder jenseits der parzellierten
Ereignisse auf die Suche geht und die sich eben strukturale Ge-
schichte nennt.
Es ist eine ganz neue Denkweise, die mit dem Strukturbegriff
aufkommt, dessen Erfolg heute in allen Bereichen einem geisti-
gen Bedürfnis entspricht. Dem Philosophen weist die Struktur,
die außer uns in den natürlichen und sozialen Systemen und
in uns als symbolische Funktion gegenwärtig ist, einen Ausweg
Von Mauss zu Claude Levi-Strauss 177

aus der Subjekt-Objekt-Beziehung, welche die Philosophie von


Descartes bis Hegel beherrscht. Sie läßt uns in besonderem Maße
verstehen, wie wir mit der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt
kreisförmig zusammengeschlossen sind, sofern sich der Mensch
sich selbst gegenüber exzentrisch verhält und das Soziale nur in
ihm sein Zentrum findet. Doch das ist bereits zuviel an Philo-
sophie, deren Last die Anthropologie nicht auf sich zu nehmen
hat. Wenn sie für den Philosophen interessant ist, so genau darin,
daß sie den Menschen nimmt, wie er ist, in seiner tatsächlichen
Lebens- und Erkenntnissituation. Der Philosoph, den sie inter-
essiert, ist nicht jener, der die Welt erklären oder konstruieren
will, sondern jener, der unsere Einfügung ins Sein zu vertiefen
sucht. Seine Empfehlung kann die Anthropologie hierin also
nicht kompromittieren, da sie sich auf das stützt, worin deren
Methode ihre größte Konkretion erreicht.

*
Die laufenden und für spätere Zeit geplanten Arbeiten von Lévi-
Strauss zehren offensichtlich von derselben Inspiration; doch
gleichzeitig erneuert die Forschung sich selbst und wirkt zurück
auf ihre eigenen Resultate. Auf dem Boden der Feldforschung
nahm er sich vor, für den melanesischen Bereich eine Doku-
mentation zusammenzustellen, die im Rahmen der Theorie den
Übergang zu komplexeren Verwandtschaftsstrukturen ermög-
licht hätte, d. h. zu den Strukturen, auf die insbesondere unser
Heiratssystem zurückgeht. Inzwischen aber hat er den Eindruck
gewonnen, daß dies keine bloße Ausweitung der vorhergehenden
Arbeiten wäre, sondern daß diese damit eine zusätzliche Trag-
weite erhielten. Die modernen Verwandtschaftssysteme – die den
demographischen, ökonomischen und psychologischen Bedin-
gungen die Wahl des Partners überlassen – sollten im Rahmen
der anfänglichen Perspektiven als ›komplexere‹ Varianten des
Tauschs definiert werden. Doch ein volles Verständnis für den
komplexen Tausch läßt den zentralen Sinn des Tauschphäno-
mens nicht unberührt, es erfordert und ermöglicht eine entschei-
dende Vertiefung. Claude Lévi-Strauss hat nicht die Absicht, die
178 Von Mauss zu Claude Levi-Strauss

komplexen Systeme den einfachen Systemen deduktiv und dog-


matisch anzugleichen. Er ist im Gegenteil der Auffassung, daß
man bei ihnen um die historische Annäherung durch das Mittel-
alter, durch die indo-europäischen und semitischen Institutio-
nen nicht herumkommt und daß die historische Analyse auf die
Dauer eine Unterscheidung nahelegt zwischen einer Kultur, die
den Inzest schlechterdings verbietet und eine schlichte, direkte
und unmittelbare Negierung der Natur darstellt, und einer an-
deren Kultur – jener, die am Ursprung unserer zeitgenössischen
Verwandtschaftssysteme steht –, die mit der Natur vielmehr ein
listiges Spiel treibt und manchmal das Inzestverbot umgeht. Ge-
rade dieser zweite Kulturtyp hat sich als fähig erwiesen, »mit der
Natur handgemein zu werden«, die Wissenschaft, die technische
Herrschaft des Menschen zu schaffen und das, was man kumula-
tive Geschichte genannt hat. Aus dem Blickwinkel der modernen
Verwandtschaftssysteme und der geschichtlichen Gesellschaften
erschiene dann der Tausch, der in einer direkten und unmittel-
baren Negierung der Natur besteht, als bloßer Grenzfall einer all-
gemeineren Alteritätsbeziehung. Hier erst tritt der letzte Sinn der
anfänglichen Forschungen von Lévi-Strauss, die tiefere Wesens-
natur des Tausches und der symbolischen Funktion endgültig
zutage. Auf dem Niveau der elementaren Strukturen eignen sich
die Tauschgesetze, die das Verhalten vollständig umschließen, für
eine statistische Untersuchung, und der Mensch gehorcht ihnen,
ohne daß er sie in allen Fällen auch nur in einer Eingeborenen-
theorie formuliert, fast so wie das Atom dem Verteilungsgesetz
folgt, durch das es definiert ist. Am anderen Ende des anthro-
pologischen Feldes, in gewissen komplexen Systemen, brechen
die Strukturen auseinander und öffnen sich bei der Bestimmung
des Ehepartners ›historischen‹ Motivationen. Hier spielen der
Tausch, die symbolische Funktion und die Gesellschaft nicht
mehr die Rolle einer zweiten Natur, die genauso gebieterisch
wäre wie die erste, die von ihr ausgelöscht wird. Jeder ist aufge-
fordert, sein eigenes Tauschsystem zu definieren; eben dadurch
verwischen sich die Grenzen zwischen den Kulturen, zum ersten
Mal steht wohl eine Weltzivilisation auf der Tagesordnung. Die
Von Mauss zu Claude Levi-Strauss 179

Beziehung dieser komplexen Humanität mit der Natur und dem


Leben ist weder einfach noch deutlich konturiert: Tierpsycho-
logie und Ethnologie entdecken in der Animalität gewiß nicht
den Ursprung der Menschheit, aber doch Skizzen, partielle Vor-
gestalten und gleichsam antizipative Karikaturen. Mensch und
Gesellschaft sind genaugenommen nicht außerhalb der Natur
und des Biologischen: Vielmehr unterscheiden sie sich von ih-
nen, indem sie die ›Einsätze‹ der Natur sammeln und sie allesamt
auf eine Karte setzen. Dieser Umschwung bedeutet unermeßli-
che Gewinne, völlig neue Möglichkeiten wie auch Verluste, die
es abzuwägen gilt, und Risiken, die wir allmählich merken. Der
Tausch und die symbolische Funktion verlieren ihre Starre, doch
auch ihre hieratische Schönheit; an die Stelle der Mythologie und
des Rituals treten Vernunft und Methode, doch auch eine ganz
profane Lebensführung, begleitet von geringfügigen Ersatzmy-
then ohne Tiefgang. Indem sie dies alles in Betracht zieht, ist
die Sozialanthropologie auf dem Weg zu einem Ausgleich des
menschlichen Geistes und zu einem Ausblick auf das, was er ist
und sein kann …
So lebt die Forschung von Tatsachen, die ihr zunächst fremd
erscheinen, erobert in ihrem Fortschreiten neue Dimensionen,
reinterpretiert die Anfangsresultate im Lichte neuer Untersu-
chungen, die durch sie selbst hervorgerufen wurden. Der Umfang
des betreuten Bereichs und das genaue Verständnis der Tatsachen
nehmen gleichzeitig zu. An diesen Zeichen erkennt man einen
großen intellektuellen Wurf.
1 Ü BE R A L L U N D N I RG E N D S 1

I. Die Philosophie und das ›Äußere‹

Einen Sammelband über die berühmten Philosophen zusam-


menzustellen, dieses Unternehmen mag harmlos erscheinen.
Dennoch kann man es nicht ohne Bedenken beginnen: Es stellt
die Idee in Frage, die man sich von der Geschichte der Philoso-
phie und sogar von der Philosophie selbst machen muß.
Denn letztlich wird der Leser hier, mit den Gesichtern, den
Anekdoten und dem sichtbaren Leben der Philosophen, auf
wenigen Seiten und aus der Hand verschiedener Autoren, eine
Skizze dessen finden, was sie über ganze Bände hinweg zu sagen
versuchten. Selbst wenn das Leben und das Werk – oder besser
noch: die Gesamtheit eines Werkes und Lebens – jedesmal per-
fekt aufgeschlüsselt würden, so ergäbe sich daraus doch nur eine
Geschichte der Philosophen oder der Philosophien, aber keine
Geschichte der Philosophie, und dieser Band über die Philoso-
phen wäre folglich gerade dem untreu, was ihre große Sorge war:
einer Wahrheit, die über die Meinungen hinausreicht.
Wie könnte ein Buch aus Einzelbeiträgen über eine zentrale
Perspektive verfügen? Um Verkettungen, Fortschritte und Rück-
schläge erkennbar werden zu lassen, muß man allen Philosophen
ein und dieselbe Frage stellen und der Entwicklung des Problems
schrittweise nachgehen. Wir können hier also weder die Genea-
logie der Philosophen noch das Werden der Wahrheit festhalten,
und die Philosophie läuft Gefahr, in unserem Werk nicht mehr
zu sein als ein Katalog von ›Gesichtspunkten‹ oder ›Theorien‹.
Eine Serie geistiger Portraits wird beim Leser das Gefühl eines
vergeblichen Bemühens hinterlassen, bei dem jeder die Marotten,

1 Einführung zum Sammelband Les Philosophes célèbres, erschienen im

Verlag Lucien Mazenod.


182 Überall und nirgends

die seiner Laune und den Zufällen seines Lebens entspringen, als
Wahrheit ausgibt, die Fragen an ihrem Ausgangspunkt aufgreift
und sie ungelöst an seine Nachfolger weitergibt, ohne daß zwi-
schen dem einen und dem anderen geistigen Universum ein Ver-
gleich möglich wäre. Dieselben Wörter – Idee, Freiheit, Wissen
– haben hier und dort nicht den gleichen Sinn, und wie sollten
wir, da es keinen einzigen Zeugen gibt, der sie auf einen Nenner
bringen könnte, über die Philosophen hinweg eine einzige Phi-
losophie heranreifen sehen?
Müßte man nicht, um das zu berücksichtigen, was sie gesucht
haben, und um angemessen über sie zu reden, ihre Lehrmeinun-
gen ganz im Gegenteil als Momente einer einzigen, sich fortset-
zenden Lehre auffassen und sie auf Hegelsche Weise retten, indem
man ihnen einen Platz in der Einheit eines Systems zuweist?
Es ist wahr, daß das System auf seine Weise anmaßend ist:
Da es die Lehrmeinungen einer integralen Philosophie einver-
leibt, gibt es also vor, das philosophische Unternehmen besser
und weiter voranzubringen als sie. Für eine Philosophie, die das
Sein zum Ausdruck bringen wollte, liegt keine Rettung darin, als
Augenblick des Wahren oder als erster Entwurf eines finalen Sy-
stems, das nicht sie selbst ist, zu überleben. Wenn man ›hinaus-
geht‹ über eine Philosophie ›des Inneren‹, dann raubt man ihr
die Seele, man beleidigt sie, indem man sie ohne ihre ›Begren-
zungen‹ beläßt, über die man urteilt, daß heißt ohne ihre Wörter
und Begriffe zu berücksichtigen, als ließen sich die Mäander des
Parmenides oder der Verlauf der Meditationen ohne jeden Verlust
auf einen Paragraphen des Hegelschen Systems reduzieren.
In Wirklichkeit setzt dieses System sie als bekannt voraus, und
nur deswegen kann es darüber hinausgehen … Selbst wenn es sie
vollendet, schließt es sie doch nicht ein. Erst in der Schule der
anderen begreifen wir den ganzen Sinn der Hegelschen Philoso-
phie, die darüber hinausgehen wollte. Die Bewegung der Wider-
sprüche, die ineinander aufgehoben werden, das Positive, das in
der Negation zutage tritt, und das Negative, das sich als Positives
erweist, all dies beginnt bei Zenon, im Sophisten und im Zwei-
fel Descartes’. Das Hegelsche System beginnt in ihnen. Es ist der
Überall und nirgends 183

Brennpunkt, in dem die Strahlen vieler Spiegel zusammentref-


fen: Es fiele in einen Nullpunkt zurück, wenn sie auch nur einen
Augenblick aufhören würden, es mit ihrem Licht anzustrahlen.
Es gibt ein Hineinragen, ein Hineinwachsen der Vergangenheit
in die Gegenwart, und die Wahrheit ist ein imaginäres System,
das allen Philosophien gegenwärtig ist, das ihre Bedeutungskraft
ohne jeden Verlust wahren könnte und von dem eine bestehende
Philosophie offensichtlich nur ein unvollkommener Entwurf
ist …
Auch Hegel wußte dies. ›Die Geschichte der Philosophie‹, sagt
er, ›ist in der Gegenwart vollständig enthalten‹. Was bedeutet, daß
Platon, Descartes oder Kant nicht nur in dem wahr sind, was
sie gesehen haben, vorbehaltlich dessen, was sie nicht gesehen
haben. Die Umwege, auf denen die Hegelsche Philosophie sich
vorbereitet hat, sind nicht in Vergessenheit geraten; sie bleiben
berechtigt, mehr noch: Sie sind notwendig; sie sind der Weg, und
die Wahrheit ist nur die Erinnerung an all das, was man unter-
wegs gefunden hat. Hegel schließt sein System mit der Geschichte
ab, aber die vergangenen Philosophien atmen und rühren sich
weiterhin in ihr; er hat mit ihnen die Unruhe, die Bewegung und
die Arbeit der Kontingenz eingeschlossen. Zu behaupten, das Sy-
stem sei die Wahrheit dessen, was ihm voranging, heißt auch zu
behaupten, daß die großen Philosophien ›unzerstörbar‹2 seien,
nicht weil sie einen Ausschnitt dessen erkannt haben, was das
System im Ganzen entdecken sollte, sondern eher, weil sie Mark-
steine gesetzt haben – die Erinnerung, die ›Ideen‹ von Platon, die
φúσις von Aristoteles, der böse Dämon von Descartes –, die ihre
Nachwelt immer wieder passieren mußte.
Sartre hat einmal den Descartes, der war, der dieses Leben
gelebt, diese Worte gesprochen, diese Werke geschrieben hat
– diesen unteilbaren Block, diesen unzerstörbaren Markstein
– dem Cartesianismus gegenübergestellt, jener »umherschlen-
2 dernden Philosophie«, die ungreifbar ist, weil sie sich zwischen
den Händen der Erben ständig verändert. Er hatte Recht, wenn

2 M. Gueroult.
184 Überall und nirgends

man einmal davon absieht, daß keine Grenze den Punkt mar-
kiert, bis zu dem es noch Descartes ist und ab dem seine Nach-
folger beginnen, und daß nicht mehr Sinn darin läge, die Ge-
danken aufzuzählen, die in Descartes gegeben sind und jene, die
bei ihnen vorhanden sind, als etwa das Verzeichnis einer Sprache
zu erstellen. Unter diesem Vorbehalt ist das, was zählt, wohl das
denkende Leben, das man Descartes nennt und das in seinen
Werken eine glücklicherweise bewahrte Spur hinterlassen hat.
Was Descartes so gegenwärtig erscheinen läßt, ist der Umstand,
daß er inmitten von Verhältnissen, die heute beseitigt sind, und
umgetrieben von Sorgen und manchen Illusionen seiner Zeit,
auf diese Wechselfälle des Lebens in einer Weise geantwortet
hat, die uns auf die Wechselfälle unseres Lebens antworten lehrt,
obwohl sie verschieden sind und auch unsere Antwort verschie-
den ist.
Man wird nicht ins Pantheon der Philosophen aufgenommen,
weil man sich ausschließlich darauf konzentriert hat, Gedanken
für die Ewigkeit hervorzubringen, und nie klingt die Betonung
der Wahrheit so lange nach, als wenn der Autor sein Leben mit
einbezieht. Die Philosophien der Vergangenheit überleben nicht
allein in ihrem Geist, als Momente eines finalen Systems. Ihr Ein-
tritt in die Zeitlosigkeit ist keine Aufnahme ins Museum. Entwe-
der sie dauern mit ihren Wahrheiten und ihren Verrücktheiten
fort, als vollständige Unternehmen, oder sie haben gar keinen
Fortbestand. Hegel selbst, dieser Denker, der das Sein umfassen
wollte, lebt heute unter uns und gibt uns nicht nur durch seine
tiefgründigen Gedanken, sondern auch aufgrund seiner Manien
und wunderlichen Angewohnheiten zu denken. Es gibt nicht
eine Philosophie, die alle anderen Philosophien enthielte; die
Philosophie ist, in bestimmten Augenblicken, als Ganzes in jeder
Philosophie enthalten. Um das berühmte Wort aufzugreifen: Ihr
Zentrum ist überall und ihre Peripherie nirgends.
Die Wahrheit und das Ganze sind also von Anfang an da – aber
im Sinne einer zu erfüllenden Aufgabe, so daß sie folglich doch
noch nicht da sind. Diese besondere Beziehung der Philosophie
zu ihrer Vergangenheit erhellt allgemein ihre Beziehungen zum
Überall und nirgends 185

Äußeren und, beispielsweise, zur persönlichen und sozialen Ge-


schichte.
Wie die vergangenen Lehren, so lebt auch sie von allem, was
dem Philosophen und seiner Zeit zustößt, aber sie dezentriert es
oder überträgt es in die Ordnung der Symbole und der vorge-
tragenen Wahrheit, so daß es nicht mehr Sinn ergibt, das Werk
anhand des Lebens zu beurteilen als das Leben anhand des Wer-
kes.
Wir haben nicht die Wahl zwischen jenen, die denken, daß die
Geschichte des Individuums oder der Gesellschaft im Besitz der
Wahrheit über die symbolischen Konstruktionen des Philoso-
phen sei, und jenen, die im Gegensatz dazu denken, daß das phi-
losophische Bewußtsein prinzipiell die Schlüssel zur sozialen und
persönlichen Geschichte besitze. Die Alternative ist imaginär, was
dadurch bewiesen wird, daß jene, die eine dieser beiden Thesen
verteidigen, insgeheim auf die jeweils andere zurückgreifen.
Man kann nur dann daran denken, das interne Studium der
Philosophien durch eine sozio-historische Erklärung zu ersetzen,
wenn man sich auf eine Geschichte bezieht, deren Sinn und Ver-
lauf man mit Gewißheit zu kennen glaubt. Man geht beispiels-
weise von einer bestimmten Idee des ›vollkommenen Menschen‹
aus, oder von einem ›natürlichen‹ Gleichgewicht zwischen den
Menschen einerseits und Mensch und Natur andererseits. Aus
dieser Sicht, unter Vorgabe dieses historischen τéλος, kann jede
Philosophie angesichts dieser notwendigen Zukunft als Ablen-
kung, Entfremdung und Widerstand vorgeführt werden, oder im
Gegenteil als Etappe und Fortschritt auf dem Weg zu ihr. Woher
aber kommt und welchen Wert hat die Leitidee? – Die Frage darf
nicht gestellt werden: Sie zu stellen, bedeutet bereits, einer Dia-
lektik zu ›widerstehen‹, die in den Dingen liegt, es bedeutet, gegen
diese Dialektik Partei zu ergreifen. – Aber woher wissen Sie denn,
daß sie in den Dingen liegt? Durch Philosophie. Die Dialektik ist
ganz einfach eine verborgene Philosophie, die als Prozeß getarnt
ist. Was man dem internen Studium der Philosophien entgegen-
hält, ist nie die sozio-historische Erklärung, sondern immer eine
andere Philosophie, die in ihr verborgen ist.
186 Überall und nirgends

Man zeigt, daß Hegel die Entfremdung so begriffen hat, wie er


es tat, weil er die Entfremdung der kapitalistischen Gesellschaft
vor Augen hatte und ihr gemäß dachte. Diese ›Erklärung‹ würde
nur dann mit der Hegelschen Entfremdung abrechnen und aus
ihr eine Episode des Kapitalismus machen, wenn man eine Ge-
sellschaft zeigen könnte, in der sich der Mensch objektiviert,
ohne sich zu entfremden. Eine solche Gesellschaft war für Marx
nur eine Idee, und wir können zumindest sagen, daß sie keine
Tatsache ist. Was man Hegel entgegenhält, ist nicht etwa eine Tat-
sache, sondern eine Idee von der Beziehung des Menschen zum
sozialen Ganzen. Unter dem Titel einer objektiven Erklärung
verbirgt sich stets ein Denken, das ein anderes Denken bestrei-
tet und es als Illusion denunziert. Wenn man antwortet, daß die
marxistische Idee, als historische Hypothese, die Geschichte des
Kapitalismus vor und nach Marx erhellt, dann betritt man das
Gebiet der Tatsachen und der historischen Wahrscheinlichkeit.
Aber man wird auf diesem Gebiet auf dieselbe Art und Weise die
Hegelsche Idee der Entfremdung ›erproben‹ müssen, und bei-
spielsweise überprüfen, ob sie nicht hilft, sogar die auf die mar-
xistische Idee gegründeten Gesellschaften zu verstehen. Gerade
eine solche Überprüfung schließt man aus, wenn man pedantisch
erklärt, die Hegelsche Idee der Entfremdung sei ein Produkt der
Gesellschaft, in der Hegel lebte; man hält sich also nicht an den
Bereich der Fakten, und die historische ›Erklärung‹ ist eine Art,
zu philosophieren, ohne daß es den Anschein hätte, eine Art, die
Ideen als Dinge zu tarnen und ohne jede Genauigkeit zu denken.
Eine Geschichtskonzeption erklärt die Philosophien nur unter
der Bedingung, daß sie selbst zur Philosophie wird, und zwar
implizite Philosophie.
Die Philosophen, die am leidenschaftlichsten in die Innerlich-
keit verliebt sind, werden ihrerseits ihren Prinzipien auf seltsame
Weise untreu, wenn sie vor ihrem Tribunal die Kulturen und Re-
gime zusammenrufen und sie von außen beurteilen, als wäre die
Innerlichkeit nicht mehr wichtig, sobald sie nicht ihre eigene ist.
So tauschen die Partisanen der ›reinen‹ Philosophie und die
Partisanen der sozio-ökonomischen Erklärung unter unseren
Überall und nirgends 187

Augen ihre Rollen, und wir müssen nicht in ihre ewige Debatte
einsteigen, müssen nicht Partei ergreifen gegen eine falsche Vor-
stellung des ›Inneren‹ wie des ›Äußeren‹. Die Philosophie ist
überall, sogar in den ›Fakten‹ – und sie hat nirgends einen Be-
reich, in dem sie vor der Ansteckung durch das Leben geschützt
wäre.
Es liegt viel Arbeit vor uns, wenn wir die Mythen beseitigen
wollen, die mit der reinen Philosophie und der reinen Geschichte
verschwistert sind, und wenn wir ihre tatsächlichen Beziehungen
wiederfinden wollen. Als erstes benötigten wir eine Theorie des
Begriffs oder der Bedeutung, welche die philosophische Idee so
nähme, wie sie ist: nie ganz frei von historischen Importen und
nie auf ihre Ursprünge zurückzuführen. Wie die neuen Formen
der Grammatik und der Syntax, die aus den Bruchstücken ei-
nes einstigen Sprachsystems oder den Zufällen der allgemeinen
Geschichte geboren werden, sich dennoch entsprechend einer
Ausdrucksintention organisieren, die aus ihnen ein neues System
werden läßt, so ist die philosophische Idee, die in den Wechsel-
fällen der persönlichen und sozialen Geschichte geboren wird,
nicht nur ein Ergebnis und ein Gegenstand; sie ist vielmehr ein
Beginn und ein Instrument. Mit ihren genauen Unterscheidun-
gen im Rahmen eines neuen Denktyps und eines neuen Sym-
bolismus konstituiert sie sich einen Anwendungsbereich, der in
keinem Verhältnis steht zu ihren Ursprüngen und der nur von
innen heraus verstanden werden kann. Der Ursprung ist kein
Sündenfall und auch kein Verdienst, und es ist das Gesamte in
seiner Reife, das man beurteilen muß, anhand der Ausblicke und
Zugriffe auf die Erfahrung, die es uns gewährt. Mehr noch als
zur ›Erklärung‹ einer Philosophie dient die historische Annähe-
rung dazu, den Überschuß der philosophischen Bedeutungen
über die Umstände zu verdeutlichen, und zu zeigen, wie sie, was
eine historische Tatsache ist, ihre Anfangssituation in ein Mit-
tel verwandelt, diese Situation selbst zu verstehen und durch sie
auch andere. Das philosophisch Universale besteht in jenem Au-
genblick und in jenem Punkt, in dem die Begrenzungen eines
Philosophen Eingang finden in eine andere Geschichte, die nicht
188 Überall und nirgends

parallel verläuft zu jener Geschichte der psychologischen oder


sozialen Tatsachen, die sie aber bald kreuzt, bald von ihr abrückt,
oder eher, die nicht der gleichen Dimension angehört.
Um diese Beziehung zu verstehen, müßten wir auch unsere
Vorstellung der psychologischen oder historischen Genese än-
dern. Wir müßten die Psychoanalyse und den Marxismus als Ex-
perimente neu denken, bei denen die Prinzipien, die Maßeinhei-
ten, angesichts des Gemessenen immer in Frage stehen. Es geht
nicht darum, die Menschen oder die Gesellschaften danach ein-
zuteilen, ob sie sich der Richtschnur der klassenlosen Gesellschaft
oder des konfliktlosen Menschen annähern: Diese negativen En-
titäten können nicht dazu dienen, eine existierende Gesellschaft
oder einen existierenden Menschen zu denken. Wir müßten vor
allem die Wirkungsweise ihrer Widersprüche verstehen, die Art
von Gleichgewicht, in dem sie sich, so gut es eben geht, eingerich-
tet haben, wir müßten in jeder Hinsicht verstehen, ob es lähmt
oder am Leben läßt, müßten in der Psychoanalyse dem Beruf
und der Arbeit ebenso Rechnung tragen wie dem Sexualleben,
und, im Hinblick auf alles mit dem Marxismus Zusammenhän-
gende, den gelebten Beziehungen ebenso wie den Variablen der
ökonomischen Analyse, der menschlichen Qualität der Bezie-
hungen ebenso wie der Produktion, den heimlichen sozialen
Rollen ebenso wie den offiziellen Regelungen. Vergleiche dieser
Art ergeben, sofern sie eine Präferenz und eine Wahl begrün-
den können, keine ideale Entstehungsreihe, und die Beziehung
einer geschichtlichen Formation zu einer anderen wird, ebenso
wie die Beziehung eines Menschentyps zu einem anderen, nie
die einfache Beziehung von wahr und falsch sein. Der ›gesunde‹
Mensch ist nicht so sehr derjenige, der bei sich alle Widersprüche
beseitigt hat: Es ist derjenige, der sie verwendet und sie in seine
Lebensarbeit einbezieht. Zu relativieren wäre auch die marxisti-
sche Vorstellung einer Vorgeschichte, die der Geschichte weichen
wird, und eines unmittelbaren Bevorstehens der vollständigen
und wahren Gesellschaft, in welcher der Mensch sowohl mit dem
Menschen als auch mit der Natur versöhnt ist, denn darin liegt
wohl die Forderung unserer Gesellschaftskritik, aber es gibt in
Überall und nirgends 189

der Geschichte keine Kraft, die dazu bestimmt wäre, diese Form
von Gesellschaft hervorzubringen. Die menschliche Geschichte
ist von nun an nicht so beschaffen, daß sie einen Tag bestimmt
und auf all ihren Zifferblättern gleichzeitig der helle Mittag der
Identität erscheint. Der Fortschritt der sozio-ökonomischen Ge-
schichte und selbst noch die damit verbundenen Revolutionen
sind nicht so sehr ein Übergang zu einer homogenen oder klas-
senlosen Gesellschaft wie die über stets atypische Kultursysteme
hinweg betriebene Suche nach einem Leben, das nicht für die
meisten Menschen unlebbar ist. Zwischen dieser Geschichte, die
stets vom Positiven zum Positiven fortschreitet und sich niemals
zur reinen Negation übersteigt – und dem philosophischen Be-
griff, der seine Verbindungen zur Welt nie abbricht, sind die Be-
ziehungen beliebig eng, nicht etwa weil derselbe Sinn ohne jede
Zweideutigkeit dem Rationalen und dem Realen innewohnte, wie
es Hegel und Marx jeder auf seine Weise dachten, sondern weil
das ›Reale‹ und ›Rationale‹ aus demselben Stoff geschnitten sind,
nämlich der historischen Existenz der Menschen, und weil durch
diese Existenz das Reale gewissermaßen der Vernunft versprochen
wurde.
Selbst wenn man einen einzelnen Philosophen betrachtet,
so wimmelt es in ihm von inneren Differenzen, und man muß
seinen ›vollständigen‹ Sinn über diese Diskordanzen hinweg
wiederfinden. Wenn ich nur mühsam die ›grundlegende Wahl‹
wiedererkennen kann, die der absolute Descartes, von dem Sartre
3 sprach, getroffen hat, der Descartes, der ein für alle Mal vor drei
Jahrhunderten gelebt und geschrieben hat, so liegt dies vielleicht
daran, daß Descartes selbst zu keinem Zeitpunkt ganz mit Des-
cartes übereinstimmte: Was er in unseren Augen und den Texten
zufolge ist, das ist er nur nach und nach gewesen, als Reaktion
seiner selbst auf sich selbst, und die Vorstellung, ihn an seinem
Ursprung ganz zu erfassen, ist vielleicht illusorisch, sofern Des-
cartes nicht irgendeine ›zentrale Intuition‹, ein ewiger Charakter,
ein absolutes Individuum ist, sondern zunächst jener zögerliche
Diskurs, der sich durch Erfahrung und Übung behauptet, der
sich selbst allmählich begreifen lernt und nie ganz aufhört, selbst
190 Überall und nirgends

das in Betracht zu ziehen, was er entschieden ausgeschlossen hat.


Man wählt eine Philosophie nicht wie einen Gegenstand aus. Die
Wahl beseitigt keineswegs das nicht Ausgewählte, sondern be-
wahrt es am Rande. Derselbe Descartes, der so sorgfältig unter-
scheidet zwischen dem, was auf den reinen Verstand zurückgeht,
und dem, was dem Gebrauch des Lebens angehört, sieht sich im
selben Zug das Programm einer Philosophie entwerfen, die den
Zusammenhang der von Descartes unterschiedenen Ordnungen
zum zentralen Thema macht. Die philosophische Wahl (und
gewiß auch alle anderen) ist niemals einfach. Und nur, weil sie
etwas Zweideutiges an sich haben, berühren sich die Philosophie
und die Geschichte.
Damit sei es genug, zwar nicht, um die Philosophie zu defi-
nieren, aber um einem Werk wie diesem für die Mischung aus
Philosophie, Geschichte und Anekdoten die Absolution zu ertei-
len. Diese Unordnung ist Teil der Philosophie; sie findet das Mit-
tel, in ihr zu einer Einheit zu gelangen, durch die Abschweifung
und die Rückkehr zum Zentrum. Es ist die Art von Einheit, die
eine Landschaft oder eine Rede aufweist, bei der alles durch eine
verborgene Referenz indirekt mit einem Zentrum des Interesses
oder der Perspektive verbunden ist, auf das zunächst kein Zei-
chen hingedeutet hatte. Wie Europa oder Afrika, so ist auch die
Geschichte der Philosophie ein Ganzes, wenngleich auch sie ihre
Buchten, ihre Kaps, ihr Relief, ihre Deltas und ihre Mündungsge-
biete hat. Und obwohl sie in einer weit größeren Welt angesiedelt
ist, kann man in ihr doch die Zeichen aller Geschehnisse ablesen.
Wie also sollte ein bestimmter Ansatz verboten und der Philo-
sophen unwürdig sein? Eine Reihe von Porträts ist nicht an sich
bereits ein Anschlag auf die Philosophie.
Und was die Pluralität der Perspektiven und der Kommentato-
ren angeht, so würde sie die Einheit der Philosophie nur durch-
brechen, wenn es sich um eine Einheit der Aneinanderreihung
oder der Anhäufung handelte. Da aber die Philosophien ebenso
Sprachen sind, die nicht unmittelbar ineinander übersetzbar sind
und auch nicht Wort für Wort übereinander zu legen sind, und
da jede auf ihre einzigartige Weise notwendig ist für die anderen,
Überall und nirgends 191

erhöht die Verschiedenheit der Kommentare kaum jene der Phi-


losophien. Ja, mehr noch, wenn man jeden einzelnen, wie wir es
getan haben, nicht um einen ›objektiven‹ Bericht, sondern eher
um eine Reaktion auf einen Philosophen bittet, dann findet man
auf diesem Gipfel der Subjektivität vielleicht wieder eine Art
Konvergenz und eine Verwandtschaft zwischen den Fragen, die
jeder dieser Zeitgenossen seinem berühmten Philosophen unter
vier Augen stellt.
Diese Probleme werden durch ein Vorwort nicht beseitigt, und
sie müssen auch nicht abschließend geklärt werden. Wenn die
Einheit der Philosophie durch die Unterschiedlichkeit oder den
Abstand der einzelnen Philosophien voneinander schrittweise
reduziert wird, dann müssen wir die Schwierigkeit, sie zu den-
ken, in jedem Augenblick dieses Buches wiederfinden. Wenn wir
die Philosophie im Hinblick auf das orientalische Denken oder
das Christentum abgrenzen müssen, werden wir uns auch fra-
gen müssen, ob die Bezeichnung als Philosophie nur den Lehren
angemessen ist, die sich selbst in Begriffe übersetzen, oder ob
man sie nicht auch auf Erfahrungen, Weisheiten und Disziplinen
ausdehnen kann, die nicht bis an jenen Grad oder jene Art von
Bewußtsein heranreichen, und wir werden hierbei wieder auf das
Problem des philosophischen Begriffs und seiner Natur stoßen.
Jedesmal, wenn wir es wagen, Entwicklungslinien aufzuzeigen,
die von den Philosophen selbst sicher nicht gesehen wurden,
und wenn wir sie um Themen gruppieren, die nicht ausdrück-
lich die ihren waren – kurz gesagt, mit jedem Abschnitt dieses
Werkes –, werden wir uns überdies die Frage stellen müssen, wie
weit wir berechtigt sind, die vergangenen Philosophien in das
Licht des heutigen Tages zu rücken, ob wir uns damit schmei-
cheln können, wie Kant sagte, sie besser zu verstehen als sie sich
4 selbst verstanden haben, und schließlich, bis zu welchem Punkt
die Philosophie die Beherrschung des Sinns ist. Zwischen uns
und der Vergangenheit, zwischen uns und dem Orient, zwischen
Philosophie und Religion werden wir jedesmal von neuem lernen
müssen, eine Brücke über die trennende Kluft zu spannen und
die indirekte Einheit wiederzufinden, und der Leser wird erneut
192 Überall und nirgends

jene Fragestellung erkennen, die wir anfangs formuliert hatten:


Denn sie ist kein Vorwort zur Philosophie, sie ist die Philosophie
selbst.

II. Der Orient und die Philosophie

Ist jene immense Denkliteratur, die für sich allein einen Band
beanspruchen müßte, wirklich Teil der ›Philosophie‹? Ist es mög-
lich, sie dem gegenüberzustellen, was das Abendland mit diesem
Namen bezeichnet? Die Wahrheit ist in ihr nicht wie der Hori-
zont einer unendlichen Serie von Nachforschungen enthalten,
auch nicht wie eine Eroberung und ein intellektueller Besitz des
Seins. Sie gleicht eher einem Schatz, der vor jeder Philosophie im
menschlichen Leben verteilt und nicht einzelnen Lehren zugeteilt
ist. Das Denken fühlt sich nicht dadurch beschwert, die voran-
gegangenen Versuche weiter vorantreiben oder sich sogar gegen
sie entscheiden oder noch weniger, mit der Herausbildung einer
neuen Idee des Gesamten über sie hinausgehen zu müssen. Es
ergibt sich wie ein Kommentar und Synkretismus, wie ein Echo
und eine Versöhnung. Das Alte und das Neue, die entgegenge-
setzten Lehren schließen sich zusammen, und der profane Leser
erkennt nicht, daß hierin etwas Erworbenes oder Abgeschlosse-
nes liegt; er hat das Gefühl, in einer magischen Welt zu stehen,
in der nichts je ein Ende findet, in der die Gedanken nach ihrem
Tod fortdauern und in der jene Gedanken, die man für unverein-
bar hielt, sich miteinander vermischen.
Sicherlich müssen wir hierbei unsere eigene Unwissenheit be-
rücksichtigen: Wenn wir das abendländische Denken mit der-
selben Überheblichkeit und mit demselben Abstand betrachten
wie das indische oder chinesische Denken, dann würde es uns
vielleicht ebenso den Eindruck eines Wiederkäuens, einer ewigen
Neuinterpretation, eines heuchlerischen Verrats und eines un-
freiwilligen und keiner bestimmten Richtung folgenden Wech-
selns vermitteln. Dennoch dauert dieses Gefühl gegenüber dem
Orient bei den Kennern an. Masson-Oursel sagte über Indien:
»Wir haben es hier mit einer unermeßlichen, auf jede Einheit
Überall und nirgends 193

verzichtenden Welt zu tun, in der nichts zu einem beliebigen


Zeitpunkt in einer völlig neuen Art und Weise erscheint, in der
aber auch nichts von dem, was man ›überholt‹ glaubte, ganz be-
seitigt wird, es ist ein Chaos menschlicher Gruppierungen, ein
undurchdringlicher Dschungel verschiedener Religionen, ein
Gewimmel von Lehren.« Ein zeitgenössischer chinesischer Autor
5 schreibt3: »In bestimmten philosophischen Schriften, wie jenen
von Mencius oder Hsün-Tse, findet man Räsonnements und
systematische Argumente. Im Vergleich zu den Schriften des
Abendlandes sind sie aber noch nicht deutlich genug herausgear-
beitet. Es ist eine Tatsache, daß die chinesischen Philosophen die
Angewohnheit hatten, sich in Form von Aphorismen und Apoph-
thegmen oder Anspielungen und Lehrfabeln auszudrücken […]
Die Worte und Schriften der chinesischen Philosophen sind so
unartikuliert, daß ihre Suggestionskraft grenzenlos bleibt […]
Die kurzen Sentenzen der Gespräche von Konfuzius und der Phi-
losophie von Lao-Tse sind nicht einfach nur Schlußfolgerungen,
deren Prämissen verlorengegangen sind […] Man kann alle im
Lao-Tse enthaltenen Ideen zusammentragen und sie in einem
neuen Buch von fünftausend oder sogar fünfhunderttausend
Wörtern notieren. Unabhängig davon, ob es gut oder schlecht
gemacht ist, wird es sich doch um ein neues Buch handeln. Man
wird es Seite für Seite mit dem originalen Lao-Tse vergleichen
können; und es wird vielleicht in hohem Maße dazu beitragen,
ihn zu verstehen, aber es wird ihn nie ersetzen können. Kuo-Hsi-
ang ist einer der großen Kommentatoren von Tschuang-Tse. Sein
Kommentar zählt selbst zu den klassischen Büchern der taoisti-
schen Literatur. Er überträgt die Anspielungen und Metaphern
Tschuang-Tses in Form von Schlußfolgerungen und Argumenten
[…] Zwischen dem suggestiven Stil Tschuang-Tses und dem ar-
tikulierten Stil Kuo-Hsiangs bleibt jedoch die Frage offen, wel-
cher von beiden nun der bessere sei? Ein Mönch der buddhisti-
schen Ch’an- oder Zenschule einer späteren Zeit äußert einmal:
›Alle sagen, Kuo-Hsiang hat einen Kommentar zu Tschuang-Tse

3 Fong Yeou-Lan, Précis d’histoire de la philosophie chinoise, S. 32-35.


194 Überall und nirgends

geschrieben; ich würde allerdings behaupten, Tschuang-Tse ist es,


der einen Kommentar zu Kuo-Hsiang geschrieben hat‹.«
Gewiß haben die christlichen Themen während der letzten
zwanzig Jahrhunderte der abendländischen Philosophie Bestand
gehabt. Und noch einmal sei betont, daß man sich vielleicht,
wie bemerkt wurde,4 inmitten einer Zivilisation befinden muß,
um unter dem Anschein der Stagnation die Bewegung und die
Geschichte wahrzunehmen. Dennoch ist es schwierig, die Dauer
des Christentums im Abendland und die des Konfuzianismus in
China einem Vergleich zu unterziehen. Das unter uns fortdau-
ernde Christentum ist keine Philosophie; es ist die Erzählung
und das Nachdenken über eine Erfahrung, über einen Komplex
rätselhafter Ereignisse, die von sich aus verschiedene philosophi-
sche Ausarbeitungen nach sich ziehen und die in der Tat nicht
aufgehört haben, Philosophien entstehen zu lassen, selbst wenn
einer von ihnen ein Privileg zugestanden wurde. Die christlichen
Themen sind Fermente, keine Reliquien. Haben wir nichts, das
dem Gewimmel der Apokryphen in der konfuzianischen Tradi-
tion vergleichbar wäre, dem Durcheinander an Themen im Neo-
taoismus des 3. und 4. Jahrhunderts n. Chr., jenen verrückten
Unternehmen einer vollständigen Bestandsaufnahme und einer
Versöhnung, denen sich Generationen chinesischer Schriftgelehr-
ter gewidmet haben, jener philosophischen Orthodoxie, die von
Tschu-Hi (1130-1200) bis zur Abschaffung der Untersuchungen
im Jahr 1905 andauerte? Und hat, wenn man sich auf den In-
halt dieser Lehren bezieht – wie man es tun sollte, da die äu-
ßeren Formen der chinesischen Philosophie auch die Beziehung
des Menschen zur Welt zum Ausdruck bringen wollen –, je eine
abendländische Lehre eine so rigorose Übereinstimmung von
Mikrokosmos und Makrokosmos vertreten, die für jedes Ding
und jeden Menschen, sogar ohne die Ausflucht der stoischen Ver-
achtung, einen Platz und einen Namen festlegte, die ihre Namen
wären, und die die ›Verbesserung‹ als Kardinaltugend definiert
hätte? Man hat das Gefühl, daß die chinesischen Philosophen die

4 C. Lévi-Strauss.
Überall und nirgends 195

eigentliche Idee des Verstehens oder der Erkenntnis nicht so auf-


fassen wie die abendländischen Philosophen, daß sie sich keine
intellektuelle Genese des Objekts vornehmen, daß sie es nicht zu
begreifen suchen, sondern in seiner ursprünglichen Perfektion le-
diglich in Erinnerung rufen; und aus diesem Grund legen sie uns
bestimmte Gedanken nahe, aus diesem Grund können wir bei
Ihnen den Kommentar nicht vom Kommentierten unterschei-
den, das Umhüllende vom Umhüllten, das Bezeichnende vom
Bezeichneten; aus diesem Grund ist bei ihnen der Begriff ebenso
eine Anspielung auf den Aphorismus wie der Aphorismus eine
Anspielung auf den Begriff ist.
Wenn dies wahr ist, wie könnte man dann, in dieser unarti-
kulierten Ontologie und Zeit, ein Profil, ein Werden, eine Ge-
schichte entdecken? Wie könnte man den Beitrag jedes einzelnen
Philosophen umreißen, wenn doch alle um dieselbe uralte Welt
kreisen, die sie nicht zu denken suchen, sondern nur vergegen-
wärtigen wollen? Die Beziehung des chinesischen Philosophen
zur Welt ist eine Faszination, und man kann ihr nicht zur Hälfte
folgen: Entweder man macht sich mit ihr vertraut – mittels der
Geschichte, der Sitten und der Kultur –, und die chinesische Phi-
losophie wird dann zu einer der übergeordneten Strukturen die-
ses historischen Wunders, bleibt jedoch ohne innere Wahrheit.
Oder aber man muß darauf verzichten, sie zu verstehen. Wie al-
les, was der Mensch hervorbringt oder errichtet, so wecken auch
Indien und China ein immenses Interesse. Wie alle Institutionen,
so erwarten aber auch diese von uns die Einsicht in ihren wahren
Sinn; sie geben ihn uns nicht vollständig. China und Indien sind
nicht im Vollbesitz dessen, was sie sagen. Um Philosophien zu
haben, fehlt es ihnen am Bemühen, sich selbst und den ganzen
Rest zu erfassen …

*
Diese Bemerkungen, die heute banal erscheinen, führen aller-
dings zu keiner Lösung des Problems. Sie stammen von Hegel.
Er ist es, der auf die Idee kam, den Orient zu ›überwinden‹,
indem man ihn ›versteht‹; er ist es, der dem Orient die abend-
196 Überall und nirgends

ländische Idee der Wahrheit gegenübergestellt hat, die Idee des


Begriffs als einer vollständigen Wiederaufnahme der Welt in ih-
rer Verschiedenartigkeit, und der den Orient als ein Scheitern
in selbigem Bemühen definiert hat. Es lohnt sich, den Wortlaut
dieser Verurteilung noch einmal in Erinnerung zu rufen, be-
vor wir entscheiden, ob wir sie auf unsere Rechnung nehmen
können.
Das orientalische Denken ist für Hegel sehr wohl Philosophie,
und zwar in dem Sinne, daß der Geist dabei lernt, sich vom Schein
und von der Eitelkeit loszusagen. Wie viele andere Wunderlich-
keiten der menschlichen Welt, wie etwa die Pyramiden, so ist die-
ses Denken aber nur Philosophie an sich, das heißt der Philosoph
erkennt in ihm die Ankündigung des Geistes, der darin nicht in
seinem bewußten oder reinen Zustand gegeben ist. Denn der
Geist ist noch nicht Geist, sobald er sich von den Erscheinungen
getrennt und sich über sie erhoben hat: Dieses abstrakte Denken
findet sein Gegenstück im Überfluß der ungezügelten Erschei-
nungen. Einerseits hat man also eine Intuition, ›die nichts sieht‹,
ein Denken, ›das nichts denkt‹, das immaterielle Eine, die ewige,
ruhige und unermeßliche Substanz, eine mit nichts vergleichbare
Andacht, den mystischen Namen Gottes, die Silbe om, unendlich
gemurmelt – das heißt die Unbewußtheit und die Leere. Und 6
andererseits eine Masse absurder Details, abgeschmackte Zere-
monien, unendliche Bestandsaufnahmen, unmäßige Aufzählun-
gen, eine raffinierte Technik des Körpers, der Atmung und der
Sinne, von denen man sich irgendetwas erwartet, das Erahnen
der Gedanken des Anderen, die Stärke des Elefanten, den Mut des
Löwen und die Schnelligkeit des Windes. Bei den Fakiren – wie
bei den Zynikern Griechenlands und bei den Bettelmönchen des
Christentums – findet man eine ›tiefe Abstraktion der äußeren
Beziehungen‹, die aber selbst provozierend, seherisch und pitto-
resk ist. Nirgends gibt es eine Vermittlung oder einen Übergang
vom Inneren zum Äußeren und eine Rückkehr vom Äußeren zu
sich selbst. Indien kennt nicht ›das Strahlen des Begriffs im End-
lichen‹, und dies ist der Grund, warum jene Ahnung des Geistes
in ›Kinderei‹ endet.5 7
Überall und nirgends 197

China wiederum hat eine Geschichte; es unterscheidet Bar-


barei von Kultur und schreitet selbstsicher von der einen zur
anderen fort, aber es ist ›eine Kultur‹, die sich innerhalb ihres
Prinzips festigt‚ und die sich nicht darüber hinaus entwickelt. Auf
einer anderen Ebene als Indien bewahrt China die unmittelbare
und lähmende Gegenüberstellung des Inneren mit dem Äußeren,
des Universalen mit einer prosaischen Wahrheit, und man sieht,
wie China das Geheimnis der Welt in einem Schildkrötenpanzer
sucht und eine kleinliche und ohne jede moralische Kritik be-
triebene Rechtspraxis pflegt. ›Es wird einem Europäer nie in den
Sinn kommen, die sinnlich wahrnehmbaren Dinge so sehr in die
Nähe der Abstraktion zu rücken.‹6 Das Denken geht ohne Ge-
winn von der Abstraktion zum Wahrnehmbaren über und kann
während dieser Zeit nicht werden, nicht reifen.
Wir können nicht einmal sagen, fügt Hegel hinzu, das orien-
talische Denken sei eine Religion; es ist der Religion in unserem
Sinne ebenso fremd wie der Philosophie, und dies aus denselben
Gründen. Die Religion des Abendlandes beruht auf der Annahme
8 eines »Prinzips der Freiheit und der Individualität«; sie ist durch
die Erfahrung der »denkenden Subjektivität« und des Geistes bei
seiner Arbeit an der Welt hindurchgegangen. Das Abendland hat
gelernt, daß es für den Geist dasselbe ist, sich zu begreifen und
aus sich hinauszugehen, sich hervorzubringen und sich zu vernei-
nen. Das orientalische Denken zieht diese realisierende Negation
nicht einmal in Erwägung; es entzieht sich dem Zugriff der Kate-
gorien, ist weder Theismus noch Atheismus, weder Religion noch
Philosophie. Brahma, Vishnu und Shiva sind keine Individuen,
aber auch nicht die Chiffre oder das Emblem fundamentaler
menschlicher Befindlichkeiten, und was Indien über sie erzählt,
hat nicht das unerschöpfliche Bedeutungsvermögen der griechi-
schen Mythen oder der christlichen Gleichnisse. Es sind beinahe
Entitäten oder Philosopheme, und die Chinesen bilden sich ein,
die am wenigsten durch Religion und am stärksten durch Philo-

5 Hegel: Geschichte der Philosophie.


6 Ebd.
198 Überall und nirgends

sophie geprägte Zivilisation zu haben, die man sich denken kann.


Tatsächlich ist sie nicht philosophischer als sie religiös ist, da sie
die Arbeit des Geistes in Berührung mit der unmittelbaren Welt
nicht kennt. Das orientalische Denken ist also ursprünglich: Es
erschließt sich uns nur dann, wenn wir die abschließenden For-
men unserer Kultur außer Acht lassen. In unserer individuellen
oder kollektiven Vergangenheit finden wir jedoch die Mittel, es
zu verstehen; es liegt in jenem unbestimmten Bereich, in dem es
noch keine Religion und noch keine Philosophie gibt; es ist die
Sackgasse des unmittelbaren Geistes, die wir vermeiden konn-
ten. Auf diese Weise überwindet Hegel das orientalische Denken,
indem er es als ein abweichendes oder atypisches Denken dem
wahren Werden des Geistes einverleibt.
Diese Ansichten Hegels finden sich nicht überall: Wenn man
das Abendland anhand der Erfindung der Wissenschaft oder des
Kapitalismus definiert, dann ist es stets Hegel, von dem man sich
beeinflussen läßt; denn der Kapitalismus und die Wissenschaft
können eine Zivilisation nur dann definieren, wenn man sie als
›innerweltliche Askese‹ oder als ›Arbeit des Negativen‹ versteht,
und dem Orient wirft man stets vor, beides nicht gekannt zu haben.
In aller Deutlichkeit ist das Problem also folgendes: Hegel und
seine Anhänger gestehen dem orientalischen Denken nur unter
den Umständen eine philosophische Würde zu, daß sie es wie
eine ferne Annäherung an den Begriff behandeln. Unsere Vor-
stellung vom Wissen ist so anspruchsvoll, daß sie jeden anderen
Denktypus vor die Wahl stellt, sich diesem Wissen entweder wie
ein erster Entwurf des Begriffs unterzuordnen, oder aber sich
selbst als vernunftwidrig herabzuwürdigen. Allerdings stellt sich
die Frage, ob wir, wie Hegel, nach diesem absoluten Wissen, die-
sem konkreten Allgemeinen, zu dem sich der Orient den Zugang
versperrt hat, streben können. Wenn wir es nicht tatsächlich be-
sitzen, dann müssen wir unsere ganze Bewertung anderer Kultu-
ren revidieren.
*
Selbst am Ende seiner Karriere, als er gerade die Krisis des abend-
ländischen Wissens entwirft, schreibt Husserl, daß »China […]
Überall und nirgends 199

9 Indien […] empirische oder anthropologische Typen«7 seien. Er


scheint also Hegels Weg fortzusetzen. Wenn er die abendländi-
sche Philosophie jedoch weiterhin privilegiert, so geschieht dies
nicht aufgrund eines ihr zugesprochenen Rechtes und als verfüge
sie mit absoluter Evidenz über die Prinzipien jeder möglichen
Kultur – sondern im Namen einer Tatsache und mit dem Ziel, ihr
eine Aufgabe zu übertragen. Husserl hat eingeräumt, daß jedes
Denken an einer historischen Gesamtheit oder einer ›Lebenswelt‹
teilhat; daß alle Denkformen also im Prinzip ›anthropologische
Muster‹ sind und keine über besondere Rechte verfügt. Er räumt
auch ein, daß die sogenannten primitiven Kulturen bei der Er-
forschung der ›Lebenswelt‹ eine wichtige Rolle spielen, weil sie
uns Variationen dieser Welt anbieten, ohne die wir in unseren
Vorurteilen gefangen blieben und nicht einmal den Sinn unseres
eigenen Lebens erkennen könnten. Gerade jene Tatsache bleibt
jedoch bestehen, daß das Abendland eine Vorstellung der Wahr-
heit erfunden hat, die es in die Pflicht nimmt und die ihm er-
laubt, die anderen Kulturen zu verstehen und sie folglich als Mo-
mente einer vollständigen Wahrheit in seinen Dienst zu stellen.
Tatsächlich hat es jenes seltsame In-sich-gehen einer historischen
Entwicklung gegeben, das es dem abendländischen Denken er-
möglicht hat, in seiner Besonderheit und seiner ›Lokalität‹ zum
Vorschein zu kommen. Eine Präsumtion und Intention, die noch
auf ihre Erfüllung warten. Wenn das abendländische Denken das
ist, was es zu sein vorgibt, dann muß es den Beweis durch das
Verständnis aller ›Lebenswelten‹ antreten, muß es mittels der
Tat seine einzigartige Bedeutung über die ›anthropologischen
Muster‹ hinaus belegen. Die Idee einer Philosophie als ›strenger
Wissenschaft‹ – oder als absolutem Wissen – taucht also wieder
auf, von nun an jedoch mit einem Fragezeichen. Husserl sagte in
seinen letzten Lebensjahren: »Die Philosophie als strenge Wis-
10 senschaft – der Traum ist ausgeträumt.«8 Der Philosoph kann

7 Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale

Phänomenologie. Französische Übersetzung, Les Études Philosophiques,


April-Juni 1949, S. 140.
200 Überall und nirgends

sich nicht mehr bewußt auf ein absolut radikales Denken berufen
oder sich den intellektuellen Besitz der Welt und die Strenge des
Begriffs anmaßen. Seine Aufgabe liegt weiterhin in der Überprü-
fung seiner selbst und alles anderen, aber er hat sie zugleich nie
beendet, da er sie von nun an durch das Feld der Phänomene
hinweg verfolgen muß, bei dem ihm kein formales a priori von
vornherein die Herrschaft zusichert.

*
Husserl hatte es verstanden: Unser philosophisches Problem liegt
darin, den Begriff zu erweitern, ohne ihn zu zerstören.
Es gibt im abendländischen Denken etwas Unersetzbares: Das
Bemühen um die begriffliche Vorstellung, die Strenge des Be-
griffs bleiben beispielhaft, selbst wenn sie das Existierende nie
erschöpfend behandeln können. Eine Kultur bewertet man an-
hand ihres Grades an Transparenz, anhand des Bewußtseins, das
sie von sich selbst und von den anderen hat. In dieser Hinsicht
bleibt das Abendland (im weitesten Sinne) ein Bezugssystem: Es
ist das Abendland, das die theoretischen und praktischen Mittel
einer Bewußtwerdung erfunden hat, das den Weg der Wahrheit
eröffnet hat.
Aber dieser Besitz seiner selbst und des Wahren, den nur das
Abendland thematisiert hat, streift gleichwohl die Träume an-
derer Kulturen, und im Abendland selbst ist er nicht vollkom-
men. Was wir über die historischen Beziehungen Griechenlands
zum Orient und umgekehrt gelernt haben, all das, was wir an
›Abendländischem‹ im orientalischen Denken entdeckt haben
(eine Sophistik, einen Skeptizismus, Elemente der Dialektik und
der Logik), verbietet uns, eine geographische Grenze zwischen
der Philosophie und der Nicht-Philosophie zu ziehen. Die reine
oder absolute Philosophie, in deren Namen Hegel den Orient
ausschließt, schließt auch ein gut Teil der abendländischen Ver-
gangenheit aus. Vielleicht würde dieses Kriterium sogar, streng
angewendet, nur Hegel gegenüber Gnade walten lassen.

8 Husserliana, Bd. VI, S. 508.


Überall und nirgends 201

Und da insbesondere das Abendland, wie Husserl es for-


11 mulierte, seinen Wert als ›historische Entelechie‹ durch neue
Schöpfungen rechtfertigen muß, da auch das Abendland eine
historische Schöpfung ist, allein der beschwerlichen Aufgabe
verschrieben, die anderen zu verstehen, liegt seine eigentliche
Bestimmung darin, Untersuchungen immer wieder im Hinblick
auf seine Idee der Wahrheit und des Begriffs zu führen, und all
jene Institutionen – die Wissenschaften, den Kapitalismus und,
wenn man so will, den Ödipuskomplex – zu prüfen, die direkt
oder indirekt mit seiner Philosophie verwandt sind. Eine der-
artige Analyse dient nicht notwendigerweise dazu, diese Insti-
tutionen zu zerstören, sondern dazu, der Krise, die sie durch-
laufen, entgegenzutreten und die Quelle wiederzufinden, der
sie entspringen und der sie ihre lange Blüte verdanken. Unter
diesem Aspekt erhalten die Zivilisationen, die nicht über unsere
philosophische oder ökonomische Ausstattung verfügen, wieder
den Wert einer Lehre. Es geht nicht darum, sich in dem auf die
Suche nach der Wahrheit oder dem Heil zu begeben, was diesseits
der Wissenschaft oder des philosophischen Bewußtseins liegt,
und auch nicht darum, in unserer Philosophie mythische Ver-
satzstücke zu befördern; wir müssen vielmehr, angesichts dieser
Variationen des Menschlichen, von denen wir so weit entfernt
sind, den Sinn der theoretischen und praktischen Probleme ge-
winnen, mit denen unsere Institutionen konfrontiert sind, das
Feld des Daseins wiederentdecken, in dem sie entstanden sind
und das uns ihr langer Erfolg vergessen ließ. Die ›Kinderei‹ des
Orients hat uns etwas zu sagen, und sei es nur die Enge unserer
Ideen als Erwachsene. Zwischen Orient und Okzident, wie zwi-
schen dem Kind und dem Erwachsenen, besteht nicht etwa eine
Beziehung der Unwissenheit zum Wissen, der Nicht-Philosophie
zur Philosophie; der Umgang miteinander ist weitaus subtiler, er
gesteht seitens des Orients alle Antizipationen, alle ›vorzeitigen
Reifeprozesse‹ zu. Die Einheit des menschlichen Geistes wird sich
nicht durch einen einfachen Anschluß und eine Unterordnung
der ›Nicht-Philosophie‹ unter die wahre Philosophie herstellen
lassen. Es gibt diese Einheit bereits in den lateralen Beziehungen
202 Überall und nirgends

jeder Kultur zu den anderen Kulturen, in den Echos, die eine Kul-
tur in der anderen auslöst.
Was uns die Reisenden über ihre Berührung mit fremden Zivi-
lisationen erzählen, das müßte man auf das Problem der philoso-
phischen Universalität anwenden. Die Fotografien aus China ver-
mitteln uns den Eindruck eines undurchdringlichen Universums,
wenn sie sich auf das Pittoreske beschränken – das heißt, wenn
sie sich auf unseren Bildausschnitt und unsere Idee von China
beschränken. Sofern jedoch, im Gegensatz dazu, eine Fotografie
einfach versucht, die Chinesen in ihrem Lebenszusammenhang
zu erfassen, beginnen die Chinesen paradoxerweise für uns le-
bendig zu werden, und wir verstehen sie. In den Lehren selbst,
die sich dem Begriff zu widersetzen scheinen, fänden wir, wenn
wir sie in ihrem historischen und menschlichen Zusammenhang
begreifen könnten, eine Spielart der Beziehungen des Menschen
zum Sein, die uns Aufschluß geben würde über uns selbst, im
Sinne einer verborgenen Universalität. Die Philosophien Indiens
und Chinas haben weniger versucht, das Dasein zu beherrschen,
als vielmehr das Echo oder der Resonator unserer Beziehung
zum Sein zu sein. Die abendländische Philosophie kann von
ihnen lernen, die Seinsbeziehung, die anfängliche Option, aus
der sie hervorgegangen ist, wiederzufinden und das Ausmaß der
Möglichkeiten abzuschätzen, die wir uns genommen haben, als
wir ›abendländisch‹ wurden, und vielleicht kann sie uns diese
Möglichkeiten wieder erschließen.
Aus diesem Grunde sollten wir also dem Orient im Museum
der berühmten Philosophen seinen Auftritt gewähren, und aus
diesem Grunde, da wir ihm nicht den ganzen Platz einräumen
können, den eine detaillierte Studie benötigen würde, haben
wir den allgemeinen Ideen einige etwas genauere Ausführungen
vorgezogen, in denen der Leser vielleicht den geheimen, den ver-
steckten Beitrag des Orients zur Philosophie erkennen kann.
Überall und nirgends 203

III. Christentum und Philosophie

Die Konfrontation mit dem Christentum ist eine der Prüfungen,


bei denen die Philosophie ihr Wesen am deutlichsten offenbart.
Nicht etwa, weil es einerseits ein einmütiges Christentum, ande-
rerseits eine einmütige Philosophie gäbe. Ganz im Gegenteil: Was
auffällig war in der berühmten Diskussion, die vor fünfundzwan-
12 zig Jahren über dieses Thema geführt wurde,9 ist die Tatsache,
daß man hinter dem Streit über den Begriff einer christlichen
Philosophie oder über die Existenz christlicher Philosophien eine
andere, viel tiefgreifendere Debatte über die Natur der Philoso-
phie erahnte, und daß weder die Christen noch die Nichtchristen
hierbei alle auf einer Seite standen.
E. Gilson und J. Maritain sagten, die Philosophie sei nicht ih-
rem Wesen nach christlich, sondern allein ihrem Zustand nach,
aufgrund der in derselben Zeit und letztlich in demselben Men-
schen erfolgenden Durchmischung des Denkens mit dem religi-
ösen Leben, und in dieser Hinsicht waren sie nicht so weit von
E. Bréhier entfernt, der die Philosophie als strenges Begriffssy-
stem vom Christentum als Offenbarung einer übernatürlichen
Geschichte des Menschen unterschied und seinerseits daraus
schlußfolgerte, daß keine Philosophie als Philosophie christlich
sein könne. Dagegen war L. Brunschvicg, der mit Pascal und
Malebranche die Möglichkeit einer Philosophie einräumte, die
zur Feststellung einer Unvereinbarkeit von Dasein und Idee und
folglich ihrer eigenen Unzulänglichkeit gelangt, und die damit
zum Christentum führt, als einer Interpretation des Menschen
und der Welt, wie sie existieren, nicht so weit von M. Blondel
entfernt, für den die Philosophie das Denken war, das bemerkt,
daß es nichts ›abschließend‹ behandeln kann, wenn es in uns und
außerhalb von uns eine Wirklichkeit auffindet und abtastet, de-
ren Quelle nicht im philosophischen Bewußtsein liegt. Wenn ein
bestimmter Punkt der Reife, der Erfahrung oder der Kritik über-

9 »La notion de philosophie chrétienne«, Bulletin de la Société française

de Philosophie. Sitzung vom 21. März 1931.


204 Überall und nirgends

schritten ist, dann ist es nicht mehr so sehr der Wortlaut oder
die endgültige Formulierung ihrer Überzeugungen, welche die
Menschen trennt oder zusammenführt, sondern vielmehr, ob sie
nun Christen sind oder nicht, die Art und Weise, wie sie mit ihrer
eigenen Dualität umgehen und in sich selbst die Beziehungen des
Begrifflichen und des Wirklichen organisieren.
Die eigentliche Frage, die der Diskussion um die christliche
Philosophie zugrunde liegt, ist die Frage nach der Beziehung von
Wesen und Dasein. Werden wir ein Wesen der Philosophie gel-
ten lassen, ein rein philosophisches Wissen, das im Menschen
einen Kompromiß mit dem Leben (in diesem Fall: mit dem re-
ligiösen Leben) eingegangen ist, aber dennoch bleibt, was es ist,
streng und direkt mitteilbar, ein ewiges Wort, das jedem diese
Welt betretenden Menschen Aufklärung verschafft, oder werden
wir im Gegenteil behaupten, die Philosophie sei radikal, gerade
weil sie das anscheinend unmittelbar Mitteilbare, die verfügba-
ren Gedanken und die in Gestalt von Ideen gegebene Erkenntnis
untergräbt und zwischen den Menschen wie auch zwischen den
Menschen und der Welt eine Verbindung offenbart, die der Idea-
lität vorangeht und sie begründet?
Daß diese Frage die christliche Philosophie beherrscht, läßt
sich anhand der Umwege nachweisen, die sie in der Diskussion
von 1931 genommen hat. Die einen, die in der Ordnung der
Prinzipien, der Begriffe und des Möglichen von der Autonomie
der Philosophie und der Religion ausgehen, räumen, wenn sie
sich den Fakten oder der Geschichte zuwenden, einen religiösen
Beitrag zur Philosophie ein, sei es die Idee einer Schöpfung, der
Vorstellung einer unendlichen Subjektivität oder der Idee einer
Entwicklung und Geschichte. Es gibt also, ungeachtet der Wesen-
heiten, einen Austausch zwischen der Religion und der Vernunft,
was die Frage insgesamt neu stellt, denn letztlich muß man zu-
gestehen, wenn eine Glaubenssache zu denken geben kann (es
sei denn, der Glaube ist hierbei nur die Gelegenheit zu einer Be-
wußtwerdung, die ohne das Bewußtsein möglich ist), daß der
Glaube bestimmte Seiten des Seins enthüllen kann, die das Den-
ken, das diese Seiten nicht kennt, nicht ›abschließend‹ behandelt,
Überall und nirgends 205

und daß sich diese ›nicht gesehenen Dinge‹ des Glaubens und die
Evidenzen der Vernunft nicht wie zwei Bereiche abgrenzen lassen.
Wenn man sich im Gegenteil mit E. Bréhier geradewegs auf die
Geschichte bezieht, um zu zeigen, daß es keine Philosophie gege-
ben hat, die christlich gewesen wäre, so gelangt man nur dann zu
diesem Schluß, wenn man die hinderlichen Begriffe christlichen
Ursprungs als philosophiefremd zurückweist oder um jeden Preis
nach älteren, außerhalb des Christentums geprägten Begriffen
sucht, womit hinreichend bewiesen wäre, daß man sich hier auf
eine gemäß der Idee philosophischer Immanenz vorbereiteten
und gespaltenen Geschichte bezieht. Daher stellt man entweder
eine Tatsachenfrage, aber auf dem Gebiet der ›reinen‹ Geschichte
kann die christliche Philosophie nur in ganz nomineller Weise
bestätigt oder bestritten werden, und das vermeintliche Tatsa-
chenurteil wird nur dann kategorisch sein, wenn es eine begriffli-
che Vorstellung der Philosophie einschließt. Oder aber man stellt
die Frage offen im Wortlaut der Wesenheiten, und in diesem Fall
muß man alles noch einmal beginnen, wenn man von dort aus
zur Ordnung der Mischformen und der existierenden Philoso-
phien übergeht. In beiden Fällen verfehlt man das Problem, das
nur für ein historisch-systematisches Denken existiert, welches in
der Lage ist, unter den Wesenheiten zu graben, zwischen ihnen
und den Tatsachen hin und her zu gehen, die Wesenheiten auf-
grund der Tatsachen anzufechten und die ›Tatsachen‹ wiederum
aufgrund der Wesenheiten, und insbesondere seine eigene Im-
manenz in Frage zu stellen.

*
Für dieses ›offene‹ Denken ist die Frage in gewisser Hinsicht,
sobald sie gestellt wurde, gelöst. Da es seine ›Wesenheiten‹ als
solche nicht für das Maß aller Dinge hält, da es nicht so sehr an
Wesenheiten als vielmehr an Bedeutungsknoten glaubt, die in ei-
nem neuen Netz des Wissens und der Erfahrung gelöst und wie-
der anders geknüpft werden und die nur als Vergangenheit dieses
Denkens fortdauern werden, sieht man nicht, worauf sich jenes
freitragende Denken berufen könnte, um allen indirekten oder
206 Überall und nirgends

imaginativen Ausdrucksweisen den Titel einer Philosophie zu


verweigern und ihn den Lehren eines zeitlosen und immanenten
Wortes vorzubehalten, die ihrerseits über aller Geschichte stün-
den. Es gibt folglich ganz sicher eine christliche Philosophie, so
wie es eine romantische oder eine französische Philosophie gibt,
und zwar in einem wesentlich umfassenderen Sinne, da sie über
jene beiden Philosophien hinaus alles enthält, was seit zwanzig
Jahrhunderten im Abendland gedacht wurde. Wie könnte man
dem Christentum solche Ideen wie die der Geschichte, der Sub-
jektivität, der Inkarnation oder der positiven Endlichkeit weg-
nehmen, um sie ohne einen bestimmten Geburtsort einer ›uni-
versalen‹ Vernunft zuzuschreiben? …
Was dadurch nicht entschieden ist – und das wahre Problem
der christlichen Philosophie ausmacht –, ist die Beziehung dieses
institutionalisierten Christentums, als einem geistigen Horizont
oder einer Matrix der Kultur, zum tatsächlich gelebten und in
einem positiven Glauben praktizierten Christentum. Einen Sinn
und einen unermeßlichen historischen Verdienst des Christen-
tums anzuerkennen ist jedoch etwas anderes als es persönlich
anzunehmen. Ja zu sagen zum Christentum als einer kulturel-
len oder zivilisatorischen Tatsache bedeutet, ja zu sagen zum
Hl. Thomas, aber auch zum Hl. Augustinus und zu Ockham,
zu Nikolaus von Kues, zu Pascal und zu Malebranche, und diese
Zustimmung kostet uns nur einen Bruchteil der Mühe, die jeder
von ihnen auf sich nehmen mußte, um selbst keine Schwäche
zu zeigen. Die Kämpfe, die sie, mitunter einsam und bis in den
Tod hinein, ausgefochten haben, verwandelt das philosophische
und historische Bewußtsein in das wohlmeinende Universum
der Kultur. Aber gerade weil er sie alle versteht, ist der Philo-
soph oder der Historiker keiner von ihnen. Im übrigen widmet
der Historiker einer Tonscherbe dieselbe Aufmerksamkeit und
dieselbe grenzenlose Beachtung wie etwa unbestimmten Träu-
mereien oder absurden Ritualen. Für ihn geht es nur darum, zu
wissen woraus die Welt besteht und wozu der Mensch fähig ist,
aber nicht darum, sich für diese Behauptung verbrennen oder für
jene Wahrheit ermorden zu lassen. Das Christentum, das unsere
Überall und nirgends 207

Philosophie durchzieht, ist für den Philosophen das auffälligste


Sinnbild der Überwindung seiner selbst durch sich selbst. Für ihn
selbst ist das Christentum kein Symbol, sondern die Wahrheit. In
gewisser Hinsicht ist die Spannung zwischen dem Philosophen,
der alles im Sinne einer menschlichen Fragestellung versteht, und
der strengen und tiefgründigen Praxis der Religion, die er ›ver-
steht‹, größer (weil der Abstand geringer ist) als zwischen einem
Rationalismus, der die Welt zu erklären vorgab, und einem Glau-
ben, der in seinen Augen nur Nicht-Sinn war.
Es gibt also erneut einen Konflikt zwischen Philosophie und
Christentum, aber es ist ein Konflikt, den wir innerhalb der
christlichen Welt und in jedem Christen als Konflikt des ›ver-
standenen‹ und des gelebten Christentums, des Universalen und
der Option wiederfinden. Er findet sich ebenso innerhalb der
Philosophie, wenn sie sich am Manichäismus des Engagements
stößt. Die komplexe Beziehung von Philosophie und Christen-
tum würde man nur dann entdecken, wenn man ein Christen-
tum und eine Philosophie miteinander vergliche, die in ihrem
Inneren beide von demselben Widerspruch durchzogen sind.
Der ›thomistische Frieden‹ und der ›cartesianische Frieden‹,
die unschuldige Koexistenz von Philosophie und Christentum,
die als zwei positive Ordnungen oder zwei Wahrheiten aufgefaßt
werden, verbergen vor uns immer noch den geheimen Konflikt
jedes einzelnen mit sich selbst und mit dem anderen und die
stürmischen Beziehungen, die daraus resultieren.
Wenn die Philosophie eine Tätigkeit ist, die sich selbst genügt,
die mit der Sorge um den Begriff beginnt und endet, und wenn
der Glaube eine Zustimmung zu den nicht gesehenen und durch
die geoffenbarten Texte dem Glauben anheimgegebenen Dinge
ist, dann ist der Unterschied zwischen ihnen zu tiefgreifend, als
daß es überhaupt zu einem Konflikt kommen könnte. Es wird
erst einen Konflikt geben, wenn die rationale Entsprechung sich
als erschöpfend erweisen wird. Wenn aber nur die Philosophie,
jenseits all des Möglichen, über das sie urteilt, eine Ordnung der
aktuellen Welt anerkennt, deren Zuschnitt auf die Erfahrung zu-
rückgeht, und wenn man das durch Offenbarung Gegebene als
208 Überall und nirgends

eine übernatürliche Erfahrung auffaßt, dann gibt es keine Riva-


lität zwischen dem Glauben und der Vernunft. Das Geheimnis
ihrer Übereinkunft liegt im unendlichen Denken, das in seinem
Ersinnen des Möglichen und in seiner Erschaffung der aktuellen
Welt jeweils dasselbe ist. Wir haben nicht zu allem von ihm Ge-
dachten Zugang, und seine Dekrete sind uns nur aufgrund ihrer
Auswirkungen bekannt. Wir sind also außerstande, die Einheit
der Vernunft und des Glaubens zu verstehen. Sicher ist allerdings,
daß sie bei Gott entsteht. Die Vernunft und der Glaube befinden
sich auf diese Weise in einem indifferenten Gleichgewicht. Man
war mitunter erstaunt zu sehen, wie Descartes, nachdem er so
penibel das natürliche Licht der Erkenntnis bestimmt hatte, ohne
Schwierigkeit ein anderes Licht der Erkenntnis akzeptierte, als ob
sich nicht ab dem Augenblick, in dem es ihrer zwei gibt, zumin-
dest eines im Verhältnis zum anderen verdunkeln würde. Diese
Schwierigkeit ist jedoch nicht größer – und wurde nicht anders
gelöst – als die Unterscheidung einzugestehen, die der Verstand
zwischen der Seele und dem Leib trifft, und andererseits von
ihrer substantiellen Einheit auszugehen: Es gibt den Verstand
und seine souveränen Unterscheidungen, und es gibt den exi-
stierenden Menschen, den von der Vorstellungskraft gestützten
und einem Leib verbundenen Verstand, den wir durch den Ge-
brauch des Lebens kennen, weil wir jener Mensch sind, und die
beiden Ordnungen sind eine einzige, da derselbe Gott der Garant
der Wesenheiten und die Grundlage unseres Daseins ist. Unsere
Dualität wird in ihm gespiegelt und überwunden, ebenso wie die
Dualität seines Verstandes und seines Willens. Wir haben nicht
die Aufgabe, die Umstände dieses Vorgangs zu verstehen. Die ab-
solute Transparenz Gottes gibt uns die Sicherheit der Tatsache,
und wir können, wir müssen für unseren Teil den Unterschied
der beiden Ordnungen respektieren und auf beiden Ebenen in
Frieden leben.
Dennoch ist dieses Konkordat nicht stabil. Wenn der Mensch
wirklich beiden Ordnungen zugehörig ist, dann entsteht ihre
Verbindung auch in ihm, und er muß etwas darüber wissen.
Seine philosophischen Beziehungen zu Gott und seine religiösen
Überall und nirgends 209

Beziehungen müssen vom selben Typ sein. Die Philosophie und


die Religion symbolisieren notwendigerweise. Hierin liegt, unse-
res Erachtens, die Bedeutung der Philosophie von Malebranche.
Der Mensch kann nicht einerseits ›geistiger Automat‹ sein, ande-
rerseits das religiöse Subjekt, dem eine übernatürliche Einsicht
zuteil wird. In seinem Verstand findet man die Strukturen und
Diskontinuitäten des religiösen Lebens wieder. Der Verstand ist
in der natürlichen Ordnung eine Art Kontemplation, er ist ein
geistiges Erschauen Gottes. Selbst in der Ordnung des Wissens
sind wir für uns selbst weder unser eigenes Licht noch die Quelle
unserer Idee. Wir sind unsere Seele, aber wir haben keine Vorstel-
lung von ihr; wir stehen mit ihr nur durch das Gefühl in einem
dunklen Kontakt. Alles, was es dabei an klarer Einsicht und inten-
tionalem Sein geben mag, beziehen wir aus unserer Teilhabe an
Gott; wir besitzen nicht das begriffliche Vorstellungsvermögen,
unsere ganze Initiative besteht im Hinblick auf die Erkenntnis
darin – und genau das ist es, was man als ›Aufmerksamkeit‹ be-
zeichnet –, ein ›natürliches Gebet‹ an das göttliche Wort zu rich-
ten, das sich einzig und allein dazu verpflichtet hat, es stets zu er-
hören. Was uns gehört, ist jene Anrufung und der passive Beweis
der erkennenden Ereignisse, die daraus hervorgehen – in den
Worten von Malebranche die ›Wahrnehmung‹ und das ›Gefühl‹.
Was ebenfalls uns gehört, ist jener aktuelle und lebhaftere Druck
der intelligiblen Ausdehnung auf unsere Seele, der bewirkt, daß
wir die Welt zu sehen glauben: Tatsächlich sehen wir die Welt
nicht an sich, jene Erscheinung ist unsere Unkenntnis über uns
selbst, über unsere Seele, über die Entstehung ihrer Modalitäten
und all dessen, was es in der Erfahrung, die wir von der Welt
haben, an Wahrem gibt, es ist die ursprüngliche Gewißheit einer
aktuellen und über das, was wir sehen, hinaus existierenden Welt,
in deren Abhängigkeit Gott uns sehen läßt, was wir sehen. Die
kleinste sinnliche Wahrnehmung ist also bereits eine ›natürliche
Offenbarung‹. Die natürliche Erkenntnis ist zwischen der Idee
und der Wahrnehmung geteilt, wie das religiöse Leben zwischen
dem Licht der Erkenntnis des mystischen Lebens und dem Zwie-
licht der geoffenbarten Texte. Was die Feststellung erlaubt, die
210 Überall und nirgends

Erkenntnis sei natürlich, ist allein der Umstand, daß sie Gesetz-
mäßigkeiten gehorcht und daß Gott, mit anderen Worten, nur
durch allgemeine Willensbekundungen in sie eingreift. Immer
noch handelt es sich nicht um ein absolutes Kriterium. Wenn die
natürliche Erkenntnis aus religiösen Bezügen gewoben ist, dann
imitiert das Übernatürliche im Gegenzug die Natur. Man kann
eine Art Dynamik der göttlichen Gnade skizzieren, Gesetze oder
eine Ordnung voraussehen, denen zufolge das inkarnierte Wort
meist eine Mittlerrolle übernimmt. An die Stelle der Längsspal-
tung der Philosophie in den Bereich des reinen Verstandes und
der geschaffenen und existierenden Welt, und in den Bereich der
natürlichen oder übernatürlichen Erfahrung, setzt Malebranche
eine Querspaltung, und er weist der Vernunft und der Religion
dieselben typischen Strukturen der rationalen Einsicht und des
Gefühls, des Idealen und des Realen zu. Die Begriffe der natür-
lichen Philosophie greifen auf die Theologie über, die religiösen
Begriffe bemächtigen sich der natürlichen Philosophie. Man be-
schränkt sich nicht mehr darauf, an das für uns unbegreifliche
Unendliche zu erinnern, in dem sich für uns unterschiedliche
Ordnungen zusammenschließen würden. Die Artikulationen der
Natur haben nur durch die Tat Gottes Bestand; beinahe alle In-
terventionen der göttlichen Gnade sind Regeln unterworfen. Jede
Idee, die uns in den Sinn kommt, setzt Gott als Ursache voraus,
und Gott als Licht der Erkenntnis ist in beinahe all seinen Wil-
lensäußerungen manifest. Nie war man näher am Augustinischen
Programm: ›Die wahre Religion ist die wahre Philosophie‹ und
›die wahre Philosophie ist ihrerseits die wahre Religion.‹
Auf diese Weise versucht Malebranche, die Beziehung von Re-
ligion und Philosophie zu denken, anstatt sie wie eine Tatsache
hinzunehmen, über die es nichts zu sagen gibt. Kann jedoch die
Identität die Formel dieser Beziehung sein? Wenn man sie als
widersprüchlich begreift, können Vernunft und Glaube mühe-
los nebeneinander bestehen. Sobald man sie jedoch gleichsetzt,
treten sie ebenso und umgekehrt zueinander in Rivalität. Zwi-
schen der natürlichen Offenbarung und dem natürlichen Gebet,
die allen gehören, und der Offenbarung und dem übernatürli-
Überall und nirgends 211

chen Gebet, die zunächst nur einigen wenigen zuteil wurden,


zwischen dem ewigen Wort und dem inkarnierten Wort, zwi-
schen dem Gott, den wir sehen, sobald wir die Augen öffnen,
und dem Gott der Sakramente und der Kirche, den es durch das
übernatürliche Leben zu gewinnen und zu verdienen gilt, zwi-
schen dem göttlichen Architekten, den man in seinen Werken
erahnen kann, und dem Gott der Liebe, den man nur im blinden
Wahn des Opfers erreicht, unterstreicht die Gemeinsamkeit der
Kategorien nur ihre Unvereinbarkeit. Es ist diese Unvereinbarkeit
selbst, die man thematisieren müßte, wenn man eine christliche
Philosophie aufstellen wollte, in ihr müßte man die Artikulation
des Glaubens und der Vernunft suchen. Wodurch man sich von
Malebranche entfernen, sich aber auch von ihm inspirieren las-
sen würde: Denn wenn er einen Teil der rationalen Einsicht auf
die Religion überträgt und sie im Extremfall in einem einzigen
Universum des Denkens miteinander gleichsetzt, wenn er die
Positivität des Verstandes auf die Religion ausdehnt, so kündigt
er auch das Eindringen der religiösen Umkehrungen in unser
rationales Sein an; er führt damit das paradoxe Denken eines
Wahns ein, der Weisheit ist, eines Skandals, der Frieden ist, eines
Geschenkes, das Verdienst ist.
Welcher Art wäre also die Beziehung zwischen Philosophie
und Religion? Maurice Blondel schrieb: »Die Philosophie gräbt
in sich und vor sich einen Hohlraum, der nicht nur für ihre spä-
teren Entdeckungen und auf ihrem eigenen Gebiet vorbereitet
wurde, sondern vielmehr für Einsichten und Beiträge, die von ihr
verschieden sind und deren tatsächlicher Ursprung sie nicht wer-
13 den kann.« Die Philosophie läßt verschiedene Mängel erkennen,
ein dezentriertes Sein, die Erwartung einer Überwindung; sie
bereitet, ohne sie zu benötigen und ohne sie vorauszusetzen, po-
sitive Optionen vor. Sie ist das Negativ eines bestimmten Positivs,
nicht irgendeine Leerstelle, sondern das Fehlen genau dessen, was
der Glaube beitragen wird, und zwar kein verborgener Glaube,
sondern die allgemein feststellbare Prämisse eines Glaubens, der
frei bleibt. Vom einen zum anderen gelangt man weder durch
eine Verlängerung noch durch einen einfachen Zusatz, sondern
212 Überall und nirgends

durch eine Umkehrung, zu der die Philosophie anregt, ohne sie


auszuführen.
Ist das Problem gelöst? Oder entsteht es an der Schnittstelle
von negativer Philosophie und positivem Glauben nicht viel-
mehr neu? Wenn die Philosophie, wie Blondel es wollte, universal
und autonom ist, wie könnte sie dann einer absoluten Entschei-
dung die Verantwortung für die Schlußfolgerungen überlassen?
Was sie anhand einzelner Punkte skizziert, mittels begrifflicher
Festlegungen, im Frieden des Universalen, hat seinen vollen Sinn
nur im Irreparablen und in der Parteilichkeit eines Lebens. Aber
wie sollte sie nicht Zeugin dieses Übergangs selbst sein wollen?
Wie könnte sie im Negativen verbleiben und das Positive einer
absolut anderen Instanz überlassen? Sie selbst muß in einer ge-
wissen Fülle das erkennen, was sie zuvor als Leerform skizziert
hatte, und in der Praxis zumindest einen Teil dessen, was von
der Theorie gesehen wurde. Die Beziehung der Philosophie zum
Christentum kann nicht die einfache Beziehung der Negation
zur Position, der Infragestellung zur Bestätigung sein: Die phi-
losophische Fragestellung bringt ihre eigenen vitalen Optionen
mit sich, und in gewisser Hinsicht behauptet sie sich in der re-
ligiösen Affirmation. Das Negative hat sein Positives, das Posi-
tive sein Negatives, und gerade weil jedes sein Gegenteil in sich
trägt, sind sie in der Lage, ineinander überzugehen und in der
Geschichte ewig die Rolle verfeindeter Brüder zu spielen. Gilt
dies für immer? Wird es zwischen dem Philosophen und dem
Christen (ob es sich nun um zwei verschiedene Menschen oder
um die zwei Menschen handelt, die jeder Christ in sich spürt) je
einen wirklichen Austausch geben? Dies wäre in unserem Sinne
nur dann möglich, wenn der Christ, mit Rücksicht auf die letzten
Quellen seiner Inspiration, über die er nur selbst urteilt, ohne
Einschränkung die Aufgabe der Vermittlung akzeptierte, auf die
die Philosophie nicht verzichten kann, ohne sich selbst zu unter-
drücken. Es versteht sich von selbst, daß diese Zeilen nur ihren
Unterzeichner verpflichten, aber nicht jene christlichen Beiträger,
die ihn gern unterstützt haben. Es wäre schlecht, ihn als jemand
hinzustellen, der auch nur den geringsten Zweifel zwischen ihr
Überall und nirgends 213

Gefühl und das seinige bringt. Deshalb soll dies auch nicht als
Einleitung in ihr Denken gelten. Es sind vielmehr Reflexionen
und Fragen, die er, um sie ihren Ausführungen zu unterwerfen,
am Rand ihrer Texte notiert.
Diese Texte selbst, und hierin werden wir gewiß übereinstim-
men, vermitteln uns ein lebhaftes Gespür für die Verschieden-
heit der christlichen Forschungen. Sie erinnern daran, daß das
Christentum mehr als nur eine Philosophie genährt hat, welches
Privileg auch immer eine von ihnen beansprucht haben mag,
daß es nicht prinzipiell nur einen einzigen und erschöpfenden
philosophischen Ausdruck umfaßt und daß die christliche Phi-
losophie in diesem Sinne, zu welchen Errungenschaften sie auch
gelangen mag, nie als erledigt gelten kann.

IV. Der große Rationalismus

Als ›kleinen Rationalismus‹ müßte man jenen bezeichnen, den


man im Jahr 1900 lehrte oder diskutierte, und der das Sein durch
die Wissenschaft erklärte. Er ging von einer unermeßlichen, be-
reits in den Dingen geleisteten Wissenschaft aus, die von der
tatsächlichen Wissenschaft am Tag ihrer Vollendung eingeholt
würde und die für uns keine Frage mehr offen ließe, da auf jede
sinnvolle Frage eine Antwort gegeben werde. Es fällt uns eini-
germaßen schwer, diesen gleichwohl so nahen Zustand des Den-
kens wieder aufleben zu lassen. Es ist jedoch eine Tatsache, daß
man von einem Augenblick geträumt hat, in dem der Geist, da er
›die Totalität des Wirklichen‹ in einem Geflecht von Beziehun-
gen eingefangen hat und sich gewissermaßen in einem Zustand
der Übersättigung befindet, von nun an in einem Ruhezustand
verbliebe oder aus einem definitiven Wissen nur noch die Kon-
sequenzen ziehen und dem letzten Aufbegehren des Unvorher-
sehbaren durch irgendeine Anwendung derselben Prinzipien
begegnen müßte.
Dieser ›Rationalismus‹ scheint uns voller Mythen zu sein: dem
Mythos der Naturgesetze, die ungefähr auf der Mitte des Weges
214 Überall und nirgends

zwischen den Normen und den Tatsachen angesiedelt werden


und denen zufolge, so denkt man, diese dennoch blinde Welt
konstruiert wurde; dem Mythos der wissenschaftlichen Erklärung,
als könnte die Erkenntnis der Beziehungen, selbst wenn man sie
auf alles Beobachtbare ausdehnt, eines Tages das Dasein der Welt
selbst in eine identische und selbstverständliche Behauptung ver-
wandeln. Diese beiden müßte man um alle anhängigen Mythen
ergänzen, die an den Grenzen der Wissenschaft wuchern, bei-
spielsweise rund um die Begriffe von Leben und Tod. Es war die
Zeit, in der man sich voller Begeisterung oder voller Angst fragte,
ob der Mensch im Labor Leben erschaffen könnte, und in der
die rationalistischen Redner freiwillig vom ›Nichts‹ sprachen, je-
nem anderen und ruhigeren Milieu des Lebens, von dem sie sich
einbildeten, es nach diesem Leben so ›einzuholen‹, wie man sich
einer übersinnlichen Bestimmung anschließt.
Man dachte aber nicht, einer Mythologie nachzugeben, son-
dern glaubte, im Namen der Vernunft zu sprechen. Die Vernunft
verschmolz mit der Erkenntnis der Bedingungen oder der Ur-
sachen: Überall, wo man eine bestimmte Konditionierung auf-
deckte, dachte man, jede Frage zum Verstummen gebracht, das
Problem des Wesens mit dem Problem des Ursprungs gelöst und
die Tatsache wieder zum Gehorsam gegenüber der Ursache ver-
pflichtet zu haben. Zwischen Wissenschaft und Metaphysik gab
es nur die Frage, ob die Welt ein einziger großer Prozeß sei, der
einem einzigen ›Erzeugungsaxiom‹ unterworfen ist, dessen my-
stische Formel man lediglich, am Ende aller Zeiten, wiederholen
müßte, oder die Frage, ob es beispielsweise an dem Punkt, an
dem das Leben auftaucht, Lücken oder Diskontinuitäten gibt, in
denen man das antagonistische Vermögen des Geistes unterbrin-
gen könnte. Jede Errungenschaft des Determinismus war eine
Niederlage des metaphysischen Sinns, dessen Sieg ein ›Scheitern
der Wissenschaft‹ erforderte.
Wenn jener Rationalismus für uns heute schwierig zu den-
ken ist, so liegt es daran, daß er, wenngleich entstellt und un-
kenntlich, doch ein Erbe ist und daß wir unsererseits von der
Tradition in Anspruch genommen sind, die ihn nach und nach
Überall und nirgends 215

hervorgebracht hat. Er war das Fossil eines großen Rationalis-


mus, nämlich dem des XVII. Jahrhunderts, der reich war an einer
lebendigen Ontologie, der aber bereits im XVIII. Jahrhundert10
dahingeschwunden war und im Rationalismus von 1900 nur
noch in einigen äußeren Formen erkennbar blieb.
Das XVII. Jahrhundert ist jener privilegierte Augenblick, in
dem die Erkenntnis der Natur und die Metaphysik glaubten, ein
gemeinsames Fundament gefunden zu haben. Es hat die Natur-
wissenschaft geschaffen und dennoch aus dem Gegenstand der
Wissenschaft nicht den Kanon der Ontologie gebildet. Es räumt
ein, daß eine Philosophie über die Wissenschaft hinausragt, ohne
für sie eine Rivalin zu sein. Der Gegenstand der Wissenschaft
ist ein Aspekt oder ein Grad des Seins; er hat an seinem Platz
seine Berechtigung, und vielleicht lernen wir sogar durch ihn, die
Kraft der Vernunft zu erkennen. Diese Kraft aber erschöpft sich
nicht in ihm. Auf verschiedene Arten erkennen Descartes, Spi-
noza, Leibniz, Malebranche unter der Kette der kausalen Bezie-
hungen einen anderen Typ des Seins, der dieser Kette zugrunde
liegt, ohne sie zu zerreißen. Das Sein wird nicht gänzlich auf die
Ebene des äußeren Seins beschränkt oder abgeflacht. Es gibt auch
das Sein des Subjekts oder der Seele, das Sein seiner Ideen, die
Beziehungen der Ideen untereinander und den internen Wahr-
heitsbezug, und jenes Universum ist ebenso groß wie das andere,
oder schließt es vielmehr ein, denn so strikt die Verknüpfung der
äußeren Tatsachen auch sein mag, ist es doch nicht das eine Uni-
versum, das letzte Rechenschaft über das andere ablegt; sie ha-
ben gemeinsam Anteil an einem ›Inneren‹, dem ihre Verbindung
Ausdruck verleiht. Alle Probleme, die eine wissenschaftsgläubige

10 Das XVIII. Jahrhundert ist das herausragende Beispiel einer Zeit, die

sich in ihrer Philosophie nicht gut zum Ausdruck bringt. Sein Verdienst
liegt in anderem: in seinem Eifer und in seiner Leidenschaft, zu leben, zu
wissen und zu urteilen, in seinem ›Geist‹. Wie Hegel so gut gezeigt hat,
gibt es beispielsweise einen sekundären Sinn seines ›Materialismus‹, der
aus ihm eine Epoche des menschlichen Geistes formt, obwohl er wörtlich
genommen eine dürftige Philosophie darstellt.
216 Überall und nirgends

Ontologie unterdrücken wird, indem sie sich kritiklos im äuße-


ren Sein als universalem Milieu einrichtet, hält die Philosophie
des XVII. Jahrhunderts ganz im Gegenteil fortwährend wach.
Wie soll man begreifen, daß der Geist auf den Leib einwirkt und
der Leib auf den Geist, und sogar der Leib auf den Leib oder
der Geist auf den anderen Geist oder auf sich selbst, da letztlich,
so rigoros die Verknüpfung der einzelnen Dinge in uns und au-
ßerhalb von uns sein mag, keines dieser Dinge je eine in jeder
Hinsicht ausreichende Ursache für das sein kann, was aus ihm
hervorgeht? Woher kommt der Zusammenhalt des Ganzen? Je-
der der Cartesianer entwirft ihn auf ganz andere Weise. Bei allen
jedoch bieten sich die verschiedenen Seinsformen und die äu-
ßeren Beziehungen für eine Überprüfung ihrer grundlegenden
Voraussetzungen an. Die Philosophie wird von ihnen weder er-
stickt noch genötigt, ihre Dauerhaftigkeit zu bestreiten, um sich
Platz zu verschaffen.
Diese außergewöhnliche Übereinstimmung zwischen Äuße-
rem und Innerem ist nur durch die Vermittlung eines positiven
Unendlichen möglich, oder eines unendlich Unendlichen (da jede
Beschränkung auf eine bestimmte Art von Unendlichkeit ein
Keim der Negation wäre). In ihm verbinden oder verschweißen
sich miteinander die tatsächliche Existenz der Dinge partes extra
partes und die von uns gedachte Ausdehnung, die im Gegenteil
kontinuierlich und unendlich ist. Wenn es, im Zentrum und ge-
wissermaßen im Kern des Seins, ein unendlich Unendliches gibt,
dann setzt jedes einzelne Sein es direkt oder indirekt voraus und
ist umgekehrt wirklich oder im höchsten Grade darin enthal-
ten. Alle Beziehungen, die wir zum Sein haben können, müssen
gleichzeitig darin begründet sein. Zunächst unsere Idee von der
Wahrheit, die uns gerade zum Unendlichen hingeführt hat und
folglich von ihm nicht in Frage gestellt werden kann. Dann alle
lebendigen und verworrenen Begriffe, welche die Sinne uns von
den existierenden Dingen geben. So verschieden diese beiden
Arten der Erkenntnis auch sein mögen, sie müssen doch einen
einzigen Ursprung haben, und selbst die sinnlich wahrnehmbare,
diskontinuierliche, partielle und versehrte Welt muß letztlich,
Überall und nirgends 217

ausgehend von unserer leiblichen Organisation, als ein beson-


derer Fall der inneren Beziehungen, aus denen der intelligible
Raum besteht, verständlich sein.
Die Idee eines positiven Unendlichen bildet also das Geheimnis
des großen Rationalismus, und dieser wird nur so lange Bestand
haben, wie sie in Kraft bleibt. Descartes hatte in einem flüchtigen
Aufscheinen die Möglichkeit eines negativen Denkens voraus-
gesehen. Er hatte den Geist als ein Sein beschrieben, das weder
eine subtile Materie noch ein Hauch noch irgendein existierendes
Ding ist und das in Ermangelung jeder positiven Gewißheit es
selbst bleibt. Er hatte jenes Vermögen, etwas zu tun oder nicht
zu tun, das, wie er sagte, keine Abstufung in sich trägt und das
folglich im Menschen wie in Gott unendlich und eine unendliche
Negation ist, genau betrachtet, da die Position in einer Freiheit,
die darin liegt, etwas ebensogut nicht zu tun wie es zu tun, im-
mer nur eine negierte Negation sein kann. Dadurch ist Descartes
moderner als die Cartesianer, und er nimmt die Philosophien
der Subjektivität und des Negativen vorweg. Aber bei ihm ist dies
nur ein Anfang, und er überwindet die Negativität auf unum-
kehrbare Weise, wenn er schließlich zum Ausdruck bringt, die
Idee des Unendlichen ginge bei ihm jener des Endlichen voraus,
und jedes negative Denken sei ein Schatten im Lichte dieser Er-
kenntnis. Welcher Art auch im übrigen ihre Streitigkeiten gewe-
sen sein mögen, in diesem Punkt sind sich die Cartesianer einig.
Malebranche wird hundertmal sagen, das Nichts ›habe keine Ei-
genschaften‹ oder ›sei nicht sichtbar‹, und es gebe folglich nichts
über dieses Nichts zu sagen. Leibniz wird sich fragen, warum es
14 ›überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts‹ gebe, er wird das
Nichts einen Augenblick lang dem Sein gegenüberstellen, aber
dieser Rückzug auf ein Diesseits des Seins, dieses Erinnern an
ein mögliches Nichts ist für ihn gleichsam ein Beweis durch das
Absurde; es ist nur der Grund, das Minimum an notwendigem
Schatten, um die souveräne Hervorbringung des Seins durch sich
selbst zutage treten zu lassen. Und schließlich kann Spinozas Be-
stimmung, die ›Negation‹ ist‚ die später im Sinne einer determi-
nierenden Kraft des Negativen verstanden wurde, bei ihm nur
218 Überall und nirgends

eine Art und Weise sein, die Immanenz der determinierten Dinge
in der sich selbst gleichen und positiven Substanz zu betonen.
Nie wird man in der Folge diese Übereinstimmung von Phi-
losophie und Wissenschaft wiederfinden, diese Leichtigkeit, die
Wissenschaft zu überholen, ohne sie zu zerstören, die Metaphysik
zu begrenzen, ohne sie auszuschließen. Selbst jene unter unseren
Zeitgenossen, die sich Cartesianer nennen und die es sind, wei-
sen dem Negativen eine ganz andere philosophische Funktion
zu, und aus diesem Grunde könnten sie das Gleichgewicht des
XVII. Jahrhunderts nicht wiederfinden. Descartes sagte, Gott
werde von uns vorgestellt, aber nicht verstanden, und dieses
nicht bringe einen Mangel in uns und einen Makel zum Aus-
druck. Der moderne Cartesianer11 übersetzt: Das Unendliche ist 15
ebenso Abwesenheit wie Anwesenheit, was bedeutet, das Negative
und den Menschen als Zeugen in die Definition Gottes einzube-
ziehen. Léon Brunschvicg gestand Spinoza alles zu, nur nicht die
auf die Ethik zurückgehende Ordnung: Das erste Buch, sagte er, 16
ist nicht wesentlicher als das fünfte; die Ethik muß kreisförmig
gelesen werden, und Gott setzt den Menschen ebenso voraus, wie
der Mensch Gott voraussetzt. Vielleicht, oder vielmehr sicher, be-
deutet dies, ›seine eigene Wahrheit‹ aus dem Cartesianismus zu
ziehen. Aber eine Wahrheit, die er selbst nie besessen hat. Es gibt
eine unschuldige Art und Weise, ausgehend vom Unendlichen zu
denken, die den großen Rationalismus geschaffen hat und die
von uns durch nichts wiedergefunden werden kann.
Man möge diesen Worten keine Nostalgie unterstellen. Es sei
denn, die träge Sehnsucht nach einer Zeit, in der das geistige Uni-
versum nicht zerrissen war, und in der ein und derselbe Mensch
sich ohne Zugeständnisse und Kunstgriffe der Philosophie, der
Wissenschaft (und, wenn er es wünschte, der Theologie) widmen
konnte. Dieser Frieden aber, diese Ungeteiltheit konnten nur so
lange dauern, wie man am Beginn der drei Wege stehen blieb. Was
uns vom XVII. Jahrhundert trennt, ist nicht der Verfall, sondern
der Fortschritt des Bewußtseins und der Erfahrung. Die nachfol-

11 F. Alquié: La découverte métaphysique de l’homme chez Descartes.


Überall und nirgends 219

genden Jahrhunderte haben gelehrt, daß die Übereinstimmung


unserer evidenten Gedanken mit der bestehenden Welt nicht so
unmittelbar ist, daß sie nie ohne einen Appell einhergeht, daß
unsere Evidenzen sich niemals Hoffnung machen können, in der
Folge die ganze Entwicklung des Wissens zu beherrschen, daß
die Konsequenzen zu den ›Prinzipien‹ zurückkehren, daß wir
uns darauf vorbereiten müssen, bis hin zu den Begriffen, die wir
als ›grundlegend‹ erachten konnten, alles umzuarbeiten, daß die
Wahrheit nicht durch eine Zusammensetzung erlangt werden
kann, bei der sie vom Einfachen zum Komplexen und von der
Wesenheit zu den Eigenschaften übergehen würde, daß wir uns
im Zentrum der physischen und sogar mathematischen Seinsfor-
men weder einrichten können noch je werden einrichten können,
daß man sie vielmehr tastend, von außen her inspizieren und sie
auf indirektem Wege angehen, sie wie Personen befragen muß.
Die Überzeugung selbst, in der inneren Evidenz die Prinzipien
zu erfassen, nach denen ein unendlicher Verstand sich die Welt
vorgestellt hat oder vorstellt, die das Unternehmen der Cartesia-
ner unterstützt hatte und lange Zeit durch die Fortschritte der
cartesianischen Wissenschaft gerechtfertigt schien, ist an einen
Punkt gelangt, an dem sie nicht mehr länger ein Anreiz des Wis-
sens ist, sondern zur Drohung einer neuen Scholastik wird. Man
mußte also wohl auf die Prinzipien zurückkommen, sie wieder
in den Rang von ›Idealisierungen‹ erheben, die so lange gerecht-
fertigt sind, wie sie die Forschung beleben, aber disqualifiziert,
wenn sie sie lähmen; man mußte lernen, unser Nachdenken über
diese Existenz zu ermessen, die, wie Kant sagen sollte, kein Prä-
dikat ist, mußte lernen, zu den Ursprüngen des Cartesianismus
zurückzukehren, um ihn zu überwinden, und die Lektion jenes
schöpferischen Aktes wiederfinden, der aus sich heraus eine lange
Periode fruchtbaren Denkens begründet hatte, der seine Tugend
jedoch im Pseudo-Cartesianismus der Epigonen erschöpft hatte
und von nun an selbst danach verlangte, neu begonnen zu wer-
den. Man hat die Historizität des Wissens erfahren müssen, jene
seltsame Bewegung, durch die das Denken seine alten Formeln
aufgibt und rettet, indem es sie als besondere und privilegierte
220 Überall und nirgends

Fälle einem verständigeren und allgemeineren Denken integriert,


das sich nicht per Beschluß als erschöpfend ausgeben kann. Die-
ser Anschein von Improvisation und von Provisorischem, dieses
ein wenig zögerliche Voranschreiten der modernen Forschungen,
sei es in der Wissenschaft oder der Philosophie, oder in der Lite-
ratur oder den Künsten, ist der Preis, den man zahlen muß, um
von unseren Beziehungen zum Sein ein reiferes Bewußtsein zu
erlangen.
Das XVII. Jahrhundert hat an die unmittelbare Übereinstim-
mung der Wissenschaft mit der Metaphysik, und andererseits mit
der Religion, geglaubt. Und damit ist es weit von uns entfernt.
Das metaphysische Denken sucht seinen Weg seit fünfzig Jahren
außerhalb der physisch-mathematischen Koordination der Welt,
und seine Rolle gegenüber der Wissenschaft scheint zu sein, uns
auf dem »nicht-relationalen Grund«12 wachzurütteln, den die
Wissenschaft denkt und nicht denkt. Dort, wo es am lebendig-
sten ist, geht das religiöse Denken in die gleiche Richtung, was
es in Gleichklang, aber auch in Rivalität zur ›atheistischen‹ Me-
taphysik bringt. Der heutige ›Atheismus‹ hat nicht die Absicht,
wie der Atheismus von 1900, die Welt ›ohne Gott‹ zu erklären:
Er behauptet vielmehr, die Welt sei unerklärbar, und der Ratio-
nalismus von 1900 ist in seinen Augen eine säkularisierte Theo-
logie. Wenn die Cartesianer zurückkehrten unter uns, so erlebten
sie die dreifache Überraschung, eine Philosophie und sogar eine
Theologie vorzufinden, deren bevorzugtes Thema die radikale
Kontingenz der Welt ist, und die sogar darin zu Rivalinnen ge-
worden sind. Unsere philosophische Situation ist der des großen
Rationalismus vollkommen entgegengesetzt.
Und dennoch bleibt er für uns groß, und er ist uns darin
nah, daß er als Vermittler jenen Philosophien verpflichtet ist,
die ihn zurückweisen, weil sie ihn im Namen derselben Forde-
rung zurückweisen, die ihm Leben verliehen hatte. Genau in
dem Augenblick, in dem er die Naturwissenschaft schuf, hat er
im selben Zug gezeigt, daß sie nicht der Maßstab des Seins war,

12 Jean Wahl.
Überall und nirgends 221

und er hat das Bewußtsein des ontologischen Problems aufs äu-


ßerste zugespitzt. In diesem Punkt ist er nicht überwunden. Wie
er, so suchen auch wir danach, die Initiativen der Wissenschaft
nicht zu beschränken oder zu diskreditieren, sondern danach,
die Wissenschaft als intentionales System im Gesamtfeld unserer
Beziehungen zum Sein zu placieren, und wenn uns der Übergang
zum unendlich Unendlichen keine Lösung zu sein scheint, so nur
deshalb, weil wir uns wieder radikaler mit der Aufgabe befassen,
derer sich jenes furchtlose Jahrhundert für immer entledigt zu
haben glaubte.

V. Die Entdeckung der Subjektivität

Was haben diese auf drei Jahrhunderte verteilten Philosophien


gemeinsam, das wir im Zeichen der Subjektivität versammeln
könnten? Es gibt das Ich, das Montaigne mehr als alles andere
liebte und das Pascal verabscheute, jenes Ich, über das man Tag
für Tag Buch führt, dessen Anmaßungen und Ausflüchte, dessen
Fortbleiben und Rückkehr man notiert, das man wie ein Unbe-
kanntes der Probe oder der Überprüfung unterwirft. Es gibt das
denkende Ich bei Descartes und abermals bei Pascal, jenes Ich,
das nur einen Augenblick lang wieder ganz zu sich selbst findet,
aber dann in seiner Erscheinung vollständig ist, es ist alles, was es
zu sein denkt und nichts anderes, offen für alles, niemals festge-
legt, ohne ein anderes Mysterium als diese Transparenz selbst. Es
gibt die subjektive Folge der englischen Philosophen, die Ideen,
die sich ihrer selbst in einem stummen Kontakt und wie durch
eine natürliche Eigenschaft bewußt sind. Es gibt Rousseaus Ich,
diesen Abgrund aus Schuld und Unschuld, das selbst das ›Kom-
plott‹ schmiedet, in dem es sich gefangen fühlt, und das dennoch
mit gutem Recht, angesichts dieses Schicksals, seine unantast-
bare Güte einfordert. Es gibt das transzendentale Subjekt der
Kantianer, das ebenso nah und näher an der Welt ist als an der
psychologischen Intimität, das über die eine wie die andere nach-
denkt, nachdem es sie konstruiert hat, und das dennoch zugleich
222 Überall und nirgends

als ›Bewohner‹ der Welt um sich weiß. Es gibt Birans Subjekt,


das nicht nur um sein Dasein in der Welt weiß, sondern darin
ist, und das nicht einmal Subjekt sein könnte, wenn es keinen
Leib hätte, den es bewegt. Es gibt schließlich die Subjektivität
im Sinne Kierkegaards, die nicht mehr ein Bereich des Seins ist,
sondern die einzig grundlegende Art und Weise, sich auf das Sein
zu beziehen, was bewirkt, das wir etwas sind anstatt alle Dinge
nur oberflächlich mit einem ›objektiven‹ Denken zu streifen, das
letztlich nichts wirklich denkt. Warum sollte man diese unverein-
baren ›Subjektivitäten‹ zu Momenten einer einzigen Entdeckung
erklären?
Und warum überhaupt eine ›Entdeckung‹? Muß man dem-
nach glauben, die Subjektivität sei vor den Philosophen da ge-
wesen, genau so, wie die Philosophen sie anschließend verstehen
sollten? Sobald die Reflexion hinzugekommen ist, sobald das ›Ich
denke‹ ausgesprochen wurde, ist der Seinsgedanke bereits so zu
unserem Sein geworden, daß, wenn wir auszudrücken suchen,
was ihm vorangegangen ist, all unser Bemühen nur dahin geht,
ein präreflexives Cogito vorzuschlagen. Was aber ist dieser Kon-
takt seiner selbst mit sich selbst, bevor er aufgedeckt wird? Ist
es etwas anderes als ein anderes Beispiel der retrospektiven Illu-
sion? Ist die Erkenntnis, die man davon erlangt, wirklich nur eine
Rückkehr zu dem, was wir bereits unser ganzes Leben hindurch
wußten? Aber ich wußte nicht mit eigenen Worten um mich. Was
ist also dieses Gefühl seiner selbst, das sich nicht besitzt und noch
nicht mit sich zusammenfällt? Man hat gesagt, der Subjektivität
das Bewußtsein wegnehmen hieße, ihr das Sein zu entziehen,
eine unbewußte Liebe sei nichts, da lieben bedeute, jemanden,
Handlungen, Gesten, ein Gesicht und einen Leib als liebenswert
zu sehen. Aber das Cogito vor der Reflexion, das Empfinden sei-
ner selbst ohne Erkenntnis stellen uns vor dieselbe Schwierigkeit.
Entweder also kennt das Bewußtsein seine Ursprünge nicht, oder
aber es kann sich, wenn es sie einholen will, nur in sie hineinpro-
jizieren. In beiden Fällen darf man nicht von einer ›Entdeckung‹
sprechen. Die Reflexion hat nicht einfach das Undurchdachte
enthüllt, sie hat es verändert, und sei es nur in seiner Wahrheit.
Überall und nirgends 223

Die Subjektivität hat nicht auf die Philosophen gewartet, so wie


das unbekannte Amerika in den Nebeln des Ozeans auf seine
Entdecker wartete. Sie haben sie vielmehr konstruiert, geschaf-
fen, und dies auf mehr als nur eine Weise. Und was sie geschaf-
fen haben, ist vielleicht wieder abzuschaffen. Heidegger denkt,
daß sie das Dasein an dem Tag verloren haben, da sie es auf das
Selbstbewußtsein gründeten.
Dennoch verzichten wir nicht darauf, von einer ›Entdeckung‹
der ›Subjektivität‹ zu sprechen. Diese Schwierigkeiten verpflich-
ten uns nur zu sagen, in welchem Sinne.
Die Verwandtschaft der Subjektivitätsphilosophien ist zu-
nächst offensichtlich, sobald man sie anderen Philosophien ge-
genüberstellt. Welcher Art ihre Unvereinbarkeiten auch sein mö-
gen, den Modernen ist die Idee gemeinsam, das Sein der Seele
oder das Subjekt-Sein sei kein geringeres Sein, es sei vielleicht
die absolute Form des Seins, und dies ist es, was unser Titel zum
Ausdruck bringen will. Viele Elemente einer Subjektphilosophie
waren bereits in der griechischen Philosophie präsent: Sie hat
vom ›Menschen als Maß aller Dinge‹ gesprochen; sie hat in der
Seele das einzigartige Vermögen erkannt, nicht zu wissen, was
sie weiß, verbunden mit dem Anspruch, zu wissen, was sie nicht
weiß, eine unbegreifliche Fähigkeit des Irrtums, die an ihre Wahr-
heitsfähigkeit geknüpft ist, eine Beziehung zum Nicht-Sein, die
in ihr ebenso wesentlich ist wie ihre Beziehung zum Sein. Sie hat
andererseits ein Denken entworfen (das Aristoteles am Gipfel der
Welt ansiedelt), das nur ein Denken an sich ist, und eine radikale
Freiheit, die jenseits aller Stufen unseres Vermögens steht. Sie hat
also die Subjektivität als Nacht und als Licht gekannt. Es bleibt
jedoch die Tatsache, daß das Sein des Subjekts oder der Seele für
die Griechen niemals die kanonische Form des Seins ist, daß für
sie das Negative niemals im Mittelpunkt der Philosophie steht
und auch nie die Aufgabe hat, das Positive erscheinen zu lassen,
sich seiner anzunehmen und es zu transformieren.
Im Gegenteil, von Montaigne bis Kant und darüber hinaus
ist von demselben Subjekt-Sein die Rede. Die Unvereinbarkeit
der Philosophien rührt daher, daß die Subjektivität weder Sa-
224 Überall und nirgends

che noch Substanz ist, sondern das Extrem des Besonderen wie
des Allgemeinen, daß sie Proteus gleicht. Die Philosophien fol-
gen ihren Metamorphosen so gut es eben geht, und unter ihren
Abweichungen verbirgt sich diese Dialektik. Es gibt, im Grunde
genommen, nur zwei Ideen der Subjektivität: jene der leeren,
ungebundenen, universellen Subjektivität, und jene der vollen,
in die Welt eingelassenen Subjektivität, und es handelt sich um
dieselbe Idee, wie man bei Sartre gut erkennen kann, die Idee
vom Nichts, das ›zur Welt kommt‹, das die Welt aufsaugt, das
der Welt bedarf, um sein zu können, was immer es will, selbst
ein Nichts, und das, im Opfer seiner selbst für das Sein, der Welt
gegenüber fremd bleibt.
Und gewiß ist dies keine Entdeckung in dem Sinne, in dem
man Amerika oder auch das Kalium entdeckt hat. Es ist dennoch
eine Entdeckung, und zwar in dem Sinne, daß das einmal in die
Philosophie eingeführte Denken des Subjektiven sich nicht mehr
ignorieren läßt. Selbst wenn die Philosophie es letztlich beseiti-
gen sollte, so wird sie doch nie mehr das sein, was sie vor diesem
Denken gewesen ist. Das Wahre, so konstruiert es auch sein mag
(und Amerika ist ebenso eine Konstruktion, die einfach durch die
Unmenge an Zeugenaussagen unvermeidlich geworden ist), wird
dann so fundiert wie eine Tatsache, und das Denken des Subjek-
tiven ist eine dieser festen Grundlagen, die von der Philosophie
verdaut werden müssen. Oder sagen wir, sobald sie einmal von
gewissen Gedanken ›infiziert‹ wurde, kann sie sie nicht mehr von
sich weisen; sie muß sich von ihnen befreien, indem sie Besseres
erfindet. Der Philosoph selbst, der heute Parmenides nachtrau-
ert und uns unsere Beziehungen zum Sein so zurückgeben will,
wie sie vor dem Selbstbewußtsein gewesen sind, verdankt seinen
Sinn und seine Vorliebe für die ursprüngliche Ontologie gerade
dem Selbstbewußtsein. Die Subjektivität ist einer jener Gedan-
ken, angesichts derer man nicht in ein Diesseits zurückkehren
kann, nicht einmal und vor allem nicht, wenn man über diese
Gedanken hinausgeht.
Überall und nirgends 225

VI. Existenz und Dialektik

Man kennt das Unbehagen des Schriftstellers, wenn er gebeten


wird, die Geschichte seiner Gedanken nachzuzeichnen. Das Un-
behagen ist kaum geringer, wenn wir ein Resümee unserer be-
rühmten Zeitgenossen geben sollen. Wir können sie weder von
dem ablösen, was wir bei ihrer Lektüre gelernt haben, noch von
den ›Kreisen‹, die ihre Bücher aufgenommen und sie berühmt
gemacht haben. Man kann nur ahnen, was nun, da diese allge-
meine Aufregung zur Ruhe gekommen ist, noch zählt und was
morgen für die neuen Leser zählen wird, wenn es denn welche
geben sollte, für jene Fremden, die kommen werden, die sich die-
selben Bücher aneignen und etwas anderes aus ihnen machen
werden. Es gibt vielleicht einen Satz, der eines Tages in der Stille
des XVI. Arrondissements geschrieben wurde, in der ehrfurchts-
vollen Stille von Aix, in der akademischen Stille Freiburgs oder
im lärmenden Tumult der Rue de Rennes, in Neapel oder in Le
Vésinet, einen Satz, den die ersten Leser als eine unnütze Station
›verbrannt‹ haben, bei dem die Leser von morgen jedoch ste-
henbleiben werden: ein neuer Bergson, ein neuer Blondel, ein
neuer Husserl, ein neuer Alain, ein neuer Croce, die wir uns nicht
vorstellen können. Denn dies hieße, unsere Evidenzen und un-
sere Fragen, die Fülle und die Leerstellen so zu verteilen, wie sie
bei unseren Neffen verteilt sein werden, es hieße, uns selbst zu
Anderen zu machen, doch keine ›Objektivität‹ der Welt würde so
weit reichen. Indem wir, rückblickend auf die vergangene Hälfte
des Jahrhunderts, die Themen der Existenz und der Dialektik als
wesentlich bezeichnen, sprechen wir vielleicht das aus, was eine
Generation in ihrer Philosophie gelesen hat, aber gewiß nicht
das, was die nächste Generation in ihr lesen wird, und noch viel
weniger das, was die Philosophen, um die es geht, bewußt gesagt
haben.
Dennoch ist es für uns eine Tatsache, daß sie alle, sogar jene,
die am stärksten daran festhielten, daran gearbeitet haben, den
Kritizismus zu überwinden und jenseits der Beziehungen das zu
enthüllen, was Brunschvicg das ›Unkoordinierbare‹ nannte und
226 Überall und nirgends

was wir als Existenz bezeichnen. Als Bergson die Wahrnehmung


zum grundlegenden Modus unserer Beziehung zum Sein werden
ließ, als Blondel sich vornahm, die Implikationen eines Denkens
darzulegen, das sich tatsächlich stets selbst vorausgeht und stets
über sich hinausgeht, als Alain die Freiheit beschrieb, die vom
Lauf der Welt getragen wird wie ein Schwimmer vom Wasser, das
ihn zurückhält und das zugleich seine Kraft ausmacht, als Croce
die Philosophie wieder in Berührung mit der Geschichte brachte,
als Husserl die leibhaftige Gegenwart der Sache als Typus der Evi-
denz begriff, stellten sie alle den Narzißmus des Selbstbewußt-
seins in Frage, suchten sie alle nach einem Übergang vom Mög-
lichen und Notwendigen zum Wirklichen, und alle bestimmten
unser tatsächliches Dasein und die Existenz der Welt zu einer
Dimension neuer Forschung. Denn die Existenzphilosophie ist
nicht nur, wie ein eiliger, sich auf Sartres Manifest13 berufender 17
Leser meinen könnte, die Philosophie, die im Menschen die Frei-
heit dem Wesen voranstellt. Dies ist nur eine auffällige Konse-
quenz, und unter der Idee der souveränen Wahl gab es bei Sartre
selbst, wie man in Das Sein und das Nichts sieht, die andere und
genau genommen entgegengesetzte Idee einer Freiheit, die nur
dann Freiheit ist, wenn sie der Welt einverleibt ist und einer über
eine tatsächliche Situation abgeschlossenen Arbeit gleicht. Und
ab diesem Moment ist das Existieren, selbst bei Sartre, nicht mehr
ausschließlich ein anthropologischer Ausdruck: Die Existenz ent-
hüllt angesichts der Freiheit eine ganz neue Gestalt der Welt, die
Welt als Versprechen und Bedrohung der Existenz, die Welt, die
ihr Fallen stellt, sie verführt oder ihr nachgibt, nicht mehr die
flache Welt der kantischen Gegenstände der Wissenschaft, son-
dern eine Landschaft aus Hindernissen und Wegen, letztlich die
Welt, die wir ›existieren‹, und nicht nur der Schauplatz unserer
Erkenntnis und unseres freien Willens.
Wir werden vielleicht mehr Mühe haben, den Leser zu über-
zeugen, daß das Jahrhundert auf seinem Gang in Richtung der
Existenz auch der Dialektik entgegenschritt. Blondel und Alain

13 L’existentialisme est un humanisme.


Überall und nirgends 227

haben darüber gesprochen, und natürlich Croce. Aber Bergson


oder Husserl? Es ist hinlänglich bekannt, daß sie die Intuition
gesucht haben und daß für sie die Dialektik die Philosophie
der Räsoneure war, die verblendete und schwatzhafte oder, wie
J. Beaufret sagte, die ›bauchrednerische‹ Philosophie. Bei der
erneuten Lektüre alter Manuskripte schrieb Husserl manchmal
an den Seitenrand: »Das habe ich angeschaut.« Welche Gemein-
samkeit besteht zwischen diesen Philosophen, die sich dem wid-
men, was sie sehen, positiv, in methodischer Hinsicht naiv, und
dem durchtriebenen Philosophen, der stets unter der Intuition
gräbt, um dort eine andere Intuition zu entdecken, und den jedes
Schauspiel auf sich selbst zurückwirft?
Man müßte sich die zeitgenössische Geschichte der Dialek-
tik und jene der Hegelschen Erneuerung in Erinnerung rufen,
um auf diese Fragen antworten zu können. Die Dialektik, die
von unseren Zeitgenossen wiederentdeckt wird, ist, wie bereits
18 N. von Hartmann sagte, eine Dialektik des Wirklichen. Der He-
gel, den sie rehabilitiert haben, ist nicht jener, von dem sich das
XIX. Jahrhundert abgewandt hatte, der Hüter eines wunderba-
ren Geheimnisses, durch das man über alle Dinge reden konnte,
ohne darüber nachzudenken, indem man sie mechanisch der
dialektischen Ordnung und dem dialektischen Zusammenhang
unterstellte; es ist jener Hegel, der nicht zwischen der Logik und
der Anthropologie hatte wählen wollen, der die Dialektik der
menschlichen Erfahrung hervortreten ließ, den Menschen je-
doch als empirischen Träger des Logos bestimmte, und der jene
beiden Perspektiven und die Umkehrung, welche die eine in die
jeweils andere verwandelt, in den Mittelpunkt rückte. Eine sol-
che Dialektik ist mit der Intuition nicht nur kompatibel: Es gibt
sogar einen Moment, in dem sie zusammenfließen. Man kann
quer durch den Bergsonismus wie auch quer durch die Karriere
Husserls die Arbeit erkennen, die nach und nach die Intuition in
Bewegung versetzt, die positive Aufzeichnung der ›unmittelbaren
Gegebenheiten‹ in eine Dialektik der Zeit und die Wesensschau
in eine ›genetische Phänomenologie‹ verwandelt, und die gegen-
sätzlichen Dimensionen einer Zeit, die letztlich koextensiv zum
228 Überall und nirgends

Sein ist, in einer lebendigen Einheit verbindet. Dieses Sein, das


man in der Zeitbewegung erahnen kann, auf das unsere Zeitlich-
keit, unsere Wahrnehmung und unser leibliches Sein stets zie-
len, bei dem aber nicht die Rede davon sein kann, sich in dieses
Sein hineinzuversetzen, weil die aufgehobene Distanz ihm seine
Seinskonsistenz nehmen würde, jenes Sein ›in der Ferne‹, wird
Heidegger sagen, das unserer Transzendenz stets vorangestellt
ist, ist die dialektische Idee des Seins, so wie sie der Parmenides
bestimmte, jenseits der empirischen Vielfalt der seienden Dinge,
und es wird prinzipiell durch diese Dinge erstrebt, da es getrennt
von ihnen nur ein Aufscheinen oder aber Nacht wäre. Was die
subjektive Seite der Dialektik angeht, so finden die Modernen
sie wieder, sobald sie uns in unserer tatsächlichen Beziehung zur
Welt erfassen wollen. Denn unter dieser Vorgabe treffen sie auf
den ersten und tiefsten aller Gegensätze, die nie ganz überwun-
dene Eröffnungsphase der Dialektik, die Geburt der Reflexion,
die sich prinzipiell abspaltet und sich nur abspaltet, um das Un-
reflektierte zu begreifen. Die Suche nach dem ›Unmittelbaren‹
oder der ›Sache selbst‹, sobald sie hinreichend bewußt ist, ist
nicht das Gegenteil der Vermittlung; die Vermittlung ist nur die
entschiedene Anerkennung eines Paradoxons, das die Intuition
wohl oder übel auf sich nimmt: Um sich zu besitzen, muß man
damit beginnen, aus sich herauszutreten, und um die Welt selbst
zu sehen, muß man sich zunächst von ihr entfernen.
Sollten diese Bemerkungen richtig sein, dann stünde lediglich
der logische Positivismus der angelsächsischen und skandinavi-
schen Länder außerhalb der Philosophie dieses Jahrhunderts. Es
gibt eine gemeinsame Sprache all der von uns soeben genannten
Philosophien; und andererseits sind für den logischen Positivis-
mus all ihre Probleme zusammengenommen nur Nicht-Sinn.
Die Tatsache kann weder maskiert noch abgeschwächt werden.
Man kann sich nur fragen, ob sie von Dauer ist. Wenn man aus
der Philosophie alle Ausdrücke streicht, die keinen unmittelbar
zuzuordnenden Sinn anbieten, offenbart diese Bereinigung dann
nicht, wie alle anderen, eine Krise? Wird man sich nicht jetzt, wo
das offenbar klare Feld der eindeutigen Bedeutungen einmal in
Überall und nirgends 229

Ordnung gebracht ist, erneut von der alles umgebenden Proble-


matik in Versuchung bringen lassen? Ist es genau der Gegensatz
eines transparenten geistigen Universums und eines erlebten
Universums, das immer weniger problematisch wird, je weniger
der Druck des Nicht-Sinns auf den Sinn den logischen Positivis-
mus dazu bringen wird, seine Kriterien von hell und dunkel einer
Revision zu unterziehen, durch eine Maßnahme, die, wie Platon
sagte, das eigentliche Vorgehen der Philosophie beschreibt? Wenn
diese Umkehrung der Werte eintreten würde, müßte man den lo-
gischen Positivismus als letzten und energischsten ›Widerstand‹
gegenüber der konkreten Philosophie zu schätzen wissen, die
man zu Beginn des Jahrhunderts auf die eine oder andere Weise
ständig gesucht hat.
Eine konkrete Philosophie ist keine glückliche Philosophie. Sie
müßte nah an der Erfahrung bleiben und dürfte sich dennoch
nicht auf das Empirische beschränken, sie müßte in jeder Er-
fahrung wieder die ontologische Chiffre einsetzen, durch die sie
innerlich gekennzeichnet ist. So schwierig es unter diesen Bedin-
gungen sein mag, sich die Zukunft der Philosophie vorzustellen,
scheinen doch zwei Dinge sicher zu sein: einerseits, daß sie nie
mehr zur Überzeugung zurückfinden wird, mit ihren Begriffen
die Schlüssel zur Natur und Geschichte zu bewahren, und ande-
rerseits, daß sie nie auf ihren Radikalismus verzichten wird, auf
ihre Suche nach den Voraussetzungen und den Grundlagen, aus
der die großen Philosophien hervorgegangen sind.
Sie wird um so weniger darauf verzichten, je deutlicher zutage
tritt, daß die Techniken sich selbst übertrafen und die Philoso-
phie zurückwarfen, während die Systeme ihre Vertrauenswürdig-
keit verloren. Nie zuvor hat das wissenschaftliche Wissen sein ei-
genes a priori erschüttert. Nie ist die Literatur so ›philosophisch‹
gewesen wie im XX. Jahrhundert, nie hat sie so viel über die
Sprache, über die Wahrheit, über den Sinn des Schreibakts nach-
gedacht. Nie hat das politische Leben so wie heute seine Wurzeln
oder seine Verstrickungen offengelegt, seine eigenen Gewißhei-
ten, allen voran jene des bewahrenden Erbes und heute jene der
Revolution, angefochten. Selbst wenn die Philosophen schwach
230 Überall und nirgends

werden sollten, wären die anderen da, um sie an die Philosophie


zu erinnern. Wenn diese Unruhe sich nicht aufzehrt und sich
die Welt bei der Erfahrung ihrer selbst nicht zugrunde richtet,
dann kann man viel erwarten von einer Zeit, die nicht mehr an
den Triumph der Philosophie glaubt, sondern aufgrund ihrer
Schwierigkeiten ein permanenter Aufruf zur Strenge, zur Kritik,
zur Universalität und zur kämpferischen Philosophie ist.
Man wird vielleicht fragen, was von der Philosophie übrig
bleibt, wenn sie ihre Rechtsansprüche auf das a priori, auf das
System oder auf die Konstruktion verloren hat, wenn sie nicht
mehr über die Erfahrung hinausreicht. Es bleibt ihr nahezu al-
les. Denn das System, die Erklärung, die Deduktion sind nie das
Wesentliche gewesen. Diese Arrangements brachten eine Bezie-
hung zum Sein, zu den Anderen, zur Welt zum Ausdruck – und
verbargen sie auch. Entgegen dem Anschein ist das System im-
mer nur eine Sprache gewesen (und als solche war sie wertvoll),
um eine cartesianische, spinozistische oder leibnizsche Art und
Weise, sich in Bezug auf das Sein einzustellen, zu übersetzen,
und damit die Philosophie Bestand hat, genügt es, daß dieser
Bezug problematisch bleibt, daß er nicht als selbstverständlich
hingenommen wird, daß eine vertraute Begegnung des Seins mit
demjenigen, der in jedem Sinne des Wortes daraus hervorgeht,
es bewertet, es annimmt und zurückweist, es transformiert und
schließlich aufgibt, erhalten bleibt. Es ist genau dieser Bezug, den
man heute direkt zu formulieren versucht, und daher kommt es,
daß die Philosophie sich überall dort bei sich selbst fühlt, wo
dieser Bezug hergestellt wird, daß heißt überall, gleichermaßen
im Bekenntnis eines Unwissenden, der geliebt und gelebt hat,
wie er konnte, in den ›Kniffen‹, welche die unverfroren spekula-
tive Wissenschaft erfindet, um die Probleme umzukehren, in den
›barbarischen‹ Zivilisationen, in den Bereichen unseres Lebens,
die einst offiziell nur in der Literatur, im unechten Leben oder in
den Diskussionen über die Substanz und das Attribut existier-
ten. Die instituierte Humanität empfindet sich als problematisch,
und das unmittelbarste Leben ist ›philosophisch‹ geworden. Wir
können uns keinen neuen Leibniz, keinen neuen Spinoza vor-
Überall und nirgends 231

stellen, die heute mit ihrem fundamentalen Vertrauen auf ihre


Rationalität das Gebiet der Philosophie betreten würden. Die
Philosophen von morgen werden keine ›anaklastische Linie‹,
keine ›Monade‹, keinen ›Conatus‹, keine ›Substanz‹, keine ›At-
tribute‹ und keinen ›unendlichen Modus‹ mehr haben, aber sie
werden auch weiterhin bei Leibniz und bei Spinoza lernen, wie
die glücklichen Jahrhunderte die Sphinx zu zähmen gedachten,
und sie werden auf ihre weniger bilderreiche und viel abruptere
Weise auf die weitaus zahlreicheren Rätsel antworten, die ihnen
die Sphinx aufgibt.
1 DE R PH I L O S OPH U N D SE I N S C H AT T E N

2 Tradition ist Vergessen der Ursprünge, sagte der späte Husserl.


Gerade wenn wir ihm viel verdanken, sind wir außerstande, ge-
nau zu erkennen, was eigentlich ihm gehört. Gegenüber einem
Philosophen, dessen Unternehmen soviel Widerhall hervorge-
rufen hat, auch scheinbar so weit entfernt von seinem eigenen
Standort, ist jedes Gedenken auch Verrat; sei es, daß wir ihm un-
sere Gedanken auf ganz oberflächliche Weise widmen, wie um ei-
nen Gewährsmann für sie zu finden, auf den sie keinen Anspruch
haben – sei es im Gegensatz dazu, daß wir ihn mit einem distan-
zierten Respekt zu streng auf das reduzieren, was er selbst gewollt
und gesagt hat … Husserl jedoch kannte eben jene Schwierigkei-
ten, welche diejenigen der Kommunikation zwischen den ›Egos‹
sind, gut, und er läßt uns mit ihnen nicht im Stich. Ich mache bei
Anderen Anleihen, ich tue es mit meinen eigenen Gedanken: Das
ist kein Scheitern der Wahrnehmung des Anderen, sondern eben
das ist die Wahrnehmung des Anderen. Wir würden ihn nicht mit
unseren aufdringlichen Kommentaren überhäufen, wir würden
ihn nicht geizig darauf reduzieren, was von ihm objektiv bezeugt
ist, wenn er nicht zunächst für uns da wäre – gewiß nicht mit
der frontalen Evidenz eines Dinges, sondern quer durch unser
Denken eingesetzt, in uns wie ein anderes Wir einen Bereich ein-
nehmend, der keinem anderen als ihm selbst gehört. Zwischen
einer ›objektiven‹ Geschichte der Philosophie, die die großen
Philosophen insoweit verstümmelt, als sie beiseite läßt, was sie
den anderen zu denken aufgegeben haben, und einer als Dialog
verkleideten Meditation, in der wir die Fragen stellen und die
Antworten geben, muß es ein Zwischenreich geben, in dem der
Philosoph, von dem man spricht, und der von ihm Sprechende
gemeinsam anwesend sind, wenn es auch selbst de jure unmög-
lich sein sollte, in jedem Augenblick zu entscheiden, was einem
jeden zukommt.
234 Der Philosoph und sein Schatten

Wenn man glaubt, die Interpretation sei entweder eine Nöti-


gung bzw. eine Entstellung oder eine wortwörtliche Wiederho-
lung, dann unterstellt man, daß die Bedeutung eines Werkes ganz
und gar positiv sei und einer legitimen Inventarisierung unter-
zogen werden könne, die genau festlegt, was es enthält und was
nicht. Doch dann täuscht man sich über das Werk und über das
Denken. »Je größer«, schreibt Heidegger, »das Denkwerk eines
Denkers ist, das sich keineswegs mit dem Umfang und der Anzahl
seiner Schriften deckt, um so reicher ist das in diesem Denkwerk
Ungedachte, d.h. jenes, was erst und allein durch dieses Denk-
werk als das Noch-nicht-Gedachte heraufkommt.«1 Seit dem Le- 3
bensende Husserls gibt es ein Ungedachtes, das Husserl eindeutig
zugehört und das sich dennoch auf anderes hin öffnet. Denken
heißt nicht, Gegenstände des Denkens zu besitzen, sondern durch
sie einen Bereich des zu Denkenden, den wir also noch nicht den-
ken, zu umschreiben. Wie die wahrgenommene Welt nur durch
die Widerspiegelungen, die Schatten, die Ebenen, die Horizonte
zwischen den Dingen gehalten wird, die selbst nicht Dinge sind
und die auch nicht nichts sind, die jedoch allein die Felder mög-
licher Variation desselben Dinges und derselben Welt umgrenzen,
ebenso besteht auch das Werk und das Denken eines Philosophen
aus bestimmten Verknüpfungen zwischen den gesagten Dingen,
die uns nicht vor das Dilemma von objektiver und willkürlicher
Interpretation stellen, weil es sich ja dabei nicht um Gegenstände
des Denkens handelt, weil man sie, wie den Schatten und die Wi-
derspiegelung, zerstören würde, wenn man sie der analytischen
Betrachtung oder dem isolierenden Reflektieren unterwürfe, und
weil man ihnen nur treu sein und sie wiederfinden kann, indem
man sie von neuem denkt.
Wir möchten versuchen, jenes Ungedachte bei Husserl am
Rand einiger älterer Überlegungen aufzudecken. Das wird ver-
messen erscheinen, weil es durch jemanden geschieht, der we-
der die tägliche Unterhaltung noch den Unterricht von Husserl
gekannt hat. Vielleicht jedoch findet dieser Versuch seinen Platz

1 Der Satz vom Grund, S. 123–124.


Der Philosoph und sein Schatten 235

neben anderen Zugängen. Denn für die, welche Husserl von


Angesicht gekannt haben, treten neben die Schwierigkeiten der
Kommunikation mit einem Werk noch die der Kommunikation
mit einem Autor. Einzelne Erinnerungen leisten die Hilfe eines
beiläufigen Zwischengliedes, eines Kurzschlusses der Konversa-
tion. Andere jedoch würden eher den ›transzendentalen‹ Hus-
serl verstellen, derjenige, der sich gegenwärtig feierlich in der
Geschichte der Philosophie etabliert – nicht daß er eine Fiktion
wäre, sondern weil dies der von seinem Leben losgelöste Husserl
ist, der dem Gespräch mit seinesgleichen und seinem allzeitlichen
(omnitemporelle) Wagnis zurückgegeben ist. Wie alle, die uns na-
hestehen – zudem mit der Macht der Faszination und Enttäu-
schung des Genies –, konnte der persönlich anwesende Husserl,
wie ich mir vorstellen kann, denen, die ihn umgaben, keine Ruhe
lassen: Ihr ganzes philosophisches Leben muß für eine Zeit lang
in jener außerordentlichen und unmenschlichen Beschäftigung
bestanden haben, der fortwährenden Geburt eines Denkens bei-
zuwohnen, es Tag für Tag zu belauern, ihm bei seiner Objektivie-
rung behilflich zu sein oder sogar als kommunizierbares Denken
zu existieren. Wie hätten sie später, als der Tod Husserls und ihre
eigene Entwicklung sie zu der Einsamkeit des Erwachsenen zu-
rückgeführt hatten, den vollen Sinn ihrer einstigen Meditationen
mühelos wiederfinden können – die sie gewiß mit oder gegen
Husserl frei fortsetzten, aber auf jeden Fall von ihm herkommend?
Sie begegnen ihm über ihre Vergangenheit wieder. Ist dieser Weg
kürzer als der über das Werk? Laufen sie nicht jetzt, gerade weil
sie zunächst die ganze Philosophie in die Phänomenologie gelegt
hatten, Gefahr, ihr gegenüber wie auch gegenüber ihrer Jugend
zu streng zu sein und manche phänomenologischen Motive, die
für den fremden Betrachter ihr ganzes Profil bewahren, auf das
zu reduzieren, was sie in ihrer ursprünglichen Zufälligkeit und
Bescheidenheit der Erfahrung gewesen sind?

*
Nehmen wir das Thema der phänomenologischen Reduktion
– von dem man weiß, daß es für Husserl niemals aufgehört hat,
236 Der Philosoph und sein Schatten

eine rätselhafte Möglichkeit zu sein, und daß er immer darauf


zurückgekommen ist. Die Behauptung, es sei ihm niemals gelun-
gen, die Grundlagen der Phänomenologie zu sichern, bedeutet,
sich über das, wonach er suchte, zu täuschen. Die Probleme der
Reduktion sind für ihn kein Vorspiel oder Vorwort, sie sind der
Beginn der Suche, und sie sind in gewisser Hinsicht das Ganze,
weil nach Husserl ja das Untersuchen ein fortwährendes Anfan-
gen ist. Man darf sich Husserl hierbei nicht als von ärgerlichen 4
Hindernissen belästigt vorstellen: Die Ermittlung der Hindernisse
ist ja gerade der Sinn seines Forschens. Eines seiner ›Ergebnisse‹
besteht darin zu verstehen, daß die Rückbewegung auf uns selbst
– die ›Einkehr in uns selbst‹, wie Augustinus sagte, – durch eine 5
entgegengesetzte Bewegung, die sie hervorruft, gleichsam aufge-
spalten wird. Husserl entdeckt jene Identität des ›In-sich-Zurück-
gehens‹ und des ›Aus-sich-Herausgehens‹ wieder, die für Hegel
das Absolute definierte. Reflektieren – sagt er in den Ideen I –
heißt, etwas Unreflektiertes aufdecken, das in einer Distanz ge- 6
geben ist, da wir mit ihm ja nicht mehr in Naivität eins sind;
und dennoch können wir nicht daran zweifeln, daß die Reflexion
es erreicht, da wir ausschließlich durch sie von ihm wissen. Die
Reflexion wird nicht von dem Unreflektierten in Frage gestellt,
es ist die Reflexion, die sich selbst in Frage stellt, weil ihr Bemü-
hen um Wiederaufnahme, Inbesitznahme, Verinnerlichung oder
Immanenz per definitionem nur sinnvoll ist im Hinblick auf ein
schon gegebenes Etwas, das sich unter dem Blick selbst, der sich
anschickt, es darin zu suchen, in seine Transzendenz zurück-
zieht.
Es ist also weder Zufall noch Naivität, wenn Husserl der Re-
duktion widersprüchliche Merkmale zukommen läßt. Er sagt
dort eben das, was er sagen will und was durch die tatsächliche
Situation verlangt wird. Unsere Aufgabe ist es, die eine Hälfte der
Wahrheit nicht zu übersehen. Auf der einen Seite also geht die
Reduktion über die natürliche Einstellung hinaus. Sie ist nicht
»natural«,2 was heißen soll, daß das Denken innerhalb der redu- 7

2 Ideen II, Husserliana, Bd. IV, S. 180.


Der Philosoph und sein Schatten 237

zierten Einstellung nicht mehr die Natur der Naturwissenschaften


betrachtet, sondern gewissermaßen das »Widerspiel der Natur«,3
nämlich die Natur als »reinen Sinn der die natürliche Einstellung
ausmachenden Akte«4 – die Natur in das Noema, das sie immer
gewesen ist, zurückverwandelt und reintegriert in das Bewußt-
sein, das sie immer schon und durch und durch konstituiert hat.
In der Ordnung der ›Reduktion‹ gibt es nur noch das Bewußtsein,
seine Akte und die intentionalen Objekte. Deshalb kann Husserl
schreiben, daß eine Abhängigkeit der Natur vom Geist bestehe,
daß die Natur das Relative und der Geist das Absolute sei.5
Das ist jedoch nicht die ganze Wahrheit: Daß es keine Natur
ohne Geist gebe oder daß man im Denken die Natur ausschalten
8 könne, ohne den Geist auszuschalten, soll nicht heißen, daß die
Natur ein Erzeugnis des Geistes sei oder daß irgendeine, wenn
auch schwer zu fassende, Verbindung jener beiden Begriffe ge-
nügen könne, um die philosophische Formel für unsere Stellung
im Sein zu liefern. Man kann den Geist ohne die Natur denken,
und man kann die Natur nicht ohne den Geist denken. Vielleicht
jedoch dürfen wir nicht die Welt und uns selbst als Entzweiung
von Natur und Geist denken. Tatsache ist, daß die berühmtesten
Beschreibungen der Phänomenologie in eine andere Richtung
weisen als die einer ›Philosophie des Geistes‹. Wenn Husserl sagt,
daß die Reduktion die natürliche Einstellung überschreitet, so
fügt er sofort hinzu, daß in jenem Darüber-hinaus-Gehen »die
9 gesamte Welt der natürlichen Einstellung« erhalten bleibt. Selbst
die Transzendenz dieser Welt soll unter dem Blick des ›reduzier-
ten‹ Bewußtseins einen Sinn bewahren, und die transzendentale
Immanenz kann nicht ihre einfache Antithese sein. Von den
Ideen II an scheint es klar zu sein, daß die Reflexion uns nicht in
ein geschlossenes und transparentes Milieu versetzt, daß sie uns
nicht, wenigstens nicht unmittelbar, vom ›Objektiven‹ zum ›Sub-
jektiven‹ führt, sondern daß sie vielmehr die Funktion erfüllt,

3 Ebd.
4 Ebd., S. 174.
5 Ebd., S. 297.
238 Der Philosoph und sein Schatten

eine dritte Dimension freizulegen, in der diese Unterscheidung


problematisch wird. Wohl gibt es ein Ich, das »gleichgültig«, rein
»erkennend« auftritt, um eine jede Sache restlos zu erfassen, vor
sich auszubreiten, zu »objektivieren« und von ihr intellektuell Be-
sitz zu ergreifen – eine rein »theoretische Einstellung«, die darauf
zielt, »Zusammenhänge sichtbar zu machen, die das Wissen vom
erscheinenden Sein fördern könnten«.6 Aber genau dieses Ich ist
nicht der Philosoph, jene Einstellung ist nicht diejenige der Phi-
losophie: Es ist die Naturwissenschaft – genauer, eine gewisse Phi-
losophie, aus der die Naturwissenschaften hervorgegangen sind,
die auf das reine Ich und sein Korrelativ, die »bloßen Sachen«, zu-
rückkam und sie von jeder praktischen Auszeichnung und jedem
Wertprädikat ablöste. Von den Ideen II an umgeht die Husserlsche
Reflexion dieses Tête-à-tête zwischen dem reinen Subjekt und den
bloßen Sachen. Sie sucht das Grundlegende darunter. Es bedeutet
nicht viel, wenn man sagt, daß Husserls Denken eine andere Rich-
tung einschlägt: Es ignoriert die reine Korrelation von Subjekt
und Objekt nicht, sondern geht ganz bewußt darüber hinaus, da
es sie ja als nur relativ begründet, als nur im abgeleiteten Sinne
wahr, als ein konstitutives Ergebnis hinstellt, das an seinem Platz
und in seiner Zeit zu rechtfertigen ist.
Aber von wo aus und vor welcher sichereren Instanz? Was an
der Ontologie der bloßen Sachen falsch ist, besteht darin, daß sie
eine rein theoretische Einstellung (oder Idealisierung) verabso-
lutiert und daß sie auf eine Beziehung zum Sein verzichtet oder
diese für selbstverständlich hält, wo doch die theoretische Einstel-
lung hierin gründet und sich ihr Wert an ihr bemißt. In Bezug auf
diesen Naturalismus enthält die natürliche Einstellung eine hö-
here Wahrheit, die es wiederzuentdecken gilt. Denn sie ist nichts
weniger als naturalistisch. Wir leben nicht natürlich in einem
Universum der bloßen Sachen. Vor aller Reflexion nehmen wir in
der Unterhaltung und im täglichen Leben eine »personalistische
Einstellung« ein, von der der Naturalismus nicht berichten kann
und in der die Sachen für uns nicht eine Natur an sich, sondern

6 Ebd., S. 26.
Der Philosoph und sein Schatten 239

»unsere Umgebung«7 sind. Unser natürlichstes Leben als Men-


schen richtet sich auf ein ontologisches Milieu, das ein anderes
als das des An-sich ist und das also, der konstitutiven Ordnung
nach, nicht aus diesem hergeleitet werden kann. Selbst durch die
Berührung der Sachen wissen wir von ihnen in der natürlichen
Einstellung viel mehr, als die theoretische Einstellung uns über
sie sagen kann – und vor allem wissen wir es in anderer Weise.
Die Reflexion spricht von unserem natürlichen Bezug zur Welt als
von einer ›Einstellung‹, d.h. als von einer bestimmten Anzahl von
›Akten‹. Doch handelt es sich dabei um eine Reflexion, die sich in
die Sachen voraussetzt und die nicht über sich selbst hinaussieht.
Während sie auf ein universales Erfassen aus ist, vermerkt die
Reflexion Husserls, daß es hier, im Unreflektierten, »Synthesen«
gibt, »die vor aller Thesis liegen«.8 Die natürliche Einstellung
wird erst dann wirklich zu einer Einstellung – zu einem Geflecht
von beurteilenden und behauptenden Akten –, wenn sie zur na-
turalistischen These wird. Sie selbst ist frei von Vorbehalten, die
man gegenüber dem Naturalismus erheben kann, weil sie »vor
aller Thesis« liegt, weil sie das Mysterium einer Weltthesis vor al-
10 len Thesen ist, eines Urglaubens und einer Urdoxa, wie Husserl
anderswo sagt, die also nicht einmal im Prinzip in die Begriff-
lichkeit eines klaren und deutlichen Wissens übersetzbar sind
und die, älter als jede ›Einstellung‹ und jeder ›Standpunkt‹, uns
nicht eine Vorstellung von der Welt, sondern die Welt selbst ge-
ben. Über jene Offenheit zur Welt kann die Reflexion nicht ›hin-
ausgelangen‹, es sei denn mit Hilfe von Fähigkeiten, die sie ihr
verdankt. Es gibt eine dem Bereich der Weltthesis eigene Klarheit
und Evidenz, die sich nicht von jener unserer Thesen herleitet,
ein Offenbaren der Welt, das sich eben durch ihr Verbergen im
Halbdunkel der Doxa vollzieht. Wenn Husserl mit Nachdruck
feststellt, daß die phänomenologische Reflexion in der natürli-
chen Einstellung beginnt – er wiederholt es in den Ideen II, um
die Analyse der leiblichen und intersubjektiven Implikationen der

7 Ebd., S. 183.
8 Ebd., S. 22.
240 Der Philosoph und sein Schatten

bloßen Sachen auf das Konstituierte zu beziehen9 –, so will er da-


mit nicht nur sagen, daß man mit dem Meinen anzufangen und
durch es hindurchzugehen habe, um beim Wissen anzukommen:
Die Doxa der natürlichen Einstellung ist eine Urdoxa, sie stellt der
Ursprünglichkeit des theoretischen Bewußtseins die Ursprüng-
lichkeit unserer Existenz gegenüber, ihr Prioritätsanspruch ist
endgültig und das reduzierte Bewußtsein muß dem Rechnung
tragen. In Wahrheit sind die Beziehungen der natürlichen Einstel-
lung zur transzendentalen Einstellung nicht einfach, sie bestehen
nicht nebeneinander oder nacheinander, wie das Falsche oder
Scheinbare und das Wahre. In der natürlichen Einstellung wird
die Phänomenologie vorbereitet. Es ist die natürliche Einstellung,
die durch Wiederholung ihres eigenen Vorgehens zur Phänome-
nologie umkippt. Es ist sie selbst, die sich in der Phänomenologie
überschreitet – sie geht also nicht über sich hinaus. Umgekehrt ist
die transzendentale Einstellung immer noch und trotz allem »na-
türlich«.10 Es gibt eine Wahrheit der natürlichen Einstellung – ja
sogar eine, wenn auch sekundäre und abgeleitete, Wahrheit des
Naturalismus. »Die seelische Realität ist in der leiblichen Materie
fundiert, nicht ist aber umgekehrt diese in der Seele fundiert. All-
gemeiner können wir gleich sagen: Die materielle Welt ist inner-
halb der gesamten objektiven Welt, die wir Natur nennen, eine in
sich geschlossene und eigene Welt, die keines Sukkurses anderer
Realitäten bedarf. Dagegen ist die Existenz geistiger Realitäten, ei-
ner realen Geisteswelt, an die Existenz einer Natur im ersten Sinn,
dem der materiellen Natur, gebunden, und das nicht aus zufälli-
gen, sondern aus prinzipiellen Gründen. Während die res extensa,
wenn wir ihr Wesen befragen, nichts von Geistigkeit enthält und
nichts, was über sich hinaus eine Verknüpfung mit realer Geistig-
keit forderte, finden wir umgekehrt, daß reale Geistigkeit wesent-
lich nur sein kann in Anknüpfung an Materialität als realer Geist

Ebd., S. 174.
9
10 Ebd., S. 180: »Eine neue Einstellung, die in gewissem Sinn sehr natürlich
[…] ist.«
Der Philosoph und sein Schatten 241

eines Leibes.«11 Wir zitieren diesen Text nur als Gegengewicht zu


den Texten, welche die Relativität der Natur und die Irrelativität
des Geistes behaupteten und damit die Selbstgenügsamkeit der
Natur und die Wahrheit der natürlichen Einstellung zerstörten,
die hier ihre Bestätigung wiederfinden. Die Phänomenologie ist
letztlich weder ein Materialismus noch eine Philosophie des Gei-
stes. Ihre eigentliche Leistung besteht darin, die vortheoretische
Schicht aufzudecken, in der beide Idealisierungen ihr relatives
Recht erhalten und überwunden werden.
Wie wird diese Infrastruktur, das Geheimnis aller Geheim-
nisse, diesseits unserer Thesen und unserer Theorie seinerseits
auf Akten des absoluten Bewußtseins beruhen können? Läßt das
11 Hinabsteigen in das Gebiet unserer »Archäologie« die Instru-
mente unserer Analyse unversehrt? Ändert es nichts an unserer
Auffassung der Noesis, des Noema, der Intentionalität, an unserer
Ontologie? Sind wir nach wie vor berechtigt, in einer Aktanalyse
zu suchen, was unser Leben und das der Welt in letzter Instanz
trägt? Man weiß, daß Husserl sich kaum explizit dazu geäußert
hat. Es gibt einige Ausdrücke, die als Indices das Problem anzei-
gen – als ein Ungedachtes, das zu denken ist. Zunächst der Begriff
einer »vortheoretischen Konstituierung«,12 die über die »Vorge-
gebenheiten«13 Aufschluß zu geben hätte, jene Bedeutungskerne,
um die die Welt und der Mensch gravitieren und von denen man
in gleicher Weise sagen kann (wie Husserl es vom Körper sagt),
daß sie für uns immer »schon konstituiert« sind oder daß sie
»niemals vollständig konstituiert« sind – mit einem Wort, daß
das Bewußtsein ihnen gegenüber immer voraus oder hinterher,
aber niemals zugleich ist. Im Hinblick auf jene eigenartigen Seins-
weisen hat Husserl zweifelsohne an anderen Stellen eine Konsti-
tution geschildert, die sich nicht vermittels des Erfassens eines
›Auffassungsinhalts‹ als Exemplar eines Sinnes oder eines Wesens
vollzieht, eine fungierende oder latente Intentionalität wie jene,

11 Ideen III, Husserliana, Bd. V, Beilage I, S. 117.


12 Ideen II, S. 5.
13 Ebd.
242 Der Philosoph und sein Schatten

die die Zeit belebt und älter ist als die Intentionalität der mensch-
lichen Akte. So muß es für uns Wesenheiten geben, die noch nicht
durch die zentrifugale Aktivität des Bewußtseins ins Sein getra-
gen sind, Bedeutungen, die dieses nicht spontan zu Inhalten de-
klariert, Inhalte, die auf Umwegen an einem Sinn teilhaben, die
ihn anzeigen, ohne mit ihm zusammenzutreffen, ohne daß er an
ihnen als das Monogramm oder das Gepräge des thetischen Be-
wußtseins schon ablesbar ist. Auch hier gibt es einen Zusammen-
schluß intentionaler Fäden um bestimmte Knoten herum, die sie
leiten; doch die Reihe der Rückdeutungen, die uns immer tiefer
führt, kann nicht beim intellektuellen Besitz eines Noema enden:
Es gibt zwar eine geordnete Folge von Schritten, doch sie ist ohne
Ende und ohne Anfang. Ebenso wie durch den Strudel des abso-
luten Bewußtseins wird das Denken Husserls von der Ecceität der
Natur angezogen. Mangels expliziter Thesen über die Beziehung
des einen zum anderen bleibt uns nur übrig, die Proben einer
»vortheoretischen Konstituierung« zu befragen, die er uns liefert,
und – auf unser Risiko hin – das Ungedachte zu formulieren, das
wir in ihnen zu erahnen glauben. Unbestreitbar gibt es etwas zwi-
schen der transzendenten Natur, dem An-sich des Naturalismus,
und der Immanenz des Geistes, seiner Akte und seiner Noemata.
In diesem Zwischenreich muß man weiterzuforschen versuchen.

*
Unter der »objektiven materiellen Sache« decken die Ideen II
ein Geflecht von Verstrickungen auf, bei dem man nicht mehr
das Pulsieren des konstituierenden Bewußtseins spürt. Zwischen
den Bewegungen meines Körpers und den »Eigenschaften« der
Sache, die sie enthüllen, besteht die Beziehung des »Ich kann« 12
zu den Wundern, die er hervorzurufen vermag. Und doch muß
mein Leib selbst mit der sichtbaren Welt verschränkt sein: Seine
Fähigkeit bezieht er gerade von daher, daß er einen Standort hat,
von dem aus er sieht. Er ist also eine Sache, aber eine Sache, der ich
innewohne. Er steht, wenn man will, auf seiten des Subjekts, aber
ist der Örtlichkeit der Sachen nicht fremd: Zwischen ihm und
ihnen besteht eine Beziehung des absoluten Hier zum Dort, des
Der Philosoph und sein Schatten 243

Ursprungs aller Entfernung zur Entfernung. Er ist der Bezirk, in


dem meine Wahrnehmungsvermögen lokalisiert sind. Aber was
kann das Band zwischen diesem und ihm anderes sein als die
objektive gegenseitige Abhängigkeit? Wenn ein Bewußtsein, sagt
Husserl, das Gefühl der Sättigung empfände, wenn der Wasser-
behälter einer Lokomotive voll ist, wenn das Bewußtsein Wärme
fühlte, wenn im Kessel der Lokomotive Feuer gemacht wird, dann
wäre die Lokomotive deshalb nicht der Leib dieses Bewußtseins.14
Was gibt es also zwischen meinem Körper und mir anderes als die
Gesetzmäßigkeiten einer okkasionellen Kausalität? Es gibt einen
Bezug meines Leibes zu ihm selbst, die ihn zum vinculum mei-
ner selbst und der Dinge macht. Wenn meine rechte Hand meine
linke berührt, empfinde ich sie als ein »physisches Ding«, aber
im selben Augenblick tritt, wenn ich will, ein außerordentliches
Ereignis ein: Auch meine linke Hand beginnt meine rechte Hand
13 zu empfinden, das Ding verändert sich, es wird Leib, es empfindet.15
Das physische Ding belebt sich – oder genauer, es bleibt, was es
war, das Ereignis bereichert es nicht, aber eine erkundende Kraft
legt sich auf es oder bewohnt es. Ich berühre mich also berüh-
rend, mein Leib vollzieht »eine Art Reflexion«. In ihm, durch ihn
besteht nicht nur eine Beziehung in einer Richtung, von dem
der fühlt, zu dem, was er fühlt: Das Verhältnis kehrt sich um, die
berührte Hand wird zur berührenden, und ich muß sagen, daß
das Berühren hier im ganzen Leib verbreitet ist und daß der Leib
»empfindendes Ding«, »subjektives Objekt«16 ist.
Es ist ersichtlich, daß diese Beschreibung auch unsere Idee von
der Sache und der Welt umwälzt und daß sie zu einer ontolo-
gischen Rehabilitierung des Sinnlichen führt. Denn fortan kann
man buchstäblich sagen, daß der Raum selbst sich durch meinen
Leib hindurch kennt. Wenn die Unterscheidung von Subjekt und
Objekt in meinem Leib verschwimmt (und sicherlich auch die
der Noesis und des Noema?), so verschwimmt sie auch in der

14 Ideen III, Beilage I, S. 117.


15 Ideen II, S. 145.
16 Ideen III, Beilage I, S. 119, 124.
244 Der Philosoph und sein Schatten

Sache, die der Pol der Operationen meines Leibes ist, der End-
punkt, in dem sich sein Erkunden erfüllt,17 die also in demselben
intentionalen Geflecht wie er befangen ist. Wenn man sagt, daß
die wahrgenommene Sache leibhaft (en personne, dans sa chair)
erfaßt wird, so ist dies wörtlich zu nehmen: Das Fleisch (chair)
des Sinnlichen, jene dichte Körnigkeit, die das Erkunden beendet,
jenes Optimum, das es abschließt, spiegeln meine eigene Inkar-
nation wider und bilden ihr Gegenstück. Wir haben es hier mit
einer Art von Sein zu tun, einem Universum mit seinem unver-
gleichlichen ›Subjekt‹ und ›Objekt‹, wo das eine sich im ande-
ren artikuliert und ein für allemal zu allen »Relativitäten« der
sinnlichen Erfahrung ein »Irrelatives« »herausbestimmt« wird,
das den »Rechtsgrund« für alle Konstruktionen des Erkennens
bildet.18 Die gesamte Erkenntnis, das ganze objektive Denken
leben von dieser ursprünglichen Tatsache: daß ich empfunden
habe, daß ich, mit jener Farbe oder irgendeinem anderen Sinnli-
chen, eine sonderbare Existenz teile, die mit einem Mal meinen
Blick in Beschlag nahm und ihm dennoch eine unbegrenzte Reihe
von Erfahrungen versprach, als eine Konkretion von schon jetzt
wirklichen Möglichkeiten in den verborgenen Seiten der Sache,
als Zeitraum, der mir auf einmal gegeben ist. Die Intentionalität,
die die Momente meines Erkundens, die Aspekte der Sache und
diese zwei Reihen miteinander verbindet, ist weder eine Verknüp-
fungstätigkeit des geistigen Subjekts, noch wird sie durch die blo-
ßen Zusammenhänge des Objekts gebildet, sie ist der Übergang,
den ich als leibliches Subjekt von einer Phase der Bewegung zur
anderen vollziehe und der für mich prinzipiell immer möglich
ist, weil ich jenes wahrnehmende und sich bewegende Lebewesen
bin, das Leib heißt. Sicher, es gibt hier ein Problem: Was wird
aus der Intentionalität, wenn sie nicht mehr das geistige Erfassen
einer sinnlichen Materie als Exemplar eines Wesens ist, das Wie-
dererkennen dessen in den Dingen, was wir in sie hineingelegt

17 Ideen II, S. 60: »Die Erfahrungstendenz terminiert in ihr, erfüllt sich in


ihr.«
18 Ebd., S. 76.
Der Philosoph und sein Schatten 245

haben? Sie kann nicht mehr der Ablauf einer transzendenten,


ursprünglichen Ordnung oder Teleologie sein, die wir erdulden,
oder, im cartesischen Sinne, einer ›Einrichtung der Natur‹, die in
uns, ohne uns operiert: Das würde bedeuten, in dem Augenblick,
in dem wir gerade die beiden unterschieden haben, die Ordnung
des Sinnlichen in die Welt der objektiven Entwürfe oder Pläne
zu reintegrieren – es hieße vergessen, daß jene ein Sein auf Ent-
fernung ist, die hier und jetzt erfolgende blitzartige Bekundung
eines unerschöpflichen Reichtums, und daß die Sachen sich vor
uns nur halb öffnen, gleichzeitig enthüllt und verborgen sind. All
das stellt man ebensowenig in Rechnung, wenn man aus der Welt
einen Zweck macht, wie wenn man aus ihr eine Idee macht. Die
Lösung – wenn es eine gibt – kann nur darin liegen, jene Schicht
des Sinnlichen zu befragen oder mit ihren Rätseln umzugehen.
Wir sind noch weit entfernt von den cartesischen bloßen Sa-
chen. Für meinen Leib ist die Sache eine ›solipsistische‹, sie ist
noch nicht die Sache selbst. Sie ist im Zusammenhang meines
Leibes erfaßt, der selbst nur durch seine Ränder oder seine Peri-
pherie dem Bereich der Sachen angehört. Die Welt hat sich noch
nicht auf ihn hin geschlossen. Die Sachen, die er wahrnimmt,
wären nur dann wirklich das Sein, wenn ich erführe, daß sie von
Anderen gesehen werden, daß sie für jeden Zuschauer, der diesen
Namen verdient, präsumtiv sichtbar sind. Das An-sich wird also
erst nach der Konstitution des Anderen in Erscheinung treten.
Doch sind die Konstitutionsschritte, die uns noch davon tren-
nen, von der gleichen Art wie die Enthüllung meines Leibes; sie
machen, wie wir sehen werden, Gebrauch von einem Universalen,
das er schon zur Erscheinung brachte. Meine rechte Hand wohnte
dem Auftreten der aktiven Berührung meiner linken Hand bei.
Es ist nichts anderes, wenn sich der Körper des Anderen vor mir
belebt, wenn ich die Hand eines anderen Menschen drücke, oder
wenn ich sie einfach betrachte.19 Indem ich erfahre, daß mein
Leib ein »empfindendes Ding« ist, daß er reizbar ist – er und nicht
nur mein ›Bewußtsein‹ –, bin ich darauf vorbereitet zu verstehen,

19 Ebd., S. 165–166.
246 Der Philosoph und sein Schatten

daß es andere Animalia und möglicherweise andere Menschen 14


gibt. Man beachte, daß es hier weder einen Vergleich noch eine
Analogie, keine Projektion oder »Introjektion«20 gibt. Wenn mir
das Dasein eines Anderen dadurch evident ist, daß ich ihm die
Hand drücke, so deshalb, weil sie sich an die Stelle der linken
Hand setzt, weil mein Leib sich dem des Anderen durch jene »Art
der Reflexion« einverleibt, deren Sitz er paradoxerweise ist. Meine
beiden Hände sind »kompräsent« oder »koexistent«, weil sie die
Hände eines einzigen Leibes sind: Der Andere erscheint durch
eine Ausdehnung dieser »Kompräsenz«21, er und ich sind wie
die Organe einer einzigen Zwischenleiblichkeit (intercorporéité).
Die Erfahrung des Anderen ist für Husserl zunächst »ästhesiolo-
gisch«, und sie muß es sein, wenn der Andere wirklich existiert;
der Andere ist hier kein idealer Bezugspunkt, keine vierte Pro-
portionale, welche die Bezüge meines Bewußtseins zu meinem
objektiven Körper und zu sich selbst vervollständigte. Was ich
zunächst wahrnehme, ist eine andere »Empfindbarkeit« und nur
von dorther erfahre ich einen anderen Menschen und ein ande-
res Denken. »Dieser Mensch dort sieht und hört, vollzieht auf
Grund seiner Wahrnehmungen die und die Urteile, die und die
Wertungen und Wollungen in vielgestaltigem Wechsel. Daß ›in‹
ihm, diesem Menschen dort, ein ›Ich denke‹ auftaucht, das ist ein
Naturfaktum, fundiert in dem Leibe und leiblichen Vorkommnis-
sen, bestimmt durch den substantial-kausalen Zusammenhang
der Natur […]«22
Man wird vielleicht fragen, wie ich die Kompräsenz der Leiber
auf die Geister ausdehnen kann und ob dies nicht durch einen
Rückbezug auf mich selbst geschieht, welche die Projektion oder
Introjektion wieder einführt: Erfahre ich nicht in mir selbst, daß
eine Empfindbarkeit und sensorische Felder ein Bewußtsein oder
einen Geist voraussetzen? Doch zunächst postuliert der Einwand,
daß der Andere für mich in genau dem Sinne Geist sein kann,

20 Ebd., S. 166.
21 Ebd., S. 166: „übertragene Kompräsenz“.
22 Ebd., S. 181.
Der Philosoph und sein Schatten 247

in dem ich es für mich selbst bin. Doch ist nach allem nichts
weniger sicher als das: Das Denken der Anderen ist für uns nie-
mals ganz und gar ein Denken. Der Einwand impliziert darüber
hinaus, daß es sich hier darum handelt, einen anderen Geist zu
konstituieren, wohingegen das Konstituierende vorerst selbst nur
ein belebter Leib (chair animée) ist; nichts steht dem entgegen,
das Auftreten eines Anderen, der ebenso spricht und hört, für
den Augenblick vorzubehalten, in dem er sprechen und hören
wird. – Aber vor allem würde der Einwand gerade das ignorie-
ren, was Husserl hat sagen wollen: nämlich, daß es für einen Geist
keine Konstitution eines Geistes gibt, aber für einen Menschen die
eines Menschen. Aufgrund der besonderen Aussagekraft des wahr-
nehmbaren Leibes nimmt die Einfühlung den Weg vom Leib zum
15 Geist. Wenn durch ein erstes »intentionales Überschreiten«23
vor mir ein anderer erfahrender Leib, ein anderes Verhalten in
Erscheinung tritt, so ist es der Mensch als Ganzes, der mir mit
allen Möglichkeiten, was sie auch immer sein mögen, gegeben
ist, und dessen unwiderrufliches Zeugnis ich in meinem inkar-
nierten Sein besitze. Niemals werde ich in aller Strenge das Den-
ken des Anderen denken können: Ich kann denken, daß er denkt,
kann hinter jener Gliederpuppe eine Selbstgegenwart nach dem
Modell der meinen konstruieren; aber wieder bin ich es, der ich
mich in ihn hineinversetze, und es kommt dann tatsächlich zu
einer ›Introjektion‹. Demgegenüber weiß ich unzweifelhaft, daß
jener Mensch dort sieht, daß meine wahrnehmbare Welt auch die
seine ist, denn ich wohne seinem Sehen bei, es ereignet sich in dem
auf das Schauspiel gerichteten Blick seiner Augen, und wenn ich
sage: ›Ich sehe, daß er sieht‹, so findet hier kein Ineinanderschach-
teln zweier Aussagen statt, wie es der Fall ist, wenn ich sage: ›Ich
denke, daß er denkt‹, sondern das ›vorgeordnete‹ und das ›nach-
geordnete‹ Sehen dezentrieren hier einander. Da war eine Gestalt,
die mir ähnelt, aber mit geheimen Aufgaben beschäftigt, von ei-
nem unbekannten Traum erfüllt. Plötzlich ist ein wenig vor und
unter den Augen ein Schimmer erschienen, der Blick hebt sich

23 Der Ausdruck wird in den Cartesianischen Meditationen benutzt.


248 Der Philosoph und sein Schatten

und erfaßt dieselben Sachen, die ich sehe. Alles, was sich auf mei-
ner Seite auf das wahrnehmende und sich bewegende Lebewesen
stützt, alles, was ich jemals auf ihm aufbauen kann – und auch
mein ›Denken‹, doch als Modulation meiner Gegenwärtigkeit
in der Welt –, geht mit einem Schlag in den Anderen über. Ich
sage, daß dort ein Mensch ist und keine Gliederpuppe, ebenso
wie ich sehe, daß dort der Tisch steht und nicht eine Perspektive
oder die Erscheinung des Tisches. Es ist wahr: Ich würde das nicht
erkennen, wenn ich nicht selbst Mensch wäre; wenn ich nicht über
den unmittelbaren Kontakt des Denkens verfügte (oder nicht
glaubte, über ihn zu verfügen), würde auch kein anderes Cogito
vor mir auftauchen; aber diese negativen Festellungen drücken
nicht das aus, was sich im ganzen ereignet, sie geben nur parti-
elle Abhängigkeiten an, die sich aus dem Auftreten des Anderen
herleiten, aber dieses nicht konstituieren. Jede Introjektion setzt
schon voraus, was man durch sie erklären will. Wenn es wirklich
mein ›Denken‹ wäre, das in den Anderen versetzt werden sollte,
würde ich es niemals in ihn versetzen: Keine Erscheinung hätte
jemals die Wirkung, mich zu überzeugen, daß dort ein Cogito
ist und könnte die Übertragung motivieren, wenn die ganze
Überzeugungskraft des meinen davon herrührt, daß ich Ich bin.
Wenn der Andere für mich existieren soll, so muß dies zuerst un-
terhalb der Ebene des Denkens der Fall sein. Hier ist es möglich,
weil die sinnliche Offenheit zur Welt, die eher eine Enteignung
als eine Besitznahme darstellt, keinen Anspruch auf das Mono-
pol des Seins erhebt und keinen Kampf der Bewußtseine auf Le-
ben und Tod entstehen läßt. Die von mir wahrgenommene Welt,
die halb erschlossenen Dinge vor mir, können mit ihrer Dichte
mehr als ein empfindendes Subjekt mit ›Bewußtseinszuständen‹
versehen, sie besitzen ein Anrecht auf andere Zeugen als mich
selbst. Daß sich in dieser Welt ein Verhalten abzeichnet, das über
mich hinausgeht, bildet nur eine weitere Dimension des ur-
sprünglichen Seins, das sie alle umfaßt. Also bereits auf der
›solipsistischen‹ Stufe ist der Andere nichts Unmögliches, weil
die empfindbare Sache offen ist. Er wird gegenwärtig, wenn ein
anderes Verhalten und ein anderer Blick von meinen Sachen
Der Philosoph und sein Schatten 249

Besitz ergreifen – und eben das geschieht. Diese Verflechtung


meiner Welt mit einer anderen Leiblichkeit entsteht ohne Intro-
jektion, weil die für mich empfindbaren Dinge durch ihr Ausse-
hen, ihre Konfiguration, ihr sinnliches Gefüge (texture charnelle)
schon das Wunder verwirklichen, Sachen zu sein und es deshalb
zu sein, weil sie einem Leib angeboten werden und dadurch
meine Leiblichkeit zu einer Probe des Seins wird. Der Mensch
kann das Alter ego hervorbringen, was das ›Denken‹ nicht her-
vorbringen kann, weil er außer sich in der Welt ist und weil eine
Ek-stase zusammen mit Anderen möglich ist. Und diese Mög-
lichkeit erfüllt sich in der Wahrnehmung als vinculum zwischen
dem rohen Sein (l’être brut) und einem Leib. Das ganze Rätsel
der Einfühlung ist in seiner Anfangsphase ›ästhesiologisch‹, und
es wird dort gelöst, weil es sich um eine Wahrnehmung handelt.
Derjenige, der den anderen Menschen ›setzt‹, ist ein wahrneh-
mendes Subjekt, der Leib des Anderen ist eine wahrgenom-
mene Sache, der Andere selbst ist ›gesetzt‹ als ›wahrnehmend‹.
Es handelt sich immer nur um eine doppelte Wahrnehmung
(co-perception). Ich sehe, daß jener Mensch dort sieht, wie ich
meine linke Hand berühre, wenn ich gerade meine rechte Hand
berühre.
Das Problem der Einfühlung wie das meiner Inkarnation läuft
also auf eine Meditation über das Sinnliche hinaus oder, wenn
man lieber will, verlagert sich nach dorthin. Dies liegt daran, daß
das Sinnliche, das sich mir in meinem privatesten Leben kund-
gibt, gleichzeitig jede andere Leiblichkeit angeht. Es ist das Sein,
das mich im Innersten betrifft, das ich aber auch in einem rohen
und wilden (brut ou sauvage) Zustand treffe, in einer absoluten
Präsenz, welche das Geheimnis der Welt, der Anderen und des
Wahren enthält. Es gibt hier »Gegenstände«, »die nicht nur einem
Subjekt urpräsent sein können, sondern, wenn sie einem urprä-
sent sind, identisch von jedem anderen Subjekt (sobald solche
konstituiert sind) idealiter urpräsent gegeben sein können. Die
Gesamtheit der möglicherweise urpräsenten Gegenstände, die
für alle kommunizierenden Subjekte einen Bereich gemeinsa-
mer Urpräsenz bilden, ist die Natur im ersten und ursprünglichen
250 Der Philosoph und sein Schatten

Sinn«.24 Vielleicht kann man nirgendwo besser als in diesen Zei-


len den doppelten Sinn der Husserlschen Reflexion erkennen, die
sowohl eine Analytik der Wesen als auch eine Analytik der Exi-
stenzen ist. Denn daß dasjenige, was einem Subjekt gegeben ist,
prinzipiell auch jedem Anderen gegeben ist, gilt idealiter; aber von
der »ursprünglichen Gegenwart« des Sinnlichen aus entwickeln
sich die Evidenz und die Allgemeinheit, welche durch die Wesens-
bezüge vermittelt werden. Man lese nur, wenn man daran zwei-
feln sollte, die außergewöhnlichen Seiten25 noch einmal, auf de-
nen Husserl zu verstehen gibt, daß, selbst wenn man das absolute
oder wahre Sein zum Korrelativ eines absoluten Geistes machen
wollte, es irgendeines Bezugs zu demjenigen bedürfte, was wir
Menschen das Sein nennen – daß der absolute Geist und wir uns
erkennen müßten, so wie zwischen Menschen »nur durch Ver-
ständigung die Möglichkeit besteht zu erkennen, daß die Dinge,
die der eine sieht, und die, die der andere sieht, dieselben sind«,26
daß also der absolute Geist die Sachen sehen müsste »eben auch
durch sinnliche Erscheinungen […], die ähnlich austauschbar
sein müßten in einer Wechselverständigung – oder mindestens
einseitig – wie unsere Erscheinungen zwischen uns Menschen«
und daß er »zu Zwecken der Wechselverständigung auch einen
Leib« haben müßte und daß schließlich »auch die Abhängigkeit
von Sinnesorganen« gegeben sein müßte. Gewiß gibt es mehr
Dinge in der Welt und in uns als dasjenige, was im strikten Wort-
sinne wahrnehmbar ist. Das Erleben des Anderen selbst ist mir
nicht in seinem Verhalten gegeben. Um einen Zugang zu ihm zu
haben, müßte ich er selber sein. Entsprechend bin ich in den Au-
gen des Anderen – auch wenn es stets meine Absicht sein sollte, in
dem, was ich wahrnehme, das Sein selbst zu erfassen – in meinen
›Vorstellungen‹ befangen, bleibe ich diesseits seiner Wahrneh-
mungswelt und transzendiere ihn also. Doch benutzen wir hier
einen verstümmelten Begriff des Wahrnehmbaren und der Natur.

24 Ideen II, S. 163.


25 Ebd., S. 85.
26 Ebd.
Der Philosoph und sein Schatten 251

16 Kant sagte, daß diese »der Inbegriff der Gegenstände der Sinne«27
sei. Husserl findet das Sinnliche wieder als allgemeine Form des
rohen Seins (l’être brut). Wahrnehmbar sind nicht nur die Dinge,
sondern auch alles, was sich an ihnen abzeichnet, selbst ihre Höh-
lungen, alles, was seine Spur zurückläßt, alles, was dort auftritt,
selbst als Unterschied und als eine bestimmte Abwesenheit: »Nun
ist aber zu beachten, daß das im ursprünglichen Sinne Erfahr-
bare, das urpräsentierbare Sein, nicht alles Sein ist, auch nicht
alles erfahrbare Sein. Realitäten, die nicht für mehrere Subjekte
in Urpräsenz gegeben sein können, sind die Animalien: Sie ent-
halten ja Subjektivitäten. Sie sind eigentümliche Objektitäten, die
ihre ursprüngliche Gegebenheit derart haben, daß sie Urpräsen-
zen voraussetzen, während sie selbst in Urpräsenz nicht zu geben
sind.«28 Die Animalia und die Menschen sind eben dieses: Wesen,
die absolut gegenwärtig sind und eine negative Spur hinterlassen.
Ein wahrnehmender Leib, den ich sehe, ist ebenso eine gewisse
Abwesenheit; sein Verhalten zieht sie nach sich, sie wird hinter
ihm zurückgelassen. Aber selbst die Abwesenheit ist in der Anwe-
senheit verwurzelt, durch ihren Leib ist die Seele des Anderen in
meinen Augen Seele. Die ›Negativitäten‹ zählen auch zu der Welt
des Sinnlichen, die also das wirklich Universelle ist.

*
Was ergibt sich aus alldem nun für die Konstitution? Indem Hus-
serl auf die vortheoretische, vorthetische oder vorobjektive Ebene
zurückgreift, hat er die Bezüge zwischen dem Konstituierten und
dem Konstituierenden umgekehrt: Das An-sich-Sein, das Sein
für einen absoluten Geist, erhält fortan seine Wahrheit von einer
›Schicht‹ her, in der es weder einen absoluten Geist noch eine Im-
manenz der intentionalen Objekte in diesem Geist gibt, sondern
nur inkarnierte Geister, die durch ihren Leib »zur selben Welt
gehören«29. Das soll natürlich nicht heißen, daß wir von der Phi-

27 Kritik der Urteilskraft.


28 Ideen II, S. 163.
29 Ebd., S. 82: »Denn logische Objektivität ist eo ipso auch Objekti-
252 Der Philosoph und sein Schatten

losophie zur Psychologie oder zur Anthropologie übergegangen


wären. Der Bezug zwischen der logischen Objektivität und der
leiblichen Intersubjektivität ist eine der doppelsinnigen Bezüge
der Fundierung, von denen Husserl an anderer Stelle spricht. Die 17
Zwischenleiblichkeit (intercorporéité) kulminiert (und verwandelt
sich) im Auftreten der bloßen Sachen, ohne daß man sagen könnte,
daß eine der beiden Ordnungen hinsichtlich der anderen primär
sei. Die Ordnung des Vorobjektiven ist nicht primär, da sie ja nur
greifbar wird und eigentlich erst im vollen Sinne des Wortes zu
existieren beginnt, wenn sie sich in der Einsetzung der logischen
Objektivität erfüllt. Diese jedoch genügt sich nicht selbst, sie
beschränkt sich darauf, die Arbeit der vorobjektiven Schicht zu
rechtfertigen, sie existiert nur als der Ertrag des ›Logos der ästhe-
tischen Welt‹ und gilt nur unter deren Kontrolle. Zwischen den
›niederen‹ und den höheren Schichten der Konstitution ahnt man
den einzigartigen Bezug der Selbstvergessenheit, die Husserl schon
in den Ideen II 30 nennt und die er später in der Theorie der Se-
dimentierung wiederaufnehmen sollte. Die logische Objektivität
leitet sich von der leiblichen Intersubjektivität (intersubjectivité
charnelle) her, vorausgesetzt, daß sie als solche vergessen worden
ist, wobei sie selbst dieses Vergessen hervorbringt, indem sie sich
zur logischen Objektivität entwickelt. Die Kräfte der Konstitu-
tion wirken also nicht in eine einzige Richtung, sie wenden sich
gegen sich selbst zurück; die Zwischenleiblichkeit (intercorporéité)
überschreitet sich und ignoriert sich schließlich als Zwischenleib-
lichkeit (intercorporéité), sie verstellt und verwandelt ihre Aus-

vität im Sinne der Intersubjektivität. Was ein Erkennender in logischer


Objektivität erkennt (also so, daß es keinen Index der Abhängigkeit des
Wahrheitsgehaltes von diesem Subjekt und seinem Bestand an Subjekti-
vitäten hat), das kann jeder Erkennende ebenso erkennen, wofern er die
Bedingungen erfüllt, denen jeder Erkennende solcher Objekte genügen
muß. Das sagt hier: er muß die Dinge und dieselben Dinge erfahren, muß,
wenn er diese Identität auch erkennen soll, mit dem anderen Erkennenden
im Einfühlungsverhältnis stehen, er muß dazu Leiblichkeit haben und zur
selben Welt gehören etc.«
30 Ebd., S. 55.
Der Philosoph und sein Schatten 253

gangssituation, und die Triebfeder der Konstitution kann weder


in ihrem Anfang noch in ihrem Ende gefunden werden.
Diese Bezüge finden sich auf jeder ihrer Stufen wieder. Die
intuitiv wahrgenommene Sache gründet auf dem Eigenleib. Das
bedeutet nicht, daß die Sache im Sinne der Psychologen aus kin-
ästhetischen Vorgängen hervorgehe. Ebensogut kann man sagen,
daß das gesamte Funktionieren des Eigenleibs an der intuitiven
Sache hängt, über der sich der Kreis des Verhaltens schließt. Der
Leib ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als die Möglichkeits-
bedingung der Sache. Wenn man von ihm zu ihr übergeht, ge-
langt man weder von einem Prinzip zu einem Schluß noch von
einem Mittel zu seinem Zweck: Man wohnt einer Art von Aus-
dehnung, Einmischung und Übergreifen bei, die den Übergang
vom Solus ipse zum Anderen, von der ›solipsistischen‹ Sache zur
intersubjektiven vorbereitet.
Denn für Husserl ist weder die ›solipsistische‹ Sache noch
der Solus ipse primär. Der Solipsismus ist ein »Gedankenexpe-
riment«,31 der Solus ipse ist ein »konstruiertes Subjekt«32. Diese
Methode des isolierenden Denkens ist eher dazu bestimmt, die
Bänder des intentionalen Gewebes aufzuzeigen als sie aufzulö-
sen. Wenn wir sie tatsächlich oder auch nur gedanklich auflösen
könnten, wenn wir den Solus ipse wirklich von dem Anderen und
der Natur abtrennen könnten (wie Husserl es, gestehen wir es
ein, bisweilen getan hat, wenn er sich den leblosen Geist, dann die
leblose Natur vorstellt, und sich fragt, was daraus für die Natur
und für den Geist folge), dann würden in jenem Bruchstück des
Ganzen, das allein übrig bliebe, die Bezüge auf das Ganze erhal-
ten bleiben, aus denen es besteht: Wir hätten immer noch nicht
den Solus ipse. »[…] Der Solus-ipse verdient seinen Namen in
Wahrheit nicht. Die Abstraktion, die wir als einsichtig berechtigte
vollzogen haben, liefert nicht den isolierten Menschen, bzw. die
isolierte menschliche Persönlichkeit. Diese Abstraktion bestand
ja auch nicht darin, daß wir einen Massenmord der Menschen

31 Ebd., S. 81.
32 Ebd.
254 Der Philosoph und sein Schatten

und Tiere unserer Umwelt veranstalteten, das eigene menschliche


Subjekt allein verschonend. Das dann als einziges verbleibende
Subjekt wäre noch immer Menschensubjekt, d.i. noch immer der
intersubjektive Gegenstand, sich selbst immer noch als solches
auffassend und setzend.«33
Diese Bemerkung hat weitreichende Folgen. Wenn man sagt,
daß das Ego ›vor‹ den Anderen allein ist, so situiert man es be-
reits im Hinblick auf das Phantom eines Anderen, so stellt man
zumindest eine Umwelt vor, in der auch Andere sein könnten.
Die wahrhafte und transzendentale Einsamkeit ist das nicht: Sie
tritt nur dort auf, wo der Andere nicht einmal vorstellbar ist,
und das erfordert, daß es nicht einmal ein Ich gibt, das sie in
Anspruch nehmen könnte. Wir sind nur dann wirklich allein,
wenn wir es nicht wissen, und eben dieses Nicht-Wissen macht
unsere Einsamkeit aus. Die besagte solipsistische ›Schicht‹ oder
›Sphäre‹ ist ohne Ego und ohne Ipse. Die Einsamkeit, aus der wir
zum intersubjektiven Leben emportauchen, ist nicht diejenige
der Monade. Es ist nur der Nebel eines anonymen Lebens, der
uns vom Sein trennt, und die Schranke zwischen uns und den
Anderen ist nicht greifbar. Wenn es einen Schnitt gibt, so nicht
zwischen mir und dem Anderen, sondern zwischen einer ur-
sprünglichen Allgemeinheit, in die wir verwickelt sind, und dem
präzisen System Ich-die Anderen. Das, was dem intersubjektiven
Leben ›vorangeht‹, kann nicht numerisch von ihm unterschieden
werden, gerade weil es ja auf dieser Ebene weder Individuation
noch numerische Unterscheidung gibt. Die Konstitution des An-
deren erfolgt nicht nach der Konstitution des Leibes, der Andere
und mein Leib entstehen gemeinsam aus der ursprünglichen
Ekstase. Die Leiblichkeit, zu der die primordiale Sache gehört,
ist eher eine Leiblichkeit im allgemeinen; wie der Egozentrismus
des Kindes, so ist die ›solipsistische Stufe‹ ebensogut ein Stadium
des Übergangs und der Verwicklung des Ichs mit dem Ande-
ren. – All das, wird man zweifellos sagen, macht gerade das aus,
was das solipsistische Bewußtsein über sich selbst denken und

33 Ebd.
Der Philosoph und sein Schatten 255

sagen würde, wenn es auf dieser Stufe denken und sprechen


könnte. Doch welche Illusion von Neutralität es auch haben mag,
es bleibt eine Illusion. Das Wahrnehmbare gibt sich als ein Sein
für ein X …, aber dennoch bin ich es und kein anderer, der jene
Farbe sieht oder jenen Ton hört, wie auch das vorpersönliche Le-
ben immer noch eine mir eigene Sicht der Welt ist. Das Kind, das
seine Mutter bittet, es über die Schmerzen zu trösten, die sie erlei-
det, ist trotz allem auf sich selbst gerichtet. – So jedenfalls bewer-
ten wir sein Verhalten, wir, die wir gelernt haben, den Schmerz
und die Freude in der Welt auf einzelnes Leben zu verteilen. Die
Wahrheit ist jedoch weniger einfach: Das Kind, das mit Zunei-
gung und Liebe rechnet, bekundet die Wirklichkeit dieser Liebe
und daß sie von ihm verstanden wird, daß es auf seine Weise
schwach und passiv seine Rolle in ihr spielt. In der Wechselbezie-
hung des Füreinander kommt es zu einer Kupplung von Egoismus
und Liebe, die deren Grenzen verwischt, zu einer Identifikation,
die über den Solipsismus hinausgeht; dies geschieht ebenso im
Falle des Herrschenden und des Ergebenen. Egoismus und Al-
truismus heben sich vor dem Hintergrund der Zugehörigkeit
zur selben Welt ab, und wollte man dieses Phänomen von ei-
ner solipsistischen Stufe her konstruieren, würde man es ein für
allemal unmöglich machen – und vielleicht das Tiefgründigste
verkennen, was Husserl uns sagt. Für jeden, der über sein Leben
nachdenkt, gibt es zwar die prinzipielle Möglichkeit, es als eine
Abfolge von privaten Bewußtseinszuständen zu betrachten, so
wie es der erwachsene und zivilisierte Europäer tut. Er tut es aber
nur, wenn er Erfahrungen vergißt oder karikierend rekonstruiert,
die diese alltäglichen und einander nachgeordneten Zeitspannen
übersteigen. Vom ›Man stirbt allein‹ kann man schlecht auf ein
›Man lebt allein‹ schließen, und wenn zur Definition der Subjek-
tivität nur der Schmerz und der Tod herangezogen werden, dann
wird das Leben mit den Anderen in der Welt unmöglich. Es geht
also nicht darum, eine Seele der Welt, der Gruppe oder des Paares
zu konzipieren, deren Instrumente wir wären, es geht vielmehr
darum, ein ursprüngliches Man zu begreifen, das seine Authenti-
zität besitzt, das auch immer bestehen bleibt, die größten Leiden-
256 Der Philosoph und sein Schatten

schaften des Erwachsenen trägt und von dem jede Wahrnehmung


die Erfahrung in uns erneuert, da ja, wie wir gesehen haben, die
Kommunikation auf dieser Ebene nicht problematisch ist und
erst zweifelhaft wird, wenn ich das Wahrnehmungsfeld außer
acht lasse, um mich auf das zu reduzieren, was die Reflexion aus
mir macht. Die Reduktion auf die ›Egologie‹ oder auf die ›Zu-
gehörigkeitssphäre‹ ist wie jede Reduktion nur ein Prüfen der
ursprünglichen Verbindungen, eine Art und Weise, sie bis in ihre
letzten Verästelungen zu verfolgen. Wenn ich ›ausgehend‹ vom
Eigenleib den Leib und die Existenz des Anderen verstehen kann,
wenn die Kompräsenz meines ›Bewußtseins‹ und meines ›Leibes‹
sich in der Kompräsenz des Anderen und meiner selbst fortsetzt,
so deshalb, weil das ›Ich kann‹ und ›Der Andere existiert‹ immer
schon zur selben Welt gehören, weil der Eigenleib die Vorahnung
des Anderen, die Einfühlung das Echo meiner Inkarnation ist, und
weil ein Aufleuchten von Sinn sie in der absoluten Gegenwart der
Ursprünge austauschbar macht.
So ist jede Konstitution im Aufblitzen der Urempfindung antizi-
piert. Das absolute Hier meines Leibes und das ›Dort‹ der wahr-
nehmbaren Sache, die nahe oder die ferne Sache, die Erfahrung,
die ich von dem mir Wahrnehmbaren habe und die der Andere
von dem ihm Wahrnehmbaren hat, stehen in der Beziehung des
›Ursprünglichen‹ zum ›Modifizierten‹: Nicht daß das ›Dort‹ ein
abgewertetes oder geschwächtes ›Hier‹ wäre, der Andere ein nach
außen projiziertes Ego,34 sondern weil, gemäß dem Wunder der 18
leiblichen Existenz (existence charnelle), mit dem ›Hier‹, dem ›Na-
hen‹, dem ›Ich‹ zugleich dort drüben das System ihrer ›Varianten‹
gesetzt ist. Jedes ›Hier‹, jede nahe Sache, jedes Ich, die in absoluter
Gegenwart erlebt werden, bezeugen über sich selbst hinaus alle
Anderen, die für mich mit jenen unvereinbar sind, die aber in
demselben Augenblick und erlebt in absoluter Gegenwart doch
anderswo sind. Die Konstitution ist weder Entwicklung eines in

34 Dennoch scheint Eugen Fink (Problèmes actuels de la phénoménolo-

gie, S. 80-81) die absolute Priorität des Wahrgenommenen bei Husserl auf
diese Weise zu verstehen.
Der Philosoph und sein Schatten 257

seinem Anfang schon angelegten Zukünftigen noch die einfache


Wirkung einer äußeren Steuerung in uns, sie ist unabhängig von
der Alternative zwischen Kontinuierlichem und Diskontinuier-
lichem: Sie ist diskontinuierlich, insofern jede Schicht aus dem
Vergessen der vorangehenden hervorgegangen ist, sie ist dagegen
von Anfang bis Ende kontinuierlich, weil dieses Vergessen nicht
einfache Abwesenheit ist – so als ob es den Anfang nicht gegeben
hätte –, sondern Vergessen dessen, daß es buchstäblich zugun-
sten von etwas war, das es in der Folge geworden ist, Verinner-
lichung im hegelschen Sinne, Erinnerung. Jede Stufe nimmt von
ihrer Stelle aus die vorangegangenen wieder auf und greift auf die
folgenden über, jede geht den anderen und sich selbst voraus und
folgt ihnen. Gewiß eben darum scheint Husserl sich nicht sehr
über die Zirkel zu wundern, auf die er im Laufe seiner Analyse
stößt: der Zirkel des Dings und der Erfahrung des Anderen, da
ja das vollständig objektive Ding in der Erfahrung der Anderen
gegründet ist, jene wiederum auf die Erfahrung des Leibes, der
selbst in gewissem Sinne ein Ding ist;35 ein weiterer Zirkel zwi-
schen der Natur und den Personen, da ja die Natur im Sinne der
Naturwissenschaften (aber auch im Sinne des Urpräsentierbaren,
das für Husserl die Wahrheit der ersten ist) zunächst einmal das
Weltall ist,36 und so auch die Personen umfaßt, die an anderer
Stelle, wo ausführlich darüber gesprochen wird, die Natur als das
Objekt umfassen, das sie gemeinsam konstituieren.37 Zweifellos

35 Ideen II, S. 80: »[…] verwickeln wir uns nicht in einen Zirkel, da doch die

Menschenauffassung die Leibesauffassung und somit die Dingauffassung voraus-


setzt?«
36 Ebd., S. 27.
37 Ebd., S. 210: »Wir geraten hier, scheint es, in einen bösen Zirkel. Denn

setzten wir zu Anfang die Natur schlechthin, in der Weise, wie es jeder Naturfor-
scher und jeder naturalistisch Eingestellte sonst tut, und faßten wir die Menschen
als Realitäten, die über ihre physische Leiblichkeit ein plus haben, so waren die
Personen untergeordnete Naturobjekte, Bestandstücke der Natur. Gingen wir
aber dem Wesen der Personalität nach, so stellte sich Natur als ein im intersub-
jektiven Verband der Personen sich Konstituierendes, also ihn Voraussetzendes
dar.«
258 Der Philosoph und sein Schatten

deshalb zögerte Husserl nicht, in einem prophetischen Text aus


dem Jahre 1912 von der Wechselbezogenheit zwischen Natur,
Leib und Seele und, wie zurecht gesagt wurde, ihrer »Gleichzei-
tigkeit«38 zu sprechen.
Diese Abenteuer der konstitutiven Analyse – diese Übergriffe,
diese Rückschläge, diese Zirkel – scheinen Husserl, wir sagten es,
nicht sehr beunruhigt zu haben. Nachdem er einmal gezeigt hat,39 19
daß die kopernikanische Welt auf die Lebenswelt und das Uni-
versum der Physik auf das des Lebens zurückverweist, sagt er ge-
lassen, man würde dies sicher »arg finden, geradezu toll«.40 Aber 20
man braucht, so fügt er hinzu, nur die Erfahrung eingehender
zu befragen41 und ihre intentionalen Implikationen aus nächster
Nähe zu verfolgen: Nichts kann sich gegenüber den Evidenzen
der Konstitutionsanalyse durchsetzen. Handelt es sich hier nun
um einen Anspruch der Wesen gegenüber den Tatsachenwahr-
heiten, liegt hier, fragt sich Husserl selbst, eine »philosophische
Hybris« vor, beansprucht das Bewußtsein wieder das Recht, sich
gegenüber und entgegen allem an seine Gedanken zu halten? Und
doch beruft sich Husserl bisweilen auf die Erfahrung wie auf ei-
nen letzten Rechtsgrund. Der Gedanke wäre dann folgender: Da
wir im Schnittpunkt von Natur, Leib, Seele und philosophischem
Bewußtsein sind und ihn erleben, kann man kein Problem er-
denken, dessen Lösung nicht in uns und im Schauspiel der Welt
vorgezeichnet wäre; es muß Mittel und Wege geben, in unserem
Denken das miteinander zu verbinden, was in unserem Leben

38 Marly Biemel, Einleitung des Herausgebers, Ideen II, S. XVII, vgl.

weiterhin: Ideen III, S. 124: »So ist das ein wichtiges Ergebnis unserer Be-
trachtung, daß die ›Natur‹ und der Leib, in ihrer Verflechtung mit diesem
wieder die Seele, sich in Wechselbezogenheit aufeinander, in eins miteinan-
der konstituieren.«
39 Umsturz der kopernikanischen Lehre in der gewöhnlichen weltan-

schaulichen Interpretation. Die Ur-Arche Erde bewegt sich nicht, 7.–9. Mai
1934.
40 Ebd.
41 Zum Beispiel: Ideen II, S. 179–180. Dieselbe Wendung am Ende von

Umsturz der kopernikanischen Lehre.


Der Philosoph und sein Schatten 259

als immer schon miteinander verbunden auftritt. Wenn Husserl


an den Evidenzen der Konstitution festhält, so ist dies nicht ein
Wahn des Bewußtseins, noch will es heißen, daß diesem das Recht
zukommt, was ihm als klar erscheint, an die Stelle der entdeck-
ten natürlichen Abhängigkeiten zu setzen; es geschieht vielmehr
deshalb, weil das transzendentale Feld aufgehört hat, nur das Feld
unserer Gedanken zu sein, um vielmehr das Feld der vollständi-
gen Erfahrung zu werden; denn Husserl vertraut der Wahrheit,
in der wir uns von Geburt an befinden und worin die Wahrhei-
ten des Bewußtseins und der Natur enthalten sein müssen. Die
›Rückdeutungen‹ der Konstitutionsanalyse bestreiten nicht die
Geltung der Prinzipien einer Bewußtseinsphilosophie, weil diese
sich erweitert oder genügend verwandelt hat, um für alles, auch
für das, was ihr zuwiderläuft, aufnahmefähig zu sein.
Daß die Möglichkeit der Phänomenologie für diese selbst frag-
21 würdig ist, daß es eine ›Phänomenologie der Phänomenologie‹
gibt, von welcher der letzte Sinn aller vorausgehenden Analysen
abhängt, daß die vollständige, abgeschlossene oder auf sich beru-
hende Phänomenologie problematisch bleibt, hat Husserl später
gesagt, doch ist es schon bei der Lektüre der Ideen II ersichtlich.
Er verheimlicht uns nicht, daß die intentionale Analytik uns
gleichzeitig in zwei entgegengesetzte Richtungen führt: Auf der
einen Seite steigt sie herab zur Natur, zur Sphäre des Urpräsen-
tierbaren, während sie auf der anderen Seite zur Welt der Perso-
nen und der Geister hingezogen wird. So sagt er: »Das braucht
nicht zu besagen und soll das auch nicht, daß die beiden Welten
gar nichts miteinander zu tun haben, daß ihre Sinne nicht We-
sensbeziehungen zwischen ihnen herstellen. Wir kennen ja sonst
kardinale Unterschiede von ›Welten‹, die doch durch Sinnes- und
Wesensbeziehungen vermittelt sind. Wir könnten hinweisen auf
das Verhältnis von Ideenwelt und Erfahrungswelt oder auf das
Verhältnis der ›Welt‹, des reinen phänomenologisch reduzierten Be-
wußtseins zur Welt der in ihm konstituierten transzendenten Ein-
heiten.«42 Es bestehen also Probleme der Vermittlung zwischen

42 Ideen II, S. 210 f., Hervorhebungen sind von uns eingefügt.


260 Der Philosoph und sein Schatten

der Welt der Natur und der Welt der Personen – mehr noch:
zwischen der Welt des konstituierenden Bewußtseins und den
Ergebnissen der Konstitution; und die letzte Aufgabe der Phä-
nomenologie als Philosophie des Bewußtseins ist es, ihren Bezug
zur Nicht-Phänomenologie zu verstehen. Was in uns der Phäno-
menologie widerstrebt – das natürliche Sein, jenes »barbarische
Prinzip«, von dem Schelling sprach –, kann nicht außerhalb der 22
Phänomenologie bleiben, sondern muß in ihr selbst seinen Platz
finden. Der Philosoph wirft seinen Schlagschatten, der nicht bloß
die tatsächliche Abwesenheit künftigen Lichtes ist. Es besteht ge-
mäß Husserl schon eine ganz »außerordentliche« Schwierigkeit
darin, die Beziehung der »Naturwelt« zur »Geisteswelt« nicht nur
zu »erfassen«, sondern »von innen her zu verstehen«. Diese wird
wenigstens in unserem Leben praktisch überwunden, da wir mü-
helos und immer wieder von der naturalistischen Einstellung in
die personalistische gleiten. Es geht nur darum, die Reflexion dem
anzugleichen, was wir in ganz natürlicher Weise tun, indem wir
von einer Einstellung zur anderen übergehen, und darum, die
intentionalen Auffassungs- und Erfahrungsänderungen und die
Wesenszusammenhänge der konstituierenden Mannigfaltigkei-
ten, die über die Seinsunterschiede zwischen den konstituierten
Sachen Aufschluß geben, zu beschreiben. Die Phänomenologie
kann hier das, was verworren ist, entwirren, sie kann Mißver-
ständnisse beheben, die darauf zurückzuführen sind, daß wir
natürlicherweise und ohne unser Wissen von einer Einstellung
zur anderen übergehen. Wenn aber diese Mißverständnisse und
jener ›natürliche‹ Übergang bestehen, so sicher deshalb, weil es
prinzipiell schwierig ist, die Verknüpfung zwischen der Natur
und den Personen aufzuklären. Wie soll es erst werden, wenn es
nötig wird, den Übergang von der naturalistischen oder perso-
nalistischen Einstellung zum absoluten Bewußtsein, von den na-
türlichen Vermögen zu einer künstlichen Einstellung43 von innen
heraus zu verstehen – einer künstlichen Einstellung, die in Wahr-
heit nicht mehr eine Einstellung unter anderen sein soll, sondern

43 Ebd., S. 180.
Der Philosoph und sein Schatten 261

die Einsicht in alle Einstellungen, das in uns sprechende Wesen


selbst? Was ist diese ›Innerlichkeit‹, die fähig sein soll, die Be-
züge des Inneren und des Äußeren selbst zu erfassen? Da Husserl
selbst – wenigstens implizit und a fortiori – diese Frage stellt,44
bedeutet dies, daß für ihn weder die Nicht-Philosophie von vorn-
herein in der Philosophie noch das transzendent ›Konstituierte‹
in der Immanenz des Konstituierenden enthalten ist; doch ahnt er
zumindest hinter der transzendentalen Genesis eine Welt, in der
alles gleichzeitig ist, µοω
πàντα.
Ist dieses letzte Problem verwunderlich? Hatte Husserl nicht
von Anfang an darauf hingewiesen, daß jede transzendentale Re-
duktion unvermeidlich eidetisch ist? Das heißt, daß die Reflexion
das Konstituierte nur in seinem Wesen erfaßt, daß sie keine Koin-

44 Ebd., den Text, den wir kommentieren: »Auf eine solche neue Ein-

stellung, die in gewissem Sinn sehr natürlich, aber nicht natural ist, haben
wir es jetzt abgesehen. ›Nicht natural‹, das sagt, daß das in ihr Erfahrene
nicht Natur ist im Sinne aller Naturwissenschaften, sondern sozusagen
ein Widerspiel der Natur. Selbstverständlich liegt die ganz ausnehmende
Schwierigkeit, den Gegensatz nicht nur zu erfassen, sondern von innen
her zu verstehen, nicht im Vollzug der Einstellungen. Denn sehen wir von
der allerdings künstlichen Einstellung auf das reine Bewußtsein ab, dieses
Residuum der verschiedenen Reduktionen, so gleiten wir beständig ganz
mühelos von einer Einstellung in die andere, von der naturalistischen in
die personalistische, in den bezüglichen Wissenschaften von der naturwis-
senschaftlichen in die geisteswissenschaftliche. Die Schwierigkeiten liegen
in der Reflexion und in dem phänomenologischen Verständnis der Auffas-
sungs- und Erfahrungsänderungen und der durch sie konstituierten Kor-
relate. Nur im Rahmen der Phänomenologie, durch Beziehung der Seins-
unterschiede der sich konstituierenden Gegenstände auf die korrelativen
Wesenszusammenhänge der entsprechenden konstituierenden Mannigfal-
tigkeiten, sind diese Unterschiede unverwirrt zu erhalten, in absolut siche-
rer Sonderung, frei von allen Mißdeutungen, die in den unwillkürlichen
und bei Mangel an reiner Reflexion unmerklichen Einstellungsänderungen
ihre Quelle haben. Durch Rückgang auf das absolute Bewußtsein und die
in ihm zu verfolgenden gesamten Wesenszusammenhänge sind allererst
die sinngemäßen Relativitäten der betreffenden Gegenständlichkeiten der
einen und anderen Einstellungen und ihrer wechselseitigen Wesensbezie-
hungen zu verstehen.«
262 Der Philosoph und sein Schatten

zidenz ist, daß sie sich nicht auf eine einfache Produktion verlegt,
sondern das Schema des intentionalen Lebens nur re-produziert.
Er stellt den ›Rückgang auf das absolute Bewußtsein‹ immer als
eine zusammenfassende Bezeichnung für eine Vielzahl von Voll-
zügen vor, die erlernt werden, nach und nach ausgeführt werden
und niemals abgeschlossen sind. Niemals sind wir eins mit der
konstitutiven Erzeugung, und wir begleiten sie kaum über kurze
Strecken hinweg. Was ist es also (wenn diese Worte einen Sinn
haben), was auf der anderen Seite der Sachen unserer Re-Konsti-
tution entspricht? Auf unserer Seite gibt es nichts als konvergie-
rende, aber diskontinuierliche Absichten, nichts als Augenblicke
der Klarheit. Das konstituierende Bewußtsein konstituieren wir
nur mit Hilfe seltener und diffiziler Anstrengungen. Es ist das
präsumtive oder vorausgesetzte Subjekt unserer Versuche. Der
Autor, sagte Valéry, ist derjenige, der ein Werk, das langsam und
mühevoll entstand, augenblicklich denkt – und dieser Denkende
ist nirgendwo. Wie der Autor für Valéry eine Hochstapelei des
Schriftstellers ist, so ist das konstituierende Bewußtsein die beruf-
liche Hochstapelei des Philosophen … Es ist für Husserl auf jeden
Fall das Artefakt, auf das die Teleologie des intentionalen Lebens
zuläuft – und nicht das spinozistische Attribut des Denkens.
Als Projekt einer intellektuellen Inbesitznahme der Welt wird
die Konstitution für den reiferen Husserl immer mehr zu dem
Mittel, eine Rückseite der Dinge zu enthüllen, die wir nicht kon-
stituiert haben. Es bedurfte jenes überschwenglichen Versuchs,
alles den Regeln des ›Bewußtseins‹ zu unterwerfen, dem durch-
sichtigen Spiel seiner Einstellungen, seiner Intentionen und sei-
ner Sinngebungen – es mußte das Bild einer vernünftigen Welt,
das die klassische Philosophie uns hinterlassen hat, erst vollendet
werden –, um alles andere zu enthüllen: Jene Seinsarten, unter-
halb unserer Idealisierungen und Objektivierungen, die sie heim-
lich nähren und in denen man kaum Noemata erkennen kann,
die Erde zum Beispiel, die nicht in Bewegung ist wie die objek-
tiven Körper, aber ebensowenig in Ruhe, weil man nicht sieht,
woran sie »angeschmiedet« wäre – »Boden« oder »Träger« un- 23
seres Denkens wie unseres Lebens, den wir zwar verlagern oder
Der Philosoph und sein Schatten 263

übertragen können, wenn wir andere Planeten bewohnen wer-


den, dann aber nur deshalb, weil wir unsere Heimstätte erweitert
24 haben – wir können sie nicht einfach abschaffen. Wie die Erde per
definitionem einzig ist, jeder Boden, den wir betreten, sogleich zu
einer Heimstätte wird, so werden die Lebewesen, mit denen die
Kinder der Erde zukünftig kommunizieren werden, zu Menschen
– oder, wenn man will, die Erdenmenschen zu Varianten einer
allgemeineren Menschheit, die einzig bleiben wird. Die Erde ist
die Matrix unserer Zeit wie unseres Raumes: Jeder konstruierte
Zeitbegriff setzt unsere Urgeschichte als leibliche Wesen voraus,
die mit einer einzigen Welt kompräsent sind. Jedes Anspielen auf
mögliche Welten führt uns zurück auf unsere Welt-anschauung.
Jede Möglichkeit ist eine Variante unserer Wirklichkeit, ist »Mög-
25 lichkeit an Wirklichkeit« … Diese Analysen des späten Husserl45
sind weder skandalös noch erstaunlich, wenn man sich an all das
erinnert, was schon von Anfang an ankündigt wurde. Sie explizie-
ren die ›Weltthesis‹ vor jeder Thesis und jeder Theorie, diesseits
der Objektivierungen der Erkenntnis, von der Husserl immer ge-
sprochen hat und die für ihn zu unserer einzigen Ausflucht aus
der Sackgasse geworden ist, in die diese das abendländische Wis-
sen geführt haben.
Wohl oder übel, entgegen seinen Plänen und gemäß seiner äu-
ßersten Kühnheit erweckt Husserl eine wilde Welt (monde sau-
vage) und einen wilden Geist (esprit sauvage). Die Dinge sind da,
nicht mehr nur wie in der Perspektive der Renaissance gemäß
ihrer projektiven Erscheinung und nach den Erfordernissen des
Panoramas, sondern im Gegenteil aufrecht, eindringlich, mit ih-
ren Kanten den Blick verletzend, jedes eine absolute Gegenwart
beanspruchend, die mit der der anderen unvereinbar ist und die
sie dennoch alle gemeinsam haben kraft eines Gestaltungssinnes,
von dem der ›theoretische Sinn‹ uns keine Idee vermittelt. Die
Anderen sind ebenfalls da (sie waren schon da mit der Gleich-
zeitigkeit der Dinge), zunächst nicht als Geister, nicht einmal als

45 Wir resümieren hier das oben zitierte Fragment Umsturz der koper-

nikanischen Lehre.
264 Der Philosoph und sein Schatten

›Psychismen‹, aber zum Beispiel in der Art, wie wir mit ihnen im
Zorn oder in der Liebe in Berührung kommen. Es sind Gesichter,
Gebärden, Worte, auf die wir mit unseren Blicken, Gebärden und
Worten antworten, ohne ein Denken dazwischen zu setzen – so
daß wir manchmal ihre Worte gegen sie kehren, noch bevor sie
uns erreicht haben, genauso sicher, ja sicherer noch, als wenn wir
verstanden hätten; jeder trägt die Anderen in sich und wird durch
sie in seinem Leib bestätigt. Diese barocke Welt ist nicht ein Zuge-
ständnis des Geistes an die Natur: Denn wenn sich der Sinn über-
all symbolisch darstellt, so handelt es sich doch überall um Sinn.
Diese Erneuerung der Welt ist auch eine Erneuerung des Geistes,
eine Wiederentdeckung des rohen Geistes (l’esprit brut), der von
keiner Kultur gebändigt wurde, und dem es aufgetragen ist, aufs
neue die Kultur zu schaffen. Das Irrelative ist nun nicht die Natur
an sich, noch das System der Inhalte des absoluten Bewußtseins
und ebensowenig der Mensch, sondern jene »Teleologie«, von der
Husserl spricht – die in Anführungsstrichen geschrieben und ge-
dacht wird –, als ein Gefüge und Gerippe des Seins, das sich durch
den Menschen erfüllt.
1 BE RG S ON I M W E R DE N 1

Es gibt mehr als nur ein Paradox im Schicksal des Bergsonismus.


2 Dieser Philosoph der Freiheit, sagte Péguy 1913, hatte die radi-
kale Partei und die Universität gegen sich; dieser Gegner Kants
hatte die Partei der Action française gegen sich; dieser Freund
des Geistes hatte die Partei der Frommen gegen sich; also nicht
nur all seine natürlichen Feinde, sondern auch die Feinde sei-
ner Feinde. In jenen Jahren, in denen er eine Vorliebe zu haben
schien für Querdenker wie Péguy und Georges Sorel, könnte man
Bergson beinahe als einen gesellschaftlich geächteten Philoso-
phen beschreiben – wenn man außer Acht ließe, daß zur selben
Zeit bereits seit dreizehn Jahren eine einhellig begeisterte Zuhö-
rerschaft seine Vorlesungen am Collège de France besuchte und
3 daß er seit zwölf Jahren Mitglied einer Akademie war und bald
schon Mitglied der Académie sein würde.
Die Generation, der ich angehöre, kannte nur den zweiten
Bergson, der sich bereits aus der Lehre zurückgezogen hatte und
4 der während der langen Arbeit an den Deux Sources beinahe völ-
lig verstummte, der vom Katholizismus bereits eher wie ein Licht
der Erkenntnis als wie eine Gefahr betrachtet und der in den
Klassen bereits von den rationalistischen Lehrern gelehrt wurde.
Unter den Älteren von uns, die er geprägt hatte, ohne daß es je
eine Bergsonsche Schule gegeben hätte, genoß er großes Anse-
hen. Erst in jüngster Zeit konnte man einen mißtrauischen, ex-
klusiven Post-Bergsonismus auf den Plan treten sehen, als würde
man Bergson nicht größere Ehre erweisen, indem man zugibt,
daß er allen gehört …

1 Dieser Text wurde auf der Sitzung zu Ehren Bergsons gelesen, die

den Bergson-Kongreß vom 17.–20. Mai 1959 beschloß, und er wurde im


Bulletin de la Société Française de Philosophie veröffentlicht.
266 Bergson im Werden

Wie konnte er, der die Philosophie und die Geisteswissen-


schaften erschüttert hatte, zu diesem beinahe kanonischen Au-
tor werden? Ist er es, der sich verändert hat? Wir werden sehen,
daß er selbst sich kaum verändert hat. Oder hat er vielmehr sein
Publikum verändert, hat er es durch seine ihm eigene Verwegen-
heit für sich gewinnen können? Die Wahrheit ist, daß es zwei
Bergsonismen gibt, den der Kühnheit, als die Philosophie Berg-
sons sich ihren Platz erkämpfte und sich, wie Péguy sagt, sehr gut 5
schlug – und den nach dem Sieg, der von vornherein von dem
überzeugt ist, was Bergson lange Zeit zu finden bemüht war, der
bereits mit Begriffen versehen ist, wo Bergson seinerseits seine
Begrifflichkeiten zu prägen suchte. Setzt man die Bergsonschen
Intuitionen mit dem verschwommenen Anliegen des Spiritualis-
mus oder einem beliebigen anderen Gebilde gleich, so verlieren
sie ihre Schärfe, sie werden verallgemeinert und auf ein Mini-
mum herabgesetzt. Es bleibt dann nur noch ein retrospektiver
oder äußerlicher Bergsonismus übrig. Dieser Bergsonismus hat
seine Formel gefunden, als Pater Sertillanges schrieb, die Kir-
che würde Bergson heutzutage nicht mehr auf den Index set-
zen, nicht etwa weil sie auf ihr Urteil von 1913 zurückkommen
würde, sondern weil sie jetzt wisse, wie das Werk enden müsse …
Bergson selbst hat nicht darauf gewartet zu wissen, wohin sein
Weg führt, um ihn einzuschlagen oder vielmehr um ihn zu be-
reiten. Er hat nicht die Deux Sources abgewartet, um sich Ma-
tière et Mémoire und die Évolution Créatrice zu erlauben. Selbst 6
wenn die Deux Sources die verworfenen Werke korrigierten, so
wurde ihr Sinn doch nicht ohne diese Werke verständlich, sie
wären ohne sie nicht so berühmt. Das eine geht nicht ohne das
andere. Man gelangt nicht ohne jedes Risiko zur Wahrheit. Es
gibt keine Philosophie mehr, wenn man gleich zu Anfang auf
die Schlußfolgerungen achtet; der Philosoph sucht nicht nach
Abkürzungen, sondern nimmt den ganzen Weg. Der etablierte
Bergsonismus entstellt Bergson. Bergson beunruhigte, er aber
beruhigt. Bergson, das war eine Eroberung, der Bergsonismus
hingegen verteidigt und rechtfertigt Bergson. Bergson, das be-
deutete, in Berührung mit den Dingen zu stehen, während der
Bergson im Werden 267

Bergsonismus nur eine Sammlung vorgefertigter Meinungen ist.


Es sollte nicht so sein, daß uns die Aussöhnungsversuche und
die Feiern den Weg vergessen lassen, den nur Bergson vorge-
zeichnet und den er nie verleugnet hat, diese direkte, nüchterne,
unmittelbare und ungewöhnliche Art und Weise, die Philoso-
phie noch einmal zu beginnen, in der Erscheinung und dem
Absoluten vor unseren Augen das Tieferliegende zu suchen –
und schließlich sollten wir, bei allem Anstand, nicht den Ent-
deckergeist vergessen, der doch die erste Quelle des Bergsonismus
ist.
Er beendete seine Vorlesung von 1911 mit jenen Worten, die in
der Zeitschrift Les Études zu lesen sind: »Wenn der Gelehrte, der
Künstler und der Philosoph sich ständig um eine Verbesserung
ihres Rufs bemühen, dann deshalb, weil ihnen die absolute Si-
cherheit fehlt, eine realisierbare Sache geschaffen zu haben. Gebt
ihnen diese Versicherung, und ihr werdet sie alsbald wenig Wert
7 legen sehen auf das Aufsehen, das ihr Name erregt.« Am Ende
wünschte er sich als einziges, lebendige Bücher geschrieben zu
haben. Dies aber können wir nur bezeugen, wenn wir feststellen,
auf welche Weise er in unserer Arbeit präsent ist, auf welchen
Seiten seines Werkes wir ihn, mit unseren Vorlieben und unseren
Voreingenommenheiten, wie seine Zuhörer von 1900, ›in Berüh-
rung mit der Sache‹ zu empfinden meinen.

*
Philosoph ist er zunächst durch seine Art und Weise, die ganze
Philosophie, gewissermaßen ohne daß er darum wußte, wieder-
zuentdecken, indem er eines der Prinzipien der Mechanik unter-
suchte, auf die sich Spencer ohne systematische Strenge bezog.
Bei dieser Gelegenheit bemerkt er, daß wir der Zeit nicht näher-
kommen, wenn wir sie mit genauen Maßeinheiten in die Zange
zu nehmen suchen, sondern daß man sie, ganz im Gegenteil und
sofern man sich eine Vorstellung von ihr machen will, frei ent-
stehen lassen muß, daß man der fortwährenden Geburt beiwoh-
nen muß, die sie immer wieder neu und, gerade dadurch, immer
wieder gleich hervorbringt.
268 Bergson im Werden

Sein philosophischer Blick hat darin etwas anderes und mehr


gefunden, als er gesucht hatte. Denn wenn dies die Zeit ist, dann
ist sie nichts, das ich von außen sehen könnte. Von außen hätte
ich von ihr nur die Spur, ich würde den Zeugungsdrang nicht
miterleben. Die Zeit bin also ich selbst, ich bin die Dauer, die ich
erfasse, und in mir ist es die Dauer, die sich selbst erfaßt. Und von
nun an befinden wir uns im Absoluten. Ein seltsames absolutes
Wissen, da wir weder all unsere Erinnerungen noch die ganze
Dichte unserer Gegenwart kennen, und da meine Berührung mit
mir selbst eine »partielle Koinzidenz« ist – ein Wort, das Bergson 8
häufig verwenden wird und das, offen gesagt, problematisch ist.
In jedem Fall läßt sich, wenn es sich um mich handelt, sagen,
daß die Berührung absolut ist, gerade weil sie partiell ist, daß
ich die Dauer als Person erfasse, weil ich in meiner Dauer ge-
nommen wurde, daß ich von ihr eine Erfahrung habe, die man
weder als enger noch als weiter begreifen könnte, weil die Dauer
über mich hinausreicht. Das absolute Wissen ist kein Überblicks-
wissen, sondern ein inhärentes Wissen. Im Jahr 1889 ist es eine 9
große Neuerung mit Zukunft, in der Philosophie kein ›Ich denke‹‚
und seine immanenten Gedanken zum Prinzip werden zu lassen,
sondern ein Selbst-sein, dessen Zusammenhalt auch eine Tren-
nung ist.
Da ich hier mit einer Nicht-Koinzidenz zusammenfalle, ist die
Erfahrung imstande, sich über das partikulare Sein, das ich bin,
hinaus zu erstrecken. Die Intuition meiner Dauer ist das Erlernen
einer allgemeinen Weise des Sehens, das Prinzip einer Art von
Bergsonscher ›Reduktion‹, die alle Dinge sub specie durationis er-
neut betrachtet – auch das, was man Subjekt und Objekt nennt,
sogar das, was als Raum bezeichnet wird: Denn man sieht bereits,
wie sich ein Innenraum abzeichnet, eine Ausdehnung, welche die
Welt ist, in der Achilles läuft. Es gibt Seinsformen oder Struktu-
ren wie die Melodie (Bergson sagt: Organisationen), die nichts
als eine bestimmte Art des Dauerns sind. Die Dauer ist nicht nur
Veränderung, Werden, Bewegung, sie ist das Sein, im lebendigen
und aktiven Sinne des Wortes. Die Zeit wird nicht an die Stelle
des Seins gesetzt, sie wird als ein entstehendes Sein verstanden,
Bergson im Werden 269

und es ist nun das gesamte Sein, das man von der Seite der Zeit
aus angehen muß.
Man sah dies sehr gut, als Matière et Mémoire erschien, oder
zumindest hätte man es sehen müssen. Aber das Buch über-
raschte, es erschien obskur; bis heute ist es das am wenigsten
gelesene der bedeutenden Bücher Bergsons. Und dennoch wer-
den gerade in diesem Buch das Feld der Dauer und die Praxis
der Intuition auf entscheidende Weise erweitert. Indem er, wie
er sagte, das vorangegangene Buch vergaß, einer anderen Linie
von Tatsachen um ihrer selbst willen folgte und mit der Zusam-
mensetzung aus Seele und Körper in Berührung kam, wurde
Bergson wieder auf die Dauer zurückgeführt, aber sie erhielt in
dieser anderen Annäherung neue Dimensionen, und es hieße,
das Gesetz einer Philosophie ignorieren, die keinen Anspruch
auf Systematik, sondern auf eine Fülle der Reflexion erhebt und
die das Sein sprechen lassen will, wenn man Bergson hier das
vorwerfen wollte, was man eine Bedeutungsverschiebung nennt
und was letztlich die Suche selbst ist. Von nun an ist die Dauer
das Milieu, in dem die Seele und der Körper ihre Artikulation
finden, weil die Gegenwart und der Körper, die Vergangenheit
und der Geist, die in der Natur so verschieden sind, gleichwohl
ineinander übergehen. Die Intuition ist ganz entschieden keine
einfache Koinzidenz oder Fusion mehr: Sie erstreckt sich auf
›Grenzen‹, wie die reine Wahrnehmung oder das reine Bewußt-
sein, aber auch auf das zwischen beiden Liegende, auf ein Sein,
das sich, wie Bergson sagt, der Gegenwart und dem Raum genau
in dem Maße öffnet, in dem es auf eine Zukunft abzielt und über
eine Vergangenheit verfügt. Es gibt ein Leben, Maurice Blondel
müßte sagen: eine ›Hybridisierung‹ der Intuitionen, eine ›zweifa-
che Ausdehnung‹ in Richtung der Materie und des Bewußtseins.
Indem sie die Gegensätze in ihrer extremen Unterschiedlichkeit
aufgreift, sieht die Intuition, wie sie sich vereinigen.
Man würde Bergson beispielsweise in höchstem Maße entstel-
len, wenn man die in Matière et Mémoire gegebene erstaunliche
Beschreibung des wahrgenommenen Seins auf ein Minimum
herabsetzte. In keiner Weise sagt er, die Dinge seien im restrikti-
270 Bergson im Werden

ven Sinne Bilder, sei es des ›Psychischen‹ oder der Seelen – er sagt
vielmehr, ihre Fülle unter meinem Blick bestehe darin, daß es so
ist, als würde sich meine Sicht der Dinge eher in ihnen als in mir
herausbilden, als sei die Tatsache, gesehen zu werden, nur eine
Herabwürdigung ihres eminenten Seins, als sei der Umstand,
›vorgestellt‹ zu werden – in der ›Dunkelkammer‹ des Subjekts
zu erscheinen, sagt Bergson –, nicht ihre Definition, sondern das
Resultat ihrer natürlichen Überfülle. Noch nie hatte man zwi-
schen mir und dem Sein diesen Kreis geschlossen, der das Sein
›für mich‹ zum Zuschauer werden läßt, den Zuschauer jedoch
im Gegenzug ›für das Sein‹ da sein läßt. Nie zuvor hatte man
auf diese Weise das rohe Sein (l’être brut) der wahrgenommenen
Welt beschrieben. Indem er ihn nach der entstehenden Dauer
enthüllt, findet Bergson im Innersten des Menschen wieder einen
vorsokratischen und ›vormenschlichen‹ Sinn der Welt.
Durée et simultanéité, das – wie Bergson immer wieder be- 10
tont – ein philosophisches Buch ist, wird sich noch resoluter in
der wahrgenommenen Welt einrichten. Heute wie vor 35 Jahren
werfen die Physiker Bergson vor, in die relativistische Physik den
Beobachter einzuführen, der – so behaupten sie – die Zeit nur
relativ zu den Meßinstrumenten oder zum Bezugssystem setzt.
Was Bergson jedoch zeigen will, ist genau dies, daß es keine Si-
multaneität zwischen Dingen an sich gibt, die, so nah sie auch
beieinander sein mögen, jedes für sich sind. Nur wahrgenom-
mene Dinge können an derselben Linie der Gegenwart teilhaben
– und zum Ausgleich gibt es, sobald es Wahrnehmung gibt und
ohne jede Maßgabe, eine Simultaneität des einfachen Blickes,
nicht nur zwischen zwei Ereignissen desselben Feldes, sondern
sogar zwischen allen Wahrnehmungsfeldern, allen Beobachtern,
allen Dauern. Wenn man alle Beobachter auf einmal nähme, und
nicht so, wie sie von einem unter ihnen gesehen werden, son-
dern so, wie sie für sich selbst und im Absoluten ihres Lebens
sind, dann würden diese vereinzelten Dauern, die nicht mehr
aufeinander angewendet werden und die nicht mehr gegenseitig
als Maßstab dienen könnten, keinerlei zeitlichen Abstand mehr
bieten und folglich aufhören, das Universum der Zeit aufzuteilen.
Bergson im Werden 271

Diese gemeinsame Einsetzung aller Dauern, die an ihrer inneren


Quelle nicht möglich ist, da jeder von uns nur mit seiner eigenen
Quelle koinzidiert, entsteht Bergson zufolge dann, wenn sich die
inkarnierten Subjekte gegenseitig wahrnehmen, wenn sich ihre
Wahrnehmungsfelder überschneiden und überlagern, wenn sie
sich gegenseitig dabei sehen, wie sie die gleiche Welt wahrneh-
men. Die Wahrnehmung schreibt in ihrer eigenen Ordnung eine
universelle Dauer fest, und die Formeln, die es erlauben, von
einem Bezugssystem zum anderen überzugehen, sind, wie die
ganze Physik, sekundäre Objektivierungen, die weder über das
entscheiden können, was in unserer Erfahrung als inkarnierte
Subjekte einen Sinn hat, noch über das gesamte Sein. Das be-
deutete, eine Philosophie zu entwerfen, die das Universelle auf
dem Mysterium der Wahrnehmung gründen und beabsichtigen
würde, genau wie Bergson es gesagt hatte, sie nicht zu überflie-
gen, sondern sich in sie zu versenken.
Die Wahrnehmung ist bei Bergson die Gesamtheit dieser
11 »komplementären Kräfte des Verstandes«, die nach Maßgabe des
Seins allein bestehen und die, indem sie uns für das Sein öffnen,
»in den Operationen der Natur ihr eigenes Wirken bemerken«.
Wenn wir das Leben nur wahrzunehmen wissen, dann wird sich
das Sein des Lebens als vom selben Typ zeigen wie jene einfachen
und ungeteilten Seinsformen, deren Modell uns die Dinge vor
unseren Augen dargeboten haben, die älter sind als alles künst-
lich erzeugte, und der Lebensvollzug wird uns wie eine Art der
Wahrnehmung erscheinen. Wenn man feststellt, daß sie einen
visuellen Apparat durch lange Vorbereitungen in eine Evolu-
tionslinie einreiht, und denselben Apparat bisweilen sogar in
divergente Evolutionslinien, dann meint man, eine einmalige
Geste zu sehen, so wie die Geste meiner Hand für mich, jenseits
der konvergierenden Details, einmalig ist, und das ›Fortschrei-
ten zum Sehen‹ in den Spezies entzieht sich dem totalen Akt des
12 Sehens, wie ihn Matière et Mémoire beschrieben hatte. Bergson
bezieht sich ausdrücklich auf diesen Akt. Er ist es, so sagt er, der
mehr oder weniger in die Organismen hinabsteigt. Dies bedeutet
nicht, daß die Welt des Lebens eine menschliche Vorstellung sei,
272 Bergson im Werden

ebensowenig übrigens wie die menschliche Wahrnehmung ein


kosmisches Produkt ist: Es bedeutet, daß die originäre Wahrneh-
mung, die wir in uns wiederfinden, und diejenige, die in der Evo-
lution wie ihr inneres Prinzip erscheint, sich ineinander flechten,
aufeinander übergreifen oder sich miteinander verknüpfen. Ob
wir nun in uns die Offenheit zur Welt wiederfinden oder aber das
Leben von innen heraus begreifen, es ist stets dieselbe Spannung
zwischen einer Dauer und einer anderen Dauer, die sie von au-
ßen her begrenzt.
Man sieht also beim Bergson von 1907 recht gut die Intuition
der Intuitionen, die zentrale Intuition, und sie ist weit davon
entfernt, ein ›je ne sais quoi‹ oder ein Faktum von unkontrollier-
barer Genialität zu sein, wie zu unrecht behauptet wurde. Wa-
rum sollte die Quelle, aus der er schöpft und aus der er den Sinn
seiner Philosophie bezieht, nicht einfach die Artikulation dieser
Landschaft in seinem Inneren sein, die Art und Weise, wie sein
Blick auf die Dinge oder das Leben trifft, sein Lebensbezug zu
sich selbst, zur Natur und zu den Lebenden, seine Berührung mit
dem Sein in uns und außer uns? Und ist für diese unerschöpf-
liche Intuition nicht die sichtbare und selbst existierende Welt,
so wie sie Matière et Mémoire beschrieb, das beste ›vermittelnde
Bild‹? Selbst wenn er auf dem höchsten Punkt zur Transzendenz
übergehen wird, so wird Bergson denken, nur durch eine Art
der ›Wahrnehmung‹ Zugang zu ihr finden zu können. Das Le-
ben, das auf einer Ebene unter uns die Probleme stets anders
löst als wir es getan hätten, gleicht auf jeden Fall weniger einem
menschlichen Geist als diesem imminenten oder eminenten Se-
hen, das Bergson in den Dingen erahnte. Das wahrgenommene
Sein ist dieses spontane oder natürliche Sein, das die Cartesia-
ner nicht gesehen haben, weil sie das Sein auf dem Grund des
Nichts suchten und weil sie, wie Bergson sagt, des Notwendigen
bedurften, um ›das Nichtvorhandensein zu besiegen‹. Er hinge-
gen beschreibt ein präkonstituiertes Sein, das stets am Horizont
unserer Reflexionen angenommen wird, das immer schon da
ist, um die Angst und den aufkommenden Schwindel zu ent-
schärfen.
Bergson im Werden 273

Es stellt sich wirklich die Frage, warum er nicht auch die Ge-
schichte von innen her gedacht hat, so wie er das Leben von innen
her gedacht hatte, warum er nicht auch dort nach einfachen und
ungeteilten Akten gesucht hat, die für jeden Zeitabschnitt oder
jedes Ereignis die Anordnung der parzellierten Fakten bestim-
men. Mit der Annahme, jeder Zeitabschnitt sei alles, was er zu
sein vermag, ein vollständiges, ganz im Akt aufgehendes Ereignis,
und die Vorromantik sei beispielsweise eine nachromantische Il-
lusion, scheint Bergson ein für alle Mal diese Tiefengeschichte
zurückzuweisen. Dennoch hatte Péguy das Eintreten des Ereig-
nisses zu beschreiben versucht, wenn einige etwas beginnen und
andere antworten – ebenso wie die historische Vollendung, die
Antwort einer Generation auf das, was von einer anderen Gene-
ration begonnen wurde. Er sah das Wesen der Geschichte in die-
ser Verbindung der Individuen und der Zeiten, die schwierig ist,
da der Akt, das Werk und die Vergangenheit in ihrer Einfachheit
für jene unzugänglich sind, die sie von außen her sehen – denn
für die Revolution eines Tages bedarf es vieler Jahre, bis Ge-
schichte aus ihr wird, und diese Seite, die innerhalb einer Stunde
geschrieben wurde, kann durch keinen unendlichen Kommentar
ausgeschöpft werden. Die Chancen auf einen Irrtum, einen Ab-
weg oder ein Scheitern sind sehr groß. Es ist jedoch das grausame
Gesetz derer, die schreiben, die handeln oder die ein öffentliches
Leben führen – das heißt letztlich aller inkarnierten Geister –, von
den Anderen oder den Nachfolgern eine andere Vollendung des-
sen, was sie tun, zu erwarten – eine andere und dieselbe, bemerkt
Péguy tiefgründig, weil auch sie Menschen sind, genauer gesagt:
Weil sie sich, im Rahmen dieser Substitution, auf eine Stufe mit
dem anfänglichen Wegbereiter stellen, zu Seinesgleichen werden.
Darin liegt, sagte er, eine Art Skandal, aber ein ›gerechtfertigter
Skandal‹ und infolgedessen ein ›Mysterium‹. Der Sinn bildet sich
erneut auf die Gefahr hin, sich aufzulösen, es ist ein redseliger
Sinn, der sehr wohl mit der Bergsonschen Definition des Sinns
übereinstimmt, der zufolge er »weniger eine gedachte Sache als
13 eine Denkbewegung ist, weniger eine Bewegung als ein Richtung«.
In diesem Netz der Rufe und Antworten, in dem sich der Anfang
274 Bergson im Werden

verwandelt und erfüllt, gibt es eine Dauer, die niemandem und


zugleich allen gehört, eine ›öffentliche Dauer‹, den ›Rhythmus
und die dem Ereignis der Welt eigene Geschwindigkeit‹, die – wie
Péguy sagt – das Thema einer echten Soziologie wären. Er hatte
also anhand der Gegebenheiten bewiesen, daß eine Bergsonsche
Intuition der Geschichte möglich ist.
Bergson aber, der 1915 über Péguy sagte, er habe sein ›wesent-
liches Denken‹ gekannt, ist ihm in diesem Punkt gleichwohl nicht
gefolgt. Es gibt bei Bergson keinen eigenen Wert der ›geschichtli-
chen Einschreibung‹, auch nicht der rufenden oder der antwor-
tenden Generationen: Es gibt nur einen heroischen Appell des
Individuums an das Individuum, eine Mystik ohne ›mystischen
Leib‹. Es gibt für ihn kein einmaliges Gefüge, in dem gut und
schlecht zusammenhalten; es gibt natürliche Gesellschaften, die
von den Einbrüchen der Mystik durchlöchert sind. Während der
langen Jahre, in denen er die Deux Sources vorbereitete, scheint
er von der Geschichte nicht so vereinnahmt worden zu sein wie
vom Leben, er hat in der Geschichte nicht, wie einst im Leben,
jene ›komplementären Kräfte des Verstandes‹ am Werk gese-
hen, die im Einvernehmen mit unserer eigenen Dauer stehen.
Er bleibt hinsichtlich des Individuums und seiner Fähigkeit, die
Quellen wiederzufinden, zu optimistisch, hinsichtlich all dessen,
was an das gesellschaftliche Leben rührt, um – wie die Definition
der Geschichte – einen ›gerechtfertigten Skandal‹ einzuräumen,
zu pessimistisch. Und vielleicht reicht dieses Schwinden der Ge-
gensätze auf die ganze Lehre zurück: Tatsache ist, daß La Pensée
et le Mouvant, etwa zur Zeit der Deux Sources, die verschiedenen
Implikationen, welche die Introduction à la Métaphysique zwi-
schen Philosophie und Wissenschaft, Intuition und Verstand,
Geist und Materie hergestellt hatte, im Sinne einer klaren – wenn
auch, das ist wahr, nicht ohne jeglichen ›Übergriff‹ erfolgen-
den – Abgrenzung korrigiert. Wenn es für Bergson entschieden
kein Mysterium der Geschichte gibt, wenn er nicht, wie Péguy,
die Menschen miteinander implizit in Zusammenhang stehen
sieht, wenn er nicht empfänglich ist für die einnehmende Präsenz
der uns umgebenden Symbole und für die tiefgreifenden Tausch-
Bergson im Werden 275

vorgänge, die sie mit sich bringen – wenn er beispielsweise in


den Ursprüngen der Demokratie nur ihr ›evangelisches Wesen‹
und Kants und Rousseaus Christentum findet –, diese Art und
Weise, wie er bestimmte Möglichkeiten kurz abhandelt und den
letzten Sinn seines Werkes für sich behält, muß Ausdruck einer
grundlegenden Präferenz sein, sie ist Teil seiner Philosophie, und
wir müssen versuchen, sie zu verstehen.
Was sich bei ihm jeder Philosophie der Vermittlung und der
Geschichte widersetzt, ist ein sehr alter Ausgangspunkt seines
Denkens, die Gewißheit eines ›halbgöttlichen‹ Zustandes, in
dem der Mensch den Schwindel und die Angst nicht kannte.
Das Nachdenken über die Geschichte hat diese Überzeugung
verschoben, ohne sie abzuschwächen. Zur Zeit der Evolution
Créatrice reichte die philosophische Intuition des natürlichen
Seins aus, um die falschen Probleme des Nichts zu beseitigen.
In den Deux Sources ist ›der göttliche Mensch‹ nun ›unerreich-
bar‹ geworden, aber es ist immer noch er, auf den Bergson die
menschliche Geschichte bezieht. Die natürliche Berührung mit
dem Sein, die Freude und die Heiterkeit – der Quietismus – blei-
ben bei Bergson wesentlich, sie werden nur übertragen, von der
Erfahrung im Sinne eines verallgemeinerbaren Rechts des Philo-
sophen auf die außergewöhnliche Erfahrung des Mystikers, der
sich einer anderen Natur und einer zweiten Positivität öffnet,
die diesmal unbegrenzt sind. Es ist die Zweiteilung der Natur in
eine Natura naturans und eine Natura naturata, die unversöhnt
bleiben, aus der in den Deux Sources die Unterscheidung Gottes
von seinem Handeln auf der Welt hervorgeht, eine Unterschei-
dung, die in den vorangegangenen Werken virtuell geblieben war.
Bergson sagt zwar nicht Deus sive Natura, aber wenn er es nicht
sagt, so deshalb, weil Gott eine andere Natur ist. Gerade in dem
Augenblick, in dem er definitiv die ›transzendente Ursache‹ von
ihrem ›irdischen Auftrag‹ entbindet, ist es wieder das Wort Na-
tur, das aus seiner Feder kommt. In Gott konzentriert sich von
nun an alles, was es an wirklich Aktivem und Schöpferischem
in der Welt gab, die letzten Endes nicht mehr als ein ›Stillstand‹
oder eine ›geschaffene Sache‹ ist. Die Beziehung des Menschen
276 Bergson im Werden

zu dieser Über-Natur bleibt jedoch diese direkte Beziehung, wel-


che die vorangegangenen Bücher zwischen der Intuition und
dem natürlichen Sein fanden. Es gibt den einfachen Akt, der das
Menschengeschlecht hervorgebracht hat; es gibt die einfache und
vereinfachende Aktion Gottes im Mystischen; es gibt aber kei-
nen einfachen Akt, der den Bereich der Geschichte und den des
Bösen begründen könnte. Dies ist wirklich nur ein Mittelstück.
Der Mensch ist eher aus zwei einfachen Prinzipien geschaffen,
als daß er zweifach wäre. Die Geschichte, die zwischen Natura
naturata und Natura naturans oszilliert, hat keine eigene Sub-
stanz. Zwar wird sie nicht geächtet, und das Universum bleibt
eine ›Göttermaschine‹, was alles in allem nicht einmal unmöglich
ist, da die Quelle der Natura naturata in der Natura naturans
liegt. Wenn aber eines Tages der Göttermaschine das gelingt, was
sie immer versäumt hatte, dann wird dies so sein, als setzte sich
die angehaltene Schöpfung wieder in Gang. Nichts kündigt die-
sen Großen Frühling an. Wir lesen nirgends, auch nicht in Form
eines Rätsels, das Zeichen ab, das unsere beiden Naturen wieder
vereinigte. Das Böse und das Scheitern haben keinen Sinn. Die
Schöpfung ist kein Drama, das einer Zukunft entgegensieht. Sie
ist eher eine im Sande verlaufene Anstrengung, und die mensch-
liche Geschichte ist ein Notbehelf, um die Masse wieder in Be-
wegung zu bringen.
Daher eine so außergewöhnliche, sehr persönliche und in
bestimmter Hinsicht vor-christliche religiöse Philosophie. Die
mystische Erfahrung ist, was übrig bleibt von der ursprüngli-
chen Einheit, die zerbrach, als die geschaffene Sache durch ein
›einfaches Anhalten‹ der schöpferischen Anstrengung zutage trat.
Wie könnten wir diese Mauer hinter uns überwinden, die unser
Ursprung ist, wie könnten wir die Fährte des Naturans wieder
aufnehmen? Es ist nicht der Verstand, der dies vollbringen wird:
Man kann die Schöpfung nicht mit bereits Geschaffenem neu be-
ginnen. Selbst der unmittelbare Beweis unserer Dauer kann nicht
die an ihrem Ursprung stehende Spaltung rückgängig machen,
um das Naturans selbst wieder einzuholen. Aus diesem Grund
sagt Bergson, die mystische Erfahrung müsse sich nicht fragen,
Bergson im Werden 277

ob das Prinzip, mit dem sie uns in Berührung bringt, Gott selbst
oder sein Auftrag auf Erden sei. Sie erfährt das für gut geheißene
Eindringen eines Wesens, das ›unermeßlich viel mehr als sie selbst
kann‹. Wir sollten aber nicht von einem allmächtigen Wesen re-
den: Die Idee des Ganzen, sagt Bergson, ist genauso leer wie die
des Nichts, und das Mögliche bleibt für dieses Ganze ein Schat-
ten des Wirklichen. Der Gott Bergsons ist eher unermeßlich als
unendlich, oder anders gesagt: Er ist ein seiner Eigenschaft nach
Unendliches. Er ist das Element der Freude oder das Element
der Liebe, in dem Sinne, wie das Wasser und das Feuer Elemente
sind. Wie die empfindenden und die menschlichen Wesen so ist
auch er ein Strahlen und keine Wesenheit. Die metaphysischen
Attribute, die ihn zu bestimmen scheinen, sind, so sagt Bergson,
wie alle Bestimmungen Negationen. Selbst wenn sie, was nicht
möglich ist, sichtbar werden würden, so würde doch kein religi-
öser Mensch in ihnen den Gott erkennen, zu dem er betet. Berg-
sons Gott ist ein einzigartiges Sein, wie das Universum, ein uner-
meßliches dies hier, und Bergson hat bis in die Theologie hinein
sein Versprechen einer Philosophie gehalten, die für das aktuelle
Sein gemacht und nur darauf zu beziehen sei. Wenn man in die
Berechnung des Imaginären eintritt, dann muß man zugeben,
sagt er, daß »die Gesamtheit deutlich besser gewesen sein könnte
14 als sie es jetzt ist«. Niemand wird es so einrichten, daß der Tod
eines Anderen ein Bestandteil der besten aller möglichen Welten
ist. Aber es sind nicht nur die Lösungen der klassischen Theodi-
zee, die falsch sind, es sind ihre Probleme, die in der Ordnung, in
die Bergson sich einfügt, keinen Sinn haben, nämlich in der Ord-
nung der radikalen Kontingenz. Es geht hier nicht um die Welt
oder um Gott, wie wir sie auffassen, sondern um die Welt und
um Gott, wie sie tatsächlich existieren, und das, was in uns diese
Ordnung erkennt, liegt unter unseren Meinungen und unseren
Äußerungen. Niemand wird es so einrichten, daß die Menschen
ihr Leben nicht lieben, so elend es auch sein mag. Dieses vitale
Urteil setzt das Leben und setzt Gott jenseits aller Anschuldigun-
gen wie Rechtfertigungen ein. Und wollte man verstehen, wie die
Natura naturans eine Natura naturata hervorbringen konnte, in
278 Bergson im Werden

der sie sich nicht wirklich realisierte, und warum die schöpfe-
rische Anstrengung zumindest vorübergehend angehalten hat,
auf welches Hindernis sie getroffen ist und wie ein Hindernis
überhaupt unüberwindbar für sie sein kann, so würde Bergson
zugestehen – mit Rücksicht auf die anderen Planeten, auf denen
das Leben vielleicht besser geglückt ist –, daß seine Philosophie
nicht auf diese Art Fragen antwortet, daß sie sie aber auch nicht
stellen muß, da sie letztlich keine Schöpfungsgeschichte der Welt
ist – nicht einmal, wie sie es beinahe gewesen wäre, eine ›Integra-
tion und Differenzierung‹ des Seins –, sondern die mit Absicht
partielle, unzusammenhängende und beinahe empirische Veror-
tung mehrerer Brennpunkte des Seins.

*
Insgesamt betrachtet, muß man Péguy völlig recht geben, wenn
er sagt, diese Philosophie habe »zum ersten Mal […] die Auf-
merksamkeit auf das gelenkt, was dem Sein selbst und der Arti-
kulation des Gegenwärtigen eigen sei.« Das entstehende Sein, von 15
dem mich keine Repräsentation trennt, das von vornherein alle
Ansichten enthält, selbst die nicht übereinstimmenden, sogar als
Möglichkeit unvereinbaren Ansichten, die wir daraus beziehen
können, das aufrecht vor uns steht, jünger und älter als das Mög-
liche und das Notwendige, und das, sobald es einmal entstanden
ist, nie wird aufhören können, im Hintergrund anderer Gegen-
warten gewesen zu sein und auch weiterhin dort sein wird – man
versteht, daß zu Anfang des Jahrhunderts jene Bücher, die dieses
vergessene Sein und seine Fähigkeiten wiederentdeckten, wie eine
Renaissance, eine Befreiung der Philosophie empfunden wurden,
und ihre Tugend hat in dieser Hinsicht Bestand. Es wäre schön
gewesen, wenn derselbe Blick auf die Ursprünge anschließend
auf die Leidenschaften, die Ereignisse, die Technik, das Recht, die
Sprache und die Literatur übertragen worden wäre, um den ih-
nen eigenen geistigen Gehalt jeweils zu entdecken, indem man sie
als Monumente und Voraussagen eines hieratischen Menschen,
als Chiffren eines fragenden Geistes begreift. Bergson glaubte an
die Feststellung und die Erfindung, aber nicht an das fragende
Bergson im Werden 279

Denken. Noch in dieser Einschränkung seines Feldes ist er jedoch


durch die Treue zu dem, was er gesehen hat, beispielhaft. In den
religiösen Gesprächen der letzten Jahre, in denen seine Philoso-
phie sich als experimenteller Beitrag und wohlmeinendes Hilfs-
mittel in die Gesamtheit des thomistischen Systems eingegliedert
fand – als sei es nicht klar, daß etwas Wesentliches verlorengeht,
wenn man etwas hinzufügt –, ist für meinen Teil das Erstaun-
lichste die Ruhe, mit der Bergson, selbst in dem Augenblick, in
dem er dem Katholizismus seine persönliche Zustimmung gibt
und ihm auch moralisch folgt, in der Philosophie seine Methode
beibehält. Nachdem er in den Stürmen streng seinen Kurs gehal-
ten hatte, hielt er ihn auch in den letztendlichen Versöhnungen.
Sein Bemühen und sein Werk, welche die Philosophie in der Ge-
genwart neu begonnen und dabei gezeigt haben, wie heute eine
Annäherung an das Sein aussehen könnte, lehren auch, wie ein
Mensch von damals unreduzierbar blieb, daß man nur das sagen
muß, was man auch ›zeigen‹ kann, daß man warten können und
warten lassen muß, mißfallen und sogar gefallen, man selbst sein
und wahr sein – und daß im übrigen diese Standhaftigkeit unter
den Menschen nicht einmal verpönt ist, da es auf der Suche nach
dem Wahren obendrein den Bergsonismus gegeben hat.
1 EI N ST EI N U ND D I E KR I S E D E R V E R NU N F T

Zur Zeit von Auguste Comte schickte sich die Wissenschaft an,
die Existenz theoretisch und praktisch zu beherrschen. Ob es
nun um das technische oder das politische Handeln ging, man
glaubte, Zugang zu den Gesetzen zu haben, nach denen Natur
und Gesellschaft gemacht sind und sie ihren Prinzipien folgend
lenken zu können. Etwas ganz anderes, beinahe Gegenteiliges, ist
jedoch eingetreten: Statt daß in der Wissenschaft Einsicht und
Wirksamkeit gemeinsam gewachsen wären, wurden jene Anwen-
dungen, die die Welt erschüttern, aus einer höchst spekulativen
Wissenschaft geboren, über deren letzten Sinn man sich nicht
einig ist. Und statt daß die Wissenschaft sich ganz in den Dienst
der Politik gestellt hätte, haben wir vielmehr, ganz im Gegenteil,
eine Physik voller philosophischer und beinahe politischer Dis-
kussionen erhalten.
Einstein selbst war ein klassischer Denker. So kategorisch, wie
er das Recht einfordert, konstruieren zu dürfen, und ohne jeden
Respekt vor den begrifflichen Vorstellungen a priori, die vorge-
2 ben, das unveränderliche Rüstzeug des Geistes zu sein1, hat er
niemals aufgehört zu denken, daß diese Schöpfung eine in die
Welt gelegte Wahrheit einholt. »Ich [glaube] an volle Gesetz-
lichkeit in einer Welt von etwas objectiv Seiendem, das ich auf
3 wild spekulativem Wege zu erhaschen suche.«2 Aber gerade diese
Begegnung der Spekulation mit dem Wirklichen, unseres Bildes
von der Welt mit der Welt, die er gelegentlich als ›prästabilierte
4 Harmonie‹3 bezeichnet, wagt Einstein weder kategorisch, wie
1 Die Wissenschaft ist »eine Schöpfung des menschlichen Geistes, die

sich des Mittels der Ideen und der frei erfundenen Begriffe bedient«. Ein-
stein et Infeld, L’évolution des idées en physique, S. 286.
2 Brief an Max Born, 7. November 1944, zit. von T. Kahan, La philoso-

phie d’Einstein.
3 Einstein, Comme je vois le monde, S. 155.
282 Einstein und die Krise der Vernunft

der große cartesianische Rationalismus, auf eine göttliche In-


frastruktur der Welt zu gründen noch, wie der Idealismus, auf
jenes Prinzip, demzufolge das Wirkliche für uns nichts anderes
sein könnte als das, was wir denken können. Einstein bezieht sich
mitunter auf den Gott Spinozas, meistens aber beschreibt er die
Rationalität wie ein Mysterium und wie den Gegenstand einer
›kosmischen Religiosität‹4. Die am wenigsten verständliche Sache 5
der Welt, sagte er, ist die Tatsache, daß die Welt verständlich ist.
Wenn man ein Denken, für das sich die Rationalität der Welt
von selbst versteht, klassisch nennt, dann stößt der klassische
Geist bei Einstein folglich an seine äußerste Grenze. Man weiß,
daß er sich nie dazu durchringen konnte, die Formulierungen der
Wellenmechanik als definitiv anzusehen, die nicht, wie die Be-
griffe der klassischen Physik, auf die ›Eigenschaften‹5 der Dinge, 6
der physischen Individuen bezogen sind, sondern das Verhalten
und die Wahrscheinlichkeit bestimmter kollektiver Phänomene
im Inneren der Materie beschreiben. Er hat sich nie mit dieser
Vorstellung einer ›Wirklichkeit‹ anfreunden können, die von sich
aus und in letzter Analyse ein Geflecht aus Wahrscheinlichkeiten
wäre. »Zur Begründung dieser Überzeugung kann ich«, so fügte
er hinzu, »aber nicht logische Gründe, sondern nur meinen klei-
nen Finger als Zeugen beibringen, also keine Autorität, die au-
ßerhalb meiner Hand irgendwelchen Respekt einflößen kann.«6 7
Humor war für Einstein nicht einfach nur eine scherzhafte
Wendung, er machte aus ihm vielmehr eine unerläßliche Kom-
ponente seiner Vorstellung von der Welt, beinahe schon ein Er-
kenntnismittel. Der Humor war für ihn der Modus der aufs Spiel
gesetzten Gewißheiten. Sein ›kleiner Finger‹ war das paradoxe
und nicht zu unterdrückende Bewußtsein des schöpferischen
Physikers, durch eine gleichwohl freie Erfindung Zugang zu ei-
ner Wirklichkeit zu erlangen. Um sich so gut zu verbergen, denkt
Einstein, muß Gott äußerst ›spitzfindig‹ oder raffiniert sein. Da-

4 Ebd., S. 35.
5 Einstein et Infeld, L’évolution des idées en physique, S. 289.
6 An Max Born, 3. Dezember 1947, zit. von T. Kahan.
Einstein und die Krise der Vernunft 283

bei würde er jedoch keinen gehässigen Gott erkennen können. Er


hielt also an beiden Enden der Kette fest – dem Erkenntnisideal
der klassischen Physik und seiner eigenen, ›wild spekulativen‹,
revolutionären Art und Weise. Die meisten Physiker der darauf-
folgenden Generation haben das erste Ende dieser Kette losge-
lassen.
Die Begegnung der Spekulation mit dem Wirklichen, die
Einstein wie ein reines Mysterium postuliert, wird von der Öf-
fentlichkeit ohne Zögern wie ein Wunder aufgefaßt. Eine Wis-
senschaft, die alle Evidenzen des gesunden Menschenverstandes
durcheinanderbringt und die im selben Augenblick in der Lage
ist, die Welt zu verändern, ruft unvermeidlich eine Art Aberglau-
ben hervor, selbst bei den hoch gebildeten Zeugen. Einstein pro-
testiert: Er sei kein Gott, diese überzogenen Lobreden seien nicht
an ihn gerichtet, sondern »an meinen mythischen Namensvetter,
8 der mir das Leben außerordentlich schwer macht«7. Man glaubt
ihm nicht, seine Bescheidenheit verstärkt vielmehr noch die Le-
gendenbildung: Da er von seinem Ruhm so überrascht wurde
und so wenig darauf gibt, kann dies nur bedeuten, daß sein Ge-
nius nicht ganz in ihm aufgeht. Einstein ist vielmehr der hei-
lige Ort, das Tabernakel einer übernatürlichen Wirkungsmacht.
»Diese Gleichgültigkeit ist so vollständig, daß man sich manch-
mal, wenn man ihn besucht, ins Gedächtnis rufen muß, daß man
wirklich mit ihm zu tun hat. Man glaubt, mit einem Doppelgän-
ger Umgang zu haben […] Mir ist sogar der unwahrscheinliche
Verdacht gekommen, er könne glauben, er sei wie alle anderen.«8
Ludwig XIV. äußerte in aller Ruhe: ›Man muß zugeben, daß Ra-
cine sehr geistreich ist‹, und Viète, Descartes oder Leibniz galten
im Vergleich zu ihrer Zeit nie als Übermenschen. In einer Zeit,
die an eine ewige Quelle all unserer Ausdrucksakte glaubte, war
der große Schriftsteller oder der große Wissenschaftler nichts als
ein hinreichend erfinderischer Mensch, dem es gelang, einige die-

7 Antwort an Bernard Shaw, zit. von Antonina Vallentin, Le Drame

d’Albert Einstein, S. 9.
8 A. Vallentin, ebd.
284 Einstein und die Krise der Vernunft

ser Sätze oder dieser in den Dingen festgeschriebenen Gesetze


zusammenzufassen. Wenn es aber keine universelle Vernunft
mehr gibt, dann müssen sie Wundertäter sein.
Heute wie einst gibt es jedoch nur ein einziges Wunder – aller-
dings ein beachtliches –, nämlich das Wunder, daß der Mensch
spricht oder rechnet, mit anderen Worten, daß er sich diese wun-
derbaren Organe wie den Algorithmus und die Rede geschaffen
hat, die sich niemals abnutzen, sondern sich im Gegenteil durch
den Gebrauch noch erweitern, die unbegrenzt einsatzfähig und in
der Lage sind, mehr zurückzugeben, als man hineingelegt hatte,
und die dennoch nicht aufhören, sich auf die Dinge zu beziehen.
Wir haben jedoch keine strenge Theorie des Symbolismus. Daher
ziehen wir es vor, irgendeine instinktive Kraft anzuführen, die bei
Einstein die Relativitätstheorie hervorgebracht haben soll, so wie
sie bei uns die Atmung hervorruft. Einstein mag dagegen pro-
testieren: Aber es muß so sein, daß er anders geschaffen wurde
als wir, daß er einen anderen Körper und andere Wahrnehmun-
gen hat, und daß sich unter ihnen, durch einen Glücksfall, die
Relativität findet. Amerikanische Ärzte haben ihn auf ein Bett
gelegt, seine noble Stirn mit Detektoren bedeckt und befohlen:
›Denken Sie an die Relativität‹, so wie man befiehlt ›Sagen Sie a‹
oder ›Zählen Sie: einundzwanzig, zweiundzwanzig‹ – und als sei
die Relativität der Gegenstand eines sechsten Sinns, einer seligen
Vision, als bräuchte es nicht eine ebenso große, von ebenso sub-
tilen Stromkreisen genährte nervliche Energie, um als Säugling
sprechen zu lernen, wie Einstein sie braucht, um an die Rela-
tivität zu denken. Von hier aus ist es nur ein Schritt bis zu den
Extravaganzen der Journalisten, die das Genie hinsichtlich völlig
fachfremder Fragen um seine Meinung bitten: Warum sollte die
Wissenschaft, da sie ja alles in allem eine Wundertäterin ist, nicht
ein weiteres Wunder vollbringen? Und warum sollte man Ein-
stein nicht, da er doch gerade gezeigt hat, daß eine Gegenwart aus
großer Entfernung gesehen, zeitgleich zu einer Zukunft ist, jene
Fragen stellen, die man einst an die Pythia richtete?
Diese Verrücktheiten finden sich nicht nur auf seiten des
abendländischen Journalismus. Auf der anderen Seite der Welt
Einstein und die Krise der Vernunft 285

entsprangen die sowjetischen Einschätzungen des Einsteinschen


Werkes (vor der jüngst vorgenommenen Rehabilitierung) ebenso
einem Okkultismus. Eine Physik als ›idealistisch‹ oder ›bürger-
lich‹ zu verurteilen, der man im übrigen keinerlei Inkohärenz,
keinerlei Mißverhältnis zu den Tatsachen vorwirft, heißt, von ei-
nem böswilligen Genie auszugehen, das in den Unterbauten des
Kapitalismus umgeht und Einstein diesmal verdächtige Gedan-
ken einflüstert – es bedeutet, die Vernunft unter dem Deckmantel
einer vernünftigen sozialen Doktrin dort zu verleugnen, wo sie
sich durch Evidenz auszeichnet.
Vom einen zum anderen Ende der Welt, ob man es nun rühmt
oder ablehnt, läßt Einsteins ›wild spekulatives‹ Werk die Unver-
nunft wuchern. Noch einmal sei gesagt, daß er nichts dazu getan
hat, sein Denken in dieses Licht zu rücken, er blieb ein Klassiker.
War dies aber nicht das Glück eines Mannes aus gutem Hause,
die Kraft einer guten Kulturtradition? Und wenn sich diese Tra-
dition erschöpft haben wird, wird dann nicht die neue Wissen-
schaft für all jene, die keine Physiker sind, nur eine Lektion in
Irrationalismus sein?
Am 6. April 1922 traf sich Einstein in der Pariser Philosophi-
schen Gesellschaft mit Bergson. Bergson war gekommen, ›um
zuzuhören‹. Die Diskussion zog sich allerdings, wie es manch-
mal vorkommt, in die Länge. Er entschloß sich daher, einige der
9 Ideen vorzustellen, die er gerade in Durée et simultanéité zu ver-
teidigen suchte – und schlug Einstein alles in allem einen Weg
vor, wie er den paradoxen Anschein seiner Theorie entwaff-
nen und sie wieder mit den Menschen versöhnen könne, die ein-
fach nur Menschen seien. Man nehme beispielsweise das berühmte
Paradox der multiplen Zeiten, die jede für sich mit dem Standort
des Beobachters verbunden sind. Bergson schlug vor, hierbei
die physikalische Wahrheit von der Wahrheit als solcher zu un-
terscheiden. Wenn in den Gleichungen des Physikers eine be-
stimmte Variable, die man gewöhnlich als Zeit bezeichnet, da
sie die verstrichenen Zeiten chiffriert, verantwortlich scheint
für das Referenzsystem, in das man sich einordnet, dann wird
niemand diesem Physiker das Recht abstreiten, zu behaupten,
286 Einstein und die Krise der Vernunft

daß die ›Zeit‹ sich ausdehnt oder sich zusammenzieht, je nach-


dem, ob man sie hier oder dort betrachtet, und daß es folglich
mehrere ›Zeiten‹ gibt. Aber redet er unter diesen Umständen
auch von dem, was die anderen Menschen bei diesem Namen
nennen? Würde diese Variable, diese Entität, dieser mathe-
matische Ausdruck noch die Zeit bezeichnen, wenn wir ihr
nicht die Eigenschaften einer anderen Zeit verleihen würden –
der einzigen Zeit, die eine Sukzession, ein Werden und eine
Dauer wäre, kurzum der einzigen Zeit, die wirklich Zeit wäre –,
deren Erfahrung oder Wahrnehmung wir vor jeder Physik
haben?
Im Feld unserer Wahrnehmung gibt es simultane Ereignisse.
Andererseits sehen wir darin auch andere Beobachter, deren
Wahrnehmungsfeld das unsrige durchdringt, wir stellen uns
sogar noch weitere Beobachter vor, die wiederum in das Wahr-
nehmungsfeld ihrer Vorgänger vordringen, und auf diese Weise
gelangen wir dahin, unsere Vorstellung vom Simultanen bis hin
zu Ereignissen zu erweitern, die beliebig weit auseinander liegen
können und die nicht auf denselben Beobachter zurückgehen.
Auf diese Weise gibt es eine einzige Zeit für alle, eine einzige uni-
verselle Zeit. Diese Gewißheit wird von den Berechnungen des
Physikers nicht erschüttert, sie wird von ihnen sogar stillschwei-
gend mitgedacht. Wenn der Physiker sagt, Pierres Zeit sei auf den
Punkt hin ausgedehnt oder verkürzt worden, an dem sich Paul
befindet, dann bringt er in keiner Weise das zum Ausdruck, was
Paul erlebt, der seinerseits alle Dinge von seinem Standpunkt aus
wahrnimmt und folglich keinen Grund hat, die in ihm und um
ihn herum verstreichende Zeit anders zu empfinden als Pierre
seine eigene Zeit empfindet. Der Physiker überträgt auf Paul
fälschlicherweise das Bild, das Pierre sich von Pauls Zeit gemacht
hat. Er setzt Pierres Sichtweisen absolut und macht gemeinsame
Sache mit ihm. Er glaubt, er sei Zuschauer der ganzen Welt. Er
macht das, was man den Philosophen so sehr vorwirft. Und er
spricht von einer Zeit, die niemandem angehört, von einem My-
thos. Man muß an dieser Stelle, sagt Bergson, mehr Einstein sein
als er selbst.
Einstein und die Krise der Vernunft 287

»Ich bin Maler und soll zwei Personen darstellen, Jean und
Jacques, von denen der eine neben mir steht, während der an-
dere zwei- oder dreihundert Meter von mir entfernt ist. Ich werde
ersteren in seiner natürlichen Größe zeichnen und den anderen
auf die Dimension eines Zwerges schrumpfen lassen. Wer sich
aber unter meinen Fachkollegen in der Nähe von Jacques befin-
det und ebenfalls beide malen will, der wird das Gegenteil von
mir tun; er wird Jean sehr klein wiedergeben und Jacques in sei-
ner natürlichen Größe. Wir werden übrigens beide recht haben.
Aber kann man aus dieser Tatsache, daß wir beide recht haben,
etwa schließen, daß Jean und Jacques weder eine normale Größe
noch die Größe eines Zwerges haben, oder daß sie beide Größen
gleichzeitig haben, oder daß alles ganz beliebig ist? Offensicht-
lich nicht […] Die Vervielfachung der Zeiten, die ich auf diese
Weise erhalte, verhindert nicht die Einheit der wirklichen Zeit;
sie würde sie eher voraussetzen, ebenso wie die Verringerung der
Größe mit wachsender Entfernung bei einer Serie von Gemälden,
auf denen ich Jacques in mehr oder weniger großer Entfernung
darstellen würde, darauf hinweisen würde, daß Jacques dieselbe
10 Größe bewahrt.«9
Eine tiefgreifende Idee: Die Rationalität und das Universelle
werden von neuem gegründet, und zwar nicht auf dem göttli-
chen Recht einer dogmatischen Wissenschaft, sondern auf die-
ser vorwissenschaftlichen Evidenz, daß es eine einzige Welt gibt,
auf dieser Vernunft vor der Vernunft, die in unserer Existenz, in
unserem Umgang mit der wahrgenommenen Welt und mit den
Anderen enthalten ist. Mit diesen Ausführungen läuft Bergson
Einsteins Klassizismus entgegen. Man könnte die Relativität mit
der Vernunft aller Menschen versöhnen, wenn man nur bereit
wäre, die multiplen Zeiten wie mathematische Ausdrücke zu be-
handeln und diesseits oder jenseits des physikalisch-mathema-
tischen Bildes der Welt eine philosophische Sichtweise der Welt
anzuerkennen, die zugleich die Perspektive der existierenden
Menschen ist. Wenn man nur akzeptierte, die konkrete Welt un-

9 Bergson, Durée et simultanéité, S. 100-102.


288 Einstein und die Krise der Vernunft

serer Wahrnehmung mit ihren Horizonten wiederzufinden und


in ihr die Konstruktionen der Physik zu situieren, dann könnte
die Physik ihre Paradoxa frei entwickeln, ohne die Unvernunft
zu autorisieren.
Was würde Einstein darauf antworten? Er hatte sehr gut zu-
gehört, wie seine ersten Worte beweisen: »Die Frage stellt sich
also folgendermaßen: Ist die Zeit des Philosophen dieselbe wie
die des Physikers?«10 Er stimmte jedoch dieser Frage nicht zu. 11
Zwar räumte er ein, daß die Zeit, deren Erfahrung wir gemacht
haben, die wahrgenommene Zeit, am Ausgangspunkt unserer be-
grifflichen Vorstellungen von Zeit steht, und daß sie uns auf die
Idee einer einzigen Zeit vom einem zum anderen Ende der Welt
hingeführt hat. Diese gelebte Zeit sei jedoch über das hinaus, was
jeder von uns sieht, nicht kompetent und autorisiere nicht dazu,
unseren intuitiven Begriff vom Simultanen auf die ganze Welt
auszudehnen. »Es gibt also keine Zeit der Philosophen.« Allein 12
der Wissenschaft könne man die Wahrheit über die Zeit wie über
alles andere abverlangen. Und die Erfahrung der wahrgenomme-
nen Welt mit ihren Evidenzen sei angesichts der klaren Worte der
Wissenschaft nur ein unbeholfenes Stammeln.
Nun gut. Aber diese Zurückweisung konfrontiert uns erneut
mit der Krise der Vernunft. Der Gelehrte ist nicht bereit, eine
andere Vernunft als die des Physikers anzuerkennen, und auf sie
verläßt er sich wie zu Zeiten der klassischen Wissenschaft. Ande-
rerseits enthält diese Physikervernunft, die auf diese Weise wieder
mit einer philosophischen Würde umgeben wird, eine Vielzahl
von Paradoxa, und sie zerstört sich selbst, wenn sie mir beispiels-
weise zu verstehen gibt, daß meine Gegenwart simultan zur Zu-
kunft eines anderen, recht weit von mir entfernten Beobachters
ist, womit sie den ganzen Sinn der Zukunft untergräbt …
Gerade weil er das klassische wissenschaftliche Ideal bewahrte
und für die Physik den Wert nicht eines mathematischen Aus-
drucks und einer bestimmten Sprache, sondern eines unmittel-
baren Begriffs vom Wirklichen beanspruchte, war Einstein als

10 Bulletin de la Société française de philosophie, 1922, S. 107.


Einstein und die Krise der Vernunft 289

Philosoph zu jenem Paradox verurteilt, das er weder als Physiker


noch als Mensch je gesucht hatte. Man wird die Werte der Ver-
nunft, die uns die klassische Wissenschaft vermittelt hat, nicht
dadurch schützen, daß man für die Wissenschaft eine Art me-
taphysische oder absolute Wahrheit reklamiert. Es gibt auf der
Welt, ganz abgesehen von den Neurotikern, genügend ›Ratio-
nalisten‹, die für die lebendige Vernunft eine Gefahr darstellen.
Und andererseits ist die Kraft der Vernunft an die Wiedergeburt
eines philosophischen Sinns gebunden, der zwar den wissen-
schaftlichen Ausdruck der Welt rechtfertigt, aber dies nur inner-
halb seiner Ordnung, an seinem Platz innerhalb des Ganzen der
menschlichen Welt.
1 M ONTA I GNE L E KTÜ RE 1

2 »Ich lasse mich nur selten auf etwas ein.«


(Essais, III, X)
3 »Man muß mit den Lebenden leben.«
(Essais, III, VIII)

Man meint, alles über ihn gesagt zu haben, wenn man ihn als
Skeptiker bezeichnet, als jemanden, der sich Fragen stellt und
nicht antwortet, der es sogar ablehnt zuzugeben, daß er nichts
weiß und sich lieber an das berühmte Que sais je? hält. All dies
führt nicht sehr weit. Der Skeptizismus hat zwei Gesichter. Er
bedeutet einerseits, daß nichts wahr ist, andererseits aber auch,
daß nichts falsch ist. Er verwirft alle Meinungen und alle Verhal-
tensweisen als absurd, nimmt uns aber dadurch jedes Mittel, eine
bestimmte Meinung oder Verhaltensweise als falsch zurückzu-
weisen. Indem er die dogmatische, partielle oder abstrakte Wahr-
heit zerstört, legt er die Idee einer allumfassenden Wahrheit nahe,
mit allen Facetten und allen notwendigen Vermittlungen. Wenn
er die Gegensätze und die Widersprüche vervielfacht, dann nur
deshalb, weil die Wahrheit dies erfordert. Montaigne beginnt mit
der Lehre, daß sich jede Wahrheit widerspricht, vielleicht endet
er mit der Erkenntnis, daß der Widerspruch Wahrheit ist. Daher
mag ich mir zwar zuweilen widersprechen, aber der Wahrheit, wie
4 Demades sagte, widerspreche ich nie. Der erste und fundamen-
talste Widerspruch ist derjenige, durch den die Ablehnung jeder
Wahrheit eine neue Art von Wahrheit entdeckt. Wir werden also
bei Montaigne alles finden, einen auf sich selbst beruhenden und
fortwährenden Zweifel, die Religion, den Stoizismus. Es wäre ver-
geblich, behaupten zu wollen, er schließe jemals eine dieser ›Po-
sitionen‹ aus oder mache sie sich zu eigen. Aber vielleicht findet

1 Alle Zitate Montaignes sind dem III. Buch der Essais entnommen.
292 Montaignelektüre

er in diesem vieldeutigen Selbst, das sich allem anbietet und das


er immer wieder neu erkundet hat, letztlich den Ort aller Unge-
wißheiten, das Mysterium aller Mysterien und so etwas wie eine
letzte Wahrheit.

*
Das Selbstbewußtsein ist seine Konstante, für ihn der Maßstab
aller Lehren. Man könnte sagen, daß er nie aus einem gewissen
Erstaunen über sich selbst herausgekommen ist, welches das
ganze Wesen und die Weisheit seines Werkes ausmacht. Er ist es
nie müde geworden, das Paradox eines bewußten Seins zu emp-
finden. In jedem Augenblick, in der Liebe, im politischen Leben,
im stillen Erleben der Wahrnehmung, gehören wir ganz einer
Sache, wir machen sie zu unserer Sache, und dennoch ziehen wir
uns aus ihr zurück und wahren zu ihr eine Distanz, ohne die wir
nichts über sie wissen könnten. Descartes wird dieses Paradox
überwinden und das Bewußtsein zum Geist erklären: »Es ist nicht
das Auge, das sich selbst sieht […], sondern der Geist, der als ein-
ziger das Auge und sich selbst erkennt.«2 Montaignes Bewußtsein 5
ist nicht ohne weiteres Geist, es ist gleichzeitig gebunden und frei,
und in einem einzigen vieldeutigen Akt öffnet es sich den äuße-
ren Gegenständen, denen es sich zugleich fremd fühlt. Er kennt
diesen Ort der Ruhe nicht, diesen Selbstbesitz, welcher der car-
tesianische Verstand sein wird. Die Welt ist für ihn kein System
von Gegenständen, von dem er sich aus eigener Kraft eine Vor-
stellung machen könnte, das Ich ist für ihn nicht die Reinheit ei-
nes intellektuellen Bewußtseins. Für ihn – wie später für Pascal –
haben wir Anteil an einer Welt, zu der wir keinen Schlüssel ha-
ben, da wir ebensowenig in der Lage sind, bei uns selbst wie bei
den Dingen zu verweilen, da wir von ihnen auf uns und von uns
auf sie zurückgeworfen werden. Man muß das Orakel von Del-
phi korrigieren. Es ist gut, wenn wir uns auf uns selbst besinnen.
Aber wir sind für uns ebensowenig greifbar wie die Dinge. Bei dir
ist alles Eitelkeit, innen und außen – weniger eitel nur dann, wenn

2 Léon Brunschvicg, Descartes et Pascal lecteurs de Montaigne.


Montaignelektüre 293

weniger ausgedehnt. Von dir abgesehen, o Mensch, erforscht jedes


Wesen zunächst sich selbst und bestimmt dann nach Maßgabe sei-
ner Bedürfnisse die Grenzen seines Wünschens und Werkens. Kein
einziges unter ihnen ist so leer und so armselig wie du, der du das
Weltall zu umfassen glaubst: Du bist der Forscher ohne Funde, der
Richter ohne Gerichtsbarkeit und in diesem Possenspiel am Ende
6 der dumme August. Gegenüber der Welt der Gegenstände oder
sogar der Tiere, die in ihrer Natur ruhen, ist das Bewußtsein
inhaltsleer und gierig: Es ist ein Bewußtsein von allen Dingen,
weil es selbst nichts ist, es klammert sich an jedes Ding und hält
an keinem fest. Unsere klaren Vorstellungen, die trotz allem in
jenes Hin und Her einbezogen sind, das sie so gern ignorieren
wollen, laufen Gefahr, weniger die Wahrheit über uns selbst als
vielmehr Masken zu sein, hinter denen wir unser Sein verstecken.
Das Selbstbewußtsein ist bei Montaigne ein Gespräch mit sich
selbst, es ist eine Befragung, die an jenes undurchsichtige Sein
gerichtet ist, das er selbst ist und von dem er nie eine Antwort er-
7 wartet, es gleicht einem ›Versuch‹3 oder einer ›Erfahrung‹ seiner
selbst. Seine Zielsetzung liegt in einem Nachforschen, ohne das
die Reinheit der Vernunft illusorisch und letztlich unrein wäre.
Man mag erstaunt sein, daß er dieses Ziel bis in die Details seines
Humors und seines Temperamentes hinein verfolgte. Aber für
ihn droht jede Lehre, die von unserem Handeln getrennt wird,
zur einem Schwindel zu werden, und er hat sich ein Buch vorge-
stellt, in dem einmal nicht nur Ideen Ausdruck finden würden,
sondern auch das Leben selbst, in dem diese Ideen aufleuchten
und das ihren Sinn verändert.
Unter der klaren Idee und dem Denken findet er daher eine
Spontaneität, die sich in Meinungen, Gefühlen und nicht zu
rechtfertigenden Handlungen äußert. Myson […], einer der sieben
Weisen, gab auf die Frage, worüber er so ganz für sich lache, […]
die Antwort: ›Darüber, daß ich so ganz für mich lache!‹ Wieviel

3 »Könnte meine Seele jemals Fuß fassen, würde ich nicht Versuche mit

mir machen, sondern mich entscheiden. Doch ist sie ständig in der Lehre
und Erprobung.« (III, II)
294 Montaignelektüre

Unsinn rede ich meiner Meinung nach Tag für Tag daher, und wie-
viel mehr noch, steht zu vermuten, nach Meinung der anderen! Es 8
gibt eine für das Bewußtsein ganz wesentliche Verrücktheit, die
in seiner Fähigkeit liegt, zu werden was immer es will, sich selbst
hervorzubringen. Um allein lachen zu können, bedarf es keiner
äußeren Ursache, es genügt zu denken, daß man allein lachen
und sich selbst Gesellschaft leisten kann, es genügt, zugleich
zweifach vorhanden und bewußt zu sein. Man hat die Wesensart
des Königs Perseus von Makedonien als ungewöhnlich empfunden,
da er sich auf keine Daseinsform festlegen ließ, sondern ständig
von einer zur anderen wanderte, so daß bei einem so leichtfüßig
wechselnden, schweifenden Lebenswandel schließlich weder er noch
sonstwer wußte, was für ein Mensch er sei. Das aber, scheint mir,
trifft auf fast alle Menschen zu. – Wir sind mit unseren Gedanken
stets woanders, und es könnte gar nicht anders sein: Bewußt zu 9
sein, bedeutet unter anderem, stets anderswo zu sein.
Selbst die Fähigkeiten, die man beim Tier feststellen kann und
die wir auf den Körper übertragen, werden im Menschen ver-
wandelt und entstellt, weil sie in der Bewegung eines Bewußt-
seins erfaßt werden. Man findet Hunde, die im Traum bellen; sie
haben also bildhafte Vorstellungen. Der Mensch aber hat nicht
nur irgendwelche gemalten Bilder in seinem Kopf. Er kann im
Imaginären leben. Es ist ein erstaunliches Schauspiel, das uns
jene Darsteller bieten, die von einer Trauerrolle derart ergriffen
sind, daß sie noch zu Hause darüber weinen, oder das uns ein ein- 10
zelner Mensch bietet, der sich inmitten einer Menge wähnt und
in dieser unsichtbaren Welt Grimassen schneidet, staunt, lacht,
kämpft und triumphiert, oder jener Königssohn, der seinen ge-
liebten Bruder aufgrund eines schlechten Traumes umbringen
läßt, oder auch jener andere, der sich umbringt, weil seine Hunde
geheult haben. Wenn man allein den Körper betrachtet, dann
dürfte das Geschlecht nur ein genau bestimmtes Vergnügen be-
reiten, vergleichbar dem Vergnügen der anderen Körperfunk-
tionen. Aber bei den meisten Völkern wurde das männliche Glied
zum Gott erhoben. In einer Gegend enthäuteten es sich manche
und brachten ein Stück davon den Göttern als Opfergabe dar, und
Montaignelektüre 295

manche ihren Samen. In einer andern durchbohrten es die jungen


Männer öffentlich, indem sie an mehreren Stellen Löcher in Haut
und Fleisch schlitzten und die längsten und dicksten Pflöcke hin-
einsteckten, die sie aushalten konnten; diese verbrannten sie dann –
ebenfalls als Opfergabe an ihre Götter; und wenn sie hierbei unter
der Gewalt der grausamen Schmerzen zusammenbrachen, galten sie
11 als zuwenig tugendhaft und tapfer. Auf diese Weise geht das Leben
über sich selbst hinaus, die äußerste Steigerung des Vergnügens
12 gleicht dem Schmerz.4 Die Natur selber, fürchte ich, hat dem Men-
13 schen einen gewissen Trieb zur Unmenschlichkeit eingepflanzt. Es
liegt daran, daß unser Körper und seine friedlichen Funktionen
von der Fähigkeit durchdrungen sind, uns einer anderen Sache
widmen und uns Absolutheiten geben zu können. Im übrigen
gibt es kein Begehren, das sich allein auf den Körper richtete
und das nicht außerhalb seiner selbst ein anderes Begehren oder
eine Zustimmung suchte. Darum, sagen diese Männer, machten
sie gerade die Gefühle zum Ziel ihres Werbens. Wie recht sie haben!
[…] Die Vorstellung entsetzt mich, daß ich einen Körper als mir
14 gehörend umarmen könnte, der ohne Seelenregung ist. Die Liebe
ist keine rein körperliche Angelegenheit, da sie auf jemanden ge-
richtet ist, und sie ist keine rein geistige Angelegenheit, da sie auf
ihn in seinem Körper gerichtet ist. Das Wort ›befremdlich‹ ist
dasjenige, das am häufigsten wiederkehrt, wenn Montaigne über
den Menschen spricht. Oder auch ›absurd‹. Oder ›Ungeheuer‹.
Oder ›Wunder‹. Was für ein Ungeheuer ist doch ein Tier, das vor
sich selbst erschrickt, dem seine Lust zur Last wird und das sich für
15 eine Mißgeburt hält!
Descartes wird in aller Kürze die Verbindung von Seele und
Körper feststellen und vorziehen, sie voneinander getrennt zu

4 »Wenn ich mir immer wieder […] dieses beim lieblichsten Werk

der Liebe vom Furor der Grausamkeit durchglühte Gesicht, dann dieses
inmitten solch ausgelaßnen Tuns auf einmal völlig entrückte, todernste
Sichanstarren [betrachte]; und wenn ich weiter bedenke, daß […] die
höchste Wollust gleich dem Schmerz von Klagelauten und Ohmachtsäng-
sten begleitet ist […]«
296 Montaignelektüre

denken, weil sie dann für den Verstand klar zu erkennen seien.
Die ›Vermischung‹ von Seele und Körper ist im Gegensatz dazu
der Bereich Montaignes, er interessiert sich nur für unsere tat-
sächliche Beschaffenheit, und sein Buch beschreibt in unend-
licher Fortsetzung jenes paradoxe Faktum, das wir sind. Dies
bedeutet zugleich, daß er an den Tod denkt, die Gegenprobe
unserer Inkarnation. Auf Reisen hat er in keiner Herberge ra-
sten können, ohne sich zu fragen, ob er darin bequem krank
sein und sterben könne. Ich fühle ständig den Krallengriff des
Todes in der Kehle und Lende … Er hat sich sehr treffend gegen 16
das Nachdenken über den Tod ausgesprochen. Es verzerrt und
verfehlt seinen Gegenstand, da es den fernen Tod betrifft, und
da dieser ferne Tod, der sich überall in unserer Zukunft findet,
viel unempfindlicher ist als der nahe Tod, der unter unseren Au-
gen in Form eines Ereignisses näher rückt. Es geht nicht darum,
das Leben durch das Denken des Todes zu korrumpieren. Was
Montaigne interessiert, ist nicht das Pathetische des Todes, seine
Häßlichkeit, die letzten Seufzer, der Leichenzug mit den übli-
chen Reden über den Tod und den zum Nutzen der Lebenden
bestimmten Bildern vom Tod. Jene wollten damit nicht dem Ster-
ben an sich ins Auge sehen, nicht es richtig zu beurteilen lernen –
keineswegs hierauf hefteten sie ihre Gedanken: Ihnen schwebte ein
neues Sein vor, dem sie entgegenzueilen suchten. Diejenigen, die 17
den Tröstungen des Priesters lauschen, heben Augen und Hände
gen Himmel, beten laut und fliehen den Kampf, sie lenken ihre
Gedanken vom Tod ab, so wie man Kinder, die mit der Lanzette
gestochen werden müssen, hiervon ablenkt. Montaigne will, daß 18
wir das Nicht-Sein mit einem trockenen Blick ermessen und daß
wir das Leben ganz unverhüllt erkennen, indem wir dem nackten
Tod ins Auge sehen. Der Tod ist der Akt, den jeder allein spielt. Er 19
trennt aus der ungeordneten Masse des Seins jenen besonderen
Bereich heraus, der wir sind, er läßt jene unerschöpfliche Quelle
der Meinungen, Träume und Leidenschaften, die insgeheim das
Schauspiel der Welt belebt, mit einer Evidenz ohnegleichen her-
vortreten, und er gibt uns auf diese Weise besser als jede andere
Episode des Lebens den fundamentalen Zufall zu verstehen, der
Montaignelektüre 297

uns erscheinen ließ und der uns wieder verschwinden lassen


wird.
Wenn er schreibt: Ich studiere mich mehr als irgend etwas an-
20 deres – das ist meine Metaphysik, das ist meine Physik, dann muß
man dies wörtlich nehmen. Die Erklärungen des Menschen, die
uns eine Metaphysik oder eine Physik geben können, lehnt er
von vornherein ab, weil es immer noch der Mensch ist, der die
Philosophien und die Wissenschaften ›beweist‹, und weil sie eher
durch ihn als er durch sie eine Erklärung finden. Wollte man bei-
spielsweise den Geist und den Körper für sich nehmen, indem
man sie unterschiedlichen Prinzipien zuschreibt, dann ließe man
verschwinden, was es zu verstehen gilt, nämlich das ›Ungeheuer‹,
das ›Wunder‹, den Menschen. Bei bestem Wissen und Gewissen
kann es also nicht darum gehen, das Problem des Menschen zu
lösen, sondern nur darum, den Menschen als Problem zu be-
schreiben. Von daher stammt die Idee einer Suche ohne Fund,
einer Jagd ohne Beute, die nicht das Laster eines Dilettanten ist,
sondern die einzig angemessene Methode, wenn es darum geht,
den Menschen zu beschreiben. Die Welt ist nur eine Schule der
21 Erkenntnissuche. Daher auch die Aufmerksamkeit, die Montaigne
dem Fluß der Gedanken und der Spontaneität der Träume entge-
genbringt und die ihn mitunter den Tonfall Prousts vorwegneh-
22 men läßt,5 als liege für ihn der einzige Sieg über die Zeit bereits
darin, die Zeit zum Ausdruck zu bringen.

*
Unter dieser Vorgabe steht er, der aufmerksam für alles Zufällige
und Unvollendete im Menschen ist, im Gegensatz zur Religion,

5 »Mit jenen Gedankenspielen ergeht es mir wie mit meinen Träumen:

Während ich sie träume, nehme ich mir vor, sie im Gedächtnis zu behalten
(denn ich träume oft, daß ich träume), doch am nächsten Tag kann ich mir
zwar ihre Tönung noch vergegenwärtigen: heiter, traurig oder wundersam,
aber wie sie im übrigen waren, entschwindet mir in ein um so tieferes Grab
des Vergessens, je atemloser ich es ihm zu entreißen suche. So bleibt mir,
wie gesagt, auch von den unerwartet mich überfallenden Gedankenspielen
nichts als ein flüchtiges Schattenbild in Erinnrung.«
298 Montaignelektüre

wenn man die Religion als eine Erklärung und einen Schlüssel
zur Welt versteht. Obwohl er sie oft von seiner Suche ausnimmt
und außer Reichweite stellt, redet doch nichts von dem, was er
sagt, dem Glauben das Wort.6 Wir stehen im Schmutz und Kot der 23
Erde, dem totesten und stinkigsten Winkel des Weltalls untrennbar
verhaftet. Der tierische Instinkt ist perfekter als unsere Vernunft. 24
Unsere Religion ist nur Gewohnheit: Christen sind wir im gleichen
Sinne, wie wir Périgorden oder Deutsche sind. Die Beschneidung, 25
das Fasten, die Fastenzeit, das Kreuz, das Bekenntnis, das Zölibat
der Priester, der Gebrauch der heiligen Sprache im Gottesdienst,
die Fleischwerdung Gottes und das Fegefeuer, all diese Elemente
des Christentums finden sich auch in den heidnischen Religio-
nen. In jedem Dorf entstehen die Wunder unter unseren Augen
aufgrund von Unkenntnis und Hörensagen. Einer platonischen
Legende zufolge wird Sokrates von einer Jungfrau geboren, der
Apollo erschienen war. Man hat bei Homer sämtliche Orakel und
sämtliche Vorhersagen, die man brauchte, gesucht und gefunden.
Die Offenbarungsreligion unterscheidet sich alles in allem nicht
sehr von dem, was die Verrücktheit der Menschen auf Erden her-
vorbringt. Fraglich bleibt aber, ob man daraus schließen muß,
wie es bei Montaigne gelegentlich vorkommt, daß auch den bar-
barischen Religionen bereits eine Erleuchtung zugrunde liegt –
oder aber, daß unsere Religion sich noch in einem barbarischen
Anfangsstadium befindet. Wie könnte man an seiner Antwort
zweifeln, wenn er doch selbst Sokrates seine Daimonereien und
seine Ekstasen vorwirft? In der Moral wie bei der Erkenntnis 26
hält er unsere irdische Verbundenheit jeder übernatürlichen Be-
ziehung entgegen. Man kann, so sagt er, eine Tat bereuen, man
kann aber nicht bereuen, man selbst zu sein, obwohl es gerade
dies ist, was man der Religion zufolge tun müßte. Es gibt keine
neue Geburt. Wir können nichts an uns für ungültig erklären:
Was ich tue, pflege ich ganz zu tun, und ich bin mit Leib und Seele

6 L. Brunschvicg hat in dieser Hinsicht eine sehr überzeugende Serie

von Fragmenten zusammengestellt (Descartes et Pascal lecteurs de Mon-


taigne, S. 56–78).
Montaignelektüre 299

27 dabei. Er behält sich den Fall einiger Menschen vor, die bereits in
der Ewigkeit leben, bringt aber auch ihnen Mißtrauen entgegen,
wenn er hinzufügt: Bei unsereinem aber habe ich stets zwei Dinge
in besonders engem Zusammenspiel gesehn: überhimmlisches Den-
28 ken und unterweltliches Tun.
Was er beim Christentum festhält, ist der Wunsch nach Unwis-
senheit. Warum sollte man in jenen Bereichen Scheinheiligkeit
unterstellen, in denen er die Religion über jede Kritik erhebt? Die
Religion behält ihre Gültigkeit, indem sie dem Merkwürdigen
seinen Platz einräumt und weiß, daß unser Schicksal rätselhaft
ist. Alle Lösungen des Rätsels, die sie uns an die Hand gibt, sind
mit unserer monströsen Beschaffenheit unvereinbar. Als Fra-
gestellung ist sie unter der Bedingung begründet, daß sie ohne
Antwort bleibt. Sie ist eine der Arten unserer Verrücktheit, und
unsere Verrücktheit ist uns wesentlich. Wenn man den Menschen
in den Mittelpunkt rückt, nicht den selbstzufriedenen Verstand,
sondern ein Bewußtsein, das über sich selbst erstaunt, dann kann
man den Traum von einer Kehrseite der Dinge nicht ausklam-
mern und auch die stillschweigende Anrufung eines solchen Jen-
seits nicht von sich weisen. – Sicher ist, daß wir, wenn es denn
eine Art Weltvernunft geben sollte, nicht in ihre Geheimnisse
eingeweiht sind und daß wir unser Leben in jedem Fall nach un-
seren Maßstäben führen müssen … In meiner Unwissenheit über
das große Ganze lasse ich mich für meinen Teil lässig vom allgemei-
nen Weltgesetz führen. Es wird mich genug von sich wissen lassen,
29 wenn ich es fühle. Wer würde es wagen, uns vorzuwerfen, daß wir
von diesem Leben und dieser Welt, die unseren Horizont bilden,
Gebrauch machen?

*
Wenn man nun aber die religiöse Leidenschaft ablehnt, muß man
dann nicht auch alle anderen Leidenschaften ablehnen? Mon-
taigne spricht oft und mit großem Wohlwollen von den Stoikern.
Er, der so viel gegen die Vernunft geschrieben und so gut gezeigt
hat, daß wir keinesfalls unsere Meinung ablegen können, um ei-
ner Idee unmittelbar gegenüberzustehen, er beruft sich auf die
300 Montaignelektüre

Saat der allumfassenden Vernunft, an der jeder der Natur nicht


entfremdete Mensch in seinem Innern teilhat. Da es bei ihm die 30
Anrufung eines unbekannten Gottes gibt, gibt es auch die An-
rufung einer unmöglichen Vernunft. Selbst wenn nichts ganz
›in unserer Macht‹ steht, selbst wenn wir nicht fähig sind zur
Autonomie, müssen wir uns nicht zumindest zurückziehen, uns
ein stilles Plätzchen der Gleichgültigkeit schaffen, von dem aus
wir unsere Taten und unser Leben künftig wie bedeutungslose
›Rollen‹ betrachten?
Auch dies findet sich unter anderem bei Montaigne. Meine
Meinung ist, daß man andern sich zwar leihen sollte, sich hingeben
aber nur ans eigne Selbst. Die Ehe beispielsweise ist eine Institu- 31
tion, die ihre eigenen Gesetze und Bedingungen der Ausgewo-
genheit mit sich bringt. Es wäre töricht, sie mit Leidenschaft in
Verbindung bringen zu wollen. Die Liebe, die uns dem andern
versklavt, ist nur als freie und freiwillige Ausübung annehmbar. 32
Es kommt sogar vor, daß Montaigne von ihr wie von einer kör-
perlichen Funktion spricht, die auf der Hygiene beruht, und daß
er den Körper wie eine Mechanik abhandelt, mit der wir nicht
gemeinsame Sache machen müssen. Um so mehr wird er den
Staat zu jenen äußeren Apparaten zählen, mit denen wir zufällig
verbunden sind und derer wir uns ihren Gesetzen gemäß bedie-
nen müssen, ohne etwas von uns selbst einzubringen. Unsere Be-
ziehungen zum Anderen werden stets von der Einbildungskraft
und vom Prestige beherrscht. Viel stärker noch gilt dies für das
öffentliche Leben. Es verbindet uns mit all jenen, deren Umgang
wir nicht gesucht haben, und mit vielen Dummköpfen. Mit ei-
nem Wirrkopf guten Willens zu diskutieren ist unmöglich. Wenn
ich einem solch eifernden Schulmeister in die Hände gerate, wird
nicht nur mein Verstand in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch
mein Gewissen. Im öffentlichen Leben machen mich die Narren 33
zum Narren. Montaigne spürt sehr deutlich, daß es im Sozialen
wie verhext ist: Jeder ersetzt hier seine eigenen Gedanken durch
ihren Widerschein in den Augen und Äußerungen des Anderen.
Es gibt keine Wahrheit mehr, es gibt auch, wie Pascal sagen wird,
keine Übereinstimmung des Selbst mit sich selbst mehr. Jeder ist
Montaignelektüre 301

im wörtlichen Sinne entfremdet. Entziehen wir uns all dem. Das


öffentliche Wohl verlangt, daß man zum Verräter werde, daß man
lüge und morde? Dann treten wir dieses Amt eben an Leute ab, die
34 dienstbeflißner und anpassungsfähiger sind als wir! Es ist wahr,
daß man sich nicht immer enthalten kann, daß man den Dingen
im übrigen freien Lauf lassen muß und daß es schließlich auch
der Staatsmänner oder eines Fürsten bedarf. Was können diese
wiederum ausrichten? Der Fürst wird gezwungen sein, zu lügen,
zu töten und zu betrügen. Er möge es tun, aber er soll wissen,
was er tut, und das Verbrechen nicht als Tugend zu tarnen su-
chen. Gibt es da keinen Ausweg? Keinen! Wenn der Fürst wirklich
zwischen diesen beiden Extremen auf die Folterbank gespannt war,
mußte er tun, was er tat. Geschah es ohne Bedauern und ohne ihn
zu bedrücken, zeigt dies, daß es um sein Gewissen schlecht bestellt
35 ist. Und wir, die wir zusehen? Es bleibt uns nur übrig, wie man
später sagen wird, mit Verachtung zu gehorchen. Man muß vol-
ler Verachtung sein, denn der Staat richtet sich gegen alles, was
auf der Welt zählt: gegen die Freiheit und gegen das Gewissen.
Man muß aber gehorchen, da diese Torheit das Gesetz des Le-
bens in Gemeinschaft darstellt und da es eine andere Art von
Torheit wäre, den Staat nicht seinen Gesetzen gemäß zu behan-
deln. Dennoch setzt Platon den Philosophen an die Regierung,
er stellt sich ein gerechtes Gemeinwesen vor und schickt sich an,
es aufzubauen. Kann es in einem Gemeinwesen überhaupt ein
Übel geben, das dazu berechtigte, es mit einem so tödlichen Gift
wie dem Bürgerkrieg zu bekämpfen? […] Platon […] will nicht
zulassen, daß man zur Beseitigung von Mißständen die Ruhe des
Vaterlands gewaltsam störe, und er lehnt Verbeßrungen ab, wenn
sie das Blut der Bürger kosten und sie zugrunde richten. In einer
solchen Lage, bestimmt er, sei es vielmehr Pflicht jedes rechtschaf-
36 fenen Mannes, alles beim alten zu lassen … Es ist absurd, eine
Geschichte, die aus lauter Zufällen besteht, durch die Vernunft
regeln zu wollen … Und zu meiner Zeit habe ich gesehn, wie die
weisesten Häupter unsres Königreichs höchst feierlich und für die
Staatskasse höchst kostspielig sich versammelten, um bestimmte
Vereinbarungen und Verträge auszuhandeln, während die wahre
302 Montaignelektüre

Entscheidung darüber doch vollkommen von den Gesprächen im


Boudoir der Damen abhing – und davon, welche Meinung dort
von irgendeinem Dämchen vertreten wurde. Nie werden die Vor- 37
aussicht und die Gesetze die Vielfalt der Einzelfälle ausgleichen
können, nie wird die Vernunft das öffentliche Leben denken kön-
nen. In einer Zeit, in der sich das öffentliche Leben in tausend
einzelne Konflikte aufspaltet, vermutet Montaigne nicht einmal,
daß man ihm einen Sinn unterstellen könnte. Man kann sich mit
diesem Chaos nicht versöhnen. Sein Leben in öffentlicher Funk-
tion zu führen heißt, sich im Leben nach den andern zu richten. 38
Montaigne neigt ganz offensichtlich dazu, sich nach sich selbst zu
richten …
Dennoch: Bleibt dies sein letztes Wort? Über die Liebe, über
die Freundschaft und sogar über die Politik hat er bisweilen
auch anders gesprochen. Nicht daß er sich dabei einfach wi-
dersprochen hätte. Es ist vielmehr einfach so, daß die stoische
Teilung in ein Äußeres und ein Inneres, in Notwendigkeit und
Freiheit, abstrakt ist oder sich selbst zerstört, und daß wir un-
teilbar zugleich innen und außen sind. Man kann nicht immer
gehorchen, wenn man verachtet, und man kann nicht immer
verachten, wenn man gehorcht. Es gibt Gelegenheiten, bei de-
nen gehorchen bedeutet, etwas zu akzeptieren, und bei denen
verachten bedeutet, etwas abzulehnen, bei denen das Leben als
doppeltes Spiel nicht länger möglich ist und sich das Äußere und
das Innere nicht mehr unterscheiden. Unter diesen Umständen
müssen wir uns in die Verrücktheit der Welt begeben, und für
diesen Augenblick brauchen wir eine Regel. Montaigne wußte
dies, er ist dieser Einsicht nicht aus dem Weg gegangen. Wie
auch? Er hatte das Bewußtsein beschrieben, selbst das solitäre
Bewußtsein, das bereits Züge des Absurden trägt und in seinem
Grundsatz töricht ist. Wie hätte er ihm vorschreiben sollen, bei
sich selbst zu bleiben, wenn er doch denkt, daß es ganz außer
sich ist? Der Stoizismus kann nur ein Übergang sein. Er lehrt
uns, dem Äußeren unser Sein und unser Urteil entgegenzustel-
len; er könnte uns aber nicht von ihm befreien. Montaignes ur-
eigenster Gedanke liegt vielleicht in dem Wenigen, das er uns
Montaignelektüre 303

über die Bedingungen und die Motive dieser Rückkehr zur Welt
mitteilt.

*
Es geht nicht darum, um jeden Preis zu einer beruhigenden
Schlußfolgerung zu gelangen, und auch nicht darum, am Ende
zu vergessen, was man zwischenzeitlich gefunden hatte. Die Ge-
wißheit wird sich nur aus dem Zweifel heraus einstellen. Mehr
sogar noch: Es ist der Zweifel selbst, der sich als Gewißheit erwei-
sen wird. Man muß also die Tragweite dieses Zweifels erfassen.
Wiederholen wir noch einmal, daß jeder Glaube Leidenschaft ist
und uns außerhalb unserer selbst stellt, daß man nur glauben
kann, wenn man aufhört zu denken, daß die Weisheit eine Be-
ständigkeit der Unbeständigkeit ist und daß sie die Freundschaft,
die Liebe und das öffentliche Leben ablehnt. Damit sind wir zu
uns zurückgekehrt, nur um dort immer noch das Chaos vorzu-
finden, mit dem Tod am Horizont, der das Sinnbild aller Un-
ordnung ist. Von den Anderen und von der Welt abgeschnitten
und unfähig, wie der weise Stoiker in sich und in einer inneren
Beziehung zu Gott das Mittel zu finden, die Komödie der Welt zu
rechtfertigen, steht Montaignes Weiser, wie man meinen könnte,
nur noch mit jenem Leben im Gespräch, das er noch für einige
Zeit wie verrückt aus sich hervorquellen spürt, er hat kein ande-
res Mittel mehr als einen auf alles ausgedehnten Spott und kein
anderes Motiv als die Verachtung seiner selbst und aller Dinge.
Warum sollte man in dieser Unordnung nicht einfach Verzicht
üben? Warum sollte man nicht die Tiere zum Vorbild nehmen –
jene Pferde, die im Augenblick des Todes wiehern, oder jene
Schwäne, die im Sterben singen –, warum sollte man ihnen nicht
in die Unbewußtheit folgen? Am besten wäre es, die kindliche
Sicherheit, den unbewußten Zustand der Tiere wiederzufinden.
Oder aber, entgegen dem Gefühl des Todes, irgendeine Religion
der Natur zu erdenken: Aus einem Leben, das vergeht, entsteht
39 tausendfach neues Leben.
Diese Bewegung findet sich bei Montaigne. Aber ebenso oft
auch eine andere. Denn nach all den Zweifeln – gerade wenn
304 Montaignelektüre

man weiß, daß jeder Versuch, Wissen zu erlangen, die Fragen


vervielfacht und das verdunkelt, was er eigentlich erhellen will,
und daß der Hydra der Unwissenheit für jeden abgeschlagenen
Kopf drei neue wachsen –, bleibt zu erklären, daß es Meinun-
gen gibt, daß wir zunächst glaubten, im Besitz von Wahrheiten
zu sein und daß der Zweifel erst gelernt werden muß. Ich weiß
besser, was ein Mensch als was beseelt ist oder sterblich oder ver-
nünftig. Descartes wird sich an diesen Satz erinnern. Er will zum 40
Ausdruck bringen, daß die Bewegung und die Unbeständigkeit
des Geistes nur die halbe Wahrheit sind. Die andere Hälfte ist
jenes Wunder, daß unsere Schlagfertigkeit ins Stocken geraten
ist und auch weiterhin angesichts solcher Erscheinungen stockt,
von denen wir sehr gut zeigen können, daß sie einer näheren
Untersuchung nicht standhalten, die aber zumindest einen An-
schein von Wahrheit bargen und uns eine Idee davon vermittelt
haben. Das Denken wird sich, wenn es sich selbst befragt, ewig
fortsetzen und sich ewig widersprechen, aber es gibt ein im Akt
begriffenes Denken, das nicht nichts ist und dem wir Rechnung
tragen müssen. Die Kritik am menschlichen Wissen vernichtet es
nur dann, wenn man die Idee eines vollständigen oder absoluten
Wissens bewahrt; wenn sie uns aber im Gegenteil von dieser Idee
befreit, dann wird das menschliche Wissen, als allein mögliches,
zum Maß aller Dinge und zum Äquivalent eines Absoluten. Die
Kritik an den Leidenschaften nimmt ihnen nicht ihren Wert,
wenn sie so weit geht zu zeigen, daß wir nie im Besitz unserer
selbst sind und daß wir die Leidenschaft sind. In diesem Augen-
blick werden die Gründe des Zweifels zu Gründen des Glaubens,
unsere ganze Kritik hat nur zur Folge, daß sie unsere Meinungen
und unsere Leidenschaften aufwertet, indem sie uns vor Augen
führt, daß sie unsere einzige Zuflucht sind und daß wir selbst
uns nicht verstehen, wenn wir von etwas anderem träumen. Den
Fixpunkt, den wir benötigen, um unseren Wankelmut zu unter-
binden, finden wir anderswo, nicht in der bitteren Religion der
Natur, in jener dunklen Gottheit, die ihre Werke für nichts und
wieder nichts vervielfacht, sondern in der Tatsache, daß es eine
Meinung gibt, daß es den Anschein von wahr und falsch gibt. Das
Montaignelektüre 305

Natürliche, die Naivität und die Unwissenheit wiederzufinden,


bedeutet also, die Gnade der ersten Gewißheiten wiederzufinden,
in jenem Zweifel, der sie einkreist und der sie sichtbar werden
läßt.
Tatsächlich hat Montaigne nicht nur gezweifelt. Zweifeln ist
eine Handlung, und der Zweifel kann folglich unser Handeln,
unser Tun nicht durchbrechen, das ihm gegenüber im Recht ist.
41 Derselbe Autor, der sich in seinem Leben nach sich richten wollte,
hat leidenschaftlich empfunden, daß wir unter anderem das
sind, was wir für die Anderen sind, und daß ihre Meinung uns
im Zentrum unserer selbst trifft. Stellte einer mich anders dar als
ich war – und sei es, um mich zu ehren –, sagt er mit einer plötzli-
chen Wut, käme ich stracks aus dem Jenseits zurück, um ihn Lügen
42 zu strafen. Seine Freundschaft mit La Boétie war eine Bindung
43 von genau jener Art, die uns zu Sklaven anderer macht. Er dachte
nicht, sich besser zu kennen als La Boétie ihn kannte, er lebte
unter seinen Augen, und auch nach dem Tod seines Freundes
hält Montaigne diese Beziehung aufrecht: Er befragt und studiert
sich, um sich so zu erkennen, wie La Boétie ihn erkannt hat, er
allein erfreute sich meines wahren Bildes und nahm es mit sich ins
Grab. Dies ist der Grund, weswegen ich mich selbst so neugierig zu
44 entziffern suche. Man sieht selten ein so vollkommenes Talent.
Weit mehr, als daß die Freundschaft La Boéties ein Glücksfall sei-
nes Lebens war, muß man sogar sagen, daß Montaigne und der
Autor der Essais gleichermaßen aus dieser Freundschaft gebo-
ren wurden und daß für ihn alles in allem ›existieren‹ bedeutet,
unter dem Blick seines Freundes zu existieren. Denn der wahre
Skeptizismus ist eine Bewegung in Richtung der Wahrheit, die
Kritik an den Leidenschaften ist der Haß auf die falschen Leiden-
schaften, und Montaigne hat schließlich, unter mancherlei Um-
ständen, außerhalb seiner selbst Menschen und Dinge erkannt,
die abzulehnen er sich nicht einmal hätte träumen lassen, weil
sie gewissermaßen den Inbegriff seiner äußeren Freiheit dar-
stellten, weil er durch die Liebe zu ihnen er selbst sein konnte
und weil er sich in ihnen wiederfand, so wie er sie auch in sich
wiederfand.
306 Montaignelektüre

Selbst im Vergnügen, von dem er manchmal wie ein Arzt


spricht, ist Montaigne im Grunde nicht zynisch. Es ist Torheit,
all seine Gedanken an eine Liebesbeziehung zu heften und sich mit
wilder, ja völlig blinder Leidenschaft hierin zu verstricken. Sich an-
drerseits aber ohne Zuneigung und gefühlsmäßige Bindung hinein-
zubegeben, nach dem Brauch unserer Zeit wie ein Schauspieler eine
Rolle mimen und an Eigenem nur Worte beisteuern heißt zwar für
seine Sicherheit sorgen, jedoch auf höchst feige Weise: wie einer, der
seine Ehre aus Angst vor der Gefahr drangäbe, oder seinen Gewinn,
oder seinen Genuß. Fest steht, daß Männer, die eine Beziehung auf
jene Art handhaben, sich davon nichts erhoffen können, was eine
edle Seele zu berühren, geschweige zu befriedigen vermöchte. Der 45
gealterte Montaigne sagt, der Erfolg einer Verführung hänge vom
gewählten Augenblick ab. Was aber beweist diese späte Weisheit?
Als er jung und verliebt war, hat er seine Liebesbeziehungen nie
wie Schlachten und mit Hilfe einer Taktik geführt. Oft hat es mir
an Glück gefehlt, zuweilen aber auch an Draufgängertum. Doch
Gott bewahre den vor Übel, der sich heute darüber lustig zu ma-
chen wagt! Zur Zeit muß man in der Liebe ja bedenkenloser sein,
was unsre jungen Leute mit ihrer angeblichen Leidenschaftlichkeit
entschuldigen; sähen die Frauen jedoch etwas genauer hin, wür-
den sie erkennen, daß dies vielmehr der Verachtung entspringt. Ich
hingegen hatte eine abergläubische Angst, eine Frau zu verletzen,
denn mir ist es ein Bedürfnis, wen ich liebe, auch zu achten. Über-
dies nimmt man diesem Geschäft allen Glanz, sobald man es ohne
Ehrerbietung betreibt. Es gefällt mir, wenn der Mann dabei ein biß-
chen den schüchternen Jüngling und ergebnen Diener spielt. Sicher
nicht gerade in Liebesdingen, so doch anderweitig eignen mir selbst
einige Züge dieser unbeholfenen Scheu, von der Plutarch spricht
(und die mir im Laufe meines Lebens verschiedentlich geschadet
und blaue Flecken eingebracht hat ) […] Abgewiesen zu werden
tut mir ebenso weh wie abzuweisen; und jemanden zu belästigen
belastet mich derart, daß ich, wenn die Pflicht mich zwingt, die
Absichten eines andern in einer zweifelhaften und für ihn unange-
nehmen Sache auszuloten, nur halbherzig, ja widerwillig ans Werk
gehe … So spricht ein sehr sanfter Zyniker. Das Schicksal hat es 46
Montaignelektüre 307

nicht so eingerichtet, daß er aus Liebe so lieben konnte wie er


aus Freundschaft liebte, aber er selbst hat darauf keinen Einfluß
gehabt.
Er hat das verhexte Gebiet des öffentlichen Lebens betreten;
er hat sich ihm nicht entzogen. Ich will mitnichten, daß man den
Ämtern, die man übernimmt, seine Hingabe in Wort und Tat, ja
47 notfalls seinen Schweiß und sein Blut versage. Die Bürgerschaft hat
ihn mehrmals zum Bürgermeister ernannt. Ich wünsche ihr alles
denkbar Gute, und gewiß hätte ich, wäre sie in Bedrängnis geraten,
keine Anstrengung gescheut, ihr herauszuhelfen. Jedenfalls habe ich
48 mich für sie in gleichem Maße gerührt wie für mich selbst. Wie
ist es ihm gelungen, ein öffentliches Leben zu führen, wenn ihm
doch jede Form von Herrschaft zuwider ist, ob ausgeübt oder er-
49 litten? Er gehorcht, ohne den Gehorsam zu mögen, und er erteilt
Befehle, ohne die Befehlsgewalt zu mögen. Er würde kein Fürst
sein wollen. Der Fürst steht allein da. Er ist kein Mensch, denn er
ist unanfechtbar. Er lebt nicht, er schläft, da vor ihm alles zurück-
weicht. Aber die Leidenschaft, zu gehorchen ist auch häßlich und
unnütz: Wie sollte man demjenigen, der sich mit Leib und Seele
ausliefert, seine Wertschätzung entgegenbringen? So wie er in der
Lage ist, sich bedingungslos einem Gebieter hinzugeben, so ist er
auch in der Lage, dies zu ändern. Ja, man muß einen Entschluß
fassen und bis in die letzten Konsequenzen hinein verfolgen, aber
die passenden Gelegenheiten sind nicht so häufig, wie man meint,
und man darf nicht allzu bereitwillig eine Wahl treffen, da es
in diesem Fall nicht mehr der Anlaß, sondern die Sekte ist, die
man liebt. Gegen Bindungen und Verpflichtungen, die sich unseres
Innern bemächtigen wollen, bin ich gefeit. Zorn und Haß liegen
jenseits dessen, was der Gerechtigkeitssinn uns auferlegt; solche Lei-
denschaften sind nur ein Notbehelf für jene, denen die Vernunft
allein nicht reicht, ihre Schuldigkeit zu tun […] Ein Handeln aus
innrer Erbitterung und Feindseligkeit, die eigennützigen Interessen
und Leidenschaften entspringen, darf man hingegen keineswegs
Pflichterfüllung nennen (wie wir es täglich tun), sowenig wie ein
treuloses und hinterhältiges Vorgehen Mut: Solche Leute geben ih-
ren Hang zur Heimtücke und Gewalt als Eifer aus; aber es ist nicht
308 Montaignelektüre

die Sache, die sie entflammt, sondern ihre Selbstsucht. Sie schüren
den Krieg nicht um der Gerechtigkeit, sondern um des Krieges wil-
len. Wenn ich mich willentlich einer Partei anschließe, dann nie mit
so leidenschaftlicher Hingabe, daß mein Verstand davon angesteckt
würde. Man kann einer Partei dienen und doch über das urtei- 50
len, was in ihr geschieht, man kann im Gegner Intelligenz und
Ehre entdecken und damit letztlich weiterhin im Bereich des So-
zialen existieren. Ich habe mich auf öffentliche Ämter einzulassen
vermocht, ohne auch nur einen Fingerbreit von mir abzuweichen,
und mich andern hingeben können, ohne mich preiszugeben. Man 51
wird vielleicht sagen, daß diese Regeln Partisanen, aber keine
Soldaten schaffen. Das ist wahr, und Montaigne weiß es auch.
Er kann sich gelegentlich und mit klarem Verstand zu einer Lüge
zwingen, aber er wird sie nicht zur Gewohnheit und zum Lebens-
inhalt werden lassen. Wer sich meiner nach meiner Art bedienen
will, erteile mir Aufträge, die eines energischen und freimütigen
Anpackens bedürfen und auf gradem und kurzem Wege ausgeführt
werden müssen, möge er durchaus gefährlich sein. Da werde ich
etwas zustande bringen. Muß man dafür jedoch lange und mühse-
lige, krumme und Gerissenheit erfordernde Wege einschlagen, tut
man besser daran, sich an einen andern zu wenden. Vielleicht liegt 52
hierin eine gewisse Verachtung. Vielleicht möchte Montaigne
aber auch noch etwas anderes sagen. Wir pflegen unsere Fragen
so zu stellen, als seien sie universal, als achteten wir bei unse-
rem Wohl zugleich immer auch auf das Wohl aller Menschen.
Wenn dies aber nun ein Vorurteil wäre? Da er ist, was er ist, wird
Montaigne nie ein Partisan sein. Man erledigt nur das gut, was
man von sich aus beginnt. Er braucht sich nicht aufzuspielen. Er
kann mehr und besser dienen, wenn er sich nicht in Reih und
Glied einfügt. Darf man dieses Gewicht, das man seinen Worten
beimaß, geringschätzen, da man ja wußte, daß er weder log noch
schmeichelte? Und hat er nicht um so besser gehandelt, je weni-
ger er daran festhielt?
Die Leidenschaften scheinen der Tod des Ich zu sein, da sie es
über sich selbst hinaustreiben, und Montaigne fühlte sich von
ihnen bedroht wie vom Tod. Er versucht nun, uns zu beschrei-
Montaignelektüre 309

ben, was man seitdem die freien Leidenschaften nennt: Nachdem


er gespürt hatte, daß das, was er liebt, angesichts dieser Bedro-
hung auf dem Spiel stand, bestätigt er mit großer Entschlossen-
heit die natürliche Bewegung, die ihn über sich hinaustrieb, er
tritt in das menschliche Spiel ein. Bei der Berührung mit dieser
Freiheit und mit diesem Mut werden die Leidenschaften und der
Tod selbst transformiert. Nein, es ist nicht das Nachdenken über
den Tod, das sich über ihn erhebt: Die guten Argumente sind es,
die einen Bauern, ja ganze Völker ebenso standhaft sterben lassen
53 wie einen Philosophen, und sie gehen auf ein einziges Argument
zurück: Wir sind lebendig, und nur hier liegen unsere Aufgaben,
die immer dieselben sind, solange uns auch nur ein Atemzug
bleibt. Das Nachdenken über den Tod ist scheinheilig, denn es
ist eine verdrießliche Art zu leben. In der Bewegung, die ihn zu
den Dingen führt, entdeckt Montaigne, gerade weil er die darin
liegende Willkür und Gefahr aufgezeigt hat, ein wirksames Mittel
gegen den Tod. Ich meine, daß der Tod zwar das Ende des Lebens
ist, nicht aber dessen Ziel; zwar sein Schlußpunkt, seine äußerste
Grenze, nicht aber sein Zweck. Es muß vielmehr auf sich selber ge-
richtet sein, sich selber wollen. Seine wahre Aufgabe besteht darin,
sich seine eigne Ordnung und Führung zu geben, mit sich ins reine
zu kommen. Und erst zu den vielen anderweitigen Pflichten, die
dieses allgemeine und grundlegende Kapitel ›Recht zu leben wissen‹
umfaßt, gehört dann der Abschnitt ›Recht zu sterben wissen‹; und er
könnte einer der leichtesten sein, wenn unsre Furcht ihm nicht ein
54 derartiges Gewicht gäbe. Das Mittel gegen den Tod und gegen die
Leidenschaften ist nicht, sich von ihnen abzuwenden, sondern im
Gegenteil, über sie hinauszugehen, da alles in uns darauf drängt.
Die Anderen bedrohen unsere Freiheit? Aber man muß mit den
55 Lebenden leben. Wir riskieren dabei, zu Sklaven gemacht zu wer-
den? Ohne dieses Risiko gibt es aber keine wahre Freiheit. Die Tat
und ihre Folgeerscheinungen verwirren uns? Das Leben ist jedoch
eine stoffliche und körperliche Bewegung, seinem ganzen Wesen
nach unberechenbar und nie vollendet; demgemäß suche ich ihm
56 zu dienen. Es ist sinnlos, unsere Beschaffenheit zu verwünschen:
Das Schlechte wie das Gute finden sich nur in unserem Leben.
310 Montaignelektüre

Montaigne berichtet, daß die Ärzte ihm geraten hatten, sich


bei Schiffsreisen fest mit einem Tuch zu umwickeln, um die See-
krankheit abzuwenden. Ich habe es jedoch nie ausprobiert, fügt er
hinzu, da ich gewohnt bin, meine Unzulänglichkeiten selber anzu-
gehen und in den Griff zu bekommen. Seine ganze Moral beruht 57
auf einer Bewegung des Stolzes, durch die er sein riskantes Le-
ben in die Hand zu nehmen beschließt, da alles nur in einem so
geführten Leben einen Sinn hat. Nach diesem Umweg über sich
selbst erscheint ihm alles wieder gut. Er sagte, er wolle lieber als
im Bett zu Pferde sterben. Nicht daß er zur eigenen Unterstüt- 58
zung auf den Zorn des Kriegers zählte, er fand vielmehr in den
Dingen, mit einer steten Bedrohung, eine letzte Wegzehrung. Er
hat die vieldeutige Verbindung gesehen, die ihn mit den Din-
gen verband. Er hat gesehen, daß es keine Wahl gibt zwischen
sich – und den Dingen. Das Ich ist nicht seriös, es bindet sich
nicht gern. Aber gibt es etwas, das so ausschließlich mit sich selbst
befaßt, so unnahbar, so eigensinnig und so herablassend wäre wie
der Esel – und so humorlos? … Es ist die bedingungslose Freiheit, 59
die eine absolute Bindung ermöglicht. Montaigne sagt über sich
selbst: Ich war so sparsam mit meinen Versprechen, daß ich glaube,
mehr gehalten als versprochen zu haben; und mehr, als ich ihnen
schuldete. Er hat das Geheimnis des Seins gesucht und vielleicht 60
gefunden, gleichzeitig ironisch und ernst, frei und treu.
1 AN MER KU NG Z U M ACH I AV E L L I 1

Wie soll man ihn verstehen? Er wendet sich in seinen Schriften


gegen den Großmut in der Politik, aber er lehnt auch die Ge-
walt ab. Er irritiert die Rechtsgläubigen ebenso wie alle, die an
die Staatsraison glauben, da er es wagt, in dem Augenblick von
Tugend zu sprechen, in dem er die herkömmliche Moral zutiefst
verletzt. Denn er beschreibt diese Verknüpfung des gemeinschaft-
lichen Lebens, bei der die reine Moral grausam sein und die reine
Politik so etwas wie eine Moral erfordern kann. Mit einem Zyni-
ker, der die Werte verleugnet oder mit einem Naiven, der die Tat
aufopfert, könnte man sich abfinden. Aber man mag nicht diesen
schwierigen Denker, der zudem ohne Götzen auskommt.
Er ist gewiß manches Mal in Versuchung geraten, zynisch zu
werden: Es hat ihn, wie er sagt, »große Mühe« gekostet, sich ge-
gen die Meinung derer zur Wehr zu setzen, die glauben, die Welt
2 »würde von Fortuna geleitet«2 Wenn nämlich die Humanität nur
ein Produkt der glücklichen Fügung ist, dann erkennt man nicht
auf Anhieb, was das Gemeinwesen aufrecht halten könnte, wenn
nicht die reine Gewaltanwendung seitens der politischen Macht.
Die ganze Rolle einer Regierung besteht folglich darin, ihre Un-
tertanen in Schach zu halten.3 Alle Regierungskunst geht auf
3 die Kriegskunst zurück,4 und »gute Truppen schaffen gute Ge-
4 setze«5. Zwischen der Macht und ihren Untertanen, zwischen
dem Ich und dem Anderen gibt es keinen Bereich, der nicht von
Rivalität bestimmt wäre. Man muß diesen Druck entweder aus-

1 Beitrag zur Tagung Umanesimo e scienza politica, Rom-Florenz, Sep-

tember 1949.
2 Der Fürst, Kap. XXV.
3 Discorsi, II, 23, zit. von A. Renaudet, Machiavel, S. 305.
4 Der Fürst, Kap. XIV.
5 Kap. XVII.
312 Anmerkung zu Machiavelli

halten oder ausüben. Machiavelli redet ständig von Unterdrük-


kung und Aggression. Das Leben in der Gemeinschaft ist die
Hölle.
Darin aber liegt seine Originalität, das Prinzip des Kampfes
aufgestellt zu haben und darüber hinauszugehen, ohne es je
zu vergessen. Im Kampf selbst findet er noch etwas anderes als
den Widerstreit. »Während sich die Menschen bemühen, keine
Angst zu haben, streben sie doch danach, von anderen gefürch-
tet zu werden, und die Aggression, die sie ihrerseits von sich
weisen, bringen sie dem anderen wieder entgegen, als ginge es
notwendigerweise nur darum, den anderen zu kränken oder
selbst gekränkt zu werden.« Im selben Augenblick, in dem ich 5
Angst haben werde, verbreite ich auch Angst, es ist dieselbe
Aggression, die ich von mir fernhalte und die ich den Ande-
ren wieder entgegenbringe, es ist derselbe Schrecken, der mich
bedroht und den ich verbreite, ich erlebe meine eigene Furcht
in der Furcht, die ich auslöse. Durch eine Art Rückstoß wirkt
der Schmerz, den ich verursache, bei mir ebenso heftig wie bei
meinem Opfer, und die Grausamkeit ist folglich keine Lösung,
sondern muß immer wieder von neuem begangen werden. Es
gibt eine Kreisbewegung zwischen mir und dem Anderen, eine
dunkle Gemeinschaft der Heiligen, das Schlechte, das ich zu-
füge, füge ich mir selbst zu, und ich kämpfe ebensogut gegen
mich selbst, wenn ich gegen den Anderen kämpfe. Alles in allem
besteht ein Gesicht nur aus Schatten, Licht und Farben, und so
geschieht es, daß der Peiniger sich auf merkwürdige Weise ge-
hemmt fühlt, daß eine andere Angst die seine übernommen hat,
weil sich dieses Gesicht auf eine bestimmte Art und Weise zu
einer Grimasse verzogen hat. Ein Satz ist immer nur eine Äuße-
rung, eine Ansammlung von Bedeutungen, die im Prinzip nie
die gleiche einzigartige Würze aufweisen können, die sie als ein-
zelne besitzen. Und dennoch, wenn das Opfer sich besiegt zeigt,
fühlt der grausame Mensch über diese Worte hinweg ein anderes
Leben schlagen, er befindet sich vor einem anderen Selbst. Wir
sind weit entfernt von den Beziehungen einer reinen Kraft, die
zwischen den Dingen existieren. Um die Worte Machiavellis auf-
Anmerkung zu Machiavelli 313

zugreifen: Wir sind von den ›Tieren‹ zum ›Menschen‹ überge-


6 gangen.6
Genauer gesagt sind wir von einer Kampfweise zu einer an-
deren übergegangen, von einem »Kampf mit bloßer Gewalt«
7 zu einem »Kampf mit der Waffe der Gesetze«.7 Der mensch-
liche Kampf unterscheidet sich vom Kampf der Tiere, aber es
ist ein Kampf. Die Herrschaft ist keine bloße Gewalt, und noch
viel weniger ist sie eine redliche Übertragung der individuellen
Willensäußerungen, als könnten diese Willensäußerungen ihren
Unterschied gegenüber der Macht für nichtig erklären. Ob die
Herrschaft nun ererbt oder neu erworben ist, sie wird in Der
Fürst stets als anfechtbar und bedroht dargestellt. Eine der Auf-
gaben des Fürsten ist es, die Fragen zu lösen, bevor sie durch
8 die Erschütterung der Untertanen unlösbar geworden sind.8 Man
könnte sagen, es geht darum, ein Erwachen der Bürger zu ver-
meiden. Es gibt keine absolut fest gegründete Herrschaft, es gibt
nur das Herausbilden einer Meinung. Sie toleriert die Herrschaft
und hält sie für gefestigt. Das Problem liegt darin, ein Zerfal-
len dieser Übereinkunft zu vermeiden, das sich innerhalb kurzer
Zeit und unabhängig von den jeweiligen Mitteln der Gewaltaus-
übung bemerkbar machen kann, sobald ein bestimmter Punkt
der Krise überschritten wurde. Die Herrschaft gehört zur Ord-
nung des Stillschweigenden. Die Menschen begnügen sich mit
einem Leben im Horizont von Staat und Gesetz, solange ihnen
kein Unrecht bewußt werden läßt, wie viel Ungerechtfertigtes sie
erdulden. Die Herrschaft, die man legitim nennt, ist diejenige,
9 der es gelingt, Verachtung und Haß zu vermeiden.9 »Ein Fürst
darf nur so viel Furcht verbreiten, daß er, wenn er dadurch schon
10 keine Liebe gewinnt, doch keinen Haß auf sich zieht.«10 Es ist
ganz egal, ob die Herrschaft im Einzelfall gerügt wird: Sie rich-

6 Kap. XVIII.
7 Ebd.
8 Kap. III.
9 Kap. XVI.
10 Kap. XVII.
314 Anmerkung zu Machiavelli

tet sich in jenem Zeitabstand ein, der die Kritik vom Widerruf
und die Diskussion vom Mißkredit trennt. Die Beziehungen von
Subjekt und Macht, wie jene von Ich und Anderem, knüpfen un-
tereinander ein festeres Band als es ein Urteil zu sein vermag,
sie überdauern jede Anfechtung, solange es sich nicht um die
radikale Anfechtung der Verachtung handelt.
Da sie weder reine Tatsache noch absolutes Recht ist, kann
die Herrschaft weder zwingend noch überzeugend sein: Sie um-
garnt vielmehr – und man umgarnt viel wirkungsvoller, wenn
man an die Freiheit appelliert, als wenn man Angst und Schrek-
ken verbreitet. Sehr genau beschreibt Machiavelli diesen steten
Wechsel von Spannung und Entspannung, von Repression und
Rechtmäßigkeit, dessen Geheimnis die autoritären Regime für
sich behalten, der aber, als Zuckerguß, das Wesen aller Diploma-
tie ausmacht. Manchmal hat man jene lieber in der Hand, denen
man sein Vertrauen schenkt: »Niemals hat ein neuer Herrscher
seine Untertanen entwaffnet; vielmehr hat er sie, wenn er sie un-
bewaffnet vorfand, stets mit Waffen versorgt; indem du ihnen
nämlich Waffen gibst, werden diese Waffen zu deinen eigenen
[…] Wenn du jedoch die Untertanen entwaffnest, beginnst du,
sie zu beleidigen; du zeigst nämlich, daß du ihnen gegenüber
Mißtrauen hegst, sei es aus Feigheit, sei es aus zu geringem Ver-
trauen; und beides erregt Haß gegen dich.«11 »Leichter läßt sich 11
eine Stadt, die gewohnt ist, frei zu sein, mit Hilfe ihrer eigenen
Bürger beherrschen als auf irgendeine andere Weise.«12 In einer 12
Gesellschaft, in der jeder dem Anderen auf seltsame Weise gleicht,
in der man mißtrauisch ist, wenn der Andere mißtrauisch ist,
und vertrauensvoll, wenn der Andere Vertrauen zeigt – in einer
solchen Gesellschaft gibt es keinen reine Gewaltanwendung: So
wie die Gewaltherrschaft Verachtung nach sich zog, würde die
Unterdrückung eine Revolte hervorrufen. Die besten Stützen ei-
ner Herrschaft sind nicht einmal jene, die sie errichtet haben:
Sie glauben, Anspruch auf diese Herrschaft zu haben, oder zu-

11 Kap. XV.
12 Kap. V.
Anmerkung zu Machiavelli 315

mindest fühlen sie sich in Sicherheit. Es sind seine Feinde, die


ein neuer Herrscher gewinnen muß, sofern sich seine Gegner
13 für eine Sache gewinnen lassen.13 Sollten die politischen Gegner
jedoch nicht den eigenen Interessen unterzuordnen sein – dann
wird der Herrschende nicht nur halbherzig gegen sie vorgehen:
»Man muß die Menschen entweder verwöhnen oder vernichten;
denn für leichte Demütigungen nehmen sie Rache, für schwere
14 können sie dies nicht tun.«14 Zwischen der Verführung und der
Vernichtung der Besiegten kann der Sieger folglich abwägen, und
Machiavelli neigt mitunter zur Grausamkeit: »Es gibt in Wahrheit
kein sicheres Mittel, sie [die Herrschaft] zu behalten, außer ihrer
[der Städte] Vernichtung. Und wer Herr über eine Stadt wird,
die gewohnt war frei zu sein, und sie nicht zerstört, mag sich
15 darauf gefaßt machen, von ihr vernichtet zu werden.«15 Dennoch
kann die reine Gewalt nur vorübergehend angewandt werden.
Sie könnte nie zu jener tiefgreifenden Zustimmung führen, die
eine Herrschaft stützt, und sie vermag sie auch nicht zu ersetzen:
»Und wäre [der Fürst] auch gezwungen, einen hinrichten zu las-
sen, so tue er dies, wenn dafür eine entsprechende Rechtfertigung
16 und ein offensichtlicher Grund bestehen.«16 Somit kommt man
wieder auf die Feststellung zurück, daß es keine absolute Herr-
schaft gibt …
Er hat also als erster eine Theorie der ›Kollaboration‹ und der
Zusammenführung der Gegner aufgestellt (wie übrigens auch
eine Theorie der ›fünften Kolonne‹), die sich zum politischen
Terror so verhält wie der Kalte Krieg zum Krieg. Worin aber
liegt, so wird man fragen, der Nutzen für den Humanismus? Er
liegt zunächst einmal darin, daß Machiavelli uns mitten in das
eigentliche Gebiet der Politik hineinführt und uns erlaubt, die
Größe der Aufgabenstellung abzuschätzen, wenn wir der Politik
irgendeine Wahrheit beimessen wollen. Er liegt überdies darin,

13 Kap. XV.
14 Kap. V.
15 Kap. III.
16 Kap. XVII.
316 Anmerkung zu Machiavelli

daß man uns den Beginn einer Humanität vor Augen führt, die
plötzlich und scheinbar ohne Wissen der Macht aus dem Ge-
meinwesen hervorgeht und die nur auf der Tatsache beruht, daß
sie das Bewußtsein der Menschen zu verführen sucht. Die Falle
des Gemeinwesens öffnet sich in beide Richtungen: Die liberalen
Regierungen sind stets etwas weniger liberal als man annimmt,
die anderen Regierungen hingegen stets etwas mehr. Machiavellis
Pessimismus ist also nicht endgültig. Er hat sogar auf die Bedin-
gungen einer Politik hingewiesen, die nicht ungerecht wäre: Es
müßte eine Politik sein, die das Volk zufriedenstellt. Nicht etwa,
weil das Volk alles wissen sollte, sondern weil, wenn es einen Un-
schuldigen gibt, es nur das Volk sein kann: »Man kann nicht auf
ehrenhafte Weise und ohne anderen Unrecht zu tun die Großen
zufriedenstellen, wohl aber das Volk; denn das Bestreben des Vol-
kes ist ehrenhafter als das der Großen, insofern diese das Volk
unterdrücken wollen, das Volk jedoch nicht unterdrückt werden
will […] Das Volk verlangt lediglich danach, nicht unterdrückt
zu werden.«17 17
Machiavelli äußert sich in Der Fürst nicht weiter über die Be-
ziehungen von Herrschaft und Volk. Man weiß aber, daß er in
den Betrachtungen über die erste Dekade des Titus Livius einen
republikanischen Standpunkt eingenommen hat. Vielleicht kön-
nen wir also seine Aussagen über die Beziehungen des Fürsten
zu seinen Ratgebern auf die Beziehungen von Herrschaft und
Volk übertragen. Unter dem Namen der Tugend beschreibt er
also einen Weg, mit den Anderen zu leben. Der Fürst darf sich
in seinen Entscheidungen nicht nach den Anderen richten: Es
würde ihm nur Verachtung einbringen. Ebensowenig darf er
ganz losgelöst von allem regieren, denn eine solche Absonderung
ist nicht gleichbedeutend mit Autorität. Es gibt aber einen mög-
lichen Mittelweg, der zwischen diesen beiden Formen eines zum

17 Kap. IX. Man ist hier nicht weit entfernt von der Definition des 18

Staates, wie sie in der Utopia von Thomas Morus gegeben wird: »qua-
edam conspiratio divitum de suis commodis reipublicae nomine tituloque
tractantium.«
Anmerkung zu Machiavelli 317

Mißerfolg verurteilten Verhaltens liegt. »Pater Luca, ein Vertrau-


ter des jetzigen Kaisers Maximilian, sagte mir, als er über Seine
Majestät sprach, daß der Kaiser sich mit niemandem berate und
auch nie etwas nach eigenem Ermessen tue; dies kommt daher,
daß er es mit dem Gegenteil des oben Gesagten hält. Denn der
Kaiser ist ein verschwiegener Mann, teilt seine Pläne niemandem
mit und holt keinen Rat ein; da seine Pläne aber, sobald sie zur
Ausführung gelangen, bekannt und offenkundig werden, wecken
sie Widerspruch bei seiner Umgebung, und da er leicht umzu-
19 stimmen ist, kommt er wieder von ihnen ab.«18 Es gibt eine Art
und Weise, sich zu vergewissern, wer den Anderen zu unterdrük-
ken sucht – und wer ihn zum Sklaven macht. Und es gibt eine
Beziehung des Ratschlags und des Austauschs mit dem Anderen,
die nicht der Tod ist, sondern das eigentliche Handeln des Ich.
Der ursprüngliche Kampf droht immer wieder aufzuflammen:
Es muß notwendigerweise der Fürst sein, der die Fragen stellt,
und er darf niemandem, bei Strafe der Verachtung, dauerhaft
die Genehmigung erteilen, frei zu sprechen. Wenigstens in den
Augenblicken aber, in denen er sich berät, tauscht er sich mit
den Anderen aus, und dem Entschluß, den er fassen wird, kön-
nen sich die Anderen anschließen, denn er ist in gewisser Weise
auch ihr Entschluß. Die ungebändigte Grausamkeit der Anfänge
wird überwunden, wenn sich untereinander die Verbindung des
gemeinsamen Werkes und des gemeinsamen Schicksals festigt.
Das Individuum wächst dann durch die Gaben selbst, die es dem
Herrscher darbringt, es gibt zwischen ihnen einen Austausch.
Wenn der Feind das Territorium verwüstet, und wenn die Un-
tertanen, die mit dem Fürsten Zuflucht in der Stadt suchen, ihr
Hab und Gut geplündert und verloren sehen, dann verpflichten
sie sich unter den gegebenen Umständen ohne jeden Rückhalt:
»Liegt es doch in der Natur des Menschen, sich ebenso verpflich-
tet zu fühlen aufgrund von Wohltaten, die man erweist, wie auf-
20 grund von solchen, die man empfängt.«19 Was soll’s, wird man

18 Der Fürst, Kap. XXIII.


19 Kap. X.
318 Anmerkung zu Machiavelli

sagen, wenn es sich doch nur um eine weitere Täuschung han-


delt, wenn es die größte List des Herrschers ist, die Menschen
davon zu überzeugen, daß sie gewinnen, obwohl sie verlieren?
Machiavelli sagt jedoch an keiner Stelle, die Untertanen würden
getäuscht. Er beschreibt die Geburt eines Gemeinwesens, das die
Schranken der Eigenliebe nicht kennt. An die Medici gerichtet,
beweist er mit seiner Rede, daß die Herrschaft nicht ohne Be-
rufung auf die Freiheit auskommt. In dieser Umkehrung ist es
möglicherweise der Fürst, der getäuscht wird. Wenn Machiavelli
ein Republikaner war, so deshalb, weil er ein Prinzip der Gemein-
schaft gefunden hat. Als er den Konflikt und den Kampf an den
Ursprung der sozialen Herrschaft setzte, wollte er damit nicht
sagen, daß eine Einigung unmöglich sei, er wollte die Vorausset-
zung einer Herrschaft hervorheben, die nicht von Täuschungen
bestimmt wäre und die eine Beteiligung an der gemeinschaftli-
chen Situation wäre.
Der ›Immoralismus‹ Machiavellis erhält hierdurch seinen
wahren Sinn. Man zitiert ihn stets mit den Maximen, die Ehr-
lichkeit allein im Bereich des Privaten gelten zu lassen und das
Machtinteresse zur einzigen Regel in der Politik zu erklären. Be-
trachten wir jedoch die Gründe, derentwegen er die Politik dem
reinen moralischen Urteil entzieht: Er gibt zwei Gründe an. Der
erste lautet, daß »ein Mensch, der sich in jeder Hinsicht zum Gu-
ten bekennen will, zugrunde gehen muß inmitten von so viel
anderen, die nicht gut sind«.20 Ein schwaches Argument, denn 21
man könnte es ebensogut auf das Privatleben anwenden, in dem
Machiavelli gleichwohl ›moralisch‹ bleibt. Der zweite Grund hat
weitreichendere Konsequenzen: Er besagt, daß Güte sich in der
historischen Tat manchmal als katastrophal erweist und daß die
Grausamkeit oft weniger grausam ist als eine allzu große Nach-
sicht: »Cesare Borgia galt als grausam; nichtsdestoweniger hat
er durch seine Grausamkeit die Romagna geordnet und geeint
sowie dort Frieden und Ergebenheit wiederhergestellt, deren
diese Provinz solange Zeit entbehrte. Bei genauer Betrachtung

20 Kap. XV.
Anmerkung zu Machiavelli 319

wird man feststellen, daß er so viel mehr Milde besaß als das
Volk von Florenz, das – um dem Ruf der Grausamkeit zu entge-
hen – zuließ, daß Pistoia zerstört wurde.[21] Einen Fürsten darf
es daher nicht kümmern, der Grausamkeit bezichtigt zu werden,
wenn er dadurch bei seinen Untertanen Einigkeit und Ergeben-
heit aufrechterhält; er erweist sich als milder, wenn er nur ganz
wenige Exempel statuiert, als diejenigen, die aus zu großer Milde
Mißstände einreißen lassen, woraus Mord und Raub entstehen;
denn hierdurch wird gewöhnlich einem ganzen Gemeinwesen
Gewalt angetan, während die Exekutionen auf Befehl des Für-
22 sten nur gegen einzelne Gewalt üben.«22 Was Milde bisweilen in
Grausamkeit verwandelt und Härte in einen Wert, und was die
Regeln des Privatlebens durcheinanderbringt, ist der Umstand,
daß die Handlungen der Macht in ein bestimmtes Meinungs-
bild eingreifen, das ihren Sinn verändert; sie rufen mitunter ein
übermäßiges Echo hervor; sie weiten oder schließen die verbor-
genen Risse im Block der allgemeinen Zustimmung und leiten
einen molekularen Prozeß in die Wege, der den ganzen Lauf der
Dinge verändert. Oder anders gesagt: So wie Spiegel, die man
im Kreis aufstellt, eine kleine Flamme in eine ganze Zauberwelt
verwandeln, so nehmen auch die Handlungen der Macht, wenn
sie sich in der Konstellation verschiedener Bewußtseine spiegeln,
eine andere Gestalt an, und die Spiegelungen dieser Spiegelungen
schaffen einen Anschein, welcher der eigentliche Ort und, alles in
allem betrachtet, die Wahrheit der historischen Tat ist. Die Macht
ist von einem Lichthof umgeben, und ihr Fluch – wie übrigens
auch der des Volkes, das sich ebensowenig erkennt – liegt darin,
23 nicht das Bild zu sehen, das sie anderen von sich bietet.23 Eine
grundlegende Voraussetzung der Politik ist folglich, daß sie sich

21 Da man sich gescheut hatte, die Familien auszulöschen, die Pistoia

in sich befehdende Parteien spalteten.


22 Der Fürst, Kap. XVII.
23 »[…] ich denke, man muß Fürst sein, um den Charakter der Völker

zu verstehen, und dem Volk angehören, um das Wesen der Fürsten recht
zu erkennen.« (Der Fürst, Widmung)
320 Anmerkung zu Machiavelli

im äußeren Schein abspielt: »Die Menschen urteilen im allgemei-


nen mehr nach dem, was sie mit den Augen, als nach dem, was
sie mit den Händen wahrnehmen. Denn allen ist vergönnt zu se-
hen, aber nur wenigen, zu berühren. Alle sehen, was du scheinst,
aber nur wenige erfassen, was du bist; und diese wenigen wagen
nicht, der Meinung der vielen zu widersprechen, welche auf ih-
rer Seite die Majestät des Staates haben, der sie schützt; und bei
den Handlungen der Menschen, zumal bei denen der Fürsten,
derentwegen man kein Gericht anrufen kann, sieht man auf den
Enderfolg. Laß nur einen Fürsten siegen und seine Herrschaft
behaupten, so werden die Mittel dazu stets für ehrenvoll gehalten
und von jedermann gelobt werden.«24 24
Dies soll nicht bedeuten, daß es notwendig oder gar vorzuzie-
hen sei, zu täuschen, sondern vielmehr, daß sich in dem Abstand
und dem Grad der Allgemeinheit, in dem politische Beziehun-
gen gepflegt werden, eine halbmythische Figur abzeichnet, die
aus wenigen Gesten und Worten besteht und von den Menschen
blind verehrt oder verabscheut wird. Der Fürst ist kein Betrüger;
Machiavelli schreibt ausdrücklich: »Ein Fürst muß bemüht sein,
sich einen Ruf der Güte, der Milde, der Frömmigkeit, der Auf-
richtigkeit und der Gerechtigkeit zu schaffen; im übrigen muß er
all diese guten Eigenschaften auch besitzen […]«25 Sagen will er 25
damit, daß die Eigenschaften des Anführers, selbst wenn sie zu-
treffen sollten, immer der Mythenbildung preisgegeben sind, weil
sie nicht berührt, sondern gesehen werden, weil sie nicht in der
Bewegung des sie tragenden Lebens erkannt werden, sondern zu
historischen Posen gerinnen. Der Fürst muß also ein Gespür für
diese Echos haben, die seine Worte und Taten auslösen, er muß
in Kontakt bleiben mit jenen Zeugen, denen er all seine Macht
verdankt, er darf nicht als Visionär regieren, sondern muß, selbst
im Hinblick auf seine Tugenden, frei bleiben. Der Fürst muß
jene Eigenschaften, die er zu haben scheint, tatsächlich besitzen,
sagt Machiavelli, aber, so fährt er fort, »er muß zugleich so viel

24 Kap. XVIII.
25 Kap. XVII. Hervorhebung von uns.
Anmerkung zu Machiavelli 321

Selbstbeherrschung haben, daß er sich auch von seiner anderen


26 Seite zeigen kann, wenn dies ratsam ist.«26 Ein politisches Gebot,
das aber ebensogut als Regel einer wahren Moral gelten könnte.
Denn das öffentliche Urteil anhand des Scheins, das die Güte des
Fürsten in Schwäche verkehrt, ist vielleicht gar nicht so falsch.
Was ist denn eine Güte, die nicht fähig wäre zur Härte? Was ist
eine Güte, die nur Güte sein will? Es ist eine sanfte Art, den An-
deren zu ignorieren und ihn letztlich zu verachten. Machiavelli
verlangt nicht, daß man mittels der Laster, der Lüge, des Terrors
oder der List regiere, er versucht, eine politische Tugend zu be-
stimmen, die für den Fürsten darin liegt, mit jenen stummen
Zuschauern zu reden, die ihn umgeben und die im Taumel des
gemeinschaftlichen Lebens gefangen sind. Eine wirkliche Seelen-
stärke, denn es geht darum, zwischen dem Wunsch zu gefallen
und der Herausforderung, zwischen der selbstgefälligen Güte
und der Grausamkeit ein historisches Vorhaben zu bestimmen,
dem sich alle anschließen können. Eine solche Tugend ist nicht
den Umstürzen ausgesetzt, die der moralisierende Politiker er-
fährt, da sie uns von Anfang an in eine Beziehung zum Anderen
stellt, die dieser Politiker nicht kennt. Diese Beziehung ist es, die
Machiavelli zum Zeichen des Wertes in der Politik nimmt – und
nicht etwa den Erfolg, da er Cesare Borgia als Beispiel anführt,
der nicht erfolgreich war, aber diese virtù besaß, und dem er erst
mit deutlichem Abstand Francesco Sforza folgen läßt, der zwar
27 Erfolg hatte, aber nur durch Glück.27 Wie es mitunter vorkommt,
liebt der unnachgiebige Politiker die Menschen und die Freiheit
wahrhafter als der erklärte Humanist: Es ist Machiavelli, der Bru-
tus lobt, und Dante, der ihn verdammt. Durch die Beherrschung
seiner Beziehungen zum Anderen überwindet der Herrscher die
Hindernisse der Menschen untereinander und bringt ein wenig
Transparenz in unsere Beziehungen – als könnten die Menschen
einander nur mit einer Art Abstand nah sein.

26 Ebd.
27 Kap. VII.
322 Anmerkung zu Machiavelli

Was dazu führt, daß man Machiavelli nicht versteht, ist der
Umstand, daß er das deutliche Gefühl der Kontingenz oder des
Irrationalen in der Welt mit dem Geschmack am Bewußtsein
oder der Freiheit im Menschen verbindet. Beim Blick auf die
Geschichte, in der es so viele Ausschreitungen, so viele Formen
der Unterdrückung, so viel Unerwartetes und so viele Rückent-
wicklungen gibt, sieht er nichts, was sie am Ende unweigerlich
in einen harmonischen Gleichklang münden ließe. Er erinnert
an die Idee eines grundlegenden Zufalls, einer Widersetzlichkeit,
welche die Geschichte dem Zugriff selbst der Intelligentesten
und Stärksten entziehen würde. Und wenn er diesen bösen Ge-
nius schließlich austreibt, so geschieht dies nicht durch irgend-
ein transzendentes Prinzip, sondern durch einen einfachen
Rückgriff auf die Gegebenheiten unserer Lebensumstände. Mit
ein und derselben Geste weist er sowohl Hoffnung als auch Ver-
zweiflung von sich. Wenn es eine Widersetzlichkeit gibt, so ist sie
namenlos, ohne Absichten, wir können nirgends ein Hindernis
finden, zu dessen Errichtung wir nicht durch unsere Irrtümer
oder unsere Fehler beigetragen hätten, wir können unsere Macht
nirgends begrenzen. Welcher Art auch die Überraschungen sein
mögen, die das Ereignis birgt, wir können uns von der Erwartung
und dem Bewußtsein ebensowenig lossagen wie von unserem
Körper. »Dennoch halte ich es – um unseren freien Willen nicht
auszuschließen – für wahrscheinlich, daß Fortuna zwar zur Hälfte
Herrin über unsere Taten ist, daß sie aber die andere Hälfte oder
beinahe so viel unserer Entscheidung überläßt.«28 Selbst wenn 28
wir zufällig dahin gelangen sollten, in den Dingen ein feindli-
ches Prinzip zu vermuten, so hätte es für uns, da wir seine Pläne
nicht kennen, keinerlei Bedeutung: »Die Menschen dürfen sich
nie selber aufgeben. Da sie die Absicht des Schicksals nicht ken-
nen und dieses auf krummen und unbekannten Pfaden wandelt,
so sollen sie immer Hoffnung haben und nie sich selber aufge-
ben, in welcher Lage und in welcher Not sie auch sein mögen.«29 29

28 Kap. XXV.
29 Discorsi, II, 29, zit. von A. Renaudet, Machiavel, S. 132.
Anmerkung zu Machiavelli 323

Der Zufall nimmt nur dann Gestalt an, wenn wir auf das Ver-
stehen und das Wollen verzichten. Fortuna »zeigt ihre Macht
dort, wo man nicht die Kraft aufbringt, ihr zu widerstehen, und
sie lenkt ihre Gewalt dorthin, wo sie weiß, daß sie nicht durch
30 Dämme und Deiche zurückgehalten wird.«30 Wenn es dabei ei-
nen unveränderlichen Lauf der Dinge zu geben scheint, so zeigt
sich dieser nur in der Vergangenheit; wenn Fortuna bald günstig,
bald ungünstig erscheint, so deshalb, weil der Mensch seine Zeit
bald versteht, bald nicht versteht, und dieselben Eigenschaften
bedingen je nach Fall seinen Erfolg oder seinen Untergang, aber
31 nicht zufällig.31 Wie in unseren Beziehungen zum Anderen, so
bestimmt Machiavelli in unseren Beziehungen zu Fortuna eine
Tugend, die ebensoweit von der Einsamkeit wie von der Folg-
samkeit entfernt ist. Als unseren einzigen Rückhalt nennt er jene
Präsenz gegenüber dem Anderen und gegenüber unserer Zeit,
die uns den Anderen in dem Augenblick finden läßt, in dem
wir davon absehen, ihn zu unterdrücken – und die uns in dem
Augenblick den Erfolg finden läßt, in dem wir auf das Abenteuer
verzichten, und uns in dem Augenblick dem Schicksal entkom-
men läßt, in dem wir unsere Zeit verstehen. Selbst die Wider-
setzlichkeit nimmt für uns menschliche Gestalt an: Fortuna ist
eine Frau. »Ich halte es für besser, stürmisch als besonnen zu
sein; denn Fortuna ist ein Weib, und es ist notwendig, wenn man
sie niederhalten will, sie zu schlagen und zu stoßen. Man sieht
auch, daß sie sich von denen, die so verfahren, eher besiegen
läßt als von jenen, die mit kühlem Kopf vorgehen; daher ist sie
als Weib stets den Jünglingen zugetan, weil diese weniger be-
sonnen und stürmischer sind und ihr mit größerer Kühnheit
32 befehlen.«32 Für einen Mann gibt es wahrhaftig nichts, das der
Humanität ganz und gar entgegenstünde, da sie in ihrer Ordnung
für sich steht. Gerade die Vorstellung einer vom Zufall hervorge-
brachten Humanität, die sich nicht aus eigener Kraft durchsetzen

30 Der Fürst, Kap. XXV.


31 Ebd.
32 Der Fürst, Kap. XXV.
324 Anmerkung zu Machiavelli

konnte, verleiht unserer Tugend einen absoluten Wert. Wenn wir


verstanden haben, was unter den Möglichkeiten des Augenblicks
in menschlicher Hinsicht einen Wert hat, dann fehlt es nie an
Zeichen und Vorzeichen: »Darüber hinaus sieht man hier von
Gott bewirkte Wunder ohne Beispiel: das Meer hat sich geteilt;
eine Wolke hat euch den Weg gewiesen; Wasser ist aus dem Felsen
gesprungen; es hat Manna geregnet; alles hat sich zu Eurer Größe
zusammengefunden. Das übrige müßt ihr selbst tun. Gott will
nicht alles tun, um uns nicht den freien Willen zu nehmen und
den Teil des Ruhms, der uns zukommt.«33 Welcher Humanismus 33
ist radikaler als dieser? Machiavelli hat die Werte nicht ignoriert.
Er hat sie als lebendig angesehen, so lautstark wie eine Baustelle
und an bestimmte historische Tatsachen geknüpft, ein neu zu
schaffendes Italien, Barbaren, die es zu vertreiben gilt. Für den-
jenigen, der sich solcher Vorhaben annimmt, findet die eigene
irdische Religion wieder zu den Worten der anderen Religion zu-
rück: »Esurientes implevit bonis, et divites dimisit inanes.«34 Wie A. 34
Renaudet bemerkt: »Dieser Schüler der klugen Kühnheit Roms
hat nie die Rolle leugnen wollen, welche die Inspiration, das Ge-
nie und die von Platon und von Goethe erkannte Tat irgendeines
unbekannten Dämons in der Weltgeschichte spielen […] Damit
aber die von der Kraft unterstützte Leidenschaft die Tüchtigkeit
besitzt, eine Welt zu erneuern, muß sie ebenso von dialektischer
Gewißheit wie vom Gefühl genährt sein. Wenn Machiavelli die
Poesie und die Intuition nicht aus dem Bereich der Praxis aus-
schließt, dann ist diese Poesie Wahrheit, und dann enthält diese
Intuition Theorie und Kalkül.«35

*
Was man bei ihm verurteilt, ist die Vorstellung, daß die Geschichte
ein Kampf ist und die Politik eher ein Umgang mit Menschen als
mit Prinzipien. Gibt es denn aber nichts, das mehr Sicherheit

33 Kap. XXVI.
34 Discorsi, I, 26, zit. von Renaudet, Machiavel, S. 231.
35 Machiavel, S. 301.
Anmerkung zu Machiavelli 325

bietet? Hat die Geschichte nicht nach Machiavelli noch deutli-


cher als vor ihm gezeigt, daß Prinzipien zu nichts verpflichten
und daß sie sich zu jedem Zwecke einsetzen lassen? Lassen wir
die zeitgenössische Geschichte einmal beiseite. Die schrittweise
Abschaffung der Sklaverei war 1789 von Abbé Grégoire vorge-
schlagen worden. 1794 wird vom Nationalkonvent über sie abge-
stimmt, in dem Augenblick, in dem, den Worten eines Kolonisten
zufolge, in ganz Frankreich »Diener, Bauern, Arbeiter und Tage-
35 löhner gegen die Aristokratie der Hautfarbe zu Felde ziehen«36
und in dem der Provinzbourgeoisie, die ihre Einkünfte aus San
Domingo bezieht, die Macht bereits entzogen ist. Die Liberalen
kennen die Kunst, die Prinzipien angesichts des unaufhaltsamen
Abstiegs der mißlichen Konsequenzen zu wahren. Mehr noch:
Wenn sie in einer passenden Situation zur Anwendung gebracht
werden, sind die Prinzipien Instrumente der Unterdrückung. Pitt
stellt fest, daß fünfzig Prozent der auf die britischen Inseln im-
portierten Sklaven an die französischen Kolonien weiterverkauft
werden. Die englischen Sklavenhändler sind für den Wohlstand
San Domingos verantwortlich und erschließen Frankreich den
europäischen Markt. Er ergreift daher Partei gegen die Sklave-
rei: »Er bat Wilberforce«, wie James schreibt, »den Feldzug in
die Wege zu leiten. Wilberforce vertrat Yorkshires bedeutendsten
Verwaltungsbezirk. Er genoß großes Ansehen. Alles, was über
Humanität, Gerechtigkeit, nationale Schandflecke und so wei-
ter zu sagen wäre, würde aus seinem Munde gut klingen […]
Clarkson fuhr nach Paris, um die schlummernden Energien (der
Gesellschaft der Freunde der Schwarzen) zu mobilisieren, gab ihr
Geld, versorgte Frankreich mit britischer Antisklaverei-Propa-
ganda.«37 Man braucht sich keinen Illusionen hinzugeben über
das Schicksal, das diese Propaganda den Sklaven von San Do-
mingo bereitete: Einige Jahre später, im Krieg gegen Frankreich,
unterschreibt Pitt gemeinsam mit vier Kolonisten ein Abkom-
men, das die Kolonie bis zum Friedensschluß unter englisches

36 James, Die schwarzen Jakobiner, S. 159.


37 Ebd. S. 65 f.
326 Anmerkung zu Machiavelli

Protektorat stellt, und er führt die Sklaverei und die Diskriminie-


rung der Mulatten wieder ein. Von entscheidender Wichtigkeit
ist insofern nicht nur, zu wissen, welche Prinzipien man wählt,
sondern auch, welche Kräfte, welche Menschen sie zum Einsatz
bringen. Noch deutlicher: Dieselben Prinzipien können entge-
gengesetzten Parteien dienen. Als Bonaparte Truppen nach San
Domingo schickte, die dort scheitern sollten, »glaubten viele Of-
fiziere und alle Soldaten, für die Revolution zu kämpfen – gegen
Toussaint, einen Verräter, der sich den Priestern, Emigranten und
Briten verkauft hatte […] Noch verstanden sich die Soldaten als
Angehörige einer revolutionären Armee. Doch nachts hörten
sie, daß die Schwarzen in der Festung die Marseillaise, das Ça
ira und andere Revolutionslieder sangen. Lacroix berichtet, wie
die Betrogenen bei diesen Klängen zusammenzuckten und ihre
Offiziere anblickten, als ob sie fragen wollten: Haben denn unsere
barbarischen Feinde die Gerechtigkeit auf ihrer Seite? Sind wir
nicht mehr die Soldaten des republikanischen Frankreich? Sind
wir die schäbigen Werkzeuge einer anderen Politik geworden?«38
Wie nun? Frankreich war das Land der Revolution. Bonaparte,
der den Anspruch auf einige seiner Erwerbungen gefestigt hatte,
zog gegen Toussaint-Louverture zu Felde. Es war also eindeutig:
Toussaint war ein Konterrevolutionär im Dienste des Auslandes.
Hier kämpft, wie so oft, jeder im Namen derselben Werte: Frei-
heit und Gerechtigkeit. Ausschlaggebend ist lediglich die Sorte
von Menschen, für die man Freiheit oder Gerechtigkeit fordert,
mit denen man sich auf die Bildung einer Gesellschaft verstän-
digt: Sklaven oder Herren. Machiavelli hatte Recht: Man muß
Werte haben, aber dies allein reicht nicht, und es ist sogar ge-
fährlich, sich nur daran zu halten; solange man nicht diejenigen
ausgewählt hat, die damit beauftragt sind, die Werte in den hi-
storischen Kampf einzubringen, hat man noch gar nichts getan.
Auch beschränkt es sich nicht nur auf die Vergangenheit, zu se-
hen, wie Republiken ihren Kolonien die Bürgerrechte verweigern,
wie sie im Namen der Freiheit töten und im Namen des Gesetzes

38 Die schwarzen Jakobiner, S. 333, S. 362.


Anmerkung zu Machiavelli 327

zum Angriff übergehen. Selbstverständlich wird die unerbittli-


che Weisheit Machiavellis ihnen dies nicht zum Vorwurf machen.
Die Geschichte ist ein Kampf, und wenn die Republiken nicht
kämpfen würden, wären sie bald verschwunden. Zumindest müs-
sen wir einsehen, daß die Mittel blutig, unerbittlich und schäbig
bleiben. Die größte List der Kreuzzüge besteht darin, dies nicht
zuzugeben. Es gilt, diesen Kreis zu durchbrechen.
Offenkundig ist auf diesem Terrain eine Kritik an Machiavelli
möglich und notwendig. Er hatte nicht Unrecht, als er nachdrück-
lich auf das Problem der Macht verwies. Aber er hat sich damit
begnügt, in wenigen Worten eine Herrschaft zu beschreiben, die
nicht ungerecht wäre, er hat nicht gerade energisch nach ihrer
Bestimmung gesucht. Was ihn entmutigt, ist die Tatsache, daß er
die Menschen für unwandelbar hält und glaubt, die Regime folg-
36 ten einander im zyklischen Wechsel.39 Es wird immer zwei Arten
von Menschen geben, jene, die leben, und jene, die den Lauf der
Geschichte prägen: den Müller, den Bäcker, den Hotelier, mit de-
nen Machiavelli im Exil seinen Tag verbringt, mit denen er plau-
dert und Tricktrack spielt (»Dabei«, sagt er, »wird so mancher
Einwand erhoben, manchem Ärger und manchem Schimpfwort
freier Lauf gelassen, man streitet sich aus dem geringsten Anlaß;
es herrscht ein Geschrei, daß man bis nach San Casciano hört. In-
mitten dieser Armseligkeit empfinde ich die Boshaftigkeit meines
Schicksals zutiefst.«); und die großen Männer, deren Geschichte
er abends in höfischer Kleidung liest, die er befragt und die ihm
stets eine Antwort geben (»Und während vier langer Stunden«,
sagt er, »verspüre ich keinerlei Kummer mehr, ich vergesse all
das Elend, ich fürchte keine Armut mehr, der Tod schreckt mich
37 nicht mehr. Ich gehe ganz in diesen Männern auf.«40). Er hat
gewiß nie auf die Nähe spontaner Menschen verzichtet: Er würde
nicht ganze Tage damit verbringen, sie zu betrachten, wenn sie
für ihn nicht einem Mysterium glichen: Ist es wahr, daß diese
Menschen dieselben Dinge lieben und verstehen könnten, die er

39 Discorsi, I, zit. von A. Renaudet, Machiavel, S. 71.


40 Brief an Francesco Vettori, zit. von A. Renaudet, ebd., S. 72.
328 Anmerkung zu Machiavelli

versteht und liebt? Beim Anblick von einerseits so viel Blindheit,


andererseits einer so natürlichen Art und Weise, Befehle zu er-
teilen, ist er versucht zu denken, daß es nicht eine Menschheit
gibt, sondern vielmehr nur historisch bedeutende oder duldsame
Menschen – und er neigt dazu, sich auf seiten der ersteren ein-
zuordnen. Unter diesen Umständen, da er keinen Grund mehr
hat, einen ›bewaffneten Propheten‹ einem anderen vorzuziehen,
handelt er nur noch auf gut Glück; er setzt kühne Hoffnungen
auf den Sohn Lorenzo de Medicis und die Medici, die ihren eige-
nen Regeln folgen, bereiten ihm Unannehmlichkeiten, ohne ihm
eine Anstellung zu gewähren: Als Republikaner widerspricht er
im Vorwort der Geschichte von Florenz dem Urteil, zu dem die
Republikaner über die Medici gelangten, und die Republikaner,
die ihm dies nicht verzeihen, werden ihn ebensowenig in ihre
Dienste nehmen. Machiavellis Verhalten klagt das an, was sei-
ner Politik fehlte: ein roter Faden, der ihm erlaubt hätte, unter
den verschiedenen herrschenden Kräften jene zu erkennen, von
denen langfristig etwas zu erhoffen war, und die Tugend ganz
entschieden über den Opportunismus zu erheben.
Der Gerechtigkeit halber muß man hinzufügen, daß die Auf-
gabe schwierig war. Für Machiavellis Zeitgenossen lag das poli-
tische Problem vor allem in der Frage, ob die Italiener aufgrund
der Beutezüge Frankreichs und Spaniens und sogar der päpstli-
chen Truppen lange Zeit in ihrer Landwirtschaft und in ihrem
Leben beeinträchtigt würden. Was hätte er vernünftigerweise for-
dern sollen, wenn nicht eine italienische Nation und Soldaten,
die diese Nation errichten? Um Humanität zu erreichen, muß
man mit der Gestaltung dieses Stücks menschlichen Lebens be-
ginnen. Wo war angesichts der Uneinigkeit eines Europas, das
sich nicht kannte, einer Welt, die ihre eigene Bestandsaufnahme
nicht gemacht hatte und in der die weit verstreuten Länder und
Menschen noch keine gemeinsamen Standpunkte entwickelt
hatten, das universelle Volk, das als Komplize eines italienischen
Stadtstaates hätte auftreten können? Wie hätten sich die Völker
aller Länder anerkennen, besprechen und wieder vereinigen kön-
nen? Es gibt keinen ernsthaften Humanismus außer jenem, der
Anmerkung zu Machiavelli 329

auf der ganzen Welt der tatsächlichen Anerkennung des Men-


schen durch den Menschen entgegensieht; er könnte also nicht
dem Augenblick vorausgehen, in dem sich die Menschheit ihre
Mittel der Kommunikation und der Gemeinschaft selbst an die
Hand gibt.
Diese Mittel existieren heute, und das Problem eines wirkli-
chen Humanismus, wie es von Machiavelli gestellt wurde, hat
Marx vor hundert Jahren aufgegriffen. Kann man behaupten, es
sei gelöst worden? Marx hatte im Hinblick auf die Gestaltung
einer menschlichen Gesellschaft genau den Vorsatz gefaßt, sich
auf etwas anderes als auf die stets zweideutigen Prinzipien zu
stützen. In der Situation und in der vitalen Bewegung der am
stärksten ausgebeuteten, unterdrückten, jeder Macht benom-
menen Menschen hat er das Fundament einer revolutionären
Herrschaft gesucht, das heißt einer Herrschaft, die in der Lage
wäre, die Ausbeutung und Unterdrückung aufzuheben. Aber es
hat sich herausgestellt, daß das ganze Problem eben darin lag,
eine Herrschaft der Machtlosen zu errichten. Denn entweder
mußte sie, um eine Herrschaft des Proletariats zu bleiben, den
Schwankungen im Bewußtsein der Massen folgen, und sie wäre
dann schnell beseitigt worden, oder aber sie mußte sich, wenn
sie diesem Schicksal entkommen wollte, zum Richter über die
Interessen des Proletariats aufschwingen, und unter diesen Um-
ständen hat sie sich als eine Macht im traditionellen Sinne kon-
stituiert, sie war der Entwurf einer neuen Führungsschicht. Die
Lösung konnte nur in einer absolut neuen Beziehung der Macht
zu den ihr Unterworfenen liegen. Man mußte politische Formen
erfinden, die es ermöglichen würden, die Macht zu kontrollieren,
ohne sie aufzuheben, man brauchte Anführer, die in der Lage
wären, den Unterworfenen die Gründe einer Politik zu erklären,
und die im Bedarfsfall von sich aus zu den Opfern bereit wären,
die ihnen die Macht für gewöhnlich abverlangt. Diese politischen
Formen sind skizziert worden, und diese Anführer sind in der
Revolution von 1917 auf den Plan getreten. Seit dem Kronstädter
Aufstand hat die revolutionäre Macht jedoch den Kontakt zu ei-
ner gleichwohl wahrgenommenen Fraktion des Proletariats ver-
330 Anmerkung zu Machiavelli

loren, und um diesen Konflikt zu verbergen, beginnt sie zu lügen.


Sie verkündet, das Oberkommando der Aufständischen befinde
sich in den Händen der Weißgardisten, so wie Bonapartes Trup-
pen Toussaint-Louverture als Agenten des Auslands behandel-
ten. Die Abweichung wird nun bereits zur Sabotage stilisiert, die
Opposition als Spionage. Im Inneren der Revolution sieht man
jene Kämpfe wieder aufziehen, die sie doch überwinden sollte.
Und als sollte Machiavelli Recht gegeben werden, fehlt es der Op-
position, während die Revolutionsregierung zu den klassischen
Finten der Macht greift, unter den Feinden der Revolution nicht
an Sympathien. Die Frage, ob jede Macht danach strebt, sich ›zu
verselbständigen‹, und ob es sich dabei um ein in jeder mensch-
lichen Gesellschaft unvermeidliches Schicksal oder vielmehr um
eine zufällige Entwicklung handelt, die an die besonderen Um-
stände der Revolution in Rußland geknüpft ist, an das Entstehen
der revolutionären Bewegung als Untergrundbewegung vor 1917
und an die Schwäche des russischen Proletariats, und die Frage,
ob dies eine Entwicklung ist, die in keiner abendländischen Re-
volution in dieser Form hätte stattfinden können, diese Frage
bildet offenbar das zentrale Problem. In jedem Fall können wir
nun, da der Ausweg von Kronstadt zum System geworden ist und
die Revolutionsmacht sich als führende Schicht ganz entschieden
und mit den Attributen der Einflußnahme einer unkontrollierten
Elite an die Stelle des Proletariats gesetzt hat, feststellen, daß sich
das Problem eines wirklichen Humanismus auch hundert Jahre
nach Marx noch unvermindert stellt, und wir können Machia-
velli, der dieses Problem nur erahnen konnte, daher mit einiger
Nachsicht begegnen.
Wenn man als Humanismus eine Philosophie des inneren
Menschen bezeichnet, der in seinem Umgang mit Anderen keine
prinzipielle Schwierigkeit und in den sozialen Abläufen keiner-
lei Undurchsichtigkeit entdecken kann, und der die politische
Kultur durch die moralische Ermahnung ersetzt, dann ist Ma-
chiavelli kein Humanist. Wenn man jedoch als Humanismus
eine Philosophie bezeichnet, die dem Umgang der Menschen
miteinander und der zwischen ihnen vorgenommenen Konsti-
Anmerkung zu Machiavelli 331

tution einer gemeinsamen Situation und Geschichte als einem


Problem entgegentritt, dann muß man sagen, daß Machiavelli
einige der Voraussetzungen jedes ernsthaften Humanismus for-
muliert hat. Und die heute so weit verbreitete Mißbilligung Ma-
chiavellis erhält unter diesen Umständen einen beunruhigenden
Sinn: Sie würde der Entscheidung gleichen, sich den Aufgaben
eines wahren Humanismus zu verweigern. Es gibt eine machia-
vellistische Art und Weise, Machiavelli zu desavouieren, nämlich
die List derer, die ihre und unsere Augen zum Himmel der Prin-
zipien aufheben, um von dem abzulenken, was sie tun. Und es
gibt eine ganz im Gegensatz zum Machiavellismus stehende Art
und Weise, Machiavelli zu loben, die darin besteht, sein Werk als
einen Beitrag zur politischen Klarheit zu ehren.
D ER M E NS CH U ND D I E
1 W I D ER SE T Z L I CH KE I T D E R D I NGE 1

Es ist schlechthin unmöglich, in einer Stunde die Fortschritte in


der philosophischen Reflexion über den Menschen, die in den
letzten fünfzig Jahren gemacht worden sind, aufzuzeigen. Selbst
wenn man die uneingeschränkte Kompetenz dafür bei einem
einzelnen voraussetzen könnte, würde man an den weit von-
einander abweichenden Auffassungen der Autoren, über die zu
sprechen wäre, scheitern. Es ist offenbar ein Gesetz der Kultur,
daß sie immer nur auf Umwegen fortschreitet; jede neue Idee,
die von jemandem gestiftet wurde, wird zu etwas anderem, als
sie ursprünglich bei ihm war. Der Mensch kann kein Erbe von
Ideen antreten, ohne sie eben dadurch umzuwandeln, daß er von
ihnen Kenntnis nimmt, ohne seine eigene – und immer andere
– Seinsweise in sie hineinzulegen. Sobald sie entstehen, setzt eine
unermüdliche Redseligkeit die Ideen in Bewegung, wie nach
den Linguisten ein niemals befriedigtes ›Ausdrucksbedürfnis‹
die Sprechweisen in dem selben Augenblick wieder umformt, in
dem man geglaubt hat, daß sie am Ziel sind, weil es gelungen war,
zwischen den sprechenden Subjekten eine scheinbar eindeutige
Verständigung sicherzustellen. Wie könnte man also verbürgte
Ideen aufzählen, wo sie doch, selbst wenn sie sich fast allgemein
durchgesetzt haben, eben dadurch auch immer andere werden,
als sie waren?
Im übrigen würde eine Auflistung der sicheren Erkenntnisse
nicht genügen. Selbst wenn wir die ›Wahrheiten‹ der ersten Jahr-
hunderthälfte aneinanderreihen würden, müßten wir, um deren
geheime Verwandtschaft deutlich zu machen, die persönlichen
und zwischenmenschlichen Erfahrungen wachrufen, auf die sie
antworten, und wir müßten die innere Logik der Situationen

1 Vortrag vom 10. September 1951 anläßlich der Rencontres Interna-

tionales in Genf.
334 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge

aufweisen, in denen sie formuliert wurden. Das wertvolle und


große Werk ist niemals ein Effekt des Lebens, sondern immer
eine Antwort auf seine sehr speziellen Ereignisse oder seine all-
gemeinsten Strukturen. Der Schriftsteller hat zwar die Freiheit,
ja oder nein zu sagen und seine Zustimmung oder seine Ab-
lehnung verschieden zu begründen und zu umschreiben, aber
er kann dennoch nicht umhin, sein Leben in einer bestimm-
ten historischen Umgebung zu wählen, an einem bestimm-
ten Stand der Probleme, der bestimmte Lösungen ausschließt,
selbst wenn er keine einzige aufzwingt; dadurch erhalten Gide,
Proust, Valéry, so verschieden sie auch sein mögen, die einzig-
artige Auszeichnung der Zeitgenossenschaft. Die Gedankenbe-
wegung deckt nur dann Wahrheiten auf, wenn sie auf irgend-
einen Pulsschlag des zwischenmenschlichen Lebens antwortet;
und jede Veränderung in der Erkenntnis des Menschen bezieht
sich auf eine neue Existenzweise, die in ihm liegt. Wenn der
Mensch das Wesen ist, das sich nicht damit zufrieden gibt, wie
ein Ding mit sich selbst übereinzustimmen, sondern das sich
selbst darstellt, sich sieht und vorstellt, das treffende oder phan-
tastische Symbole für sich selbst findet, so ist es wohl klar, daß
umgekehrt jede Veränderung in der Vorstellung vom Menschen
eine Veränderung des Menschen selbst wiedergibt. Man müßte
hier also die gesamte Geschichte dieser ersten Jahrhunderthälfte
mit ihren Plänen, ihren Enttäuschungen, ihren Kriegen, ihren
Revolutionen, ihren Kühnheiten, ihren Schrecken, ihren Erfin-
dungen, ihren Ohnmachtserlebnissen heraufbeschwören. Von
einem solchen maßlosen Unterfangen können wir nur Abstand
nehmen.
Indessen hat jene Veränderung in der Kenntnis des Men-
schen, von der wir nicht erwarten können, sie durch eine strenge
methodische Untersuchung der Werke, der Ideen und der Ge-
schichte zu bestimmen, in uns ihren Niederschlag gefunden; sie
ist unsere Substanz, und wir haben ein lebendiges und umfas-
sendes Empfinden dafür, wenn wir uns mit den Schriften oder
den Fakten der Jahrhundertwende befassen. Wir können also
versuchen, nach zwei oder drei ausgewählten Gesichtspunkten
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge 335

die Veränderungen der menschlichen Situation an uns selbst


zu beschreiben. Unendliche Erläuterungen und Kommentare
wären nötig, tausend Mißverständnisse müßten beseitigt, ganz
unterschiedliche Begriffssysteme ineinander übersetzt werden,
um eine objektive Beziehung, zum Beispiel zwischen der Phi-
losophie Husserls und dem Werk Faulkners herzustellen. Und
doch kommunizieren sie in uns, wenn wir sie lesen. Hinsichtlich
eines dritten Zeugen versöhnen sich selbst diejenigen, die sich,
wie zum Beispiel Ingres und Delacroix, für Gegner hielten, weil
sie auf ein und dieselbe Situation der Kultur antworten. Wir sind
die gleichen Menschen, die die Entwicklung des Kommunismus,
die den Krieg als ihr Problem erlebt, die Gide, Valéry, Proust und
Husserl, Heidegger und Freud gelesen haben. Was auch immer
unsere Antworten gewesen sein mögen, es muß ein Mittel geben,
die sensiblen Bereiche unserer Erfahrung zu beschreiben und,
wenn schon nicht gemeinsame Ideen über den Menschen, so
doch zumindest eine neue Erfahrung unserer Situation zu formu-
lieren.
Unter diesen Vorbehalten schlagen wir als Ausgangspunkt vor,
daß sich unser Jahrhundert durch eine ganz und gar neue Verbin-
dung von ›Materialismus‹ und ›Spiritualismus‹, von Pessimismus
und Optimismus auszeichnet, oder vielmehr durch die Überwin-
dung dieser Antithesen. Unsere Zeitgenossen denken gleichzei-
tig und ohne Schwierigkeiten, daß das menschliche Leben eine
ursprüngliche Ordnung erfordert und daß diese Ordnung nur
unter bestimmten, ganz präzisen und konkreten Bedingungen
dauern und überhaupt erst bestehen kann, die es vielleicht nicht
gibt, weil keine natürliche Disposition der Dinge und der Welt
sie dazu prädestiniert, ein menschliches Leben möglich zu ma-
chen. Um 1900 gab es zwar Philosophen und Wissenschaftler,
die bestimmte biologische und materielle Bedingungen für die
Existenz der Menschheit aufstellten. Doch das waren gewöhn-
lich ›Materialisten‹ in dem Sinne, den das Wort gegen Ende des
letzten Jahrhunderts hatte. Sie machten aus der Menschheit eine
Episode der evolutionären Entwicklung, sie sahen in den Zivili-
sationen einen speziellen Fall der Anpassung und lösten selbst
336 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge

das Leben in seine physikalischen und chemischen Bestandteile


auf. Für sie war die eigentlich menschliche Sicht der Welt ein
überflüssiges Phänomen, und diejenigen, die die Zufälligkeit der
Menschheit sahen, behandelten Werte, Institutionen, Kunstwerke
und Wörter normalerweise als ein Zeichensystem, das letztlich
auf die Bedürfnisse und elementaren Begierden aller Organis-
men verwies. Zwar gab es auch ›spiritualistische‹ Autoren, die
in der Menschheit andere Triebkräfte als jene vermuteten; aber
wenn sie sie nicht aus irgendeiner übernatürlichen Quelle her-
leiteten, bezogen sie sie auf eine menschliche Natur, die deren
unbedingte Wirksamkeit garantierte. Die menschliche Natur ver-
fügte über die Wahrheit und die Gerechtigkeit als Eigenschaften
wie andere Arten über Schwimmflossen oder Flügel. Die Epoche
war voll von solchen Absoluta und für sich stehenden Begrif-
fen. Da gab es das Absolutum des Staates, und man hielt einen
Staat, der seine Gläubiger nicht auszahlte, für unanständig, auch
wenn er sich mitten in einer Revolution befand. Ebenso war der
Wert einer Währung ein Absolutum, und man dachte kaum
daran, diese als ein bloßes Hilfsmittel der wirtschaftlichen und
sozialen Funktionsfähigkeit zu behandeln. Daneben gab es den
Goldstandard der Moral: die Familie. Die Ehe war schlechthin
gut, selbst wenn sie zu Revolte und Haß führte. Die ›Geistesgü-
ter‹ waren schlechthin edel, selbst wenn die Bücher, wie so viele
Werke um 1900, nur klägliche Hirngespinste wiedergaben. Es
gab die Werte – und ansonsten die Wirklichkeiten; es gab den
Geist – und außerdem die Körper; auf der einen Seite befand
sich das Innere, auf der anderen das Äußere. Was aber, wenn ge-
rade die Ordnung der Tatsachen in die der Werte eingreift, wenn
man wahrnimmt, daß die Dichotomien nur diesseits eines be-
stimmten Grades von Elend und Gefährdung haltbar sind? Selbst
diejenigen unter uns, die das Wort Humanismus heute wieder
aufnehmen, vertreten nicht mehr den Humanismus ohne Scham
unserer Ahnen. Vielleicht ist es ein Merkmal unserer Zeit, den
Humanismus und die Idee einer Menschheit mit vollem Recht zu
scheiden und das Bewußtsein von den menschlichen Werten und
das der Infrastrukturen, denen sie die Existenz verdanken, nicht
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge 337

nur miteinander zu versöhnen, sondern für unzertrennlich zu


2 halten.

*
Unser Jahrhundert hat die Trennungslinie zwischen dem ›Körper‹
(corps) und dem ›Geist‹ (esprit) ausradiert und sieht das mensch-
liche Leben als durch und durch geistig und körperlich, stets auf
den Körper bezogen, immer, bis in seine sinnlichsten Formen
(modes les plus charnelles), an den zwischenmenschlichen Bezie-
hungen beteiligt. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts war
der Körper (corps) für viele Denker ein Stück Materie, ein Bündel
von Mechanismen. Das zwanzigste Jahrhundert hat den Begriff
des Leibes (chair), d.h. des lebendigen Körpers (corps animé),
wiederhergestellt und vertieft.
Es wäre interessant, zum Beispiel in der Psychoanalyse die Ver-
änderung der Auffassung vom Körper (corps) zu verfolgen, die
ursprünglich bei Freud die der Ärzte des neunzehnten Jahrhun-
derts war und sich zur modernen Auffassung vom erlebten Leib
(corps vécu) entwickelt hat. Trat die Psychoanalyse in ihren Anfän-
gen nicht die Nachfolge der mechanistischen Theorien vom Kör-
3 per an – und versteht man sie nicht noch oftmals so? Erklärt das
Freudsche System nicht die komplexesten und ausgefeiltesten Ver-
haltensweisen des Erwachsenen durch den Trieb, vor allem durch
den Sexualtrieb – also durch die physiologischen Bedingungen –,
durch ein Zusammenwirken von Kräften, das dem Zugriff unse-
res Bewußtseins entzogen ist, oder das sich sogar ein für allemal
in der Kindheit vor dem Alter der rationalen Kontrolle und der
eigentlich menschlichen Bezüge zur Kultur und zu anderen Men-
schen gebildet hat? Vielleicht war das für einen flüchtigen Leser
der Eindruck in den ersten Arbeiten Freuds – in dem Maße aber,
wie die Psychoanalyse bei ihm selbst und seinen Nachfolgern,
im Kontakt mit der klinischen Erfahrung, jene ursprünglichen
Begriffe zurechtrückt, sieht man einen neuen Begriff vom Körper
entstehen, der durch die Ausgangsbegriffe hervorgerufen wurde.
Es ist nicht falsch zu sagen, daß Freud die gesamte menschli-
che Entwicklung auf die Entwicklung des Trieblebens hat grün-
338 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge

den wollen, entscheidender ist jedoch, daß sein Werk von Anfang
an den Begriff ›Trieb‹ umkehrt und die Kriterien auflöst, auf-
grund derer man bisher glaubte, ihn umschreiben zu können.
Wenn das Wort ›Trieb‹ etwas sagen soll, so ist es eine Disposition
im Innern des Organismus, die mit einem Minimum an Auf-
wand bestimmte Reaktionen sichert, die bestimmten charakte-
ristischen Situationen der Art angemessen sind. Das Wesen der
Theorie Freuds besteht jedoch in dem Nachweis, daß der Mensch
in diesem Sinne keinen Sexualtrieb hat, daß das ›polymorph per-
verse‹ Kind zu einer als normal bezeichneten sexuellen Tätigkeit
erst am Ende einer schwierigen individuellen Geschichte gelangt.
Seiner organischen Ausstattung und seiner Ziele ungewiß führt
die Liebesfähigkeit durch eine Reihe von Leistungen, die sich der
kanonischen Gestalt der Liebe annähern, wobei sie vorgreift und
zurückfällt, sich wiederholt und sich übertrifft, ohne daß man
jemals behaupten könnte, daß die als normal bezeichnete sexu-
elle Liebe nichts anderes als sie selbst sei. Die Bindung des Kindes
an die Eltern, so stark sie ist, um jene Geschichte beginnen zu
lassen oder sie zu verzögern, ist selbst nicht triebhafter Natur.
Sie ist für Freud eine geistige Bindung. Nicht weil das Kind von
gleichem Blut ist, liebt es seine Eltern, sondern weil es sich aus
ihnen hervorgegangen weiß oder sie zu ihm hingewendet sieht,
identifiziert es sich mit ihnen und begreift sich nach ihrem und
sie nach seinem Bilde. Die letzte psychologische Wirklichkeit ist
für Freud das System von Anziehungskräften und Spannungen,
die das Kind mit den Eltern verbindet, und dann, durch sie hin-
durch, mit allen anderen; innerhalb dieses Systems versucht es
nacheinander verschiedene Positionen einzunehmen, deren letzte
sein erwachsenes Verhalten sein wird.
Nicht nur das Objekt der Liebe entzieht sich jeder Definition
durch den Trieb, sondern auch die Art des Liebens selbst. Be-
kanntlich ist für die Psychoanalyse die Erwachsenenliebe, die
von einer Zärtlichkeit getragen wird, die Vertrauen schafft, die
nicht in jedem Augenblick neue Beweise einer absoluten Zu-
neigung fordert und den Anderen in seiner Distanz und Auto-
nomie nimmt, wie er ist, einer kindlichen Liebesbedürftigkeit
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge 339

abgerungen, die in jedem Augenblick alles fordert und für alles


verantwortlich ist, was in jeder Liebe an Verzehrendem und Un-
möglichem zurückbleiben kann. Wenn auch der Übergang zur
genitalen Phase für diese Umwandlung notwendig ist, so ist er
doch niemals ausreichend, um sie zu garantieren. Schon Freud
hat beim Kind einen Bezug zum Anderen beschrieben, der sich
vermittels derjenigen Regionen und Funktionen des Körpers
herstellt, die am wenigsten einer ausdrücklichen Unterscheidung
und Handlung fähig sind: der Mund, der nur saugen oder bei-
ßen kann, die Schließmuskeln, die nur zurückhalten oder aussto-
ßen können. Diese ursprünglichen Formen der Beziehung zum
Anderen können nun aber bis ins genitale Geschlechtsleben des
Erwachsenen hinein dominierend bleiben. Dann bleibt die Bezie-
hung zum Anderen befangen in der Ausweglosigkeit des unmit-
telbar Absoluten und schwankt zwischen einer unmenschlichen
Forderung, einem absoluten Egoismus, und einer verzehrenden
Hingabe, die das Subjekt selbst zerstört. So stellt die Sexualität
oder überhaupt die Leiblichkeit, die Freud als den Boden unse-
rer Existenz ansieht, ein Vermögen der Inbesitznahme dar, das
zunächst absolut und allgemein ist: Es ist nur insofern sexuell,
als es sofort auf die sichtbaren Unterschiede des Körpers und der
mütterlichen und väterlichen Rollen reagiert; das Physiologische
und der Trieb sind eingebettet in einen zentralen Anspruch auf
absoluten Besitz, der nicht Auswirkung eines Stücks Materie sein
kann, sondern zur Ordnung dessen gehört, was man gemeinhin
Bewußtsein nennt.
Dennoch dürfen wir hier nicht von Bewußtsein sprechen,
denn damit würden wir die Dichotomie zwischen Seele und
Körper in dem Augenblick wieder herstellen, in dem der Freudia-
nismus sie bestreitet und damit unsere Auffassung von Körper
und Geist umgestaltet. »Die psychischen Tatsachen haben einen
4 Sinn«, schrieb Freud in einem seiner ältesten Werke. Das sollte
heißen, daß beim Menschen kein Verhalten das einfache Ergebnis
irgendeines körperlichen Mechanismus ist, daß es beim mensch-
lichen Verhalten nicht ein geistiges Zentrum und eine Peripherie
von Automatismen gibt und daß alle unsere Gebärden auf ihre
340 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge

Weise an jener einheitlichen Ausdrucks- und Bedeutungstätig-


keit teilhaben, die wir selber sind. Mindestens ebensosehr, wie
Freud bemüht ist, den Überbau auf den triebhaften Unterbau
zurückzuführen, bemüht er sich zu zeigen, daß es im mensch-
lichen Leben nichts ›Minderwertiges‹ oder ›Niederes‹ gibt. Man
kann also gar nicht weiter von einer Erklärung ›von unten her‹
entfernt sein. Mindestens ebensosehr, wie Freud das erwachsene
Verhalten durch eine aus der Kindheit ererbte Unausweichlich-
keit erklärt, zeigt er in der Kindheit ein frühreifes Erwachsenenle-
ben auf, zum Beispiel in den analen Verhaltensweisen des Kindes
eine erste Entscheidung darüber, ob es in seinen Beziehungen
zum Anderen freigebig oder geizig sein wird. Mindestens eben-
sosehr, wie Freud das Psychische durch den Körper erklärt, weist
er die psychische Bedeutung des Leibes auf, seine geheime oder
latente Logik. Man kann also vom Geschlecht nicht mehr als
von einem lokalisierbaren Apparat oder als von einem Körper
im Sinne einer Materiemasse sprechen, so wie man von einer
letzten Ursache spricht. Sie sind weder Ursache noch bloßes In-
strument oder Mittel, sondern das Vehikel, der Drehpunkt, das
Schwungrad unseres Lebens. Keiner jener Begriffe, die die Philo-
sophie ausgearbeitet hat – wie Ursache, Wirkung, Mittel, Zweck,
Materie, Form –, reicht aus, um die Beziehungen des Leibes zum
gesamten Leben zu erfassen, die Art und Weise, wie er mit dem
persönlichen Leben oder wie dieses mit ihm verschränkt ist. Der
Leib ist geheimnisvoll: Er ist zweifellos ein Teil der Welt, aber er
ist in eigenartiger Weise einem absoluten Verlangen als dessen
Wohnstatt preisgegeben, sich dem Anderen zu nähern und ihn in
seinem Körper zu treffen als einem ebenfalls belebten und bele-
benden, natürlichen Ausdruck des Geistes. Mit der Psychoanalyse
geht der Geist in den Körper ein wie umgekehrt der Körper in
den Geist eingeht.
Diese Untersuchungen erschüttern zwangsläufig mit unserer
Auffassung vom Körper auch zugleich unsere Auffassung von sei-
nem Partner, dem Geist. Zugegebenermaßen bleibt hier noch viel
zu tun, um aus der psychoanalytischen Erfahrung all das heraus-
zuziehen, was sie enthält. Denn die Psychoanalytiker, angefangen
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge 341

mit Freud, begnügen sich mit einem Gerüst wenig zufriedenstel-


lender Begriffe. Um über jene Verflechtung zwischen dem anony-
men Leben des Leibes und dem offiziellen Leben der Person, die
die große Entdeckung von Freud ist, Aufschluß zu geben, mußte
irgend etwas zwischen den Organismus und uns selbst als einer
Abfolge bewußter Akte und ausdrücklicher Kenntnisse einge-
führt werden. Das war das Unbewußte Freuds. Man braucht nur
die Wandlungen dieses proteushaften Begriffs im Werke Freuds,
die Verschiedenartigkeit seiner Verwendungen, die Widersprü-
che, die er nach sich zieht, zu verfolgen, um sich zu vergewissern,
daß es sich hier nicht um einen ausgereiften Begriff handelt und
5 daß, wie Freud es in den Essais de psychanalyse zu verstehen gibt,
noch korrekt zu formulieren bleibt, was er mit dieser vorläufigen
Bezeichnung fassen wollte. Das Unbewußte läßt auf den ersten
Blick an den Ort einer Dynamik von Triebkräften denken, von
der wir nur das Ergebnis kennen. Und doch kann das Unbewußte
kein Prozeß ›in der dritten Person‹ sein, da es selbst ja auswählt,
was von uns zur offiziellen Existenz zugelassen wird, da es die
Gedanken oder Situationen umgeht, denen wir uns widersetzen,
und also kein Nicht-Wissen ist, sondern vielmehr ein nicht-an-
erkanntes, unformuliertes Wissen, das wir nicht ertragen wollen.
In einer noch ungenauen Sprache ist Freud hier im Begriff zu
entdecken, was andere treffender als zweideutige Wahrnehmung
bezeichnet haben. Forscht man in dieser Richtung weiter, so wird
man eine Kennzeichnung für jenes Bewußtsein finden, das seine
Gegenstände nur streift, ihnen in dem Augenblick, wo es sie setzt,
ausweicht, so wie ein Blinder auf Hindernisse eher reagiert, als
daß er sie erkennt; ein Bewußtsein, das von seinen Gegenständen
kein Wissen besitzt, das sie ignoriert, insofern es sie versteht, sie
versteht, insofern es sie ignoriert, und das unseren ausdrücklichen
Handlungen und unseren Erkenntnissen zum Grunde liegt.
Wie es auch immer mit den philosophischen Formulierungen
steht, es steht außer Zweifel, daß Freud die geistige Funktion des
Körpers und die Inkarnation des Geistes immer besser erkannt
hat. Im reifen Werk spricht er von der ›aggressiven Sexualbezie-
hung‹ zum Anderen als von der fundamentalen Gegebenheit un-
342 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge

seres Lebens. Da die Aggression nicht auf eine Sache, sondern auf
eine Person zielt, bedeutet das Verschlungensein von Sexuellem
und Aggressivem, daß die Sexualität sozusagen ein Inneres hat,
daß sie in ihrem ganzen Umfang durch einen Bezug von Person
zu Person verdoppelt wird, daß das Sexuelle, da wir Leib (chair)
sind, unsere sinnliche Weise ist, die Beziehung zu Anderen zu
leben. Da die Sexualität Bezug zum Anderen und nicht nur zu
einem anderen Körper ist, spinnt sie zwischen dem Anderen und
mir ein zirkuläres System von Projektionen und Introjektionen
und entfacht die unbegrenzte Serie reflektierender und reflek-
tierter Spiegelbilder, die bewirken, daß ich der Andere bin und
er ich selbst ist.
Das ist letztlich die Freudsche Auffassung vom inkarnierten
Individuum, das sich selbst als auch den Anderen durch seine
Verleiblichung gegeben ist, unvergleichlich und doch seines an-
geborenen Geheimnisses entkleidet, sich Seinesgleichen gegen-
übergestellt sieht. In dem Augenblick, als Freud diese Theorie
aufstellte, brachten die Schriftsteller auf ihre Weise dieselbe Er-
fahrung zum Ausdruck, ohne daß es sich in den meisten Fällen
um einen Einfluß gehandelt hätte.
Auf diese Weise ist zunächst die Erotik der Schriftsteller dieser
Jahrhunderthälfte zu verstehen. Wenn man in dieser Hinsicht das
Werk von Proust oder das von Gide mit den Werken der vor-
hergehenden Generation vergleicht, so springt der Kontrast in
die Augen: Proust und Gide greifen sofort über die Schriftsteller-
generation von 1900 hinweg auf die Sadesche und Stendhalsche
Tradition eines direkten Ausdrucks des Leibes zurück. Mit Proust
und Gide beginnt ein unermüdliches Referat über den Leib; man
entdeckt ihn, man befragt ihn, man hört ihm wie einer Person zu,
und spioniert den Unregelmäßigkeiten seiner Begierde und, wie
man sagt, seiner Inbrunst nach. Mit Proust wird er zum Wächter
des Vergangenen, und er ist es, der trotz der Verwandlungen, die
ihn fast unkenntlich machen, von Zeit zu Zeit eine substantielle
Beziehung zwischen uns und unserer Vergangenheit aufrechter-
hält. Proust beschreibt in den beiden gegensätzlichen Fällen des
Todes und des Erwachens den Berührungspunkt des Geistes mit
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge 343

dem Körper, d.h. wie unsere Gebärden auf die Zerstreuung des
schlafenden Leibes im Erwachen an eine Bedeutung aus dem
Jenseits anknüpfen und wie sich dagegen die Bedeutung in den
Zuckungen des Todeskampfs auflöst. Mit der gleichen Ergriffen-
heit analysiert er die Gemälde von Elstir und die Milchhändlerin,
die er flüchtig auf einem Dorfbahnhof gesehen hat, weil es sich
hier wie dort um dieselbe eigentümliche Erfahrung handelt, die
des Ausdrucks nämlich, um den Augenblick, da die Farbe und der
Leib (chair) zu den Augen und dem Körper (corps) zu sprechen
anfangen. Als Gide einige Monate vor seinem Tod aufzählte, was
er in seinem Leben geliebt hat, nannte er unbesorgt die Bibel und
das Vergnügen nebeneinander.
Auch bei ihnen tritt mit unausweichlicher Konsequenz das
Besessensein vom Anderen in Erscheinung. Wenn der Mensch
darauf schwört, allumfassend zu sein, so unterscheidet sich für
ihn die Sorge um sich selbst nicht von der Sorge um die Anderen:
Er ist Mensch unter Menschen, und die Anderen sind andere Er-
selbst. Aber wenn er dagegen erkennt, was es von innen heraus an
Einzigartigem in der erlebten Verleiblichung gibt, erscheint ihm
der Andere notwendig in Form von Qual, Neid oder zumindest
Beunruhigung. Durch seine Inkarnation bestimmt, unter einem
fremden Blick zu erscheinen und sich vor ihm zu rechtfertigen,
dennoch durch dieselbe Inkarnation an seine eigene Situation ge-
fesselt, fähig, das Fehlen des Anderen und das Bedürfnis nach ihm
zu empfinden, aber unfähig, im Anderen seine Ruhe zu finden, ist
der Mensch in dem Hin und Her des Für-sich-Seins und des Für-
den-Anderen-Seins befangen, was die Tragik der Liebe bei Proust
ausmacht und was vielleicht am ergreifendsten im Tagebuch von
Gide dargestellt ist.
Bewundernswerte Formulierungen derselben Paradoxa findet
man bei dem Schriftsteller, der vielleicht am wenigsten Gefallen
an der Unbestimmtheit der Freudschen Ausdrucksweise fin-
det, nämlich bei Valéry. Denn seine Vorliebe für die Strenge des
Ausdrucks ist bei ihm die Kehrseite eines geschärften Bewußt-
seins vom Zufälligen. Sonst hätte er nicht so treffend vom Leib
gesprochen als von einem Wesen mit zwei Gesichtern, das für
344 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge

viele Absurditäten, aber auch für unsere sichersten Leistungen


verantwortlich ist. »Der Künstler bringt seinen Leib ein, weicht
zurück, stellt irgend etwas hin und nimmt es wieder weg, ver-
hält sich mit seinem ganzen Wesen wie sein Auge und wird ganz
und gar zu einem Organ, das sich anpaßt, sich verformt, und den
Punkt, den einzigen Punkt sucht, der dem in der Tiefe erstrebten
Werk virtuell zukommt – das nicht immer das gesuchte ist.«2 Und 6
auch bei Valéry ist das Bewußtsein vom Leib unausweichlich das
Besessensein von den Anderen. »Niemand könnte frei denken,
wenn seine Augen nicht imstande wären, andere Augen, die ihnen
folgen, zu verlassen. Sobald die Blicke einander festhalten, ist man
nicht mehr ganz und gar zu zweit, und es wird schwer, allein zu
bleiben. Jener Austausch, das Wort ist treffend, verwirklicht in
einer sehr kurzen Zeit eine Übertragung, eine Metathese: einen
Chiasmus zweier ›Schicksale‹, zweier Gesichtspunkte. Dadurch
kommt es zu einer Art wechselseitiger simultaner Einschränkung.
Du nimmst mein Bild, meine Erscheinung, ich nehme die deine.
Du bist nicht ich, da du mich siehst und ich mich nicht sehe. Was
mir fehlt, das ist jenes Ich, das du siehst. Und was dir fehlt, das
bist du, den ich sehe. Und wie weit wir auch in der gegenseitigen
Erkenntnis voranschreiten, in dem Maße, wie wir uns spiegeln
werden, werden wir verschieden sein [...]«3 7
Je mehr man sich der ersten Hälfte des Jahrhunderts nä-
hert, um so deutlicher ist zu sehen, daß bei den Zeitgenossen
die Verleiblichung und der Andere das Labyrinth der Reflexion
und der Sensibilität sind – eine Art empfindsame Reflexion. Bis
hin zu jener bekannten Stelle, wo eine Person aus dem Roman
Conditio humana von Malraux ihrerseits die Frage stellt, ob es
wahr sei, daß ich in mir selbst eingemauert bin und daß für mich
ein absoluter Unterschied zwischen mir und den Anderen besteht,
daß ich mit meinen Ohren auch mich selbst, das ›unvergleichli-
che Ungeheuer‹, höre, das mich mit meiner Kehle hört, das von 8
dem anderen niemals in der Weise akzeptiert werden kann, wie

2 Mauvaises pensées, S. 200.


3 Tel Quel I, S. 42.
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge 345

es sich selbst akzeptiert, über alles Gesagte und Getane, über die
Verdienste oder Verfehlungen, ja selbst die Verbrechen hinaus?
Aber Malraux, und auch Sartre, haben Freud gelesen, und was
sie auch schließlich von ihm halten, so haben sie doch mit seiner
Hilfe gelernt, sich zu erkennen. Deshalb schien es für uns von
größerer Bedeutung, vor ihnen eine Erfahrung des Leibes aufzu-
decken, von der sie ausgehen, weil sie sich bei den Älteren vor-
bereitet hatte.
*
Ein weiteres Kennzeichen der Untersuchungen der ersten Jahr-
hunderthälfte ist die Annahme einer merkwürdigen Beziehung
zwischen dem Bewußtsein und seinem sprachlichen Ausdruck,
wie zwischen dem Bewußtsein und seinem Körper. Die gewöhn-
liche Sprache läßt jedem Wort oder Zeichen ein Ding oder eine
Bedeutung entsprechen, die auch ohne irgendein Zeichen vor-
handen sein und begriffen werden könne. Doch schon seit lan-
gem wird diese gewöhnliche Sprache in der Literatur nicht mehr
akzeptiert. Derart voneinander abweichende Unternehmen wie
die von Mallarmé und Rimbaud haben dennoch gemeinsam, daß
sie die Sprache von einer Kontrolle durch ›Evidenzen‹ befreien;
sie vertrauen der Sprache, um neue Sinnbezüge zu entwickeln
und zu gewinnen. Die Sprache hört also auf, für den Schriftstel-
ler (wenn sie das je gewesen ist) ein einfaches Instrument oder
Mittel zur Mitteilung von Absichten zu sein, die vorher bereits
vorlagen. Sie bildet jetzt mit dem Schriftsteller eine Einheit, die
Sprache ist er selbst. Die Sprache steht nicht mehr im Dienst von
Bedeutungen, sondern sie ist selbst der Akt des Bedeutens; und
der sprechende Mensch oder der Schriftsteller lenken die Spra-
che nicht willentlich, wie der lebende Mensch die Einzelheiten
oder die Mittel seiner Gebärden nicht bewußt vorausplant. Von
jetzt an gibt es keine andere Art, eine Sprache zu verstehen, als
sich in ihr einzurichten und sie zu handhaben. Der Schriftsteller
als Meister der Sprache ist ein Meister der Unsicherheit. Seine
Ausdrucksweise überbietet sich von Werk zu Werk, jedes Werk
ist, wie man es vom Maler gesagt hat, eine von ihm selbst er-
richtete Stufe, von der aus er mit demselben Risiko eine weitere
346 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge

Stufe baut; und was man das Œuvre nennt, ist die Folge jener
Versuche, die immer unterbrochen wird, sei es durch das Ende
des Lebens oder die Erschöpfung der Sprachkraft. Immer von
neuem beginnt der Schriftsteller, sich mit einer Sprache zu mes-
sen, die er nicht meistert und die doch ohne ihn nichts ist, die
ihre Launen, ihren Reiz hat, welche aber immer erst durch die
schriftstellerische Arbeit verdient werden müssen. Die Unter-
scheidungen von Form und Inhalt, von Sinn und Laut, von Idee
und Ausführung werden undeutlich wie die Grenzen zwischen
Körper und Geist. Geht man von der ›bezeichnenden‹ (signifi-
ant) Sprache zur reinen Sprache über, so befreit sich die Literatur,
ebenso wie die Malerei, von der Ähnlichkeit mit den Dingen und
vom Ideal eines vollendeten Kunstwerkes. Wie schon Baudelaire
gesagt hat, gibt es vollendete Werke, von denen man nicht sa-
gen kann, daß sie jemals fertiggestellt worden seien, und unvoll-
endete Werke, die alles sagen, was sie sagen wollten. Es ist das 9
Wesen des Ausdrucks, daß er immer nur in einer Annäherung
besteht.
Jenes Pathos der Sprache ist in unserem Jahrhundert Schriftstel-
lern gemeinsam, die sich zwar gegenseitig verachten, deren Ver-
wandtschaft es jedoch forthin besiegelt. In seinen Anfängen hatte
der Surrealismus durchaus den Anschein einer Revolte gegen die
Sprache, gegen jeden Sinn und gegen die Literatur selbst. In Wahr-
heit jedoch hatte Breton nach einzelnen zögernden und rasch kor-
rigierten Formulierungen begonnen, nicht die Sprache zugunsten
des Unsinns zu zerstören, sondern einen bestimmten weiterrei-
chenden und radikalen Gebrauch des Wortes zu restaurieren, für
den alle sogenannten ›automatischen‹ Texte, wie er selbst zugibt,
bei weitem kein ausreichendes Beispiel liefern.4 Maurice Blanchot 10
erinnert daran in seiner berühmten Umfrage Warum schreiben
Sie? Breton gibt darauf schon die Antwort, indem er eine Aufgabe
oder Berufung des Wortes beschreibt, die sich seit eh und je im
Schriftsteller ausspricht und die ihn dazu bestimmt, auszudrük-
ken, mit einem Namen zu versehen, was noch niemals benannt

4 Vgl. Pont du Jour, Le langage automatique.


Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge 347

worden ist. Schreiben – in diesem Sinne von Offenbaren oder


11 Bekunden –, sagt er abschließend,5 ist niemals eine nichtige oder
frivole Beschäftigung gewesen. Die Polemik gegen die kritischen
Fähigkeiten oder die bewußte Kontrolle sollte das Sprechen nicht
dem Zufall oder dem Chaos überlassen, sondern der Sprache und
der Literatur die ganze Reichweite ihrer Aufgabe in Erinnerung
rufen, indem sie sie von den kleinen Kunstgriffen des Talents, den
dürftigen Rezepten der literarischen Welt, befreite. Es galt auf jene
Stufe der Unschuld, Jugend und Einheit zurückzukehren, auf der
der Sprechende noch kein Literat oder Politiker oder Edelmann
ist, zu jenem ›point sublime‹, von dem Breton an anderer Stelle
spricht, wo Literatur, Leben, Moral und Politik äquivalent und
untereinander austauschbar sind, weil ja jeder von uns der gleiche
Mensch ist, der liebt oder haßt, liest oder schreibt, der akzeptiert
oder ablehnt. Jetzt, da der Surrealismus der Vergangenheit ange-
hört und seine Beschränktheit – ebenso wie seine schöne Bissig-
keit – aufgegeben hat, können wir ihn nicht mehr durch seine
anfänglichen Zurückweisungen definieren, er ist für uns eine der
Rückwendungen zur spontanen Sprache, die unser Jahrhundert
alle zehn Jahre propagiert.
Dadurch verschmilzt er in unserer Erinnerung mit ähnlichen
Bewegungen und bildet mit ihnen eine der Konstanten unserer
Zeit. Valéry, den die Surrealisten zunächst durchaus schätzten
und den sie später verwarfen, bleibt trotz seiner Zugehörigkeit zur
Akademie ihrer Erfahrung der Sprache sehr nahe. Man hat näm-
lich nicht genügend beachtet, daß er der bezeichnenden (signifi-
ant) Literatur nicht, wie man bei oberflächlichem Lesen meinen
könnte, eine Literatur der schlichten Ausübung von Sprach- und
Prosodiekonventionen entgegenstellt, die um so wirksamer wer-
den, je komplizierter und folglich absurder sie sind. Das Wesen
der dichterischen Sprache (manchmal sagt er sogar: das Wesen
jeder literarischen Sprache) besteht für ihn darin, daß sie hinter
dem, was sie uns mitteilt, nicht verschwindet, sondern, daß der
Sinn eben diese Wörter verlangt, denn keine anderen als diese

5 Légitime Défense.
348 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge

haben den Sinn mitgeteilt; des weiteren zeigt sich das Wesen der
dichterischen Sprache darin, daß man ein Werk nicht zusammen-
fassen kann, sondern es wieder lesen muß, um es wiederzufinden,
daß hier der Gedanke von den Wörtern hervorgebracht wird,
nicht auf Grund der lexikalischen Bedeutungen, die ihnen in der
Umgangssprache zugeordnet sind, sondern auf Grund von Sinn-
bezügen einer mehr leiblichen Art, auf Grund von Bedeutungs-
höfen, die sie ihrer Geschichte und ihrem Gebrauch verdanken,
auf Grund des Lebens, das sie in uns führen und das wir in ihnen
führen, das von Zeit zu Zeit jene sinnerfüllten Zufälle herbeiführt,
die die großen Bücher sind. Auf seine Weise verlangt auch Valéry
dieselbe Übereinstimmung der Sprache mit ihrem umfassenden
Sinn, die den surrealistischen Gebrauch der Sprache motiviert.
Die einen wie die anderen meinen das, was Francis Ponge die
›semantische Dichte‹ und Sartre den ›Bedeutungshumus‹ der
Sprache nennen, d. h. das der Sprache eigene Vermögen, als Ge- 12
bärde, Akzent, Stimme, Modulation der Existenz über das hinaus
zu bedeuten, was sie im einzelnen nach den geltenden Konven-
tionen bedeutet. Von da ist es nicht mehr weit zu dem, was Clau-
del den ›intelligiblen Bissen‹ des Wortes nannte. Und dasselbe
Sprachempfinden findet man in den zeitgenössischen Definitio-
nen der Prosa wieder. Auch für Malraux heißt Schreiben, »mit
seiner eigenen Stimme sprechen lernen«.6 Und Jean Prévost ent- 13
deckt bei Stendhal, der ›wie der Code Civil‹ zu schreiben glaubte,
einen wirklichen Stil, d. h. eine neue und sehr persönliche An- 14
ordnung der Wörter, der Formen, der Erzählelemente, ein neues
Entsprechungssystem zwischen den Zeichen, eine unmerkliche,
für Stendhal typische Abwandlung des gesamten Sprachappara-
tes, ein durch die Jahre der Übung und des Lebens geschaffenes
System, das Stendhal selbst geworden war, das ihm schließlich zu
improvisieren ermöglicht, und das man nicht ein Gedankensy-
stem nennen kann, weil Stendhal selbst sich dessen viel zu wenig
bewußt war, sondern ein Sprachsystem.

6 Psychologie de l’art.
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge 349

Die Sprache ist also jene eigenartige Vorrichtung, die uns wie
unser Leib mehr gibt als wir hineingesteckt haben, sei es, daß wir
unsere Gedanken erst sprechend erfahren, sei es, daß wir ande-
ren zuhören. Denn wenn ich zuhöre, oder wenn ich lese, lassen
die Wörter in mir nicht immer schon vorhandene Bedeutungen
anklingen. Sie besitzen die außergewöhnliche Fähigkeit, mich von
meinen Gedanken wegzuziehen, sie bringen Risse in meine private
Welt hinein, durch die andere Gedanken einbrechen. »Wenigstens
15 in diesem Augenblick bin ich du gewesen«, sagt Jean Paulhan.
Wie mein Leib, der ja nur ein Stück Materie ist, sich in Gebär-
den findet, die über ihn hinausstreben, so füllen sich die Wörter
der Sprache, die einzeln betrachtet nur tote Zeichen sind, denen
nur eine verschwommene oder banale Idee entspricht, plötzlich
mit einem Sinn, der auf andere Menschen überspringt, wenn das
Sprechen die Wörter zu einem einzigen Ganzen verknüpft. Der
Geist steht nicht mehr abseits, er keimt am Rande der Gebärden,
am Rande der Wörter, wie durch eine spontane Zeugung.

*
Diese Wandlungen unserer Auffassung vom Menschen würden
nicht soviel Widerhall in uns finden, wenn sie sich nicht in so
auffallender Weise mit einer Erfahrung treffen würden, an der
wir alle, Wissenschaftler oder nicht, teilhaben, und die folglich
mehr als jede andere dazu beiträgt, uns zu bilden: Ich meine die
16 Erfahrung der politischen Beziehungen und der Geschichte.
Es scheint uns, daß unsere Zeitgenossen, zumindest seit drei-
ßig Jahren, in dieser Hinsicht ein Abenteuer erleben, das zwar
weitaus gefährlicher und doch dem analog ist, was wir in dem
harmlosen Bereich unserer Beziehungen zur Literatur oder zu
unserem Leib zu finden glaubten. Dieselbe Ambiguität, die bei
der Analyse den Begriff des Geistes auf den des Leibes oder der
Sprache ausdehnt, hat auch unser politisches Leben befallen.
Hier wie dort wird es immer schwieriger, zwischen Gewalt und
Idee, zwischen Macht und Wert zu unterscheiden, wobei als gra-
vierender Umstand hinzutritt, daß dieses Ineinandergreifen hier
auf politische Krisen und Chaos hinauszulaufen droht.
350 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge

Wir sind in einer Zeit aufgewachsen, in der offiziell die Weltpo-


litik eine Rechtsverfassung hatte. Die Rechtlichkeit der Politik war
endgültig diskreditiert, als man sah, daß zwei der Siegermächte
von 1918 einem wiedererstarkten Deutschland mehr zugestan-
den als der Weimarer Republik. Keine sechs Monate später riß es
auch Prag an sich. Damit war der Beweis erbracht: Die Rechts-
verfassung der Politik der Siegermächte war die Maske für ihre
Vorherrschaft, die Forderung nach ›Gleichheit der Rechte‹ auf
seiten der Besiegten war die Maske für die nächste Vorherrschaft
Deutschlands. Man blieb immer in den Kräfteverhältnissen und
den Kampf auf Leben und Tod verstrickt, jedes Zugeständnis war
eine Schwäche, jeder Gewinn eine Etappe auf dem Weg zu ande-
rem Gewinn. Wichtig ist jedoch, daß der Verfall der Rechtlichkeit
der Politik bei unseren Zeitgenossen keineswegs einfach zu einer
Rückkehr zur Politik der Stärke oder der Effizienz geführt hat.
Es ist auffällig, daß der Zynismus oder sogar die politische Heu-
chelei ebenfalls diskreditiert sind, daß die öffentliche Meinung
in dieser Hinsicht erstaunlich empfindlich geblieben ist, daß die
Regierungen sich bis in die letzten Monate hinein hüteten, bei
ihr Anstoß zu erregen und daß auch jetzt keine einzige offen zu
erklären wagt, daß sie auf die nackte Gewalt setzt oder sie tat-
sächlich ausübt.
Seinen Grund hat dies darin, daß es in der unmittelbaren
Nachkriegszeit eigentlich keine Weltpolitik gegeben hat. Die
Mächte gerieten nicht aneinander. Sehr viele Fragen wurden of-
fengelassen, aber gerade deshalb gab es ›no man’s lands‹, neutrale
Zonen, provisorische Regime oder Übergangssysteme. Das abso-
lut entwaffnete Europa lebte jahrelang ohne Invasion. Bekannt-
lich haben sich die Dinge seit einigen Jahren geändert; vom einen
Ende der Welt zum anderen haben neutrale Zonen zwischen zwei
rivalisierenden Mächten ihre Neutralität verloren; Armeen sind
im ›no man’s land‹ aufgetaucht; die Wirtschaftshilfen wurden zu
Militärhilfen. Es erscheint uns jedoch bemerkenswert, daß diese
Rückkehr zur Politik der Stärke nirgends ohne Vorbehalt vor sich
geht. Man wird vielleicht sagen, daß es schon immer geschickt
gewesen ist, die Gewalt mit Friedenserklärungen zu kaschieren,
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge 351

und daß darin die Propaganda besteht. Wenn wir jedoch das Ver-
halten der Mächte beobachten, fragen wir uns schließlich, ob es
sich wirklich nur um Vorwände handelt. Möglicherweise glauben
alle Regierungen an ihre Propaganda und wissen in der gegen-
wärtigen Verwirrung selbst nicht mehr, was wahr und was falsch
ist, weil in gewisser Hinsicht alles, was sie gemeinsam sagen, wahr
ist. Es ist möglich, daß jede Politik zugleich und tatsächlich krie-
gerisch und friedlich ist.
Hier wäre eine ganze Reihe merkwürdiger Praktiken zu ana-
lysieren, die in der zeitgenössischen Politik allgemein verbreitet
zu sein scheinen. Zum Beispiel die jeweiligen Praktiken der Säu-
berung und der Geheimpolitik oder der Politik der fünften Ko-
lonnen. Das Rezept solcher Praktiken stammt von Machiavelli,
von dem sie jedoch nur beiläufig empfohlen werden, während
sie sich heute überall zu institutionalisieren scheinen. Das setzt
jedoch voraus, daß man im Grunde immer damit rechnet, beim
Gegner Komplizen und im eigenen Haus Verräter zu finden.
Damit gibt man zu, daß alle Angelegenheiten zweideutig sind.
Die heutige Politik scheint sich von der früheren durch jenen
Zweifel, sogar an der eigenen Sache, zu unterscheiden, der von
Strafmaßnahmen zu seiner Unterdrückung begleitet ist. Dieselbe
grundsätzliche Unsicherheit drückt sich in der Leichtigkeit aus,
mit der die Staatschefs Wendungen vollziehen oder von einer
Politik wieder ablassen, ohne daß natürlich diese Schwankungen
jemals als solche zugegeben werden. Schließlich hat man selten
in der Geschichte erlebt, daß ein Staatschef einen berühmten,
lange Zeit unumstrittenen Oberkommandierenden absetzt und
seinem Nachfolger ungefähr dasselbe zubilligt, was man jenem
einige Monate früher verweigerte. Man hat selten erlebt, daß
eine Großmacht sich weigert zu intervenieren, um einen ihrer
Schützlinge, der im Begriff ist, einen Nachbarn zu überfallen, zur
Mäßigung zu bringen – und nach einem Kriegsjahr die Rückkehr
zum Status quo vorschlägt. Solche Schwankungen lassen sich nur
verstehen, wenn die Regierungen in einer Welt, in der die Völker
gegen den Krieg sind, diesen nicht direkt ins Auge fassen kön-
nen, ohne daß sie jedoch wagen, Frieden zu schließen, weil sie
352 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge

damit ihre Schwäche eingestehen würden. Die reinen Kräftever-


hältnisse werden in jedem Augenblick verändert: Man will auch
die öffentliche Meinung für sich haben. Jeder Truppentransport
wird auch zu einer politischen Operation. Man handelt weniger,
um ein bestimmtes faktisches Resultat zu erzielen, als um den
Gegner in eine bestimmte moralische Situation zu versetzen. So
kommt es zu dem merkwürdigen Begriff Friedensoffensive: Den
Frieden vorschlagen, heißt den Gegner entwaffnen, die öffent-
liche Meinung auf seine Seite ziehen und den Krieg so beinahe
gewinnen. Zugleich jedoch spürt man wohl, daß man nicht das
Gesicht verlieren darf, daß zuviel vom Frieden sprechen den Geg-
ner ermutigen hieße, so daß man auf beiden Seiten Friedensap-
pelle und Gewaltmaßnahmen, verbale Drohungen und tatsäch-
liche Konzessionen miteinander abwechseln läßt oder sie, besser
noch, miteinander verbindet. Die Friedensangebote werden in
einem entmutigenden Ton formuliert und von neuen Kriegsvor-
bereitungen begleitet. Niemand will ein Abkommen schließen,
und niemand will die Verhandlungen abbrechen. So kommt es zu
tatsächlichen Waffenruhen, die Wochen oder Monate lang ein-
gehalten werden und die niemand legalisieren will, wie es zwi-
schen Beleidigten geschieht, die sich ertragen, aber nicht mehr
miteinander sprechen. Man fordert einen alten Verbündeten auf,
mit einem alten Gegner einen Vertrag zu unterzeichnen, den er
mißbilligt. Aber man rechnet damit, daß er es ablehnen wird.
Tut er es dennoch, so ist das ein Treuebruch. Auf diese Weise
haben wir einen Frieden, der kein Friede ist, und ebenso einen
Krieg, der – außer für die Kämpfenden und die Bewohner – kein
wirklicher Krieg ist. Man läßt seine Freunde kämpfen, denn
wenn man ihnen die Waffen lieferte, die den Kampf entschei-
den würden, riskierte man den wirklichen Krieg. Man zieht sich
vor dem Feind zurück und versucht ihn in die Falle einer Of-
fensive zu locken, die ihn ins Unrecht setzen würde. Jeder poli-
tische Akt enthält außer seinem offenkundigen Sinn noch einen
entgegengesetzten und latenten Sinn. Die Regierungen scheinen
sich in ihre Aktionen zu verlieren, und bei der außerordentli-
chen Subtilität der Beziehungen von Mitteln zu Zwecken selbst
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge 353

nicht mehr wissen zu können, was sie tatsächlich tun. Unsere


Zeitungen werden von der Dialektik beherrscht, aber es ist die
Dialektik eines Wahns, die sich um sich selber dreht und die
Probleme nicht löst. In alldem meinen wir weniger Doppelzün-
gigkeit als Verwirrung, weniger Bösartigkeit als Verlegenheit zu
finden.
Wir sagen nicht, daß das ungefährlich sei: Es kann geschehen,
daß man auf Umwegen in den Krieg stolpert und daß er bei ei-
nem jener Winkelzüge der großen Politik, der nicht mehr als ir-
gendein anderer dazu angetan schien, ihn auszulösen, plötzlich
da ist. Wir sagen nur, daß jene Merkmale unserer Politik letztlich
beweisen, daß der Krieg keine besondere Motivation erfordert.
Selbst wenn er aus alldem hervorgeht, wird niemand Grund ha-
ben zu behaupten, er sei unausweichlich gewesen. Denn die ei-
gentlichen Probleme der gegenwärtigen Welt liegen weniger im
Antagonismus zweier Ideologien als in ihrer gemeinsamen Hilf-
losigkeit gegenüber bestimmten entscheidenden Fakten, die we-
der die eine noch die andere unter ihre Kontrolle bringen kann.
Wenn es zum Krieg kommt, so wird das ein Ablenkungsmanöver
oder ein unglücklicher Zufall sein.
Die Rivalität der beiden Großmächte ist am Problem Asiens
hervorgetreten und tut das noch heute. Es war keine diabolische
Machenschaft der einen oder anderen Regierung, die bewirkt hat,
daß Länder wie Indien und China, in denen man seit Jahrhun-
derten verhungerte, plötzlich Hungersnot, Schwäche, Unord-
nung oder Korruption ablehnen; die Entwicklung des Radios,
ein Minimum an Ausbildung, die Presse, die Kommunikation
mit der Außenwelt, die Bevölkerungszunahme haben eine jahr-
hundertealte Situation plötzlich untragbar gemacht. Es wäre be-
schämend, wenn uns unsere europäischen Ängste das wirkliche
Problem verschleierten, das sich dort unten stellt: das Drama
von mittellosen Ländern, das keinen Humanismus gleichgül-
tig lassen kann. Mit dem Erwachen dieser Länder schließt sich
die Welt selbst zusammen. Zum erstenmal vielleicht sehen sich
die fortgeschrittenen Länder ihrer Verantwortung gegenüber,
und man kann von einer Menschheit sprechen, die sich nicht
354 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge

auf zwei Kontinente beschränkt. Diese Tatsache selbst ist nicht


betrüblich. Wenn wir weniger von unseren eigenen Sorgen be-
sessen wären, würde sie uns beeindrucken. Schwerwiegend je-
doch ist, daß alle westlichen Doktrinen zu beschränkt sind, um
mit dem Problem der Erschließung Asiens fertig zu werden. Die
klassischen Mittel der liberalen Wirtschaft oder selbst die des
amerikanischen Kapitalismus scheinen nicht auszureichen, auch
nur Indien auszurüsten. Der Marxismus dagegen ist konzipiert
worden, um den Übergang eines bereits bestehenden wirtschaft-
lichen Apparates aus den Händen einer parasitär gewordenen
Bourgeoisie in die eines entwickelten, in hohem Maße bewußten
und ausgebildeten Proletariats zu gewährleisten. Den Übergang
von einem wirtschaftlich rückständigen Land zu den modernen
Produktionsformen zu bewerkstelligen, ist etwas ganz anderes,
und das Problem, das sich für Rußland gestellt hat, stellt sich
noch viel mehr für Asien. Daß der Marxismus, mit dieser Auf-
gabe konfrontiert, sich tiefgreifend gewandelt hat, daß er faktisch
auf seine Auffassung von einer Revolution, die in der Geschichte
der Arbeiterklasse wurzelt, verzichtet hat, daß er an die Stelle
eines Übergreifens der Revolution Eigentumsveränderungen
gesetzt hat, die von oben her durchgeführt werden, und daß er
die These vom Absterben des Staates und vom Proletariat als
weltweiter Klasse hat fallenlassen, ist ganz und gar nicht überra-
schend. Das heißt aber auch, daß die chinesische Revolution, die
von der Sowjetunion nicht allzusehr ermutigt worden ist, sich
der Voraussicht einer marxistischen Politik weitgehend entzieht.
In dem Moment also, da Asien als aktiver Faktor in die Weltpoli-
tik eingreift, können wir mit keiner der in Europa entstandenen
Konzeptionen diese Probleme Asiens meistern. Das politische
Denken klebt hier an historischen und lokalen Umständen und
verliert sich in jenen riesigen Gesellschaften. Das läßt die An-
tagonisten zweifellos vorsichtig werden und gibt uns eine Chance
für den Frieden. Vielleicht erliegen sie aber auch der Versu-
chung eines Krieges, der keine Probleme lösen würde, es aber
ermöglichte, sie auf die lange Bank zu schieben. Darin besteht
also gleichzeitig unser Kriegsrisiko. Die Weltpolitik ist verwor-
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge 355

ren, weil die Ideen, auf die sie sich beruft, für ihr Aktionsfeld zu
beschränkt sind.

*
Wenn wir also abschließend für unsere Bemerkungen eine phi-
losophische Formel finden sollten, würden wir sagen, daß unsere
Zeit, vielleicht mehr als irgendeine andere, die Erfahrung des Zu-
fälligen gemacht hat und noch macht. Zunächst die Zufälligkeit
des Übels: Am Ursprung des menschlichen Lebens gibt es keine
Kraft, die es in sein Verderben oder ins Chaos triebe. Im Gegen-
teil, jede Gebärde unseres Leibes oder unserer Sprache, jeder Akt
des politischen Lebens rechnet, wie wir gesehen haben, spontan
mit dem anderen und weist, in dem, was ihm eigentümlich ist,
über sich hinaus auf einen allgemeinen Sinn hin. Wenn unsere
Einfälle in der zähen Masse des Leibes, der Sprache oder in dieser
maßlosen Welt, die wir zu vollenden haben, versinken, so haben
wir es nicht mit einem bösen Geist zu tun, der uns seinen Wil-
len aufzwingt, sondern mit einer Art Trägheit, einem passiven
Widerstand, einer Ohnmacht des Sinnes – einer anonymen Wi-
dersetzlichkeit. Aber auch das Gute ist zufällig. Man lenkt weder
den Leib, indem man ihn unterdrückt, noch die Sprache, indem
man sie vom Denken aus kontrolliert, noch die Geschichte, in-
dem man Werturteile fällt; es gilt immer, jede dieser Situationen
zu der seinen zu machen, und wenn sie jeweils zu einer anderen
werden, so geschieht das spontan. Der Fortschritt hat keine me-
17 taphysische Notwendigkeit: Man kann lediglich sagen, daß sehr
wahrscheinlich die Erfahrung schließlich die falschen Lösungen
ausschalten und aus Sackgassen herausfinden wird. Aber um wel-
chen Preis? Auf wie vielen Umwegen? Es ist nicht einmal prinzi-
piell ausgeschlossen, daß die Menschheit mitten auf dem Wege
scheitert, wie ein Satz, der nicht dazu kommt, zu Ende gebracht
zu werden.
Gewiß, die Gesamtheit der Wesen, die unter dem Namen des
Menschen bekannt sind und durch die bekannten physischen
Merkmale bestimmt werden, haben auch eine natürliche Einsicht,
eine Öffnung zum Sein gemeinsam, die die Errungenschaften
356 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge

der Kultur allen und ihnen allein mitteilbar macht. Aber jener
Funken, den wir in jedem sogenannten menschlichen Blick wie-
derfinden, läßt sich ebensogut in den grausamsten Formen des
Sadismus wie in der italienischen Malerei erkennen. Eben dieser
Funke bewirkt es, daß von seiten des Menschen und bis zum Ende
alles möglich ist. Der Mensch ist von den Tierarten gerade darin
absolut unterschieden, daß er über keine ursprüngliche Ausrü-
stung für seine Existenz verfügt und daß er der Ort des Zufalls ist,
der bald in der Gestalt eines Wunders auftritt, so wie man vom
griechischen Wunder gesprochen hat, bald in der Gestalt einer
ziellosen widersetzlichen Macht. Unsere Zeit ist ebenso weit von
einer Erklärung des Menschen durch niedere Triebe entfernt wie
von einer Erklärung durch ein höheres Geschick, und zwar aus
den gleichen Gründen. Die Mona Lisa aus der sexuellen Lebens-
geschichte Leonardo da Vincis erklären oder durch irgendeinen
göttlichen Auftrag, dessen Instrument Leonardo da Vinci gewesen
wäre, oder durch irgendeine der Schönheit fähigen menschlichen
Natur, heißt immer, dem Trugbild der Retrospektive verfallen,
immer, im voraus das Verbindliche realisieren – kurz, immer den
menschlichen Augenblick par excellence verkennen, in dem ein
aus Zufällen gewebtes Leben sich zu sich selbst zurückwendet,
sich wieder fängt und sich ausdrückt. Wenn es heute einen Hu-
manismus gibt, so löst er sich von der Illusion, die Valéry richtig
bezeichnet hat, als er von »jenem kleinen Menschen« sprach, »der
im Menschen ist und den wir immer in ihm voraussetzen«. Die
Philosophen haben bisweilen geglaubt, unser Sehen durch das
Bild oder die Abbildung der Dinge auf unserer Netzhaut, erklären
zu können. Das lag daran, daß sie hinter dem Netzhautbild einen
zweiten Menschen mit anderen Augen annahmen, ein anderes
Netzhautbild, das die Funktion hätte, das erste zu sehen. Aber mit
diesem inneren Menschen im Menschen bleibt das Problem un-
gelöst, und es bleibt zu verstehen, wie ein Körper sich belebt und
wie jene blinden Organe schließlich Träger einer Wahrnehmung
werden. Der »kleine Mensch, der im Menschen ist«, ist nur das
Phantom unserer gelungenen Ausdruckshandlungen, der Mensch
hingegen, den wir bewundern, ist nicht jenes Phantom, sondern
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge 357

derjenige, der, eingerichtet in seinem fragilen Leib, in einer Spra-


che, die schon soviel gesprochen hat, in einer taumelnden Ge-
schichte, sich sammelt und sich anschickt, zu sehen, zu verstehen
und zu bedeuten. Der heutige Humanismus hat nichts Dekora-
tives oder Schickliches mehr. Er liebt nicht mehr den Menschen
gegen seinen Körper, den Geist gegen seine Sprache, die Werte
gegen die Tatsachen. Er spricht nur noch nüchtern und verhalten
vom Menschen und vom Geist: Der Geist und der Mensch sind
niemals, sie lassen sich nur in der Bewegung erkennen, durch die
der Körper zur Geste, die Sprache zum Werk, ihr Miteinander
Wahrheit wird.
Zwischen diesem Humanismus und den klassischen Auffas-
sungen besteht lediglich die Beziehung einer Homonymie. Auf
die eine oder andere Weise behaupteten letztere einen Menschen
göttlichen Rechts (denn der Humanismus des notwendigen Fort-
schritts ist eine säkularisierte Theologie). Die großen rationalisti-
schen Philosophen gerieten nur deshalb mit der Offenbarungsre-
ligion in Konflikt, weil sie der göttlichen Schöpfung mit irgend-
einem metaphysischen Mechanismus Konkurrenz machten, der
ebensowenig die Vorstellung von einer zufälligen Welt umgehen
konnte. Der heutige Humanismus stellt der Religion keine Welt-
erklärung gegenüber: Er beginnt mit dem Bewußtwerden der
Zufälligkeit, er ist die ständige Feststellung einer erstaunlichen
Einheit von Tatsache und Sinn, meinem Leib und mir, mir und
anderen, meinem Denken und meinem Sprechen, Gewalt und
Wahrheit; er ist die methodische Ablehnung von Erklärungen,
weil sie das Gemisch, aus dem wir gemacht sind, zerstören und
uns selbst unverständlich machen. Valéry sagt tiefgründig: »Man
sieht nicht, woran ein Gott denken könnte« – ein Gott und, wie
er übrigens anderswo erklärt, ebensosehr ein Dämon. Der Me-
phistoteles von Mon Faust sagt sehr richtig: »Ich bin das Wesen
ohne Fleisch, das weder schläft noch denkt. Sobald jene armen
Irren sich vom Trieb entfernen, verirre ich mich in die Laune, die
Nutzlosigkeit oder die Tiefe jener Erregungen ihrer Köpfe, die
sie ›Ideen‹ nennen … Ich verliere mich in jenen Faust, der mich
bisweilen ganz anders zu verstehen scheint, als es nötig wäre,
358 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge

als wenn es eine andere Welt als die andere Welt gäbe! … Hier
schließt er sich ein und vergnügt sich mit dem, was er im Gehirn
hat, hier braut und wiederkäut er jene Mischung aus dem, was er
weiß und dem, was er nicht weiß, was sie Denken nennen […]
Ich kann nicht denken, und ich habe keine Seele […]«7 Denken 18
ist Menschensache, wenn Denken heißt, immer auf sich selbst
zurückkommen, zwischen zwei Ablenkungen den winzigen leeren
Raum einschieben, durch den wir etwas erkennen.
Eine strenge und – wenn man uns das Wort erlaubt – fast
schwindelerregende Idee. Wir müssen uns ein Labyrinth spon-
taner Schritte vorstellen, die sich aufnehmen, sich manchmal
überschneiden und bestätigen, aber auf wie vielen Umwegen und
durch welchen Wust von Unordnung hindurch – das heißt, wir
müssen begreifen, daß das ganze Unternehmen auf sich selbst
beruht. Es wird verständlich, daß unsere Zeitgenossen vor die-
ser Idee, die sie ebenso wie wir ahnen, zurückschrecken und sich
irgendeinem Götzen verschreiben. Der Faschismus ist (von an-
deren Annäherungen an das Phänomen abgesehen) die Flucht
einer Gesellschaft vor einer Situation, in der die Zufälligkeit der
moralischen und gesellschaftlichen Strukturen offenkundig ist.
Er ist die Angst vor dem Neuen, die gerade die Ideen, die die hi-
storische Erfahrung verbraucht hatte, am Leben erhält und be-
kräftigt, ein Phänomen, das von unserer Zeit bei weitem nicht
überwunden ist. Das Wohlwollen, auf das heute in Frankreich
eine okkultistische Literatur stößt, stellt etwas Analoges dar. Un-
ter dem Vorwand, daß unsere ökonomischen, moralischen oder
politischen Ideen sich in einer Krise befinden, will das okkulti-
stische Denken Institutionen, Bräuche und Zivilisationstypen
errichten, die noch viel weniger unseren Problemen entsprechen,
die jedoch ein Geheimnis einschließen sollen, das man zu entzif-
fern hofft, indem man sich von den verbliebenen Dokumenten
zu Träumen verführen läßt. Während es die Rolle der Kunst, der
Literatur, vielleicht sogar der Philosophie ist, Heiliges zu schaffen,
sucht der Okkultismus es als schon Vorhandenes, zum Beispiel

7 Mon Faust, S. 156 f.


Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge 359

in den Sonnenkulten oder in der Religion der amerikanischen


Indianer, wobei er vergißt, daß die Ethnologie uns jeden Tag
deutlicher zeigt, aus welchen Schrecken, welchem Verfall, welcher
Ohnmacht das archaische Paradies oft bestand. So herrscht die
Angst vor der Kontingenz schließlich überall, bis in die Lehren
hinein, die dazu beigetragen haben, sie an den Tag zu bringen.
Während der Marxismus sich ganz und gar auf ein Überholen
der Natur durch die menschliche Praxis gründet, verschleiern
die heutigen Marxisten, welches Risiko eine derartige Umfor-
mung der Welt in sich schließt. Während der Katholizismus, vor
allem in Frankreich, von einer Bewegung hartnäckigen Suchens
durchdrungen ist, demgegenüber der Modernismus des Jahrhun-
dertbeginns sentimental und verschwommen erscheint, hält die
Hierarchie an den abgenutzten Formen der theologischen Erklä-
rung mittels des Syllabus fest. Man versteht sie: Es ist wohl wahr,
daß man die Zufälligkeit der Existenz nicht wirklich denken und
sich gleichzeitig an den Syllabus halten kann. Es ist sogar wahr,
daß die Religion mit einem Minimum erklärenden Denkens ver-
bunden ist. In einem kürzlich veröffentlichten Artikel gab Fran-
çois Mauriac zu verstehen, daß der Atheismus einen durchaus
rühmlichen Sinn erhalten könne, wenn er sich nur auf den Gott
der Philosophen und Wissenschaftler bezöge, auf den Gott als
Idee. Aber ohne Gott als Idee, ohne das unendliche und schöpfe-
rische Denken der Welt, ist Christus ein Mensch, hören Geburt
und Passion Christi auf, Taten Gottes zu sein, um zu Symbolen
des menschlichen Daseins zu werden. Es wäre unvernünftig, von
einer Religion zu erwarten, daß sie die Menschheit, nach dem
schönen Wort Giraudoux’ als die ›Karyatide des Leeren‹ begriffe.
Doch die Rückkehr zu einer erklärenden Theologie, die zwangs-
weise auferlegte Bekräftigung des Ens realissimum, führen wieder
zu allen Konsequenzen einer massiven Transzendenz, die die reli-
giöse Neubesinnung zu umgehen suchte: Wieder trennen sich die
Kirche, ihr heiliges Vermächtnis und ihr jenseits des Sichtbaren
liegendes, nicht zu verifizierendes Geheimnis von der tatsäch-
lichen Gesellschaft, wieder sind der Himmel der Prinzipien und
die Erde der Existenz entzweit, wieder ist der philosophische
360 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge

Zweifel nur eine Formalität, wieder heißt die Widersetzlichkeit


Satan, und der Kampf gegen sie ist schon gewonnen. Das okkul-
tistische Denken verbucht einen Pluspunkt.
Von neuem wird das Gespräch zwischen Christen und anderen,
zwischen Marxisten und anderen schwierig. Wie sollte es auch
einen wirklichen Austausch geben zwischen dem, der weiß, und
dem, der nicht weiß? Was soll man sagen, wenn man keine Bezie-
hung, nicht einmal eine dialektische, zwischen dem Staatskom-
munismus und dem Absterben des Staates sieht, und ein anderer
behauptet, er sähe sie? Wenn man keine Beziehung zwischen dem
Evangelium und der Rolle des spanischen Klerus sieht, und ein
anderer behauptet, das sei nicht unvereinbar. Man ertappt sich
manchmal dabei, davon zu träumen, was die Kultur, das litera-
rische Leben, die geistige Ausbildung sein könnten, wenn alle,
die daran teilhaben, ein für allemal alle Idole verwürfen und sich
dem Glück, gemeinsam nachzudenken, hingäben … Doch die-
ser Traum ist unvernünftig. Die Diskussionen unserer Zeit sind
deshalb so krampfartig, weil sie sich einer ganz nahen Wahrheit
verwehrt, weil sie vielleicht näher als irgendeine andere daran ist,
ohne verstellenden Schleier, in allen Gefahren der Widersetzlich-
keit der Dinge, die Metamorphosen Fortunas zu erkennen.
G EL EG ENT L I CH E Ä U S S E RU NGE N
1 DIE PA RANOISCHE POLITIK

Die New York Times vom 14. Februar 1948 veröffentlichte einen
Artikel ihres eigenen Korrespondenten C.-L. Sulzberger, dessen
Lektüre für uns alle ein Gewinn sein wird. Der Titel lautete: Die
anti-rote Bewegung in Europa bewirkt seltsame Allianzen. Der
Untertitel: Die neuen Koalitionen suchen Unterstützung von links,
um die Arbeiter auf ihre Seite zu ziehen. Hier die wesentlichen
Auszüge des Textes:
Die allmähliche Herausbildung antikommunistischer Fronten
in Europa bringt merkwürdige ideologische Kombinationen
und bizarre politische Idyllen mit sich. Nahezu alle wichtigen
politischen Koalitionen in den Ländern, die auf die finanzielle
Hilfe des Marshall-Plans hoffen, unternehmen außergewöhn-
liche Anstrengungen, sich der Linken zuzuwenden und selbst
in irgendeiner Form als ›links‹ zu erscheinen, um auf diese
Weise die Unterstützung der Arbeiter zu erhalten und das Eti-
kett des Reaktionären zu vermeiden […]. In Frankreich suchen
die Regierungskoalition der ›Dritten Kraft‹ und die rechts von
ihr stehende gaullistische Bewegung beide ständig nach einer
Unterstützung seitens der Arbeiter. So hat mir André Malraux,
der berühmte Schriftsteller, der einst mit der Linken in Spa-
nien und China war und der jetzt einer der wichtigsten Berater
Charles de Gaulles ist, die Kopie eines von Victor Serge kurz
vor seinem Tod im letzten Jahr in Mexiko an ihn adressierten
Briefes gezeigt. Im Brief stand:
›Ich möchte Ihnen sagen, daß ich die politische Haltung, die
Sie angenommen haben, für mutig und wahrscheinlich ver-
nünftig halte. Wenn ich in Frankreich gewesen wäre, dann
hätte ich zu den Sozialisten gezählt, die mit jener Bewegung
zusammenarbeiten, der Sie angehören. Ich halte den Wahler-
folg Ihrer Bewegung für einen großen Schritt, der in Richtung
der unmittelbaren Rettung Frankreichs getan wurde […]. Die
364 Gelegentliche Äußerungen

endgültige Rettung wird in der Folge von der Art und Weise
abhängen, wie Sie und so viele andere das erfüllen werden,
was ich Ihre zweifache Aufgabe nenne: die Feinde der euro-
päischen Wiedergeburt zu bekämpfen und die Gefahren zu
bannen, die wir alle in uns selbst tragen.‹
Herr Malraux, fährt Sulzberger fort, sagt immer, daß er selbst
heute ein trotzkistischer Kommunist wäre, wenn Leo Trotzki
seine politische Schlacht gegen Joseph Stalin gewonnen hätte.
Es ist daher nicht erstaunlich, daß Herr Serge diese Gefühle
teilt. Victor Serge Kibaltschisch, der 52 Jahre alt war, als er
starb, war der Enkel des berühmten Kibaltschisch, der seiner-
seits in Rußland Mitglied des Volkswillens war, der Zar Alex-
ander II. zu ermorden versuchte. In Mexiko war er ein enger
Freund von Herrn Trotzki, bis zu dem Tag, an dem letzterer
ermordet wurde.
[…] Eine der großen Schwierigkeiten, denen man bei dem
Vorhaben begegnet, eine wirklich freie europäische Arbeiter-
bewegung zu schaffen, die sich der von Moskau ausgehenden
Linksdiktatur widersetzt, besteht darin, gleichzeitig die kom-
promittierten Elemente der extremen Rechten auszuschalten.
Das andere Problem besteht darin, Sozialisten und Nicht-
Sozialisten zu einer Zusammenarbeit zu bewegen. Viele
sozialistische Anführer würden die neuen freien Gewerk-
schaften an sich binden wollen. Dennoch bestehen ins-
besondere die amerikanischen Berater auf der Notwen-
digkeit, diese Bewegung außerhalb jeder Art von Politik,
sogar einschließlich des abendländischen Sozialismus, zu be-
lassen.1

*
Die New York Times vom 9. März 1948 veröffentlichte eine kurze
Antwort von Natalia Sedowa Trotzki. Tatsächlich war ihr Brief 2
von der Redaktion gekürzt worden. Im folgenden geben wir den
vollständigen Text wieder:

1 Wir übersetzen.
Die paranoische Politik 365

An den Chefredakteur der New York Times

Sehr geehrter Herr,

man hat mich auf die aus Frankreich telegraphierte Nachricht


Ihres Auslandskorrespondenten, Herrn C.L. Sulzberger, in der
Times vom 14. Februar 1948 aufmerksam gemacht. Die Erklä-
rungen, die Herrn Malraux zugeschrieben werden, enthalten
so himmelschreiende Ungenauigkeiten, daß ich Sie inständig
bitte, die beigefügte Antwort zu veröffentlichen, obwohl sie,
was nicht zu vermeiden war, mit einiger Verspätung bei Ihnen
eintrifft.
Mit tiefer Empörung sehen wir Malraux, nach Jahren ent-
schiedener Solidarität mit dem Stalinismus, die Rolle eines
trotzkistischen Sympathisanten annehmen, in dem Augen-
blick, in dem er sich mit dem Kern der französischen Re-
aktion verbündet. {Es handelt sich hierbei, mit einer neuen
Form von Verleumdung, nur um ein neuerliches Beispiel des
Revolutionärs, der nicht mehr in der Lage ist, von sich aus zu
antworten.} Malraux ist nie ein Sympathisant des Trotzkismus
gewesen. Er ist im Gegenteil stets sein Feind gewesen; er ist
derjenige, der alles daran gesetzt hat, die Aufmerksamkeit der
Öffentlichkeit von der Realität abzulenken, im Falle der infa-
men Moskauer Schauprozesse derart, daß er sie in der New
York Times wie einen rein persönlichen Streit zwischen Trotzki
und Stalin abhandelte. Malraux’ Vorgehen als Informations-
minister der Regierung de Gaulle, einer Koalitionsregierung
mit den Stalinisten, als er die französische trotzkistische Presse
verbieten ließ, ist an sich bereits ein ausreichender Kommen-
tar zur heuchlerischen Erklärung Malraux’. Wir erleben ein-
mal mehr einen jämmerlichen Versuch, eine Verquickung von
Trotzkismus und Faschismus zu erwirken. {Malraux, der dem
Anschein nach mit dem Stalinismus gebrochen hat, äfft nur
seine ehemaligen Herren nach, wenn er versucht, eine Ver-
bindung zwischen dem Trotzkismus und der Reaktion herzu-
stellen.}
366 Gelegentliche Äußerungen

Der Name Victor Serge dient hier dazu, die Legende ei-
ner trotzkistischen Unterstützung der Bewegung de Gaulles
glaubwürdig erscheinen zu lassen. Der Bruch zwischen Serge
und Trotzki war total und kann durch eine große Anzahl von
veröffentlichten Texten belegt werden. {Folgendes schrieb
Trotzki in der Nummer 73 des Bulletins der russischen Op-
position (Januar 1939): ›Freunde fragen uns, welche Position
Victor Serge gegenüber der Vierten Internationale vertritt. Wir
müssen antworten, daß es die Haltung eines Oppositionellen
ist […] Die russische Sektion wie insgesamt die Vierte Inter-
nationale lehnen jede Verantwortung gegenüber der Politik
von Victor Serge ab.‹ In der Nummer 79 desselben Bulletins
schrieb Leo Trotzki überdies: ›Und Victor Serge? Er hat keiner-
lei festen Standpunkt […] Seine moralisierende Haltung ist,
wie die vieler anderer, die Brücke, die von der Revolution zur
Reaktion führt […]‹ Herr Sulzberger gibt zu verstehen, daß
zwischen Serge und Trotzki in Mexiko freundschaftliche Be-
ziehungen bestanden hätten. Er weiß offensichtlich nicht, daß
Serge im September 1941 in Mexiko ankam, dreizehn Monate
nach dem Tod von L. Trotzki. Der Brief von Serge an Malraux
kann bei Serge nur das Fehlen eines Standpunktes bestätigen,
von dem Trotzki gesprochen hatte.}
Soll Malraux, und sollen andere doch machen, was sie wollen;
sie werden Trotzki und die Bewegung, die er gegründet hat,
nicht in den Schmutz ziehen können.
Mit vorzüglicher Hochachtung.2
Natalia Sedowa Trotzki.
Coyoacan Mexiko, 16. Februar 1948.

*
Der amerikanische Freund, dem einer von uns diesen Text zu
verdanken hat, fügt Malraux’ Erklärungen hinsichtlich seiner
grundsätzlichen Sympathie für die Position Trotzkis, solange

2 Unsere Übersetzung.
Die paranoische Politik 367

er einige Aussicht darauf hatte, über Stalin zu siegen, folgenden


Kommentar hinzu:
Dieses Geständnis von Malraux ist aus zwei Gründen beson-
ders erstaunlich. Zum einen scheint es das wohlbekannte stali-
nistische Argument zu bestätigen, dem zufolge die Trotzkisten
in Wahrheit Faschisten sind, die mit der Gestapo zusammen-
arbeiten – und umgekehrt, die Gaullisten Faschisten sind. Es
ist recht merkwürdig, daß Malraux sich zu diesem Zeitpunkt
solchen Vorwürfen aussetzt. Zudem hat Malraux trotz seiner
Bewunderung für Trotzki in zwanzig Jahren politischer Akti-
vität nie praktisch unter Beweis gestellt, daß er Trotzki Stalin
vorzieht. Im Gegenteil, bei der einzigen Gelegenheit, bei der er
von Trotzki vor Gericht zitiert wurde, um während der Mos-
kauer Schauprozesse zu seinen Gunsten über ein Thema aus-
zusagen, das für das Leben und die Ehre der Revolutionäre von
Bedeutung war, weigerte Malraux sich, zu sprechen. Während
des zweiten Prozesses im Februar 1937 erklärte ein russischer
Journalist, Vladimir Romm, in seiner Aussage, er habe Trotzki
im Juli 1933 heimlich im Bois de Boulogne getroffen und von
ihm Instruktionen hinsichtlich der Sabotage in Rußland erhal-
ten. Trotzki antwortete sogleich, auf dem Wege der Vermitt-
lung durch die New York Times, daß er im Juli 1933, gegen
Ende des Monats, in Frankreich angekommen sei, daß er die
folgenden Wochen in Royan verbracht habe, von der übrigen
Welt durch seine Krankheit abgekapselt, und daß Malraux
sich unter jenen befunden hätte, die ihn während der letzten
Juliwoche besucht hätten. Und er forderte Malraux auf, der
gerade in New York angekommen war, dies zu bestätigen oder
zu dementieren. Malraux lehnte jede Aussage ab. Von da an
denunzierte Trotzki Malraux als stalinistischen Agenten und
als einen der Verantwortlichen für die Niederlage der Arbei-
terklasse in China im Jahr 1926 (telegraphierte Nachricht der
mexikanischen Universal Press vom 8. März 1937). Malraux
nahm in einem an die New York Times adressierten Brief (17.
März) ›das Recht für sich in Anspruch, später auf das zu ant-
worten, was den Hintergrund der Debatte bilde und was die
368 Gelegentliche Äußerungen

Person von Herrn Trotzki und seiner (selbst) bei weitem über-
steige‹. Diese Antwort steht noch aus, und man weiß nicht,
wann und warum Malraux mit Stalins Regime gebrochen hat,
dessen aktiver Verfechter er über so viele Jahre hinweg gewe-
sen ist.3

*
Jeder weiß – außer C.-L. Sulzberger –, daß Victor Serge bereits
seit Jahren kein Trotzkist mehr war. Im Januar 1939 veröffent-
lichten Burnham und Schachtman, die damals Mitglieder der
Socialist Workers Party Trotzkis waren, in The New Internatio-
nal einen Artikel, der gegen die ›Intellektuellen im Ruhestand‹
und die ›Liga der enttäuschten Hoffnungen‹ gerichtet war, und
die Herausgeber des letzten Buches von Trotzki ordnen Victor
Serge, gemeinsam mit Hook, Eastman, Suwarin und anderen, je-
ner ›Bruderschaft der Renegaten‹ zu. Es gibt keine Gemeinsam-
keit zwischen dem Trotzkismus Trotzkis, so wie er uns in seinem
posthum erschienenen Werk In Defense of Marxism (Pioneer
Publishers, Dezember 1942) vorgestellt wird, und der Truppe
der ›Intellektuellen im Ruhestand‹, die keineswegs, nur weil sie
sich dem Trotzkismus angenähert haben, weil sie mit ihm in Be-
rührung gekommen sind oder sogar in seinen Reihen gekämpft
haben, das Recht erworben haben, ihn aus ihren eigenen Enttäu-
schungen heraus zu kompromittieren.
Der Reporter ist nicht nur unwissend. Er trägt auch Züge eines
Doppelagenten. Man meint, daß C.-L. Sulzberger Malraux mit
diesem Minimum an Zustimmung zuhört, ohne das kein Ge-
spräch zustande kommt. Malraux erklärt, daß er seinem heutigen
Handeln den Sinn gibt, den er einer trotzkistischen Aktion gege-
ben hätte, wenn sie sich als wirksam erwiesen hätte. Wieder zu
Hause, spießt Sulzberger Malraux in seiner Sammlung der Hoch-
stapler auf. Seine persönlichen Motivationen (ob sie nun wohlbe-
gründet sind oder nicht, darüber werden wir später noch reden)

3 Unsere Übersetzung.
Die paranoische Politik 369

sind vergessen, und übrig bleibt nichts weiter als ein Komplize im
Täuschungsmanöver des weltweiten Antikommunismus.4
Aber er ist keiner der Reporter ohne Artikel, und der Arti-
kel läßt seine Doppelzüngigkeit zum Ausdruck kommen. Wir
überraschen ihn dabei, wie er zu seinem Publikum spricht. In
seinen Artikeln in der New York Times zeigt Sulzberger keine
Hemmungen: Er spricht offen über die amerikanischen Berater,
welche die neuen Gewerkschaften von der Politik und sogar von
der Ideologie des ›abendländischen Sozialismus‹ fernhalten wol-
len. Ist der sozialistische Rahmen also für unsere Berater noch zu
gefährlich? Ist also jede Anstrengung unserer Koalitionen, sich
rot zu kleiden, von vornherein nicht der Mühe wert? Und sind
diejenigen, die hier das Manöver anführen, auch die ersten, die
von ihm getäuscht werden? Und läßt sich dies alles offen in einer
großen amerikanischen Tageszeitung schreiben? Und versteht
sich für ihre Leser all dies von selbst? Solche Fragen sind es, die
zu denken geben.
Was Malraux’ ›Trotzkismus‹ angeht, so ahnt man über die
Anspielungen unserer Texte hinweg, was geschehen ist. Malraux
schätzte Trotzki und wäre ihm gefolgt, wenn es ihm gelungen
wäre, den Lauf der Ereignisse in der UdSSR und in der Welt
zu verändern. Er glaubte jedoch nicht mehr an seinen Erfolg.
Er glaubte zudem an den revolutionären Sinn des Regimes der
UdSSR. Was er auch gegen die Prozesse hätte einwenden können,
er wollte es nicht sagen, oder zumindest nicht sofort, da er sich
letztlich der kommunistischen Politik anschloß. Alles in allem ist
es die Haltung, die in der Condition humaine und insbesondere
in L’Espoir zum Ausdruck kommt. Wenn Trotzki Malraux, nach-
dem er ihn einer Probe unterworfen hatte und eine Weigerung
hatte hinnehmen müssen, als Stalinisten denunziert – da Malraux

4 Wir gehen nicht eine Minute lang davon aus, daß Malraux sich der

List bewußt ist. Unter diesen Umständen bleibt ihm aber nichts übrig, als
darauf hereinzufallen. Benjamin Péret zufolge (Combat, 3. Juni 1948) wird
die Echtheit des Briefes von Victor Serge von seinem Sohn vor Gericht
bestritten.
370 Gelegentliche Äußerungen

es, unter allen möglichen Vorbehalten (die seinen Anschluß nur


noch ansteckender werden ließen), tatsächlich ablehnte, irgend-
etwas zu tun, das die kommunistische Aktion hemmen könnte,
dann gibt es nichts zu sagen. Man kann nicht von jedermann
geschätzt werden, man ist, was man zu tun oder zu billigen wählt,
selbst stillschweigend.
Im Gegensatz dazu treten wir genau dort in die paranoische
Politik ein, wo unser amerikanischer Korrespondent im heuti-
gen Malraux das ewige Wesen des Kommunisten wiederzufin-
den sucht, oder auch Malraux in der Bewegung de Gaulles einen
Ersatz für den Trotzkismus. Ersterer argumentiert folgenderma-
ßen: Malraux ist eine Mischung aus Pseudo-Marxismus und re-
aktionärem Geist. Er verwirklicht folglich den Kompromiß des
Marxismus mit der Reaktion, der die stalinistische Definition
des Trotzkismus ist. Er dient insofern der stalinistischen Propa-
ganda. Objektiv ist er ein Stalinist. Es bleibt uns überlassen, ob
wir daraus schließen, er bleibe es vielleicht auch subjektiv. Er hat
sich schließlich nirgends über seinen Bruch mit dem Stalinismus
geäußert. Wäre das von ihm abgelegte Geständnis seiner trotzki-
stischen Neigungen nicht, wie das Geständnis Rubaschows, der
letzte Dienst, den er den Stalinisten erweisen könnte? Hier ha-
ben wir ein Beispiel dessen, was man das ultra-objektive Denken
in der Politik nennen könnte. Für unseren Korrespondenten ist
Malraux selbstverständlich nicht, was er zu sein denkt, aber auch
nicht, was er in der Dynamik der zu beobachtenden Geschichte
ist, nämlich Anti-Stalinist. In der tiefgreifenden Geschichte – die
der Angst der Welt vor der proletarischen Revolution entspricht –
ist er im Gegensatz dazu Stalinist, weil der Antistalinismus ei-
nes Menschen, der ein Anhänger des RPF ist, dem Regime der
UdSSR den trügerischen Aspekt eines revolutionären Regimes
verleiht und letzten Endes seiner Propaganda dient. So gesehen
ist auch Truman Stalinist, ebenso wie die ganze politische Welt,
nach Maßgabe ihrer jeweiligen Polarisierung durch die Rivalität
der UdSSR und der Vereinigten Staaten. Die Worte haben in die-
ser Hinsicht keine Bedeutung mehr. Genau so, wie die Wörter
›Saboteur‹ und ›Spion‹ in den Moskauer Schauprozessen keinen
Die paranoische Politik 371

eindeutigen Sinn mehr haben, da sie nur eindrucksvolle Formen


waren, das Wort ›Oppositioneller‹ zu äußern. Nach einem kur-
zen, summarischen Urteil im Namen der proletarischen Ziele
nivelliert sich die ganze gegenwärtige Welt, die nirgends prole-
tarisch ist, und sie verschwimmt in all ihren Teilen. Das Denken,
das in höchstem Maße historisch und objektiv sein wollte und
das am Ende all die von den Akteuren des Dramas empfundenen
und gelebten Unterschiede nicht kennt, sieht sich Phantasmen
ausgeliefert, es spiegelt das Höchstmaß an Subjektivität.
Malraux gibt sich seinerseits in der Politik dem Ultrasubjekti-
ven hin, wenn er erklärt, daß sich sein Gaullismus von heute nicht
wesentlich von seinem Quasi-Trotzkismus von gestern unter-
scheide, oder daß (Carrefour, 31. März 1948: Gespräch Malraux-
Burnham) der französische Antikommunismus »etwas sei, das der
Ersten Republik gleiche«. Er verschließt offenbar die Augen vor
dem Personal des RPF, das nicht an die Mitglieder des Konvents
denken läßt. Er sagt das, von dem er möchte, daß es wahr sei, er
verleiht seinem Handeln einen willkürlichen Sinn. Die Zweideu-
tigkeit besteht im übrigen nicht nur zwischen seinem politischen
Willen und dem Apparat, in dem dieser Anwendung findet; sie
liegt in diesem Willen selbst. Malraux spricht sich für die Freiheit
aus (Rede vom 5. März im Pleyel-Saal). »Diese Eroberung«, sagt
er (es geht um die Kunst), »ist nur durch eine freie Suche wirk-
sam. Ich rede nicht etwa deshalb so, weil ich an die Überlegen-
heit der Zensurfreiheit glaube (ich glaube übrigens daran […]),
sondern weil alles, was sich diesem unbeugsamen Willen zur
Entdeckung entgegenstellt, […] die Lähmung der fruchtbarsten
Fähigkeiten des Künstlers ist. Wir proklamieren also die Notwen-
digkeit, die Freiheit dieser Suche gegen all das aufrechtzuerhalten,
was ihr vorab eine feste Richtung vorgeben will.« Und, wenige
Augenblicke später: »Für uns liegt die Garantie der politischen
Freiheit und der Freiheit des Geistes nicht im politischen Libe-
ralismus, der zum Tode verurteilt ist, sobald ihm die Stalinisten
entgegentreten; die Garantie der Freiheit liegt allein in der Stärke
des Staates, der im Dienste aller Bürger steht.« Auf die Zweideu-
tigkeit einer Bewegung, die (aus ihrer Führungsriege) eine Hand-
372 Gelegentliche Äußerungen

voll ehemaliger Kommunisten und, wie die Wahlen zeigen, in der


Mehrzahl konservative Mitstreiter in sich vereinigt, antwortet die
Zweideutigkeit der Absichten, die zwischen der schöpferischen
Freiheit und der Stärke des Staates hin und her schwanken. In-
dem er der Leidenschaft des Schaffens um jeden Preis nachgibt,
gewährt Malraux den Blick auf seine Bewegung nur aus seiner
eigenen Vergangenheit heraus, er gibt zu verstehen, daß er der-
selbe bleibt, daß sein Gaullismus von heute sein Trotzkismus von
gestern sei … (Hierzu sei nur eine Frage gestellt: Falls Trotzki
gegenüber Stalin den Sieg davongetragen hätte, wäre dann auch
General de Gaulle ein Trotzkist gewesen?) Wir stehen inmitten
des individuellen Nebels. Aber genau in diesem Augenblick, und
gerade in dem Maße, in dem er dem Taumel des Ich nachgibt,
hört Malraux auf, ein politischer Fall zu sein, er läßt sich von der
Welle mitreißen, die Sulzberger anspricht. Aus Gefälligkeit ge-
gen sich selbst wird er zu einer Sache und zu einem Instrument.
Die ultra-objektive und die ultra-subjektive Haltung sind zwei
Aspekte einer einzigen Krise des politischen Denkens und der
politischen Welt. (Nur in diesem Sinne kann man von einem
Stalinismus Malraux’ sprechen; man könnte ebenso gut von ei-
nem Fideismus der Stalinisten sprechen, und allgemein von einer
Finsternis der Wachsamkeit.) Zwischen den politischen Willens-
äußerungen und den Organisationen, denen sie jeweils anhän-
gig sind, gibt es so wenig Übereinstimmung, daß weder Malraux
noch die Stalinisten auf sich nehmen können, was ihre Parteien
mit offenen Augen tun. Zwischen dem politischen Denken und
der tatsächlichen Geschichte ist der Abstand von der Art, daß es
den Trotzkisten nicht gelingt, die Welt, in der wir uns befinden,
zu denken. Man findet nur in Träumereien, im Glauben oder in
der wahnwitzigen Interpretation Zuflucht. Das politische Han-
deln wird nur durch eine sorgfältige Untersuchung dieser Situa-
tion zur Vernunft zurückkehren, abseits dieser Parteien – und, da
die Dinge im Moment nicht vom Denken zu umfassen sind, auf
der Basis eines klar umrissenen Programms.

*
Die paranoische Politik 373

Man könnte denken, es sei übertrieben, anläßlich eines Inter-


views der New York Times eine Krankheit der heutigen Welt an-
zuprangern – wenn das gemeinsame Funktionieren von Kom-
munismus und Antikommunismus nicht im selben Augenblick
durch die in France-Dimanche (21. März 1948) zu lesende Veröf-
fentlichung eines angeblichen ›Testaments von Trotzki‹ bestätigt
worden wäre, das, wie diese Wochenzeitung tiefsinnig behauptet,
»mit Sicherheit sowohl von den Kommunisten als auch von den
Antikommunisten verwendet werden wird«. Wenn man darlegen
könnte, daß Trotzki 1940 die Idee einer proletarischen Revolution
außerhalb der UdSSR aufgegeben hat und als uneingeschränktes
Ziel die Zerstörung des stalinistischen Apparates ausgegeben hat,
dann erhielte man, zugunsten des Stalinismus, den Beweis, daß
Trotzki praktisch einen Kompromiß mit allen Feinden der UdSSR
geschlossen hatte; gleichzeitig aber eröffnete man allen antikom-
munistischen Bewegungen die Möglichkeit, sich auf einen gro-
ßen Revolutionär zu berufen. Der zentrale Teil des angeblichen
Testaments ist wunderbar für diesen zweifachen Dienst geeignet.
Die Arbeiterklasse der Sowjetunion müßte von diesem Krieg
profitieren, um erbitterte Feindseligkeiten gegenüber der bo-
napartistischen Bürokratie Stalins freizulegen. Wir müßten
hierauf dieselbe wütende Energie verwenden wie jene, die Le-
nin an den Tag legte, als er sich Kerensky während des Ersten
Weltkrieges entgegenstellte.
Wir wissen, daß unser Erfolg zwangsläufig die Niederlage des
Faschismus nach sich ziehen würde, selbst wenn unsere Aktion
ihm helfen sollte, einige vorübergehende militärische Erfolge
zu erzielen. Ich gehe noch weiter. Ich behaupte, daß unser im
Inneren der Sowjetunion über die bürokratisch-bonaparti-
stische Clique Kain-Stalins davongetragener Sieg die conditio
sine qua non für den weltweiten Triumph des Proletariats in
den fortschrittlichen kapitalistischen Ländern ist. Tatsächlich
verzerrt die Existenz eines pseudo-sozialistischen stalinisti-
schen Staates die Perspektiven der Weltrevolution, weil sie die
Arbeiterklasse in den fortschrittlichen kapitalistischen Staaten
irreführt.
374 Gelegentliche Äußerungen

Ich habe lange Zeit geglaubt, eine Revolution in diesen Län-


dern zöge notwendigerweise den Sturz von Stalins Clique und
die Erneuerung der sowjetischen Demokratie nach sich.
Ich halte es für wesentlich, den Arbeitern der Welt offen zu
erklären, daß ich nicht mehr dieser Meinung bin (im Origi-
naltext unterstrichener Satz).
Die stalinistische Bürokratie, die wie ein einfach auf den
Körper des Arbeiterstaates gepfropfter Auswuchs begonnen
hatte, ist zu seiner unumschränkten Beherrscherin gewor-
den, einer Herrscherin, die von Klasseninteressen mit einer
unheilvollen geschichtlichen Bedeutung bestimmt wird. Der
Sieg dieser Bürokratie über die Kräfte der Arbeiterdemokra-
tie wird dem finstersten geschichtlichen Zeitabschnitt, den
die Menschheit je gekannt haben wird, Tür und Tor öffnen.
Es wird die Zeit der Entwicklung einer neuen Klasse aus der
bonapartistischen Bürokratie Stalins geborener Ausbeuter
sein.
Folglich wird es notwendig sein, zu erkennen, daß diese bü-
rokratische Entartung der Sowjetunion den Beweis der ange-
borenen Unfähigkeit des Proletariats zur Herausbildung einer
herrschenden Klasse mit sich bringt, und daß die Sowjetunion
international gesehen zum Vorläufer und Embryo eines neuen
und schrecklichen Ausbeuterregimes geworden ist (im Text
unterstrichen).
Sollte das Proletariat der Sowjetunion an seiner Aufgabe schei-
tern, diesen Krieg dafür zu verwenden, die stalinistische Aus-
beutung zu vernichten, dann würden wir unter der Herrschaft
einer totalitären Bürokratie in eine Zeit des Niedergangs der
menschlichen Gesellschaft eintreten.«
Der Text sei, so heißt es in einer einleitenden Bemerkung, von ei-
nem sowjetischen Agenten «Ende Juli 1940» gestohlen und nach
Moskau geschickt worden. Drei Kopien seien «in den Händen
eines persönlichen Freundes von Trotzki, Kibaltschisch (der in
Frankreich unter dem Namen Victor Serge bekannte Schriftstel-
ler[…])«, verblieben. Ein Gefährte von Victor Serge habe den
Text dann wieder nach Europa gebracht.
Die paranoische Politik 375

Ein mittels Matrize vervielfältigtes Kommuniqué des Interna-


tionalen Sekretariats der IV. Internationale stellt demonstrativ
unter Beweis, daß es sich um eine Fälschung handelt. Wie hätte
der Kreml denn ein Dokument nicht verwenden sollen, das die
Komplizenschaft von Trotzkismus und Nazismus praktisch be-
weist, sei es in dem Augenblick, in dem Wischinsky zu diesem
Punkt von der amerikanischen Presse befragt wurde, sei es, als so
begeisterte Werke wie Die große Verschwörung gegen die UdSSR
von Sayers und Kahn (1946) erschienen, oder sei es schließlich,
als Trotzkis Witwe vom Nürnberger Gerichtshof verlangte, die
Archive der deutschen Regierung im Hinblick auf die angeblichen
Machenschaften Hitlers und Trotzkis zu untersuchen? Wie sollte
die einleitende Bemerkung aus trotzkistischen Kreisen stammen,
wo sie doch einen Anschlag, der am 20. August stattfand, auf den
20. Juli 1940 datiert? Wie hätte Victor Serge zum Verwahrer des
›Testamentes‹ bestimmt werden können, wo er doch politisch seit
1936 mit Trotzki gebrochen hatte und sich zum Zeitpunkt von
Trotzkis Tod in Frankreich aufhielt? Was den Inhalt des ›Testa-
mentes‹ angeht, so läßt er sich nicht mit den Thesen in Einklang
bringen, die Trotzki bis zu seinem Tod aufrechterhalten hat.
»Die ganze Argumentation (Trotzkis)«, sagt die IV. Interna-
tionale, »kreiste um die Tatsache, daß die stalinistische Diktatur
die Diktatur einer neuen gesellschaftlichen Klasse nicht repräsen-
tierte. In zahlreichen Schriften, die sich auf die Jahre zwischen
1935 und 1940 verteilen, hat Trotzki hartnäckig diese Idee ver-
teidigt. Unter den amerikanischen Trotzkisten entflammte Ende
1939 eine heftige Diskussion über die russische Frage. Diese Dis-
kussion setzte sich bis Mai-Juni 1940 fort. In diese Diskussion
griff Trotzki mit Artikeln und Briefen ein, die in einem Buch mit
dem Titel Verteidigung des Marxismus publiziert wurden. Über
die gesamten 200 Seiten dieses Buches hinweg, die unmittelbar
vor dem angeblichen Testament geschrieben wurden, kämpft
Trotzki sehr heftig gegen die Idee, die Bürokratie bilde eine neue
Klasse. Gegen diese Idee kämpft er ebenso im Manifest der außer-
ordentlichen Konferenz, das zur selben Zeit geschrieben wurde, in
dem jenes angebliche Testament hätte verfaßt werden sollen.«
376 Gelegentliche Äußerungen

Nachfolgend ein Auszug aus diesem Text:


»Glücklicherweise finden sich jedoch die verstaatlichte Indu-
strie und die sowjetische Kollektivwirtschaft unter den Errun-
genschaften, welche die Oktoberrevolution überdauert haben.
Auf dieser Basis können die Arbeitersowjets eine neue und bes-
sere Gesellschaft errichten. Wir können diese Basis unter keinen
Umständen der Weltbourgeoisie überlassen. Die Aufgabe der
Revolutionäre besteht darin, mit allen Mitteln jede von der Ar-
beiterklasse eroberte Position zu verteidigen, ob es sich nun um
demokratische Rechte, um Lohnstufen oder um eine so große
Errungenschaft der Menschheit wie die Verstaatlichung der
Produktionsmittel und die Planwirtschaft handelt. Diejenigen,
die unfähig sind, die bereits erworbenen Errungenschaften zu
verteidigen, können niemals für neue Errungenschaften kämp-
fen. Wir werden die UdSSR mit all unserer Kraft gegen den im-
perialistischen Gegner verteidigen. Aber die Errungenschaften
der Oktoberrevolution werden dem Volk nur dann nützlich
sein, wenn es sich in der Lage zeigt, die stalinistische Bürokra-
tie so zu behandeln wie es einst die zaristische Bürokratie und
die Bourgeoisie behandelt hat.« (Vierte Internationale, Oktober
1940.)
Die Vierte Internationale fährt fort:
»Ende Juni 1940 (einen Monat nach der Niederschrift des an-
geblichen ›Testaments‹) schrieb Trotzki einen Artikel mit dem
Titel ›Wir ändern unseren Kurs nicht‹, in dem er aus der Nieder-
lage des imperialistischen Frankreich gegenüber dem deutschen
Imperialismus eine Lehre zieht und nachfolgend sein Vertrauen
in die revolutionäre Zukunft des Proletariats in Europa verkün-
det. Er schreibt: ›In den besiegten Ländern wird sich die Lage
der Massen sofort bis zum Äußersten verschlechtern. Zur gesell-
schaftlichen Unterdrückung tritt die staatliche Unterdrückung,
deren Hauptlast ebenfalls von den Arbeitern getragen wird. Von
allen Formen der Diktatur ist die totalitäre Diktatur eines frem-
den Eroberers die unerträglichste […] Es ist unmöglich, hinter
jeden polnischen, norwegischen, dänischen, holländischen, bel-
gischen oder französischen Arbeiter oder Bauern einen bewaff-
Die paranoische Politik 377

neten Soldaten zu stellen […] Man kann mit Gewißheit eine


schnelle Verwandlung aller eroberten Länder in ein Pulverfaß
voraussehen […] Es ist wahr, daß Hitler sich damit rühmte und
versprochen hat, die Vorherrschaft des deutschen Volkes auf Ko-
sten ganz Europas und sogar der ganzen Welt ›auf tausend Jahre‹,
zu errichten. Aber es ist offensichtlich, daß dieser Glanz nicht von
Dauer sein wird, nicht einmal zehn Jahre lang.« (Vierte Interna-
tionale, Oktober 1940.)
Das Kommuniqué der IV. Internationale fährt fort, indem es
zeigt, daß das angebliche Testament einen authentischen Text
verfälscht. In einem Artikel mit dem Titel Die UdSSR im Krieg
(25. September 1939) hatte Trotzki geschrieben:
»Wenn man jedoch annimmt, daß der gegenwärtige Krieg
keine Revolution, sondern den Niedergang des Proletariats her-
vorrufen würde, dann bleibt eine andere Möglichkeit: ein wei-
terer Verfall des Monopolkapitalismus, seine engere Verschmel-
zung mit dem Staat und das Ersetzen der Demokratie, überall
dort, wo sie noch existiert, durch ein totalitäres Regime. Die Un-
fähigkeit des Proletariats, die Führung der Gesellschaft in seine
eigenen Hände zu nehmen, könnte tatsächlich unter diesen Be-
dingungen dazu führen, daß sich eine neue Ausbeuterklasse aus
der bonapartistischen faschistischen Bürokratie entwickelt. Dies
wäre, allen Anzeichen zufolge, ein Regime des Verfalls, das den
Untergang der Zivilisation bedeuten würde. Ein entsprechendes
Ergebnis könnte sich ergeben, falls sich das Proletariat der hoch-
entwickelten kapitalistischen Länder, nach der Eroberung der
Macht, als unfähig erweisen sollte, sie zu halten, und sie, wie in
der UdSSR, an eine privilegierte Bürokratie abtreten sollte. Dann
wären wir gezwungen zuzugeben, daß der Grund für den büro-
kratischen Rückfall nicht in der Rückständigkeit des Landes und
nicht in der imperialistischen Umklammerung liegt, sondern in
der angeborenen Unfähigkeit des Proletariats, eine herrschende
Klasse zu werden. Man müßte folglich rückblickend einräumen,
daß die grundlegenden Züge der jetzigen UdSSR der Vorläufer
eines neuen Ausbeuterregimes im internationalen Maßstab wa-
ren.« (In Defense of Marxism, S. 9).
378 Gelegentliche Äußerungen

Es handelt sich nur um eine Hypothese (die übrigens von Min-


derheitselementen der S. W. P. aufgestellt wurde, deren Tendenzen
Trotzki hier analysiert) – und die Hypothese lautet ausdrücklich,
daß das Proletariat der hochentwickelten kapitalistischen Länder
in seiner revolutionären Aufgabe gescheitert sei. Das ›Testament‹
verwandelt die Hypothese in eine Behauptung und überträgt
die revolutionäre Aufgabe allein dem russischen Proletariat. Auf
diese Weise verfälscht man eine marxistische Politik zu einem
antikommunistischen Abenteuer.
Die Wochenzeitung fürchtet nicht, ihrerseits Verantwortung
zu übernehmen, indem sie den Text des Testaments in die Nähe
der von Trotzkis Mörder gegenüber dem Sonderberichterstatter
von France-Dimanche gegebenen und 1946 in den Kolumnen
des Blattes veröffentlichten Erklärungen rückt. Jacques Mornard
hatte die »häufigen Besuche des deutschen Konsuls bei Trotzki«
erwähnt und erklärt, daß Trotzki ihn nach China und anschlie-
ßend nach Rußland schicken wollte, um »(seine) Trupps von
Saboteuren auszubilden«. »Trotzkis Testament«, stellt France-
Dimanche abschließend fest, »veranschaulicht mit einzigartiger
Deutlichkeit die Erklärungen seines Mörders.« Alle, die Trotzki
gelesen haben und seine Rolle in der Vergangenheit und seine
zeitlosen Thesen kennen, werden wie wir denken, daß die Wo-
chenzeitung France-Dimanche sich mit Schande bedeckt, wenn
man sie mit einer Fälschung täuschen kann und sie durch diesen
Kommentar die polizeiliche Fiktion von Trotzki als Saboteur und
Spion glaubwürdig erscheinen läßt.
Ein Brief vom 7. Mai kündigt an, daß Trotzkis Witwe France-
Dimanche verklagen wird.

*
Es ist also sicher, daß Trotzkis Thesen nichts mit dem falschen
Testament gemein haben – ebensowenig wie mit der Politik
des französischen Antikommunismus. Wenn Trotzki aber 1940
seinen Positionen entschieden treu blieb, so hat er doch sehr
scharfsichtig die damit verbundenen Schwierigkeiten erläutert;
er hat selbst den Fall in Betracht gezogen, in dem sie unerträg-
Die paranoische Politik 379

lich werden würden und weist mit einem Wort darauf hin, was
in diesem Fall zu tun wäre, wobei jeder Kompromiß mit dem
reaktionären Antikommunismus selbstverständlich ausgeschlos-
sen wäre. Konkret ist die Schwierigkeit folgende: Wie soll man
gleichzeitig die These von der Demokratie der Werktätigen und
jene These von der bedingungslosen Verteidigung der UdSSR
anwenden, beispielsweise in einem Moment, in dem die UdSSR
in Polen einmarschiert (1939)? Trotzki definiert seinen Kurs mit
folgenden Worten:
Wir wollen uns für einen Moment vorstellen, die Moskauer
Regierung ließe, gemäß dem Pakt mit Hitler, die Rechte des
Privateigentums in den besetzten Gebieten unberührt und be-
schränke sich auf eine ›Kontrolle‹ nach faschistischem Vorbild.
Ein solches Zugeständnis hätte eine tiefreichende grundsätz-
liche Bedeutung, es könnte der Ausgangspunkt eines neuen
Kapitels in der Geschichte des sowjetischen Regimes sein und
folglich ein Ausgangspunkt für uns, die Natur des sowjetischen
Staates neu einzuschätzen. Es ist jedoch wahrscheinlicher, daß
die Moskauer Regierung in den Gebieten, die Teile der UdSSR
werden sollen, die Enteignung der Großgrundbesitzer und
die Verstaatlichung der Produktionsmittel durchführen wird.
Diese Variante ist wahrscheinlicher, nicht etwa weil die Büro-
kratie dem sozialistischen Programm treu bliebe, sondern weil
sie weder beabsichtigt noch in der Lage ist, die Macht und die
Privilegien, die letztere mit sich bringt, mit den alten herr-
schenden Klassen in den besetzten Gebieten zu teilen. Eine
Analogie bietet sich hier von selbst an. Der erste Bonaparte hat
der Revolution mittels einer Militärdiktatur ein Ende gesetzt.
Dennoch unterschrieb er, als die französischen Truppen in
Polen einmarschierten, einen Erlaß, der besagte: ›Die Leib-
eigenschaft ist aufgehoben.‹ Diese Maßnahme wurde weder
von Napoleons Sympathien gegenüber den Bauern noch von
demokratischen Prinzipien diktiert, sondern eher von der
Tatsache, daß die bonapartistische Diktatur sich selbst nicht
auf feudale, sondern auf bürgerliche Eigentumsverhältnisse
stützte. Da die bonapartistische Diktatur Stalins nicht auf pri-
380 Gelegentliche Äußerungen

vatem, sondern auf Staatseigentum beruht, müßte die Invasion


Polens durch die Rote Armee […] mit der Abschaffung des
kapitalistischen Privateigentums enden, um auf diese Weise
die Regierungsform der besetzten Gebiete der Regierungsform
der UdSSR anzupassen […]
Wir betrauen den Kreml nicht mit irgendeiner historischen
Aufgabe. Wir waren und wir sind gegen jede Besitznahme
neuer Gebiete durch den Kreml. Wir sind für die Unabhän-
gigkeit der sowjetischen Ukraine und, wenn die Weißrussen
selbst es wünschen, für die Unabhängigkeit des sowjetischen
Weißrußlands. Gleichzeitig müssen die Mitglieder der Vierten
Internationale in den von der Roten Armee besetzten Teilen
Polens die entscheidende Rolle spielen bei der Enteignung der
Großgrundbesitzer und der Kapitalisten, bei der Aufteilung
des Landes unter den Bauern, bei der Schaffung von Arbei-
terkomitees und Sowjets etc. Dabei müssen sie ihre politische
Unabhängigkeit bewahren, sie müssen während der Wahlen zu
den Sowjets und den Fabrikkomitees für die völlige Unabhän-
gigkeit der letzteren von der Bürokratie kämpfen; außerdem
müssen sie revolutionäre Propaganda führen, die vom Miß-
trauen gegenüber dem Kreml und seinen örtlichen Vertretun-
gen geprägt ist.
Nehmen wir aber an, Hitler wende seine Waffen nach Osten
und greife die von der Roten Armee besetzten Gebiete an. Un-
ter diesen Bedingungen werden die Kämpfer der Vierten Inter-
nationale, ohne auf irgendeine Weise ihre Haltung gegenüber
der Kremloligarchie zu ändern, den militärischen Widerstand
gegen Hitler, als die dringendste Aufgabe der Stunde, in den
Vordergrund stellen. Die Arbeiter werden sagen: ›Wir kön-
nen Hitler nicht den Sturz Stalins überlassen; das ist unsere
eigene Aufgabe.‹ Im militärischen Kampf gegen Hitler werden
sich die revolutionären Arbeiter bemühen, mit den einfachen
Soldaten aus den Reihen der Roten Armee möglichst enge
kameradschaftliche Bande zu knüpfen. Während die Bolsche-
wiki-Leninisten Hitler mit der Waffe in der Hand bekämpfen,
werden sie gleichzeitig revolutionäre Propaganda gegen Stalin
Die paranoische Politik 381

führen, um seinen Sturz im nächsten und vielleicht sehr na-


hen Stadium vorzubereiten (›at the next and perhaps very near
stage‹).5
Fest steht, daß dies genau die Sprache von 1917 ist – dem Gewis-
sen ebenso treu wie der Aktion. Fest steht auch, daß die polni-
schen Kämpfer, die diesem Kurs gefolgt wären – die ihm gefolgt
sind –, ihm nicht lange folgen mußten. Kann man in der Lage
einer expandierenden Sowjetunion mit dem stalinistischen Ap-
parat eine öffentliche Diskussion beginnen, ohne politisch elimi-
niert zu werden? Kann man für die Kollektiv- und Planwirtschaft
arbeiten, ohne zugleich für den stalinistischen Apparat zu sein?
Kann man den Stalinismus und die Errungenschaften der Ok-
toberrevolution in der Aktion voneinander trennen? Kann man
durch Analyse die Grundlagen des Oktoberregimes und den bü-
rokratischen Apparat auseinanderhalten? Ist die Bürokratie nicht
nur eine Kaste, ein Parasit, oder ist sie fortan so eng mit dem
Regime verbunden, daß sie ein unentbehrliches Teilstück seines
Funktionierens ist? Trotzki sagte, der Begriff ›Kaste‹ (den er für
die sowjetische Bürokratie verwendet) habe keinen wissenschaft-
lichen Charakter.6 Es handele sich um eine historische Analogie,
die man vorübergehend einsetzen dürfe, um eine Soziologie der
Gegenwart zu betreiben, und solange, wie die entsprechende
Wirklichkeit noch zweideutig sei. Er erkennt auf diese Weise
an, daß seine Thesen zu einer erneuten Prüfung Anlaß geben
könnten, wenn sich herausstellen sollte, daß im Funktionieren
der UdSSR die Grundlagen des Regimes und der Apparat weder
theoretisch noch praktisch mehr voneinander zu trennen sind.
Die marxistische Perspektive selbst würde unter diesen Umstän-
den in Frage gestellt, da die Fakten am Rande der marxistischen
Alternative von Kapitalismus oder Sozialismus einen Gesell-
schaftstyp auftauchen ließen, der sich durch keinen der beiden
Begriffe definieren ließe. Daher heißt es in einem Text, der auf

5 The USSR in war (25. September 1939), In Defense of Marxism, S. 20.

Unsere Übersetzung.
6 In Defense of Marxism, S. 6.
382 Gelegentliche Äußerungen

jenen Text folgt, von dem das oben genannte trotzkistische Kom-
muniqué spricht: »Die historische Alternative, zu Ende geführt,
ist folgende: Entweder ist Stalins Regime ein widerlicher Rück-
fall im Prozeß der Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft in
eine sozialistische, oder Stalins Regime ist die erste Phase einer
neuen auf Ausbeutung gegründeten Gesellschaft. Sollte sich die
zweite Prognose als richtig herausstellen, dann wird die Bürokra-
tie selbstverständlich eine neue Ausbeuterklasse werden. Wie be-
schwerlich der zweite Ausblick auch immer sein mag, wenn sich
das Weltproletariat tatsächlich als unfähig erweisen sollte, den
Auftrag zu erfüllen, der ihm vom Verlauf der Entwicklung gestellt
wurde, dann müßte man notgedrungen anerkennen, daß das so-
zialistische Programm, das auf die inneren Widersprüche der
kapitalistischen Gesellschaft gegründet ist, letztlich eine Utopie
ist. Es ist selbstverständlich, daß ein neues ›Minimalprogramm‹
erforderlich wäre – zur Verteidigung der Interessen der Sklaven
der totalitären bürokratischen Gesellschaft.«7
Es handelt sich hierbei, wir wollen es noch einmal wieder-
holen, nur um eine Hypothese, und Trotzki verschob das Urteil
über die Fakten an das Ende der gegenwärtigen Zeitspanne: »Es
ist ganz selbstverständlich, daß, wenn sich das internationale
Proletariat als Ergebnis der Erfahrung unserer ganzen Epoche
und des gegenwärtigen neuen Krieges als unfähig erweisen sollte,
Herr der Gesellschaft zu werden, dies das Scheitern aller Hoff-
nung auf eine sozialistische Revolution bedeuten würde, denn es
ist unmöglich, irgendwelche anderen günstigeren Voraussetzun-
gen dafür zu erwarten; jedenfalls sieht sie niemand voraus oder
wäre in der Lage, sie zu definieren. Marxisten haben nicht das
geringste Recht (wenn Enttäuschung und Ermüdung nicht für
›Rechte‹ gehalten werden), die Folgerung zu ziehen, das Proleta-
riat habe seine revolutionären Möglichkeiten preisgegeben und
müsse alles Streben nach Vorherrschaft in der unmittelbar fol-
genden Zeit aufgeben. Fünfundzwanzig Jahre haben in geschicht-
lichem Maßstab, wenn es um tiefreichendste Veränderungen der

7 Ebd., S. 9.
Die paranoische Politik 383

ökonomischen und kulturellen Systeme geht, weniger Gewicht


als eine Stunde im Leben eines Menschen. Was wäre ein Indi-
viduum wert, das wegen irgendeines konkreten Fehlschlags im
Verlauf einer Stunde oder eines Tages auf das Ziel verzichtete, das
es sich selbst aufgrund einer Erfahrung oder einer Analyse seines
ganzen früheren Lebens gesetzt hat? In den Jahren der dunkelsten
russischen Reaktion (von 1907 bis 1917) haben wir die revolu-
tionären Möglichkeiten, die das russische Proletariat 1905 ent-
deckt hatte, zum Ausgangspunkt genommen. In den Jahren der
Weltreaktion müssen wir von den Möglichkeiten ausgehen, die
das russische Proletariat 1917 aufgezeigt hat. Nicht zufällig nennt
sich die Vierte Internationale die Weltpartei der sozialistischen
Revolution. Unser Weg darf nicht geändert werden. Wir halten
unseren Kurs auf die Weltrevolution und gerade von dort aus auf
die Wiederherstellung der UdSSR als Arbeiterstaat.«8
In dieser bemerkenswerten Passage geht Trotzki nicht (wie
so viele Mesner des Marxismus) im Namen einer dogmati-
schen Geschichtsphilosophie, die auf der Annahme einer wie
auch immer gearteten Offenbarung des Weltgeistes beruht, der
Grundsatzfrage aus dem Weg, er verschiebt sie nur, durch eine
Gegenüberstellung, auf die Erfahrung des Scheiterns, die Erfah-
rung des Sieges und der Jahre seines Lebens, in denen die Ge-
schichte unzweideutig auf die Vernunft antwortete. Dies aber
heißt behaupten, daß für uns, die das Jahr 1917 nicht erlebt ha-
ben, eine andere Perspektive möglich ist. In dem Maße, in dem
wir besser über die relative Wichtigkeit der Zwangsarbeit und
der freien Arbeit in der UdSSR informiert sind, über das Aus-
maß des Lagersystems, über die Quasi-Autonomie des Polizeisy-
stems, wird es immer schwieriger, die UdSSR als Übergang zum
Sozialismus oder sogar als degenerierten Arbeiterstaat zu sehen,
kurz gesagt: sie auf 1917 zu beziehen. Mehr noch: Da sich in der
UdSSR selbst, auf der jeweiligen Basis der Kollektivproduktion,
Verhältnisse der Ausbeutung verfestigen, und da sich die Pro-
letarier in der ganzen Welt weniger als vor dreißig Jahren ihrer

8 Ebd., S. 15.
384 Gelegentlich Äußerungen

geschichtlichen Mission bewußt zu sein scheinen, kommen wir


zur Frage, ob das Jahr 1917 wirklich den Zeitpunkt des Hervor-
tretens einer geschichtlichen Logik markiert hat, die früher oder
später die Probleme und Lösungen des Marxismus wieder mit
sich bringt, oder ob 1917 nicht, ganz im Gegenteil, eine Chance
war, ein privilegierter Fall, der außerordentlich günstig für die
marxistische Sicht der Geschichte ausfiel. Angenommen, dies sei
die herrschende Meinung, dann hätten weder der RPF noch der
Antiamerikanismus irgendeinen Gewinn daraus zu erwarten.
Wenn wir Malraux, Koestler, Thierry Maulnier, Burnham etc.,
der ›Liga der verlorenen Hoffnungen‹, den ›Intellektuellen im
Ruhestand‹ etwas übel nehmen, dann genau die Tatsache, daß
sie hinter den Marxismus zurückgefallen sind, obwohl sie ihn
entweder erlebt oder zumindest verstanden haben, und obwohl
sie der von uns gestellten Frage begegnet sind. Sie haben nicht
versucht, trotz allem dem Humanismus aller Menschen einen
Weg zu bereiten, sie haben, jeder auf seine Weise, dem Chaos
zugestimmt und sich in den Ruhestand verabschiedet. Sie ha-
ben sich der Aufgabe entzogen, das Minimalprogramm, von dem
Trotzki sprach, zu entwerfen. Trotzki und seine Partei haben die
Frage in Form einer Hypothese gestellt – und die Antwort auf
später verschoben. Diese Diskussion um das falsche Testament
dürfte nicht schlicht und einfach mit einem Exposé des klassi-
schen Trotzkismus enden. Trotzkis Grab wird, wenn man den
Fotografien in den Zeitungen Glauben schenken darf, von einer
Sichel und einem Hammer geziert, ohne jeden Unterschied zum
Emblem der UdSSR. So erklärt er sich auch weiterhin solidarisch
mit den Errungenschaften der Oktoberrevolution. Dies aber ist
das Schicksal Trotzkis, es ist Trotzki, der sein Leben zu einem
Abschluß bringt. Der Trotzki, der in seinem Geschriebenen noch
lebt, suggeriert eine Frage, auf die sein Grabstein nicht antwortet.
Es läge bei uns allen, darauf zu antworten.
(Juli 1948)
385

1 M A R X I SM US U N D A BE RG L AU BE

Der Marxismus hat stets zugegeben, daß die kulturellen Werte,


ebenso wie alles Übrige, der gesellschaftlichen Geschichte fest
verbunden waren, aber er hat nie eingestanden, daß beide Ent-
wicklungen Punkt für Punkt parallel zueinander verliefen, daß
also die Literatur und die Kritik einfache Hilfsmittel der poli-
tischen Aktion, Spielarten der Propaganda waren. Engels sagte,
die Evolutionskurve der Ideologien sei sehr viel komplizierter als
die Kurve der politischen und gesellschaftlichen Evolution. Marx
spricht in einer berühmten Passage vom ›ewigen Reiz‹ der grie-
chischen Kunst. Er hat folglich ein Register der Kunst (und gewiß
auch der Literatur) erkannt, in dem Vorwegnahmen oder sogar
›ewige‹ Errungenschaften möglich waren. Dies war der optimi-
stische Kommunismus, der auf die Spontaneität des Schriftstel-
lers oder des Künstlers vertraute, auf die ihrem inneren Wesen
entsprechende Entfaltung ihrer Kultur, und er gibt ihnen keine
andere Anweisung außer der, aus vollstem Herzen Schriftsteller
oder Künstler zu sein, ist er doch überzeugt, daß es hierbei nie
zu einem Konflikt kommen kann, sondern im Gegenteil nur zur
Übereinstimmung und zu einer Begegnung zwischen den Forde-
rungen der Kultur und der revolutionären Aktion. Der heutige
Kommunismus verhält sich dagegen, als gebe es in kulturellen
Angelegenheiten keine intrinsischen Kriterien mehr, als seien
Literatur und Wissenschaft, neben vielen anderen Maßnahmen,
nur Mittel der unmittelbar politischen Aktion, die selbst einfach
als Verteidigung der UdSSR begriffen wird.
1946 verteidigte Lukács seine Vorstellung von Selbstkritik in
der Terminologie der Kultur: Sie sei das von den Schriftstellern,
den Philosophen und den Wissenschaftlern stets für sich in An-
spruch genommene Recht, über das hinauszugehen, was sie zu-
vor gesagt oder geschrieben hatten, ihre eigene Vergangenheit zu
verstehen und zu beurteilen, zu reifen und zu wachsen, ohne die
386 Gelegentliche Äußerungen

offensichtlichen Widersprüche zu fürchten, ohne die Sorge, auch


weiterhin formal mit sich übereinzustimmen, was in Wirklichkeit
eine dekadente Anmaßung ist: die Anmaßung, ein Werk totali-
sieren zu können, noch bevor es begonnen wurde, einen posthu-
men Blick auf ein Leben werfen zu können, das noch nicht ge-
lebt wurde. Kurz und gut, wir bezweifeln, daß diese Theorie der
Selbstkritik jene Formen der Selbstkritik rechtfertigen konnte,
die Lukács ab 1946 praktizierte: Wir können kaum glauben, daß
es vom Hegelianismus in Geschichte und Klassenbewußtsein bis
zu der realistischen Erkenntnistheorie in den jüngsten Werken
einen Reifungsprozeß oder ein Wachstum geben soll. Aber letzt-
lich war zumindest die Theorie unversehrt. Sie war tatsächlich
das dem Schriftsteller zugestandene Recht, sich zu täuschen, war
die nachdrücklich wiederholte Bekräftigung der Schwierigkeiten
und sogar der Zweideutigkeiten des Ausdrucks und der Kultur.
Und andererseits war der offensichtliche Liberalismus jener, die
seine frühen Werke gegen Lukács verteidigten, vielleicht nur eine
gerissene Art, ihn in seiner prä-marxistischen Vergangenheit ein-
zusperren.
Heute geht es nicht mehr darum, auf dem Gebiet der Lite-
raturgeschichte nach dem Augenblick zu suchen, in dem der
Roman zu seiner größten Ausdruckskraft gelangte, oder heraus-
zufinden, ob Tolstoi und Goethe einen ›ewigen Reiz‹ besitzen,
der sie zu Vorbildern werden läßt. Die Vorbilder wurden längst
gefunden: Da es in Rußland eine Revolution gegeben hat, zeich-
net sich eben auch in Rußland die Zukunft der Literatur ab. Die
Verteidigung der UdSSR erfolgt auf dem Gebiet des Romans in
ebenso scharfem Ton wie auf dem Gebiet der Diplomatie, sie ist
nicht eine der revolutionären Pflichten, sie ist die einzige. Der
Rest ist Okzidentalismus. Die von Lukács geübte Selbstkritik im
Sinne von 1946 war eine Kulturgegebenheit. Im heutigen Sinne
ist sie gerade deren Negation.
1937 erklärte sich Bucharin, als er seine Haltung der vergange-
nen Jahre in der Perspektive der Weltlage betrachtete, für krimi-
nell, da er eine Opposition gebildet habe, aber er lehnte es ab, sich
als Spion oder Saboteur zu bekennen. 1949 gibt sich Rajk, ent-
Marxismus und Aberglaube 387

gegen allem, was man über ihn wußte, als amerikanischer Agent
aus. 1946 beanspruchte Lukács für den Schriftsteller das Recht,
über seine Vergangenheit hinauszugehen, 1949 muß er seine
Arbeiten als Kritiker und Ästhetiker abqualifizieren, als sei die
hohe Wertschätzung, die er Tolstoi und Goethe entgegenbrachte,
nur Gedankenlosigkeit und Übereilung gewesen. Auf diese Weise
geht der Kommunismus von der historischen Verantwortung zur
bloßen Disziplin über, von der Selbstkritik zur Verleugnung, vom
Marxismus zum Aberglauben.
(Dezember 1949)
388

DI E U D S S R U N D DI E L AG E R 1

Es steht also fest, daß die sowjetischen Bürger im Laufe der Er-
mittlungen deportiert werden können, ohne Urteil und ohne
zeitliche Begrenzung. Das Gesetzbuch zur Straferziehungsarbeit
der RSFSR1 stellt das Prinzip der administrativen Entscheidung
nur für die Straferziehungsarbeit ohne Freiheitsentzug auf.2 Es
erwähnt es jedoch in Artikel 443 sehr deutlich hinsichtlich des

1 Chronologische Sammlung der Gesetze und Dekrete des Präsidiums des

Obersten Sowjets und Rechtsverordnungen der Regierungen der RSFSR am


1. März 1940. Bd. 9, OGIZ (Zusammenschluß der staatlichen Verlagshäuser
Gospolitizdat, 1941).
2 Abschnitt I des Gesetzbuches, Artikel 8.
3 Artikel 44 des Abschnitts II (Freiheitsentzug). »Folgende Personen

können an die in Artikel 28 des gegenwärtigen Gesetzbuches angegebenen


Orte des Freiheitsentzuges geschickt werden:
a) Verurteilte Personen, für einen Zeitraum von nicht mehr als drei
Jahren;
b) Personen, deren Fall sich in laufenden Ermittlungen oder in einem
Prozeßverfahren befindet, auf Anweisung der zuständigen Gremien (Her-
vorhebung von uns);
c) Verurteilte Personen, für Zeiträume von mehr als drei Jahren […]«
Die in Artikel 28 erwähnten Orte des Freiheitsentzuges sind insbeson-
dere: »a) Gefängniszellen […]; b) Sammelstellen zur Deportation; c) Ko-
lonien zur Straferziehungsarbeit, Industriekolonien, landwirtschaftliche
Kolonien der Massenarbeit, Strafkolonien« (Artikel 28), die derselbe Ar-
tikel um Einrichtungen zur Gesundheitsüberwachung und Einrichtungen
für Minderjährige unter Freiheitsentzug ergänzt.
Nur die Personen, deren Fall sich in laufenden Ermittlungen befindet,
können in Gefängniszellen festgehalten werden (Art. 29). Aber sie werden
dort nicht notwendigerweise festgehalten. Sie tauchen vielmehr in Arti-
kel 31 wieder auf, der die Sammelstellen zur Deportation betrifft: »Die
Personen, deren Freiheit entzogen wurde, oder diejenigen, deren Fall sich
noch in laufenden Ermittlungen befindet, werden in den Sammelstellen
zur Deportation von den Verurteilten getrennt.« Dem Einsperren in der
Die UdSSR und die Lager 389

Entzugs der Freiheit und der Deportation. Es ist folglich unmög-


lich, wie Pierre Daix4 die These aufrechtzuerhalten, die admini-
strative Entscheidung gelte nur im harmlosen Fall der Straferzie-
hungsarbeit ohne Freiheitsentzug.
Es steht außerdem fest, daß der repressive Apparat in der
UdSSR eine andere Art von Macht errichten will. Eine Verord-
nung vom 27. Oktober 19345 überträgt dem NKWD die Leitung
und die Verwaltung der Straferziehungsarbeit, die bis dahin dem
Volkskommissariat für Justiz unterstand. Das System hat seine ei-
genen Einnahmen, die ihm aus der Arbeit der Häftlinge zufließen
und die insbesondere dem Unterhalt des Verwaltungsapparates
dienen.6 Die Produktion wird von Industrie- und Finanzplänen
geregelt, die vom Direktorium der Einrichtungen zur Strafer-
ziehungsarbeit aufgestellt und nur vom Volkskommissariat für
Justiz unterzeichnet werden.
Es steht drittens fest, daß der geordnete Ablauf der Strafer-
ziehungsarbeit durch eine Gewaltübertragung auf die gewöhnli-
chen Strafgefangenen sichergestellt wird7 – nach einer Methode,
die sich bewährt hat.
Schließlich, da sich die offiziellen Bekanntmachungen auf
hundertsiebenundzwanzigtausend Häftlinge berufen, die auf
Entscheidung der Regierung nach dem Fertigstellen des Kanals
vom Baltikum bis zum Weißen Meer und des Kanals von Mos-
kau bis zur Wolga entlassen worden seien, ist es unter Berück-

Zelle folgt nicht notwendigerweise ein Erscheinen vor einem Tribunal:


»Die Personen werden nur bis zum Inkrafttreten des vom Tribunal gefäll-
ten Urteilsspruchs oder des Dekretes der anderen zuständigen Gremien in
Gefängniszellen festgehalten« (Hervorhebung von uns, Art. 29).
4 Pourquoi D. Rousset a-t-il inventé les camps soviétiques?, S. 6.
5 Dieselbe Sammlung, Zusatz zum Artikel 129 des Gesetzbuches zur

Straferziehungsarbeit.
6 Dieselbe Sammlung, Gesetzbuch zur Straferziehungsarbeit, Artikel 139 a.
7 Dieselbe Sammlung, Art. 87 des Gesetzbuches: »Ins Überwachungs-

kommando werden die sichersten Häftlinge berufen – die Arbeiter – die


Personen, die in erster Instanz wegen gewöhnlicher Verbrechen verurteilt
wurden.«
390 Gelegentliche Äußerungen

sichtigung des Umfangs dieser Baustellen in der Gesamtheit des


Apparates wahrscheinlich, daß sich die Gesamtzahl an Häftlingen
auf mehrere Millionen beläuft: Die einen sagen zehn Millionen,
die anderen fünfzehn.
Wenngleich hierin keine Klarheit herrscht, so wird man doch
zugeben, daß diese Fakten die Bedeutung des russischen Systems
gänzlich in Frage stellen. Wir wenden hier nicht Péguys Prinzip
auf die UdSSR an, das besagte, jedes Gemeinwesen, das auch nur
ein einziges individuelles Elend in sich berge, sei ein verfluch-
tes Gemeinwesen: So gesehen seien sie alle verflucht, und man
müsse zwischen ihnen keine Unterschiede machen. Wir sagen
indes, daß es keinen Sozialismus gibt, wenn jeder zwanzigste
Bürger in einem Lager steckt. Es nützt nichts, hier zu entgegnen,
jede Revolution habe ihre Verräter, oder der Klassenkampf sei
mit dem Aufstand noch nicht zu Ende, oder die UdSSR könne
sich nicht gegen den äußeren Feind zur Wehr setzen, wenn sie
den inneren Feind schone, oder Rußland könne nicht ohne Ge-
walt in die Großindustrie einsteigen … Diese Antworten haben
keine Gültigkeit, wenn es, nach einem Dritteljahrhundert, um ein
Zwanzigstel der Bevölkerung geht – ein Zehntel der männlichen
Bevölkerung. Wenn es in der UdSSR auf zwanzig Einwohner ei-
nen Saboteur, einen Spion oder einen Faulenzer gibt, wo doch
mehr als eine Säuberungsaktion das Land bereits hat ›gesunden‹
lassen, wenn man heute zehn Millionen Sowjetbürger ›umerzie-
hen‹ muß, wo doch die Säuglinge vom Oktober 1917 inzwischen
gut zweiunddreißig Jahre alt sind, so liegt dies daran, daß das
System selbst und unaufhörlich wieder seine Opposition schafft.
Wenn es eine ständige Repression gibt, und wenn der repressive
Apparat, weit davon entfernt, resorbiert zu werden, sich im Ge-
genteil verselbständigt, so liegt es daran, daß sich das Regime in
einem Ungleichgewicht einrichtet, daß die Produktivkräfte durch
die Produktionsformen erstickt wurden. Wenn die gewöhnlichen
Strafgefangenen für das Regime eher als sichere Menschen er-
scheinen als die politischen Gefangenen, dann deshalb, weil es
sich eher mit dem ›Lumpenproletariat‹ abfindet als mit ›bewuß-
ten Proletariern‹.
Die UdSSR und die Lager 391

Wenn man ernsthaft ist, dann bleibt einem nichts anderes


übrig, als dieser permanenten Krise des russischen Regimes ins
Auge zu sehen: Hält sie am eigentlichen Prinzip der Kollektiv-
produktion fest, oder bevorzugt sie das Staatseigentum und das
Modell der Planwirtschaft, wie es in Rußland praktiziert wird?
Kommt sie aus der politischen Struktur der UdSSR, und betrifft
sie, unter dieser Annahme, nur die stalinistische Phase oder war
sie gar in der bolschewistischen Organisation der Partei vorge-
formt, und wenn man dies glaubt, welche andere politische For-
mation kann man sich vorstellen, welche Garantien kann man
sich gegen diesen Verfall ausdenken? Diese und andere Fragen
können nicht vermieden werden. Einer von uns schrieb an die-
ser Stelle vor zehn Jahren, die sowjetische Gesellschaft sei zwie-
spältig und man finde darin Zeichen des Fortschritts, aber auch
Symptome des Rückschritts. Wenn die Zahl der Lagerinsassen
sich auf zehn Millionen beläuft – während am anderen Ende der
sowjetischen Hierarchie die Gehälter und der Lebensstandard
fünfzehn- bis zwanzigmal höher sind als die der freien Arbeiter –,
dann wandelt sich die Quantität in Qualität, das ganze System
schwenkt um und ändert seinen Sinn, und trotz der Verstaatli-
chung der Produktionsmittel, obwohl die private Ausbeutung des
Menschen durch den Menschen und die Arbeitslosigkeit in der
UdSSR unmöglich sind, fragt man sich, weshalb wir sie betref-
fend noch von Sozialismus reden.
Solcher Art sind die Fragen, denen sich die französische und
europäische äußerste Linke widmen müßte – anstatt ihre Zeit für
Plädoyers ohne Zukunft zu verwenden: André Wurmser, der vor
einigen Monaten sagte: Es gibt in Rußland keine Lager; Pierre
Daix, der vor wenigen Wochen behauptete, die Lager seien »einer
der schönsten Ruhmestitel des sowjetischen Regimes«8.

8 Pierre Daix: Pourquoi David Rousset a-t-il inventé les camps soviéti-

ques?, S. 12.
392 Gelegentliche Äußerungen

Ja, die Frage wird immer dringlicher: Wie konnte der Oktober
1917 auf diese grausam hierarchisch gegliederte Gesellschaft
hinauslaufen, deren Züge sich immer deutlicher vor unseren
Augen abzeichnen? Bei Lenin, bei Trotzki, geschweige denn bei
Marx findet sich kein Wort, das nicht vernünftig wäre, das nicht
heute noch zu den Menschen aller Länder sprechen würde, das
uns nicht dazu diente, zu verstehen, was bei uns geschieht. Und,
nach so viel Scharfblick, Aufopferung und Intelligenz – die zehn
Millionen sowjetischer Deportierter, die Dummheit der Zensur,
die Panik der Rechtfertigungen …
Wenn unsere Kommunisten die Frage ignorieren wollen, dann
hören ihre Gegner kaum mehr, daß sie gestellt wurde, und nichts
in dem von ihnen Geschriebenen liefert uns den kleinsten Ansatz
einer Antwort. Von einer Neurose zu sprechen bedeutet nicht,
auf die Frage zu antworten: Liest man die Aussagen ehemaliger
Häftlinge, so findet man in den sowjetischen Lagern nicht jenen
Sadismus, jene Religion des Todes und jenen Nihilismus, die –
in einer paradoxen Verbindung mit präzisen Interessen, und mal
in Einklang, mal im Widerstreit mit ihnen – schließlich die na-
tionalsozialistischen Vernichtungslager hervorgebracht haben.
Ebensowenig bedeutet es, auf unsere Frage zu antworten, wenn
man die Bürokratie und die ihr eigenen Interessen anzweifelt:
Man sieht kaum Menschen, die sich allein vom Interesse lenken
lassen, sie verschaffen sich stets Überzeugungen. Im übrigen sind
das Interesse wie der Sadismus besser getarnt. Man bemerkt nicht
genügend, daß man das Gesetzbuch zur Straferziehungsarbeit, das
von dem britischen Abgeordneten vor der UNO und von Rousset
im Figaro Littéraire wie eine Offenbarung präsentiert wurde, seit
1936 in seiner englischen Version bei den Verlegern Smith und
Maxwell, Chancery Lane, London, für drei Shilling sechs Pence
kaufen konnte. Die Befreiung von hundertsiebenundzwanzigtau-
send Häftlingen wurde offiziell in Moskau bekanntgegeben.9 Es

9 Ein antinazistischer Deutscher, der aus der deutschen Armee de-

sertiert war, um sich den Russen anzuschließen, und der von ihnen zur
Zwangsarbeit eingesetzt wurde, sagte uns, die Existenz der Lager und die
Die UdSSR und die Lager 393

ist wohl wahrscheinlich, daß die Entwicklung, die vom Oktober


1917 zu den zehn Millionen Sklaven führt und die, nach und
nach, bei gleich bleibenden Formen oder Worten, den Sinn des
Systems verändert, sich von Schritt zu Schritt vollzogen hat, ohne
eine bestimmte Absicht zu verfolgen, von Krise zu Krise, von
Notlösung zu Notlösung, und daß sie sich, in ihrer sozialen Be-
deutung, ihren eigenen Schöpfern entzieht. In der jedesmal zwin-
genderen Alternative, diese Entwicklung zu verschlimmern oder
politisch zu verschwinden, fahren sie fort, ohne zu verstehen, daß
sich das Unternehmen unter ihren Händen wandelt. In Erman-
gelung eines Hintergrundes, vor dem sie diese Entwicklung sehen
könnten, wundern sich die Besten sicherlich über jene Haßrufe,
die ihnen aus der kapitalistischen Welt entgegenschallen …
Sehen wir genau hin. Die Formeln des Gesetzbuches zur
Straferziehungsarbeit sind die Formeln eines geradezu paradiesi-
schen Sozialismus: Es geht nicht mehr darum, zu bestrafen, son-
dern darum, umzuerziehen; die Kriminellen sind Blinde, man
muß sie nur zum Licht führen; in einer Gesellschaft, aus der die
Ausbeutung verbannt wurde, sind die Faulheit und die Revolte
Mißverständnisse; man muß den Asozialen vor dem tugendhaf-
ten Zorn des einmütigen Volkes schützen, während man gleich-
zeitig das Volk vor den Unternehmungen dieses Rückständigen
schützt; das Beste ist, ihn wieder arbeiten zu lassen und ihm da-
bei mit viel Nachsicht die Größe der neuen Gesellschaft zu er-
klären. Woraufhin er, besänftigt und gerettet, wieder seinen Platz
im gemeinschaftlichen Werk einnehmen wird … Gedanken des
19. Jahrhunderts, die anrührend bleiben und die vielleicht tief-
greifender sind, als man meint, denn alles in allem ist es bis heute
noch nie gelungen, die Menschen zu Beginn mit wirklich ver-
gleichbaren Chancen auszustatten, da man sie nie durch das Gute
in Versuchung geführt hat … Und mit einem Mal beginnen diese
Jugendideen Grimassen zu schneiden wie Greise, diese unschul-
digen Gedanken werden zum Gipfel der Scheinheiligkeit und der

äußerst hohen jährlichen Verluste seien der Bevölkerung in der Gegend


von Leningrad bekannt gewesen.
394 Gelegentliche Äußerungen

List, wenn jeder zwanzigste Bürger in ihrem Namen gefangenge-


halten wird, wenn sie Lager zieren, in denen die Menschen vor
Arbeit und Hunger sterben, wenn sie die Repression einer kom-
promißlos ungleichen Gesellschaft decken, wenn es unter dem
Deckmantel einer Umerziehung der vom Weg Abgekommenen
darum geht, die politischen Gegner zu brechen, wenn es unter
dem Vorwand der Selbstkritik um Verleugnung geht. Unter die-
sen Umständen verwandelt sich ihre Tugend schlagartig in Gift.
Aber dies wird nicht so deutlich empfunden. Neben den Zyni-
kern und den Perversen, die es überall gibt, ergreifen sicherlich
so einige junge sowjetische Helden, die nie in einem Land ohne
Lager gelebt haben, ohne jede Spur von Skrupel Partei für die
Anständigkeit. Haben wir nie dergleichen gesehen? Viele recht
begabte Funktionäre mit guten Ansätzen – wie es Krawtschenko
in seiner ersten Amtszeit gewesen sein muß –, die den kritischen
Geist und die Diskussion im Sinne von 1917 nie gekannt haben,
denken weiterhin, die Häftlinge seien exaltierte, asoziale, unwil-
lige Menschen, bis zu dem Tag, an dem das Gefallen an einem
Leben in New York ihnen die Gelegenheit gibt, all dies noch ein-
mal zu überdenken.
Was die Überlebenden von 1917 angeht, so sind sie nicht die
besten Köpfe des marxistischen Humanismus, sie haben den Em-
pirismus stets der Analyse der Situationen vorgezogen, sie haben
stets viel mehr an den Apparat als an die Massenbewegungen ge-
glaubt, sie haben als Organisatoren stets größere Erfolge gehabt
denn als Volksredner, sie haben stets mehr auf das Taktieren in der
Partei vertraut als auf die Bewußtwerdung. In Lenins Gleichung –
Sowjets plus Elektrifizierung – haben sie sich immer vorzugs- 2
weise für den zweiten Terminus interessiert. Da die UdSSR die
Elektrifizierung durchführt, ohne in das System des individuellen
Profits zurückzufallen, muß es ihnen daher so scheinen, als sei
das Wesentliche der Oktoberrevolution gerettet. Man darf nicht
von ihnen verlangen, Marx wieder aufzugreifen, zu bemerken,
daß es bei Marx die Produktivkräfte sind, welche die Infrastruk-
tur bilden, mit anderen Worten nicht allein das gesamte Werk-
zeug und die produzierten Reichtümer, sondern die Menschen
Die UdSSR und die Lager 395

bei der Arbeit, die immer noch Menschen sind. Sie sind nie bis zu
diesen Feinheiten vorgedrungen, und ihr Materialismus ist stets
recht wenig dialektisch gewesen … Außerdem ist das alles so weit
weg; es ist doch schon lange her, daß man hinsichtlich der Spon-
taneität der Massen seine Ansprüche zurückschrauben mußte.
Koestler, denken sie, hat dies sehr gut erklärt: Man nimmt keine
Rücksicht auf das Gefühl, wenn man ihm etwas gibt, nimmt es
alles; man darf ihm also nichts überlassen. Denken wir nicht
mehr daran. Der Kanal zum Weißen Meer wird gebaut werden.
Die Grundlagen der Kollektivproduktion werden gefestigt wer-
den … Und die Kommunisten der ganzen Welt erwarten, daß so
viele Kanäle, Fabriken und Reichtümer eines Tages, durch eine
Art magische Emanation, den vollständigen Menschen hervor-
bringen, selbst wenn man, um sie zu schaffen, zehn Millionen
Russen versklaven muß, wenn man ihre Familie in Verzweiflung
stürzen muß, was weitere zwanzig oder dreißig Millionen Rus-
sen ausmacht, wenn man einen anderen Teil der Bevölkerung in
der Polizeikunst und zur Denunziation ausbilden muß und die
Armee der Funktionäre zur Unterwürfigkeit oder zum Egoismus.
So erklärt sich sicherlich der Umstand, warum die besten Kom-
munisten kein Ohr für zehn Millionen Häftlinge haben.

*
Indem wir unseren Blick auf den Ursprung des Systems der Kon-
zentrationslager richten, ermessen wir die Illusion der heutigen
Kommunisten. Es ist aber auch diese Illusion, die es verbietet,
Kommunismus und Faschismus zu vermischen. Wenn unsere
Kommunisten die Lager und die Unterdrückung akzeptieren,
dann deswegen, weil sie erwarten, daß aus ihnen durch das
Wunder des Unterbaus die klassenlose Gesellschaft hervorge-
hen möge. Sie täuschen sich, aber dies ist es, was sie denken. Ihr
Fehler ist, daß sie im Unklaren glauben, aber dies ist es, was sie
glauben. Die nationalsozialistischen Lager trugen ihrerseits eben-
falls die berühmten Devisen einer Umerziehung durch Arbeit,
aber von jenem Moment an, in dem die Gaskammern errich-
tet wurden, konnte niemand mehr glauben, daß es, sei es auch
396 Gelegentliche Äußerungen

nur der Absicht nach, um eine Umerziehung ging. Bevor es die


Gaskammern gab, waren die deutschen Lager eine Nachahmung
der russischen Lager und ihre Strafanstaltsdevisen eine Nach-
ahmung der sozialistischen Ideologie, genau wie die Partei im
faschistischen Sinne eine Nachahmung der Partei im bolsche-
wistischen Sinne war und wie der Faschismus dem Bolschewis-
mus die Idee der Propaganda entlehnt hat. Der Faschismus ist
ein Angstgefühl vor dem Bolschewismus, dessen äußere Form
er aufgreift, um seinen Inhalt um so zuverlässiger zerstören zu
können: die internationalistische und proletarische Stimmung.
Wenn man daraus schließt, der Kommunismus sei Faschismus,
so erfüllt man im nachhinein den Wunsch des Faschismus, der
immer darin bestand, die kapitalistische Krise und die mensch-
liche Anregung des Marxismus zu verschleiern. Nie hat sich
ein Nazi mit Ideen wie etwa einer Anerkennung des Menschen
durch den Menschen, dem Internationalismus oder der klassen-
losen Gesellschaft belastet. Es ist wahr, daß diese Ideen im heu-
tigen Kommunismus nur einen unzuverlässigen Träger finden
und daß sie ihm mehr als Dekor denn als Motor dienen. Aber
immerhin bleiben sie ihm erhalten. Das ist es, was man einem
jungen russischen oder französischen Kommunisten beibringt.
Wohingegen die Nazipropaganda ihren Hörern den Stolz auf
das deutsche Volk, den Stolz auf die Arier und das Führerprinzip
beibrachte.
Dies bedeutet, daß wir mit einem Nazi nichts gemein haben
und daß wir dieselben Werte haben wie ein Kommunist. Ein
Kommunist, wird man sagen, hat keine Werte. Er hält nur Vie-
lem die Treue. Wir antworten, daß er wohl tut, was er kann, um
dies zu erreichen, daß aber Gott sei Dank niemand leben kann,
ohne zu atmen. Er hat Werte ungeachtet seines Willens. Wir kön-
nen denken, daß er sie kompromittiert, indem er sie im heutigen
Kommunismus verkörpert. Darüber hinaus sind sie aber immer
noch unsere Werte, und wir haben im Gegenteil immer noch
nichts gemein mit so manchen Gegnern des Kommunismus.
Nun ist dies aber keine Angelegenheit des Gefühls. Wir wollen
behaupten, daß wir in dem Maße, in dem wir uns geographisch
Die UdSSR und die Lager 397

und politisch von der UdSSR entfernen, auf Kommunisten


treffen, die immer mehr Menschen wie wir sind, und auf eine
kommunistische Bewegung, die gesund ist. Wenn das Schicksal
uns einem der zukünftigen Krawtschenkos begegnen ließe, die
Rußland im Überfluß besitzen muß, dann würde es sicherlich
sehr wenig Brüderlichkeit geben: Der Verfall der marxistischen
Werte ist in Rußland selbst unvermeidlich, die Lager zersetzen
die humanistische Illusion, die gelebten Tatsachen vertreiben die
vorgestellten Werte wie das schlechte Geld das gute verdrängt.
Spricht jedoch einer von uns mit einem Kommunisten aus Mar-
tinique über die Angelegenheiten seines Landes, so findet er sich
in einem fort in bestem Einvernehmen mit ihm. Ein Leser von Le
Monde schrieb neulich an diese Zeitung, alle Erklärungen über
die sowjetischen Arbeitslager könnten wohl wahr sein, aber er
sei letztlich ein mittelloser und obdachloser Arbeiter und finde
bei den Kommunisten immer noch mehr Unterstützung als bei
den anderen. Und Le Monde rief sogleich eine Spendenaktion ins
Leben, damit nicht gesagt werde, sie sei gefühllos gegenüber dem
Elend. Das Mißgeschick besteht nur darin, daß es diesen Brief
gebraucht hat, um eine solche Menschenfreundlichkeit herbeizu-
rufen. Gehen wir zum Kollektiven über: Es ist durchaus möglich,
daß der chinesische Kommunismus auf lange Sicht der Linie des
russischen Kommunismus folgt und am Ende eine hierarchisch
gegliederte Gesellschaft mit einem neuen Typus der Ausbeutung
verwirklicht: Darüber hinaus gilt, daß er im Augenblick allein
in der Lage scheint, China aus dem Chaos und dem pittores-
ken Elend hinauszuführen, in dem es der fremde Kapitalismus
hinterlassen hat. Welcher Natur die gegenwärtige sowjetische
Gesellschaft auch sein mag, die UdSSR steht im Gleichgewicht
der Kräfte im großen ganzen auf seiten derer, die gegen die uns
bekannten Formen der Ausbeutung kämpfen. Der Niedergang
des russischen Kommunismus bewirkt nicht, daß der Klassen-
kampf zum Mythos wird, daß ein ›freies Unternehmertum‹ mög-
lich oder wünschenswert wird, und auch ganz allgemein nicht,
daß die marxistische Kritik überholt sei. Woraus wir nicht etwa
schließen, daß man dem Kommunismus mit Nachsicht begegnen
398 Gelegentliche Äußerungen

muß, sondern vielmehr, daß man keinesfalls mit seinen Gegnern


paktieren kann. Die einzig gesunde Kritik ist folglich diejenige,
die innerhalb und außerhalb der UdSSR auf die Ausbeutung und
die Unterdrückung abzielt, und jede Politik, die sich in Abgren-
zung zu Rußland definiert und die ihre Kritik auf Rußland be-
schränkt, ist eine Absolution, die man der kapitalistischen Welt
erteilt.
Das ist der Grund, warum wir hierzulande immer abgelehnt
haben, uns dieser Politik anzuschließen. Wie oft haben ameri-
kanische Freunde, nachdem sie uns gefragt haben, was wir vom
Kommunismus hielten, fortgefahren: ›Aber warum steht ihr dann
nicht auf unserer Seite?‹ Man muß wissen, für wen oder für was
sie sind. Denn sie haben mit dem Stalinismus und dem Trotzkis-
mus jede Art marxistischer Kritik, jede Art radikaler Stimmung
über Bord geworfen. Die Fakten der Ausbeutung in aller Welt be-
greifen sie nur als verstreute Probleme, die es jedes für sich zu un-
tersuchen und zu lösen gilt. Sie haben keine politische Idee mehr.
Was die Vereinigten Staaten angeht, so sagen sie, ohne zu lachen:
›Wir haben hier keinen Klassenkampf‹, und sie sehen dabei über
fünfzig und mehr Jahre amerikanischer Geschichte hinweg.
›Habt teil am amerikanischen Wohlstand‹, so lautete schließlich
der Wahlspruch einer der ihren. Wie auf dem Boden der Welt,
so sitzen sie auf dem amerikanischen Wohlstand, der manche
Erschütterung erfahren hat und der im Begriff ist, weitere zu er-
fahren, wenn man nach dem Niedergang der Marshallpolitik und
der Pläne zu einer weltweiten Wiederherstellung des Gleichge-
wichts urteilt, und sie verlangen von uns, aus ihm ein Absolutes
zu machen. Und wenn wir ihnen erklären, daß sie im Begriff sind,
diesem unsicheren Faktum jede politische Bewertung zu opfern,
und daß alles in allem die Anerkennung des Menschen durch
den Menschen und die klassenlose Gesellschaft als Prinzipien
einer weltweiten Politik weniger vage sind als der amerikanische
Wohlstand, daß die historische Mission des Proletariats eine letz-
ten Endes genauere Vorstellung ist als die historische Mission der
Vereinigten Staaten, dann antwortet man uns, wie Sydney Hook
in Partisan Review, es sei dringend notwendig, einige Meister des 3
Die UdSSR und die Lager 399

Denkens von seinem Kaliber hierher zu schicken. »Da ihr ja einig


seid, was die Unterdrückung in der UdSSR und das Risiko einer
militärischen Expansion des Kommunismus angeht, würdet ihr
die Behauptung gelten lassen«, so schlug uns ein anderer vor, »daß
die UdSSR der Feind Nr. 1 ist?« – Nein, selbstverständlich lassen
wir dies nicht gelten, denn diese Formel hat eine logische Folge:
Im Augenblick gibt es keinen Feind außerhalb der UdSSR; die
Formel will also besagen, daß man darauf verzichtet, die nicht-
sowjetische Welt zur Diskussion zu stellen.
Als die Frage nach den sowjetischen Lagern vor der UNO
gestellt wurde, antwortete die sowjetische Delegation mit der
Forderung, man möge auch die Schuldseite des Kapitalismus
untersuchen: die Arbeitslosigkeit, die Arbeitsbedingungen in
den Kolonien, die Lebensbedingungen der schwarzen Amerika-
ner. Der Abgeordnete Großbritanniens beklagte sich über das,
was er als Ablenkung bezeichnete. Wir sind der Meinung, daß
es sich nicht um Ablenkung handelte. Eine Gesellschaft ist für
alles verantwortlich, was sie hervorbringt, und Marx hat recht
daran getan, dem liberalen Denken wie einen Betrug, für den
man Rechenschaft ablegen muß, die Kunstgriffe vorzuwerfen,
mittels derer es die Arbeitslosigkeit, die Kolonialarbeit, die ras-
sische Ungleichheit, die man der Natur oder dem Zufall anla-
stet, aus der Bilanz nimmt. Unter Bürgern und auf dem Gebiet
der rein politischen Rechte – abzüglich der Kolonialarbeiter, der
Arbeitslosen und der schlecht bezahlten Lohnarbeiter, haben
wir alle Freiheiten … Man hat den Kommunisten zu oft vor-
geworfen, die zehn Millionen Lagerinsassen aus ihrer Bilanz zu
streichen, um dasselbe Verfahren anzuwenden, wenn es darum
geht, den Kapitalismus zu beurteilen. Der Abgeordnete Großbri-
tanniens hat sich übrigens geschnitten, so wie Freuds Subjekte
etwas in dem Augenblick eingestehen, in dem sie es verneinen:
Als er von den russischen Arbeitslagern sprach, ist ihm der Satz
entschlüpft: ›Dies ist das Kolonialsystem der UdSSR.‹ Dann aber
müßte man darin übereinkommen (mit den notwendigen Ab-
stufungen), daß die Kolonien die Arbeitslager der Demokratien
sind.
400 Gelegentliche Äußerungen

Auf das, was wir da behaupten, gibt es eine und nur eine Ant-
wort (es ist merkwürdig, daß uns niemand diese Antwort gege-
ben hat): Die Kritik an allen Unterdrückungszuständen schwächt
die Demokratien, da sie hierzulande greift, aber nicht im Ural.
Wenn es das ist, was man denkt, dann muß man allerdings die
Konsequenz sehen: Die Gesellschaftskritik muß bis zum Ver-
schwinden des sowjetischen Systems verstummen, und wenn sich
die Lager in Sibirien endlich öffnen, werden wir hier eine Gene-
ration ohne politische Bildung haben, die infolge des westlichen
Patriotismus und nach Jahren antikommunistischer Propaganda
an Halluzinationen leidet. Was uns betrifft, so vertrauen wir an-
gesichts dieser Aufgabe auf die Regierungen und die Führungs-
stäbe. Alles zeigt, daß es ihnen nicht an Hilfskräften fehlen wird.
Es ist dringlicher, zumindest einige kleine Inseln zu bewahren,
auf denen man die Freiheit anders als gegen die Kommunisten
liebt und praktiziert.
*
Wir brauchen uns gegenwärtig nicht lange über die Initiative von
David Rousset auslassen, die den Anlaß zu diesen Seiten geboten
hat. Es war notwendig, das sowjetische Gesetzbuch zur Straferzie-
hungsarbeit zu veröffentlichen. Wir sind hiervon so überzeugt,
daß wir uns anschicken, es in dem Augenblick zu drucken, in
dem Rousset, der das Dokument aus anderen Quellen bezogen
hatte, den bekannten Gebrauch von ihm gemacht hat. Wir miß-
billigen diesen Gebrauch ganz entschieden, und wir denken, daß
Rousset von dieser Kampagne an die politische Linie verläßt, die
ihn bis dahin ausgezeichnet hatte, und eine Propaganda einlei-
tet, in die wir uns durch die Erinnerung, die man von unserer
heute endgültig beendeten Zusammenarbeit mit ihm bewahren
konnte, auf keinen Fall einbezogen sehen.
»[…] Um mit der Aussicht auf einigen Erfolg gegen die
Ausbeutung des Menschen kämpfen zu können, muß man die
Schläge auf das System konzentrieren, das sie am schonungs-
losesten walten läßt, das die stärksten Beeinträchtigungen mit
sich bringt und am unerbittlichsten jede Zukunft einer Befrei-
ung verschließt. Wir reden nicht allgemein von Ungerechtig-
Die UdSSR und die Lager 401

keit, sondern von jener präzisen Ungerechtigkeit, die man die


lagereigene nennt«.10 Rousset lehnt dementsprechend jede Un-
tersuchung ab, die sich gleichzeitig auf Rußland, Spanien und
Griechenland bezieht.11 Um so weniger könnte er in seinen Pro-
test die diffusen oder verborgenen Formen der Sklaverei einflie-
ßen lassen: die Zwangsarbeit der Kolonien, die Kolonialkriege,
die Lebensbedingungen der amerikanischen Neger. Dann aber,
und wenn es nicht darum geht, jedes Volk gegen die Unterdrük-
kungen aufzuwiegeln, deren Zeuge es ist, und gleichzeitig gegen
die Unterdrückung in Rußland – wenn allein die Unterdrücker
Sibiriens und des Ural zur Debatte stehen (obwohl der Figaro
littéraire, so glauben wir, auch ohne den eisernen Vorhang kaum
bis in diese Gebiete Einfluß nehmen könnte), kann dieses Vor-
gehen nur alles, was es in der Welt an Revolte geben mag, auf das
russische System übertragen und konzentrieren, und überall den
Zusammenschluß der Klassen gegen dieses System verwirklichen.
Inwiefern wäre der Kampf ›wirkungsvoller‹, weil man die Un-
gerechtigkeiten, die nicht die des sowjetischen Systems sind, ge-
trennt behandelt? Sicherlich insofern, als daß er ein Publikum
zusammenschließen wird, das sich entziehen würde, wenn man
die spanische oder die griechische Regierung, die Kolonialver-
waltung Englands oder Frankreichs in Frage stellen würde. Wer
sind also diese so delikaten Zuhörer? Wird man glauben, es seien
die Völker, und insbesondere das französische Volk? Ist es den
Kolonialkriegen oder dem Francoregime so wohlgesinnt? Alles
zusammengenommen: Für wen schreibt Rousset? Ist es, wie er
sagt, für die ehemaligen kommunistischen Deportierten? Indem
er aber erklärt, er suche nur bei der UdSSR die Schuld, liefert er
ihnen gerade die einzige Entschuldigung, die sie finden können,
um sich zu entziehen. Es kann folglich nur darum gehen, ein
Publikum zusammenzuschließen, das nicht vom Gedanken an
Lager und Gefängnisse gequält wird, solange es sich nicht um
sowjetische Lager und Gefängnisse handelt. Die heilige Union

10 Figaro littéraire, 12. November 1949.


11 Ebd., 19. November 1949.
402 Gelegentliche Äußerungen

gegen das russische System wendet sich hier an all jene, die es
aus schlechten ebenso wie aus guten Gründen verabscheuen, sie
wird über das System der Lager jede sozialistische Inspiration
anstreben und erreichen. Rousset schließt sich alles in allem dem
Prinzip des ›Feindes Nr. 1‹ an, das wir soeben diskutiert haben:
zunächst gegen das russische System; dann, in einem Regime,
das die Zukunft nicht so wie jenes verschließt, wird man weiter-
sehen. Aber entweder will die Ordnung der Dringlichkeit nichts
besagen, oder sie will besagen, daß der Feind Nr. 2 im Moment
kein Feind ist. Die Wahl einer Ordnung der Dringlichkeit ist die
Wahl eines Publikums, die Wahl eines Verbündeten, und sie
paktiert letztlich mit allem, was nicht sowjetisch ist. Dieses
Publikum, dieser Verbündete, das sind nicht mehr die Völker.
Hat Rousset also aufgehört, Marxist zu sein, obwohl er dem Mar-
xismus in seinen Artikeln noch eine offen gestanden sehr diskrete
Ehre erweist? Lenin sagte gerade, den wahren Revolutionär
erkenne man daran, daß er die Ausbeutung und die Unter-
drückung in seinem eigenen Land verurteilt. Rousset hat un-
längst erklärt, der Marxismus müsse noch einmal überprüft
werden, und er hatte Recht. Darüber hinaus muß man, wenn
man eine Überprüfung des Marxismus in Angriff nimmt, wissen,
was man von ihm übernimmt und was man wegläßt. Andernfalls
gelangt man am Ende, wie so viele amerikanische Intellektuelle,
die alles hinter sich gelassen haben, zum politischen Nichts, und
das Nichts ist regierungsfreundlich. Glaubt Rousset noch, ja oder
nein, die einzige politische Kraft, deren Unterstützung man su-
chen muß, sei diejenige, die aufgrund ihrer Stellung so unab-
hängig ist von den nationalen, finanziellen und wirtschaftlichen
Interessen wie die Spekulationen des Führungsstabes – das heißt
das Volk? Und glaubt er noch, diese Kraft verliere das Bewußtsein
ihrer selbst und löse sich auf, wenn man sie Kompromisse mit
der kolonialen und gesellschaftlichen Unterdrückung eingehen
läßt? Wenn man seine jüngste Kampagne heranzieht, muß man
antworten: Nein. Aber dann muß er es sagen. Er muß seine neue
Position formulieren. Sie kann nur unzulässig sein. Sie wird aber
zumindest aufhören, doppelsinnig zu sein.12
Die UdSSR und die Lager 403

Es ist einfach zu antworten, daß es nicht so vieler Prinzipien


bedürfe, um ein Unrecht offenzulegen, und daß es Rousset ge-
nüge, sein Gewissen oder seine Erinnerungen als Deportier-
ter zu befragen, um zu wissen, was er tun solle. Die absolute
Schreckenserfahrung des Lageraufenthalts, wird man sagen,
zwingt denjenigen, der sie erlebt hat, seinen Blick zunächst auf
das Land zu richten, das sie verlängert. Aber nicht wir sind es,
die verlangen, daß man die Deportierten vergesse, es ist Rousset.
Durch die ›Konzentration seiner Schläge‹ auf das sowjetische Sy-
stem achtet er Spaniens Strafgefangene und Griechenlands De-
portierte gering. Es ist gut, daß die Erfahrung der Lager, wenn
man sie durchlebt hat, für immer verbietet, einem System anzu-
hängen, das an Lagern festhält. Sie verbietet nicht weniger, mit
seinen Gegnern zu paktieren, wenn diese über Lager verfügen.
Die Wahrheit ist, daß selbst die Erfahrung eines Absoluten wie
des Schreckens der Lager keine Politik vorgibt. Die Tage des Le-
bens sind nicht die Tage des Todes. Wenn man ins Leben zurück-
kehrt, gut oder schlecht, dann beginnt man wieder vernünftig
zu überlegen, man wählt genau aus, woran man festhält, und ge-
genüber dem, was man aufgibt, scheint man gleichgültig zu sein,
scheint man zu vergessen. Man vergißt den Tod immer, wenn
man lebt. Daix vergißt die russischen Lagerinsassen. Rousset
vergißt die griechischen Deportierten, die in diesem Augenblick
auf den Inseln sterben, die mit Lebensmitteln versorgt werden,
wenn es dem Meer und der Regierung gefällt. Daß sie sich aber,
zur Rechtfertigung so vergeßlicher Politiken, nicht auf ihre treue
Rechtschaffenheit als ehemalige Deportierte berufen. Sie wären
sich selbst nur treu, wenn sie nach einer Politik suchen würden,
die sie nicht verpflichtete, ihre Deportierten auszuwählen.
(Januar 1950)

12 Rousset reicht vor Gericht Klage ein gegen die Beschimpfungen der

Lettres Françaises. Dennoch weiß er durch das Beispiel des Krawtschenko-


Prozesses sehr gut, daß solche Debatten die beiden Blöcke auseinander-
spalten. Ist es das, was er will?
404

DI E V E RT R ÄGE VON JA LTA 1

Der Marxismus bagatellisiert nicht die menschliche Aktion. Der


Unterbau der Geschichte, die Produktion, bildet immer noch
ein Netz menschlicher Aktionen, und der Marxismus lehrt, daß
die Menschen ihre eigene Geschichte machen. Er fügt lediglich
hinzu, daß sie nicht irgendeine Geschichte machen: Sie operie-
ren in Situationen, die sie nicht gewählt haben und die nur eine
begrenzte Anzahl von Lösungen ihrer Wahl überlassen. Für ei-
nen Beobachter, der am Ende der Welt stünde, ließen sich die
Wahlmöglichkeiten sogar in zwei Reihen gruppieren, von denen
die eine der proletarischen Revolution entgegenginge, die andere
dem Chaos. Die Geschichte ist aus menschlichen Aktionen und
Interaktionen gemacht, die von der Logik der Situationen in
ein anonymes Drama verwandelt werden. Es sind, sagte Marx,
»Beziehungen zwischen Personen, die durch Dinge vermittelt
werden«, die in Systemen inkarniert sind, bei denen die Inten-
tion der wirkenden Kraft oft nicht erkennbar ist. Die Menschen
machen ihre Geschichte, wenngleich sie oftmals die Geschichte
nicht kennen, die sie machen. Diese Vorstellung läßt Raum für
alle Kausalitäten, insbesondere jene der Diplomatie.
Wenn man sich nicht nur auf die Formeln von Marx und En-
gels bezöge, sondern auch auf Marx’ Arbeit selbst, dann würde
man sehen, daß er das immanente Studium der Diplomatie
ebenso wenig einschränkte wie die Wirksamkeit der diploma-
tischen Aktion. Er hat lange Tage im British Museum damit
verbracht, Auszüge aus den diplomatischen Manuskripten an-
zufertigen, die das Thema der anglo-russischen Zusammenar-
beit Peters des Großen bis zum Ende des XVIII. Jahrhunderts
berühren, und er hat ihnen eine detaillierte Studie1 gewidmet, in 2

1 Die Enthüllungen zur Geschichte der Diplomatie im 18. Jahrhundert,


Die Verträge von Jalta 405

der die ökonomische und gesellschaftliche Geschichte nur eine


untergeordnete Rolle spielt.
Wie sollte es anders sein? Der Marxismus wollte nicht einer
jener ›Gesichtspunkte‹ sein, eine jener ›Weltanschauungen‹, eine
jener ›Geschichtsphilosophien‹, welche die Wirklichkeit um ein
willkürlich gewähltes Prinzip anordnen – er wollte vielmehr der
Ausdruck der Wirklichkeit, die Formulierung einer Bewegung
der Geschichte sein, welche die Ideen, die Literatur, die Moral,
die Philosophie und die Politik, ebenso wie die Produktionsver-
hältnisse antreibt. Wie könnte er seine Untersuchung nur auf ei-
nen Sektor des Wirklichen beschränken? Wie sollte er anders als
pluralistisch sein? Wie könnte er nicht überall wieder auf dieselbe
Wahrheit stoßen? Nichts verhindert prinzipiell, daß man auf ver-
schiedene Arten Zugang zur Geschichte findet: Sie führen alle zu
demselben Knotenpunkt der einzelnen Wege.
Die ›persönlichen Vorstellungen‹ von Roosevelt, Churchill
und Stalin in Jalta sind also für die marxistische Geschichts-
philosophie kein Stein des Anstoßes. Sicherlich decken sie die
Improvisation, das Beinahe, die Vorurteile und die Träumereien
schonungslos auf. Selbst wenn man die Gelegenheitsäußerun-
gen, die beachtlichen Finten und die erkünstelte Frivolität der
Tischgespräche berücksichtigt, haben diese Marotten doch etwas
Shakespearehaftes, wenn man bedenkt, daß sie so illustren Köp-
fen innewohnen:
– »Marschall Stalin machte darauf aufmerksam, daß er nicht
glaube, daß es der Arbeiterpartei jemals gelingen könnte, in
England eine Regierung zu bilden.«
– »Roosevelt erklärte, es brauche drei Generationen Erziehung
und Training, bevor China zu einem ernstzunehmenden mili-
tärischen Faktor werde.«
– »Die Engländer schienen zu glauben, daß die Amerikaner die
Ordnung in Frankreich wieder herstellen müßten, um an-

die nie ins Russische übersetzt wurden, die aber jüngst unter dem Titel La
Russie et l’Europe auf französisch erschienen sind.
406 Gelegentliche Äußerungen

schließend die politische Kontrolle wieder den Engländern zu


übergeben.«
– »Marschall Stalin sagte, er verstehe nicht, warum (die Kom-
munisten und die Kuo-Min Tang) nicht miteinander auskom-
men könnten, denn sie müßten doch eine einheitliche Front
gegen Japan bilden. Er schätze, Tschang Kai-Shek müsse hier
die Richtung vorgeben. Er erinnerte in diesem Zusammen-
hang daran, daß es die einheitliche Front einige Jahre zuvor
gegeben hatte. Er verstünde nicht, warum sie nicht aufrecht-
erhalten worden sei.«
Wenn man – großzügigerweise – davon ausgeht, daß diese Äuße-
rungen machiavellistisch sind, dann muß es zumindest im Geist
des Gesprächspartners, der sie ernst nahm, einen Rest an Unbe-
stimmtheit gegeben haben. Warum aber sollte diese Invasion der
Psychologie einen marxistischen Historiker stören? Die wirren
Ideen und Phantasmen sind kein eigenes Reich im Reich der Ge-
schichte: Sie sind Teil der gesellschaftlichen Dynamik, und sie ist
es wiederum, die in ihnen spielerisch zur Anwendung gelangt.
Für einen Marxisten gibt es kein Phantasma, das nicht einen Sinn
hätte, wenngleich es nicht sein offensichtlicher Sinn ist.

*
Ein philosophischer, strenger, kohärenter Marxismus läßt die
Pluralität der Ursachen in der Geschichte zu, entziffert in jeder
Ursache dieselbe Dialektik und bezieht die ›persönlichen Vor-
stellungen‹ ein statt sie auszuschließen. In dem Maße jedoch, in
dem er so verfährt, verwandelt er sich in eine andere Philosophie,
die sich deutlich vom Vulgärmarxismus unterscheidet und in der
Marx sich gewiß nicht hätte wiedererkennen wollen.
Selbst wenn auch die ›Vorstellungen‹ und ›Ideologien‹ ihre in-
terne Logik besitzen, die sie der allgemeinen Logik der Geschichte
einverleibt – daß Stalin, Roosevelt und Churchill von Angesicht
zu Angesicht gedacht, gesprochen und einen Vertrag abgeschlos-
sen haben, wie sie es in Jalta getan haben, daß solche Proben ihrer
Ideologien in diesem Kompromiß hervorgebracht, miteinander
konfrontiert und kombiniert worden waren, dies ist ein Ereig-
Die Verträge von Jalta 407

nis, das sich, so verständlich es auch hinterher in der Dynamik


der allgemeinen Geschichte sein mag, nicht von ihr ableiten läßt
und das Wahrscheinliche ins Wirkliche übergehen läßt. Wenn
die Menschen die Geschichte, die sie machen, nicht kennen, so
machen sie nicht ihre wahre Geschichte. Wenn in der Geschichte
alles zählt, dann ist die Entwicklung nicht wirklich notwendig, da
sie ebenso von den Kontingenzen eines ›Psychismus‹ wie von der
gesellschaftlichen Dynamik getragen wird.
Man kann nur sagen, wie Max Weber es tat, daß selbst wenn
ein Begleitumstand zufällig gefehlt haben sollte, auf anderen We-
gen, welche die Logik der Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit
eröffnet hätte, dieselbe Lösung herbeigeführt worden wäre. Tat-
sächlich gibt es in der Geschichte Fälle, bei denen das ›unmit-
telbar bevorstehende‹ Ereignis die Bedingungen seines eigenen
Auslösens zu schaffen scheint. Wie aber könnte man bestätigen,
daß es immer so ist und daß die Geschichte als Ganzes ein Prozeß
dieser Art ist, der sich selbst anhand einer Norm reguliert und
seine Zielrichtung wie eine Radarkanone korrigiert?
Wenn in der Geschichte alles zählt, dann kann man nicht mehr
wie die Marxisten behaupten, daß die geschichtliche Logik in letz-
ter Analyse stets ihre Wege findet, daß sie allein eine entscheidende
Rolle spiele und daß sie die Wahrheit der Geschichte sei. Die Bol-
schewiken haben praktisch zugegeben, daß die Gelegenheiten
nicht wiederkommen. Trotzki schreibt: »Es ist noch nicht lange
her, daß man noch die Meinung hören konnte: wenn wir nicht
im Oktober die Macht ergriffen hätten, hätten wir es zwei bis drei
Monate später getan. Das ist ein grober Irrtum! Wenn wir nicht
im Oktober die Macht ergriffen hätten, dann hätten wir sie über-
3 haupt nicht bekommen.«2 Schön und gut. Aber dann darf man
nicht behaupten, die Revolution sei ›unabwendbar‹. Man muß
zwischen der Revolution als Handlung und als Wahrheit wählen.
Genau darin besteht das wahre marxistische Drama, eher als im
Widerstreit zwischen den ›Überbauten‹ und den ›Unterbauten‹
oder zwischen den Menschen und den Dingen.

2 Trotzki: Über Lenin, S. 77–78.


408 Gelegentliche Äußerungen

In seiner klassischen Periode versuchte der Bolschewismus,


dieses Drama zu überwinden und die Aktion vor dem Pragma-
tismus und dem Zufall zu retten, indem er sich an jene von Lenin
aufgestellte Regel hielt, die richtige Linie müsse allen Proletariern
aller Länder erklärt und von ihnen verstanden werden können.
Man muß in Mein Leben sehen, mit welcher Sorgfalt Trotzki
und Lenin am Vorabend von Brest-Litowsk die Nachteile erwo-
gen, die sich aus dem Friedensschluß mit dem deutschen Impe-
rialismus für die Revolution ergeben könnten, wenn die abend-
ländischen Proletarier ihn nicht verstünden – mit welcher Strenge
Trotzki es ablehnt, nachdem er das Prinzip des demokratischen,
ohne Annexionen auskommenden Friedens und das Recht zur
Selbstbestimmung der Völker verkündet hat, die Annexionen,
die ihm die Deutschen auferlegen, zu verschleiern.
Die weltweite Meinung der Proletarier, dieses Motiv schien
Lenin schwerwiegend genug, so daß er einwilligte, sich Trotzkis
Lösung anzuschließen, die darin bestand, den Vertrag erst un-
ter dem Druck einer deutschen Offensive zu unterzeichnen, die
den neuen sowjetischen Staat letztlich mehrere Provinzen kosten
würde. Da die Franzosen und Engländer der sowjetischen Regie-
rung militärische Unterstützung im Kampf gegen Deutschland
anboten, erwirkte Lenin während der Verhandlungen beim Zen-
tralkomitee die Annahme dieses Angebots, mit der Formel: »Die
Hilfe der Schurken des französischen Imperialismus gegen die
deutschen Schurken annehmen.«3 Man kämpfte also gegen die 4
Zweideutigkeit.
Stalin trifft nicht so viele Vorsichtsmaßnahmen. »Marschall
Stalin sagt, er sei bereit, im Einverständnis mit den Vereinigten
Staaten und Großbritannien die Rechte der kleinen Mächte zu
schützen, er würde jedoch nie einwilligen, eine beliebige Hand-
lung irgendeiner der großen Mächte dem Urteil der kleinen
Mächte zu unterstellen.« Der Stil hat sich verändert, und Sta-
lin scheint keine große Mühe zu haben, den Tonfall seiner Ge-
sprächspartner anzunehmen. Allein jene Unverfrorenheit ist neu.

3 Trotzki: Mein Leben, hg. v. Rosmer, S. 398.


Die Verträge von Jalta 409

Die Schwierigkeit gab es bereits vor Stalin, sie war sogar noch
deutlicher spürbar, weil die revolutionäre Idee lebendig war. Sie
ist das Kreuz der revolutionären Politik.
(April 1955)
410

DI E Z U K U N F T DE R R E VOLU T ION 1

Jeder spürt, daß in der Geschichte des Kommunismus etwas vor


sich geht. Handelt es sich, in großem Maßstab betrachtet, nur
um eine jener Perioden der Entspannung, die stets im Wechsel
mit Perioden einer harten Politik einhergingen? Vielleicht haben
wir auch den Moment erreicht, in dem Revolution und Konter-
revolution aufhören werden, jeweils einander abzulösen, wie sie
es seit 1917 tun, und in dem die Politik sich nicht mehr, wie seit
zehn Jahren, auf die Wahl zwischen der UdSSR und dem Rest
beschränken wird. Als einfache Tatsache ist die Koexistenz vom
Marxismus niemals ausgeschlossen worden. Wenn sie aber zu
einem Prinzip wird, dann kann sie nicht beide Regime unver-
sehrt lassen, ihr Widerspruch muß aufhören, ein Antagonismus
zu sein, jeder muß die Existenz des anderen und in diesem Maße
auch eine Art Pluralismus zulassen. Daß man bürgerlicherseits
Pluralist ist, versteht sich von selbst. Simone de Beauvoir schreibt
nachdrücklich: »Die Wahrheit ist eine, der Fehler ist vielfältig,
folglich versteht man, daß die Bourgeoisie pluralistisch ist.«1 2
Wenn der Kommunismus es wird, so bedeutet dies also, daß er
sich nicht mehr als die eine, totale und finale Wahrheit begreift.
Sind wir schon so weit?
Was genau bedeutet es in der Geschichte der Sowjetunion, daß
Malenkow, dann Bulganin und Jukow an die Macht gelangten?
Malenkow sagte – ein wenig zu früh, aber seine Nachfolger haben
die These aufgegriffen –, daß die Atombombe die sozialistische
ebenso wie die restliche Zivilisation bedrohe. Ist die Revolution
von nun an dieser Vorbedingung der Existenz unterworfen, näm-
lich den Atomkrieg nicht zu riskieren? Deklassieren die atomaren
Techniken, die in den Lauf der Dinge einen massiven Faktor der
Zerstörung – und morgen vielleicht der Produktion – einbrin-

1 La pensée de droite aujourd’hui, I, Les Temps Modernes, Mai 1955.


Die Zukunft der Revolution 411

gen, der jenen Faktoren, welche die marxistische Analyse be-


rücksichtigte, nicht vergleichbar ist, die von Marx beschriebenen
Antagonismen, und bringen sie die Marxisten zum ersten Mal zu
einem prinzipiellen Pazifismus? Wir wissen es nicht genau. Aber
diese Fragen sind nicht so entscheidend. Wie sehr das Verschwin-
den Stalins, die Übernahme der Macht durch eine andere Gene-
ration, durch andere gesellschaftliche Kräfte und schließlich, in
der UdSSR und andernorts, die Entwicklung atomarer Techni-
ken auch ins Gewicht fallen mochten, die neuen Menschen dieser
neuen Zeit hätten weiterhin behaupten können, wie sie es einige
Monate lang getan haben, daß der Sozialismus gegen den Atom-
krieg gefeit sei. Wenn sie dies nun nicht mehr behaupten und
wenn sie entschlossen sind, dieser Gefahr Rechnung zu tragen,
dann müssen sie es auf irgendeine Weise verstanden haben, die
Revolution mit diesen äußeren Widersetzlichkeiten zu konfron-
tieren. Nicht nur in einigen sensationellen Tatsachen, sondern
in den Berührungen des Regimes mit dem Außen und in seiner
Entwicklung muß man den Ursprung der neuen sowjetischen
Politik suchen.
Nun sind wir allerdings über diese Entwicklungen durchaus
im Bilde. Die universitären Umstände haben mir eine bemer-
kenswerte, noch unveröffentlichte Arbeit über die ostdeutsche
Geschichte nach 1945, geschrieben von Benno Sarel, zur Kennt-
3 nis gebracht.2 Durch die Abspaltung Ost-Berlins gewinnt man
Einblick in das Innenleben des Systems. Selbstverständlich erklä-
ren die Ereignisse in Ostdeutschland nicht die neue Politik: Sie
sind ihr nachgefolgt und haben sie, in unmittelbarer Folge, eher
gebremst als in Gang gebracht. Sie sind jedoch ein bevorzugtes
Dokument der Begegnung zwischen dem sowjetischen Regime

2 Classe ouvrière et nouveaux rapports de production dans les entrepri-

ses propriété du peuple de la République démocratique allemande (d’après


les sources officielles). Der Autor gestattet mir liebenswürdigerweise, auf
seine Analysen und die Fakten, die er zusammengetragen hat, Bezug zu
nehmen – selbstverständlich vorbehaltlich der Gesamtinterpretation, die
er von ihnen geben will.
412 Gelegentliche Äußerungen

und einem Land mit der einst vertretenen Kultur der Politik und
der Arbeiter. Sie erhellen das Problem der Beziehungen zum Au-
ßen, dem die neue Politik entgegentreten will, und geben folglich
vielleicht die Bedeutung dieser Politik innerhalb der Geschichte
der russischen Revolution wieder.

I 4

Bevor wir zu den Fakten übergehen, wollen wir uns fragen,


woran man erkennen kann, wie es um eine marxistische Re-
volution steht. Das Wesentliche der revolutionären Politik liegt
in der Beziehung von Proletariat und Partei. Das Proletariat
ist die Negation und die lebende Kritik am Kapitalismus. Die
geschichtlich revolutionäre Maßnahme kann jedoch nicht der
einfache, direkte, unmittelbare Ausdruck der Gedanken oder der
Wünsche des Proletariats sein. Dieses wird nur dann zu einem
geschichtlichen Faktor, der in der Lage ist, die bestehende Ge-
sellschaft zu revolutionieren und von ihr ausgehend eine neue
anzuregen, wenn die Partei ihren ›spontanen‹ Kampf korrigiert,
erhellt und zu einem politischen Kampf weiterentwickelt, wenn
sie ihn auf die Ebene des gesellschaftlichen Ganzen überträgt,
mit dem sie sich messen muß. Das Proletariat, das keine Güter,
keine Interessen, beinahe keinen positiven Zug besitzt, ist gerade
dadurch bereit für eine universelle Rolle: Es ist ihm geradezu na-
türlich, keine Sekte oder Bande zu sein und die Errichtung der
Gesellschaft von unten aus neu zu beginnen. Es ist an sich Re-
volution. Aber dies weiß es zunächst nicht und kennt weder die
Mittel noch die Wege, weder die Episoden noch die Institutionen,
durch die sich das ausdrücken sollte, was Marx das ›Geheimnis
seiner Existenz‹ nannte. Es ist die Partei, die seine Revolte in eine
positive und langfristige Aktion verwandelt. Philosophisch aus-
gedrückt: Die Partei geht über die Revolte des Proletariats hin-
aus, sie verwirklicht sie, indem sie sie als unmittelbare Revolte
zerstört, sie ist die Negation dieser Negation, oder mehr noch:
Sie ist ihre Vermittlung, sie bewirkt, daß die negierende Klasse zu
einer begründenden Klasse und schließlich zu einer klassenlosen
Die Zukunft der Revolution 413

Gesellschaft wird. Diese philosophische Sprache ist weit davon


entfernt, überflüssig zu sein: Sie ist gewissermaßen die algebra-
ische Formel der Revolution, sie gibt von ihr in aller Strenge den
abstrakten Umriß und kommt auf denkbar genaueste Weise in
der Praxis zum Ausdruck. Es wird dann eine Revolution geben,
wenn die Partei das Proletariat erzieht, während das Proletariat
der Partei Leben verleiht. Ein autoritärer Apparat, in dem das
Proletariat nicht lebendig wäre, und eine Partei, die jedem Hin
und Her des Proletariats aufgeschlossen wäre, sind gleicherma-
ßen ausgeschlossen.
Die revolutionäre Aktion beruht auf jenen beiden Prinzipien,
daß in letzter Instanz die Partei immer Recht hat, und daß man in
letzter Analyse niemals gegen das Proletariat im Recht sein kann.
Um diese beiden Prinzipien zur selben Zeit beachten zu können,
muß die revolutionäre Aktion eine Wechselbeziehung zwischen
der Partei und dem Proletariat sein, es bedarf einer Partei, welche
die Kritik der Proletarier akzeptiert, solange es sich nicht als eine
zweite Macht, Clique oder Fraktion konstituiert – und einem
Proletariat, das die Partei kritisiert, aber auf loyale, brüderliche
Weise, als sei sie sein eigenes politisches Sprachrohr, und nicht
etwa eine andere Partei oder ein Rivale; kurz gesagt, es bedarf
einer Kritik, die eine Kritik seiner selbst oder eine Selbstkritik
wäre. Man kann den Zustand einer Revolution verstehen, kann
begreifen, an welchem Punkt ihrer Geschichte sie sich befindet
und wo sie hingeht, wenn man untersucht, wieviel Vermittlung
sie enthält, deren Formel wir gerade in Erinnerung gerufen
haben. In diesem Zusammenhang sind die Fakten, die B. Sarel
zusammengetragen hat, wertvoll. Sie stellen außer Zweifel, daß
die ostdeutsche Gesellschaft weit davon entfernt ist, homogen
zu sein oder harmonische Produktionsverhältnisse aufzuweisen.
Selbst in den ›volkseigenen‹ Betrieben reichen verschiedene Po-
sitionen in der Produktion aus, um eine Abkapselung, Spannun-
gen, Bündnisse und Umkehrungen von Bündnissen zu schaffen.
Wir haben es hier mit einer keineswegs verbürgten Geschichte
des Regimes zu tun, der gegenüber die Partei eher wie eine äu-
ßere Kontrollinstanz erscheint. Diese Feststellungen sind nur für
414 Gelegentliche Äußerungen

denjenigen neu, der sich von der Revolution und von der Volks-
demokratie eine vollkommen theoretische Idee bildet. Mangels
ausreichender Informationen stehen wir jedoch beinahe alle an
jenem Punkt, und das größte Verdienst einer Arbeit wie der von
B. Sarel besteht darin, die Fragen so zu stellen, wie sie sich vor
Ort stellen.

1) Die Betriebsleiter

Zunächst einmal gibt es eine relative Autonomie der Betriebslei-


ter. Zur selben Zeit, in der man das Prinzip der Mitbestimmung
der Arbeiter aufstellte, präzisierte man es dahin, daß die neue
Verwaltung, »insofern als sie das Volk repräsentiert […] die Auf-
gabe hat, Pläne aufzustellen.«3 Die Initiative der Arbeiterschaft
konnte nur darin bestehen, die besten Mittel zu finden, um die
Projekte der Leitung zu unterstützen. »Man gewöhne sich end-
lich«, schreibt das Neue Deutschland vom 11.3.1950 voller Unge-
duld, »an jene Idee, daß die Verantwortung für die Normen der
Produktion der Leitung zufalle […] Die Aufgabe der Gewerk-
schaften ist es, die Arbeiter mit einem neuen Bewußtsein, mit ei-
ner neuen beruflichen Qualifikation auszustatten.« Andererseits
sind die neuen Betriebsleiter nur in den wenigsten Fällen ehe-
malige Arbeiter. Den Zahlen zufolge, die Ulbricht 1947 angibt,4
zählen zu ihnen, auf die gesamte Zone bezogen, 21,7% Arbeiter,
30,7% Angestellte, 17,8% Ingenieure, 23,6% Kaufleute und 6,2%
ehemalige Direktoren. Ab 1951–1952 wird der Zugang der Arbei-
ter zur Betriebsleitung noch weiter verlangsamt.
Der Leiter gehört der Partei an. Dennoch kommt es vor, daß
»die Leitung die Bilanzen fälscht, ihre Gewinne geheim hält und
mehr Rohstoffe fordert, als sie benötigt […] Sie hat ihren eige-
nen Investitionsplan«5 – dergestalt, daß eine Anweisung vom Juli

3 Neuaufbau der deutschen Wirtschaft, Berlin, 1946, S. 10.


4 Protokolle des 2. Parteitages, Berlin, 1947, S. 321.
5 Benno Sarel, op. cit., S. 66 und 67, Verweis auf Volksbetrieb, Januar

1949, Juli 1950, Tägliche Rundschau, 31.3.1949, 25.2.1950, etc.


Die Zukunft der Revolution 415

1949 in den volkseigenen Betrieben einen obersten Buchprüfer


vorsehen wird, der die Betriebsleitung kontrolliert, und nach Juni
1953 wird man in den Statuten der Partei die Vormachtstellung
des parteieigenen Betriebsausschusses gegenüber der Leitung
festschreiben.
Die relative Autonomie der Betriebsleiter wirkt sich manchmal
zum Nutzen der Arbeiter gegen die Partei aus. Auf der Konferenz
der verstaatlichten Fabriken Brandenburgs, die am 12.8.1949
stattfand, widersetzen sich die Betriebsleiter einer Erhöhung
der Normen, wie sie die Aktivisten vorgeschlagen hatten. Dann
wieder verläuft die Trennlinie zwischen den Arbeitern und der
Leitung.
»In der Betriebsgruppe findet man immer die ›Herren‹ der
Betriebsleitung, der Bezirksleitung oder der Leitung irgendeines
anderen Bereiches, die untereinander diskutieren; jene, die im
Umgang mit Worten nicht geübt sind, können an der Diskussion
nicht teilnehmen […] Manchmal werden Genossen in Leitungs-
positionen von ihren eigenen Genossen wie eine Art höhere Au-
torität angesehen, die man nicht vertrauensvoll und offen aufsu-
chen kann. Sie denken an das Sprichwort: Wenn du nicht gerufen
wirst, geh nicht zu deinem Fürsten.«6
Der gesellschaftliche Abstand wird durch das unterschiedliche
Gehalt unterstrichen, das bei einem wichtigen Betriebsleiter bis
zu fünfzehntausend Mark im Monat betragen kann.

2) Die Techniker

Der Antagonismus zwischen den Arbeitern und den Technikern


verstärkt sich ab den Jahren 1951–1952, das heißt ab dem Beginn
der Planung. Er folgt also jenem Antagonismus von Arbeitern
und Betriebsleitung, da die alten Techniker, die zunächst zö-
gerlich waren, oft durch die Planung an das Regime gebunden

6 Neues Deutschland, 13.8.1949.


416 Gelegentliche Äußerungen

werden. Am 25. April 1951 schrieb das Zentralkomitee die Er-


stellung individueller Verträge für die technische Intelligenzija
vor und erklärte dem Egalitarismus den Krieg.7 Im Dezember
1951 verlangte das Sekretariat des Gewerkschaftsbundes für die
Intelligenzija angemessene Restaurants und Clubs.8 Etwa zu die-
sem Zeitpunkt wird die Verwendung des Begriffs Intelligenzler
auf die ganze Führungsschicht der Fabrik ausgeweitet. Manche
Arbeiter sagen: »Wir schreiten der Bildung einer Klasse von In-
telligenzlern und Aktivisten entgegen.«9 Ein Arbeiter aus einer
Fabrik in Stralsund spricht von einer Diktatur der Intelligenzija.10
Weihnachten 1951 sabotieren vier Parteimitglieder, Arbeiter der
Werft in Warnemünde, die den Intelligenzlern ihres Unterneh-
mens vorbehaltene Feier, indem sie das Kabel durchtrennten,
das den Tanzsaal mit Strom versorgte.11 Ein Arbeiter sagte auf
einer Betriebsgewerkschafterversammlung: »Man will, daß wir
kameradschaftliche Beziehungen zur Intelligenzija pflegen.
Warum also sollten wir unsere Mahlzeiten getrennt einneh-
men?«12 Diese Äußerungen und diese kleinen Fakten sollen nicht
als die Wahrheit über Ostdeutschland gelten. Die Tatsache, daß
sie in der offiziellen Presse erschienen sind, reicht jedoch, um zu
zeigen, daß sie hier nicht völlig undenkbar sind.

3) Die Arbeiterelite

Ab 1949 kommt es vor, daß ein Aktivist in den Minen oder in


der Schwerindustrie tausend Mark im Monat verdient, sechs
mal mehr als seine Genossen mit dem niedrigsten Gehalt. Die
wichtige Beteiligung der Frauen und der jungen Arbeiter an der

7 Dokumente der SED; Bd. III, S. 479.


8 Neues Deutschland, 22.12.1951.
9 Ebd., 4.6.1952.
10 Ebd., 31.7.1952.
11 Ebd., 4.5.1952.
12 Ebd.
Die Zukunft der Revolution 417

Aktivistenbewegung13 und die hartnäckige14 Opposition, mit der


sich die erwachsenen Arbeiter, beispielsweise unter den Eisen-
bahnern, der Einstellung von Frauen entgegenstellen, scheinen
wohl zu zeigen, daß der Aktivismus zunächst nur in den am
wenigsten reifen Elementen der Arbeiterklasse Erfolg hatte. Die
Parteizeitschrift Neuer Weg von Dezember 1950 beschreibt eine
thüringische Spinnerei, wo von hundertachtzig Mitgliedern der
Partei nur zweiundzwanzig Frauen sind, wo aber andererseits die
Arbeiterinnen die Mehrheit der Aktivisten bilden.15
Selbst wenn man die Vorteile nicht berücksichtigt, die den Sta-
chanowisten gewährt wurden, so hat sich die Ausdifferenzierung
der Gehälter seit dem Beginn der Planung doch verstärkt.16 »Im
Jahr 1950 staffeln sich die Stundenlöhne der Arbeiter zwischen
einem Maximum von 1,95 Mark in den Kohlenbergwerken bis zu
einem Minimum von 0,59 Mark in der Spielzeugindustrie.«17
In ein und derselben Branche betragen die Unterschiede zwi-
schen den Kategorien I und VIII bald rund 100%.
Diese auf administrativem Wege festgelegte Skala der Löhne
will sagen, daß die Planung eine Arbeiterelite an sich bindet und
gewissermaßen ihr Proletariat heranzieht. Dies ist auch der Sinn
der Wettbewerbsbewegung, die sich im selben Augenblick ent-
wickelt. Alexander Stark schreibt im August 1949: »Die Wettbe-
werbe wurden von oben angeordnet […] In den Betrieben hat
man kaum über die Bedeutung des Wettbewerbs diskutiert. In
den Reihen unserer Verantwortlichen ist die Zahl derer groß,
die Angst hatten, mit den Arbeitern zu diskutieren. Für sie, die

13 Informationsmaterial für Gewerkschaftsfunktionäre, August 1949,

Berlin FDGB.
14 Neues Deutschland, 20.1.1950.
15 B. Sarel, op. cit., S. 80.
16 Die breite Fächerung der Löhne wird nach 1953 wieder zurückge-

nommen werden.
17 B. Sarel, S. 109. Die Ungleichheit zwischen den verschiedenen Indu-

striebranchen ist ein Mittel, die Arbeitskräfte auf die wesentlichen Sekto-
ren auszurichten.
418 Gelegentliche Äußerungen

Betriebsgewerkschaftsleitung, war es bequemer, mit einer an-


deren Gewerkschaftsleitung einen vermeintlichen Wettbewerb
zu beschließen, statt ihre eigenen Kollegen zu mobilisieren und
auf diese Weise eine wirkliche Wettbewerbsbewegung zu ent-
wickeln.«18
Im März 1950 sagt H. Warnke: »[…] Wir müssen die unbe-
streitbare Stagnation der Wettbewerbsbewegung überwinden
[…] Die Wettbewerbe zwischen Betrieben können nur dann
eine Krönung sein, wenn es an der Basis, in den Werkstätten,
eine Massenbewegung gibt, die wirklich ernsthaft für den Wett-
bewerb im Innersten des Betriebes selbst eintritt (Zwischenrufe:
Sehr richtig!).«19
Auf der Gewerkschaftskonferenz von 1950 trat der Rektor der
zentralen Gewerkschaftsschule, Duncker, ein Mann von acht-
undsiebzig Jahren, mit einem Beitrag in Erscheinung, der die
Ernsthaftigkeit und den ideologischen Reichtum der früheren
deutschen Arbeiterbewegung in Erinnerung rief: »[…] Für uns
ist wichtig«, sagt er, »daß es sich vor allem um einen neuartigen
Wettbewerb handelt, der sich von der ›Konkurrenz‹ einer über-
holten Zeit unterscheidet, über die wir leider noch nicht hinaus-
gekommen sind […] Es scheint so, als könne sich, ausgehend von
einem kurzsichtigen Wettbewerbsgeist, von einem individuali-
stischen Wettbewerbsgeist, ein Egoismus entwickeln, der dann,
als ein Betriebsegoismus, dazu führt, die Produktionsmethoden
[…] wie ein Betriebsgeheimnis für sich zu behalten.«20 Dieser
Beitrag wurde mit keiner Antwort erwidert.
Im Zusammenhang mit der Festlegung der Normen erscheint
der Widerstand der Arbeiterschaft gegenüber der Planung von
oben gut und die von den Aktivisten gespielte Rolle des Prole-
tariats maßgeschneidert. Zur selben Zeit, in der sich eine Bewe-
gung für die Selbsterrichtung der Normen herausbildet und die
Aktivisten beschließen, ihre Normen immer dann eigenständig

18 Berliner Beschlüsse, S. 21.


19 Berliner Beschlüsse, S. 8.
20 Ebd., S. 75.
Die Zukunft der Revolution 419

zu erhöhen, wenn sich die Möglichkeit bietet (was ihnen oft den
Titel von Normbrechern, Lohnverderbern und Streikbrechern ein-
bringen wird), richtet man ein Zentrum für technisch begründete
Arbeitsnormen ein, das dazu dienen soll, Zeitnehmer auszubil-
den. Die Selbsterrichtung der Normen gab immer wieder Anlaß
zu Mißbrauch, indem die Arbeiter die Normen zu tief ansetzten
und sich auf diese Weise Prämien zur Lohnerhöhung für eine
mittelmäßige Produktion verschafften, ein Verfahren, das un-
ter dem Namen Normenschaukelei bekannt wurde. Andererseits
hatten die Zeitnehmer in Deutschland bereits unter Hitler ge-
arbeitet; es waren oft dieselben Männer, die man wieder in der
Werkstatt erscheinen sah, und die Rationalisierung wurde nach
denselben, gleichwohl vom Taylorismus selbst aufgegebenen
Prinzipien gesteuert: »Die Messung der ›Elementarzeiten‹ jeder
einzelnen Geste in einem Zyklus von Bewegungen, der eine Ar-
beit stereotyp werden läßt und die lebendige und individuelle
Beziehung zerstört, die sich zwischen Mensch und Maschine
einstellen soll.«21 Es ist wahr, daß die ›technische‹, ›objektive‹
oder ›wissenschaftliche‹ Bestimmung der Normen bis 1951 nur
als ein Argument unter vielen präsentiert wurde, ebenso wie
das Beispiel der Aktivisten. Die Arbeiter waren eingeladen, die
Normen im Rahmen einer Gewerkschafterversammlung zu be-
stätigen. Die Versammlung stand jedoch »unter dem Vorsitz des
Repräsentanten eines höheren Komitees […] Die Arbeiter, die
nicht gewohnt waren, in der Öffentlichkeit das Wort zu ergreifen,
sorgten ihrerseits nur für Unterbrechungen […] Im Augenblick
der Abstimmung fragte der Vorsitzende zunächst nach den Ge-
genstimmen, die durch ein Heben der Hand anzuzeigen seien.«22
Die Festlegung der Normen wurde zu einer ideologischen23 oder
politischen Angelegenheit. 1951 gewinnt die autoritäre Norm-
erhöhung aufgrund von Zeitnahme gegenüber der Selbsterrich-
tung der Normen die Oberhand. 1952 kehrt man zur freiwilligen

21 B. Sarel, S. 121–122.
22 B. Sarel, S. 124.
23 Neues Deutschland, 8.6.1949.
420 Gelegentliche Äußerungen

Normerhöhung zurück. Man weiß, daß der Aufstand vom Juni


1953 stattfand, als die Macht den Arbeitern des Gebäudes an der
Stalinallee auf autoritäre Weise neue Normen auferlegen wollte.
Ob man nun an das ›subjektive‹ Argument der politischen Loya-
lität appelliert oder an den ›objektiven‹ Zwang der Zeitnahme,
in beiden Fällen läßt man sich nicht von den Anforderungen der
Tätigkeit an die Arbeiter leiten, und in beiden Fällen ist es offen-
sichtlich, daß sich das Proletariat entzieht.

4) Das Proletariat und seine Organisationen

Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Spaltung, dieser


Spannungen, kann man vermuten, daß nicht das Proletariat die
Triebfeder des politischen und gewerkschaftlichen Apparates ist,
der seinerseits eher der Ort eines Gesellschaftskampfes ist. In der
Tat zeigt B. Sarel, wie in der Gewerkschaft die Verantwortlichen
der Basis (mitunter auch jene der Partei) die Kampagne zur Er-
höhung der Normen bremsen. Es gibt »Betriebsparteigruppen,
die um so niedrige Normen wie möglich feilschen.«24 Manch ein
Gewerkschaftsvertreter erklärt: »Ich bin gegen den Stachanowis-
mus. Wir anderen Arbeiter wissen, daß auch der Kapitalismus
uns die Möglichkeit gab, die Produktivität der Arbeit zu steigern,
daß er uns aber in der Folge mit der Erhöhung der Normen in
die Enge trieb.«25
Durch die Umwandlung der Arbeitstrupps in Brigaden ver-
sucht die Macht, die Arbeiterklasse enger an die Produktion und
den Plan zu binden. Der Brigadier (der von der Betriebsleitung
unter Zustimmung seiner Genossen ernannt wird) gibt seiner-
seits zumindest ebenso den Druck der Arbeiter an die Leitung
weiter wie er den ›Druck von oben‹ an die Arbeiter weitergibt.
1951 werden die Betriebskollektivverträge, die eine Steigerung
der Produktivität sichern sollen, bei den Brigaden und Gewerk-

24 Neuer Weg, Juli-September 1949.


25 Tägliche Rundschau, 3.6.1949.
Die Zukunft der Revolution 421

schaften zur Diskussion gestellt. Die Diskussionen gelangen zu


keinem Ende: »Am 14. Oktober«, schreibt B. Sarel, »veröffentlicht
die zentrale Parteizeitung auf zwei Seiten einen selbstkritischen
Artikel über die Frage der Betriebsverträge. Der Artikel benennt
die unmittelbar Verantwortlichen für die herrschende Spannung
in den Fabriken: die Gewerkschaftsfunktionäre. Nachdem sie auf
diktatorische Weise die Verträge durchgesetzt haben, fehlt diesen
Funktionären nun der Mut, sich vor den Arbeitern zu zeigen.
Wenn sie vor ihnen auftreten, so ›laufen sie geduckt wie schüch-
terne Waisenkinder, darauf bedacht, nichts zu zerbrechen‹.«26
Werden die Gewerkschaften zu Sündenböcken, und wird die
Krise auf ihre Kosten bewältigt werden? Nein. In einer zweiten
Episode sind es die Gewerkschaften, die Kritik an der Partei
üben. »Der Rat des Gewerkschaftsbundes veröffentlicht seiner-
seits (am 26.10.1951) ein Kommuniqué, in dem er seinen Teil der
Verantwortung übernimmt, in dem er aber auch zum Gegenan-
griff übergeht, indem er nachweist, daß sich auch die Parteifunk-
tionäre in einer ganzen Reihe von Fabriken ihrerseits autoritär
oder abweichlerisch verhalten haben, indem sie den Widerstand
auf die Verträge gestützt oder ihn sogar gelenkt haben.«27 »Bei
Leuna, bei Zeitz, bei Karl Marx Babelsberg und andernorts […]
gab es Parteimitglieder, die im Laufe der Diskussion Unterschrif-
ten gegen den Vertrag und für den Rücktritt der Betriebsgewerk-
schaftsleitung sammelten. Bei Mannesmann in Leipzig erhob
sich der Parteisekretär gegen den Branchenkollektivvertrag. Und
leider handelt es sich hierbei nicht um Einzelfälle […] Viele Mit-
glieder der Betriebsgewerkschaftskomitees, die im vorangegan-
genen Jahr gewählt worden waren, waren (zum Zeitpunkt des
Vertragsabschlusses) nicht mehr im Amt. Sie waren durch die
Leitung der Betriebsparteigruppen von ihrer Funktion entbun-
den […] und durch andere Genossen ersetzt worden, ohne daß
irgendeine Wahl stattgefunden hätte […] Diese nicht gewählten
Mitglieder der Betriebsgewerkschaftsleitungen erwiesen sich als

26 Neues Deutschland, 14. Okt. 1951.


27 B. Sarel, S. 158.
422 Gelegentliche Äußerungen

völlig unfähig, die Arbeiter zu überzeugen […] Sie haben Angst,


sich vor dem Personal zu zeigen, das sie fragen könnte, woher sie
kommen. Es sind insbesondere diese Betriebsgewerkschaftslei-
tungen, die sich dafür einsetzten, die Verträge mit bürokratischen
Mitteln durchzusetzen […]«28
Die Polemik endet mit einem Kommuniqué des Politbüros,
das den Gewerkschaften mit Strafe droht, ohne indes eine Säu-
berungsaktion anzukündigen. Ein Teil der ständigen Gewerk-
schaftsvertreter auf den höheren Ebenen wird lediglich ebenso
dauerhaft in die Betriebskomitees geschickt. Diese wechselsei-
tigen Anschuldigungen, die jedermann einbeziehen, entlasten
auch jeden einzelnen ein wenig. Dennoch braucht man nicht
anzunehmen, daß sie aus einem durchdachten Plan hervorgin-
gen, und man darf nicht glauben, daß wir es hier nur mit einer
Parodie der Polemik zu tun haben. Nein. In einer gleichzeitig au-
toritären und volksnahen Gesellschaft sind die Spannungen nicht
gekünstelt, sie nehmen vielmehr, auch spontan, die ›verantwort-
liche‹ Sprache der Selbstkritik oder des brüderlichen Verweises
an. Die entgegengesetzten Instanzen sind im Fehler und in der
Unschuld solidarisch, da die eine wie die andere die von oben
gekommene Bewegung in die Massen haben einbringen müssen
und da ihnen dies nicht gelungen ist.

II 5

Diese wenigen Fakten erlauben es, die Natur des Regimes und
den gegenwärtigen Zustand der Revolution zu erahnen. Ange-
sichts der Widersprüche und Spannungen, wie man sie in einer
Gesellschaft wie der Ostdeutschlands feststellt, kommt die anti-
kommunistische Polemik – und kommen auch gewisse Marxi-
sten – zu dem Schluß, das System sei eine erneute Ausbeutung
des Proletariats. In unserem Sinne – und B. Sarel scheint der-
selben Meinung zu sein – kann sich das System weder in sei-

28 Neues Deutschland, 26.10.1951.


Die Zukunft der Revolution 423

nen Absichten und ›subjektiv‹, noch in seinen vorhersehbaren


Ergebnissen und ›objektiv‹ selbst definieren als eine Umlage auf
die Arbeit aller zugunsten weniger. Solche Umlagen gibt es, aber
wenn sie zu einer Entwicklung der Produktion führen, dann wird
diese gesteigerte Produktion, wenn nicht nach dem Prinzip der
Gleichheit, so doch zumindest zum Nutzen des Proletariats ver-
teilt, da es auf seiten einer privaten gesellschaftlichen Macht keine
Möglichkeit der Anhäufung gibt. Mit der Abschaffung des Eigen-
tums von Produktionsmitteln, bleibt das Volksprinzip der Partei
erhalten: Es ist stets das Proletariat, an das sich die Partei richtet.
Es ist außergewöhnlich, daß sie reinen Zwang anwendet. Selbst
wenn sie willkürlich gegen die Gewerkschaftsinstanzen vorgeht,
so ist es letztlich doch die Wahl, auf die sie zurückgreifen muß.
Alles, was die Partei unternimmt, um das Proletariat zu hinter-
gehen, verwandelt sich für das Proletariat in Mittel, Druck auf
sie auszuüben. Alle Informationen, die B. Sarel zusammenstellt,
stammen aus Presseberichten und offiziellen Publikationen. Wie
er tiefgründig bemerkt, enthält das Regime einen Liberalismus
›sui generis‹.29 In dem Augenblick selbst, in dem die Aktivistenbe-
wegung, die Wettbewerbsbewegung und die Akkordarbeit dieses
mustergültige Proletariat, wie es das Regime beschwört, von den
Massen trennen, beschäftigt man sich mit den Parteilosen. 1949
hatte der prozentuale Anteil von Arbeitern, die in Ferienheimen
aufgenommen wurden, nur 29% betragen. 1951 sind es 51%.
Hunderttausend Personen im Jahr 1948, dreihundertfünfund-
siebzigtausend im Jahr 1951 und fünfhunderttausend im Jahr
1952 verbringen ihren Urlaub in Ferienheimen.30 Man bekämpft
ausdrücklich die Tendenz, die Masse der Parteilosen zu bevormun-
den.31 Es ist folglich so, daß diese Tendenz existiert. Es ist aber
auch so, daß sie offiziell nicht existieren darf.
Das System ist zwischen seinen beiden Prinzipien geteilt (die
Partei hat immer Recht, und: Man kann nicht gegen das Proleta-

29 B. Sarel, S. 71.
30 Ebd., S. 155.
31 Neues Deutschland, 25.3.1950.
424 Gelegentliche Äußerungen

riat im Recht sein), weil der Austausch zwischen Partei und Pro-
letariat, die revolutionäre Vermittlung, nicht funktioniert haben.
Es ist die gesellschaftliche Form, die erscheint, wenn die Revolu-
tion nicht ›greift‹. Die Partei behauptet um so dringender, mit
dem Proletariat identisch zu sein, als das Proletariat sich weigert,
dies anzuerkennen. Man könnte beinahe sagen, ihre Macht und
ihre Privilegien seien die Form, welche die proletarische Revolu-
tion annimmt, wenn sie vom Proletariat angefochten wird. Selbst
dann sind Macht und Privilegien folglich nie ein göttliches Recht.
Das Regime hat kein einzigartiges Wesen, es besteht einzig und
allein im Hin und Her zwischen seinen beiden Prinzipien. Bald
zieht man in Betracht, mit allen Mitteln Disziplin zu erzwingen,
bald kehrt man zurück zur Beratung und zur Diskussion. Das
Regime würde auseinanderbrechen, wenn es einer der beiden
Tendenzen bis zum Ende folgen würde. Der Zickzack oder die
Spiralbewegung sind sein Gesetz. Es verfügt über kein anderes
Mittel, seinen Fortbestand zu sichern. Es reicht nicht zu sagen,
seine Politik sei widersprüchlich: In Wahrheit gibt es nicht ein-
mal zwischen den Phasen der Entspannung und den Phasen der
Spannung einen Widerspruch. Wenn sich die Münder öffnen,
wenn man zur Selbstkritik übergeht, dann besiegelt diese ›Libe-
ralisierung‹ erneut die Einheit von Proletariat und Partei, sie glie-
dert das Proletariat wieder ein, sie reiht es ein in den Kader und
bereitet es auf eine neue Periode der ›harten‹ Politik vor. Um-
gekehrt ist die Säuberung selten eine reine Repression: Sie stellt
die Vertreter bestimmter Widerstandsbewegungen kalt, aber man
trägt den von ihnen repräsentierten Widerstandsbewegungen
Rechnung, man greift sogar oft ihre Politik auf. Eine wesentliche
Zweideutigkeit, bei der die Freiheit der Autorität zugute kommt,
bei der die Repression die von ihr unterdrückten Widerstands-
bewegungen authentifiziert, bei der die Kritik eine Aussöhnung
ist, die Verurteilung eine Rechtfertigung, bei der sich alles zum
Ausdruck bringt, jeder Ausdruck jedoch indirekt, umgekehrt
und stillschweigend ist, bei der die Wahrheit selbst einen Aus-
druck von Falschheit annimmt, weil man hinter ihr unmittel-
bar drohend die andere Wahrheit spürt, bei der die Lügen selbst
Die Zukunft der Revolution 425

an das erinnern, was das Regime hätte sein sollen, was es sein
wollte …
1950 und 1951 schreibt das Neue Deutschland: »Was die Partei
sagt, ist wahr«, dann: »Die Partei hat immer Recht«, und schließ-
lich: »Was die Partei sagt, ist das einzig Wahre.«32 Am 21. Juni
1953, kurz nach dem Aufstand, nimmt das Zentralkomitee der
Partei eine Entschließung an, die folgendes besagt: »Wenn die
Massen der Arbeiter die Partei nicht verstehen, dann sind nicht
sie die Schuldigen, sondern die Partei.«33 Und Grotewohl erklärt
zwei Tage später vor den Arbeitern der Fabrik Karl Liebknecht:
»Die Partei erfreut sich nicht mehr der Liebe, der vollkomme-
nen Zuneigung der großen Massen an Werktätigen. Wir selbst
sind schuld daran […] Die Partei hat die Aufgabe, diesen Irr-
tümern, diesen Versuchen, den Massen Befehle zu erteilen […]
und sie wie Untergeordnete zu betrachten, radikal ein Ende zu
bereiten.«34 Der Arbeiter Bremse von Siemens-Plania erklärt ge-
genüber Rudolf Herrnstadt, der Mitglied des Zentralkomitees
und Chefredakteur des Neuen Deutschlands ist: »Ich bin stolz auf
den 17. Juni. Am 17. Juni haben die Arbeiter gezeigt, daß sie eine
Kraft sind, daß sie einen Willen haben.«35 Aber dies ist nicht al-
les: Am 24. Juli wird Herrnstadt aus dem Zentralkomitee ausge-
schlossen, und Grotewohl verlangt, man möge in der Partei dem
›Geist der Bußfertigkeit‹ ein Ende bereiten. Man ›macht weiter‹,
6 wie es in Huis Clos heißt … Was kann man der Partei vorwer-
fen? Was hätte sie nach allgemeinem Dafürhalten tun sollen? Alle
Tendenzen sind in diesen Fragen vertreten, alle Schwierigkeiten
kommen hierin zum Ausdruck. »Zwischen Partei und Klasse«,
sagt Ulbricht, »existiert beinahe kein Unterschied, keine Grenze.
Alle Argumente, die unter den Arbeitern oder den Werktätigen
in Umlauf sind, können auf den Versammlungen der Mitglie-

32 Neues Deutschland, 17.3.1950, B. Sarel, S. 143–144.


33 Ebd., 23.6.1953.
34 Ost-Berliner Radio, 23.6.1953. Die Presse, so bemerkt B. Sarel, wird

nur Auszüge aus der Rede Grotewohls veröffentlichen (S. 182).


35 Neues Deutschland, 26.6.1953.
426 Gelegentliche Äußerungen

der oder der Verantwortlichen der Partei ebenso vernommen


werden […] Die Partei hegt dieselben Bedenken wie die Arbei-
terklasse oder die Werktätigen.«36 Sie diskutiert aufrichtig und
entscheidet sich für das Beste. Was erwarten die Arbeiter, damit
sie sich in ihr wiedererkennen? Sie erwarten Zeichen: daß die
Produktionssteigerung nicht durch den Taylorismus, die Kon-
kurrenz oder eine vermehrte Anstrengung erreicht werde und
daß sich das Volkseigentum in den Arbeitsweisen zeige. Für die
Partei ist es dennoch einfacher, sich für das Proletariat zu halten
als für das Proletariat, sich in der Partei zu vergegenständlichen.
Sicherlich ist das Regime unwiderlegbar: Man kann immer be-
haupten, die Antagonismen und die Sezession der erwachsenen
Arbeiter seien provisorisch, eine neue (von ihm herangezogene)
Generation werde sich im System wiedererkennen. Man kann
dies insbesondere dann behaupten, wenn man in der Zukunft
lebt, als führende Kreise. Wenn man nur seine Gegenwart hat,
wie die anderen, so kann man stets antworten, daß ein Proletariat
nach dem Bild des Regimes eine Minderheit sein werde, da die
Vorteile, die man ihm verschafft, es per Definition auszeichnen
werden, und daß die Arbeit der Frauen und der Jugendlichen
ein klassischer Notbehelf der Ausbeutungsgesellschaften sei. Das
Regime ist nur deswegen unwiderlegbar, weil es auch nicht be-
weisbar ist. Die Vermittlung zwischen Proletariat und Partei tritt
erst im Denken der Führenden ein, im Glauben der Jungen und
im Arrivismus der Elite. Ein Betriebsleiter ruft: »Kollegen, die
Spinnerei ist jetzt Volkseigentum […] Nun dient eure Arbeit dem
Volke […] Es muß euch eine Ehre sein, durch eure Arbeit dem
deutschen Vaterland zu dienen!« Der Autor fügt hinzu: »Einzelne
Lacher waren zu hören. Wirklich patriotische Worte waren der
Mehrzahl der Arbeiter fremd, insbesondere den Männern.«37
Dies liegt daran, daß man ihnen nicht zeigt, wie ihre Bedürfnisse
und Wünsche in sichtbare Institutionen übertragen werden. Es
liegt daran, daß man von ihnen zu glauben verlangt, der Betrieb

36 Ebd., 22.8.1948.
37 Helden der Arbeit, Berlin, Verlag Kultur und Fortschritt, 1951, S. 63.
Die Zukunft der Revolution 427

gehöre ihnen, durch eine namentliche Festlegung, da er keiner


Person mehr eigne – und es bliebe im Wettbewerb keine Spur
von Konkurrenz, in den technisch begründeten Normen keine
Spur von Taylorismus übrig. Anstelle der Vermittlung schlägt
man ihnen die Transsubstantiation vor …
Es ist also nicht angemessener, von einem ›proletarischen‹ Re-
gime zu reden, als von einem Regime der ›Ausbeutung‹. Jene,
die das Regime bilden und eine Zukunft darauf projizieren, kön-
nen in gutem Glauben sozialistisch denken. Jene, die es ertragen,
ohne es selbst zu bilden, und die folglich nicht dieselben Motive
haben, ihm eine absolute und abstrakte Zuneigung zu gewähren,
sehen außer in der Ideologie keine proletarische Zivilisation in
Erscheinung treten. Sauvy hat verschiedentlich geschrieben, es
gebe keine ökonomische Würdigung des Kommunismus und
seiner Leistungsfähigkeit, weil er dort, wo er ›nimmt‹, im voraus
mit einer grenzenlosen Aufopferung rechnet, mit einer Vermeh-
rung der Anstrengung, mit einem Fortschritt der Produktion
selbst ohne technischen Fortschritt (die ostdeutsche Presse hat
diese These vertreten), und daß man infolgedessen die Fort-
schritte der Produktion nicht den von ihm errichteten Produk-
tionsverhältnissen zugute halten kann: Sie gehen vielmehr auf
einen Heroismus zurück. Das System urteilt strenggenommen
nicht über sich selbst, man will es oder man will es nicht, es ist
bestenfalls der Wunsch, einer nicht stattgefundenen Vermittlung
Stärke zu verleihen. Worin es sicherlich neuartig ist. Aber es ist
nicht die Revolution, deren Theorie der Marxismus lieferte, nicht
die Produktion, die durch die Abschaffung der kapitalistischen
Produktionsverhältnisse von ihren Antagonismen befreit wäre.
Sicher ist, daß das System eine schnelle Entwicklung der neuen
Länder garantiert. Die Leistungsfähigkeit sinkt, wenn es, wie in
Deutschland, auf ein aus früheren Zeiten stammendes Proleta-
riat trifft, das Vergleiche anstellt, Beweise verlangt und sich nicht
ohne weiteres mit dem Betrieb identifiziert, weil es auch andere
Betriebe gesehen hat. B. Sarel übernimmt aus The Times Review
of Industry eine Tabelle über die industrielle Produktion in der
Tschechoslowakei, in Polen und in Ostdeutschland, die anhand
428 Gelegentliche Äußerungen

offizieller Angaben erstellt wurde. Man kann daraus klar er-


sehen, daß das System eine größere Übereinstimmung mit den
unterentwickelten Ländern aufweist.38 Sollte die Erfahrung der
UdSSR außerhalb ihrer Grenzen das System nicht gelehrt ha-
ben, daß man wissen muß, wann es aufzuhören und dem Teufel
seinen Anteil zu lassen gilt?

III 7

Die Entspannung, welche die UdSSR heute betreibt, ist nicht eine
jener zweideutigen Episoden, die ein erneutes Angehen der An-
gelegenheit vorbereiten. Eine Entspannung, die Tito Recht gibt,
könnte die jugoslawische Partei kaum wieder zur Disziplin brin-
gen. Es ist eine neue und beachtliche Tatsache, daß Malenkow,
der anläßlich der Frage des Atomkrieges Mißbilligung erfahren
hatte, nicht eliminiert wurde. Man kann also der Partei bezüglich
der Wahrheit voraus sein, ohne eine Gefahr für das Regime zu
sein? Man kann also anders sein, ohne ein Feind zu sein? Etwas
funktioniert nicht mehr in jenem Zusammenwirken von Repres-
sion und Selbstkritik, das wir beschrieben haben. Zwar ist die
Verminderung des repressiven Drucks progressiv, auch sie hat
ihre Pausen, ihre plötzlichen Sprünge, ihre Zweideutigkeiten,
aber diesmal scheint sie unumkehrbar zu sein. Überdies betrafen
die taktischen Entspannungen die sozialistischen oder christli-
chen Werktätigen. Bis heute war noch nie die Rede davon, eine
Entspannung gegenüber dem Kapitalismus zu erwägen. Zum er-
sten Mal gesteht das revolutionäre System ein, daß es nicht die
ganze Geschichte abdeckt. Vielleicht hat es durch sein Verlassen

38 Hier die Tabelle (in tausend Dollar, Preise von 1938):


1938 1947 1948 1949
⎯⎯ ⎯⎯ ⎯⎯ ⎯⎯
Polen 711 739 946 1.180
Tschechoslowakei 875 761 893 964
Ostdeutschland 2.162 1.020 1.280 1.500
Die Zukunft der Revolution 429

der Grenzen, speziell in Deutschland, gelernt, auch anderes zu


berücksichtigen. Dies ist auf jeden Fall der Sinn, den die neue
Politik im Licht der deutschen Episode annimmt.
Was wären also die Perspektiven? B. Sarel zieht eine sehr nüch-
terne Linie in die Zukunft, und zwar auf marxistische Weise. Es
gibt das Proletariat, das aus all seinen Erfahrungen lernt und
seinen Glauben bezieht. Indem es die Versuche, sich die Macht
zu erschleichen, seinerseits gegen die Macht richtet, nähert sich
das Proletariat, entgegen dem Anschein, der Betriebsführung
an. Über Enttäuschungen und Frustrationen hinweg entwickelt
es sich so, daß es wirklich die Rolle der führenden Klasse über-
nimmt, sei es zugunsten eines neuen revolutionären Vorstoßes,
oder sei es vielleicht sogar durch das Spiel der inneren Dynamik
des Systems. B. Sarel denkt weiterhin, die proletarische Zukunft
sei, sobald das Privateigentum abgeschafft sei, an der Tagesord-
nung. Sie ist von Privilegien und Widersprüchen verdeckt, aber
sie ist im gesellschaftlichen Kampf, den das Proletariat verfolgt,
gegenwärtig …
Dies bedeutet, die Existenz der Widersprüche, die derselbe Au-
tor so gut beschrieben hat, unerklärt zu lassen – oder aber, sie mit
recht allgemeinen und vagen Ursachen wie ›den Interessen‹ oder
›den Irrtümern‹ der Bürokratie zu erklären. Wenn die proleta-
rische Revolution in Rußland nur zur Planung übergehen und
eine Produktion organisieren konnte, indem sie einer ›Führungs-
schicht‹ Platz machte, dann geschah dies vielleicht auch deswe-
gen, weil die Planung von unten, die ›von unten angetriebene
Diktatur‹ und letztlich auch die proletarische Gesellschaft, in der
Proletariat und Partei eins sind, nichts als Phantasmen sind, und
weil es keine Vermittlung durch die Diktatur, keine vermittelnde
Diktatur, keine autoritäre geschichtliche Schöpfung gibt. Wie
sollte man sich nun, nachdem so gut beschrieben wurde, was
eine Volksdemokratie von einer proletarischen Revolution un-
terscheidet, nicht fragen, warum die proletarische Revolution in
Volksdemokratien endet? Wie könnte man die proletarische Re-
volution in der Zukunft der Volksdemokratien ansiedeln, wo sie
sich doch in der Vergangenheit dieser Demokratien befindet? Es
430 Gelegentliche Äußerungen

ist wahrscheinlicher, daß die Volksdemokratien und die UdSSR


selbst ihre Produktionsverhältnisse nicht durch eine neue revo-
lutionäre Anstrengung, sondern gerade durch die Entspannung,
durch Zugeständnisse an den Konsum und durch irgendeine
neue und vorsichtige Modalität einer ›formalen Demokratie‹,
durch irgendeine Berufung auf die Mystifikationen der Ideologie,
zu harmonisieren suchen …
Was man ernsthafter bewerten kann, ist die Auswirkung der
Entspannung auf die nicht-kommunistischen Länder. Für den
Augenblick scheint die im übrigen erstarrte Politik der westli-
chen Parteien von den Erfordernissen der internationalen Ent-
spannung beherrscht zu werden. In Frankreich setzt man die
verbale Opposition gegenüber der amtierenden Regierung fort,
aber die marokkanische Partei wird dem französischen Gouver-
neur einen Friedensplan unterbreiten, und die CGT schließt sich
bei ihren Bemühungen um die Wiederherstellung der Ruhe in
Saint-Nazaire den Maßnahmen der Regierung an. Die westlichen
Parteien werden nicht lange, bei Strafe einer inneren Krise, al-
les der internationalen Entspannung opfern können. Sie werden
sicher dazu gebracht werden, eine eigene Politik zu definieren,
wenn selbst die UdSSR ihren Wünschen nicht entgegenkommt,
indem sie ihnen feierlich ihre Unabhängigkeit zurückgibt. Die
Studie Vlahovitchs, die in Belgrad erschienen ist und die endgül-
tige Auflösung des Kominform und die Errichtung einer neuen
Internationalen ohne disziplinierende Anbindungen vorschlägt,
kann schwerlich den Sowjets angelastet werden. Nach dem Be-
such der sowjetischen Minister in Belgrad kompromittiert sie die
Sowjets zumindest ein wenig.
Wenn dies etwas anderes ist als eine Träumerei, dann wäre die
neue sowjetische Politik kein Kapitel der Geschichte der prole-
tarischen Revolution, sondern die Entscheidung, die ›Diktatur
des Proletariats‹ auf den geographischen Bereich zu begrenzen,
in dem sie existiert, und sie wäre für den Rest der Welt die Aner-
kennung anderer Formen des Gesellschaftskampfes und die Ein-
ladung, diese Formen zu bestimmen oder sie zu erfinden, ohne
die Volksdemokratien zum Modell zu nehmen. Man würde dann
Die Zukunft der Revolution 431

sehen, daß die Linke kein leeres Wort ist, wie die revolutionären
und konterrevolutionären Denker einstimmig behaupten. Was
das Leben der revolutionären Länder umgibt, ist nicht die zivili-
satorische Kraft einer Klasse, es ist das krampfhafte Wunschden-
ken einer ›Elite‹. Um in einer Zivilisation an den Bedürfnissen,
am Leid und an der Ausbeutung der Proletarier etwas zu ändern,
muß man, eher als auf eine in ihrem Namen errichtete Diktatur,
auf ihre erneut mit unmittelbarer Heftigkeit auftretenden An-
sprüche zählen, und auf das, was sie von den neuen Techniken
fordern, derer sich die Menschen in naher Zukunft bemächtigen
werden.
(August 1955)
432

Ü BE R DI E E N T S TA L I N I SI E RU NG 1

»Das große Modewort lautet Entstalinisierung.«


Marcel Servin
(L’Humanité, 12.11.56.) 2

Auf den Aufruf der ungarischen Intellektuellen durften wir


nicht, selbst wenn dies in unserer Macht gestanden hätte, mit
dem Krieg antworten. Wir schulden ihnen aber viel mehr als ein
›Ja‹, eine Unterschrift und das momentane tiefe Mitgefühl. Die
Intellektuellen sind nicht dazu da, einen Block zu bilden, sondern
dazu, sofern sie es können, Licht in die Dinge zu bringen. Die
Ehrerbietung, die wir den Ungarn schuldig sind, besteht darin,
ihr Opfer zu verstehen und es laut zu erklären, damit es nicht
irgendwann vergeblich sein wird.
So haben disziplinierte Kommunisten – diszipliniert bis hin
zu den denkbar schmerzlichsten Formen der Selbstkritik und
den schlimmsten Beschimpfungen, wenn ich beispielsweise an
Lukács denke – Nagy vertraut, der das ›bourgeoise‹ Gericht der
UNO anrufen, freien Wahlen zustimmen und den Warschauer
Pakt aufkündigen mußte. Jene, die Nagy gefolgt sind, haben fei-
erlich gegen das Prinzip verstoßen, dem zufolge man bei Aus-
einandersetzungen unter Kommunisten nie Hilfe von außen
sucht. Dies bedeutet, daß es keine proletarische Solidarität mehr
gibt und buchstäblich keinen Kommunismus mehr, wenn eine
›kommunistische‹ Macht ihr ganzes Proletariat gegen sich hat
und es mit militärischen Mitteln niederschlägt. Der Appell an die
UNO ist die angemessene, richtige Antwort auf die militärische
Intervention: Die eine wie die andere versehen eine Krise des
Kommunismus, die bis ins Innere des Systems reicht, mit einem
bestimmten Datum. Jene ungarischen Kommunisten haben ihre
politische Ehre und ihr Leben nicht infolge eines Mißverständ-
nisses oder aus größter Bedrängnis aufs Spiel gesetzt. Sie waren
Über die Entstalinisierung 433

nicht leichtsinnig oder vom Pech verfolgt. Wir haben nicht das
moralische Recht, ihnen die Ehre zu erweisen, wenn wir ihre Ent-
scheidung, die das Ende des durch die militärische Intervention
zerstörten kommunistischen Paktes bestätigte, mit Stillschweigen
übergehen.
Nun spricht man jedoch in den ›linken‹ Protesterklärungen
(welche die einzigen sind, auf die ich hier mein Augenmerk
richte), die in diesen Tagen veröffentlicht werden, den sowje-
tischen ›Sozialismus‹ stillschweigend frei von jedem Verdacht.
Man spricht von den ›Irrtümern‹ Chruschtschows, der die Ent-
stalinisierung auf allzu auffällige Weise in Gang gebracht hatte,
vom ›Fehler‹ Gerös, der die Russen um Hilfe ersuchte. Andere
präsentieren die ungarischen Ereignisse wie eine bedauernswerte
Auswirkung der ›Ungleichheit der Entwicklung‹, die dazu führt,
daß die Satellitenstaaten nach Konsumgütern verlangen, die sie
noch nicht produzieren können, während das russische Volk, das
seine Schwerindustrie errichtet hat und sie produzieren könnte,
nicht nach ihnen verlangt: Die Niederschlagung des Budapester
Aufstands wird in der erhabenen Geschichte der ›sozialistischen‹
Wirtschaft zu einer Lappalie. Unterschwellig versteht man, oder
man sagt, daß eine bessere Taktik, eine bessere Planung all dies
hätten vermeiden können und es künftig vermeiden werden.
Als schließe das Problem nicht alles ein, so wie es die Revolte
getan hat. Diese gelehrten Kindereien laufen nur darauf hinaus,
dort eine Krise zu verbergen, wo alles in Frage gestellt ist, sie
setzen eine Ideologie als selbstverständlich voraus, die das Er-
eignis gerade bestreitet. Alles in allem sind die Aufständischen
von Budapest in einem zweifelhaften Fall ums Leben gekommen:
Wir anderen, die nicht tot sind, können Gott sei Dank die Unge-
schicklichkeiten, die Irrtümer, die Fehler und die ungleiche Ent-
wicklung berücksichtigen und unser Vertrauen in den sowjeti-
schen ›Sozialismus‹ beinahe vollständig wahren … Der Aufstand
der ungarischen Kommunisten bedeutet, daß der Stalinismus
bis zum sozialistischen Wesen des Regimes gelangt ist, daß die
Entstalinisierung im System keine Retusche oder ein taktischer
Wechsel ist, sondern eine radikale Transformation, bei der es sein
434 Gelegentliche Äußerungen

Leben riskiert und zu deren Durchführung es dennoch angehal-


ten ist, wenn es wieder achtbar werden soll. Auf die Entstalinisie-
rung zurückkommen, ihren ganzen Sinn ohne jeden Vorbehalt
aufzeigen, das ist die einzige Ehrerbietung der Linken, die für
die Aufständischen annehmbar wäre. Wir wissen, daß es zu früh
ist, um als Historiker sagen zu können, was die Entstalinisierung
ist. Man kann nicht wie einen Lehrsatz unter Beweis stellen, daß
die Niederschlagung des Budapester Aufstands die Alterskrank-
heit des Kommunismus ist. Aber man kann beweisen, daß keines
seiner Prinzipien unbeschadet daraus hervorgeht, daß die Krise
keines ausspart und daß von der Entstalinisierung nichts übrig
bleibt, wenn sie keine radikale Reform eines ›Systems‹ ist – das
Wort wurde von Togliatti ausgesprochen und von Gomulka, von
Tito aufgegriffen – und seine Anfechtung durch sich selbst. Um
sicher zu sein, reicht es im übrigen, die Fakten dieser letzten Mo-
nate aus einiger Nähe zu betrachten. Wir möchten hier nur einige
von ihnen hervorheben, die seltsamerweise bereits in Vergessen-
heit geraten sind.
Nicht Chruschtschow ist leichtfertig, unsere Intellektuellen
sind es, welche die Texte nicht lesen oder sich nur an die Artikel
der Tagespresse halten. Wenn sie die von der kommunistischen
Partei Frankreichs veröffentlichten Dokumente heranziehen
würden1 – oder zumindest die bemerkenswerte Analyse, die uns
Claude Lefort von ihnen liefert2 –, dann würden sie sehen, daß
man heute von einer wirklichen Regimekritik sprechen kann.
Nicht nur in der Rede Chruschtschows, sondern auch in den Re-
den Bulganins, Suslows und Malenkows ist die Beschreibung des
ökonomischen und politischen Lebens der UdSSR so beschaf-
fen, daß sie die beiden grundlegenden Prinzipien des Systems
in Frage stellt: das Prinzip der Diktatur des Proletariats und das

1 Les Cahiers du Communisme, März 1956, und der von ihnen unter

dem Titel XX. Kongreß der kommunistischen Partei der SU herausgegebene


Band.
2 Socialisme ou barbarie, Juli-September 1956, Nr. 19, besonders die

Seiten 43-72. Die folgenden Zitate stammen von Claude Lefort.


Über die Entstalinisierung 435

Prinzip der autoritären Planung, das die moderne Form des er-
steren ist.
Man dachte, die autoritäre Planung habe das Verdienst, das
zu organisieren, was andernorts dem Schicksal, das heißt den
Interessen, überlassen wird, und in der Planwirtschaft seien bei-
spielsweise die Löhne in Anlehnung an die Bedürfnisse, die Er-
fordernisse der Produktion und die Menge der konsumierbaren
Produkte festgelegt. Im folgenden erfahren wir, was Chruscht-
schow darüber denkt:
»Man muß sagen, […] daß sich im System der Löhne und Ta-
rife eine Menge Unordnung und Verwirrung feststellen läßt […]
Es kommt häufig vor, daß die Löhne vereinheitlicht werden. Es
kommt aber auch vor, daß dieselbe Arbeit in unterschiedlichen
Betrieben und selbst im Rahmen eines einzigen Betriebes unter-
schiedlich bezahlt wird […] Daher stehen wir vor einer wichti-
gen politischen und ökonomischen Aufgabe: Die Vergütung der
Arbeit zu reglementieren.«3
Man dachte, in der Planwirtschaft seien die Menge und das
Tempo der Arbeit in Anlehnung an die Erfordernisse einer vorge-
sehenen, durchdachten und kontrollierten Produktion festgelegt.
Bulganin erklärt, die offiziellen Normen seien im Gegenteil ein
Mittel, diese Erfordernisse zu drehen und den Bedürfnissen der
Lohnempfänger so gut es eben geht gerecht zu werden:
»Die Festlegung herabgesetzter Normen, und infolgedessen
ihr erhebliches Überbieten, steht am Ausgangspunkt eines trü-
gerischen Anscheins von Wohlstand in den Betrieben, und sie
schwächt die Aufmerksamkeit der Arbeiter, Vorarbeiter und In-
genieure gegenüber einer wirklichen Erhöhung der Produktivität
der Arbeit. Im Grunde werden die Normen gegenwärtig nicht
durch das technische Niveau und das Niveau der Organisation
der Arbeit definiert, sondern vom Wunsch, sie an ein bestimm-
tes Lohnniveau anzupassen.«4 Die wirklichen Produktionskosten
stehen also in keinem Verhältnis zu den veranschlagten Kosten,

3 Les Cahiers du Communisme, S. 318.


4 XX. Congrès, S. 164.
436 Gelegentliche Äußerungen

und die Produktivität wird nicht gesteuert. All dies muß letzten
Endes wohl irgendwo in Erscheinung treten: Es kommt ein Au-
genblick, in dem der Abstand zwischen Wunsch und Ergebnis
offenkundig wird. Dann ist der Druck der Tatsachen so stark, daß
das System darauf verzichtet, Bilanz zu ziehen: »Wenn man unter-
sucht«, sagt Chruschtschow, »wie manche Region oder mancher
Distrikt, wie manche Kolchose oder Sowchose sich ihrer sozia-
listischen Verpflichtungen entledigt, dann wird man bemerken,
daß die Worte nicht den Taten entsprechen. Überzeugt man sich
übrigens ganz allgemein von der Richtigkeit dieser Verpflichtun-
gen? Nein, in den meisten Fällen sieht man davon ab. Niemand
ist in moralischer oder in materieller Hinsicht verantwortlich für
die Nichterfüllung der Verpflichtungen.«5
So näherungsweise sie auch zutreffen mag, wenn sie in einem
unterentwickelten Land auf eine gelehrige Arbeiterschaft ein-
wirkt, so kreativ ist die autoritäre Planung, und es ist hinlänglich
bekannt, zu welcher Macht die UdSSR herangereift ist. Dies ist
nicht die Frage. Sie ergibt sich vielmehr aus der Tatsache, daß
die sowjetischen Machthaber vom XX. Kongreß an vor einer rei-
fer gewordenen Bevölkerung nicht länger zu verbergen suchen,
daß die autoritäre Planung nicht ausreicht, um die Wirtschaft zu
lenken. Nachdem es durch heroische Mittel, ohne einen Appell
an das Kapital, seine eigene Industrie gegründet hat, verspürt
das Regime das Bedürfnis, von der ›Planung‹ zur Bilanzierung
überzugehen, von der reinen Autorität zur Erkenntnis, vom
Heroismus zur Vernunft. Der XX. Kongreß ist ein Appell an die
Wahrheit und an das Bewußtsein, das aus den Erfordernissen
der russischen Wirtschaft entsteht, und nicht etwa eine kühne
Improvisation, die von den Schwierigkeiten der Satellitenstaaten
angeregt wird.
Wenn er zur politischen Kritik übergeht, so ist es dieselbe
Trennung des Offiziellen vom Wirklichen, die in Erscheinung
tritt, diesmal sogar im Zentrum des Regimes. Die Diktatur
müßte vom Proletariat getragen werden, oder – da das Proleta-

5 Les Cahiers du Communisme, S. 347.


Über die Entstalinisierung 437

riat in der Geschichte nicht ohne einen Apparat handeln kann,


der seinen Auftrag in jedem Moment neu interpretiert – das
Proletariat müßte sich zumindest in seiner Partei wiederer-
kennen. Dem XX. Kongreß zufolge befindet sich die Partei am
Rande des wirklichen Lebens und der wirklichen Gesellschaft,
die Erkenntnisse, die sie davon anhand von Informationen und
Statistiken zu erlangen sucht, sind unnütz, ihr Handeln unbe-
deutend. Chruschtschow erklärt: »Die qualifizierten Arbeiter, die
dem Parteiapparat angehören, sind weniger mit der Organisa-
tion als mit dem Sammeln aller Arten von Informationen und
Statistiken beschäftigt, die übrigens in der Mehrzahl der Fälle
unnütz sind. Aus diesem Grund befindet sich der Parteiapparat
allzu oft in einem Leerlauf.«6 Suslow beschreibt die Tätigkeit
eines Verwaltungssekretärs in einer Kolchose folgendermaßen:
»Sein Tisch und all seine Schubladen sind mit Akten und Heften
überhäuft. Er erledigt die Buchführung oder verzeichnet die Ar-
beit der Parteigruppen, die Arbeit unter den Frauen, die Arbeit
mit den jungen Kommunisten, die zur Organisation des Kom-
somol beigetragene Hilfe, die Bitten und die Beschwerden, die
den Kommunisten übertragenen Aufgaben, die Erziehungsarbeit
der Partei und jene des Kreises von Amateurkünstlern. Er hat
Akten mit der Aufschrift: ›Wandzeitungen‹, ›Offizielle Berichte‹,
›Wettstreit in der Viehzucht‹, ›Wettstreit in der Landwirtschaft‹,
›Die Freunde der Forstplantagen‹. Die Arbeit der Propagandisten
wird in drei Heften schriftlich festgehalten: ›Verzeichnis der Pro-
pagandistentätigkeit‹, ›Die politische Arbeit für die Massen‹ und
›Die täglichen Aufgaben der Propagandisten‹. Stellen Sie sich vor,
wie viel Zeit man zum Ausfüllen all dieses Papierkrams braucht,
der unvermeidlich zu Lasten der lebendigen Organisationstätig-
keit geht. Gleichzeitig muß man feststellen, daß in der Kolchose
keinerlei Erziehungsarbeit unter den Melkerinnen und Hirten
geleistet wird. Die Farmen sind nicht mechanisiert, es gibt keine
Zeitpläne, keine festen Rationen für das Vieh. Die Produktivi-
tät der Zucht ist extrem niedrig. Der jährliche Durchschnitt der

6 Les Cahiers du Communisme, S. 345.


438 Gelegentliche Äußerungen

von einer Kuh gelieferten Milch beträgt 484 Liter. Den Akten des
Sekretärs zufolge haben die Kolchosbauern gar keine Milch ab-
geliefert. In dieser Hinsicht haben sie sich also als absolut unpro-
duktiv erwiesen.«7 Der Kongreß lacht und applaudiert, merkt das
Protokoll an dieser Stelle an. Ein unvergleichliches Vergnügen,
endlich öffentlich gesagt zu hören, was man seit langem wußte,
ohne es auszusprechen.
Chruschtschow dehnt diese Bemerkungen auf alle politischen
Kader aus: »Auf den ersten Blick«, sagt er, »scheinen sie sehr aktiv
zu sein, und tatsächlich arbeiten sie viel, aber all ihre Aktivität
ist absolut unproduktiv. Sie sitzen bei ihren Versammlungen bis
zum frühen Morgen beisammen, sie rennen in die Kolchosen, ta-
deln die Zuspätkommenden, halten Konferenzen ab und Reden,
die voller Gemeinplätze und in der Regel vorab geschrieben sind
und dazu aufrufen, sich ›auf der Höhe zu zeigen‹, ›die Schwie-
rigkeiten zu überwinden‹, ›eine Wende zu bewirken‹, ›vertrau-
enswürdig zu sein‹ etc. Ein Machthaber dieser Sorte kann sich
jedoch noch so sehr ereifern, am Ende des Jahres wird es keinerlei
Verbesserung geben. So wie man sagt ›Er hat sein Bestes getan‹,
was ihn nicht daran gehindert hat, so unbeweglich wie ein Öl-
götze dazusitzen.«8
Kurz gefaßt sind die Führungskräfte ›beschäftigte Nichtstuer‹.
Und es handelt sich nicht um eine menschliche Schwäche. Die
Wirkungslosigkeit hängt mit der Ideologie zusammen: »Unsere
ideologische Arbeit«, sagt Suslow, »ist größtenteils unnütz, denn
sie beschränkt sich darauf, immer wieder dieselben bekannten
Formeln und Thesen zu wiederholen, und sie zieht mitunter
Glossatoren und Dogmatiker heran, die fernab vom Leben ste-
hen.«9 Die Entartung der Ideologie läßt sich auf allen Ebenen
feststellen. Die Wirtschaftswissenschaftler, sagt Chruschtschow,
»beteiligen sich im Verlauf der vom ZK der KPdSU einberufenen
Konferenzen nicht an der Untersuchung der wesentlichen Fragen der

7 XX. Kongreß, S. 237 f.


8 Les Cahiers du Communisme, S. 346.
9 XX. Kongreß, S. 239.
Über die Entstalinisierung 439

Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft. Dies bedeutet, daß


unsere Wirtschaftsinstitute und ihre Mitarbeiter sich vollkommen
von der Praxis des kommunistischen Aufbaus losgesagt haben.«10
(Dies beinhaltet vielleicht eine gewisse Ungerechtigkeit: Ist es
nicht der politische Apparat, der den Wirtschaftswissenschaftlern
die Beschränkung auf die technischen Aufgaben auferlegt hat?
Und wenn er erst heute die Dimension der Wirtschaft entdeckt,
ist dies dann der Fehler der Wirtschaftswissenschaftler?) Mikojan
geht mit den Philosophen sogar noch strenger um: »Man hätte
ein paar Worte an unsere Philosophen richten sollen. Im übrigen
müssen sie selbst begreifen, daß ihre Situation kaum noch glänzend
ist und daß sie vor der Partei noch mehr schuldig geblieben sind als
die Historiker und die Wirtschaftswissenschaftler.«11
Alles in allem geht es darum, ob die ›geplante‹ Wirtschaft zu
einer Planwirtschaft werden und die Diktatur des Proletariats
sich bei ihr Gehör verschaffen kann, anstatt ihm unnützerweise
in den Ohren zu liegen, ob der aus der Wirklichkeit herausgefal-
lene Schein sie wieder einholen kann. Der XX. Kongreß ist die
Denunziation eines fiktiven und verbalen Lebens, die Kritik an
Nominalismus und Fetischismus und ein Aufruf zum Konkre-
ten. Der Apparat und die gesetzmäßige Gesellschaft suchen den
Kontakt zur realen Gesellschaft, den Menschen bei der Arbeit
und den Dingen. Die Liberalisierung ist kein vages Zugeständnis
oder eine Taktik: Die reine Autorität, der Voluntarismus und die
Diktatur verfehlen ihr Ziel, indem sie den Betrug, die Komplizen-
schaft der Betrüger, die Passivität und die Mythologie schaffen,
und sie zerstören jene Verbindung von Wirtschaft und mensch-
lichem Denken, die man Planung nennt, ebenso wie jene Verbin-
dung von realer Gesellschaft und Macht, die man Diktatur des
Proletariats nennt. Man steht einem Regime gegenüber, das sich
bemüht, seinen schwindenden Sinn wiederzufinden.
Die antistalinistische Polemik hat genau in diesem Kontext
ihren festen Platz: Sie ist die Kritik an einem Überbau oder

10 Les Cahiers du Communisme, S. 346.


11 Ebd., S. 253.
440 Gelegentliche Äußerungen

einer Folgeerscheinung. Die Diktatur hat psychologische Me-


chanismen, Sitten und Gebräuche, einen Lebenswandel, einen
Stil geschaffen. Ein Regime, das machen und nichts wissen will,
behandelt das Scheitern wie Sabotage und die Diskussion wie
Verrat. Es will sich nicht in dem erkennen, was es ist: Dies hieße,
bereits ins Relative zu verfallen. Es umgibt sich also mit einem
Geheimnis, und zwar so sorgfältig, daß es ihm unterlaufen kann,
sich in gutem Glauben selbst zu verkennen. Es kann sich nur als
die Tugend schlechthin denken, als Negation der Untugenden
des Gegners, und es nimmt alles, was sich außerhalb von ihm
befindet, nur als Hindernis oder als Hilfsmittel wahr. Seine große
Regel ist es, zu urteilen, ohne verurteilt zu werden – zu urteilen,
ohne zu kennen, und sich der Kenntnis zu entziehen, um nicht
verurteilt zu werden. All dies verurteilt der XX. Kongreß unter
dem Namen Stalins. Er riskiert bereits einen Blick auf das Äu-
ßere: Er bemerkt, daß der Kapitalismus keinesfalls ein Schatten
ist, daß sein Überleben andauert und sich noch lange fortsetzen
kann, daß all dies nichts Negatives ist, daß es technische, vielleicht
auch gesellschaftliche Fortschritte gibt und daß der Übergang
zum Sozialismus vielleicht dabei ist, sich anders als auf dem Wege
eines Aufstands oder gar der Diktatur auf sein Ziel vorzubereiten.
Kurzum, die kapitalistische Welt ist anders als die UdSSR, aber sie
ist nicht mehr das Böse schlechthin, das absolut Andere. Sie exi-
stiert, mit ihren Makeln und ihren relativen Qualitäten. Und die
UdSSR selbst willigt ein, anders als im Imaginären zu existieren,
sie verzichtet auf ihr Leben als Traumgestalt und beschließt, sich
selbst zu erkennen …
Allein, sollte diese Bekehrung zur Erkenntnis vollständig sein,
dann flöge die Diktatur in Stücke. Der XX. Kongreß weicht kei-
nen Schritt breit vom Monopol der Partei ab. Es ist also immer
noch die Partei, an die er sich richtet, um die Aktivität der Partei
zu reformieren. Von diesem erschöpften und ›nichtstuerischen‹
Apparat, der von der Produktion und der realen Gesellschaft ab-
geschnitten ist, verlangt man, daß er sich ihnen wieder anschließe,
indem er seine Aktivität verdoppelt. Alles in allem verlangt man
von ihm das Unmögliche: Man hat gezeigt, daß er überall ein
Über die Entstalinisierung 441

Doppelgänger oder ein Double ist, und man lädt ihn ein, durch
eine Vervielfachung seiner lästigen Interventionen wieder zu ei-
nem realen Faktor der Geschichte zu werden.12 Der Aufruf zur
Wahrheit und zum Wirklichen konnte also nicht konsequent und
ohne Verheimlichungen sein, wenn die Diktatur die Diktatur
bleiben muß. Der Bruch zwischen der Produktivität und dem
Plan, zwischen dem Proletariat und der Diktatur konnte nicht
offen angeprangert werden, ohne das Wesen und die Philosophie
des Regimes in Frage zu stellen. Und dennoch mußte man, da es
hierbei um die Produktivität und das Leben des Systems geht,
einen entscheidenden Schlag führen …
Die Lösung bestand darin, die Regimekritik in Form einer
Mißbilligung Stalins zu präsentieren. Das Sakrileg war ausrei-
chend und die Parole deutlich genug, um einen Schock auszulö-
sen. Und gleichzeitig ließ die auf eine Person und den Kult, den
man ihr gewidmet hatte, gebündelte Kritik die Prinzipien und
das System unberührt. Man focht das System an, indem man es
verstärkte, man verstärkte es, indem man es anfocht. Darin liegt
vielleicht die Meisterleistung des Kommunismus: in einer Be-
wußtwerdung ohne das Wissen des Subjekts, einer unmerklichen
Revolution und den Vorteilen des Wiedererstarkens ohne die Un-
annehmlichkeiten eines Schuldbekenntnisses. Wie alle Meister-
leistungen, so ist auch diese schwierig. Indem sie die Vorteile auf
sich vereinigte, zog die Entstalinisierung auch die Gefahren auf
sich: Es gab auch jenes Risiko, daß die einen nicht hören wollen,
was man ihnen mit Hilfe von Andeutungen sagte – und daß die
anderen nur zu gut verstehen und alles in eine deutliche Spra-
che übertragen. Dies ist, was sich bis zu diesem Zeitpunkt ereig-
net hat. Man begreift, daß die Offenheit des XX. Kongresses die
westlichen Parteien zusammenfahren ließ. Wenn Suslow ironisch
über die Akten spricht, die keine Milch produzieren, dann geben
sich die Aktivisten ganz dem Vergnügen hin, zu sehen, wie sich
das Offizielle mit dem Wirklichen zusammenschließt, und das
Regime zieht alsbald Gewinn daraus. Um diesen höheren Humor

12 Lefort, S. 55.
442 Gelegentliche Äußerungen

auskosten zu können, fehlt den westlichen Aktivisten ein Sinn


für das Relative, den man nur durch das kommunistische Leben
erlangen kann. Sie müssen sich die Ohren zuhalten, oder aber die
Sarkasmen des XX. Kongresses werden bei ihnen, wenn sie zu-
hören, Fragen, Erinnerungen und überwundene Revolten wieder
wachrufen, und sie werden alsbald über das Maß hinausgehen.
Genau dies ist Togliatti geschehen. In gewissem Sinne kamen
die Thesen des XX. Kongresses seinen Gedanken und Wünschen
zuvor. Aber gerade weil sie einige seiner alten Zweifel rechtfertig-
ten, konnte er den russischen Machthabern nicht dankbar sein,
daß sie diese Zweifel heute ihrerseits aufgreifen, nachdem sie
sie einst unterdrückt hatten. Dennoch sind die Rachsucht, die
schlechte Stimmung und die Gewalt bei Togliatti nicht alles –
darin geht er allerdings weit über die französischen Machthaber
hinaus. Aus all dem versteht er ein wenig marxistische Einsicht
zu ziehen. Am Ende, so sagt er, geht es nicht um die Frage, ob
Stalin gut oder böse war: »Man beschränkt sich im wesentlichen
darauf, die persönlichen Fehler Stalins als Ursache aller Übel zu
denunzieren. Man bleibt im Bereich des Personenkultes. Ganz
am Anfang schrieb man alles Gute den übermenschlichen po-
sitiven Eigenschaften eines Menschen zu. Gegenwärtig schreibt
man alle Übel den außergewöhnlichen und sogar verblüffenden
Fehlern desselben Menschen zu. Im einen wie im anderen Fall
stehen wir außerhalb des Kriteriums eines Urteils, wie es dem
Marxismus eigen ist. Die eigentlichen Probleme entziehen sich,
[…] jene Probleme, die an die Mittel und Gründe rühren, wel-
che die sowjetische Gesellschaft dazu verleitet haben, sich von
bestimmten Punkten des ursprünglich von ihr vorgezeichneten
demokratischen und legalen Weges zu entfernen, und die sie so-
gar zu gewissen Formen der Entartung verleitet haben.«
Hier tritt die Dialektik wieder in Erscheinung: Die antistalini-
stische Polemik geht über sich selbst hinaus, die Kritik am ›Per-
sonenkult‹ kann nicht darin bestehen, die Vorzeichen zu ändern
und aus dem großen Mann den Sündenbock zu machen. Dies ist
eine stalinistische Art und Weise, Stalin zu kritisieren. Die ein-
zige Kritik, die wirklich über Stalin hinausgeht und die folglich
Über die Entstalinisierung 443

eine wahre Kritik wäre, ist jene, die bis zum System reicht. Wie
immer bei einem guten dialektischen Vorgehen, so kann das Ziel
nicht auf beliebigem Wege erreicht werden: Die Kritik am System
wurde ›von oben her‹ begonnen – und es könnte gar nicht an-
ders sein, da gerade das System ›das demokratische Leben einge-
schränkt‹ hatte. Zumindest muß sie, die von oben gekommen ist,
sich bis hin zur Basis fortentwickeln: »Ein normales demokra-
tisches Leben wieder zu erlernen – nach dem von Lenin in den
ersten Jahren der Revolution errichteten Vorbild –, das heißt die
Initiative im Bereich der Ideen und der Praxis wieder zu erlernen,
die Suche nach der leidenschaftlichen Diskussion, jenen Grad der
Toleranz gegenüber den Irrtümern wieder zu erlernen, der unab-
dingbar ist, um die Wahrheit aufzudecken, die vollkommene Un-
abhängigkeit des Urteils und des Charakters wieder zu erlernen
[…] die Kader einer Partei umzuerziehen, mehrere hunderttau-
send Männer und Frauen, und durch sie die ganze Partei und ein
unendlich großes Land, in dem die zivilen Lebensbedingungen
von Region zu Region immer noch sehr verschieden sind, dies ist
eine gewaltige Aufgabe, die weder durch drei Jahre Arbeit noch
durch einen Kongreß erfüllt werden kann.«
Togliatti kommt dreimal darauf zurück: Das Übel war all-
umfassend, und genauso allumfassend muß die Abhilfe sein. Es
gibt dabei »allgemeine Irrtümer« und ein »zentrales Problem,
das der Gesamtheit der Bewegung gemein ist«. Wenn die Kritik
bis dorthin reicht, wenn es im Regime nichts gibt, das von ihr
ausgenommen werden könnte, stellt sie es dann nicht in seinem
Wesen und seinen Prinzipien in Frage? Es wäre ein Irrtum, dies
zu glauben, sagt Togliatti, aber man kann sich hierin in gutem
Glauben täuschen: »Ich schließe nicht aus […], und ich lege Wert
darauf, dies in aller Offenheit zu sagen, daß es Leute gibt, die sich
in allerbestem Glauben […] schließlich fragen, ob man heute nicht,
angesichts der an Stalin geübten Kritik, und angesichts der Tatsa-
che, daß Stalin über einen sehr langen Zeitraum hinweg der Haupt-
vertreter der kommunistischen Politik gewesen ist, die Glaubwür-
digkeit aller Stufen dieser Politik in Frage stellen muß […], indem
man letztlich […] – warum nicht? – bis zu den entscheidenden
444 Gelegentliche Äußerungen

Handlungen der Oktoberrevolution zurückgeht […]« Er hatte nur


allzu gut verstanden, er würde die so delikate Operation einer
halben Bewußtwerdung auslassen.
Beim Bestreben, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen,
konnte man sich auf die französische Partei verlassen, und die
Russen haben sich ihren Ansichten gebeugt. Dem Ganzen wurde
ein Riegel vorgeschoben, und Togliattis marxistische Frage wurde
von der Resolution des Zentralkomitees der KPdSU vom 30. Juni
zurückgewiesen. Dennoch ergaben sich, auch dabei, immer neue
Schwierigkeiten. Die Arbeit war beinahe nicht durchführbar.
»Man kann nicht«, heißt es in der Resolution, »einverstanden
sein mit der von Genosse Togliatti gestellten Frage, ob die so-
wjetische Gesellschaft nicht zu bestimmten Formen der Entartung
geführt hat. Es gibt keinen Grund, diese Frage zu stellen.«13 To-
gliatti hatte dennoch einen sehr guten Grund genannt: Wie hät-
ten in einer gesunden revolutionären Gesellschaft solche Verhee-
rungen möglich sein sollen? Man versteht, oder man gibt vor zu
verstehen, daß er Stalin die übermäßige Macht zuschreibt, eine
Gesellschaft zu verderben: »Zu denken, daß eine Persönlichkeit,
mag sie auch so wichtig wie Stalin sein, unser gesellschaftliches
und politisches Regime hat ändern können, heißt den Tatsachen,
dem Marxismus, der Wirklichkeit zu widersprechen, heißt in
Idealismus zu verfallen. Dies würde bedeuten, einer Persönlich-
keit unglaubliche übernatürliche Kräfte zuzusprechen, wie etwa
die Fähigkeit, das gesellschaftliche Regime zu ändern, ja sogar
das gesellschaftliche Regime, in dem die Millionen von Arbeitern
eine entscheidende Kraft bilden.«14
Machen sich die Verfasser der Resolution über die Aktivisten
lustig, oder sind sie selbst verwirrt? Dies ist die Frage, die der
ganze XX. Kongreß stellt: In welchem Maße erkennen die Re-
formatoren, was sie tun? Es ist durchaus möglich, daß sie To-
gliattis Frage nicht verstanden haben. Vielleicht stellen sie sich
nicht einmal mehr vor, wie eine Untersuchung der UdSSR als ein

13 L’Humanité, 3.7.1956.
14 Ebd.
Über die Entstalinisierung 445

zu erkennender Gegenstand aussehen könnte, was eine marxisti-


sche Studie ihrer inneren Dynamik wäre? Vielleicht denken sie
die Gesellschaft wie ein Agglomerat von Dingen und Menschen,
von juristischen Institutionen (den Formen des Eigentums, der
berühmten »Basis des Sozialismus«) und willkürlichen Anord-
nungen, so daß die Analyse des Stalinismus, da sie nicht an die
»Basis« gerührt hat, auf die Psychologie Stalins hinausläuft? Die
Verfasser der Resolution übersetzen sogar die Frage Togliattis
in die stalinistische Sprache. Fest steht, daß die Juni-Resolution
auf diese Weise die Lawine aufzuhalten vermag. Die französische
Partei atmet auf. Man bleibt in den Überbauten, und da Stalin
alles in allem Russe war, muß man hierzulande nichts Wesentli-
ches verändern.
Unter diesen Umständen tauchen die Fragen der Planung und
der Diktatur erneut, und zwar auf eklatante Weise, im Bericht
Gomulkas auf. Dabei erfährt man überdies, daß sich die Planung
in ihr Gegenteil verkehrt hat. Zwischen 1949 und 1955 hat sich
die Kohleförderung von 74 auf 94,5 Millionen Tonnen Kohle ge-
steigert. Im gleichen Zeitraum hat sich aber der Arbeitsertrag von
1320 Kilo je Bergarbeiter auf 1163 Kilo verringert: Von den 20
Millionen gewonnenen Tonnen Kohle wurden 14 Millionen au-
ßerhalb der normalen Arbeitszeiten, in Überstunden, abgebaut.
Es gibt keine Steigerung der Produktivkraft. Die Planung plant
nicht. Das Regime zahlt Überstunden, um die Fördermenge zu
steigern. Es kontrolliert das Bruttoergebnis, nicht das Nettoer-
gebnis. »Man müßte vor allem wissen«, sagt Gomulka, »wie hoch
die tatsächlichen Produktionskosten sind.« »Die Praxis der Umset-
zung des Sechsjahresplans bestand darin, daß man in bestimmten
Bereichen das Maximum an Investitionsmitteln konzentriert hat,
ohne die Bedürfnisse der anderen Bereiche des Wirtschaftslebens zu
berücksichtigen. Und dennoch bildet die nationale Wirtschaft ein
vereinigtes Ganzes.« Dies muß man sich nach zehn Jahren pol-
nischer Planung und fünfundzwanzig Jahren russischer Planung
in Erinnerung rufen. Das Prinzip der Planung selbst bleibt toter
Buchstabe, weil der Planungsentwurf nicht das konkrete Ganze
der polnischen Wirtschaft abdeckt und weil sich die Produzenten
446 Gelegentliche Äußerungen

entziehen. Der Plan ist irreal, weil er ein voluntaristisches Projekt


und nicht etwa ein Versuch ist, die Erfordernisse der Produktivi-
tät zu verstehen und sie auf ein bestimmtes Ziel auszurichten.
Wir haben es uns nicht zur Aufgabe gemacht, zu sagen, was
die Entstalinisierung ist. Was auch immer aber aus ihr werden
mag, wir sehen bereits, was sie nicht ist und nicht sein kann: eine
Reform in begrenztem Umfang. Sie verbreitet sich aus eigener
Kraft im ganzen Regime, sie bringt überall ein gefährliches und
nützliches Ferment ein, ein Risiko und eine Hoffnung. Es gibt
zwei Arten, diese Hoffnung zugrunde zu richten. Die eine be-
steht darin, von der Entstalinisierung die Fetischprinzipien ab-
zuziehen, als seien sie gar nicht betroffen. Die andere ist jene der
Logiker und Geometer, die oft auch streitlustig sind. Da sie im
Regime einen Widerspruch entdeckt haben, tun sie so, als ob die
UdSSR, die ja kein Begriff ist, nichts wäre. Sie haben es immer
gesagt: Diktatur des Proletariats und Planung sind zwei Wörter,
die der Quadratur des Kreises gleichen – und die Entstalinisie-
rung ist nur ein Trick, um diese Formeln zu retten. Sie haben die
UdSSR und China widerlegt, so wie man eine Meinung wider-
legt. Man muß nur alles ausstreichen und von vorn beginnen. Es
ist die symbolische Abschaffung, während man auf die physische
Abschaffung wartet. Was werdet ihr also an diese Stelle setzen?
Es ist doch bemerkenswert, daß niemand in Ungarn oder Polen
eine Wiederherstellung des alten Eigentumsregimes vorschlägt.
Es muß folglich eine gute Art geben, die verstaatlichte Wirtschaft
zu führen. Warum sollte man nicht Gomulka nach ihr suchen
lassen?
Die Entstalinisierung bringt den fundamentalen Widerspruch
des Regimes ans Licht. Es gibt aber durchaus widersprüchliche
historische Wirklichkeiten, die sogar in diesem Widerspruch Be-
stand haben. Angefangen mit der ökonomischen Wirklichkeit
des Kapitalismus, die von Widersprüchen wimmelt und dennoch
nicht kurz davor ist, zu verschwinden. Die Entstalinisierung ficht
das Wesen der Diktatur an: Solange sie andauern wird – und sie
muß von Dauer sein, wie Togliatti sagte, denn dies ist keine Ange-
legenheit von drei Jahren und einem Kongreß – , wird sie das Re-
Über die Entstalinisierung 447

gime in Gefahr bringen, sie ist also im voraus zu Rückfällen und


Umwälzungen prädestiniert. Aber warum sollte ein Regime nicht
mit einer Wunde in seiner Seite leben können? Dies ist über-
all dort der Fall, wo Freiheit herrscht. »Der Schlüssel zur Lösung
der Schwierigkeiten, die sich aufgetürmt haben«, sagt Gomulka,
»liegt in den Händen der Arbeiterklasse.« Dies ist ein Aufruf zum
Vertrauen, und er ergänzt ihn nur durch sehr verhaltene Refor-
men. Das Vertrauen hat er allerdings. Aber für wie lange, wenn
er sich keine Lösungen und Institutionen einfallen läßt? Von der
Diktatur wird verlangt, sich selbst anzufechten, ohne sich auslö-
schen zu lassen, und vom Proletariat, sich zu befreien, ohne eine
Kontrolle der Diktatur abzulehnen. Das ist schwierig, beinahe
unmöglich. Die Welt hat nur die Wahl zwischen diesem Weg und
dem Chaos. Eine Lösung muß in erst noch zu schaffenden gesell-
schaftlichen Formen gesucht werden.
Die einzige angemessene Haltung ist also die, den Kommunis-
mus im Relativen zu sehen, wie eine Tatsache ohne jedes Privileg,
wie ein Unternehmen, das von seiner eigenen Widersprüchlich-
keit verfolgt wird, das sie erahnt und über sie hinausgehen muß.
Er ist keine Lösung, denn wir sehen ihn wieder auf seine Prin-
zipien zurückkommen. Er ist genau genommen keine Realität,
da man uns sagt, die Planung sei erst noch vorzunehmen, und
das Leben der Partei sei imaginär. Die Diktatur ist ein fehlge-
schlagener Versuch, fehlgeschlagen deshalb, weil der Versuch kein
solcher sein wollte, sondern das Endziel der Geschichte. Als uni-
verselles Modell, als Zukunft der Menschheit, ist die Diktatur ge-
scheitert. Aber auch die Französische Revolution ist gescheitert.
1793 gab es Leute, die Robespierre zu Recht haßten. Trotz dieses
Umstandes ist die Französische Revolution eine Stufe unserer
Geschichte, dieser Umstand bewirkt nicht, daß die Geschichte
nach der Revolution wieder nach vorrevolutionärem Muster be-
ginnt. Was sich seit 1917 ereignet hat, ist kein Exkurs, sondern in
jedem Wortsinn der Beweis des revolutionären Voluntarismus,
der noch blutiger und schmerzhafter als der erste ist. Man kann
in angemessener Form über die UdSSR reden, aber nur dann,
wenn sie es akzeptiert, sich wieder in die Reihe der Geschichte
448 Gelegentliche Äußerungen

einzufügen, und wenn man nicht an sie glaubt, weder im Sinne


eines Guten noch im Sinne eines Bösen, wenn man auf die Fe-
tische verzichtet hat. Wir möchten zum Abschluß einige Zwei-
deutigkeiten hervorheben, welche die Entstalinisierung und den
Frieden bedrohen.
In gewissem Sinne bewirken die Entscheidungen des XX. Kon-
gresses nichts anderes als eine Übertragung der stalinistischen
Praxis in Formeln. Der koreanische Waffenstillstand und die
nach 1944 in der Regierung vertretenen Kommunisten, dies war
bereits eine Politik der Koexistenz. Wenn man die Dinge von na-
hem betrachtet, dann gehen die Entstalinisierer, offen gestanden,
nicht darüber hinaus. Chruschtschow sagt, die Revolution gehe
nicht unbedingt mit einem Aufstand oder einem Bürgerkrieg
einher – auch nicht unbedingt mit Gewalt. Man könne auch »den
parlamentarischen Weg nutzen, um zum Sozialismus überzugehen«
und »eine stabile Mehrheit im Parlament erobern«. Einige Zeilen
weiter heißt es jedoch: »Für alle Formen des Übergangs zum So-
zialismus ist die politische Führung der Arbeiterklasse, mit ihrer
Avantgarde an der Spitze, die ausdrückliche Voraussetzung, die
entscheidende Voraussetzung.« Nun ist aber die Avantgarde, wie
wir wissen, die Partei, und wenn die parlamentarische Aktion
nur – wie sie es bei Lenin immer gewesen ist – eine der Aktions-
möglichkeiten der Partei ist, die man ›auch‹ zum Einsatz bringt,
dann ist das, was Chruschtschow dort vorschlägt nur einer jener
politischen Ansätze einer Nationalen Front, die Stalin nach dem
Krieg ins Leben gerufen hatte.
Mikojan findet noch deutlichere Worte. Marxismus und Re-
formismus, sagt er, bleiben vollkommen unterschiedlich. Für die
Marxisten »muß die Staatsführung in der Gesellschaft von der Ar-
beiterklasse übernommen werden, damit […] sie, nachdem sie die
Mehrheit hinter sich gebracht hat, die Macht in ihre Hände nehmen
kann […] Man muß sich in Erinnerung rufen, daß die Revolution,
ob sie nun friedlich oder nicht friedlich ist, immer eine Revolution
sein wird.« Das einzig Neue an diesen Texten ist im Grunde der
Umweg über die parlamentarische Mehrheit. Sobald sie die par-
lamentarische Mehrheit erobert hat, wird die Arbeiterklasse »die
Über die Entstalinisierung 449

Macht in ihre Hände nehmen«. Man sagt nicht, ob diese Macht


von genau jener Mehrheit kontrolliert werden wird, die sie ge-
schaffen hat, und noch weniger, was auf dieser beunruhigenden
zweiten Stufe aus der Minderheit werden wird …
Selbstverständlich ist es bezeichnend, daß man Zweideutigkei-
ten zu schaffen sucht und daß Mikojan sich dagegen wehrt, ein
Reformist zu sein. Unter den Worten, den Begriffen, spürt man,
daß die Diktatur sich lockert und daß das Andere in Betracht
gezogen wird. Wenn Suslow, anstatt von Sozialismus oder Kom-
munismus zu reden, von einem »neuen sozialen Regime« spricht,
dann ist dies nicht der Ton von Marx und Lenin, und man hätte
seine liebe Mühe, zwischen dem Zugeständnis und der List eine
Entscheidung zu treffen. Nichts in den vorgeschlagenen Formeln
liefert jedoch eine absolute Garantie, daß es etwas Neues geben
wird. Und man kann sich, ohne irgendetwas an ihnen zu ändern,
auf die Gewalt und den Kalten Krieg zurückziehen. Die Ent-
stalinisierer sind immer noch Stalinisten. Die Doppelnatur des
Stalinismus schließt alles in sich ein, auch die Entstalinisierung.
Die besten Beobachter haben bemerkt, daß das politische Leben
des Kommunismus im stalinistischen Regime um so panischere
Kämpfe mit sich brachte, je weniger sich mehrere politische An-
sätze gegenüberstanden und je weniger offen die Opposition in
Erscheinung treten konnte. Hinsichtlich der stalinistischen Po-
litik des Kompromisses und der Koexistenz gab es keinerlei die
Lehre betreffende Abweichung, und man gab den ›Hardlinern‹
lediglich die Genugtuung, die Kompromisse mit bedrohlichen
Demonstrationen zu begleiten. Die Eigenart des Stalinismus
oder des linken Opportunismus besteht darin, sagt Hervé, eine
Politik der Zusammenarbeit zu betreiben und gleichzeitig eine
kompromißlose Ideologie zu bewahren. Der mit dröhnender
Stimme vorgetragene Kompromiß, der brüllend angesprochene
Frieden, diese Mischung aus politischem Zugeständnis und ver-
baler Gewalt sind der Stalinismus selbst. Wenn es heute einige
Entstalinisierer in der Führungsspitze der französischen Partei
gibt, so haben sie deswegen nicht aufgehört, Stalinisten zu sein.
Wie Togliatti sagte, wird dies viele lange Jahre dauern.
450 Gelegentliche Äußerungen

Man kann all dies nicht vergessen, wenn es beispielsweise


darum geht, den Bruch Hervés selbst mit dem Stalinismus einzu-
schätzen. Das Beispiel ist um so bezeichnender, als es, mit seinem
unerwarteten Eintreten vor dem XX. Kongreß und außerhalb von
jedem Ultimatum der Ereignisse, die reife Frucht einer Erfahrung
ist, die Tatsache eines Mannes, der genügend Scharfblick hatte,
um die Entwicklung des Kommunismus vorwegzunehmen, und
genügend Mut, um in das allgemeine Schweigen hinein zu re-
den, der Herr seiner Kritik ist wie er zuvor Herr seiner Anhän-
gerschaft war, der kurz gesagt sich selbst treu geblieben ist. Aber
es ist gerade diese seltene Würde, die seine Politik in der Zwei-
deutigkeit beläßt. Sie ist in vielerlei Hinsicht nur eine bewußtere
Form der stalinistischen Politik. »Was die Meinung angeht«, sagt
er selbst, »der zufolge ich im Vergleich zum Kurs der Führung des
PCF keinen ›oppositionellen Kurs‹ eingeschlagen haben soll, so
ist auch sie verständlich. Unter dem Zwang der Dinge und so gut
es eben geht verfolgt die Führung des PCF praktisch eine Politik,
die durch ihre Reden widerlegt wird.« Er legt Wert darauf, die
bewußte und aktive Koexistenz als eine marxistische und sogar
leninistische Politik darzustellen. Lassen wir einmal Marx und
Engels beiseite, aus denen man mehr als eine politische Philo-
sophie ableiten kann. Natürlich können Lenin und Trotzki der
Kritik am Stalinismus dienen, aber sie rücken nicht zur selben
Seite hin von ihm ab wie die Entstalinisierer. Selbst als er die NEP 3
vorschlug, hat Lenin nie die Koexistenz und den Wettstreit von
Kapitalismus und Sozialismus zum Prinzip erhoben. Im übrigen
stammt die NEP aus einer Zeit vor der Planung, eine NEP nach
fünfundzwanzig Jahren der Planung hat einen ganz anderen Sinn.
Ist die Politik der aktiven Koexistenz eine bolschewistische Poli-
tik? Politisch gesehen ist das, was Gomulka vorschlägt, ein Kom-
promiß mit der parlamentarischen Demokratie, eine Art Reichs-
tag, der ›die Arbeit der Regierung schätzt‹ und ›kontrolliert‹, eine
Partei, die ›lenkt‹ und nicht regiert, ein Staatsapparat, der seine
Autonomie gegenüber der Partei wiederfindet; kurzum, eine Art
›konstitutioneller Kommunismus‹ in dem Sinne, wie man von
konstitutioneller Monarchie spricht. All dies hat nichts gemein
Über die Entstalinisierung 451

mit Trotzkis ›Demokratie der Arbeiter‹ und auch nicht mit den
Thesen aus Der Staat und die Revolution. Die Entstalinisierung
kehrt nicht zu dem zurück, was vor Stalin war. Sie geht über Sta-
lin hinaus einer anderen Zukunft entgegen. Der Horizont eines
entstalinisierten Kommunismus ist nicht Lenins Horizont.
4 Hervé stellt sich zu Beginn von La Révolution et les fétiches die
Frage, ob die Revolution durch die Koexistenz auf unbestimmte
Zeit aufgeschoben wird. Am Ende gelangt er zu dem Schluß: Sie
wird weder aufgeschoben noch ausgelassen, sie verändert ihren
Charakter. Denn die Revolution kommt nicht unbedingt in Form
eines Aufstandes, nicht einmal mit Gewalt oder gar mit einem
5 ›Prager Staatsstreich‹.15 Er verlangt, daß man »den Begriff der
Reform noch einmal überdenkt«, ebenso wie die Begriffe Pla-
nung, Verstaatlichung und Staatskapitalismus.16 Er spricht mit
einem Fragezeichen vom »tatsächlichen Reformismus« und
sieht schließlich »Reformen« entgegen, »die in der politischen
Situation vorübergehend nicht anwendbar wären, die aber auf-
grund ihrer Anziehungskraft auf die Massen den Kampf vor-
antreiben und die Bedingungen ihrer praktischen Umsetzung
6 schaffen könnten.«17 Damit ist er nicht weit von der klassischen
Vorstellung der Reformen als Mittel zur Agitation und Auftakt
zur Machtübernahme entfernt … Wozu sollte man dann aber
noch die Reformen und den Rest berücksichtigen? Diese klu-
gen Untersuchungen werden von der Logik des Kampfes schnell
überholt sein. »Es scheint so, wenn man Chruschtschow Glau-
ben schenkt, als könne die Form der Diktatur des Proletariats
gar nicht notwendig sein.« Zu einem Thema dieser Art würde
man lieber etwas Positiveres hören. Man müßte wissen, daß es
nur darum geht, den Voluntarismus der Diktatur des Proletari-
ats und der autoritären Planung – und einer intelligenteren und
offeneren Form des Stalinismus – auf andere Weise in Gang zu
bringen.

15 La Révolution et les fétiches, S. 138.


16 Ebd., S. 129.
17 Lettre à Sartre, S. 82.
452 Gelegentliche Äußerungen

Ein bewußterer Stalinismus ist jedoch kein Stalinismus mehr.


Es geht um etwas ganz anderes, wie man an der Kritik der Fe-
tische und der kommunistischen Haltung ablesen kann. »Man
muß«, sagt Hervé, »im Hinblick auf die großen Probleme des
nationalen Lebens Stellung beziehen, man muß Lösungen vor-
schlagen und sich engagieren. Wie wollt ihr sonst erreichen, daß
die Demokraten und die Sozialisten uns vertrauen? Liegt es bei
ihnen, Verantwortung zu übernehmen? Liegt es bei uns, Forde-
rungen aufzustellen? Eine bequeme Haltung, aber wenig über-
zeugend.« Wie sollten die Aktivisten und die Partei, wenn sie an
die Revolution als Lösung glauben, sich mit der Frage beschäf-
tigen, ob eine Reform möglich ist, anstatt »den Kampf voran-
zutreiben«, indem sie nicht anwendbare Reformen vorschlagen?
Geht es darum, die Republik leben zu lassen, oder darum, sie in
Richtung der Diktatur zu durchschreiten? Es genügt nicht, eine
Sache unentschieden zu lassen, um die Kommunisten und die
anderen in einer Aktion zu versöhnen.
»Mir scheint«, sagt Hervé außerdem, »daß die Partei das Recht
in Anspruch nimmt, sich zu allen äußeren und inneren Fragen
der anderen Organisationen zu äußern. Wie könnte sie dies im
Gegenzug verbieten? Auf welches Prinzip würde sie sich beru-
fen? Auf das Prinzip, daß sie ›keine Partei wie die anderen‹ ist?
Wenn sie effektiv größere Allianzen schmieden und sich nicht
mit zweitklassigen Anhängern oder Ehrenmitgliedern der Partei
zufrieden geben will, wie könnte sie dann dieses Prinzip anderen
Parteien auferlegen? Wie sollte ein Einvernehmen möglich sein,
wenn die kommunistische Partei ihr Prinzip aufrechterhält, daß
sie über Rechte verfügt, die die anderen nicht haben?«18 Wenn
aber das Proletariat eine geschichtliche Mission hat und wenn
die Partei der Interpret dieser Mission ist, dann hat sie besondere
Rechte, dann ist sie keine Partei wie die anderen. Der Kommu-
nismus kann nur dann eine Wechselbeziehung mit den anderen
eingehen, wenn er bereit ist, sich auch mit ihren Augen zu sehen,
das heißt sich zu relativieren.

18 Lettre à Sartre, S. 111.


Über die Entstalinisierung 453

Man sieht also, was man über die Parole einer Volksfront den-
ken muß, die von Hervé, und jüngst auch noch von Sartre, auf-
gegriffen wurde. Sie gehört nicht zu jenen Parolen, die zur poli-
tischen Klarheit beitragen. Denn von welcher Volksfront spricht
man schließlich? Es gibt die gesellschaftliche Bewegung von
1936, die Streiks mit ihren Fabrikbesetzungen, die eine Über-
nahme der Produktionsmittel durch die Arbeiterklasse auf die
Tagesordnung setzten. Es ist sicher nicht diese Volksfront, an die
man als ein Mittel zur Vereinigung der Linken denkt. Ist es die
Volksfront im Sinne von Thorez, die den Streiks ein Ende berei-
tet, die aber, kraft verbaler Gewaltanwendung, die Partei aus ihrer
Verantwortung entläßt? Oder denkt man gar an das Dreipartei-
ensystem der Nachkriegszeit, bei dem kommunistische Minister
gegen eine Regierung stimmten, der sie weiterhin angehörten?
Es ist das genaue Gegenteil dieser ›konstitutionellen Politik‹, die-
ses Engagements für die Probleme des Tages, dieser ernsthaften
Gemeinschaftsaktion mit den Nicht-Kommunisten, das Hervé
mit Togliatti ersehnt. Denkt man schließlich an die Volksfront
im Sinne Blums, dieser janusköpfigen, die sich der Arbeiterklasse
wie der Beginn des Sozialismus präsentiert und den Betriebslei-
tern wie ihre letzte Chance, die letztlich weder das eine noch das
andere ist und auf der Ebene der Reform ebenso scheitert wie
auf der Ebene der Revolution? Man kann nur dann ernsthaft von
einer Volksfront reden, wenn man das Problem aufgreift, auf das
Blum selbst gestoßen ist – wenn man eine Aktion bestimmt, die
tatsächlich die Überwindung der kapitalistischen Anarchie ist,
ohne der Beginn der Diktatur des Proletariats zu sein. Dies nennt
man einen Reformismus.
In Wahrheit ist der Reformismus keine alte Sache: Er steht al-
lein auf der Tagesordnung. Gomulka stellt fest, daß man eine
Bilanz der Nation ziehen müsse, daß es ohne Bilanz keinen Plan
gibt, daß das Problem einer effektiven Führung der Wirtschaft
durch den Menschen nach der Übertragung der Produktions-
mittel an den Staat ganz erhalten bleibt und daß die diktatorische
Wirtschaft nur an der Schwelle zu diesem Problem steht. Dies
bedeutet, daß die rivalisierenden Formen des Eigentums anhand
454 Gelegentliche Äußerungen

ihrer Fähigkeit zu bewerten sind, dieses Problem zu lösen oder


nicht zu lösen, und daß weder die eine noch die andere Form an
sich eine Lösung ist. Um die tatsächlichen Produktionskosten,
die Bedürfnisse und die Möglichkeiten des Konsums zu ermit-
teln, ist die Marktwirtschaft ein abgegriffenes Instrument, das so
gut es eben geht an unvorhergesehene Anwendungen angepaßt
ist. Es ist das einzige Instrument, über das wir bis heute verfü-
gen. Wenn man ein besseres haben will, so muß man es erfinden.
Ähnliche Probleme finden sich am Horizont der Diktatur und
am Horizont des Kapitalismus. Für die Diktatur geht es darum,
zu einer Planung überzugehen, die keinen Zwang ausübt, wie es
umgekehrt für den Kapitalismus darum geht, die Mechanismen
der Marktwirtschaft einer Lenkung durch das öffentliche Inter-
esse zu unterstellen. Auf beiden Seiten geht es darum, ›künstli-
che Mechanismen‹ oder Servomechanismen zu schaffen, die eine
Wirtschaft ohne Diktatur anregen und organisieren. Die Alter-
native ›Reform oder Revolution‹ ist vor dem neu auftauchenden
Problem, das von der Revolution nicht gelöst wurde, nicht länger
zwingend.
Zunächst ist eine reformistische Arbeiter- und Bauernpartei
ein Eindringen in das politische Leben einer Masse von Wäh-
lern, die gegenwärtig, zum Glück für die Rechte, keine Beachtung
findet. Sie ist auch das Ende des sozialistischen Doppelspiels. Es
wäre noch weitaus schwieriger, die sozialistischen Aktivisten zur
Annahme der besagten Politik zu bewegen, wenn der Ehren-
punkt des ›sozialistischen Programms‹, ständiger Trost und dau-
erhafte Rechtfertigung, zufällig fehlen sollte. Die Forderung nach
einer realen, manifesten und verifizierbaren Politik würde die
sozialistische Partei mindestens genauso transformieren wie die
kommunistische Partei. Und es handelt sich dabei nur um eine
einzige Operation: Der Sozialismus hat nur deshalb in diesem
Maße entarten können, weil die kommunistische Politik seine
reformistische Aufgabe unmöglich gemacht hat und ihm un-
ermüdlich alle nützlichen Vorwände und Ablenkungen lieferte.
Man sucht von verschiedenen Seiten ein Kriterium der Linken:
Es ist nicht allzu schwierig zu finden. Ein Mann der Linken ist
Über die Entstalinisierung 455

derjenige, der den Erfolg der Entstalinisierung wünscht – einer


konsequenten Entstalinisierung ohne vorgeschobenen Riegel –,
die über die Grenzen des Kommunismus hinaus auf die ganze
Linke ausgedehnt wird, die er ›eingefroren‹ hat.
(November 1956)
456

Ü BE R DI E E RO T I K 1

Ist die Erotik eine Form des intellektuellen Mutes und der Frei-
heit? Was aber würde aus Valmont ohne die Unschuld Céciles
werden, ohne die Keuschheit der Präsidentin? Es gäbe für ihn 2
nichts zu tun. Was würde ohne die guten Gefühle aus den schlech-
ten Gefühlen werden? Das Gefallen an der Profanierung setzt die
Vorurteile und die Unschuld voraus. Es setzt sie vielleicht sogar
beim Schänder selbst voraus, und am Ende des Buches vermutet
man, daß zumindest Mme de Merteuil sich nur deshalb auf den
Wettstreit der Boshaftigkeit, den sie und Valmont untereinander
begonnen haben, eingelassen hat, weil ihr an Valmont lag. Es gibt
nur Blumen des Bösen, wenn es ein Gut und ein Böse gibt, und
nur dann läßt sich die Sache Satans vertreten, wenn auch Gottes 3
Sache vertreten wird. Eine bestimmte Art von Erotik setzt alle
traditionellen Verbindungen voraus und hat weder den Mut, sie
zu akzeptieren, noch den Mut, mit ihnen zu brechen. In diesem
Fall ist ›libertin‹ eine Verkleinerungsform.
Die surrealistische Erotik wäre eine eigene Studie wert. Sie ist
etwas ganz anderes als das Gefallen an der Profanierung. Sie ist
die Rückkehr zur primordialen Einheit, zum Unmittelbaren, zur
Unterschiedslosigkeit von Liebe und Begehren, so wie das auto-
matische Schreiben der Aufruf zu einem nicht geleiteten und in
seinem Sinn unklaren Sprechen war. Zu Recht haben die Sur-
realisten jedoch bald begriffen, daß nicht jedes unwillkürliche
Schreiben diese Kraft besitzt: Die Worte der Sibylle nutzen sich
ab, jene, die überdauern, liegen nicht fertig vorgeformt in unserer
Kehle, sondern zeichnen sich im Versuch des Lebens und Spre-
chens ab. Es hat einen Surrealismus gegeben, der nach den Wun-
dern im Rohzustand suchte, in jeder Zersetzung der bestehenden
Welt. Im Extremfall ist dies die Kunst der Possen und Neckereien.
Der Surrealismus, der Bestand hatte, begnügte sich nicht damit,
die gewohnte Welt zu zerreißen, er bildete aus ihr eine neue. Die
Über die Erotik 457

Amour fou gilt es erst noch zu schaffen, über die Eigenliebe, die
Lust an der Herrschaft und das Gefallen an der Sünde hinweg.
Die profanierende Erotik hängt zu sehr mit dem zusammen,
was sie leugnet, um eine Form der Freiheit sein zu können. Sie
ist nicht immer ein Zeichen seelischer Stärke. Ich kannte einen
Schriftsteller, der von nichts als Blut und Zerstörung sprach, und
der, da man ihn fragte, was er fühle, nachdem er getötet habe,
antwortete, er habe ja überhaupt niemanden getötet, aber wenn
er es getan hätte, dann hätte er sicher das Gefühl, ›in ein Loch
gefallen‹ zu sein. Unsere sadistischen Mitmenschen sind oft
sehr gutmütig. Es gibt Briefe von de Sade, die ihn als jämmer-
lich und eingeschüchtert von der öffentlichen Meinung zeigen.
Weder Laclos noch de Sade haben während der Französischen
Revolution die Rolle Luzifers gespielt. Und andererseits zeigt uns
das, was wir vom privaten Leben Lenins und Trotzkis wissen,
daß sie herkömmliche Menschen waren. Die Treuherzigkeit und
der Optimismus der marxistischen Thesen über die Sexualität
haben keinen großen Bezug zur Libertinage. Das Abenteuer einer
Revolution wird auf einer luftigeren Bühne als der von de Sade
gespielt, und Lenin gleicht eher Richelieu als de Sade.
Ziehen wir auch in Betracht, daß unsere großen Erotiker stets
die Feder in der Hand halten: Die Religion der Erotik könnte sehr
wohl nur ein literarisches Faktum sein. Die Eigenart der Litera-
tur besteht darin, dem Leser glaubhaft zu machen, man finde im
Menschen und in dem, was er erlebt, in konzentrierter Form jene
seltene Substanz, die seine Werke erahnen lassen. Dies ist jedoch
nicht wahr: Im Buch ist alles vorhanden, oder zumindest das Be-
ste. Die Leserschaft glaubt lieber, der Schriftsteller müsse, wie ein
Wesen von unbekannter Art, bestimmte Empfindungen haben,
in denen alles enthalten sei und die gewissermaßen schwarze
Sakramente sind. Der erotische Schriftsteller setzt auf diese Le-
gende (und verbreitet sie nur um so mehr, desto mehr Menschen
allein das Geschlecht einen Zugang zum Außergewöhnlichen
verschafft). Darin zeigt sich jedoch ein Spiel der wechselseitigen
Spiegelung von Geschriebenem und Erlebtem. Ein gut Teil der
Erotik findet nur auf dem Papier statt. Der nicht erotische, offe-
458 Gelegentliche Äußerungen

nere, mutigere Schriftsteller geht seiner Aufgabe nicht aus dem


Weg, die darin besteht, das Leben der Zeichen zu verändern, auf
sich allein gestellt und ohne Komplizen.
Was die Philosophen angeht, so gibt es unter ihnen sehr große,
wie Kant, die für so wenig erotisch wie möglich gehalten werden.
Wie könnten sie prinzipiell im Labyrinth von de Sade und Ma-
soch gefangen bleiben, da sie all dies zu verstehen suchen? Tat-
sächlich befinden sie sich, wie alle Menschen, mitten in diesem
Labyrinth, aber mit der Idee, ihm zu entkommen. Wie Theseus,
so tragen auch sie einen Faden mit sich. Als Schriftsteller, die
auch sie sind, bemißt ihre Freiheit des Blicks sich nicht anhand
der Heftigkeit dessen, was sie empfinden, und es kommt vor, daß
sie von einem Stück Wachs viel über die fleischliche Welt lernen
können. Das menschliche Leben wird nicht nur auf einem Regi-
ster gespielt: Vom einen zum anderen gibt es Echos, Formen des
Austauschs, aber manch einer, der sich nie gegen die Leidenschaf-
ten zur Wehr gesetzt hat, bietet der Geschichte die Stirn, manch
einer, der auf gewöhnliche Weise denkt, geht frei mit den Sitten
um, und manch einer, dessen Gedanken alle Dinge entwurzeln,
führt dem Anschein nach ein Leben wie jedermann.
(Oktober 1954)
459

1 Ü BE R DI E L OK A L NAC H R IC H T E N

Vielleicht gibt es keine Lokalnachricht, die nicht zu tiefgehenden


Gedanken veranlaßt. Ich erinnere mich, im faschistischen Italien,
im Bahnhof von Genua, einen Mann gesehen zu haben, der sich
von der Höhe eines Bahndamms auf die Gleise warf. Die Menge
strömte herbei. Bevor sie überhaupt daran dachten, dem Verletz-
ten zu helfen, drängten die ›Bahnmilizen‹ die Menge rüde zu-
rück. Dieses Blut stiftete Unordnung, man mußte es schnellstens
beseitigen, auf daß die Welt wieder ihr beruhigendes Aussehen
eines Augustabends in Genua annähme. Alle Schwindelgefühle
sind miteinander verwandt. In dem Moment, in dem sie einen
Unbekannten sterben sehen, hätten diese Menschen lernen kön-
nen, über ihr eigenes Leben zu urteilen. Man verteidigte sie gegen
jemanden, der über sein Leben frei verfügt hatte. Das Gefallen an
der Lokalnachricht ist der Wunsch, zu sehen, und sehen heißt,
in einer Falte des Gesichts eine ganze Welt zu erahnen, die der
unsrigen gleicht.
Aber sehen heißt auch, zu lernen, daß das grenzenlose Vergnü-
gen und der maßlose Schmerz, die uns erfüllen, für den fremden
Zuschauer nur eine armselige Grimasse sind. Man kann alles se-
hen – und leben, nachdem man alles gesehen hat. Das Sehen ist
jene eigenartige Weise, sich zu vergegenwärtigen und gleichzeitig
Distanz zu wahren, und die Anderen dabei, ohne Anteil zu neh-
men, in sichtbare Dinge zu verwandeln. Der Sehende glaubt, er
sei unsichtbar: Seine Handlungen bleiben für ihn in der schmei-
chelhaften Umgebung seiner Absichten, und er gesteht den An-
deren dieses Alibi nicht zu, er reduziert sie auf einige Worte, auf
einige Gesten. Der Voyeur ist sadistisch. Stendhal, der es leiden-
schaftlich liebte, Beobachtungen anzustellen, der sich aber auch
selbst beobachtete, hat sehr wohl verstanden, daß selbst die Ent-
rüstung manchmal suspekt ist: »Auf was für Anekdoten über
die gut bezahlten Magistraten bin ich doch auf meinem Weg
460 Gelegentliche Äußerungen

von Bordeaux nach Bayonne, Pau, Narbonne, Montpellier und


Marseille gestoßen! Wenn ich älter und noch gezeichneter sein
werde, dann werden diese so traurigen Dinge in der Geschichte
meiner Zeit erscheinen. Aber, großer Gott, welche Häßlichkeit
offenbart sich hier! War die Welt immer schon so bestechlich,
von so niederem Antrieb und so unverfrorener Scheinheiligkeit?
Bin ich böswilliger als jemand anders? Bin ich neidisch? Woher
kommt diese unbändige Lust in mir, beispielsweise jenem Magi-
straten von […] mit dem Knüppel eine ordentliche Tracht Prügel
zu verabreichen?« 2

*
Es gibt also einen guten und einen schlechten Gebrauch der Lo-
kalnachrichten, vielleicht sogar zwei Sorten von Lokalnachrich-
ten, je nach der Art der Enthüllung, die sie mit sich bringen. Was
verborgen bleibt, ist zunächst einmal das Blut, der Leib, die Wä-
sche, das Innere der Häuser und der Lebensläufe, die Leinwand
unter der abblätternden Malerei, die Materialien unter dem, was
Form angenommen hatte, die Kontingenz und schließlich der
Tod. Den Unfall auf der Straße (den man durch eine Scheibe
sieht), den Handschuh auf dem Gehweg, eine Rasierklinge dicht
vor dem Auge, das Prickeln des Begehrens und seine Lähmung –
Buñuels Der andalusische Hund hat all diese Begegnungen mit
dem Vormenschlichen beschrieben, und man kann stets die-
selbe Klarheit des Traumes erlangen, man kann dieselbe über-
raschende Gefühlsregung jedesmal erzielen, wenn man sich vom
Geschehen abschneidet, wenn man sich zum Fremden macht: Bei
einem Mann, der am Telefon spricht und dessen Worte ich nicht
hören kann, ist jener Anschein einer lächerlichen Intelligenz, sind
jene Abstufungen ins Absurde ein faszinierendes Schauspiel –,
aber sie geben uns alles in allem nur unseren Standpunkt eines
verständnislosen Beobachters zu verstehen.
Wir müssen die kleinen wahren Begebenheiten Stendhals bei-
seite oder in übergeordneter Position lassen. Sie decken nicht
bloß das Darunterliegende auf, den Staub, den Schmutz und den
Bodensatz eines Lebens – sondern vielmehr die unbestrittenen
Über die Lokalnachrichten 461

Seiten eines Menschen, das, was er in den Grenzfällen ist, wenn


er durch die Umstände vereinfacht wird, wenn er nicht daran
denkt, einen bestimmten Eindruck zu erwecken, im Unglück
oder im Glück. Stendhal rettet sich an einem Regentag in Toulon
mit zwei Bildern vor der Langeweile: »Ein flüchtender Soldat,
der sich selbst verachtete, beschlagnahmt ein Pferd, erneuert
den Zündstoff seiner Pistolen, läßt dieses Pferd den Weg hinter
der Hecke hinauflaufen, tötet einen Feind, verletzt einen ande-
3 ren und beendet so eine wilde Flucht.« »Wie könnte ich«, fährt
Stendhal fort, »nach einer so glanzvollen Berühmtheit noch wa-
gen zu behaupten, ich sei geläutert worden und habe aus meinem
Tag tatsächlich die Langeweile vertrieben, indem ich das Dampf-
boot bestieg. Ich amüsierte mich über das galante Verhalten eines
Matrosen gegenüber einer wirklich sehr hübschen Frau aus der
Klasse der wohlhabenden Leute, die gemeinsam mit einer ihrer
Begleiterinnen von der Hitze aus ihrem untenliegenden Zimmer
vertrieben worden war. Er bedeckte sie mit einem Schleier, um
sie ein wenig zu schützen, sie und ihr Kind, aber der starke Wind
verfing sich im Schleier und störte sie. Er schmeichelte der schö-
nen Reisenden und entdeckte sie, während er doch vorgab, sie
zuzudecken. Es lag viel Fröhlichkeit, viel Natürliches und sogar
Anmut in dieser Handlung, die eine Stunde lang dauerte. Die
nicht umworbene Freundin wurde auf mich aufmerksam und
sagte: ›Dieser Herr setzt seinen Ruf aufs Spiel.‹ Ich hätte mit ihr
reden sollen; sie war ein hübsches Geschöpf, aber der Anblick
4 jener Anmut bereitete mir mehr Vergnügen.«

*
Die kleine wahre Begebenheit braucht nicht heldenhaft oder an-
mutig zu sein. Sie kann auch ein Leben sein, das im gesellschaft-
lichen Arrangement erstickt und untergeht: der Provokateur
Korthis, dem ein Soldat eine Kugel in den Bauch schießt und
der den Innenminister, der ihn einstellt, seine Geheimnisse aus-
plaudern läßt – aber nur ein wenig, weil er weiß, daß man ihn im
Krankenhaus vergiften kann, da er, wie Leuwen, ein ehemaliger
Soldat ist, da er an das Elend gewöhnt ist und ahnt, daß man das
462 Gelegentliche Äußerungen

Schweigen eines Elenden nicht sehr teuer bezahlt. Dasselbe nie


endende Ringen mit dem Unglück und dasselbe erschöpfende
Spiel mit den Gesetzen, den Bestimmungen und Notwendigkei-
ten führen heute entkräftete und verrückt gewordene Frauen in
die Polikliniken: Zu viert in einem Zimmer zu leben, aufzustehen
und um fünf die Kinder aus dem Bett zu holen, um Platz zu
haben, das Frühstück vorzubereiten, sie zur Hausmeisterin zu
bringen, die auf sie aufpaßt, bis es Zeit ist, zur Schule zu gehen,
anderthalb Stunden Bus und U-Bahn zu fahren, um in Paris ar-
beiten zu gehen, abends um acht Uhr zurückzukommen, um ein-
zukaufen und das Abendessen zu bereiten, am nächsten Tag wie-
der von vorn zu beginnen und nach einigen Jahren nicht mehr
zu können – das sind die Enthüllungen, welche die Zeitungen
ihren allerjüngsten Lesern ohne Schwierigkeit bieten könnten.
Die kleinen wahren Begebenheiten sind keine Bruchstücke des
Lebens, sondern Zeichen, Embleme, Appelle.
Nur mit ihnen kann sich der Roman vergleichen. Er bedient
sich ihrer, er bringt wie sie etwas zum Ausdruck, und selbst wenn
er erfindet, sind es noch fiktive ›kleine Tatsachen‹, die er erfindet:
die Hälfte von Mathildes Haaren, die Julien durch das Fenster
zugeworfen wird, der Direktor des Armenhauses, der die Gefan-
genen zum Schweigen bringt, weil diese Gesänge ihm das Essen
verderben würden. Dennoch gibt es im Roman mehr und gibt 5
es weniger als in den kleinen wahren Begebenheiten. Er bereitet
die Geste oder das Wort des Augenblicks vor, er kommentiert
sie. Der Autor paßt sich seiner Romanfigur an und läßt uns in
ihren inneren Monolog eintreten. Der Roman liefert den Kon-
text. Demgegenüber erschüttert die Lokalnachricht, weil sie das
Eindringen eines Lebens in jene Leben bedeutet, die nichts von
ihm wußten. Die Lokalnachricht nennt die Dinge beim Namen,
der Roman benennt sie nur anhand dessen, was die Personen
fühlen. Stendhal verrät Octaves Geheimnis nicht: »Es wird eini-
ger Jahrhunderte bedürfen«, schrieb er an Mérimée, »bevor man
mit Schwarz und Weiß malen kann.« Octaves Leid wird dann
zum Leid des Unmöglichen – noch unheilbarer, aber weniger
schmerzlich als sein wirkliches Leiden. Der Roman enthält mehr
Über die Lokalnachrichten 463

Wahrheit, weil er eine Totalität hervorbringt und weil man mit


lauter wahren Details eine Lüge konstruieren kann. Die Lokal-
nachricht enthält hingegen mehr Wahrheit, weil sie verletzt und
weil sie nicht schön ist. Nur bei den Größten schließen sich beide
zusammen, bei jenen, die – wie man gesagt hat – die »Poesie des
Wahren« finden.
(Dezember 1954)
464

Ü BE R C L AU DE L 1

Wenn ein Genie derjenige ist, dessen Worte mehr Sinn enthal-
ten, als er selbst in sie hineinlegen könnte, derjenige, der mit
der Beschreibung der Reliefs seines privaten Universums in den
verschiedensten Menschen eine Art Erinnerung an das wecken
kann, was er im Begriff ist zu sagen, so wie die Tätigkeit unserer
Augen ganz unschuldig ein Schauspiel vor uns entfaltet, das auch
die Welt der Anderen ist, dann ist Claudel manchmal ein Genie
gewesen. Ob er es genauso oft gewesen ist wie Shakespeare oder
wie Dostojewski, zwei seiner Vorbilder, oder ob im Gegenteil das
Claudelsche Schnurren, wie Adrienne Monnier es ausdrückte,
eine gewisse Art, das Verpuffen der Worte zu organisieren, nicht
oftmals Claudels Wort ersetzen würde, dies ist eine andere Frage,
die nicht so wichtig ist. Auf jeden Fall gibt es kein Genie, das auf
Dauer ein solches wäre, das Genie ist keine bestimmte Gattung
oder Rasse der Menschheit.
Ob man es nun tut, um Claudel zu ehren, indem man ihn
zu den Übermenschen zählt, oder im Gegenteil, um das Werk
auf Umwegen mittels einiger ausgewählter Anekdoten einzuho-
len, von Genie zu sprechen bedeutet, zu postulieren, ein Mensch
könne aus demselben Stoff gemacht sein wie das, was er geschrie-
ben hat, und er habe das Geschriebene so hervorgebracht wie ein
Apfelbaum Äpfel hervorbringt. Im Augenblick des Todes, in dem
der Lebende und der Schriftsteller mehr denn je miteinander
verbunden sind, da sie gemeinsam enden und man zum ersten
Mal das Schweigen jener Stimme vernimmt, in diesem Augen-
blick ist es natürlich, daß man versucht ist, die Frage nach dem
Genie zu stellen. Ob man dies aber pietätvoll oder boshaft tut,
man unterliegt immer demselben grausamen Irrtum hinsichtlich
der schriftstellerischen Situation. Liebe und Haß kommen darin
überein, daß man ihnen die Ehre erweist, aber auch die Pflicht
auferlegt, unvermeidlich gewesen zu sein. Wollte man ihm ge-
Über Claudel 465

genüber zu einer angemessenen Haltung gelangen, dann müßte


man auf diesen Fetischismus verzichten. Es ist nie angebracht,
gegenüber keinem als Ganzes betrachteten Menschen, das Zeug-
nis eines Genies zu verleihen oder zu verweigern.
Die prosaischen Seiten Claudels kennt man: Sie sind oft ge-
nug hervorgehoben worden. Mit öffentlichen Ereignissen hatte
er kein Glück. Früher hat er von den ›Frontsoldaten‹ (poilus) ge-
sprochen, und erst neulich hat er dies wiederholt, in einem Ton,
der den Kriegsteilnehmern unerträglich ist. Er hat den Staats-
männern, zwischen denen man eine Wahl hätte treffen müssen,
mit beinahe denselben Worten seine Verehrung ausgedrückt. In
Le Figaro hat er einige gefährlich kriegerische Einschätzungen
der Weltlage vorgetragen. Unter diesen extremen Umständen
war er kaum weitblickender oder unnachgiebiger als ein mittle-
rer Beamter vom Quai d’Orsay. Man braucht von ihm nicht jene
Intoleranz gegenüber den Titeln und den Verwaltungsräten zu
fordern, die für die professionellen Schriftsteller Ehrensache ist.
Aber dies ist nicht unser Thema: Nicht darin lag sein Genie, wenn
es denn ein Genie geben sollte.
Es gibt da noch etwas viel wichtigeres: Er hat beinahe all jene
enttäuscht, die bei ihm Zuflucht suchten, um sich der Sorge zu
entledigen, sie selbst zu sein. Jacques Rivière, der ihm sein unauf-
geräumtes Inneres beschrieb (und der, nebenbei, boshaft einige
Dummheiten in seine Briefe einfügte, um zu sehen, ob der große
Mann sie bemerken würde), erhielt von Claudel die Antwort, er
müsse sich »auf den Beichtstuhl begeben«. Er befiehlt Gide aus-
drücklich, Sodom zu verurteilen, unter Androhung der Strafe,
andernfalls nicht mehr sein Freund zu sein. Einer kultivierten
Dame, die ihn hinsichtlich unserer Anstrengungen bei der Be-
gründung rein menschlicher Werte befragte, antwortet er – und
dies geht noch über den strengsten Integralismus hinaus –, »die
moralischen Werte sind die Gebote Gottes und der Kirche. Dar-
über hinaus gibt es keinen moralischen oder spirituellen Wert.
Was unsere Schriftsteller entdecken, erscheint mir lächerlich.«
Aber ihre Tragik, erwidert die Dame, ihre Loyalität … »Das ist
mir völlig gleichgültig«, sagt Claudel. »Sollen sie doch sehen,
466 Gelegentliche Äußerungen

wie sie zurechtkommen.« Solcherart ist dieser Sektierer. Und


solcherart sind, sagt Gide, jener »willentliche (und instinktive)
Unverstand, dieses vorsätzliche Leugnen dessen, was man nicht
annektieren kann.«1 2
Und dennoch ist es ein Atheist, Philippe Berthelot, dem er,
wie er selbst sagt, »durch eine stärkere Zuneigung und eine grö-
ßere Anerkennung als er je für ein menschliches Wesen empfun-
den hat, verbunden war.«2 Hier gab es allerdings auch nichts zu 3
annektieren: »Jeder Aufruf, den ich an ihn gerichtet habe, traf
bei ihm nur auf Schweigen und einen ausweichenden Blick.«3
Berthelot rief, als er an seinem Schreibtisch am Quai d’Orsay
unter einer Angina pectoris litt, einen seiner Mitarbeiter zu sich
und sagte zu ihm: »In zehn Minuten werde ich tot sein […] Ich
möchte, daß Sie wissen, daß es nach dem Tod nichts gibt und
daß ich mir dessen sicher bin.« Claudel kommentiert: »Es ist die
ehrliche und mutige Feststellung einer Tatsache und eines per-
sönlichen Unvermögens, weiter darüber hinauszusehen.«4 Am
6. April 1925 erfährt Claudel auf dem Schiff vom Tod Jacques
Rivières. Und er, der so rundweg ablehnte, in Rivières Labyrinthe
einzutreten, er leiht ihm nun seine Stimme und schreibt für die
Feuilles de Saints:
»Wie aber soll man all dieses Denken, das gleichsam aus dem
Wasser geboren wird, verstehen, ohne daran teilzunehmen?
All dies Geräusch, das dabei ist, ein Wort zu werden, ist alles in
allem vielleicht interessant. Wer wird da sein, um zu verstehen,
wenn ich scheitere?
Wer wird da sein, um zu hören, wenn ich mich ganz von einem
tauben Gott vereinnahmen lasse?
Dessen fortschreitende, Faser für Faser an mir wirkende Arbeit
ich während jener vier Gefängnisjahre nur allzu sehr habe spüren
können?« 4

1 Journal, 2. November 1930.


2 Accompagnements, S. 182.
3 Ebd., S. 205.
4 Ebd., S. 193.
Über Claudel 467

Auf diese Weise ist es wohl deutlich: Er, der das Unverständnis
zu seinen Eigenschaften zählte, hatte perfekt verstanden. Warum
also stritt er es ab? Wenn man das Werk betrachtet, drängt sich
die Frage noch weit mehr auf. Denn die Welt der Dramen Clau-
dels ist so wenig konventionell, so wenig vernünftig und so wenig
›theologisch‹, wie man sich nur denken kann. Dieser Botschafter
hat nie Monarchen oder große Persönlichkeiten in Szene gesetzt,
die nicht unmerklich lächerlich waren: der spanische König und
5 sein Hof, in Le Soulier de Satin, die bei ihren Ausführungen stän-
dig von den Bewegungen des Pontons unterbrochen werden,
auf dem sie ihren Wohnsitz gewählt haben – Papst Pius, der vor
Coûfontaine einschläft, und es ist diese Schläfrigkeit eines alten
Mannes, die auf Erden und auf der Bühne des Théâtre-Fran-
çais den Widerstand der Kirche gegenüber der Gewalt verkör-
6 pern soll – der amputierte Rodrigue, der sich in die Gespräche
einer provozierenden Schauspielerin verwickeln läßt, die der
König von Spanien geschickt hat, gibt sich die Blöße, vor dem
Hof, und in was für einem Tonfall, dreiste Machtansprüche zu
erheben, um letztlich zwei Soldaten übergeben zu werden, de-
nen es nicht einmal gelingt, ihn zu verkaufen … Die einzigen
Personen, die Claudel ganz ernst nimmt, sind jene, die ganz in
einer einfachen Leidenschaft, einem Kummer oder einem ir-
dischen Gut aufgehen: Mara ist zu recht eifersüchtig, weil sie
7 häßlich und ungefällig ist, Sygne hat recht, im letzten Moment
das Opfer abzulehnen, das sie dennoch gebracht hat, weil ›alles
ausgeschöpft ist‹ und niemand von einem menschlichen Wesen
8 verlangen kann, darüber hinauszugehen, und Turelure hat auf
ihre Weise nicht unrecht daran getan, die Mönche der Abtei in je-
nem Jahr I, in dem die Renekloden so gut waren, ins Paradies zu
stoßen.
»Wir waren im Begriff, alles zu öffnen, wir waren im Be-
griff, alle zusammen zu schlafen, wir wollten gerade ohne
Zwang und ohne Höschen inmitten des wiederbelebten Univer-
sums spazieren gehen, wir wollten uns gerade über die ganze,
von Göttern und Tyrannen befreite Erde hinweg in Bewegung
setzen!
468 Gelegentliche Äußerungen

Schuld sind auch all diese alten Dinge, die nicht solide waren,
es war zu verlockend, ein wenig an ihnen zu rütteln, um zu sehen,
was passiert!
Ist es unsere Schuld, wenn alles über uns hereingebrochen ist?
Wahrhaftig, ich bereue nichts.« 9
Man muß wirklich lesen können, um in diesen gewundenen
Linien die gerade Schrift Gottes wiederzufinden. Im ersten Au-
genblick handelt es sich eher um ein überbordendes Chaos, ein
Übermaß an nutzlosen oder abgeschmackten Details. Von Don
Mendez Leal, der durch die Nase spricht, bis zur Negerin Jobar-
bara, vom heiligen Adlibitum bis zum neapolitanischen Un-
teroffizier, von den Kaiserreichen bis zu den Kontinenten, den
Rassen, den Krankheiten und den Sternbildern bietet auf den
ersten Blick nichts einen Anlaß zur Ehrerbietung. Wenn diese
Welt ein Gedicht ist, dann nicht etwa deshalb, weil man zuerst
ihren Sinn erkennen würde, sondern weil sie aus Zufällen und
Paradoxen besteht. »Ich sehe Waterloo; und dort unten, im In-
dischen Ozean, sehe ich zur selben Zeit einen Perlenfischer, des-
sen Kopf plötzlich nahe bei seinem Katamaran aus dem Wasser
auftaucht.«5 Wenn Claudel, wie man weiß, nie aufgehört hat, das 10
in diesem Durcheinander wirkende Prinzip zu verehren, dann
hat er es einmal als Stille, als Abgrund bezeichnet, und nie hat er
jene zweideutige Aussage zurückgezogen, die lautet: »Die Zeit ist
das allem je Seienden dargebotene Mittel, zu sein, damit es nicht
mehr sein muß. Es ist die Einladung zum Sterben, sich mit jedem
Satz im erklärenden und totalen Einverständnis aufzulösen, das
Wort der Verehrung im Ohr von Sigè dem Abgrund verklingen
zu lassen.«6
Was ihn so viele seinen Glaubensüberzeugungen gleichwohl
fremd gegenüberstehenden Menschen berühren läßt, ist der Um-
stand, daß er einer der wenigen französischen Schriftsteller ist,
die das Getöse und die Verschwendungssucht der Welt fühlbar
gemacht haben. Die neue Logik, von welcher die Art poétique

5 Art poétique, S. 53.


6 Ebd., S. 57.
Über Claudel 469

sprach, hat nichts zu tun mit jener Logik der klassischen Theo-
dizeen. Claudel macht es sich nicht zur Aufgabe, zu beweisen,
daß diese Welt die beste aller möglichen Welten sei, und auch
nicht, die Schöpfung herzuleiten. Er nimmt sie, wie sie ist, mit
ihren Wunden, ihren Beulen, ihrem schwankenden Schritt, und
er bestätigt nur, daß man in ihr von Zeit zu Zeit unverhoffte Be-
gegnungen feststellen kann, daß das Schlimmste nicht immer ge-
wiß ist. Durch diese Zurückhaltung, diesen Freimut und diesen
Humor reicht sein Handeln über den Katholizismus hinaus. Aber
dies führt uns auf unsere Frage zurück: Noch einmal sei gefragt,
warum der so überaus ›offene‹ Dichter im denkbar verschlossen-
sten Menschen zu finden war?
Es ist ein religiöser Widerspruch: Alle Dinge tragen zum Gu-
ten bei, auch die Sünden, sagt Augustinus, und Claudel wieder-
holt: »das Gute fügt zusammen«, es ist in der Lage, das Schlechte
vergleichsweise gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Ohne Mara,
ohne Turelure und ohne Coûfontaine würde es keine Violaine
und keine Sygne geben. Das Schlechte ist jedoch nur dann ge-
rechtfertigt, wenn es nun einmal geschehen ist. Vor dem Tatbe-
stand bleibt es das Schlechte, und das Gesetz lautet weiterhin,
es um jeden Preis zu vermeiden. In der Religion gibt es ein uni-
verselles Verzeihen, aber in jedem Augenblick auch die Gefahr
der Verdammnis. Deshalb strebte Coûfontaine eilig seinem Ziel
entgegen, in der Gewißheit, daß man ihm verzeihen werde, wenn
er es nur schnell genug erreichte: »Was wissen wir über Gottes
Willen, wenn für uns das einzige Mittel, ihn zu kennen, darin
liegt, ihm zu widersprechen?« Deshalb hat Claudel aber auch nie
erkennen lassen, wie sehr er die Anderen verstand. Deshalb hat
er dieses Bollwerk aus absichtlichem Unverständnis um sich er-
richtet. Zunächst einmal muß man auf das Schlechte verzichten,
und erst dann kann man es vergleichsweise rechtfertigen. Diese
jungen Leute oder diese Literaten, die sich nähern, muß man
grob behandeln. Sie wollen geradewegs zur Freiheit fortschreiten,
ohne Opfer in Kauf nehmen zu müssen. Gott weiß, was ihnen
einfallen würde, um ihre persönliche Führung aus dem etiam
peccata zu ziehen. Beginnen wir damit, sie in den Beichtstuhl
470 Gelegentliche Äußerungen

›hineinzustecken‹ und ihnen die Gebote Gottes und der Kirche


beizubringen …
Hinter dem religiösen Widerspruch verbirgt sich ein ande-
rer, allgemeinerer, der das Los aller beruflich mit der Wahrheit
Beschäftigten ist, aller Schriftsteller, aller Menschen des öffentli-
chen Lebens – und der bewirkt, um an unseren Ausgangspunkt
zurückzukehren, daß kein Mensch ein Äquivalent des von ihm
Geschriebenen ist, daß kein Mensch ein Genie ist. Bevor Claudel
sagt: »Ich bin wie ein Truthahn, der nicht klug wird aus einer
Ente«, hatte Stendhal, den die Frömmigkeit nicht in Verlegen-
heit brachte, bereits gesagt: »Ich bin Hund, Sie sind Katze, wir
können uns nicht verstehen.« Der Mensch entzieht sich zu Recht
den meisten Diskussionen, die sein Werk hervorruft, weil sie von
einem Mißverständnis ausgehen: Für den Genießer ist das Buch
eine unmittelbar zu verarbeitende Nahrung, für den Schriftstel-
ler ist es das Ergebnis einer Beständigkeit, einer Übung, eines
schwierigen Lebens. Der Gipfel der Illusion ist es, sich vorzustel-
len, der Mensch sei eine bessere Fassung seiner eigenen Werke.
Auf diese fanatische Bewegung, die ihm die Leser zutreibt, als sei
er ein Sakrament, kann der Autor nur antworten, indem er Bar-
rikaden errichtet. Die Anderen zulassen, sie reden lassen, ihnen
Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ihnen entgegen der eigenen
Meinung Recht zu geben, das ist in den Büchern leicht, darin
besteht ihre Tugend, und dies ist ein Glück. Im Leben ist es we-
niger leicht, weil die Anderen an das Genie glauben und ihm alles
abverlangen. Der Schriftsteller weiß für seinen Teil wohl, daß es
keinen gemeinsamen Maßstab gibt zwischen dem Wiederkäuen
seines Lebens und dem, was es an Klarstem und Lesbarstem hat
hervorbringen können, daß die Komödie hier darin bestünde,
das Orakel zu spielen, daß er alles in allem, wenn man ihn tref-
fen will, mit den Verehrern bereits in seinen Büchern eine Ver-
abredung getroffen hat, daß der kürzeste Weg zu ihm über seine
Bücher führt und schließlich, daß er ein Mensch ist, der arbeitet,
um zu leben, ohne jemanden von der Arbeit des Lesens und der
Arbeit des Lebens befreien zu können.
(März 1955)
471

1 Ü BE R DI E E N T H A LT U NG

Gide, so sagt man, ging unter dem Vorwand nicht zur Wahl, daß
seine Stimme genausoviel zähle wie die seiner Concierge. Diese
Bemerkung ist der Überlegung wert. Hätte Gide ein Mehrstim-
menwahlrecht für kultivierte Menschen gefordert, dann wäre die
Forderung seinerseits übertrieben gewesen. Er wußte besser als
jeder andere, daß die Kultur keine Gewähr für die Urteilskraft
bietet. In den Augen des Gide von 1930 muß der Gide von 1916,
der Leser der Action Française, so etwas wie ein ›Concierge‹ ge-
wesen sein. In den Augen des Gide von 1940, war es auch jener
von 1930. Die kleinste Rückbesinnung auf sich selbst mußte Gide
davon abbringen, Anspruch auf ein Lenken der Menschen zu er-
heben.
Sicher wollte er etwas anderes sagen. Nicht, daß die Wahrheit
in den Händen der Kulturmenschen liegt, sondern daß sie diese
Wahrheit nur aus den Händen anderer empfangen können. Wer
an der Wahl teilnimmt, legt seine sorgfältig gereiften Überzeu-
gungen ab, er ist einverstanden damit, daß sie nur als eine ›Mei-
nung‹ in der allgemeinen Bestandsaufnahme der Meinungen zäh-
len, er billigt im voraus die Entscheidung der Anderen. Warum
sollte er ihnen auf einmal bei einer Abstimmung zugestehen, was
er ihnen in einem Gespräch nicht zugestehen würde? Wenn es
eine Wahrheit gibt, dann aufgrund freier Überlegung. Gide wird
folglich eine Zeremonie ablehnen, bei der sich das eigene Urteil
dem Urteil der Anderen unterwirft. Sollen sie doch gegen ihn
regieren, wenn sie wollen, aber nicht daß man ihn bitte, hierzu
seine Unterschrift zu leisten …
Was Gides Besonderheit ausmacht, ist der Purismus, der ihn
daran hindert, zur Wahl zu gehen, weil er das Prinzip der Wahl
nicht zuläßt. Die meisten Wähler ziehen es vor, ihre List in den
Spielregeln selbst anzuwenden. Aber im Grunde akzeptieren sie
das Prinzip genausowenig wie er. Wer unter uns respektiert denn
472 Gelegentliche Äußerungen

das Resultat einer enttäuschenden Abstimmung? Wir wählen, weil


wir hoffen, unsere Meinung würde den Sieg davontragen, unsere
Wahl trägt die Züge von Gewalt. Tragen wir den Sieg nicht davon,
dann sinnen wir bereits auf Rache. Außer vielleicht in England
(obwohl man erst noch herausfinden müßte, was sich hinter der
Legende vom Fair Play verbirgt) lehnt jeder die Stimmabgabe der
Anderen ab, und der Liberalismus bleibt unauffindbar.

*
Die revolutionäre Politik weiß dies seit langem, und sie widmet
sich dem Spiel nur, um darüber hinauszugehen. Der Revolutio-
när, der die wahren Interessen des Proletariats vertritt, kann die-
ses nicht in jedem Augenblick zum Richter über diese Aufgabe
erheben: Es ist nicht wahrscheinlich, daß die Mehrheit – selbst
unter den Proletariern – jene Notwendigkeiten erkennt, die nur
den am stärksten Benachteiligten und den am besten Informier-
ten bewußt werden. Die Wahl befragt die Menschen, während sie
sich erholen, außerhalb der Berufstätigkeit und außerhalb des
Lebens, sie appelliert an die Vorstellungskraft, die oft schwach ist,
so daß die Frage, wie man leben will, die Schwelle zur Wahlkabine
nicht überschreitet. Wie sollte eine Mehrheit revolutionär sein?
Die Vorhut ist nicht der Großteil des Heeres. Nicht das Über-
einkommen der Meinungen wird irgendwann eine Revolution
bewirken, sondern die praktische Übereinstimmung der Unter-
drückten im Gesellschaftskampf. Nicht ihre Gedanken zählen,
sondern das ›Geheimnis ihrer Existenz‹ (Marx). Es geht nicht
darum, eine vorgefertigte Gesellschaft zu verwalten, man muß
sie zuerst hervorbringen, und zwar ebenso wahr, ebenso le-
bendig wie die Übereinstimmung der Unterdrückten in ihrem
Kampf. Herr Dulles erklärt gegenüber Herrn Molotow, nie sei
ein kommunistisches Regime freiwillig akzeptiert worden. Er
erzählt ihm nichts Neues. Es ist, als ob er sagte, unsere wichti-
gen Entscheidungen seien nie ganz deutlich und auch nicht zu
verdeutlichen.
Daran wäre nichts auszusetzen, wenn die Revolution wirklich
über das Spiel der Stimmabgabe hinausginge, wenn sie nicht, in
Über die Enthaltung 473

ihrem eigenen Werdegang, die Frage der Anderen wiederfinden


würde. Aber sie findet sie wieder, solange sie lebt. Sie hat ihre
Gegner. Befragt sie diese aber oder toleriert sie sie auch nur,
wird sie sogleich auf das Problem des Wahlrechts zurückgeführt.
Unterdrückt sie sie hingegen, dann ist sie nicht mehr jene totale
Übereinstimmung der Unterdrückten, die sie sein müßte.
Zieht man Meinungen heran, dann wird es nie eine Revo-
lution geben – wenn aber die Revolution nie kontrolliert wird,
handelt es sich dann um eine Revolution, um eine Gesellschaft
ohne Ausbeutung und ohne Unterdrückung? Wenn sie sich nicht
mit Zahlen, mit Vergleichen, mit offiziellen und unabhängigen
Schätzungen vor einer Opposition rechtfertigen muß, wer weiß
dann, was sie kostet und was sie einbringt, wer ihren Preis zahlt
und wem sie etwas einbringt, und schließlich: was sie ist? Aus die-
sem Grund kann es der Revolution schon einmal passieren, daß
sie Verfassungen proklamiert und Befragungen organisiert. Das
Zugeständnis ist jedoch rein formaler Art: Wenn sie günstig aus-
fallen, liefern die Wahlen eine Bestätigung, sollten sie ungünstig
ausgefallen sein, verurteilen sie die Revolution aber nicht. Fragt
man sie nach ihren Beweisen, so wird sie stets antworten, daß der
Beginn einer Beweisführung schon ein Verrat sei.
Meinetwegen, setzt der Konservative wieder an, aber die Min-
derheit, die nichts zu verlieren hat, ist nicht in der Lage, die relati-
ven Verdienste eines Regimes zu schätzen, das sie ausschließt. Dies
ist die Angelegenheit von Statistiken und Wahrscheinlichkeiten,
wohingegen das Elend seinerseits kategorisch ist. Es bleibt also
nichts anderes übrig, als die Minderheit in Schach zu halten.
So setzt sich das Duell jener fort, die um das Bestehende fürch-
ten, und jener, die das wollen, was nicht oder noch nicht existiert.
Den einen wie den anderen setzen die liberalen Regime nur eine
vollendete Kunst entgegen, die Widersprüche zu verwässern,
die Probleme indirekt zu stellen, die Aktion im Verfahren zu er-
sticken, günstige oder ungünstige Vorurteile zu schaffen, die
Mehrheiten selbst abzustumpfen, wenn sie nicht folgsam sind,
und sie dorthin zu führen, wohin sie nicht gehen wollen, die Gei-
ster zu manipulieren, ohne an sie zu rühren – mit einem Wort,
474 Gelegentliche Äußerungen

sie legen eine juristische und durchtriebene Form der Gewalt an


den Tag.
Hatte Gide also Recht? Hat man nur die Wahl zwischen der
offenen Gewalt und dem prekären Kompromiß zwischen den
Gewalten? Muß man apolitisch, muß man Misanthrop sein?

*
Weder ist alles so einfach noch so schwarz zu sehen. Die Men-
schenfeindlichkeit wird immer Unrecht haben, weil die Laster
der Politik am Ende darauf bestehen, daß es bei den Menschen
etwas von größerer Gültigkeit gibt: ihre Idee der Wahrheit. Wer
etwas gesehen hat und es für wahr hält, der glaubt, es sei für alle
wahr. Sehen die Anderen es nicht, so liegt es daran, daß sie Fa-
natiker sind, daß sie nicht frei urteilen können. Auf diese Weise
macht der freie Mensch seine Evidenzen zum Maß aller Dinge,
und er wird gerade in dem Augenblick zum Fanatiker, in dem
er sich über den Fanatismus der Anderen beklagt. Alles in al-
lem läßt sich jedoch sagen, daß der Umstand, daß jeder ›sich in
die Angelegenheiten der Anderen einmischt‹, und daß er sich an
ihre Stelle setzt, auch darauf zurückzuführen ist, daß er ›sich in
ihre Lage versetzt‹, weil die Menschen nicht wie Kieselsteine ne-
beneinander liegen, sondern weil jeder einzelne in allen anderen
lebt.
Es kommt also ein Tag, an dem derjenige, der sich aus dem
politischen Spiel zurückziehen wollte, gerade durch jenen Ge-
schmack der Freiheit, den er zu seinem Vorteil kultivierte, wieder
auf die Politik zurückgeführt wird. Gide hat es oftmals geäußert:
Der extreme Individualismus sensibilisiert für die anderen In-
dividuen, und sein Tagebuch erzählt, wie sprachlos er war, als er
beim Einsteigen in ein Taxi, mit dem er einen Kranken in der
(einst luxuriösen) Klinik der Rue Boileau besuchen fahren wollte,
und verwundert darüber, daß der Fahrer diese nicht kannte, die
einfache Antwort erhielt: ›Unsereins geht nach Lariboisière.‹
Man kann mit den Anderen sein Spiel treiben oder Träume er-
finden, in denen sie verschwimmen – das ›wirkliche Frankreich‹,
das reine Proletariat –, aber man kann es nicht ablehnen, jeman-
Über die Enthaltung 475

dem zuzuhören, der über sein Leben spricht. Es gibt mindestens


ein Thema, über das die Anderen souverän urteilen können: ihr
Schicksal, ihr Glück oder ihr Unglück. In dieser Hinsicht ist jeder
einzelne unfehlbar, und dies führt die Allgemeinplätze über das
Wahlrecht, deren Echo sich Gide nicht zu sein scheute, auf ihnen
angemessene Dimensionen zurück.
Andererseits ist diese Kompetenz sehr weitreichend. Gides
Concierge hatte vielleicht nicht so nuancierte Ansichten von der
Geschichte wie Gide. Aber was soll’s? Wählen bedeutet nicht,
eine Abhandlung über Politik oder die Weltgeschichte zu schrei-
ben. Es bedeutet, ja oder nein zu sagen zu einem Handeln, das
anhand seiner Konsequenzen für das Leben beurteilt wird, die
für jeden einzelnen in perfekter Weise spürbar sind, die sogar
nur für ihn spürbar sind. Die beginnende russische Revolution
hatte dies sehr wohl verstanden, als sie die neue Macht auf die
Sowjets stützte, auf Menschen, die in ihr berufliches Umfeld und
in den Zusammenhang ihres Lebens eingebunden waren. Die-
ses wirkliche Wahlrecht und dieses abrupte Urteil, das in einem
Wort besteht, sprechen aus, was jeder einzelne aus seinem Le-
ben zu machen oder nicht zu machen gedenkt. Selbst wenn sie
hundertmal Recht hätten, könnten jene ›Wissenden‹ jedoch ihre
(übrigens wackligen) Erkenntnisse nicht an die Stelle dieses Ein-
verständnisses oder dieser Ablehnung setzen. Die Mehrheit hat
nicht immer Recht, aber man kann auf lange Sicht nicht gegen sie
im Recht sein, und wenn man dem Beweis auf unbestimmte Zeit
aus dem Weg geht, dann nur deshalb, weil man ihm gegenüber
im Unrecht ist. Hier stoßen wir auf Fels. Nicht etwa, weil die
Mehrheit ein Orakel wäre, sondern vielmehr weil sie die einzige
Kontrolle bietet.
Es fragt sich noch, wie man jene Stimmabgabe auszählen
kann, wie man sie gegen Unregelmäßigkeiten schützen kann,
durch welche Institutionen, und dies ist nicht einfach, denn das
Gefühl, das jeder von seinem Leben hat, hängt unglaublich von
den Ideologien ab. Insbesondere in einer angespannten Situation
wird das Abstrakte selbst konkret, und jeder lebt so sehr in den
gesellschaftlichen Symbolen, daß es schwierig ist, in ihm wieder
476 Gelegentliche Äußerungen

einen geschützten Bereich der ihm eigenen Gewißheiten zu fin-


den.
Darüber hinaus gibt es eine Komödie der liberalen Gesell-
schaften, die bewirkt, daß die Kontrolle in ihr Gegenteil verkehrt
wird. Alain dachte, man könne die Kontrolle nicht mißbrauchen,
die Rolle der Staatsbürger sei ein für alle Mal, nein zu sagen, und
die Rolle der Macht sei es, bis zur Tyrannei vorzustoßen. Wenn
jeder sein Amt auf bestmögliche Weise ausübt, dann sind die Ge-
sellschaft und die Menschheit alles, was sie sein können. Er hatte
jenen Rollentausch nicht vorhergesehen, bei dem die Freiheit
und die Kontrolle dazu dienen, die Tyranneien aufrechtzuhal-
ten, während die Interessen der Freiheit auf die Seite der Macht
übergehen. Jede Macht ohne Kontrolle führt zum Wahnsinn.
Das ist wahr. Aber was soll man tun, wenn es überhaupt keine
Macht mehr gibt, wenn nur noch Kontrolleure übrig bleiben?
Der Staatsbürger gegen die Staatsgewalt, das ist nicht immer ein
Gleichgewicht zwischen Tyrannei und Chaos, es ist manchmal
auch ihre Mischung, eine Gesellschaft ohne Aktion, ohne Ge-
schichte.
Das Problem des Wahlrechts liegt als Ganzes vor uns. Wir kön-
nen noch nicht erahnen, wie eine Gesellschaft beschaffen wäre,
die dieses Problem gelöst hätte. Aber es gilt, das miteinander zu
verbinden, was man sagt und was man tut. Wir wissen also be-
reits, daß eine Gesellschaft, die Bestand haben wird, nicht weni-
ger frei, sondern freier sein wird als unsere. Mehr Ausbildung,
mehr und genauere Information, mehr konkrete Kritik, die Of-
fenkundigkeit des realen sozialen und politischen Funktionierens
sowie Probleme, die alle mit höchst verletzenden Begriffen for-
muliert werden – so verletzend, wie es das Unglück ist und wie es
alle guten Räsonnements sind –, dies sind die Bedingungen, die
›transparenten‹ Gesellschaftsbeziehungen vorausgehen.
(Juli 1955)
477

1 Ü BE R I N D O C H I NA

Die Temps modernes haben im Dezember einen Leitartikel über


Indochina veröffentlicht, den man als unvollständig erachten
2 könnte: Er hat keine Politik bestimmt, sondern ausgeführt in
welchen Gefühlen man den Ansatz zu einer Politik suchen muß.
Er sagte, daß wir a priori im Unrecht seien, wenn wir nach acht-
zig Jahren immer noch wie Feinde gehaßt würden, und daß eine
militärische Rückeroberung wörtlich genommen unsere Schande
sei. Daß ein Sohn unserer Freunde, der gerade seinen Dienst in
Indochina geleistet hat, uns heute schreibt: Die Soldaten dort
unten sind Opfer, und es ist härter zu sterben als Protestartikel
zu verfassen, finden wir ganz normal. (Wenn man sein Leben
riskiert hat, ist es schmerzlich einzusehen, daß es für eine frag-
würdige Sache geschah. Aber gerade dann muß man gegen eine
Presse protestieren, die tote Soldaten als beispielhaft hinstellt, um
andere Opfer zu rechtfertigen.) Erstaunlicher ist es schon, daß
man sich in den Augen eines Obersten disqualifiziert, wenn man
von Moral redet und den Heroismus überall dort würdigt, wo
er zutage tritt. Dieser Oberst geht aus den Bildern von Epinal
hervor, und wir haben im Laufe des Krieges ganz andere Kaliber
seiner Art kennengelernt. Daß jedoch eine moralische Protestak-
tion bei einem Christen wie François Mauriac zu einer »wirk-
lichen Betroffenheit«1 führen kann, läßt uns unsererseits doch
sehr betroffen dastehen.
Ihr redet von einer Stimmung, sagt er. Und gewiß existiert die
Moral, aber sie darf nicht zur Gesetzgeberin werden, ohne die
Einzelfälle zu betrachten. – Auch wir sind gegen eine abstrakte

1 Le Figaro, 4. Februar 1947: Le Philosophe et l’Indochine. Wir gehen

über die sehr provinzielle Idee hinweg, den Verfasser eines kollektiven Leit-
artikels erraten zu können. Das Komischste dabei ist, daß sich der Grapho-
loge in seiner Vermutung irrt.
478 Gelegentliche Äußerungen

Moralität. Aus diesem Grund schließen wir uns nicht den Anti-
kommunisten an, die den Kommunismus verurteilen, ohne die
Probleme der UdSSR zu betrachten. Darüber hinaus müssen die
Werte in ihrem momentanen Erscheinungsbild erkennbar sein.
Aus diesem Grund, da wir im heutigen Kommunismus nicht die
Werte des marxistischen Humanismus erkennen, sind wir keine
Kommunisten. In der Indochinafrage haben wir uns nicht der
Kolonisierung der prinzipiellen Argumente, wie etwa der Gleich-
heit der Menschen oder ihrem Recht auf Selbstbestimmung, wi-
dersetzt. Wir sind zu jener sehr konkreten Feststellung gelangt,
daß wir nach achtzig Jahren in Indochina kaum tolerierte ›Besat-
zungsautoritäten‹ sind,2 daß dies einem Scheitern gleichkommt
und daß eine militärische Lösung eine Bestätigung dieses Miß-
erfolgs wäre. Wir möchten, daß man zwischen der reinen und
der angewandten Moral unterscheidet. Darüber hinaus muß es
zwischen ihnen irgendeine Beziehung geben. Wenn sie aus nichts
als verbalen Allgemeinplätzen besteht, dann wird die reine Moral
zum Alibi und zur Finte. Man muß sie also wörtlich nehmen.
Man muß sagen, und wir wiederholen es noch einmal: ›Laßt uns
Frieden schließen oder gehen‹. Wenn man sich auf eine relative
Moral einläßt, dann muß man genau wissen, was man am Ende
will, und man muß entschlossen sein, nicht irgendeinen Ausgang
zu akzeptieren. François Mauriac verwechselt den Sinn für das
Reale mit dem Respekt vor dem Realen.
Wie könnt ihr es wagen, so fährt er fort, zu schreiben, das Ge-
sicht der Franzosen in Indochina sei das Gesicht der Deutschen
in Frankreich? Die Deutschen haben Europa geplündert, und wir
haben dort unten eine ›wohltuende Zivilisation‹ errichtet. Wir
geben zur Antwort, daß die Deutschen, wenn sie ein Dreivier-
teljahrhundert in Frankreich geblieben wären, sicherlich irgend-
wann Fabriken errichtet hätten, in denen Franzosen gearbeitet

2 »Wir sind dort unten«, hieß es im Leitartikel, »Deutsche ohne Ge-

stapo und ohne Konzentrationslager – zumindest wollen wir dies hoffen.«


– Eine vergebliche Hoffnung. Der Artikel von J. Cuisinier wird zeigen, daß
wir noch viel zu optimistisch waren.
Über Indochina 479

hätten, sowie Straßen und Brücken, die wir benutzt hätten – und
sie hätten am Ende sogar, für die Pflege der Weinberge in Fami-
lienbesitz, Schwefel und Sulfat an die Eigentümer verteilt. Da-
durch wären ihnen die hingerichteten Geiseln noch lange nicht
verziehen worden. Wenn die Italiener in Abessinien hätten blei-
ben können, dann hätten sie das Land versorgt. François Mauriac
war wohl leichtsinnig, als er das äthiopische Unternehmen ver-
urteilte. Er mußte nur die Stunde der Brücken und der Straßen
abwarten. Was sagen wir? Zumindest die strategischen Straßen
3 waren bereits in Betrieb genommen. Die französische Politik in
Indochina hat nicht nur die Bauern nicht aus dem Wucherzins
befreit, sondern auch nicht einmal die Bildung eines Industrie-
bürgertums zugelassen. So erklärt sich, warum wir dort unten
eine Besatzungsmacht bleiben. Man beurteilt uns anhand dessen,
was wir getan haben und anhand dessen, was wir nicht getan
haben.
Letztlich, sagt François Mauriac, ist die Kolonisierung eine
Art Kreuzzug, genauso zweideutig wie alle Kreuzzüge. Ihre Ge-
walttaten sind nur »die Korruption einer großen Idee«. Die Idee
aber findet sich im Geist François Mauriacs oder in unseren Ge-
schichtsbüchern. Die Vietnamesen jedoch haben von ihr vor al-
lem die ›Korruption‹ zu Gesicht bekommen. Es ist geradezu skan-
dalös, daß ein Christ sich dermaßen unfähig zeigt, von sich selbst
und seinen ›Ideen‹ Abstand zu nehmen, und daß er es ablehnt,
sich auch nur einen Moment lang mit den Augen des Anderen
zu sehen. Die weniger revolutionär Gesinnten unter uns haben
durch den Spanischen Bürgerkrieg und die deutsche Besatzung
ein für alle Mal begriffen, daß die Ehre mitunter in den Gefäng-
nissen zu suchen ist. Sie haben gelernt, was die großen ›Ideen‹ der
Macht für die Unterdrückten bedeuten. Aber der Krieg ist vorbei,
die Deutschen sind gegangen, und alles ist zur Ordnung zurück-
gekehrt. Die jetzige Macht sind wir, sie kann also nur ehrenhaft
sein. Erneut zählt der Standpunkt der Irregulären nicht. Wie in
den Tagen seiner behüteten Kindheit ist François Mauriac taub
gegenüber den Schreien derer, die sich mit dem Töten und Ster-
ben befassen. Seien wir geduldig. Es ist nichts als die Korruption
480 Gelegentliche Äußerungen

einer großen Idee »und, wörtlich genommen, einer verratenen


Berufung«. Wir behaupten, daß ein Christ nicht in der Lage ist,
seine Berufung zu verraten oder jene zu entschuldigen, die sie
verraten, und wir sind nicht die einzigen, die dies behaupten.
Ein Priester schreibt uns: »Ich bin gerade aus Vietnam zurück-
gekehrt, wo ich sieben Jahre verbracht habe. Die Lektüre Ihrer
Anmerkung […] zum Thema Vietnam hat mir sehr gut getan,
wofür ich Ihnen dankbar bin […] Ich hätte Ihnen nicht geschrie-
ben, wenn mir nicht der Artikel von Herrn Mauriac in Le Figaro
vom 4. Februar zufällig unter die Augen gekommen wäre […] Ist
er alt geworden? Verbittern ihn die Leiden seines eigenen Landes?
Was ist aus dem Christen geworden? […] Kann man überrascht
sein, daß andere beabsichtigen, ihre Stelle einzunehmen, solange
so viele Christen es ablehnen, sich dort einzufinden, wo man es
erwartet?«
Gewiß lehnt François Mauriac den Kolonialismus »so wie er
im XIX. Jahrhundert praktiziert wurde« ab (als ob er sich seit-
dem derart verändert hätte). Er lädt uns ein, »bevor es zu spät
ist«, mit Vietnam »die neuen Grundlagen einer Verständigung
und einer Kooperation zu entdecken«. Man kann nicht sagen,
daß uns sein Artikel hierbei eine große Hilfe wäre. Wie kann es
sein, daß er nicht spürt, daß dieser Artikel, von außen betrachtet,
genau die moralische Rückendeckung einer gewaltsamen Lösung
darstellt?3 Ein Vietnamese sagte zu uns: Euer System funktioniert
ausgezeichnet. Ihr habt eure Kolonialisten. Und ihr habt, unter
euren Verwaltern, euren Schriftstellern und euren Journalisten,
viele Menschen, die guten Willens sind. Die einen handeln, die
anderen reden und sind die moralische Unterstützung der er-
steren. Auf diese Weise werden die Prinzipien gewahrt – und die
Kolonisierung bleibt tatsächlich das, was sie immer gewesen ist.
Am Ende eines Artikels, der geschrieben wurde, um uns ein gutes
Gewissen zu verschaffen und unsere Machtstellung in Indochina

3 Man weiß nicht einmal, ob die Formulierung »bevor es zu spät ist«


bedeutet, wie wir hoffen, »bevor sich die militärische Repression durchset-
zen wird«, oder, wie wir befürchten, »bevor wir vertrieben werden«.
Über Indochina 481

zu rechtfertigen, fallen die versöhnlichen Sätze zum Schluß nicht


ins Gewicht. Ein Beamter aus Indochina erwähnte uns gegenüber
neulich: «Sie hatten Recht, es geht darum, die Leute wachzurüt-
teln.« Der Artikel von François Mauriac taugt allerdings nur
dazu, sie einzuschläfern. Wenn sie auf ihn hören, dann werden
sie den Dingen ihren Lauf lassen – bis die kalte Jahreszeit kommt,
die vietnamesischen Truppen müde und die Bauern überdrüssig
werden und der Viet-Minh bedingungslos kapituliert. In diesem
Augenblick wird man ohne jedes Zugeständnis Verhandlungen
führen können, und der Kolonialismus wird die Forderungen
des Volkes von Indochina, so begründet sie auch sein mögen, im
Namen des ›Kommunismus‹ und gemeinsam mit der tatsäch-
lich kommunistischen Führungsriege des Viet-Minh, endgültig
zurückweisen. Sicherlich ist es für einen Minister schwierig, Ver-
handlungen zu eröffnen, ohne den Viet-Minh zu stärken. Deshalb
wird ständig wiederholt, daß jedes Wort, das in der französischen
Presse zugunsten der Vietnamesen gesprochen wird, den Kampf
verlängert, weil es bei ihnen Hoffnungen weckt. Man muß jedoch
sehen, daß die andere Formel: ›Seien wir heute die Sieger und wir
werden morgen gerecht sein‹‚ wieder darauf hinausläuft, die Re-
formen abzuschreiben. In Indochina gibt es seit dem Krieg eine
doppelte Machtebene. Die Logik des Kolonialismus erfordert es,
daß man die ›ungebetenen Gäste‹ beseitigt. Er wird sich in der
Stunde seines Triumphes keiner Reform unterwerfen. Für eine
militärische Lösung zu sein bedeutet, die seit achtzig Jahren ge-
führte französische Politik in Indochina gutzuheißen. Daß sich
ein den Geschehnissen nicht mehr gewachsener Minister dieser
Politik anschließt, ist nicht überraschend. In der Stunde jedoch,
in der ihm beinahe die ganze Presse beipflichtet, gehen die un-
abhängigen Schriftsteller nicht ihrem Beruf nach, wenn sie dieses
Vorgehen erleichtern. Den Zynikern, die diese Operation leiten,
muß man jene Art von Größe zugestehen, die den Staatsmän-
nern seit jeher zu eigen ist. Aber was soll man über die schönen
Seelen sagen, die sich ihrem Vorgehen anschließen, ohne den
Mut zu haben, Terror zu nennen, was Terror ist? Unsere Zeit hat
gegenüber anderen Zeiten jenen unvergleichlichen Vorteil, dem
482 Gelegentliche Äußerungen

Publikum einen Blick hinter die Kulissen der Geschichte gewährt


und einige ihrer groben Finten ans Licht gebracht zu haben. Es
ist unsere Aufgabe, dieses Privileg zu verteidigen.
All dies ist so klar, daß man ›betroffen‹ ist, es noch einmal
sagen zu müssen, insbesondere gegenüber François Mauriac, der
bei anderen Gelegenheiten sehr scharfblickend gewesen ist. Was
also ist mit ihm geschehen? Dieser Artikel ist nicht eindeutig.
Man spürt, daß er über eine Sache spricht und auch an eine an-
dere denkt. Woher rührt dieser irreführende Tonfall, den er nie
gehabt hat, wenn es um Moral oder Religion ging, und den er
in der Politik schon vor langer Zeit abgelegt hatte? Wie das Sub-
jekt der Psychoanalyse gibt er uns beiläufig die Antwort. Gegen
Ende seines Artikels, und so, als ginge er zu den nebensächlichen
Aspekten des Problems über, fragt unser Autor: »Stimmt es oder
stimmt es nicht, daß eine andere Macht (sogar jene, von deren
Geist der Viet-Minh durchzogen ist) an die Stelle des gescheiter-
ten Frankreichs treten würde?« Da sind wir beim Kern des Pro-
blems angelangt. Es bedarf keiner langen Umfragen, um heraus-
zufinden, daß die der Regierung angeschlossenen französischen
Kommunisten mitverantwortlich sind für deren Kolonialpolitik,
daß der Viet-Minh von der UdSSR nicht ernsthaft unterstützt
wurde, daß die UdSSR ihrer allgemein vorsichtigen Politik ent-
sprechend den Kompromiß wünscht und keinen Krieg, der eine
angelsächsische Intervention nach sich ziehen könnte, daß die
Waffen des Viet-Minh aus China kommen, meist durch Ver-
mittlung eines französischen Hauses, und daß schließlich die
kommunistische Führungsriege des Viet-Minh den Stamm einer
nationalistischen Bewegung Indochinas gebildet hat, die in wei-
ten Teilen durch die französische Politik in Indochina motiviert
war und die nicht auf den Machiavellismus des Kremls zurück-
reichte … All dies ist unwichtig. Es genügt, daß Ho-Chi-Minh
Kommunist ist und François Mauriac dies verstanden hat. Es
handelt sich dabei nur um einen Fangarm der UdSSR. Ein leuch-
tendes Beispiel jenes politischen Nominalismus, der das öffentli-
che Leben in Frankreich verfälscht. Ob es sich nun um Indochina
oder um etwas anderes handelt, jeder wählt seine Position im
Über Indochina 483

Hinblick darauf, ob sie die UdSSR schwächt oder stärkt, und er


arrangiert sich, so gut es geht, mit ihren Ideen. Genau deswegen
gibt es keine politischen Probleme, aber auch keine wirkliche
politische Diskussion mehr. Die Kommunisten glaubten früher,
daß die Fortschritte der Weltrevolution der UdSSR, aufgrund der
Logik der proletarischen Bewegung, ungemein nützlich wären.
Hinsichtlich der Taktik konnten sie vielleicht zögern und sich zu
gegebener Zeit fragen, ob die proletarische Offensive opportun
sei. Aber es war zumindest abgemacht, das Problem durch eine
ernsthafte Analyse der lokalen Situation und eine Einschätzung
der weltweiten Konjunktur zu lösen, bei der man den Druck der
nationalen Proletariate auf ihre Regierungen berücksichtigen
würde. Heutzutage haben sie nicht mehr so großes Vertrauen in
den Lauf der Dinge, sie glauben nicht mehr an eine vernünftige
Entwicklung der Geschichte und an das heimliche Einverständ-
nis der berechtigten Forderung mit ihrer wirksamen Umsetzung.
Ihre Diplomatie berechnet, wie die Diplomatie aller Kanzleien,
die Kräfteverhältnisse anhand der geographischen und militäri-
schen Bedingungen und ohne das tatsächlich immer schwächer
gewordene Klassenbewußtsein heranzuziehen. Der Antikommu-
nismus behandelt seinerseits keine Frage gründlich. Er ist so frei
von Ideen und so fern aller Tatsachen, daß er sich nicht einmal
auf eine Stufe stellt mit dem linksradikalen Manöver, obwohl es
unter diesen Umständen so einfach wäre. Er fällt schlicht und
einfach zurück in den alten Konservatismus und verwechselt
in blinder Zurückweisung die sowjetische Diplomatie und die
spontanen Massenbewegungen. Bei einer Angelegenheit wie der
Indochinafrage, bei der trotz allem klar ist, daß man kein Pro-
blem lösen wird, indem man Jagd macht auf das Phantom der
UdSSR, hält sich der Antikommunismus an die Auffassung eines
Polizeipräfekten, der zufolge alle Probleme von einigen Rädels-
führern geschaffen werden.
Wir verstehen nun, was mit François Mauriac geschehen ist.
Als der französische Patriotismus im Sinne der Humanität blies,
konnte er über die Mächtigen urteilen. Er aber verlangte nur da-
nach, eine so ermüdende Klarheit aufzugeben. Der Krieg hatte
484 Gelegentliche Äußerungen

jenen Nachteil, ihn zu verpflichten, das Legale und das Gerechte


voneinander zu unterscheiden. Vergessen wir, denkt er, jene
Schrecken. Öffnet nicht wieder unsere Wunden. Die Verwundung
kommt für ihn nicht aus der Indochinafrage, sondern aus der
Schande der Vichyregierung. Dort unten kann gerade von dem
Moment an Blut fließen, in dem unsere Wunden vernarben.
(März 1947)
485

1 Ü BE R M A DAG A S K A R 1

(Interview)

Haben Sie, als Philosoph und politischer Denker, eine Meinung


über den Algerienkrieg, und können Sie uns diese mitteilen?
Ich habe eine Meinung, und ich verberge sie nicht. Darin liegt
aber vielleicht keine Lösung mehr, selbst wenn es vor zweiein-
halb Jahren eine war. Nichts beweist, daß ein gegebenes Problem
zu einem beliebigen Zeitpunkt lösbar wäre, und es wäre falsch,
uns vorzuwerfen, wir hätten keine Lösung, wenn man zugelassen
hat, daß sich das Problem verschlimmert. Ich sehe nur partielle
Wahrheiten:
1. Ich bin unbedingt gegen die Repression und insbesondere
gegen die Folter. Derjenige, der La Question geschrieben hat,
weiß, was Ehre und wahrer Ruhm sind; erinnern Sie sich an jene
Worte, als er im Flur des Gefängnisses Muslime trifft, die ihm
Mut zusprechen: »[…] und in ihren Augen nahm ich eine solche
Solidarität, eine solche Freundschaft und ein so vollkommenes Ver-
trauen wahr, daß ich mich stolz fühlte, gerade weil ich Europäer
bin, meinen Platz unter ihnen gefunden zu haben«. Derjenige, der
dies gedacht hat, und seinesgleichen im ganz wörtlichen Sinne
retten die Ehre, unsere Ehre und die unserer Minister. Man sagt,
und dies ist wahr, die Folter sei die Antwort auf den Terrorismus.
Dies rechtfertigt die Folter aber nicht. Man muß so handeln, daß
der Terrorismus gar nicht erst entsteht.
2. Es scheint mir jedoch unmöglich, von diesem Urteil über
die Folter auf eine bestimmte Politik in Algerien zu schließen.
1 Der Aufenthalt auf Madagaskar, um den es hier geht, fand im Okto-

ber-November 1957 statt, und der Text des Interviews stammt von Januar-
Februar 1958. Wir ordnen ihn hier wieder seinem Entstehungsdatum zu.
Obwohl er bereits im Express vom 3. Juli angekündigt worden war, erschien
er darin erst am 21. August 1958.
486 Gelegentliche Äußerungen

Es reicht nicht, zu wissen, was man von der Folter hält, um zu


wissen, was man von Algerien hält. Politik ist nicht das Gegenteil
von Moral, sie beschränkt sich nie auf die Moral. Der Pole Hlasko
sagte neulich, die politischen Überzeugungen der französischen
Schriftsteller interessierten ihn nicht sonderlich, weil sie nur mo-
ralische Haltungen seien. Mir scheint, er hatte Recht.
Was bezeichnen sie als moralische Haltung?
Beispielsweise die Haltung derer, die denken, die Weißen hät-
ten im Rest der Welt nichts verloren, sie hätten Unrecht daran
getan, dorthin zu fahren, und ihre einzige Aufgabe und ihre
einzige Rolle sei es gegenwärtig, sich wieder von dort zurückzu-
ziehen, die sich selbst überlassenen Länder in Übersee würden
dann zwar auf große Schwierigkeiten stoßen, aber es liege nicht
bei uns, sich darum zu kümmern, vielmehr müssen diese Länder
ihnen entgegentreten und nach eigenem Ermessen über eine to-
tale Freiheit verfügen, die man ihnen zunächst einmal zugestehen
muß.
Dieses Empfinden, das man bei einem Großteil der nicht-
kommunistischen Linken erahnen kann, ist alles, was in ihr von
der eigentlich revolutionären Haltung übrig geblieben ist. Aller-
dings war die revolutionäre Haltung eine Politik: Man dachte, es
gebe in der Welt wirklich eine geschichtliche Kraft, die reif und
bereit sei, das Erbe der Menschheit anzutreten, und in diesem
Kampf seien die Kolonialstaaten und die Proletariate der weiter
entwickelten Länder nur eins, und die revolutionäre Politik be-
stehe darin, die Aktionen der einen und der anderen zu kombi-
nieren.
Heute ist hinreichend klar geworden, daß das Proletariat nicht
einmal in den Ländern an der Macht ist, in denen die Bourgeoi-
sie diese verloren hat; die Idee selbst einer proletarischen Macht
ist problematisch geworden. Viele Menschen, die nicht mehr
glauben, die UdSSR sei eine solche Macht, gerade weil sie es nicht
mehr glauben, übertragen die revolutionäre Ideologie auf die ko-
lonisierten Länder. Genau deswegen, weil sie keine Kommuni-
sten mehr sein können, ziehen sie in der Kolonialpolitik keinen
Kompromiß in Betracht.
Über Madagaskar 487

Dennoch ist klar, daß man ohne ihre treibende Kraft, das heißt
ohne die proletarische Macht, keine revolutionäre Politik auf-
rechterhalten kann. Wenn es keine ›universelle Klasse‹ und keine
Ausübung der Macht seitens dieser Klasse gibt, dann wird der
revolutionäre Geist wieder zu einer reinen Moral oder zu einem
moralischen Radikalismus. Die revolutionäre Politik, das war ein
Schaffen, ein Realismus, die Geburt einer Kraft. Die nicht-kom-
munistische Linke bewahrt davon oft nur die Negationen. Dieses
Phänomen ist ein Kapitel des großen Niedergangs der Revolu-
tionsidee.
Und warum dieser Niedergang?
Weil die wichtigste Hypothese, die Annahme einer revolutio-
nären Klasse, vom tatsächlichen Lauf der Dinge nicht bestätigt
wurde. Es genügt, eines der Länder in Übersee zu bereisen, um
gleichzeitig zu verstehen, in welchen Punkten das revolutionäre
Schema fiktiv ist und warum es dennoch aus den Ereignissen
eine ganz offensichtliche Rechtfertigung erfährt. Nehmen wir
zum Beispiel Madagaskar, wo ich vor einigen Monaten gewesen
bin. Man ist zunächst einmal von der Tatsache erschüttert, daß
die nationalistischen Intellektuellen von Tananarive sehr weit
von dem entfernt sind, was uns eine revolutionäre Vorstellung
von Geschichte vermuten ließe. Einer von ihnen äußerte mir
gegenüber, die Unterscheidung zwischen den Adligen und den
Bürgerlichen sei ein durchgängiger Zug der madagassischen Per-
sönlichkeit; ein anderer sagte, man müsse sich nach der Unab-
hängigkeit damit befassen, die in die Stadt ziehende Bevölkerung
im Dorf zu halten; noch ein anderer, ein Katholik, sagte, man
müsse eine Art Feudalsozialismus errichten; ein anderer, Liberia
sei ein Beispiel für alle Völker Afrikas; schließlich meinte einer,
nichts sei wichtiger als die Unterschiede zwischen Katholiken
und Protestanten in Tananarive.
Diese Intellektuellen sind weit davon entfernt, für eine mögli-
che Revolution bereit zu sein. Darauf wird ein Marxist antwor-
ten, daß sie eine nationalistische Bourgeoisie bilden und daß
diese Bourgeoisie den Massen und den spontan eingesetzten An-
führern, die sich die Massen wählen werden, die Türen zur Macht
488 Gelegentliche Äußerungen

öffnen wird. Trotz aller Bedenken, die man angesichts der Un-
zulänglichkeit einer kurzen Reise und auch angesichts der Mög-
lichkeit unerwarteter Ereignisse (1947 glaubte beinahe niemand
an den Aufstand) äußern kann, muß man doch zugeben, daß
man im Land zu keinem Zeitpunkt den Eindruck einer schlum-
mernden Revolution hatte. Daß viele Madagassen, insbesondere
in Tananarive, von der französischen Macht genug haben, ist eine
Sache. Daß dies ein schnelleres Heranreifen des Proletariats im
marxistischen Sinne ankündigt, ist eine andere. In der Region
Betsileo, im Süden, in der Gegend von Tulear und Fort-Dauphin
und sogar in Issotry, dem Vorort von Tananarive, wo das Was-
ser der Reisfelder in der Regenzeit die Häuser überschwemmt,
und wo man in den Auslagen der Geschäfte undefinierbare Ge-
genstände zum Verkauf findet, die das grausamste Symbol des
Elends sind, fühlt sich der einsam Reisende nicht von Zorn um-
geben. Selbst wenn all dies morgen explodieren sollte, so wird
zu beweisen bleiben, daß es sich um einen von der Geschichte
vorbereiteten Ausbruch handelt. Ich weiß, daß man unter der äu-
ßeren Erscheinung suchen muß, aber man müßte beweisen, daß
es in ›den Tiefen‹ ein revolutionäres Proletariat im klassischen
Sinne von Marx gibt.
Das ist also der Grund, weswegen die Geschichte dennoch
den Eindruck erweckt, im Sinne des Kommunismus zu verlau-
fen: Wenn die Franzosen Madagaskar unverzüglich und voll-
ständig aufgeben würden, dann würde die Bourgeoisie, von der
ich vorhin gesprochen habe, die zwar gut ausgebildet, aber nicht
zahlreich genug ist, wahrscheinlich versuchen, sich des Landes
zu bemächtigen, und wahrscheinlich würde ein Teil der Küsten-
bevölkerung sich gegen sie erheben (wir versuchen nur, diese
Haßgefühle auszunutzen, aber sie existieren wirklich, und wir
haben sie nicht geschaffen; im Anschluß an eine Konferenz über
die Rassenidee habe ich festgestellt, daß die Merina von Tanana-
rive mich wirklich zu wenig rassistisch fanden: Es gelang ihnen
nicht, die Schwarzen der Küste als ihresgleichen zu empfinden).
Kurzum, die nationalistischen Madagassen geben bereitwillig zu,
daß dem Abzug der Franzosen blutige Auseinandersetzungen
Über Madagaskar 489

folgen würden. Da das Leben aber irgendwie weitergehen muß,


würden dann mit einem Mal aus den Massen aufgetauchte Män-
ner tatsächlich ihre Autorität durchsetzen, würden dem Land
Arbeit geben und ohne Kapitalien und mit den zur Verfügung
stehenden Mitteln die Aufgabe der Entwicklung angehen. Dies
wäre sehr langwierig und sehr hart. Ich sehe keinen Grund zu
behaupten, darin bestehe der immanente Sinn der Geschichte,
die von ihr vorbereitete Lösung der Probleme des Elends. Selbst
wenn, was nicht der Fall ist, alle in die Unabhängigkeit entlas-
senen Kolonialstaaten sich am Ende militarisieren und eine Art
Kommunismus verwirklichen, dann würde dies keineswegs be-
deuten, daß die marxistische Geschichtsphilosophie wahr ist,
sondern vielmehr, daß ein autoritäres und nicht bürgerliches
Regime der einzig mögliche Ausweg ist, wenn die politische Un-
abhängigkeit der ökonomischen Reife vorangeht. Wenn man
sich an das hält, was man beobachten kann, dann erinnert auf
Madagaskar nichts an das klassische Schema des kolonialen Pro-
letariats, das die Stufen in der Entwicklung überspringt und das
den Proletariaten der weiter entwickelten Länder manchmal an
revolutionärer Reife voraus ist.
Die scheinbare Bestätigung des Schemas trübt unseren Blick
für die Tatsachen und Probleme, die der Marxismus als zweit-
rangig einstuft oder sogar mit Stillschweigen übergeht. Wenn
man sich in Tananarive mit fortschrittlichen Intellektuellen un-
terhält, ist man überrascht, wie wenig Interesse sie beispielsweise
den Entwicklungsproblemen oder auch dem Studium der Sitten
und der madagassischen Gesellschaft entgegenbringen. Einer von
ihnen, der sein Universitätsstudium in Frankreich verbracht hat,
sagte mir, es sei ihm fast unmöglich, seine madagassische Persön-
lichkeit und seine Persönlichkeit als Wissenschaftler miteinander
zu verbinden, und im übrigen erscheine jede im Geist der Wis-
senschaft vorgenommene Beschäftigung mit den madagassischen
Glaubensformen seinesgleichen wie ein Verrat. Ihr Aufbegehren
gegen uns ist nicht intellektueller Art (sie lieben und praktizieren
in bewundernswerter Weise die französische Art der Konversa-
tion), es ist ganz emotional und moralisch.
490 Gelegentliche Äußerungen

Man kann antworten, der Rest käme mit der Unabhängigkeit.


Ich glaube, in Wirklichkeit würden die Unabhängigkeit und ihre
Folgeerscheinungen einen brutalen Schnitt bedeuten, aber nicht
das Problem lösen, das darin besteht, eine Art des europäischen
Denkens mit dem zusammenzuschweißen, was von einer archa-
ischen Zivilisation übrig bleibt. Vielleicht bewältigt der Kommu-
nismus dieses Problem wie alle anderen nur, indem er ihm die
Möglichkeit nimmt, in Erscheinung zu treten.
Als Rabemananjara in einer Pariser Zeitung die Wünsche der
Madagassen zum Ausdruck bringen wollte, konnte er die Lob-
rede auf die europäischen Techniken und den Anspruch auf eine
unmittelbare Beziehung zur Natur, deren Geheimnis die mada-
gassische Zivilisation, wie er sagte, seit jeher bewahre, nur anein-
anderreihen, ohne zu erläutern, wie diese poetische Beziehung
zur Natur mit der Arbeit und der Produktion auf abendländische
Weise vereinbar sei.
Césaire rechnet es den Schwarzen zur Ehre an, den Kompaß
nicht erfunden zu haben, und man versteht, was er sagen will:
Der Kompaß, die Dampfmaschine und alles andere haben nur
allzu sehr dazu gedient, das Tun und Treiben der Franzosen zu
überdecken. Aber letztlich behandelt man das historische Pro-
blem der Entwicklung sehr leichthin, wenn man schlicht und
einfach Partei gegen den Kompaß ergreift. Die Unabhängigkeit
würde den Verfall der archaischen Strukturen nicht aufhalten, sie
würde ihn im Gegenteil noch beschleunigen. Man kann überdies
antworten: Die Idealisierung der archaischen Vergangenheit ist
eine Suche nach Sicherheit und verbirgt die revolutionäre Angst.
Man kann dies so sagen, und es ist immer dieselbe Zuflucht zu
einer abgründigen Geschichte. Wenn man sich an das hält, was
man beobachten kann, dann gibt es nichts, das die Feststellung
erlauben würde, die sofortige und unbedingte Unabhängigkeit
sei die Abrechnung mit einem erschöpften Imperialismus seitens
einer reifen Nation, damit diese von sich aus leben kann. Es wäre
eher die Ausstellung eines Wechsels auf das Unbekannte, eine
Herausforderung des Schicksals, und genau das ist es, was die
Revolutionsideologie vor der französischen Linken verbirgt.
Über Madagaskar 491

Kann man aus dem von Ihnen Gesagten schließen, daß es den
traditionellen Kritiken, die man dem Kolonialismus entgegen-
bringt, an Realismus und insbesondere an Aktualität mangelt?
Der Kolonialismus ist, von welcher Annahme man auch aus-
gehen mag, zu drei Vierteln beendet. Als die Europäer fünfzehn
Millionen Schwarzafrikaner nach Amerika verschleppten, als sie
die Herden der argentinischen Pampa wie Steinbrüche für Leder
und Talg behandelten, als sie in Brasilien die Wanderkultur des
Zuckerrohrs entwickelten, die den Boden ausgezehrt zurück-
ließ und das Land, unterstützt durch die tropische Erosion, in
eine Wüste verwandelte, oder als die französische Verwaltung in
Afrika noch von den großen Kompanien dominiert wurde, da
gab es einen Kolonialismus.
Ich denke über die vergangenen Tatsachen, von denen ich
gerade gesprochen habe, was ich über alle Niederträchtigkeiten
denke, die in den historischen Unternehmungen nie fehlen, in
der römischen Geschichte ebensowenig wie in der Geschichte der
französischen Monarchie. Auf diese Weise haben doch Nantes
oder Bordeaux die Geldmittel angehäuft, welche die industrielle
Revolution ermöglichen sollten. Ich billige dieses Blut, diese Lei-
den und diese Schrecken ebensowenig wie ich die Hinrichtung
von Vercingetorix billige. Ich sage, daß man, unter der Bedin-
gung, daß dies aufhört, nicht zum Prinzip erheben muß, die Wei-
ßen müßten nach Hause zurückkehren, denn in Afrika sind sie
heute etwas anderes als jener Kolonialismus.
Sie werden in dem von Ballandier herausgegebenen Buch Le
2 Tiers Monde sehen, daß die öffentlichen Investitionen Frankreichs
in den Ländern südlich der Sahara seit dem Gesetz vom August
1946 rund eine Milliarde Dollar betragen, in zehn Jahren so viel
wie in den vierzig vorangegangenen Jahren, die Entsprechung,
hat man gesagt, zu einem afrikanischen Marshallplan.
3 Sie werden in Germaine Tillions Buch sehen, daß unter den
1.200.000 Nicht-Muslimen in Algerien 19.000 im strengen Sinne
Kolonisten sind, von denen 7.000 arm, 300 reich und etwa zehn
sehr reich sind. Der Rest der Algerienfranzosen sind Angestellte,
Ingenieure und Händler, die drei Viertel der ökonomischen In-
492 Gelegentliche Äußerungen

frastruktur des Landes ausmachen. Unterdessen arbeiten 400.000


algerische Arbeiter in Frankreich und ernähren in Algerien sogar
zwei Millionen Algerier.
Ich behaupte nicht, daß die französischen Firmenchefs sie aus
Menschenfreundlichkeit einstellen. Ich stelle nur fest, daß diese
Beziehung zwischen Algerien und Frankreich nichts mit Kolo-
nialismus zu tun hat. Vor allem in den Sitten und Gebräuchen, in
den Arten des Denkens, sogar in den administrativen Praktiken
bleibt viel mehr als nur Spuren des Kolonialismus erhalten. Man
kann über das bescheidene Niveau des allgemeinen garantierten
Mindestlohns in so mancher Region Madagaskars nachdenken,
in der sich ein wichtiges Privatunternehmen niedergelassen hat,
das nebenbei erwähnt das Verdienst für sich in Anspruch nimmt,
etwas höhere Gehälter auszuzahlen. Man kann nicht mehr be-
haupten, das System sei für die Ausbeutung gemacht; es gibt keine
›Ausbeutungskolonie‹ mehr, wie man es einst gesagt hat.
Warum sieht man unter diesen Umständen immer mehr Län-
der in Übersee, die sich für ihre Unabhängigkeit erheben oder sie
zumindest einfordern?
Werfen wir noch einmal einen Blick in Ballandiers Buch:
Ein Zehntel der Weltbevölkerung verfügt über 80% ihres Ein-
kommens; auf Asien, das die Hälfte der Menschheit beheima-
tet, entfällt nur ein Fünftel des weltweiten Einkommens. 500
Millionen Menschen in den sogenannten weiter entwickel-
ten Ländern leben mit einem jährlichen Einkommen von 500
bis 1.000 Dollar; 400 weitere (die UdSSR, Japan, zwei oder
drei Länder Osteuropas, eine oder zwei südamerikanische Re-
publiken) leben mit einem jährlichen Einkommen von 100
bis 500 Dollar, der Rest – das heißt 1.500 Millionen Men-
schen – mit weniger als 100 Dollar im Jahr. Zwei Drittel der Welt-
bevölkerung hungern; ein Deutscher, ein Engländer, ein Ameri-
kaner verfügten 1950 über 5.000 Energieeinheiten im Jahr, ein
Afrikaner oder ein Chinese über 150, ein Hindu oder ein Indo-
nesier über weniger als 100.
Hinzu kommt, wie Sie wissen, die hohe Geburtenrate der un-
terentwickelten Länder, in der Größenordnung von 40 bis 50 auf
Über Madagaskar 493

tausend; die europäische Rate lag vor der Geburtenbeschränkung


nur bei 30 bis 40 auf tausend. Ohne die Geburtenbeschränkung
hat man errechnet, daß die europäischen Frauen erst mit etwa
fünfunddreißig Jahren heiraten dürften, nur damit sie in der Ehe
nicht mehr Kinder hätten, als sie heutzutage haben. Der Einsatz
medizinischer Techniken hat die Sterblichkeitsziffer sinken las-
sen, wie man oft gesagt hat, aber die Zahlen sind verblüffend: Von
1946 bis 1952 ist die Lebenserwartung in Ceylon von 42,8 auf
56,6 Jahre gestiegen; Frankreich hat seinerseits fünfzig Jahre ge-
braucht, von 1880 bis 1930, um von der ersten zur zweiten Zahl zu
gelangen. Alles in allem werden die unterentwickelten Länder im
Jahr 2000 von 1.800 auf 4.000 Millionen Einwohner angewachsen
sein, die anderen Länder von 900 auf 1.150 Millionen. All dies
und der Verfall der gewohnten Strukturen, kurz gesagt das, was
Germaine Tillion die ›Clochardisierung‹ von drei Vierteln der
unterentwickelten Bevölkerungsgruppen nennt, und schließlich
die Fortschritte der Information und des politischen Bewußt-
seins erklären weitgehend den Aufstand der unterentwickelten
Länder. Das Wenige, das die Kolonisatorenländer für sie getan
haben (in Algerien waren 1954 95% der Männer im Französi-
schen des Lesens und Schreibens unkundig), hat ihr Aufbegehren
eher vorangetrieben als verzögert.
All dies erteilt dem Rassismus der Weißen und den Fakten der
Ausbeutung keine Absolution, aber jene, von denen wir sprechen,
sind von anderem Format und von anderem Gewicht. Alfred
Sauvy, dem man vertrauen kann, schrieb jüngst, die Lebensord-
nung der Algerier habe sich seit der Ankunft der Franzosen in
Algerien beinahe wie die der politisch unabhängigen arabischen
Länder entwickelt. Da sich aber die kolonisierten Länder nicht
selbst verwalteten, und da die Macht hier eine fremde Macht sei,
4 sei es natürlich, daß sie ihr das eigene Leid anlasten.
Wenn das Wesentliche aller Übel, unter denen die kolonisierten
Länder leiden, nicht dem Kolonialismus zur Last zu legen ist, gibt
es dann nicht auch eine Lösung?
Es gibt keine kurzfristige Lösung, die Unabhängigkeit ist eben-
sowenig eine Lösung wie es der Kommunismus wäre. Man hat
494 Gelegentliche Äußerungen

ausgerechnet, daß man zur Anhebung des Lebensstandards um


1% in einem entwickelten Land 4% des Volkseinkommens ein-
behalten müßte, und in einem unterentwickelten Land wäre es
wahrscheinlich weit mehr. Unter Berücksichtigung der Wachs-
tumsrate der Bevölkerung sind es 12% bis 20% des Volkseinkom-
mens, die man einbehalten und investieren müßte, um ein recht
dürftiges Resultat zu erzielen.
Was die Hilfe von außen angeht, so schätzt man, daß die ent-
wickelten Länder (ohne überhaupt die Diskrepanz zwischen ih-
rer demographischen Fortentwicklung und dem Bevölkerungs-
wachstum der anderen zu berücksichtigen) vom ersten Jahr an
4% bis 7% ihres globalen Einkommens beitragen müßten, um
in fünfunddreißig Jahren den Lebensstandard der unterent-
wickelten Völker zu verdoppeln, das heißt um ihr Einkommen
auf 70.000 Francs pro Jahr und pro Kopf anzuheben.
Warum sagen Sie, daß der Kommunismus keine Lösung wäre?
Weil er innerhalb und außerhalb der UdSSR auf die Probleme
der Unterentwicklung gestoßen ist; zwar hat er sie in der UdSSR,
wo die Ressourcen in außergewöhnlichem Maße vorhanden sind,
und in allem, was den industriellen Sektor betrifft (ein Agrarpro-
blem bleibt anscheinend bestehen), überwunden. Was aber die
Volksdemokratien angeht, so hätte, wie der Engländer Mandel-
baum sagt, die Umwandlung der Agrarländer in Industrieländer,
beispielsweise die jährliche Integration von 700.000 Personen in
die ungarische Industrie, die Investition von einem Fünftel des
Volkseinkommens erfordert. Unter Berücksichtigung der einer
rein autoritären Planung eigenen Mängel und all ihrer mensch-
lichen Folgen haben sich Polen und Ungarn vielleicht angesichts
dieser übermäßigen Anstrengung erhoben.
Die Probleme, die Sie beleuchten – und die von all jenen, die
über die Politik nachdenken nicht immer bemerkt wurden –,
scheinen tatsächlich die wesentlichen Probleme zu sein, die un-
sere Epoche beherrschen werden und die sie bereits beherrschen.
So immens sie uns aber auch erscheinen mögen, man kann nicht
mit ihnen fertigwerden, ohne eine bestimmte Art des Umgangs
mit ihnen ins Auge zu fassen oder zu versuchen, sie wenn auch
Über Madagaskar 495

nur in geringem Maße zu kontrollieren. Haben Sie hierzu keine


Vorschläge?
Man muß sicherlich etwas vorschlagen, aber dies ist nicht die
Äußerung einer unmittelbaren Lösung. Ich wünsche nicht, daß
Algerien, Schwarzafrika und Madagaskar unverzüglich zu unab-
hängigen Staaten werden sollen, weil die politische Unabhängig-
keit, die zwar die Probleme der beschleunigten Entwicklung nicht
löst, ihnen andererseits aber die Mittel zu einer andauernden
Unruhe im weltweiten Maßstab an die Hand geben würde, die
Spannung zwischen der UdSSR und Amerika verschärfen würde,
ohne daß eine der beiden Parteien für die Probleme der Unter-
entwicklung eine Lösung unterbreiten könnte, solange beide ihr
Bemühen um Aufrüstung fortsetzen werden.
Unmittelbar wünsche ich von den Regierungen vielmehr eine
interne Autonomie oder einen Föderalismus, als Übergang zur
Unabhängigkeit, mit darin vorgesehenen Fristen und Etappen.
Da es keine kurzfristige technische und ökonomische Lösung
gibt, müssen diese Länder die Mittel zu einer politischen Wil-
lensbekundung bekommen, damit ihre Angelegenheiten wirklich
in ihrer Hand liegen und damit ihre Vertreter von Frankreich das
Maximum dessen erhalten, was es im Sinne der ›Ökonomie der
Gabe‹ tun kann.
Glauben Sie, daß eine solche Politik, wenn man sie beschließen
würde, Chancen hätte, Anwendung zu finden?
Die Schwierigkeiten sind offensichtlich. In einem Madagas-
kar, das durch ein Rahmengesetz regiert wird, denken viele Ma-
dagassen, daß sich nichts verändert hat. Heutzutage, in einem
Madagaskar, das einer Ordnung der internen Autonomie un-
tersteht, ließ ein madagassischer Journalist mir gegenüber ver-
lauten, daß die Verwaltung absichtlich Buschfeuer (die verboten
5 sind) lege, um vermeintlich Schuldige verurteilen zu können. Ich
habe den Journalisten aus Tananarive, der mir dies sagte, dar-
auf hingewiesen, daß er vor zehn Jahren im Gefängnis war und
heute Redakteur einer Zeitung in Tananarive sei. Viele Franzo-
sen, ich muß sogar sagen viele Verwaltungsbeamte, stehen dem
Rahmengesetz offen oder stillschweigend feindlich gegenüber.
496 Gelegentliche Äußerungen

Einer von ihnen sagte mir: ›Wir bringen ihnen bei, ohne uns
auszukommen.‹ Er hatte Recht. Dies ist genau die Mission der
französischen Verwalter in einem Regime der internen Auto-
nomie.
Wenn es jedoch um die Karriere geht, so gibt es dort genug,
womit man eine ganze Karriere ausfüllen kann, so groß ist die
Aufgabe der Schaffung von Schulen und der Bildung, so lange
wurde sie hinausgeschoben. Man muß hinzufügen, daß manche
Verwalter das Spiel mit einer Offenheit, einer Aktivität und üb-
rigens auch einem Erfolg betreiben, die bewundernswert sind;
mit viel Charakter, Unabhängigkeit und Talent habe ich einige
gesehen, denen es gelungen war, hier und dort im Anschluß an
Wahlen, welche die alte Regierungsschicht hinweggefegt hat-
ten, ihre moralische Autorität durchzusetzen. Mehr noch: Ein
Verwalter, ein Mann der Rechten, sagte mir mit Bedauern: ›Als
Herr Defferre Minister war, wurden wir mit Runderlässen vol-
ler Durchführungsrichtlinien bedrängt. Man verlangte von uns
das Unmögliche, aber man verlangte es immerhin von uns.‹ Ich
glaube, daß viele Menschen, die zögern oder taktieren, sich an die
Arbeit machen würden, wenn sie hinter sich eine Bewegung und
eine Erwartung spüren würden …
Sie wünschen nicht, daß Frankreich sich aus Afrika zurück-
zieht. Können Sie die wesentlichen Gründe für diese Haltung
erläutern?
Ich sage es ganz ungeniert: Weil ich glaube, daß Frankreich
dort etwas Gutes ausrichten konnte oder noch kann, und weil ich
lieber einem Land angehöre, das in der Geschichte etwas bewirkt,
als einem Land, das sie hinnehmen muß. Im Grunde genommen
ist das, was mich bei jenen unter meinesgleichen stört, die allzu
leicht von Unabhängigkeit reden, der Umstand, daß die Aufga-
ben, die sie uns vorschlagen, immer Unterlassungen sind.
Ich habe Leute gesehen, die Mendès-France große Ehre erwie-
sen, weil er die Genfer Abkommen unterzeichnet hat. In Genf
hat er getan, was er konnte. Was ihn ehrt, ist nicht Genf, sondern
Tunis, die Abkommen von Karthago, die nichts mit der franzö-
sischen Politik in Marokko zu tun haben. Auf der einen Seite
Über Madagaskar 497

eine Initiative; auf der anderen eine Mischung aus Schwäche und
Gerissenheit.
Sie scheinen an eine Überlegenheit unserer Werte zu glauben,
der Werte der abendländischen Zivilisationen, gegenüber jenen
der unterentwickelten Länder …
Gewiß nicht an ihren moralischen Wert, und noch weniger
an ihre überlegene Schönheit, aber, wie soll ich sagen, an ihren
historischen Wert. Wie überrascht war ich, als ich nach einem
Monat auf Madagaskar frühmorgens in Orly landete, so viele
Straßen, so viele Objekte, so viel Geduld, Mühe und Wissen zu
sehen und in den angehenden Lichtern so viele unterschiedliche
Leben zu erahnen, die am Morgen erwachen. Dieses große fieb-
rige und überwältigende Arrangement der sogenannten entwik-
kelten Menschheit ist es, das letztlich eines Tages bewirken wird,
daß alle Menschen auf dieser Erde genug zu essen haben. Es hat
bereits bewirkt, daß die Menschen jeweils in den Augen des An-
deren existieren, statt daß sie sich nur, jeder für sich, wie Bäume
in ihrem Land ausbreiten. Die Begegnung ist mit Blut, Angst und
Haß einhergegangen, und dies ist es, was enden muß. Ich kann
sie nicht ernsthaft als ein Übel betrachten. In jedem Fall, so viel
ist abgemacht, kann keine Rede davon sein, den Archaismus neu
zu erschaffen, wir sind alle in diese Angelegenheit verstrickt, und
es ist nicht nichts, diese Partie begonnen zu haben.
498

Ü BE R DE N 13. M A I 195 8 1

Die Ultras in Algier haben sich also erhoben, um eine Regierung


an die Macht zu befördern, die jene Politik betreibt, die Mendès-
France vor zweieinhalb Jahren oder noch früher gefordert hatte.
Die Offiziere in Algier haben die Disziplin aufgegeben, um eine
Regierung zu erhalten, die sie wieder zu selbiger zurückführt.
Guy Mollet, ein Verräter seines eigenen Sozialismus, dann der
republikanischen Verteidigung und morgen, wie ich annehme,
an General de Gaulle, erfreut sich der Wertschätzung de Gaulles;
Robert Lacoste, der in Algier eine Rebellion ausgebrütet hat, vor
der er floh, so wie manche Vögel die Eier ihrer Artgenossen aus-
brüten, erfreut sich seiner ganzen Freundschaft.
Die sozialistischen Parlamentarier, die einstimmig gegen de
Gaulle gerichtet sind, warten darauf zu wiederholen, daß Herr
Coty ihnen mit dem Bürgerkrieg gedroht habe, und des weiteren,
daß General de Gaulle sich zu sehr engagiert habe, um sein Wort
zurücknehmen zu können – sie wiederholen es mit gedämpf-
ter Stimme und erhalten, ebenso mit gedämpfter Stimme, Be-
schwichtigungen zur Antwort, die Herrn Deixonne zutiefst er-
schüttern. Besteht die Politik immer nur aus diesen Dummheiten,
diesem Laisser-faire, diesen nervlichen Krisen, diesen sogleich
widerrufenen Schwüren – diesen Schwüren, die man leistet, um
über den Rücktritt von ihnen zu verhandeln? Oder haben wir es
hier nicht vielmehr mit einer Politik der Dekadenz zu tun, und
sind wir nicht durch ein viel tiefer greifendes Übel zur Parodie
und zum Irrealen verurteilt, einem Übel, das die Institutionen
von morgen ebenso wie die von gestern verderben wird?
Man darf nicht vergessen, daß das Auftreten General de Gaul-
les auch die Folge und gewissermaßen das Meisterstück des Mol-
letismus ist. Ich bin nicht sicher, ob es auch sein Ende bedeutet.
Von Tamanrasset bis Dünkirchen sieht man nur Franzosen, die
mit offenen Augen träumen, die berauschende Situationen schaf-
Über den 13. Mai 1958 499

fen, um die wirklichen Probleme zu vergessen und die auf der


Stelle, eher als einem Bürgerkrieg, einer Art politischem Nichts
entgegengehen. Denn schließlich weiß man nicht, was die Fall-
schirmjäger in Paris, wenn das ›System‹ erst einmal zerstört wäre
und die Linksintellektuellen im Gefängnis säßen, mit einem aus-
radierten und fehlenden Land anfangen würden, was sie Bour-
guiba oder dem König von Marokko, der FLN oder den Männern
in Kairo sagen würden. Was die ›Linkstotalitaristen‹ angeht, wer
würde da behaupten wollen, selbst im Falle eines siegreichen
Widerstandes der Arbeiterklasse, daß die UdSSR einen offenen
Konflikt riskieren würde, um hierzulande eine Volksdemokratie
zu unterstützen? Dies sind gleichwohl die Schreckensszenarien,
in die man das Leben der Franzosen einzuordnen sucht. Die Per-
sonen des Dramas sind zum Teil imaginär.
Am Anfang steht die Bewegung von Algier, über die man in
politischer Hinsicht nichts sagen kann: Sie ist nicht einmal der
Entwurf einer Politik. Die Ultras haben sich erhoben, um das
Algerienproblem zu vergessen, das sie allmählich entdecken, sie
machen eine Szene, bevor sie abtreten, und wenn sie über die
Dinge reden müssen, dann nur, um die Slogans aus der Zeit vor
Guy Mollet aufzugreifen.
Was jedoch wichtig ist, das ist die Armee. Nach allem, was man
darüber weiß, durchlebt sie noch einmal Glanz und Elend des Mi-
litärs. Am Rand der Nation und stets in falscher Stellung ihr ge-
genüber – ausgebildet zur Opferbereitschaft akzeptiert sie diese,
wie Vigny sagt, bis in die »sinistren Funktionen« hinein, die sie
mit sich bringt, und da sie auf die Freiheit des Denkens und Han-
delns verzichtet hat, »weiß sie weder, was sie tut, noch, was sie
ist«, sie »muß gehorchen und ihren Willen, wie eine schwere und
lästige Sache, in andere Hände legen«. Ist sie Sklavin oder Köni-
gin des Staates? Aber Sklavin kann sie ja nicht sein, wenn es kei-
nen Staat mehr gibt. Und was soll man mit der Macht anfangen,
wenn man gar nichts will? »Die Armee ist blind und stumm […]
Sie will nichts und handelt nach ihrer Zuständigkeit. Sie ist ein
großes Ding, das man bewegt und das tötet; sie ist aber auch
ein Ding, das leidet.« Als Sündenbock, als »zugleich grausamer
500 Gelegentliche Äußerungen

und unterwürfiger Märtyrer«, der an die Verachtung des Todes,


also auch des Lebens, und an die Verachtung der Menschen, also
auch seiner selbst gewöhnt ist und durch all dies den Menschen
fremd, die das Jahrhundert bevölkern, und manchmal ›kindisch‹
vor ihrem Leben stehend; andererseits aber frei im Geist und in
der Lage, sich ihnen, wenn er sie entdeckt, zu widmen, teilt der
Soldat nicht ihre Interessen, aber man darf von ihm nicht verlan-
gen, eine Politik zu verfolgen.
Nun ist es jedoch ein Soldat, der hier damit beauftragt ist,
das Übel zu heilen. Er hat sicherlich mehr Anteil am Glanz als
am Elend des Militärs und scheint wahrhaftig in ausreichendem
Maße unbeschädigt aus den Verwüstungen des passiven Gehor-
sams hervorzugehen. Ist er auch der Krankheit der Verachtung
entkommen? Wie menschenverachtend man doch sein muß, um
den Franzosen Guy Mollet und Robert Lacoste als Modell vor-
zuhalten! General de Gaulle kann zwar die Gesetze ändern, aber
er wird das Leben Frankreichs nicht verändern, weil dies nicht
die Angelegenheit eines einzelnen Menschen ist, weil ein einzel-
ner Mensch immer eine zu einfache Vorstellung vom System hat.
Seiner Art entsprechend, weil er sich seiner gut zu bedienen weiß,
ohne eine Lüge, aber auch ohne einen Irrtum! Diese unvermeid-
liche Rebellion, »was auch immer er hätte sagen können …«,
schreibt er an Vincent Auriol, also eine vorhergesehene und
keineswegs angeratene Rebellion, die er aber wie eine Tatsache
hinnimmt – die er im Verlauf der Verhandlung nicht »gutheißen
kann«, die er jedoch nutzt –, die er nicht mißbilligt, die er aber
besser versteht als sie sich selbst und die er auf ihren wahren Sinn
zurückführen wird – all dies ist sehr geschickt eingefädelt, es ist
Arbeit an den Menschen, dieselbe Art einer abweisenden Wen-
digkeit, einer egalitären Verachtung, die General de Gaulle 1944
die Macht übertragen hat – und die nicht ausgereicht hat, um
sie ihm zu bewahren, nicht nur weil das ›System‹ wieder begon-
nen hat, sondern weil es, während es zur Eroberung der Macht
ausreicht, die Menschen zu manipulieren, zu ihrer Bewahrung
eines Interesses an den Dingen bedarf, bestimmter Neigungen
und eines Korpus an Ideen hinsichtlich der Probleme. Es hat in
Über den 13. Mai 1958 501

der Regierung nie eine Bewegung hinter de Gaulle gegeben, weil


er keine Politik verfolgte, weil er schlichtete, ohne zu regieren.
Man scheint in diesen Tagen zu vergessen, daß die französische
Armee und die Nationalversammlung nicht die Welt sind. Wie
soll man sich gegenüber Tunesien und Marokko verhalten? Wie
soll man mit der FLN verhandeln, die zu keinem Zeitpunkt eine
Integration, freie Wahlen oder einen Waffenstillstand akzeptiert
und die immer nur von Unabhängigkeit gesprochen hat? Wenn
man, um diese Unbeugsamen in die Knie zu zwingen, ihren
Waffennachschub unterbinden will, wird man sich dann noch
lange das Wohlwollen Bourguibas erhalten können? Bedeutet es,
sich in eine Position der Stärke zu begeben, wenn man die Her-
stellung des Friedens innerhalb von sechs Monaten ankündigt?
Den Inszenierungen in Algier haftet etwas Traumhaftes an, mit
dieser Art, die Hindernisse durch das Denken abzuschaffen, die
Begeisterung der Algerienfranzosen auf den Gegner zu übertra-
gen, als sei das Universum beteiligt und gehorche den Rausch-
zuständen des Forums in Algier. General de Gaulle ist in seiner
Einsamkeit gefangen wie die Menge in Algier in ihrer Wut gefan-
gen ist und Guy Mollet in seiner Lobbyarbeit. Wo ist in diesem
Moment die Idee geblieben, wo ist der politische Einfallsreich-
tum und, wenn es keine Lösung gibt, was bedeutet dieser Karne-
val? Ich wünsche mir sehnlichst, mich zu täuschen, da ich nicht
an die Tugenden des Nichts glaube, aber vielleicht wird man in
sechs Monaten, in sechs Wochen einem noch schlimmeren Ende
ins Auge sehen.
Genau unter diesen Umständen fordert Sirius seine Leser auf,
ja oder nein zu de Gaulle zu sagen, ihn mit ihrem Beitrag zu
unterstützen, wenn sie in ihrem tiefsten Inneren seinen Erfolg
wünschen, den »vergeblichen Diskussionen« ein Ende zu berei-
ten und ihre Aufmerksamkeit wieder auf die totalitären Kräfte
der Rechten und der Linken zu richten. So werden wir innerhalb
von fünf Tagen vom »geringsten Übel« zur heiligen Union ge-
führt. Es gibt keinen Platz mehr für eine Opposition, es herrscht
Einigkeit hinsichtlich der mutmaßlichen Ziele. Man muß dafür
oder dagegen sein. Aber für oder gegen was? Die »totalitären
502 Gelegentliche Äußerungen

Kräfte der Rechten und der Linken«, ruft dies bei Sirius nichts
in Erinnerung? Es sind dieselben Worte, die Herr Pflimlin ver-
wendet hat. Wir haben es hier mit der Sprache des ›Systems‹ zu
tun. Wenn man die kommunistische Partei und die CGT so brav
erlebt hat, wie sollte man dann nicht spüren, daß es auch die
Sprache der politischen Erpressung und der Mythen ist? Diesen
Beitrag, den Sirius von uns fordert, hat General de Gaulle gar
nicht von den Franzosen erbeten. Seit er in sein Amt eingesetzt
wurde, hat er sich überhaupt nicht an sie gewandt. So beschäftigt,
wie er damit ist, das System unschädlich zu machen, schont er
seine Kräfte sicherlich für Algier. Dies beruhigt keineswegs. Zwi-
schen ihm und Algier gilt es noch eine Rechnung zu begleichen.
Ihn allein betrifft dies, nicht uns. Er ist allein, wie er es gewollt
hat. Sein Scheitern wäre schlimm, aber wir können ihm weder zu
einem Erfolg verhelfen noch ›Alles oder nichts‹ bei seinem Un-
ternehmen spielen, als gäbe es nach ihm und nach uns nichts.
Unsere Rolle besteht darin, zu verstehen, was gerade aufgehört
hat und was beginnt. Ich für meinen Teil möchte den Lesern zwei
untrennbare Überlegungen unterbreiten. Die erste lautet, daß in
Übersee keine liberale Politik möglich sein wird, solange die Re-
gierungen, die in der Lage wären, sie auszuüben, auf die Unter-
stützung der Franzosen verzichten müssen, die einhundertvierzig
kommunistische Abgeordnete ins Parlament entsenden. Diesmal
wird recht deutlich, daß der berühmte Abzug der kommuni-
stischen Stimmen Frankreich um eine bestimmte Zahl seiner
Staatsbürger beschneidet, die sind, was sie sind, aber sicher keine
Ultras, er deckt im voraus die Operationen der Rechten, kündigt
den Entschluß zur Kapitulation an und ist im Bürgerkrieg der
erste Akt der Erpressung. Mendès-France hat die kommunisti-
schen Stimmen in dem Augenblick in Abzug gebracht, in dem
er mit Rußland und China in Verhandlungen eintrat; er hatte
Recht damit, es zu jenem Zeitpunkt zu tun, falls verhandeln nicht
gleichzusetzen ist mit kapitulieren. Der Erfinder des ›Systems‹
bleibt General de Gaulle, mit dem Thema der ›Separatisten‹. Die
Erpressungen seitens einer Rechten in der Minderheit und ihre
Allmacht, die Unterstellungen von Absichten, der generalisierte
Über den 13. Mai 1958 503

Verdacht, kurzum: Die paranoische Politik, die Lähmung der li-


beralen Regierungen, die Degradierung der Mächtigen werden so
lange weitergehen, wie die Masse der kommunistischen Wähler
in Frankreich weiterhin wie ein Fremdkörper behandelt wird.
Nun wird sie es aber so lange bleiben, wie die kommunistische
Partei sich nicht als das zeigt, was sie ist: eine Arbeiterpartei, de-
ren ganzes Gewicht in dem liegt, was sie für den Arbeitersinn hält
– und darin hat sie Recht –, die mit dem revolutionären Marxis-
mus aber nichts gemeinsam hat, weder theoretisch noch prak-
tisch, und die darüber hinaus in keiner Weise damit beauftragt
ist, in Frankreich eine Volksdemokratie zu errichten. Auch in die-
ser Hinsicht sind die jüngsten Ereignisse klar: Man wird kaum
annehmen, daß ein revolutionärer Staat General de Gaulle mit
der diskreten Gunst empfangen hätte, die ihm die sowjetische
Regierung bezeugt hat. Da der Kommunismus tatsächlich an Re-
formen und Kompromisse geknüpft ist, dient die Ehrensache des
verbalen Bolschewismus nur dazu, die Propaganda von rechts
zu unterstützen. Es herrscht in der kommunistischen Partei eine
Tendenz zum Reformismus und zum ›Programm‹. Sie setzt sich
allmählich durch, und sie wird eines Tages den Sieg davontragen.
Solange die kommunistische Partei ihre Wandlung nicht durch-
laufen hat, wird es in Frankreich keine Demokratie geben.
Unsere Gegenwart ist übervoll an Phantomen. Dies ist kein
Grund, um ihr noch weitere hinzuzufügen. Man darf nicht daran
denken, die Republik wiederherzustellen, insbesondere nicht so,
wie sie seit zwei Jahren beschaffen ist. Es geht darum, sie neu zu
errichten, befreit von ihren Ritualen und ihren Obsessionen, in
aller Klarheit.
(5. Juni 1958)
504

MORG E N … 1

(Interview)

Haben die Ereignisse in Algier Ihre Vorstellung von den Proble-


men in Übersee verändert?
Ich habe Ihnen gesagt, daß ich nie für eine revolutionäre oder
eine Politik ›von unten‹ war. Heute bin ich es noch viel weniger:
Sie würde Gefahr laufen, den Faschismus, der in Algerien in Er-
scheinung getreten ist, auf die Hauptstadt auszudehnen. Denn
es handelt sich um einen Faschismus, wie zunehmend deutlich
wird, je mehr Informationen zu uns durchdringen.
Nicht zufällig hat sich die 5. Abteilung in Algier mehrere Mo-
nate vor dem Aufstand einen Plan von der Funktionsweise des
Radios geben lassen. Nach der Einsetzung von Herrn Pflimlin
hörte man, wie die Offiziere den paramilitärischen Gruppierun-
gen zusetzten, indem sie vortäuschten, sie im Stich zu lassen. Es
geht hier nicht mehr um die klassischen Unruhen der Armee: Es
geht vielmehr um eine Theorie des Terrors, nicht nur als Mittel
des Kampfes in Algier, sondern auch als Mittel der Regierung in
der Hauptstadt und als ›Philosophie‹ der Geschichte.
Übertreibt man nicht, wenn man den Offizieren eine ganze
Politik unterstellt? Wird ihre Haltung nicht vor allem von den
Problemen des Krieges bestimmt?
Sie werden in der Presse bald den Bericht über einen Vor-
trag lesen, der am 7. Juni in Algier von Oberst Trinquier gehal-
ten wurde, und Sie werden darin, mit einigen Vorbehalten oder
Vorsichtsmaßnahmen, die Versuchung finden, die in Algier ein-
gesetzten Mittel auf die Hauptstadt auszudehnen, um die Be-
völkerung ›kommandierbar‹ zu machen. Diese Politik wird in
einem Buch, das ich neulich erhalten habe, deutlich dargelegt:
La troisième guerre mondiale est commencée von Pierre Debray. 2
Der Krieg wird kein sichtbarer Krieg mehr sein, er ist es bereits
Morgen … 505

nicht mehr. Er wird ein heimlicher Krieg sein, oder vielmehr ist
es schon. Seit 1917 setzt sich allmählich in aller Welt der Wunsch
nach Subversion durch, dessen Theorie uns der Bolschewismus
geliefert hat und der sich Punkt für Punkt nach dem bolschewi-
kischen Kalender entwickelt: »Wir haben Tunesien und Marokko
aufgegeben, als die subversive Aktion erst bei der zweiten der von
Trotzki definierten Phasen angelangt war. In Algerien ist schon jetzt
die vierte Phase erreicht. Wer kann mit aller Vernunft behaupten,
3 die Hauptstadt selbst befinde sich erst in der ersten Phase?«
Wir sind im Bereich des Geheimen. Die ganze Geschichte
des Kommunismus seit Trotzki, die Aktionen und Reaktionen,
die Höhen und Tiefen, die Säuberungen und die Wendepunkte,
alles Feststellbare, alle Ereignisse werden unserem Blick entzo-
gen: Es gibt nur eine Substanz der Geschichte, die Fortschritte
der Subversion. Dieser abstrakte Feind ist ständig um uns und
rechtfertigt einen permanenten Verdacht, unabhängig davon,
wohlgemerkt, ob es sich nun um die UdSSR oder die Vereinig-
ten Staaten handelt. Es könnten auch Deutschland, Italien oder
drei Viertel Frankreichs sein. Der Feind lauert selbst dann in uns,
wenn wir im engagierten Kampf gegen ihn von manchen Din-
gen Abstand nehmen. Man darf nicht, sagt Pierre Debray, vor
der Einbeziehung der Armee und der Polizei zurückschrecken.
Der Soldat, der sich zum Lehrer und Verwalter gewandelt hat,
muß wieder zum Kämpfer oder sogar zum Henker werden. »Das
Waffenhandwerk hat sich verändert, das ist alles. Wir führen einen
Krieg, der uns aufgezwungen wurde, einen Krieg ohne Regeln, einen
Krieg ohne ›Ehre‹, einen plebejischen Krieg.« Wenn der Soldat et-
was an dieser Rolle ablehnt, »so wird er von der Partei des Verrates
annektiert«. »Wer der Wahl aus dem Weg geht, der verdammt sich
dazu, sich wenn nicht subjektiv, so doch zumindest objektiv wie ein
4 Partisan des Verzichts zu verhalten.« Was die Antikommunisten
aus ihrer Erfahrung und ihren Lektüren behalten, ist also ge-
rade der Apparat des dekadenten Kommunismus, die Guillotine
des ›objektiv Gesehenen‹, der Formalismus, der Manichäismus,
das agglutinierte oder amalgamierte Denken, das sich bei ihnen
noch verschlimmert, da ihre Bewegung sich keinerlei Perspek-
506 Gelegentliche Äußerungen

tive schafft und sich im Widerstand gegen ein unsichtbares Gift


zusammenfassen läßt. Wenn diese Offiziere sich, trotz seiner
grotesken Untertöne, das Wort Subversion angeeignet haben, so
nur deshalb, weil ›Revolution‹ an ein positives Unternehmen er-
innern könnte, während es doch darum geht, den Feind als die
Kraft der Negation darzustellen.
Ganz offensichtlich haben sie Augen und Ohren, sie wissen,
daß es eine sichtbare Geschichte gibt, und in den Momenten der
Entspannung bemerkt Pierre Debray, die Kommunisten seien
Politiker, sie ordneten den Krieg der Politik unter und könnten
folglich Unterbrechungen, Etappen und Aufschübe in der De-
struktion zulassen. Es ist die FLN, die eine unmittelbare Negation
bedeutet, einen »absoluten Krieg« – und sie kann nichts anderes
sein, da es keine algerische Nation gibt, »kein Algerien«. War Ram-
dane nicht »ein großer Leser von Clausewitz«? Der absolute Krieg 5
und die physische Gewalt der FLN übersetzen nur deutlicher, was
heute das einzig Wesentliche der Geschichte ist, die ›Metaphy-
sik‹ der Phänomene: die Subversion. Und der Kommunismus ist
nur eine raffiniertere Technik und eine Verallgemeinerung der
Subversion. Diesem Gift, das in allem steckt, kann man sich nur
durch den »absoluten Gegenkrieg« widersetzen.
Die Schlußfolgerungen sind klar: Man muß in der Hauptstadt
eine »revolutionäre Legalität« schaffen, den »hauptstädtischen Ap-
parat der kommunistischen Subversion« zerstören und die Zensur 6
sowie die Todesstrafe für Journalisten einführen. In Algerien wäre
die einheitliche Sekundarstufe eine List, um die Unabhängigkeit
herbeizuführen. Es wäre dennoch absurd, Krieg zu führen, um
Wahlen zu ermöglichen, aus denen die Unabhängigkeit hervor-
gehen könnte. Das einzige Ziel ist es, »die algerischen Partisanen
(die Fellagha) zu vernichten«. »Unsere Aufgabe Marokkos und Tu-
nesiens belastet die Situation mit einer schweren Hypothek«, die
Operation von Sachiet »hatte nur den Fehler, daß sie zu spät und
vor allem zu zaghaft war«. 7
Man kann über den letzten Sinn dieser Haltung diskutieren.
Ich werde den Gedanken nicht los, daß jene Soldaten, die sich
von der tunesischen Grenze abwenden, um sich in Algier dem
Morgen … 507

Aufstand anzuschließen, und die ihre feindliche Wut nun gegen


ihren Landsmann richten, in Wirklichkeit kaum noch die Hoff-
nung haben, den Feind zu besiegen. Wie Robert Lacoste sagte:
Es ist nicht leicht, an zwei Fronten zu kämpfen. Pierre Debray
schreibt: »Entweder versetzen wir die Nation in den Kriegszustand,
oder wir hören lieber sofort auf, unsere Soldaten töten zu lassen
[…] Was können wir dafür? Wir finden keinen Gefallen an unnöti-
8 gen Opfern.« Ich kann ebenfalls nichts dafür und bin im übrigen
nicht befugt, wen auch immer zum Opfer zu bringen, sei es nun
hilfreich oder unnötig. Ich werde daher nur folgendes sagen: Die
Soldaten, die ich in meinem nächsten Umfeld gekannt habe, wä-
ren errötet, wenn sie in diesem Tonfall hätten sprechen sollen. Da
Pierre Debray sich ja so häufig auf den Bolschewismus bezieht,
müßte er sich daran erinnern können, daß es oft die besiegten
Armeen sind, welche die Revolutionen anführen.
Lassen wir jedoch die Psychologie beiseite. Wichtig ist viel-
mehr, daß wir es hier mit einem aggressiven Nihilismus zu tun
haben, der jede Politik ausschließt. Wenn der Autor versucht, eine
bestimmte Politik zu entwerfen – mit einem bedauernden Seuf-
zen, denn letztlich wäre die »vernünftigste Lösung« vielleicht, ide-
alerweise, den Afrikanern gar nichts vorzuschlagen –, dann ge-
schieht dies, um von einem »intellektuellen Wagnis«, von »spekta-
kulären Wandlungen« und von einer »technischen Revolution des
9 20. Jahrhunderts« zu sprechen, deren Natur er ansonsten nicht
näher erläutert und von der man nur weiß, daß sie das Gegen-
teil der Revolution von 1917 sein wird. Die Wahrheit ist, daß die
Voraussetzungen für eine Politik durch ein Denken abgeschafft
wurden, das nicht unbedingt totalitär ist, das aber ein Monismus
des Terrors ist – die Angst, das Scheitern und die Scham, die man
in der Verzweiflung auf sich nimmt und in politisches Handeln
kleidet.
All dies ist ein Faschismus im strengsten Sinne des Wortes –
eine Wiederaufnahme und äußerliche Imitation der revolutionä-
ren Vorgehensweise im Kampf, eine Nachahmung des revolutio-
nären Pathos, eine Unterschätzung des Sichtbaren zugunsten des
Verborgenen, eine aus der Distanz heraus vorgenommene Iden-
508 Gelegentliche Äußerungen

tifizierung der Gegner unter ihnen und des Antibolschewismus


mit den eigenen Gegnern.
Welche Beziehungen sehen Sie zwischen diesen Tendenzen und
jenen der Pariser Regierung?
Man braucht nicht lange darzulegen, daß das Unternehmen
de Gaulles in keiner Beziehung steht zu dieser Geisteshaltung.
Die einheitliche Sekundarstufe, die für die Faschisten ein Verrat
ist, war in Algerien sein erstes Wort; die Evakuierung Tunesiens,
die ein ›Aufgeben‹ war, seine erste Handlung. General de Gaulle
hat mit den faschistischen Offizieren nur die Polemik gegen das
›System‹ gemeinsam; dies hat bei ihm in den vergangenen Jahren
dazu geführt, eine Parteinahme abzulehnen, als die Republika-
ner versuchten, die Republik dem politischen Nichts zu entrei-
ßen – in jüngster Zeit führte es zu seiner Ablehnung, die Be-
wegung von Algier zu mißbilligen: Wenn das ›System‹ das Übel
schlechthin ist, dann ist alles, was darauf ausgerichtet ist, es zu
zerstören, vergleichsweise gerechtfertigt.
Was General de Gaulle jedoch an die Stelle der IV. Republik
setzen will, hat nichts zu tun mit dem aggressiven Nihilismus
der Offiziere. Er ist ein Mensch und ein Soldat alter Schule, ich
meine, mit einem gefestigten Überbau, ein homo historicus und
kein homo psychologicus der neuen Generation. Die verborgenen
Realitäten, an die er glaubt, sind nicht etwa die Phantasmen der
Subversion, sondern der Archetyp Frankreichs, den er in sich be-
wahrt, und das Volk, das am anderen Ende des historischen Fel-
des und vor dem Hintergrund seines Alltagslebens ja sagen wird
zu Frankreich. Die Metaphysik des Schlichters und des Volkes,
der eine diesseits, das andere jenseits der Parteien, das ist etwas
ganz anderes als der faschistische Aktivismus.
Glauben Sie, daß die Pariser Regierung in der Lage sein wird,
jenen Teil der Armee an ihre Politik zu binden, von dem Sie ge-
rade gesprochen haben?
Das kann ich ebensowenig abschätzen wie alle anderen. Ich
bezweifle, daß der Regierung dies durch Überzeugung gelingen
wird. Der reine Zwang, das wäre hingegen die Ablehnung der
Verstärkung und des Wesentlichen. Die Frage ist vielleicht, wie
Morgen … 509

man einen Teil der französischen Bevölkerung und der Armee


vom Faschismus abtrennen kann. Und hier fürchte ich, daß die
innenpolitischen Überzeugungen de Gaulles (die sehr viel weni-
ger persönlich und originell sind als er selbst) ihn blenden und
ihn daran hindern, in der öffentlichen Meinung die Unterstüt-
zung zu suchen, die er bräuchte. Sieht er und sagt er denn letzt-
lich genau, warum die IV. Republik nicht zu einer Reformpolitik
in der Lage gewesen sein soll, wie er sie angeht?
Er glaubt, der französischen Politik fehle es an Kontinuität. Ist
es die Kontinuität, die der IV. Republik fehlte? Haben die ein-
ander folgenden Regierungen nicht, abgesehen von einer Aus-
nahme, dieselbe Politik verfolgt? Fehlte es ihnen nicht vielmehr,
ganz im Gegenteil, kontinuierlich an Initiative, an Bewegung,
an Neuheit, ohne die Suezaffäre hiervon auszunehmen, die eher
eine Verkrampfung als eine Aktion darstellt, da man nicht ent-
schlossen war, sie bis zum Ende durchzuführen? Hofft man, diese
Kontinuität der Untätigkeit dadurch abzuschaffen, daß man den
Machtbereich des Präsidenten der Republik erweitert, was in
einer Hinsicht auch bedeutet, die Macht des Ratspräsidenten
dementsprechend einzuschränken? Wenn der Präsident der Re-
publik nicht mehr de Gaulle sein wird, dann wird er wieder zu
dem, was er immer gewesen ist: ein Mann, der einer langen Kar-
riere der Ehrungen gefolgt ist und der eher zu den gewohnten
Lösungen neigt als zu jenen, die Phantasie, neues Wissen und
Initiative erfordern. Und selbst wenn es de Gaulle sein wird, so
bleibt die Frage, ob das französische Problem darin besteht, einen
Schlichter zu finden, der jedem ein wenig von dem zuspricht,
was er verlangt, oder ob es nicht eher darin besteht, eine Macht
zu haben, die regiert, die also das Land zur Aktion bewegt und
es dabei umwandelt, statt es so zu lassen, wie es ist, und hinter
seinem Rücken eine große Politik zu entwerfen, von der man
es nicht zu überzeugen sucht, zu der man es nur einlädt, ja zu
sagen. Ich fürchte, daß es der französischen Politik zwischen der
heimlichen Vermittlung des Schlichters und der versteckten Ant-
wort des Referendums nicht mehr oder weniger als zuvor an Luft
fehlt, und daß Frankreich unter dieser Regierung nicht weiterhin
510 Gelegentliche Äußerungen

das sein wird, was es ist: ein im Bewußtsein fortschrittliches und


in der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Praxis
rückständiges Land.
De Gaulle stellt auch das Regime der Parteien in Frage. Da er
im Gegenzug aber nicht die Einheitspartei vorschlägt, möchte
er folglich ›sammeln‹, eine Verbindung außerhalb jeder Partei
herstellen, was gleichzeitig als selbstverständlich voraussetzt, daß
eine Opposition zwischen den Parteien auf nichts in den Dingen
Liegendes antwortet, daß sie von sich aus eine Ursache der Läh-
mung ist, und daß es genügt, sie abzuschaffen, damit alles geret-
tet sei. Nun ist aber die Opposition einer Politik von rechts und
einer Politik von links so wenig eine Illusion, daß de Gaulle bis
heute genau die Politik der sogenannten linksgerichteten Regie-
rungen wieder aufgegriffen hat: die Unabhängigkeit Tunesiens,
Wahlen anläßlich der einheitlichen Sekundarstufe, Reformen
und Ausrüstung in Algerien – eine Politik, die von der Rechten
nur in dem Maße akzeptiert wurde, in dem sie verbal blieb. Was
sich de Gaulle nicht eingesteht oder was er den Franzosen nicht
sagt, ist, daß alle Lösungen, wenn es überhaupt Lösungen gibt,
liberal sind. Im Grunde weiß dies beinahe jeder, in Algier wie
in Paris. Ich sehe nicht, daß man heute in Algier so sehr davon
spricht, die Fellagha zu vernichten: Und dies nicht nur deshalb,
weil man allgemein glaubt, sie hätten sich angeschlossen, son-
dern weil die Daseinsberechtigung der Regierung de Gaulle darin
besteht, den Krieg durch Zugeständnisse zu beenden, von denen
die Unabhängigkeit allerdings ausgeschlossen bleibt. Die Bewe-
gung von Algier (mit Ausnahme vielleicht der faschistischen Ele-
mente) hat de Gaulle nicht an die Macht befördert, um ›Krieg
zu führen‹ im Sinne Clemenceaus, sie hat ihn an die Macht ge-
bracht, um Frieden zu schließen, ohne das Scheitern des Krieges
einzugestehen. Die Politik, die er aufgreift, ist jene, über die sich
die Linke und die Mitte-links-Parteien verständigt hatten, und
mit der sich die kommunistische Partei selbst begnügt hat, als
sie der Regierung Mollet per Wahl die Vollmacht zugestand. Dies
hieße jedoch, wie man nicht erst sagen muß, der Bewegung in
Algier ihren Trost zu rauben, einem General nachzugeben, es
Morgen … 511

hieße, die Operation zu kompromittieren. Die großen Dramen


der französischen Politik rühren vielleicht daher, daß man die
Rechte eine liberale Politik schlucken läßt und dies mit einem
antiparlamentarischen Gongschlag begleitet. Entweder bleiben
die freien Wahlen, die einheitliche Sekundarstufe und die sozi-
ale Gleichheit reine Papierkonstrukte, wie es bis heute der Fall
war (die soziale Gleichheit wird es in jeder Hypothese bleiben,
wie es die Theorie der Unterentwicklung eindeutig zeigt) – oder
aber es wird de Gaulle gelingen, aus diesen Wörtern einen neuen
Status Algeriens hervorgehen zu lassen, aber dies bleibt eine vage
Möglichkeit. Für den Augenblick sind wir immer noch bei den
Wörtern, bei denselben Wörtern, welche die Linke lanciert hatte
und welche die Rechte nur unter der Voraussetzung akzeptierte,
daß sie Worte bleiben. Es ist also wohl vergebens, das Regime
der Parteien in dem Moment in Frage zu stellen, in dem man die
Politik einer dieser Parteien aufgreift.
Jedenfalls hat das Regime der Parteien diese Politik nicht aus-
führen können, es konnte nur über sie reden: Dies ist das einzige
Argument, das zählt, aber es zählt. Man muß noch sagen warum,
und dies ist kein großes Geheimnis. Das Regime der Parteien
konnte keine liberale Politik betreiben, weil es nach dem Aus-
schluß der kommunistischen Stimmen zum Preis einer täglichen
Kontrolle, welche die Regierungsfunktion zunichte machte, die
Stimmen der Rechten kaufen mußte. Die Partei der Unabhängi-
gen kündigte an, daß sie ihre Minister abziehen würde, wenn die
tunesischen Flugplätze evakuiert würden. Wie jeder bemerkt hat,
akzeptiert sie heute, was sie gestern abgelehnt hat. Die parlamen-
tarische Rechte kämpfte also nicht von wirklichen Standpunkten
aus, sie kämpfte gegen das Aufgeben, das ohne jedes Gesetz, wie
ein Gespenst, auftauchte und wieder verschwand. Der Regie-
rung blieb nur der verborgene Weg, aber sie verstärkte das Miß-
trauen und verkleinerte noch den Handlungsspielraum. Edgar
Faure, der seinem Gouverneur in Marokko eine Politik des Wi-
derstands diktierte, wohl wissend, daß sie nicht befolgt werden
konnte (zumindest hat er dies später behauptet), und der selbst
die Demonstration seiner Machtlosigkeit organisierte, während
512 Gelegentliche Äußerungen

er darauf wartete, sie zynisch einzufordern – diese Episode war


von enormer Bedeutung gewesen; es gab allen zu denken, den
Franzosen ebenso wie den Muslimen, daß die offiziellen Stand-
punkte der Regierung jederzeit umgekehrt werden konnten, sie
hat die einen in der Neurose des Aufgebens bestätigt, die anderen
in der Kompromißlosigkeit.
Nach der Unterredung mit dem Bey wurde die französische
Kolonie in Tunis empfangen; man weiß, wie Guy Mollet nach der
Affäre in Marokko in Algier empfangen wurde. Die Vernichtung
der Regierungsfunktion resultiert aus dem, was die Regierung als
zugleich Strenges und Schwaches hartnäckig im Krieg verfolgen
konnte, auf die Gefahr hin, am Ende zu kapitulieren, keinesfalls
jedoch um eine ernsthafte politische oder diplomatische Aktion
ins Leben zu rufen.
Nicht die Vielfalt der Parteien und die ›Spaltung der Franzo-
sen‹ haben die Regierungen daran gehindert, eine liberale Politik
zu praktizieren, sondern vielmehr die Existenz einer ideenlosen
Rechten, die durch die List des Stimmenabzugs der Kommuni-
sten innerhalb der französischen Politik zum Schlichter geworden
ist. Indem er das Regime der Parteien in Frage stellt, überträgt de
Gaulle ins Passiv der Demokratie, was man ins Passiv der Rech-
ten setzen muß. Nun geht es aber hier nicht um eine vergebliche
Suche nach längst überholten Verantwortlichkeiten. Da das neue
Regime, an dem man arbeitet, auf diese Einschätzung gegründet
sein wird, erwarte ich für meinen Teil nichts Gutes von ihm. Es
ist eine verfälschte Demokratie, die der legale Staatsstreich verur-
teilt hat, es ist nicht die Demokratie an sich, und Abhilfe könnte
geschaffen werden, indem man beim Gegenstück zu der Seite zu
suchen beginnt, auf der man gegenwärtig sucht.
Ist denn aber die wahre oder korrigierte Demokratie nicht die
Volksfront?
Die Demokratie ist durch die politische Armut der Rechten
in Verbindung mit einer schwankenden kommunistischen Po-
litik verfälscht worden: Es ist dieses Paar, das die französische
Politik einem Hang zum Irrealen hat nachgeben lassen und das
sie zur Lähmung verurteilt hat. Wenn es sich zwischen der Rech-
Morgen … 513

ten und den Kommunisten um einen Klassenkampf handeln


würde, dann wäre es reichlich naiv, ihn anprangern zu wollen.
Aber dies ist nicht der Fall. Vergessen wir nicht, daß Herr Pinay
für etwas in der Unabhängigkeit Marokkos eintritt und daß die
Kommunisten 1946 die Repression des Constantinois geduldet
und der Regierung Guy Mollet die Vollmacht übertragen ha-
ben. Zwischen der Rechten und der Kommunistischen Partei
gibt es keine wirkliche Opposition, denn sie kämpfen nicht um
eine Politik, von der beide Seiten gleich mehrere besitzen. Beide
Seiten sind keine Parteien mehr, sie sind ›Pressure groups‹. In ih-
rem Zusammenschluß übten sie Druck auf das Regime aus und
stürzten gemeinsam die Ministerien, aber weder die einen noch
die anderen übernahmen die Verantwortung für das politische
Leben in Frankreich. Sie, die Unabhängigen, haben sich aus der
Verantwortlichkeit gezogen, weil sie keinerlei Idee haben: Nie sah
man sie einen Blick auf die Zukunft werfen, auch nicht auf die
Gegenwart, ihre Daseinsberechtigung besteht allein in der Op-
position – gegenüber dem Kommunismus, sagen sie, aber wenn
es nicht dieser Vorwand wäre, dann würden sie einen anderen
suchen.
Was die Kommunisten angeht, so kann man beinahe alles von
ihnen verlangen, außer sich an einer Aktion zu beteiligen; selbst
in der Regierung, selbst angesichts der gewaltigen Kompromisse
blieben sie dem, was sie taten, gleichgültig gegenüber, denn nicht
dort saß ihr Herz, nicht dafür erwarteten sie, verurteilt zu werden
und nicht dafür setzten sie sich ernsthaft ein. Sie greifen zwar
den Begriff der ›Volksfront‹ auf, aber für sie ist die Volksfront
keine Formel der Aktion. Ich sehe noch, zwischen der Nation und
der Republik, Herrn Ramadier vor mir, wie er unter der Hitze
leidend die Reihen der Demonstranten verläßt und mit rotem
Gesicht, mit dem verlorenen Blick eines Mannes am Ende seiner
Kräfte, vermutlich auf eine Apotheke zuläuft. Eine Gruppe von
Kämpfern umgibt ihn wie einen Fetisch, mit erhobener Faust
und unter ›Volksfront‹-Rufen. Dieser sichtbar müde Mann, der
in der Nationalversammlung einen Augenblick lang, umgeben
von jungen, fröhlichen und unerbittlichen Burschen, wieder zum
514 Gelegentliche Äußerungen

Helden der alten Tage zurückgefunden hatte, dies ist ein Bild, das
man nicht vergißt. Es wird keine korrekte oder wahre Demokra-
tie geben, solange die Kommunisten es ablehnen, positiv in die
Regierung einzutreten, solange sie ihre Praxis des Kompromisses
hinter den lautstarken und ablenkenden Thesen von einer ›ab-
soluten Verarmung der Massen‹ verbergen. Dennoch wissen sie
sehr wohl, daß es erst dann eine Volksdemokratie in Frankreich
geben wird, wenn die Vereinigten Staaten durch einen Atomkrieg
besiegt wurden. Was erwarten sie also? Niemand weiß es, nicht
einmal sie selbst, vermute ich.
Wie stehen die Chancen für eine wahre Demokratie?
Wenn dies die Gründe sind, die sie verfälscht haben, dann gibt
es kaum eine Chance, daß wieder eine wahre Demokratie entsteht.
Es ist nicht erkennbar, was die Unabhängigen aufklären könnte.
Es ist nicht erkennbar, wie der verbrauchte Führungsstab, dem
es gelungen war, die Entstalinisierung wie ein Schwamm ›auf-
zusaugen‹, in dem Moment zu einer politischen Initiative in der
Lage sein sollte, in dem ihn die Hinrichtung von Imre Nagy und
seiner Gefährten gerade in seiner tiefen Einsicht bestätigt hat. Es
ist nicht erkennbar, wie er vor dem Land das Problem der Vor-
aussetzungen für Demokratie und Freiheit stellen könnte. Wäre
die Demokratie von 1956-58 lebensfähig? Das ist die Frage, die
zählt, und es ist die Frage, welche die Kommunisten ignorieren
wollen. Sie werden die Franzosen also einladen, für die Wieder-
errichtung jener Demokratie zu kämpfen, die sich selbst zerstört
hat.
Wenn aber die neue Verfassung im Referendum bestätigt
wird?
In den Versammlungen, die sie schaffen wird, werden sich die
Regierungen, ob sie nun präsidial sind oder nicht, ob mit oder
ohne ein Recht zur Auflösung ausgestattet, von dem man prin-
zipiell nicht häufig Gebrauch machen darf, vor demselben Di-
lemma wiederfinden: Entweder man befürwortet die Volksfront,
das heißt eine Politik, die keine ist: die Evakuierung der Länder
in Übersee, eine rein der Geltendmachung von Forderungen die-
nende Sozialpolitik, keinerlei Steuerung des Kapitalismus, nichts
Morgen … 515

Organisches, keinerlei Aktion – oder aber man befürwortet den


›Abzug der kommunistischen Stimmen‹, das heißt die Zerstö-
rung der Regierungsfunktion durch die Rechte.
Was soll man also tun?
Unter dem Zwang der Verhältnisse können die wahren Fragen
nur außerhalb der Rechten und außerhalb der kommunistischen
Partei gestellt werden, in der Hoffnung, daß diese sich, und das
Land mit ihnen, am Ende dafür interessieren werden. Wenn die
bestehenden Kräfte verworren sind, muß man zunächst einmal
angemessene Worte finden, ohne auf das unmittelbare Ereignis
abzuzielen.
Die IV. Republik wird nicht wieder aufleben: Sie verdient kein
Bedauern, da sie nur der Schatten einer Republik gewesen ist. Die
französische Krise rührt daher, daß eine mögliche Lösung der
Probleme nur liberal sein kann und daß es in Frankreich keine
Theorie und keine Praxis der liberalen Politik mehr gibt. Wir le-
ben auf den Trümmern des Denkens des XVIII. Jahrhunderts,
und dieses Denken gilt es von Grund auf zu erneuern.
Jemand hat mich darauf hingewiesen, daß Montesquieu die
Freiheit in der Teilung und dem Gleichgewicht der Gewalten
sieht und daß die Gewalten, bevor sie geteilt oder in ein Gleich-
gewicht gebracht werden können, zunächst einmal existieren
müssen. Heute liegt das Problem darin, sie neu zu schaffen. Vor
fünfzig Jahren konnte Alain die Republik noch über die Kontrolle
und die ständige Polemik des Bürgers gegenüber den Gewalten
definieren. Was aber bedeutet die Kontrolle, wenn es keine Ak-
tion mehr zu kontrollieren gibt? Die einzige Aufgabe bestand im
Jahr 1900 wie bereits zwei Jahrhunderte zuvor darin, die Kritik
zu organisieren. Heute muß man, wenn man die Kritik fortsetzt,
die Macht neu organisieren. Man mag manche Dummheit gegen
die ›persönliche Macht‹ oder die ›starke Macht‹ äußern: Es sind
die echte Kraft und die Persönlichkeit, die der Macht der IV. Re-
publik gefehlt haben.
Auch unser Begriff der Meinung muß noch einmal überprüft
werden: Er gründet auf einer Philosophie des Urteils und der
Entscheidung, die ein wenig zu kurz greift; die Wirklichkeit eines
516 Gelegentliche Äußerungen

Regimes ist, nicht mehr als die Wirklichkeit eines Menschen, eine
instantane Serie von Meinungen. Es gibt keine Freiheit in der
Gefügigkeit gegenüber jedem Zittern der Meinung. Die Freiheit
bedarf des Wesentlichen, wie Hegel sagte, sie bedarf eines Staates,
der sie trägt und dem sie Leben verleiht.
Eine Analyse des Parlamentes müßte ein Unternehmen aus
diesem Blickwinkel sein: Wir wissen nahezu nichts über sein
wirkliches Funktionieren. Ich weiß nur, da ich einigen Sitzungen
der Nationalversammlung beigewohnt habe, daß es dort weder
an Intelligenz noch an Wissen fehlte, daß man aber in den Sitzun-
gen dasselbe Unbehagen verspürte wie in einem ›Kreis‹, in dem
man nicht eingeführt ist. In manchen Augenblicken entbehrte
das Ganze nicht der Größe, bei anderen Gelegenheiten (ich er-
innere mich an einige Lacher unter den Eingeweihten, an einige
versteckte Anspielungen) war es eher eine schlechte Gesellschaft
oder der Salon von Mme Verdurin. Der Höhepunkt des Regimes
war sicherlich erreicht, als die Kommunisten für die Regierung
Pflimlin stimmten, um sie zu verpflichten, sie mit einzubezie-
hen, und als die Unabhängigen, aus Angst vor einer Volksfront,
ebenfalls für diese Regierung stimmten, während Herr Pflimlin
sich ganz leise darauf vorbereitete, zu gehen. Darin liegt vielleicht
etwas erhaben Parlamentarisches, und ich bezweifle, daß die Na-
tion es ausgekostet hat.
Wenn die Regierung Mendès-France das politische Leben
Frankreichs einen Augenblick lang, so wie es keine andere Re-
gierung seit 1944 getan hat, aus der Angst und dem Überdruß
befreien konnte, dann deshalb, weil sie die Regierung als eine
Initiative auffaßte, die zusammenschließt, und die Aktion als eine
Bewegung, die nicht in jedem Augenblick mit Fragen bedrängt
werden kann, sondern die sich Begegnungen mit der Nation
verschafft, ihre eigene Pädagogik organisiert und alles in dem
Maße offenlegt, wie sie, die Bewegung, sich entwickelt. Genau
das zeichnet eine lebendige Macht aus, nicht die Erscheinung
auf dem Sinai. Mendès-France aber handelte instinktiv auf diese
Weise, ich möchte behaupten: weil er aus gutem Hause stammt;
er hat nie versucht, seine Praxis in eine Theorie zu überführen.
Morgen … 517

Die Frage ist, wie man Institutionen schaffen kann, die diese Pra-
xis der Freiheit in den Umgangsformen etablieren.
Diese Verständigung zwischen dem Staatsmann und der Na-
tion, die bewirkt, daß die Nation nicht mehr einem Schicksal
unterliegt und daß sie sich in dem wiederfindet, was in ihrem
Namen unternommen wird, dies ist, wie ich befürchte, gerade
das, was de Gaulle nie, außer in den ›großen Ereignissen‹ von
1940 und 1944, erfahren und auch nicht gespürt hat. Als Beweis
möchte ich nur die globale Zustimmung anführen, die er allen
Männern des Systems gegeben hat, Pleven ebenso und noch deut-
licher gegenüber Mendès-France. Der Geist, der stets verneint,
sagte er neulich. Wie man sich doch täuschen kann! Was uns auf
der Hut sein läßt, ist gerade sein Skeptizismus. Es bedürfte eines
großen Skeptizismus, um mir den Respekt zu nehmen, den ich de
Gaulle entgegenbringe. Wir schulden ihm jedoch etwas anderes,
und mehr als nur Ergebenheit: Wir schulden ihm unsere Stel-
lungnahme. Er ist zu jung, um unser Vater zu sein, und wir sind
nicht mehr in dem Alter, die Kinder zu spielen.
Haben die Oppositionspolitiker ein besseres Gespür für das
Problem? Man ist tief bestürzt, wenn man jene Überlegungen
der Kommissionsmitglieder liest. Man möchte ihnen entgegnen:
Dieses Kapitel ist abgeschlossen, es geht nicht mehr darum, eine
Regierung zu untergraben, ihr müßt vielmehr eine Regierungs-
form schaffen. Konfrontiert die Ideen miteinander, und wenn ihr
könnt, sprecht mit den Franzosen. Man ist überrascht, in Le Po-
pulaire anläßlich der jüngsten Wahlen und angesichts der »Stabi-
lität der Wählerschaft« zu lesen, daß »es dem System gut gehe«. Um
den heutigen Fragen entgegentreten zu können, müßte nicht nur
der kommunistische Parteiapparat ein Gebet sprechen. Wer wird
einmal die Komödie der sozialistischen Partei beschreiben, deren
ganze Struktur, die einst als Struktur einer Arbeiterpartei und
einer marxistischen Partei entworfen wurde, um die Gewählten
der Aufmerksamkeit der Aktivisten zu unterstellen, heute in den
Händen des Generalsekretärs ein weiteres Mittel ist, die parla-
mentarische Gruppe seinen Manövern zu unterwerfen? Alles in
allem wissen dies aber viele Menschen besser als ich … Wer bin
518 Gelegentliche Äußerungen

ich denn, daß ich so lange darüber rede? Die Offiziere ergehen
sich in Weissagungen, und die Professoren spitzen ihre Schreib-
federn. Wo sind die Berater des Volkes, und haben sie uns nichts
anderes zu sagen, als nur ihr Bedauern auszudrücken?
(Juli 1958)
SIGL E N V E R Z E IC H N I S

In den Anmerkungen des Herausgebers wird auf die Schriften


Merleau-Pontys vermittels folgender Siglen verwiesen:

SdV Die Struktur des Verhaltens, übers. und mit einem


Vorwort versehen von Bernhard Waldenfels, Berlin/New
York 1976.
PdW Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. und mit
einem Vorwort versehen von Rudolf Boehm, Berlin 1966
(photomechanischer Nachdruck 1974).
KdV Keime der Vernunft. Vorlesungen an der Sorbonne
1949-1952, hrsg. und mit einem Vorwort versehen von
Bernhard Waldenfels, übers. von Antje Kapust, mit
Anmerkungen von Antje Kapust und Burkhard Liebsch,
München 1994.
SNS Sinn und Nicht-Sinn, übers. von Hans-Dieter Gondek,
München 2000.
HuT Humanismus und Terror, übers. von Eva Moldenhauer,
Frankfurt/M. 1966 (Suhrkamp), Nachdruck Frankfurt/M.
(Hain) 1990.
AdD Die Abenteuer der Dialektik, übers. von Alfred Schmidt
und Herbert Schmitt, Frankfurt/M. 1968.
Prosa Die Prosa der Welt, hrsg. von Claude Lefort, übers. von
Regula Giuliani, mit einer Einleitung zur deutschen Aus-
gabe von Bernhard Waldenfels, München 11984, 21993.
Vorl. Vorlesungen I. Schrift für die Kandidatur am Collège de
France. Lob der Philosophie. Vorlesungszusammenfassun-
gen. Die Humanwissenschaften und die Phänomenologie,
übers. und mit einem Vorwort versehen von Alexandre
Métraux, Berlin/New York 1973.
Natur Die Natur. Aufzeichnungen von Vorlesungen am Collège
de France 1956–1960, München 2000.
520 Siglenverzeichnis

SuU Das Sichtbare und das Unsichtbare, gefolgt von Ar-


beitsnotizen, übers. von Regula Giuliani und Bernhard
Waldenfels, hrsg. und mit einem Vor- und Nachwort
versehen von Claude Lefort, München 11986, 21994.
AuG Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, neu
bearbeitet, kommentiert und mit einer Einleitung hrsg.
von Christian Bermes, Hamburg 2002.
A NM E R KU NGE N
DES HERAUSGEBERS

Vorwort (S. 1–51)

1 Vgl. hierzu Freuds Aussage in Der Humor: »Wenn es wirklich das


Über-Ich ist, das im Humor so liebevoll tröstlich zum eingeschüchter-
ten Ich spricht, so wollen wir daran gemahnt sein, daß wir über das
Wesen des Über-Ichs noch allerlei zu lernen haben. […] Und end-
lich, wenn das Über-Ich durch den Humor das Ich zu trösten und
vor Leiden zu bewahren strebt, hat es damit seiner Abkunft von der
Elterninstanz nicht widersprochen.« Sigmund Freud, Der Humor, in:
ders., Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, Bd. XIV, Werke
aus den Jahren 1925–1931, hrsg. v. Anna Freud, Frankfurt/M. 1948,
S. 383-389, hier: S. 389.
2 Vgl. Karl Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen
Naturphilosophie nebst einem Anhange (1841), in: ders., Gesamt-
ausgabe (MEGA), Bd. 1, Berlin 1975, S. 1–91, hier: S. 68: »Indem die
Philosophie als Wille sich gegen die erscheinende Welt herauskehrt:
ist das System zu einer abstracten Totalität herabgesetzt, d. h. es ist zu
einer Seite der Welt geworden, der eine andere gegenübersteht […] So
ergibt sich die Consequenz, daß das Philosophisch-werden der Welt
zugleich ein Weltlich-werden der Philosophie, daß ihre Verwirkli-
chung zugleich ihr Verlust […] ist.«
3 Vgl. zur Auseinandersetzung mit Paulhan Prosa S. 36, S. 133 f.
4 Vgl. Michel de Montaigne, Essais, Bd. I. Erste moderne Ge-
samtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt/M. 1998, S. 454: »Was
immer wir tun, enthüllt uns.«
5 Jean Starobinski, Montaigne en mouvement, Paris 21982, hier:
S. 420.
6 Paul Nizan, Aden Arabie, Préface de Jean-Paul Sartre, Paris 1960;
vgl. dt.: Paul Nizan, Aden – Die Wachhunde – Zwei Pamphlete, Vor-
wort von Jean-Paul Sartre, Dossier zum »Fall Nizan«, hrsg. v. Traugott
König, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 7 – 43.
522 Anmerkungen des Herausgebers

7 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Unter-
wegs zu Swann, in: Werke II, Bd. I, hrsg. v. Luzius Keller, Frankfurt/M.
1994, 42002, hier: S. 269: »Weil ich an die Dinge, die Wesen glaubte,
während ich jene Gegenden durchschritt, sind die Dinge und Wesen,
die ich in ihnen kennenlernte, die einzigen, die ich heute noch ernst
nehmen kann und die mir Freude schenken. Ob nun der schöpfe-
rische Glaube in mir versiegt ist oder die Wirklichkeit sich nur aus
der Erinnerung formt, jedenfalls kommen mir Blumen, die man mir
heute zum ersten Mal zeigt, nicht mehr wie richtige Blumen vor.«
8 Paul Nizan, Aden – Die Wachhunde – Zwei Pamphlete, a. a. O.,
S. 37.
9 Ebd., S. 35.
10 Ebd., S. 40.
11 Ebd., S. 30.
12 Nizan sowie seine Frau Henriette und Merleau-Ponty trafen
sich im Sommer 1939 auf Korsika im Ministerium für ehemalige
Frontkämpfer mit Laurent Casanova; danach gemeinsame Rückkehr
nach Paris, von wo aus Nizan sich am nächsten Tag zur Truppe nach
Orléans begeben mußte; vgl. hierzu Dossier zum »Fall Nizan«, in: Paul
Nizan, Aden – Die Wachhunde – Zwei Pamphlete, a. a. O.
13 Paul Nizan, Aden – Die Wachhunde – Zwei Pamphlete, a. a. O.,
S. 41.
14 Ebd., S. 43.
15 Ebd., S. 42.
16 Ebd., S. 32.
17 Ebd., S. 12.
18 Ebd., S. 21.
19 Ebd., S. 22.
20 Ebd., S. 32.
21 Ebd., S. 13.
22 Ebd., S. 21.
23 Ebd., S. 13.
24 Ebd., S. 44.
25 Ebd., S. 36.
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 523

Das indirekte Sprechen und die


Stimmen des Schweigens
(S. 53–116)

1 Merleau-Ponty publiziert diesen Aufsatz im Sommer 1952 in


zwei Teilen in den Temps Modernes, 7, n° 80, Juni 1952, S. 2113–2144,
und 8, n° 81, Juli 1952, S. 70–94; als Grundlage dienen ihm große
Teile des Fragment gebliebenen Werkes Prosa der Welt, das er auch
in der Schrift für die Kandidatur am Collège de France angekündigt
hat; aus diesem Grund findet sich noch in der Erstpublikation des
Aufsatzes in den Temps Modernes eine Anmerkung direkt zu Anfang
des Textes: »Extrait de La prose du monde, en préparation«; die Prosa
der Welt wurde nicht abgeschlossen; zur verwickelten Entstehungs-
geschichte vgl. auch die Ausführungen von Claude Lefort in: Prosa,
S. 15–24; Lefort verweist ebenso auf die Auseinandersetzung Merleau-
Pontys mit Sartres 1947 erstmals publiziertem Aufsatz Qu’est-ce que
la littérature, der z. T. als verborgene Ideenmatrix im Hintergrund der
hier vorgetragenen Überlegungen steht und zu dem Merleau-Ponty
ein kritisches Verhältnis einnimmt.
2 Zu Merleau-Pontys Auseinandersetzung mit Saussure vgl. auch
die beiden Arbeiten Schrift für die Kandidatur am Collège de France,
AuG, S. 99–110, Das Metaphysische im Menschen, AuG, S. 47–69 sowie
die hier abgedruckten Aufsätze Über die Phänomenologie der Sprache
und Von Mauss zu Claude Lévi-Strauss.
3 Zur ›chaîne parlée‹ resp. ›chaîne phonique‹ vgl. auch die Aus-
führungen von Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen
Sprachwissenschaft (frz. 1916), übersetzt v. Herman Lommel, hrsg. v.
Charles Bally und Albert Sechehaye, Berlin 21967, S. 44 ff., 147 ff.
4 Merleau-Ponty bezieht sich hier und in der Folge u.a. auf das
Kapitel Naissance d’un espace in: Pierre Francastel, Peinture et société.
Naissance et destruction d’un espace plastique. De la Renaissance au
cubisme (1952), Paris 1977, S. 17ff., vgl. auch S. 341ff.
5 P. Francastel, Peinture et société, a. a. O., S. 20 f.
6 Vgl. Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen
Sprachwissenschaft, a. a. O., S. 165.
7 Stéphane Mallarmé, Crise de vers (1886), in: ders., Kritische
524 Anmerkungen des Herausgebers

Schriften, französisch – deutsch, hrsg. v. Gerhard Gobel und Bettina


Rommel, Gerlingen 1998, S. 210–231, hier: S. 228/229.
8 Vgl. zum folgenden auch die Ausführungen in: Prosa, S. 65 ff.
9 Henri Bergson, L’évolution créatrice (1907), in: ders., Œuvres,
Textes annotés par André Robinet, Introduction par Henri Gouhier,
Paris 1970, S. 487–809, hier: S. 576.
10 Zum folgenden vgl. auch die Ausführungen in dem Kapitel Die
indirekte Sprache in: Prosa, S. 69–131.
11 Vgl. La Bruyère, Les caractères ou les mœurs de ce siècle, in:
ders., Œuvres complètes, texte établi et annoté par Julien Benda, Paris
1976, S. 69.
12 André Malraux, La condition humaine, Paris 1946, S. 68; dt.
Conditio Humana, übers. von Ferdinand Hardekopf, Zürich 1948,
S. 55; vgl. dazu auch die Ausführungen Merleau-Pontys in Der Mensch
und die Widersetzlichkeit der Dinge.
13 Die Auseinandersetzung mit den psychologischen Untersu-
chungen Henri Wallons, die dieser u. a. 1947 unter dem Titel Les ori-
gines de la pensée chez l’enfant vorgelegt hat, findet sich in den Vorle-
sungen zur Entwicklungs- und Kinderpsychologie, die Merleau-Ponty
von 1949 bis 1952 an der Sorbonne gehalten hat. Hier diskutiert er
auch das Phänomen der ›ultra-choses‹, wie es von Wallon vorgestellt
wird, vgl. dazu KdV, S. 250 ff., 316–328.
14 André Malraux, Psychologie de l’art, Bd. 1: Le musée imagin-
aire, Bd. 2: La création artistique, Bd. 3: La monnaie de l’absolu, Genf
1947, 1948, 1950. Die ersten beiden Bände dieser Ausgabe sind auf
deutsch erschienen: André Malraux, Psychologie der Kunst, Bd. 1:
Das imaginäre Museum, Bd. 2: Die künstlerische Gestaltung, übers. v.
Jan Lauts, Hamburg 1957, 1958. Die von Malraux überarbeitete und
erweiterte Fassung, auf die Merleau-Ponty hinweist und die 1952 un-
ter dem neuen Titel Les voix du silence bei Gallimard in Paris erschien,
wurde ebenfalls ins Deutsche übertragen: André Malraux, Stimmen
der Stille, übers. v. Jan Lauts, Berlin/Darmstadt/Wien 1960. – An die-
ser Stelle wird auf Malraux, Das imaginäre Museum, a. a. O., S. 34 f.,
verwiesen.
15 Malraux, Das imaginäre Museum, a. a. O., S. 51.
16 Ebd., S. 54.
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens 525

17 Vgl. Malraux, Stimmen der Stille, a. a. O., S. 576.


18 Malraux, Die künstlerische Gestaltung, a. a. O., S. 80.
19 Malraux, Das imaginäre Museum, a. a. O., S. 41.
20 Auf die ›écriture automatique‹ bzw. die ›langage automatique‹,
eine im Surrealismus entwickelte Sprach- und Schreibform, kommt
Merleau-Ponty auch in dem Beitrag Der Mensch und die Widersetz-
lichkeit der Dinge zu sprechen.
21 Malraux, Le musée imaginaire, a. a. O., S. 79 f.; Das imaginäre
Museum, a. a. O., S. 51.
22 Malraux, Die künstlerische Gestaltung, a. a. O., S. 28.
23 Ebd., S. 88.
24 Ebd., S. 88.
25 Ebd., S. 91.
26 Maurice Blanchot, Le musée, l’art et le temps (Rez. v. André
Malraux, Psychologie de l’art), in: Critique 6 (1950), S. 195–208, hier:
S. 204.
27 Malraux, Die künstlerische Gestaltung, a. a. O., S. 86.
28 Jean-Paul Sartre, Qu’est-ce que la littérature? (1947), in: ders.,
Situations, II, Paris 1948, S. 55–330, hier: S. 61; dt.: Was ist Literatur?
Ein Essay, übers. v. Hans Georg Brenner, Hamburg 1958, S. 9.
29 Sartre, Was ist Literatur?, a. a. O., S. 8.
30 Ebd., S. 9.
31 Malraux, Die künstlerische Gestaltung, a. a. O., S. 63.
32 Ebd., S. 79.
33 Vgl. Arthur Rimbaud, Illuminationen (Illuminations), mit ei-
nem Vorwort von Paul Verlaine, übers. von Gerhart Haug, Hamburg
1947.
34 Malraux, Die künstlerische Gestaltung, a. a. O., S. 84.
35 Zum Begriff der ›Stiftung‹ und zu den folgenden Gedanken-
gängen vgl. besonders die Überlegungen Husserls in der Krisis der
europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie
sowie in Husserls nachgelassenem Fragment Die Frage nach dem Ur-
sprung der Geometrie als intentionalhistorisches Problem, das bereits
1939 in der Revue de Philosophie erschien: Edmund Husserl, Die Krisis
der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänome-
nologie, hrsg. v. Walter Biemel, Husserliana Bd.VI, Den Haag 21962,
526 Anmerkungen des Herausgebers

S. 56ff., 71 ff., 365–386; zu Merleau-Pontys Rekurs auf dieses Thema


vgl. auch seine Ankündigung zu der Vorlesung aus den Jahren 1959/60
Husserl an den Grenzen der Phänomenologie, Vorl., S. 118–123.
36 Vgl. Malraux, Le musée imaginaire, a. a. O., S. 52; Das imagi-
näre Museum, a. a. O., S. 30 f.
37 Vgl. Malraux, La monnaie de l’absolu, a. a. O., S. 40 ff.; zusätz-
lich: Malraux, Stimmen des Schweigens, a. a. O., S. 462 ff.
38 Sartre, Was ist Literatur?, a. a. O., S. 20 ff.
39 Vgl. die Interpretation Freuds hinsichtlich der Heiligen Anna
Selbdritt da Vinicis: Sigmund Freud, Eine Kindheitserinnerung des
Leonardo da Vinci (1910), in: ders., Studienausgabe, Bd. X: Bildende
Kunst und Literatur, Frankfurt/M. 2000, S. 89–159; vgl. zudem S. 89 f.
der Editorischen Vorbemerkung, wo u.a. darauf aufmerksam gemacht
wird, daß die Freudsche Interpretation auf einer falschen Überset-
zung fußt – Leonardo spricht von einem Milan, nicht von einem
Geier. Vgl. weiterhin mit Blick auf die Deutungen die Ausführungen
bei Malraux, Stimmen des Schweigens, a. a. O., S. 404 ff., sowie die
Bemerkungen von Merleau-Ponty dazu in dem Beitrag Der Zweifel
Cézannes, AuG, S. 3–27, hier: S. 23 f., vgl. weiterhin KdV, S. 363 f.
40 Malraux, Das imaginäre Museum, a. a. O., S. 30 f.
41 Zu dieser Kritik an Malraux und dem Konzept des ݆ber-
Künstlers‹ vgl. auch die Ausführungen in Merleau-Pontys Vorlesung
Die Fremderfahrung von 1952, KdV, S. 421 f.
42 Vgl. hierzu auch die Ausführungen Merleau-Pontys in dem
Aufsatz Das Metaphysische im Menschen, AuG, S. 47–69, hier: S. 52 ff.
43 Vgl. zu dieser Kritik auch Merleau-Pontys Ausführungen in
den Abenteuern der Dialektik, AdD, S. 245 ff.
44 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie
des Rechts, Werke Bd. 7, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus
Michel, Frankfurt/M. 1995, S. 24.
45 Ebd., S. 218.
46 Vgl. Jean-Paul Sartre, L’homme et les choses (1944), in: ders.,
Situations I, Paris 1947, S. 226–270. Sartre setzt sich hier mit Francis
Ponge und der ›épaisseur semantique‹ auseinander, vgl. auch Fran-
cis Ponge, Le parti pris des choses (1942), in: ders., Œuvres com-
plètes, édition publiée sous la direction de Bernard Beugnot, Paris
Über die Phänomenologie der Sprache 527

1999, S. 13–161; dt. Im Namen der Dinge, übers. v. Gerd Henninger


Frankfurt/M. 1973. Vgl. dazu auch den hier abgedruckten Aufsatz Der
Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge.
47 Vgl. dazu auch Merleau-Pontys Ausführungen und den Bezug
auf Simone de Beauvoir in seiner Vorlesung von 1959/60 zum Natur-
begriff: Natur, S. 288.

Über die Phänomenologie der Sprache


(S. 117–137)

1 Der Aufsatz erschien zuerst in: Problèmes actuels de la phéno-


ménologie. Actes du premier Colloque international de phénoméno-
logie. Bruxelles avril 1951, hrsg. v. H. L. van Breda, Paris 1952, S. 89–
109.
2 Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band.
Erster Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der
Erkenntnis, hrsg. v. Ursula Panzer, Husserliana XIX/1, Den Haag 1984,
S. 301–351, bes. S. 301 f., S. 342–348; vgl. hierzu ebenso die Analysen
Merleau-Pontys in Der Philosoph und die Soziologie.
3 Edmund Husserl, Formale und Transzendentale Logik. Versuch
einer Kritik der logischen Vernunft, hrsg. v. Paul Janssen, Husserliana
XVII, Den Haag 1974, S. 26.
4 Edmund Husserl, Die Frage nach dem Ursprung der Geome-
trie als intentionalhistorisches Problem, in: ders., Die Krisis der eu-
ropäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie.
Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg. v. Wal-
ter Biemel, Den Haag 21962, S. 365-386, hier: S. 368 f. Merleau-Ponty
zitiert die Erstausgabe des Husserlschen Textes in: Revue Internatio-
nale de Philosophie 1 (1939), S. 203–225.
5 Hendrik J. Pos, Phénoménologie et Linguistique, in: Revue In-
ternationale de Philosophie 1 (1939), S. 354–365.
6 Vgl. Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen
Sprachwissenschaft, hrsg. v. Charles Bally und Albert Sechehaye,
übers. v. Herman Lommel, Berlin/New York 2001, S. 116 f.
7 Vgl. hierzu auch Merleau-Pontys Bezug auf Guillaume und das
528 Anmerkungen des Herausgebers

›sublinguistische Schema‹ in seinem Aufsatz Das Metaphysische im


Menschen, AuG, S. 54.
8 Zur ›chaîne parlée‹ resp. ›chaîne phonique‹ vgl. auch die Aus-
führungen von Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen
Sprachwissenschaft, a. a. O., S. 44, S. 147; vgl. weiterhin dazu die Aus-
führungen Merleau-Pontys in Das indirekte Sprechen und die Stim-
men des Schweigens.
9 Vgl. Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheit des
menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Ent-
wicklung des Menschengeschlechts, in: ders., Werke Bd. VII, hrsg. v.
Albert Leitzmann, Berlin 1907, S. 86–94.
10 Zum ›Ich kann‹ und seiner phänomenologischen Explikation
vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und
phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologi-
sche Untersuchungen zur Konstitution, hrsg. v. Marly Biemel, Hus-
serliana IV, Den Haag 1952, § 59, S. 253 ff. Vgl. weiterhin PdW, S. 166;
SuU 285.
11 Vgl. auch Merleau-Pontys Ausführungen in Das indirekte Spre-
chen und die Stimmen des Schweigens zu diesem Beispiel.
12 Vgl. hierzu auch Merleau-Pontys Bezug auf André Malraux,
Psychologie der Kunst, Bd. 2: Die künstlerische Gestaltung, übers. v.
Jan Lauts, Hamburg 1958, S. 86, in Das indirekte Sprechen und die
Stimmen des Schweigens.
13 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser
Vorträge, hrsg. v. S. Strasser, Husserliana I, Den Haag 1950, S. 121 ff.
14 Ebd., S. 141 ff.; vgl. hierzu weiterhin die Ausführungen Merleau-
Pontys in Der Philosoph und sein Schatten.
15 Vgl. die Ausführungen Husserls in: Die Frage nach dem Ur-
sprung der Geometrie als intentionalhistorisches Problem, a. a. O.
16 Vgl. hierzu die folgende Bemerkung in Edmund Husserl, Die
Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phä-
nomenologie, a. a. O., S. 175: »Nun kompliziert sich alles, sobald wir
bedenken, daß Subjektivität nur in der Intersubjektivität ist, was sie
ist: konstitutiv fungierendes Ich.«
17 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781, 21787), A
113 f.
Der Philosoph und die Soziologie 529

Der Philosoph und die Soziologie (S. 139– 161)

1 Der Aufsatz ist zuerst erschienen in den Cahiers internationaux


de Sociologie 6 (1951), S. 50–69.
2 Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter
Band. Erster Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie
der Erkenntnis, hrsg. v. Ursula Panzer, Husserliana XIX/1, Den Haag
1984, S. 301–351, bes. S. 347 f.; vgl. hierzu ebenso die Analysen Mer-
leau-Pontys in Über die Phänomenologie der Sprache.
3 Edmund Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft (1911),
in: Edmund Husserl: Aufsätze und Vorträge (1911–1921), mit ergän-
zenden Texten hrsg. v. Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, Hus-
serliana XXV, Dordrecht 1987, S. 3–62; hier S. 43 ff.
4 Ebd., S. 52.
5 Ebd., S. 58.
6 Hendrik J. Pos, Phénoménologie et linguistique, in: Revue in-
ternationale de Philosophie, Revue trimestrielle I, no. 2, 15. Janvier
1939, S. 354 – 365.
7 Vgl. hierzu Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phäno-
menologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. All-
gemeine Einführung in die reine Phänomenologie, neu hrsg. v. Karl
Schuhmann, Husserliana III/1, Dordrecht 1995, S. 15, S. 150.
8 Edmund Husserl, Formale und Transzendentale Logik. Versuch
einer Kritik der logischen Vernunft (1929), hrsg. v. Paul Jansen, Hus-
serliana XVII, Den Haag 1974, S. 297.
9 Edmund Husserl, Die Frage nach dem Ursprung der Geome-
trie als intentionalhistorisches Problem, in: ders., Die Krisis der eu-
ropäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie.
Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg. v. Walter
Biemel, Den Haag 21962, S. 365-386, hier: S. 368 f; vgl. auch Merleau-
Pontys Bemerkungen dazu in Über die Phänomenologie der Sprache.
10 Vgl. hierzu die folgende Bemerkung in Edmund Husserl, Die
Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phä-
nomenologie, a. a. O., S. 175: »Nun kompliziert sich alles, sobald wir
bedenken, daß Subjektivität nur in der Intersubjektivität ist, was sie
ist: konstitutiv fungierendes Ich.«
530 Anmerkungen des Herausgebers

11 Vgl. zu den folgenden Zitaten: Edmund Husserl, Briefwechsel,


Bd. VII: Wissenschaftlerkorrespondenz, in Verbindung mit Elisabeth
Schuhmann hrsg. v. Karl Schuhmann, Dordrecht 1994, S. 161–164.
12 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften
und die transzendentale Phänomenologie, a. a. O., S. 13 f.

Von Mauss zu Claude Levi-Strauss


(S. 163–179)

1 Der Aufsatz erschien zuerst unter dem Titel De Mauss à Claude


Lévi-Strauss in La nouvelle revue française, n. s., 14 (1959), S. 615–
631.
2 Vgl. dazu die im Januar 1960 gehaltene Antrittsvorlesung Das
Feld der Anthropologie von Claude Lévi-Strauss am Collège de France
(abgedruckt in: Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie II,
Frankfurt/M. 1992). Für Lévi-Strauss wurde erstmals in Frankreich
ein Lehrstuhl errichtet, dessen Bezeichnung ›Anthropologie sociale‹
lautete und an dessen Besetzung Merleau-Ponty seinen Anteil hatte.
Zur weiteren Vorgeschichte vgl. den von Lévi-Strauss verfaßten
und Mauss gewidmeten Beitrag La sociologie française: Claude Lévi-
Strauss, La sociologie française, in: Georges Gurvitch (Hg.), La socio-
logie au XXe siècle, Bd. II: Les études sociologiques dans les différents
pays, Paris 1947, S. 513–545.
3 Der Essay erschien erstmalig in der neuen Serie der L’Année So-
ciologique, Bd. 1, 1923–1924. 1968 folgte eine deutsche Übersetzung
von Eva Moldenhauer mitsamt dem Vorwort von Evans-Pritchard:
Marcel Mauss, Die Gabe, Frankfurt/M. 21994 (Der Essay wurde spä-
ter aufgenommen in den von Claude Lévi-Strauss eingeleiteten Sam-
melband Sociologie et anthropologie, Paris 1950, erweiterte 3. Aufl.
1966; dt. in 2 Bänden: Soziologie und Anthropologie, München 1975).
Merleau-Ponty bezieht sich wiederholt auf die Einleitung von Lévi-
Strauss zu diesem Sammelband (Einleitung in das Werk von Marcel
Mauss, in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie I, München
1974, S. 7–41) sowie auf dessen oben zitierte Darstellung der franzö-
sischen Soziologie.
Von Mauss zu Claude Levi-Strauss 531

4 Émile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode (frz.


1895), hrsg. und eingel. v. René König, Neuwied/Berlin 31970, S. 115:
»Die erste und grundlegendste Regel besteht darin, die soziologischen
Tatbestände wie Dinge zu betrachten«; vgl. dazu auch Merleau-Pon-
tys Ausführungen in dem Aufsatz Das Metaphysische im Menschen,
AuG, S. 47–69.
5 Vgl. zur ›prälogischen Mentalität‹ bei Lucien Lévi-Bruhl ins-
besondere die Schrift Les fonctions mentales dans les sociétés inférieu-
res (1910), dt: Das Denken der Naturvölker, aus dem Französischen
übersetzt v. Paul Friedländer, Wien/Leipzig 21926, bes. S. 58 ff.
6 Vgl. hierzu auch Marcel Mauss, Entwurf einer allgemeinen
Theorie der Magie (frz. 1902/03), in: ders., Soziologie und Anthro-
pologie I, a. a. O., S. 44–179.
7 M. Mauss, Die Gabe, a. a. O., S. 178.
8 M. Mauss, Wirkliche und praktische Beziehungen zwischen
Psychologie und Soziologie (frz. 1924), in: ders., Soziologie und An-
thropologie II, a. a. O., S. 145–173, hier: S. 173.
9 Im folgenden vgl. auch den Überblick in C. Lévi-Strauss, Ein-
leitung in das Werk von Marcel Mauss, a. a. O., S. 30–37.
10 Zu ›phonème zéro‹ und ›signifiant flottant‹ vgl. C. Lévi-Strauss,
Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, a. a. O., S. 39 ff.
11 Vgl. Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen
Sprachwissenschaft (frz. 1916), übersetzt v. Herman Lommel, hrsg. v.
Charles Bally, Albert Sechehaye, Berlin 21967, S. 143 ff.
12 Dimitrij Iwanowitsch Mendelejew (1834–1907), russischer
Chemiker, der unabhängig von Lothar Meyer 1869 ein Perioden-
system der chemischen Elemente aufstellte.
13 Vgl. dazu auch die Bemerkung in Claude Lévi-Strauss, Struktu-
rale Anthropologie I, Frankfurt/M. 1991, S. 398.
14 Vgl. dazu die Arbeit Lévi-Strauss’ The strcutural study of myth
(1955), aufgenommen, in: C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie
I, a. a. O., S. 226–254, bes. S. 234 ff.
15 Vgl. dazu die Arbeit Lévi-Strauss’ Le sorcier et sa magie (1949),
aufgenommen, in: C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I,
a. a. O., S. 183–203, bes. S. 234 ff.
16 Vgl. hierzu ebenfalls die Äußerungen von Lévi-Strauss, der die-
532 Anmerkungen des Herausgebers

ses Zitat Bohrs (aus: Natural philosophy and human culture, in: Na-
ture 143 (1939), S. 9) zuweilen anführt: C. Lévi-Strauss, Strukturale
Anthropologie I, a. a. O., S. 321, 389.
17 Vgl. hierzu auch C. Lévi-Strauss, Einleitung in das Werk von
Marcel Mauss, a. a. O., S. 28 f.; vgl. weiterhin die Arbeit Lévi-Strauss’
L’Analyse structurale en linguistique et en anthropologie (1945), auf-
genommen, in: C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, a. a. O.,
S. 43–67.

Überall und nirgends (S. 181–231)

1 Dieser Beitrag versammelt die Einführungen Merleau-Pontys


zu den unterschiedlichen philosophischen Epochen in dem von Mer-
leau-Ponty herausgegebenen Sammelband: Les Philosophes Célèbres,
Paris 1956.
2 Jean-Paul Sartre, Présentation des Temps Modernes, in: Situa-
tions II. Qu‘est-ce que la littérature? Paris 1948, S. 7–30, hier S. 16.
3 Ebd., S. 15.
4 Vgl. hierzu Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781,
2
1787), B 370.
5 Fong Yeou-Lan, Précis d’histoire de la philosophie chinoise, Pa-
ris 1952; zitiert wird aus dem Unterkapitel zu Kapitel I »Les procédés
d’expression des philosophes chinois«, S. 33–35.
6 Vgl. zu den folgenden Ausführungen Merleau-Pontys: Georg
Wilhelm Friedrich Hegel, Einleitung in die Geschichte der Philoso-
phie. Orientalische Philosophie, a. a. O., S. 365–400, hier: S. 387 f; vgl.
weiterhin ebd., S. 86 ff., 94 ff., 132 ff., 266 ff.
7 Vgl. ebd., S. 395 ff.
8 Vgl. ebd., S. 366.
9 Merleau-Ponty zitiert aus La crise des sciences européennes et la
phénoménologie transcendantale – Une introduction à la philosophie
phénoménologique, in: Les Études philosophiques 1949, S. 127–159,
hier. S. 140; vgl. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wis-
senschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einlei-
tung in die phänomenologische Philosophie, hrsg. v. Walter Biemel,
Husserliana VI, Den Haag 1976, hier S. 14: »Erst damit wäre entschie-
Überall und nirgends 533

den, ob das europäische Menschentum eine absolute Idee in sich


trägt und nicht ein bloß empirischer anthropologischer Typus ist wie
›China‹ oder ›Indien‹.«
10 Ebd., S. 508: »Philosophie als Wissenschaft, als ernstliche,
strenge, ja apodiktisch strenge Wissenschaft – der Traum ist ausge-
träumt«.
11 Vgl. ebd., S. 13 f. : »Damit allein entscheidet sich, ob das dem
europäischen Menschentum mit der Geburt der griechischen Phi-
losophie eingeborene Telos, ein Menschentum aus philosophischer
Vernunft sein zu wollen und nur als solches sein zu können […], ein
bloßer historisch-faktischer Wahn ist […]; oder ob nicht vielmehr
im griechischen Menschentum erstmalig zum Durchbruch gekom-
men ist, was als Entelechie im Menschentum als solchen wesensmä-
ßig beschlossen ist. […] Philosophie, Wissenschaft wäre demnach
die historische Bewegung der Offenbarung der universalen, dem
Menschentum als solchen ›eingeborenen‹ Vernunft«; vgl. hierzu
auch die Ausführungen Merleau-Pontys in Der Philosoph und die
Soziologie.
12 La notion de philosophie chrétienne, Séance du 21 mars 1931,
in: Bulletin de la Société française de Philosophie 1931; beteiligt an
der Diskussion waren Gilson, Léon, Bréhier, Maritain, Brunschvicg,
Le Roy und Lenoir; dem Text beigefügt sind je ein Brief Blondels mit
dem Titel La philosophie chrétienne existe-t-elle comme philosophie?
und Jacques Chevaliers, unbetitelt.
13 Vgl. Blondel, La philosophie chrétienne existe-t-elle comme
philosophie?, in: La notion de philosophie chrétienne, a. a. O., S. 88.
14 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Principes de la Nature de la
Grace fondés en Raison, Monadologie / Vernunftprinzipien der Natur
und der Gnade, Monadologie, Hamburg 1969, § 7, S. 12: »Ce principe
posé: la première question qu’on a droit de faire, sera, pourquoi il y a
plus tôt quelque chose que rien«; und S. 13: »Ist dieses Prinzip aufge-
stellt, so wird die erste Frage, die man mit Recht stellen darf, die sein,
warum es eher Etwas als Nichts gibt«.
15 Ferdinand Alquié, La découverte métaphysique de l’homme
chez Descartes, Paris 1950; vgl. zu den angeführten Themen v. a. Ka-
pitel 11 Inifinité de Dieu und Kapitel 16 Situation de l’homme.
534 Anmerkungen des Herausgebers

16 Vgl. Léon Brunschvicg, Écrits philosophiques I. L’humanisme


de l’occident, Descartes – Spinoza – Kant, Paris 1951, v. a. Kapitel II
»Spinoza«, S. 109–177.
17 Jean-Paul Sartre, L’existentialisme est un humanisme, Paris
1946; sowie dt.: Jean-Paul Sartre, Ist der Existentialismus ein Huma-
nismus?, Zürich 1947.
18 Vgl. Nicolai Hartmann, Hegel et le problème de la dialectique
du réel, in: Revue de Métaphysique et de Moral 38 (1931), S. 285–316.

Der Philosoph und sein Schatten


(S. 233– 264)

1 Der Beitrag erschien unter dem Titel Le philosophe et son ombre


erstmals in der Festschrift zur hundertsten Wiederkehr des Hus-
serlschen Geburtstages: Herman L. van Breda, Jacques Taminiaux
(Hg.), Edmund Husserl. 1859–1959. Recueil commémoratif publié
à l’occasion du centenaire de la naissance du philosophe, Den Haag
1959, S. 195–220.
2 Zur Entfaltung dieses Gedankens vgl. Husserls Krisis-Schrift
sowie Husserls Fragment Die Frage nach dem Ursprung der Geo-
metrie als intentionalhistorisches Problem, das bereits 1939 in der
Revue de Philosophie erschien: Edmund Husserl, Die Krisis der eu-
ropäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenolo-
gie, hrsg. v. Walter Biemel, Husserliana Bd.VI, Den Haag 21962, bes.
S. 365 ff.
3 Martin Heidegger, Der Satz vom Grund (1957), hrsg. von Petra
Jaeger, Gesamtausgabe, Bd.10, Frankfurt/M. 1997, S. 105; Merleau-
Ponty zitiert die Französische Übersetzung im Haupttext und das
deutsche Original in der Fußnote.
4 Vgl. u. a. Edmund Husserl, Nachwort zu den Ideen I, in: ders.,
Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie. Drittes Buch. Die Phänomenologie und die Fundamente
der Wissenschaften, hrsg. v. Marly Biemel, Husserliana V, Den Haag
1952, S. 138–162, bes. S. 148 f., 161.
5 Vgl. hierzu insbesondere Husserls Rekurs auf Augustinus am
Der Philosoph und sein Schatten 535

Schluß der Cartesianischen Meditationen: Edmund Husserl, Cartesia-


nische Meditationen (frz. 1931) und Pariser Vorträge, hrsg. v. Stephan
Strasser, Husserliana I, Den Haag 21963, S. 183.
6 Vgl. die §§ 45, 77 und 78 der Ideen I: Edmund Husserl, Ideen
zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomeno-
logie (1913), hrsg. v. Walter Biemel, Husserliana III, Den Haag 1950,
S. 104 ff., 177–185.
7 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und
phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologi-
sche Untersuchungen zur Konstitution, hrsg. v. Marly Biemel, Hus-
serliana IV, Den Haag 1952. – Im folgenden wird sich Merleau-Ponty
hauptsächlich auf die Überlegungen Husserls aus den Ideen II und III
beziehen und die Bände IV und V der Husserliana zu Grunde legen.
Wenn den Verweisen, die Merleau-Ponty selbst anführt, nichts hinzu-
zufügen ist, so wird von Herausgeberanmerkungen abgesehen; wenn
Merleau-Ponty zur Verdeutlichung in dem ein oder anderen Fall in
der Fußnote den deutschen Originaltext anführt, um die französische
Übersetzung zu erläutern, so wird diese Angabe nicht aufgenommen,
sondern direkt das Original im Haupttext zitiert.
8 Zur Reduktion als ›Ausschaltung‹ bzw. ›Einklammerung‹ vgl.
Husserl, Ideen I, a. a. O., § 31, S. 63 ff.
9 Zu Husserls Gedanken, daß die Reduktion nicht zu einem
›Verlust‹ der Gehalte der natürlichen Einstellung führe, daß diese
vielmehr erst vermittels der Reduktion und ihrem ›Sinn‹ nach the-
matisch werden, vgl. u. a. Husserl, Ideen I, a. a. O., S. 67 ff., 118 f.; vgl.
auch Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, a. a. O., S. 154 f.
10 Vgl. u. a. Husserl, Ideen I, a. a. O., § 104, S. 257 ff.; Husserl stellt
insbesondere in seiner Späthilosophie, etwa der Krisis-Schrift, diesen
Befund in den Mittelpunkt seiner phänomenologischen Untersu-
chungen.
11 Zur Phänomenologie als einer Art ›Archäologie‹ vgl. Edmund
Husserl, Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil. Theorie der phäno-
menologischen Reduktion, hg. v. Rudolf Boehm, Husserliana Bd.VIII,
Den Haag 1959, S. 29; vgl. auch das Fragment ›Phänomenologische
Archäologie‹ in: Alwin Diemer, Edmund Husserl. Versuch einer syste-
536 Anmerkungen des Herausgebers

matischen Darstellung seiner Phänomenologie, Meisenheim am Glan


21965, S. 11 in Fn. 6; vgl. weiterhin: Vorl., S. 54.

12 Zum ›Ich kann‹ und seiner phänomenologischen Explikation


vgl. Husserl, Ideen II, a. a. O., § 59, S. 253 ff.; vgl. weiterhin zu diesem
für Merleau-Ponty zentralen Gedanken u. a. PdW, S. 166, SuU, S. 285.
13 Zu diesem bei Merleau-Ponty zentralen Beispiel der Doppel-
empfindung, auf das er immer wieder zu sprechen kommt, vgl. auch
Husserl, Cartesianische Meditationen, a. a. O., S. 128.
14 Zur Konstitution der ›animalischen Natur‹, der ›Animalia‹ vgl.
Husserl, Ideen II, a. a. O., S. 27 ff., 32 f., bes. S. 162 f.
15 Husserl kommt u. a. auf diesen Befund in §51 der V. Cartesia-
nischen Meditation zu sprechen; zum ›intentionalen Übergreifen‹ vgl.:
Husserl, Cartesianische Meditationen, a. a. O., S. 142, vgl. weiterhin
ebd., S. 147.
16 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (11790, 21793), § 70, A
309/B 313: »So fern die Vernunft es mit der Natur, als Inbegriff der
Gegenstände äußerer Sinne, zu tun hat, kann sie sich auf Gesetze
gründen, die der Verstand teils selbst a priori der Natur vorschreibt,
teils, durch die in der Erfahrung vorkommenden empirischen Be-
stimmungen, ins Unabsehliche erweitern kann.«
17 Zu Husserls Ausarbeitung der ›Fundierung‹ vgl. insbesondere
seine detaillierten Ausführungen in der III. Logischen Untersuchung
zur Lehre von den Ganzen und Teilen: Edmund Husserl, Logische Un-
tersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil. Untersuchungen zur Phä-
nomenologie und Theorie der Erkenntnis (11901, 21913), hrsg. von
Ursula Panzer, Den Haag/Boston/Lancaster 1984, S. 267 ff.
18 Eugen Fink, Die intentionale Analyse und das Problem des spe-
kulativen Denkens, in: Hermann Leo van Breda (Hg.), Problèmes actu-
els de la phénoménologie, Brouwer 1952, S. 53–87; der Beitrag wurde
wieder aufgenommen in: Eugen Fink, Nähe und Distanz. Phänome-
nologische Vorträge und Aufsätze, hrsg. von Franz-Anton Schwarz,
Freiburg/München 1976, S. 139–157; vgl. in dieser Ausgabe: S. 153 f.
19 Das Fragment Husserls Umsturz der kopernikanischen Lehre in
der gewöhnlichen weltanschaulichen Interpretation. Die Ur-Arche Erde
bewegt sich nicht ist abgedruckt in: Marvin Farber (Hg.), Philosophical
essays in memory of Edmund Husserl, New York 1968, S. 307–325.
Der Philosoph und sein Schatten 537

20 Ebd., S. 324.
21 Zur ›Phänomenologie der Phänomenologie‹ vgl. auch Merleau-
Pontys Ausführungen in PdW, S. 418; vgl. zu diesem Topos ebenso die
Ausführungen Eugen Finks in seinem Entwurf zu einer VI. Cartesia-
nischen Meditation, den Merleau-Ponty bereits früh und eingehend
rezipiert hat: Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation, Teil 1: Die
Idee einer transzendentalen Methodenlehre, hrsg. von Hans Ebeling
u. a., Husserliana-Dokumente, Bd.II/1, Dordrecht/Boston/London
1988, S. 8 f.
22 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Die Weltalter, Fragmente
in den Urfassungen von 1811 und 1813, hrsg. v. Manfred Schröter,
München 1946, S. 51; vgl. zu Merleau-Pontys Diskussion der Philoso-
phie Schellings auch: Vorl., S. 94 ff. und Natur, S. 60 ff.
23 Merleau-Ponty bezieht sich hier auf die bereits angeführten
Überlegungen Husserls in dem Fragment Umsturz der kopernikani-
schen Lehre in der gewöhnlichen weltanschaulichen Interpretation. Die
Ur-Arche Erde bewegt sich nicht, a. a. O., hier: S. 314.
24 Merleau-Ponty rekuriert auf folgende Gedankengänge Husserls
aus dem Fragment Umsturz der kopernikanischen Lehre, ebd. S. 318:
»Es ist aber auch möglich, daß der Erdboden sich erweitert, etwa in der
Art, daß ich verstehen lerne, daß im Raum meines ersten Erdbodens
große Luftschiffe sind, die in ihm längere Zeit fahren: auf einem bin
ich geboren, lebt meine Familie, es war mein Seinsboden, bis ich lernte,
daß wir nur Schiffer sind auf der größeren Erde, etc. So kann eine
Vielheit von Bodenstätten, Heimstätten zur Einheit einer Bodenstätte
kommen.« S. 319 f.: »Nehmen wir nun Sterne, nachdem wir uns klar-
gemacht haben die Möglichkeit von fliegenden Archen (das könnte
auch ein Name sein für Urheimstätte), die sich herausstellen in der
›Erfahrung‹ (das ist in der Historizität, in der sich die Welt und in ihr
körperliche Natur, naturaler Raum und Raumzeit, Menschheit und
animalisches Universum konstituieren) als bloße ›Luftschiffe‹, ›Raum-
schiffe‹ der Erde, von ihr ausgegangen und wieder zurückkehrend,
von Menschen bewohnt und geführt, die nach ihrem letztlichen ge-
nerativen und für sie selbst historischen Ursprung auf dem Erdboden
als ihrer Arche beheimatet sind. Dafür nehmen wir also jetzt ›Sterne‹
– zunächst Lichtpunkte, Lichtflecke. Im Lauf der sich ausbildenden
538 Anmerkungen des Herausgebers

Erfahrung apperzipiert als Fernkörper, aber ohne die eintretende


Möglichkeit der normalen Erfahrungsbewährung, derjenigen im er-
sten Sinne, im engeren einer direkten Ausweisbarkeit. ›Himmelskör-
per‹: wir behandeln sie gleich den nur zufällig faktisch für uns (aber
ev. für Andere) gegenwärtigen, zeitweilig unzugänglichen Körpern
und machen in bezug auf sie Erfahrungsschlüsse […] Alles das ist auf
die Arche Erdboden und ›Erdkugel‹ relativ und auf uns, die irdischen
Menschen, und die Objektivität ist auf die Allmenschheit bezogen.
Wie die Arche Erde selbst? Sie ist nicht selbst schon Körper, nicht ein
Stern unter Sternen. Erst wenn wir unsere Sterne als sekundäre Ar-
chen uns vorstellen mit ihren ev. Menschheiten, etc., uns fingieren als
dorthin versetzt und unter diese Menschheiten, dorthin etwa fliegend,
wird es anders. Dann ist es wie mit Kindern, auf den Schiffen geboren,
doch etwas abgewandelt. Die Sterne sind ja hypothetische Körper in
einem bestimmten Als-ob-Sinne, und so ist auch die Hypothese, dass
sie Heimstätten im besonderen Sinne sind, von besonderer Art.« Vgl.
weiterhin ebd., S. 323 f.
25 Ebd., S. 309.

Bergson im Werden (S. 265– 279)

1 Der Aufsatz erschien erstmals unter dem Titel Discours prononcé


le 19 mai 1959 lors de la séance d’hommage à l’occasion du centenaire
de la naissance de Henri Bergson in: Bulletin de la Société française
de Philosophie 54 (1960), S. 35–45. Der Titel Bergson se faisant ver-
weist auf Charles Péguy, Nota Conjuncta, übers. v. Friedhelm Kemp,
Wien, München 1956, S. 19 f. Zu Merleau-Pontys Auseinandersetzung
mit Bergson vgl. ebenso seinen Aufsatz Lob der Philosophie in AuG,
S. 177–224, bes. S. 181 ff.
2 Merleau-Ponty bezieht sich hier auf die erst 1914 verfaßte Bei-
gefügte Anmerkung über Herrn Descartes und die cartesianische Philo-
sophie, in: Péguy, Nota Conjuncta, a. a. O., S. 51–309, hier S. 120: »Daß
der Mann, welcher der Welt die Freiheit zurückgebracht hat, die Poli-
tiker der Freiheit, und noch dazu in einem solchen Grade, gegen sich
hatte«, sowie S. 122: »Er hatte zu Widersachern alle, die er ruiniert hat.
Er hat zu Widersachern alle, die ihm alles verdanken […] Mit einem
Bergson im Werden 539

Wort, der Mann, der einen falschen Intellektualismus aufgelöst hat,


hat die Partei der Wissenschaftler wider sich. Das ist gut und recht.
Aber der Mann, der die Freiheit zurückgebracht hat, hat die Partei
der Radikalen wider sich. Der Mann, der das französische Denken der
deutschen Knechtschaft entrissen hat, hat die Partei der Action fran-
çaise wider sich. Der Mann, der das geistliche Leben wiedergebracht
hat, hat die Partei der ›Frommen‹ wider sich«.
3 Gemeint ist die Académie des sciences morales et politiques, in die
Bergson 1901 gewählt wurde, bevor er 1914 Mitglied in der Académie
française wurde.
4 Henri Bergson, Les deux sources de la morale et de la religion
(1932), in: Œuvres, Textes annotés par André Robinet, Introduction
par Henri Gouhier, Paris 1970, S. 979–1247; dt.: Henri Bergson, Die
beiden Quellen der Moral und der Religion, übers. v. E. Lerch, Nach-
druck Olten/Freiburg 1980, ursprünglich Jena 1933.
5 Vgl. u. a. Péguy, Anmerkung über Herrn Bergson und seine Phi-
losophie, in: Nota conjuncta, a. a. O., S. 9–50, hier S. 32, 39.
6 Henri Bergson, Matière et mémoire, Essai sur la relation du
corps à l’esprit (1896), in: Œuvres, Textes annotés par André Robinet,
Introduction par Henri Gouhier, Paris 1970, S. 161–379; dt.: Henri
Bergson, Materie und Gedächtnis, übers. v. Julius Frankenberger, mit
einer Einleitung von Erik Oger, Hamburg 1991. Sowie Henri Bergson,
L’évolution créatrice (1907), in: Œuvres, Textes annotés par André
Robinet, Introduction par Henri Gouhier, Paris 1970, S. 487–809; dt:
Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung, übers. v. Gertrud Kan-
torowicz, Jena 1912, wieder abgedruckt in Henri Bergson, Schöp-
ferische Entwicklung, Nobelpreis 1927 Frankreich, Zürich 1928,
S. 37–363.
7 Vgl. Jules Grivet, La théorie de la personne d’après Henri Berg-
son – Cours au Collège de France, in: Les Études, no. 16, 20. 11. 1911,
S. 449 – 485, aufgenommen in: Mélanges, textes publiés et annotés par
André Robinet, Paris 1972, S. 847–875, hier S. 847.
8 Zum Begriff der coïncidence partielle vgl. Bergson, Matière et
mémoire, a. a. O., S. 352 f., 355 f., dt. S. 218, 222. Merleau-Ponty kommt
auf die »berühmte Bergsonsche Koinzidenz« auch in seinem Beitrag
Lob der Philosophie, AuG, S. 185, zu sprechen.
540 Anmerkungen des Herausgebers

9 Merleau-Ponty verweist mit dem Jahr 1889 auf die Dissertation


Bergsons Essais sur les données immédiates de la conscience, Bergsons
Thèse principale de doctorat, die zusammen mit seiner lateinischen
Thèse complémentaire unter dem Titel Quid Aristoteles de loco senserit
1889 erscheint, vgl. Henri Bergson, Essais sur les données immédiates
de la conscience (1889), in: Œuvres, Textes annotés par André Robi-
net, Introduction par Henri Gouhier, Paris 1970, S. 3–157; dt.: Henri
Bergson, Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren
Bewußtseinstatsachen, übers. v. P. Fohr, Jena 1911.
10 Henri Bergson, Durée et simultanéité (1922), in: Mélanges,
textes publiés et annotés par André Robinet, Paris 1972, S. 57–244.
11 Vgl. Henri Bergson, L’évolution créatrice, a. a. O., S. 492: »On
dira que, même ainsi, nous ne dépassons pas notre intelligence, pu-
isque c’est avec notre intelligence, à travers notre intelligence, que
nous regardons encore les autres formes de la conscience. Et l’on au-
rait raison de le dire, si nous étions de pures intelligences, s’il n’était
pas resté, autour de notre pensée conceptuelle et logique, une nébu-
losité vague, faite de la substance même aux dépens de laquelle s’est
formé le noyau lumineux que nous appelons intelligence. Là résident
certaines puissances complémentaires de l’entendement, puissances
dont nous n’avons qu’un sentiment confus quand nous restons en-
fermés en nous, mais qui s’éclaireront et se distingueront quand elles
s’apercevront elles-mêmes à l’œuvre, pour ainsi dire, dans l’évolution
de la nature«; dt. Bergson, Schöpferische Entwicklung, a. a. O., S. 46:
»Freilich wird man sagen, daß wir unseren Intellekt selbst solcherge-
stalt nicht überholten; denn eben kraft unseres Intellekts und durch
das Medium unseres Intellekts erblickten wir auch jene anderen Be-
wußtseinsformen. Und man hätte recht, es zu sagen, wenn wir reine
Intelligenzen wären, wenn nicht rings um unser begriffliches Denken
eine schwanke Nebelschicht stehengeblieben wäre; eine Schicht, die
aus jener Substanz selber besteht, daraus der leuchtende Kern sich
gebildet hat, den wir Intellekt nennen. Hier walten Kräfte, die den
Verstand ergänzen; Kräfte, von denen wir nur ein verworrenes Ge-
fühl haben, solange wir in uns beschlossen bleiben, die aber klar wer-
den und hervortreten, sobald sie sich in der Entwicklung der Natur
gleichsam selber am Werke sehen.«
Einstein und die Krise der Vernunft 541

12 Vgl. hierzu Bergson, Matière et Mémoire, a. a. O., u. a. S. 184 f.,


216 f., 296, 324; vgl. dt.: Bergson, Materie und Gedächtnis, a. a. O.,
S. 19, 57 f., 151, 184 f.
13 Vgl. Henri Bergson, La pensée et le mouvant (1935), in: Œuvres,
Textes annotés par André Robinet, Introduction par Henri Gouhier,
Paris 1970, S. 1249 – 1482, hier S. 1358: »La vérité est qu’au-dessus du
mot et au-dessus de la phrase il y a quelque chose de beaucoup plus
simple qu’une phrase et même qu’un mot: le sens, qui est moins une
chose pensée qu’un mouvement de pensée, moins un mouvement
qu’une direction«; dt.: Henri Bergson, Denken und schöpferisches
Werden. Aufsätze und Vorträge, übers. und hrsg. v. L. Kottje, Mei-
senheim 1948, Hamburg 32000, hier S. 140: »In Wahrheit gibt es dem
Wort im Satz übergeordnet etwas viel Einfacheres als den Satz oder
sogar ein Wort: nämlich den Sinn, der weniger eine gedachte Sache ist
als eine gedankliche Bewegung, oder sogar noch weniger eine Bewe-
gung als eine Richtung.«
14 Vgl. Bergson, Les deux sources de la morale et de la religion,
a. a. O., hier S. 1154 f.: »L’ensemble eût pu être très supérieur à ce qu’il
est, et c’est probablement ce qui arrive dans des mondes où le cour-
rant est lancé à travers une matière moins réfractaire«; dt.: Bergson,
Die beiden Quellen der Moral, a. a. O., S. 209: »Das Ganze hätte feilich
viel vollkommener sein können als es ist, und das ist wahrscheinlich
der Fall in Welten, wo der Strom durch eine weniger widerspenstige
Materie hindurchströmt.«
15 Vgl. dt. Péguy, Beigefügte Anmerkung über Herrn Descartes
und die cartesianische Philosophie, a. a. O., S. 221.

Einstein und die Krise der Vernunft


(S. 281–289)

1 Der Beitrag Merleau-Pontys ist zuerst erschienen in: L’Express,


Nr. 103, 14. Mai 1955, S. 13.
2 Das englische Original ist erschienen als: Albert Einstein and
Leopold Infeld, The Evolution of Physics: The growth of ideas from
early concepts to relativity and quanta, New York 1938; frz.: Albert
542 Anmerkungen des Herausgebers

Einstein et Leopold Infeld, L’évolution des idées en physique des pre-


miers concepts aux théories de la rélativité et des quanta, traduit par
Maurice Solovine, Paris 1938, S. 286: »La science n’est pas une col-
lection de lois, un catalogue de faits non reliés entre eux. Elle est une
création de l’esprit humain au moyen d’idées et de concepts libre-
ment inventés. Les théories physiques essaient de former une image
de la réalité et de la rattacher au vaste monde des impressions sensi-
bles. Ainsi, nos constructions mentales se justifient seulement si, et de
quelle façon, nos théories forment un tel lien«; dt.: Albert Einstein und
Leopold Infeld, Die Physik als Abenteuer der Erkenntnis, Leiden 1938,
2
1949, hier S. 196: »Wissenschaft ist nicht einfach eine Sammlung von
Gesetzen, ein Katalog unzusammenhängender Tatsachen. Sie ist eine
Schöpfung des menschlichen Geistes mit ihren frei erfundenen Ideen
und Begriffen. Physikalische Theorien versuchen eine Verbindung
zwischen unserem Bild der Wirklichkeit und der großen Welt unserer
Sinnesempfindungen aufzustellen. Die einzige Rechtfertigung unse-
rer gedanklichen Konstruktionen liegt somit in dem Maße, ob und in
welcher Weise unsere Theorien ein solches Glied bilden.«
3 Vgl. Albert Einstein, Hedwig und Max Born, Briefwechsel 1916 –
1955, kommentiert v. Max Born, Geleitwort v. Bertrand Russell, Vor-
wort v. Werner Heisenberg, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 152 ff.,
Brief Albert Einsteins an Max Born vom 07. 09. 1944 (!), hier S. 154:
»In unserer wissenschaftlichen Erwartung haben wir uns zu Antipo-
den entwickelt. Du glaubst an den würfelnden Gott und ich an volle
Gesetzlichkeit in einer Welt von etwas objectiv Seiendem, das ich auf
wild spekulativem Wege zu erhaschen suche. Ich glaube fest, aber ich
hoffe, daß einer einen mehr realistischen Weg, bezw. eine mehr greif-
bare Unterlage finden wird, als es mir gegeben ist.«
4 Albert Einstein, Comment je vois le monde, Paris 1934, S. 155:
»La mission la plus haute du physicien est donc la recherche de ces lois
élémentaires les plus générales, desquelles on part pour atteindre, par
simple déduction, l’image du monde. Aucun chemin logique ne mène
à ces lois élémentaires: seule, l’intuition s’appuyant sur le sentiment
de l’expérience y conduit. […] Mais le développement de la question
a montré que, de toutes les constructions imaginables, une seule, pour
le moment, s’est manifestée comme absolument, supérieure à toutes
Einstein und die Krise der Vernunft 543

les autres. Aucun de ceux qui ont approfondi réellement le sujet ne


saurait nier que le monde des observations détermine pratiquement,
sans ambiguïté, le système théorique et que néanmoins aucune voie
logique ne conduit des observations aux principes de la théorie: c’est
ce que Leibniz a si heureusement appelé l’harmonie ›préétablie‹«; dt.:
Albert Einstein, Mein Weltbild, Amsterdam 1934, S. 168: »Höchste
Aufgabe des Physikers ist also das Aufsuchen jener allgemeinsten ele-
mentaren Gesetze, aus denen durch reine Deduktion das Weltbild zu
gewinnen ist. Zu diesen elementaren Gesetzen führt kein logischer
Weg, sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende
Intuition. […] Aber die Entwicklung hat gezeigt, daß von allen denk-
baren Konstruktionen eine einzige jeweilen sich als unbedingt über-
legen über alle anderen erwies. Keiner, der sich in den Gegenstand
wirklich vertieft hat, wird leugnen, daß die Welt der Wahrnehmungen
das theoretische System praktisch eindeutig bestimmt, trotzdem kein
logischer Weg von den Wahrnehmungen zu den Grundsätzen der
Theorie führt; dies ist es, was Leibniz so glücklich als ›prästabilierte
Harmonie‹ bezeichnet.«
5 Einstein, Comment je vois le monde, a. a. O., S. 35: »Tous ces
types de religion ont un point commun, c’est de la caractère anthro-
pomorphe de l’idée de Dieu. […] Mais, chez tous, il y a encore un
troisième degré de la vie religieuse […]: je l’appellerai la religiosité
cosmique. Elle est fort difficile à saisir nettement par celui qui n’en
sent rien, car aucune idée d’un Dieu analogue à l’homme n’y corre-
spond«; dt.: Einstein, Mein Weltbild, a. a. O., S. 39: »All diesen Typen
gemeinsam ist der anthropomorphe Charakter der Gottesidee. […]
Bei allen aber gibt es noch eine dritte Stufe religiösen Erlebens […];
ich will sie als kosmische Religiosität bezeichnen. Diese läßt sich dem-
jenigen, der nichts davon hat, nur schwerlich deutlich machen, zumal
ihr kein menschenartiger Gottesbegriff entspricht.«
6 Vgl. L’évolution des idées en physique, a. a. O., 289: »La physique
quantique formule des lois qui régissent des foules et non des indi-
vidus. Ce ne sont pas des propriétés, mais des probabilités qui sont
décrites: elle ne formule pas des lois qui dévoilent l’avenir des système,
mais des lois qui régissent les changements des probabilités dans le
temps et se rapportant à de grands ensembles d’individus«; vgl. dt.:
544 Anmerkungen des Herausgebers

Die Physik als Abenteuer der Erkenntnis, a. a. O., S. 198: »Die Quan-
tenphysik formuliert Gesetze für Gesamtheiten einer großen Anzahl
von Systemen und nicht für Individuen. Nicht Eigenschaften, sondern
Wahrscheinlichkeiten werden beschrieben; nicht Gesetze für das zu-
künftige Verhalten von Systemen werden angegeben, sondern Gesetze,
welche die zeitlichen Änderungen der Wahrscheinlichkeiten beherr-
schen und sich auf große Gesamtheiten von Individuen beziehen.«
7 Vgl. Albert Einstein, Hedwig und Max Born, Briefwechsel
1916 – 1955, a. a. O., S. 161 ff., Brief Albert Einsteins an Max Born
vom 03.03.1947 (!), hier S. 162: »Aber davon bin ich fest überzeugt,
daß man schließlich bei einer Theorie landen wird, deren gesetzmä-
ßig verbundene Dinge nicht Wahrscheinlichkeiten sondern gedachte
Tatbestände sind, wie man es bis vor kurzem als selbstverständlich
betrachtet hat. Zur Begründung dieser Überzeugung kann ich aber
nicht logische Gründe, sondern nur meinen kleinen Finger als Zeu-
gen beibringen, also keine Autorität, die außerhalb meiner Hand ir-
gendwelchen Respekt einflößen kann.«
8 Vgl. Antonina Vallentin, Le drame d’Albert Einstein, Paris 1955,
S. 9: »[…] il a livré – incidemment – un des rares mots-clés sur lui-
même en remerciant G.-B. Shaw des paroles flatteues ›adressées à
mon homonyme mythique qui me rend la vie singulièrement dure‹«;
dt.: Antonina Vallentin, Das Drama Albert Einsteins, Eine Biogra-
phie, Stuttgart 1955, S. 11: »[…] als er G. B. Shaw für schmeichelhafte
Worte dankte, die dieser ›an seinen mythischen Namensbruder ge-
richtet habe, der ihm das Leben so seltsam schwer mache‹.«
9 Merleau-Ponty bezieht sich hier auf das Treffen Einsteins mit
Bergson, Léon, Langevin, Hadamard, Cartan, Painlevé, Lévy, Perrin,
Becquerel, Brunschvicg, Le Roy, Meyerson und Piéron, das am 6. April
1922 in der Société française de Philosophie stattfand; zu beachten ist
im folgenden, daß Merleau-Ponty die Zitate aus dem Protokoll mit
Durée et simultanéité vermischt und Einstein auf Fragen antworten
läßt, die Bergson zwar geschrieben, so jedoch nicht in der Diskussion
formuliert hat.
10 Henri Bergson, Durée et simultanéité. A propos de la théorie
d’Einstein, Paris 1922, in: Mélanges, textes publiés et annotés par An-
dré Robinet, Paris 1972, S. 126.
Montaignelektüre 545

11 Séance du 6 avril 1922, La théorie de la relativité, in: Bulletin de


la Société française de Philosophie, Comptes rendus des séances 1922,
S. 91 - 113; hier: S. 107.
12 Ebd.

Montaignelektüre (S. 291–310)

1 Der Aufsatz ist zuerst erschienen in: Les Temps Modernes 3/27
(1947–1948), S. 1044–1060.
2 Michel de Montaigne, Essais, Bd. III. Erste moderne Ge-
samtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt/M. 1998, S. 342: »Mein
Blick ist klar, aber ich hefte ihn auf nur wenige Gegenstände; und
obwohl meine Sinne empfindsam und beeindruckbar sind, bin ich
schwer von Begriff und weiß mit vielem nichts recht anzufangen;
ebendarum lasse ich mich selten auf etwas ein.«
3 Ebd., S. 229: »Kurz, man muß mit den Lebenden leben und das
Wasser unter der Brücke hinfließen lassen, ohne sich darum zu küm-
mern – oder zumindest, ohne deswegen den Kopf zu verlieren.«
4 Ebd., S. 33: »Daher mag ich mir zwar zuweilen widersprechen,
aber der Wahrheit, wie Demades sagte, widerspreche ich nie. Könnte
meine Seele jemals Fuß fassen, würde ich nicht Versuche mit mir ma-
chen, sondern mich entscheiden. Doch sie ist ständig in der Lehre
und Erprobung.«
5 Léon Brunschvicg, Descartes et Pascal. Lecteurs de Montaigne,
New York/Paris 1944, S. 154. Vgl. René Descartes, Meditationen über
die Grundlagen der Philosophie. Mit den sämtlichen Einwänden und
Erwiderungen, übers. und hrsg. von Arthur Buchenau, Hamburg
1915, Nachdruck 1994, S. 337.
6 Montaigne, Essais, Bd. III, a. a. O., S. 341.
7 Ebd., S. 34.
8 Ebd., S. 229.
9 Ebd., S. 459.
10 Ebd., S. 88: »Quintilian behauptet, Schauspieler gesehen zu ha-
ben, die von einer Trauerrolle derart ergriffen worden seien, daß sie
noch zu Hause geweint hätten; und er selbst habe sich den Schmerz,
den er jemand anderm zugefügt, einmal so zu eigen gemacht, daß er
546 Anmerkungen des Herausgebers

plötzlich nicht nur erbleicht und in Tränen ausgebrochen, sondern


auch wie ein wirklich gramgebeugter Mann zusammengesunken
sei.«
11 Ebd., S. 118 f.
12 Ebd., S. 149; dem angegebenen Zitat schließen sich folgende
Zeilen an: »[…] wenn ich all das betrachte und bedenke, dann glaube
ich, daß Platon mit seiner Bemerkung recht hatte, der Mensch sei
das Spielzeug der Götter – wie grausam, daß aus Lust am Quälen/sie
uns zu ihren Opfern wählen – und daß die Natur aus schierer Spott-
sucht uns das aufwühlendste Tun als unser gewöhnlichstes vermacht
hat, um uns alle gleichzusetzen und Narren wie Weise, Menschen wie
Tiere auf eine Stufe zu stellen.«
13 Montaigne, Essais, Bd. II, a. a. O., S. 160: »Die Natur selber,
fürchte ich, hat dem Menschen einen gewissen Trieb zur Unmensch-
lichkeit eingepflanzt: Niemand macht es zu seinem Zeitvertreib, den
Tieren beim Spielen und Kosen zuzusehen; ihnen aber zuzusehn,
wenn sie sich gegenseitig zerfetzen und zerfleischen – jeder.«
14 Montaigne, Essais, Bd. III, a. a. O., S. 157: »Die Italiener spielen
selbst bei jenen Frauen den schmachtenden Verehrer, die käuflich
sind; und sie verteidigen dies wie folgt: Es gebe Stufen im Liebesgenuß,
und indem sie auch Dirnen hofierten, wollten sie dessen höchste für
sich erreichen. Dergleichen Frauen verkauften ja nur den Körper, ihre
Gefühle aber stünden nicht zum Verkauf, denn hierüber behielten sie
ihr freies Verfügungsrecht; darum, sagen diese Männer, machten sie
gerade die Gefühle zum Ziel ihres Werbens. Wie recht sie haben! In
der Tat sind es die Gefühle, die man umwerben und gewinnen muß.
Die Vorstellung entsetzt mich, daß ich einen Körper als mir gehörend
umarmen könnte, der ohne Seelenregung ist.«
15 Ebd., S. 152.
16 Ebd., S. 304: »Wenn ich fürchtete, woanders als am Ort meiner
Geburt zu sterben, wenn ich glaubte, fern von den Meinen schwerer
zu sterben, dann würde ich Frankreich, dann würde ich mein Kirch-
spiel kaum jemals ohne Zittern und Zagen verlassen – fühle ich doch
ständig den Krallengriff des Todes in Kehle und Lende. Aber ich bin
aus anderm Holz geschnitzt: Für mich ist er überall derselbe. Hätte
ich freilich zu wählen, würde ich, davon bin ich freilich überzeugt, lie-
Montaignelektüre 547

ber als im Bett zu Pferde sterben, fern von meinem Haus und den
Meinen. Das letzte Abschiednehmen von unsren Lieben zerreißt uns
mehr das Herz, als es uns tötet.«
17 Ebd., S. 79.
18 Ebd., S. 79 f.
19 Ebd., S. 306: »Im Gegensatz zum Aberglauben der Römer, bei
denen der als unglücklich galt, der wortlos starb und seine nächsten
Angehörigen nicht um sich hatte, ihm die Augen zu schließen, habe
ich mit der eignen Tröstung genug zu tun, ohne andre trösten zu
müssen, Gedanken genug, die mir durch den Kopf gehen, ohne daß
ich die Umstehenden brauchte, mir neue beizusteuern, und Stoff ge-
nug, mich zu beschäftigen, ohne daß ich auf erborgten angewiesen
wäre. Dieser Akt ist nicht mehr Teil des gesellschaftlichen Rollenspiels
– diesen Akt spielt jeder allein.«
20 Ebd., S. 452.
21 Ebd., S. 228: »Die Welt ist nur eine Schule der Erkenntnissuche.
Trefflich zu zielen zählt in ihr mehr, als zu treffen. Einer, der Rich-
tiges sagt, kann es auf so falsche Weise tun, daß er an Narrheit dem
gleichkommt, der Falsches sagt: Keineswegs um das Was geht es hier,
sondern um das Wie. Ich möchte die Form jedenfalls nicht minder im
Auge behalten als den Inhalt und gemäß der Empfehlung des Alkibia-
des den Sachwalter nicht minder als die Sache.«
22 Ebd., S. 148, weiter heißt es: » – gerade noch deutlich genug,
um mich zur quälenden und aufreibenden Suche nach dem Ent-
schwundnen anzutreiben. Vergebens.«
23 Léon Brunschvicg, Descartes et Pascal. Lecteurs de Montaigne,
a. a. O., S. 64–93.
24 Montaigne, Essais, Bd. II, a. a. O., S. 186: »Die Anmaßung ist un-
sere naturgegebene Erbkrankheit. Das unglückseligste und gebrech-
lichste aller Geschöpfe ist der Mensch, gleichzeitig jedoch das hoch-
mütigste. Er sieht und fühlt sich hienieden im Schmutz und Kot der
Erde angesiedelt, dem übelsten, totesten und stinkigsten Winkel des
Weltalls untrennbar verhaftet, hausend im untersten und vom Him-
melsgewölbe entferntesten Geschoß des Bauwerks, nur den Tieren
des Landes zugesellt, die von allen drei Gattungen doch am schlechte-
sten weggekommen sind; und da geht er hin, setzt sich in seiner Ein-
548 Anmerkungen des Herausgebers

bildung über den Mondkreis und macht den Himmel zum Schemel
seiner Füße!«
25 Ebd., S. 176.
26 Montaigne, Essais, Bd. III, a. a. O., S. 523: »Nichts im Leben
des Sokrates fände ich schwer nachvollziehbar, wären da nicht seine
Ekstasen und Daimonereien, und nichts an Platon dünkt mich so
menschlich wie gerade das, wofür man ihn, wie es heißt, göttlich
nannte; und von unsren Wissenschaften scheinen mir die am nied-
rigsten und erdverfallendsten, die sich am höchsten verstiegen haben;
und nichts im Leben Alexanders finde ich so armselig und sterblich
wie die Gedankenspiele, mit denen er sich seine Erhebung in die Un-
sterblichkeit ausmalte.«
27 Ebd., S. 45.
28 Ebd., S. 522.
29 Ebd., S. 452, weiter heißt es: »Kein mir eignes Wissen könnte
es je von seinem Weg abbringen: Mir zuliebe wird es sich gewiß nicht
ändern! Es wäre Torheit, das zu erhoffen, und eine noch größere, sich
deswegen zu grämen, bleibt dieses Gesetz doch aus Notwendigkeit
immer gleich, allumfassend und allgültig.«
30 Ebd., S. 431: »Ich hingegen liebe eine Tugend, welche die Ge-
setze und Religionen nicht erschaffen, sondern der sie lediglich Gel-
tung und Spielraum zur Vervollkommnung verschaffen – eine Tugend,
die sich stark genug fühlt, ohne fremde Hilfe zu bestehn, und die mit
ihren eignen Wurzeln aus der Saat der allumfassenden Vernunft her-
anwächst, an der jeder der Natur nicht entfremdete Mensch in seinem
Innern teilhat.«
31 Ebd., S. 343: »Jenen Leidenschaften, die mich von mir wegziehn
und an sonstwen binden wollen, widersetze ich mich folglich mit al-
ler Kraft. Meine Meinung ist, daß man andern sich zwar leihen sollte,
sich hingeben aber nur ans eigne Selbst.«
32 Ebd., S. 171: »Ein junger Mann fragte den Philosophen Pa-
naitios, ob es sich für einen Weisen gezieme, verliebt zu sein. ›Las-
sen wir den Weisen beiseite‹, antwortete er, ›aber du und ich, die wir
keine sind, sollten uns nicht in etwas derart Ungestümes und Auf-
wühlendes hineinziehen lassen, das uns zu Sklaven anderer und zu
Verächtern unserer selbst macht!‹ Er hatte damit insoweit recht, als
Montaignelektüre 549

wir dieser abgründigen Leidenschaft keine Seele aussetzen sollten, die


unzureichend gerüstet ist, ihrem Ansturm standzuhalten und jenen
Ausspruch des Agesilaos, Weisheit und Liebe könnten nicht miteinan-
der auskommen, durch die Tat zu widerlegen.«
33 Ebd., S. 224.
34 Ebd., S. 11.
35 Ebd., S. 26.
36 Ebd., S. 403, weiter heißt es: »und allein Gott zu bitten, daß er
mit seiner allmächtigen Hand eingreifen möge.«
37 Ebd., S. 365.
38 Ebd., S. 326: »Wer sich in die Menge begibt, muß sich drehn
und wenden, muß die Ellbogen einziehn, muß zurückweichen oder
sich vordrängen und oft sogar, je nachdem, wer und was sich ihm
entgegenstellt, seinen graden Weg verlassen. Er ist gezwungen, sich im
Leben weniger nach sich selbst als nach den andern zu richten, nicht
nach dem Ziel, das er sich setzt, sondern nach dem, das ihm gesetzt
wird; und nach der Zeit; und nach den Menschen; und nach dem
Stand der Dinge.«
39 Ebd., S. 423: »Es leuchtet ein, daß wir von Natur aus den
Schmerz, keineswegs aber, daß wir den Tod als solches fürchten – ist
er doch ein nicht minder wesentlicher Teil unsres Seins als das Le-
ben. Wozu hätte die Natur uns Haß und Abscheu gegen ihn einflö-
ßen sollen, da er für sie doch die höchst nützliche Rolle spielt, das
Wechselspiel ihrer Werke in steter Folge fortzuführn und so in diesem
universalen Gemeinwesen mehr dem Werden und Wachsen als dem
Sterben und Verderben zu dienen? So widerstehn die Dinge all sich
stets erneuernd dem Verfall, // weil Leben tausendfach entsteht aus ei-
nem Leben, das vergeht.«
40 Ebd., S. 447: »Unsre Streitigkeiten sind rein verbal. Ich frage, was
Natur sei und was Wollust, was Kreis und was Substitution – doch das
sind bloß Wortmünzen, und Wortmünzen wechselt man dafür ein.
›Ein Stein ist ein Körper.‹ Nun gut. Hakte einer aber nach: ›Und was
ist ein Körper?‹ – ›Substanz.‹ – ›Und was ist Substanz?‹ – und so im-
mer fort, würde den Erklärer sein Lexikon bald im Stich lassen. So
tauscht man ein Wort gegen ein andres, oft noch weniger bekanntes.
Ich weiß besser, was ein Mensch als was beseelt ist oder sterblich oder
550 Anmerkungen des Herausgebers

vernünftig. Um mir einen Zweifel zu nehmen, gibt man mir drei da-
für: das Haupt der Hydra!«
41 Ebd., S. 38.
42 Ebd., S. 313: »So lasse ich an Kenntnis von mir nichts zu wünschen
oder zu erraten. Wenn man sich über mich unterhalten will, möchte
ich, daß es der Wirklichkeit entspreche und mir gerecht werde. Stellte
einer mich anders dar, als ich war – und sei es, um mich zu ehren –,
käme ich stracks aus dem Jenseits zurück, um ihn Lügen zu strafen.
Selbst von den Lebenden spricht man, wie mir auffällt, stets anders,
als sie sind; und hätte ich mich nicht für das lebenswahre Bild eines
Freundes nach dessen Tod mit aller Kraft eingesetzt, würde man ihn
mir in tausend sich widersprechende Teile auseinandergerissen haben.«
43 Ebd., S. 171.
44 Es handelt sich hier um eine Ergänzung im Exemplaire de Bor-
deaux von 1588, die in den meisten Ausgaben nicht verzeichnet ist.
Siehe: Montaigne, Œuvres complètes, ed. par Albert Thibaudet et
Maurice Rat, Paris 1962, S. 961, Fußnote 3 sowie S. 1652.
45 Montaigne, Essais, Bd. III, a. a. O., S. 67.
46 Ebd., S. 130 f.
47 Ebd., S. 348.
48 Ebd., S. 370.
49 Ebd., S. 211.
50 Ebd., S. 13, 15, 356.
51 Ebd., S. 349.
52 Ebd., S. 370.
53 Ebd., S. 398: »Haltet Einkehr, und ihr werdet in euch alle Argu-
mente der Natur gegen den Tod finden – wahrhafte, die euch in der
Not am besten helfen können. Sie sind es, die einen Bauern, ja ganze
Völker ebenso standhaft sterben lassen wie einen Philosophen.«
54 Ebd., S. 418.
55 Ebd., S. 229.
56 Ebd., S. 322.
57 Ebd., S. 185.
58 Ebd., S. 304.
59 Ebd., S. 245.
60 Ebd., S. 168.
Anmerkung zu Machiavelli 551

Anmerkung zu Machiavelli (S. 311– 331)

1 Der Beitrag Merleau-Pontys ist zuerst erschienen in: Les Temps


Modernes 5/48 (1949–1950), S. 577–593.
2 Niccolò Machiavelli, Il Principe. Der Fürst, übers. und hrsg. von
Philipp Rippel, Stuttgart 1986, XXV, S. 191 f.: »Es ist mir wohl bekannt,
daß viele die Meinung vertraten und viele sie vertreten, die Dinge die-
ser Welt würden auf solche Weise von Fortuna und von Gott geleitet,
daß die Menschen mit ihrer Klugheit sie nicht ändern könnten, ja
überhaupt kein Mittel dagegen hätten, und die daher zu dem Urteil
kommen könnten, man solle sich nicht viel mit den Dingen abplagen,
sondern sich der Leitung des Schicksals überlassen.«
3 Ebd., XIV, S. 113 ff., so auch S. 115: »Und daher kann ein Fürst,
der nichts vom Heerwesen versteht, zu allem anderen Unglück – wie
bereits gesagt – sich weder der Achtung seiner Soldaten erfreuen noch
ihrer Treue sicher sein.«
4 Ebd., XII, a. a. O., S. 93 f.: »Die hauptsächlichen Grundlagen, die
alle Staaten brauchen – sowohl die neugegründeten wie die altererb-
ten oder die aus diesen gemischten – sind gute Gesetze und ein gutes
Heer. Und da es keine guten Gesetze geben kann, wo es kein gutes
Heer gibt, aber dort, wo ein gutes Heer ist, auch gute Gesetze sein
müssen, will ich die Erörterung der Gesetze übergehen und nur vom
Heerwesen sprechen.«
5 Vgl. hierzu nicht den Principe, sondern die Discorsi. Niccolò Ma-
chiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, über-
setzt, eingeleitet und erläutert von Rudolf Zorn, Stuttgart 1977, Erstes
Buch, 46. Kapitel, S. 122: »Aus diesen Vorgängen ergibt sich die Re-
gel, daß die Menschen, noch während sie darauf bedacht sind, ohne
Angst leben zu können, schon beginnen, ihren Mitmenschen Furcht
einzuflößen, und daß sie die Unbill, die sie von sich abwehren, einem
anderen zufügen, als ob sie nicht leben könnten, ohne einen anderen
zu verletzen oder von ihm verletzt zu werden.«
6 Machiavelli, Il Principe. Der Fürst, XVIII, a. a. O., S. 135: »Ihr
müsst nämlich wissen, daß es zweierlei Kampfweisen gibt: die eine
mit der Waffe der Gesetze, die andere mit bloßer Gewalt; die erste ist
dem Menschen eigen, die zweite den Tieren; da aber die erste oftmals
552 Anmerkungen des Herausgebers

nicht ausreicht, ist es nötig, auf die zweite zurückzugreifen. Daher


muß ein Fürst es verstehen, von der Natur des Tieres und von der
des Menschen den rechten Gebrauch zu machen.« Siehe auch die
dazugehörigen Ausführungen in dem von Merleau-Ponty angegebe-
nen Kapitel.
7 Ebd., XVIII, S. 135.
8 Ebd., III, S. 21: »Die Römer taten daher in diesen Fällen das,
was alle klugen Fürsten tun müssen: diese haben nicht nur auf die
gegenwärtigen Unruhen zu achten, sondern auch auf die zukünftigen,
und müssen sie unter Aufbietung all ihrer Kräfte im Keim ersticken;
denn wer rechtzeitig vorbeugt, kann leicht heilen; wenn man jedoch
wartet, bis die Unruhen ausgebrochen sind, kommt jede Medizin zu
spät, denn die Krankheit ist unheilbar geworden.«
9 Ebd., XVI, S. 127: »Daher liegt mehr Klugheit darin, sich mit
dem Ruf der Knauserigkeit abzufinden, der zwar Unehre, aber keinen
Haß erzeugt, als den Ruf der Freigebigkeit anzustreben und dadurch
genötigt zu sein, sich den der Raubgier einzuhandeln, der Unehre
und Haß zugleich erzeugt.«
10 Ebd., XVII, S. 131: »Gleichwohl darf ein Fürst nur soviel Furcht
verbreiten, daß er, wenn er dadurch schon keine Liebe gewinnt, doch
keinen Haß auf sich zieht; denn er kann sehr wohl gefürchtet werden,
ohne verhaßt zu sein; dies wird ihm stets gelingen, wenn er das Eigen-
tum seiner Bürger und Untertanen sowie ihre Frauen respektiert.«
11 Ebd., XX, S. 165.
12 Ebd., V, S. 37.
13 Vgl. auch ebd., III, S. 13, 15.
14 Ebd., III, S. 17: »Es gilt also festzuhalten, daß man die Men-
schen entweder verwöhnen oder vernichten muß; denn für leichte
Demütigungen nehmen sie Rache, für schwere können sie dies nicht
tun; also muß der Schaden, den man anderen zufügt, so groß sein,
daß man keine Rache zu fürchten braucht.«
15 Ebd., V, S. 39.
16 Ebd., XVII, S. 131.
17 Ebd., IX, S. 77, 79.
18 Vgl. Thomas Morus, Utopia, übers. von Gerhard Ritter,
Darmstadt 1973, S. 111: »Wenn ich daher alle unsere Staaten, die
Anmerkung zu Machiavelli 553

heute irgendwo in Blüte stehen, im Geiste betrachte, und darüber


nachsinne, so stoße ich auf nichts anderes, so wahr mir Gott helfe,
als auf eine Art Verschwörung der Reichen, die den Namen und
Rechtstitel des Staates mißbrauchen, um für ihren eigenen Vorteil zu
sorgen.«
19 Machiavelli, Il Principe. Der Fürst, a. a. O., XXIII, S. 185.
20 Ebd., X, S. 87.
21 Ebd., XV, S. 119: »Viele haben sich Republiken und Für-
stentümer vorgestellt, die nie jemand gesehen oder tatsächlich ge-
kannt hat; denn es liegt eine so große Entfernung zwischen dem
Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, daß derjenige,
welcher das, was geschieht, unbeachtet läßt zugunsten dessen, was
geschehen sollte, dadurch eher seinen Untergang als seine Erhal-
tung betreibt; denn ein Mensch, der sich in jeder Hinsicht zum
Guten bekennen will, muß zugrunde gehen inmitten von so viel
anderen, die nicht gut sind. Daher muß ein Fürst, wenn er sich be-
haupten will, die Fähigkeit erlernen, nicht gut zu sein, und diese
anwenden oder nicht anwenden, je nach dem Gebot der Notwendig-
keit.«
22 Ebd., XV, S. 127 ff.
23 Ebd., Widmung, S. 7.
24 Ebd., XVIII, S. 139 ff.
25 Vgl. ebd., XVIII, S. 139.
26 Vgl. ebd.
27 Ebd., VII, S. 51.
28 Ebd., XXV, S. 193.
29 Vgl. Augustin Renaudet, Machiavel. Étude d’histoire des doc-
trines politiques, Paris 1942, S. 132 f.
30 Machiavelli, Il Principe. Der Fürst, a. a. O., XXV, S. 193.
31 Ebd., XXV, S. 195: »Diese beruht meiner Meinung nach zu-
nächst auf den vorher ausführlich erörterten Gründen, daß nämlich
ein Fürst, der sich ganz auf das Glück verläßt, untergeht, sobald die-
ses wechselt; ferner glaube ich, daß der Glück hat, der seine Hand-
lungsweise den Zeitumständen anpaßt, und ebenso jener ins Unglück
gerät, dessen Handlungsweise nicht den Zeitumständen entspricht.
[…] Davon hängt auch der Wechsel des Erfolgs ab; wenn nämlich
554 Anmerkungen des Herausgebers

ein Fürst mit Besonnenheit und Geduld verfährt und die Zeit wie
die Umstände sich so gestalten, daß seine Methode geeignet ist, so
wird er Erfolg haben; wenn aber die Zeiten und die Umstände sich
ändern, so geht er unter, da er seine Handlungsweise nicht geändert
hat.«
32 Ebd., XXV, S. 199.
33 Ebd., XXVI, S. 203.
34 Renaudet, Machiavel, a. a. O., S. 231. Es handelt sich um eine
Anmerkung in Fußnote 26.
35 Vgl. hier und die folgenden Zitate entsprechend in: C. L. R. Ja-
mes, Die schwarzen Jakobiner. Toussaint L’Ouverture und die Unab-
hängigkeitsrevolution in Haiti, übers. v. Günter Löffler, Köln 1984.
36 Renaudet, Machiavel, a. a. O., S. 70 f.
37 Ebd., S. 73.

Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge


(S. 333– 360)

1 Der Vortrag wurde 1951 gehalten, er erschien zuerst 1952 in


dem Sammelband La connaissance de l’homme au XXe siècle, Neuchâ-
tel 1952, S. 51–75; die anschließende Diskussion ist wieder abgedruckt
in Merleau-Ponty, Parcours deux, 2000, S. 321–376.
2 In der Erstpublikation folgt der Satz: »C’est ce que nous voudri-
ons faire voir en examinant notre sentiment du corps et de l’individu,
notre sentiment du langage et notre expérience du rapport social et
historique.«
3 Vgl. zum folgenden auch die Vorlesungen, die Merleau-Ponty
von 1949 bis 1952 an der Sorbonne zur Kinderpsychologie gehalten
hat; besonders die Vorlesung aus den Jahren 1950/51 zu den Bezie-
hungen des Kindes zum Anderen, KdV, S. 303 ff., bes. S. 336 ff.
4 Vgl. zum ›Sinn‹ der psychischen Phänomene u. a. Freuds Erar-
beitung dieses Befunds in: Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einfüh-
rung in die Psychoanalyse, Studienausgabe, Bd. I, hrsg. von Alexander
Mitscherlich u. a., Frankfurt/M. 2000, S. 34–445, bes. S. 59, 63 ff., u. ö.
5 Sigmund Freud, Essais de psychanalyse. I. Au-delà du principe
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge 555

du plaisir. II. Psychologie collective et analyse du moi. III. Le moi


et le soi. IV. Considérations actuelles sur la guerre et sur la mort. V.
Contribution à l’histoire du mouvement psychanalytique, trad. de
S. Jankélevitch, Paris 1927.
6 Paul Valéry, Mauvaises pensées, in: ders., Œuvres II, établie et
annotée par Jean Hytier, Paris 1960, S. 783–909, hier: S. 895 f.
7 Paul Valéry, Tel Quel, in: ders., Œuvres II, a. a. O., S. 469–781,
hier: S. 491 f.; vgl. dt.: Paul Valéry, Windstriche. Aufzeichnungen und
Aphorismen, übers. von Bernhard Böschenstein, Hans Staub, Peter
Szondi, Frankfurt/M. 1995, S. 112.
8 André Malraux, La condition humaine, Paris 1946, S. 67 f.; dt.
Conditio Humana, übers. von Ferdinand Hardekopf, Zürich 1948,
S. 55 f.
9 Auch in dem hier abgedruckten Aufsatz Das indirekte Sprechen
und die Stimmen des Schweigens kommt Merleau-Ponty darauf zu
sprechen; als Fundort nennt er Malraux, der in Le musée imaginaire
ebenfalls diesen Topos anführt; dt.: André Malraux, Psychologie der
Kunst, Bd. 1: Das imaginäre Museum, übers. v. Jan Lauts, Hamburg
1957, S. 41.
10 André Breton, Le message automatitque (1933), in: ders., Point
du jour, nouvelle édition revue et corrigée, Paris 1970, S. 172–198.
11 André Breton, Légitime défense (1926), in: ders., Point du jour,
a. a. O., S. 32–54, hier: S. 46.
12 Vgl. Jean-Paul Sartre, L’homme et les choses (1944), in: ders.,
Situations I, Paris 1947, S. 226–270. Sartre setzt sich hier u. a. mit
dem Begriff der ›épaisseur semantique‹ auseinander, wie er von Fran-
cis Ponge gebraucht wird, vgl. Francis Ponge, Im Namen der Dinge,
Frankfurt/M. 1973.
13 Zu Merleau-Pontys ausgiebiger und detaillierter Auseinander-
setzung mit Malrauxs Psychologie de l’art vgl. den in dem vorliegen-
den Band abgedruckten Artikel Die indirekte Sprache und die Stim-
men des Schweigens, Merleau-Ponty bezieht sich auf: André Malraux,
Psychologie de l’art, Bd. 1: Le musée imaginaire, Bd. 2: La création ar-
tistique, Bd. 3: La monnaie de l’absolu, Genf 1947, 1948, 1950. Die er-
sten beiden Bände dieser Ausgabe sind auf deutsch erschienen: André
Malraux, Psychologie der Kunst, Bd. 1: Das imaginäre Museum, Bd. 2:
556 Anmerkungen des Herausgebers

Die künstlerische Gestaltung, übers. v. Jan Lauts, Hamburg 1957,


1958.
14 Vgl. hierzu besonders das abschließende Kapitel Du style de
Stendhal in Jean Prévost, La création chez Stendhal. Essai sur le métier
d’écrire et la psychologie de l’écrivain, préface de Henri Martineau,
Paris 1951, S. 483–506.
15 Jean Paulhan, Les fleurs de Tarbes ou la terreur dans les lettres,
Paris 1941, S. 129; Merleau-Ponty kommt auf dieses Zitat auch in:
Prosa, S. 36, zu sprechen; zur weiteren Auseinandersetzung mit Paul-
han vgl. ebd., S. 133 ff.
16 In der Erstpublikation folgen die Sätze: »Je sens vivement à
quel point le peu que je vais en dire est inégal à ce sujet. On ne peut
cependant éviter d’en parler: comment ne pas relier les remarques
un peu abstraites qui precedent à ce ton fundamental que prennent,
même chez les moins politiques d’entre nous, nos rapports vécus avec
l’histoire et la politique?«
17 Vgl. hierzu die Ausführungen Merleau-Pontys in den Abenteu-
ern der Dialektik hinsichtlich des geschichtlichen Prozesses als einer
fortschreitenden Eliminierung von ›non-sens‹ und nicht als dem Be-
folgen eines fixierten Sinnes; AdD, S. 50.
18 Paul Valéry, Mon Faust, in: ders., Œuvres II, a. a. O., S. 276–403,
hier: S. 354.

gelegentliche äusserungen

Die paranoische Politik


(S. 363– 384)

1 Zuerst erschienen unter dem Titel Communisme et anti-


communisme in: Les Temps Modernes 3/34 (1948–1949), S. 175-
188.
2 Der Artikel findet sich in der New York Times vom 10.
März 1948, S. 26. Die von der Redaktion gekürzten Textstellen
sind durch { } kenntlich gemacht.
Gelegentliche Äußerungen 557

Marxismus und Aberglaube


(S. 385–387)

1 Zuerst erschienen unter dem Titel Georges Lukács et l’autocritique.


Commentaire, in: Les Temps Modernes 5/50 (1949–1950), S. 1119–1121.

Die UdSSR und die Lager


(S. 388–403)

1 Zuerst erschienen unter dem Titel Les jours de notre vie in: Les
Temps Modernes 5/51 (1949–1950) zusammen mit Jean-Paul Sartre,
S. 1153–1168; der Beitrag reagiert auf den von Pierre Daix veröffent-
lichten Artikel Pourquoi D. Rousset a-t-il inventé les camps soviéti-
ques?
2 Vgl. VIII. Gesamtrussischer Sowjetkongreß, 22.–29. Dezember
1920, in: W. I. Lenin, Werke, Bd. 31, April – Dezember 1920, Berlin
4
1970, S. 457–531, hier S. 513: »Kommunismus – das ist Sowjetmacht
plus Elektrifizierung des ganzen Landes.«
3 Sidney Hook, Report on the International Day against Dictator-
ship and War, in: Partisan Review, Juli 1949, XVI, no. 7, S. 722–732.

Die Verträge von Jalta


(S. 404–409)

1 Zuerst erschienen unter dem Titel Le marxisme est-il mort à


Yalta? in: L’Express Nr. 98, 9. April 1955, S. 3-4.
2 Karl Marx, Enthüllungen zur Geschichte der Diplomatie im 18.
Jahrhundert, hrsg. und eingeleitet von Karl August Wittfogel, Frank-
furt/M. 1981.
3 Leo Trotzki, Über Lenin. Material für einen Biographen, über-
setzt v. G. Blumenthal, Frankfurt/M. 1964, S. 67.
4 Leo Trotzki, Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Berlin
1930, S. 375.
558 Anmerkungen des Herausgebers

Die Zukunft der Revolution (S. 410– 431)

1 Zuerst erschienen in: L’Express Nr. 118, 27. August 1955, S. 7–10.
2 Simone de Beauvoir, La pensée de droite, aujourd’hui, in: Les
Temps Modernes, 10, nos. 112–113, numéro spécial ›La Gauche‹,
1955, S. 1539–1575, hier S. 1539.
3 Benno Sarel, La classe ouvrière en Allemagne orientale. Essai
de chronique (1945–1958), (Les Editions Ouvrières), Paris 1958; dt.:
Benno Sarel, Arbeiter gegen den ›Kommunismus‹ – Zur Geschichte
des proletarischen Widerstandes in der DDR (1945–1958), (Schrif-
ten zum Klassenkampf 43), übers. v. Heidrun Leschke und Peter Liebl,
München 1975.
4 Im Original betitelt mit La ›médiation‹ révolutionnaire.
5 Im Original betitelt mit La médiation avorte.
6 Jean-Paul Sartre, Huis Clos. Pièce en un acte, in: ders., Théa-
tre. Les Mouches. Huis Clos, Paris 1947, S. 111–168, hier: S. 168; dt. in
Jean-Paul Sartre, Bei geschlossenen Türen. Tote ohne Begräbnis. Die
ehrbare Dirne. Drei Dramen, Hamburg 1949, S. 7–43, hier: S. 43.
7 Im Original betitelt Conclusion: Un communisme ›détendu‹?

Über die Entstalinisierung


(S. 432–455)

1 Zuerst erschienen unter dem Titel Réforme ou maladie sénile du


communisme? in: L’Express no. 283, 23. November 1956, S. 13–17.
2 Marcel Servin, Les Termites et leurs alliés, in: L’Humanité vom
12. 11. 1956.
3 Im März 1921 von Lenin in Sowjetrussland eingeführtes Wirt-
schaftsprogramm (Nowaja Ekonomitschetskaja Politika, »Neue Öko-
nomische Politik«), um die katastrophale Ernährungslage der Bevöl-
kerung am Ende des Bürgerkrieges zu verbessern. Von Stalin 1927/28
beendet, der im Rahmen einer ›Revolution von Oben‹ die Industrialisie-
rung der UdSSR und die Kollektivierung der Landwirtschaft forcierte.
4 Pierre Hervé, La Révolution et les Fétiches, Paris 1956.
5 Vgl. ebd. S. 129.
Über die Erotik 559

6 Vgl. Pierre Hervé, Lettre à Sartre et à quelques autres par la


même occasion, Paris 1956.

Über die Erotik (S.456–458)

1 Erstpublikation unter dem Titel Le libertin est-il un philosophe?


in: L’Express no. 73, 16. Oktober 1954, S. 3–4; Merleau-Ponty antwor-
tet mit diesem Artikel auf eine Frage von Claude Escaille, die dem
vorliegenden Text vorangeht: »Dans son dernier numéro L’Express
fait un cours, peut-être un peu pompeux mais intéressant, sur le li-
bertinage. Il en résulterait que le libertin est un homme qui cherche
à s’affranchir des interdits moraux et religieux de son époque, pour
devenir celui ›qui agit et non pas qui est agi‹. Successivement étiqueté
comme libre-penseur, révolutionnaire, aventurier, ne possède-t-il pas
toutes les qualités d’autonomie et de courage intellectuel du philoso-
phe?« Weiter heißt es im Original: »M. Merleau-Ponty répond: ›L’ar-
ticle de L’Express décrivait un des fétiches du monde littéraire, et il
ne le faisait pas sans réserves, il me semble. Au risque de choquer, je
voudrais aggraver ces réserves.‹«
2 Merleau-Ponty verweist hier auf Protagonisten in Pierre Am-
broise Francois Choderlos de Laclos, Les liaisons dangereuses, ou
Lettres recueilles dans un société, et publiées pour l’instruction de
quelques autres, Amsterdam 1782; dt.: Pierre Ambroise Francois Cho-
derlos de Laclos, Die Gefährlichen Liebschaften, übers. v. August Brü-
cher, Berlin 1914, sowie Pierre Ambroise Francois Choderlos de Laclos,
Gefährliche Freundschaften, übers. v. Heinrich Mann, Berlin 1922.
3 Der Nebensatz »vers Satan que s’il y a une postulation« findet
sich nicht in der Erstpublikation, Zusatz in Signes.

Über die Lokalnachrichten


(S. 459–463)

1 Zuerst erschienen unter dem Titel Le goût pour les faits divers
est-il malsain? in: L’Express no. 82, 18. Dezember 1954, S. 3–4. Vor-
angestellt ist folgende Frage von Françoise Longemeau: »Ce qu’on
560 Anmerkungen des Herausgebers

appelle le ›fait divers‹ est, de l’avis de tout de monde, un des éléments


de vente les plus sûrs d’un grand nombre de journaux. On l’a bien
vu à l’occasion du procès Dominici. De graves censeurs considèrent
que ces journaux flattent le goût malsain des lecteurs. Mais je me suis
demandé récemment en lisant certains romans contemporains, et
même en relisant Balzac, si le goût du fait divers n’était pas le même
que le goût du roman et si, grâce à l’un comme à l’autre, les lecteurs
ne cherchent pas tout simplement dans la vie d’autrui le reflet et
l’élargissement de la leur. Qu’en pensez-vous?«
2 Stendhal, Voyage dans le midi de la France, Paris 1930, S. 281 f.
3 Ebd., S. 283 f.
4 Ebd., S. 284 f.
5 Vgl. Stendhal, Le rouge et le noir. Chronique du XIXe siè-
cle, Paris 1831; dt.: Stendhal, Rot und Schwarz. Chronik aus dem
19. Jahrhundert, hrsg. und neu übersetzt von Elisabeth Edl, München
2004.

Über Claudel (S. 464–470)

1 Erstpublikation unter dem Titel Claudel était-il un genie? in:


L’Express no. 93, 5. März 1955, S. 3–4; Merleau-Ponty anwortet mit
diesem Artikel auf folgende, von Philippe Lemasson gestellte Frage:
»Claudel était, à mon avis, un grand homme, un grand dramaturge
certainement. Etait-il un génie? Et qu’est-ce que le génie en 1955? Y
a-t-il, parmi nos contemporains, des hommes qui méritent cette éti-
quette? Et si Claudel était un génie par quoi et pourquoi?«
2 André Gide, Journal 1889–1939, Paris 1951, Saint-Clair am 2.
November 1930, hier S. 1014.
3 Vgl. Paul Claudel, Accompagnements, Essais, Paris 1949.
4 Paul Claudel, Feuilles de saints, Paris 1925, S. 198.
5 Paul Claudel, Le Soulier de Satin, Paris 1925; dt.: Paul Claudel,
Der seidene Schuh oder Das Schlimmste trifft nicht immer zu, übers.
v. Hans Urs von Balthasar, Salzburg 1939.
6 Vgl. Paul Claudel, L’Otage, drame, Paris 1911; dt.: Paul Claudel,
Der Bürge, ein Drama in drei Akten, übers. v. Albrecht Joseph, Hel-
lerau 1926.
Über die Enthaltung 561

7 Vgl. Paul Claudel, L’annonce faire à Marie, mystère en quatre


actes et un prologue, Paris 1912; dt.: Paul Claudel, Verkündigung, ein
geistliches Stück in 4 Ereignissen und einem Vorspiel, übers. v. Jakob
Hegner, Berlin 1912.
8 Vgl. Claudel, L’Otage, a. a. O.; dt.: Paul Claudel, Der Bürge,
a. a. O.
9 Ebd.
10 Vgl. Paul Claudel, Art poétique, Paris 1900; dt.: Paul Claudel,
Ars poetica mundi, übers. und mit Vorrede v. Robert Grosche, Hel-
lerau 1929.

Über die Enthaltung (S. 471–476)

1 Zuerst erschienen unter dem Titel La majorité a-t-elle raison? in:


L’Express no. 11 1, 9. Juli 1955, S. 12. Bei diesem Text handelt es sich
um eine Erwiderung Merleau-Pontys auf die Aussage Michel Labor-
des: »André Gide ne votait pas car la voix de sa concierge avait autant
d’importance que la sienne, ce qu’il n’admettait pas. Si cette ques-
tion lui parait digne d’intéret, j’aimerais que M. Merleau-Ponty fasse
connaître aux lecteurs de ›L’Express‹ les réflexions que l’abstention
de Gide suscite en lui? Il y a là, à la fois, un problème general et
d’actualité.« Merleau-Ponty leitet den Artikel ein: »Je ne connais pas
le passage de Gide auquel M. Laborde pense.«

Über Indochina (S. 477–484)

1 Zuerst erschienen unter dem Titel Indochine S.O.S. in: Les Temps
Modernes, 2, no. 18, 1946–1947, S. 1039–1052. Der von Merleau-Ponty
in Signes aufgenommene Text gibt die Seiten 1039 bis 1044 wieder,
nicht aufgenommen wurden die Seiten 1045 bis 1052.
2 Vgl. Et Borreaux, et victimes… in: Les Temps Modernes, 2/1, no.
15, 1946, S. 23–24.
3 An dieser Stelle im Original aus den Temps Modernes: »[…] par
l’article de Claude Lefort […]«.
562 Anmerkungen des Herausgebers

Über Madagaskar (S. 485–497)

1 Zuerst erschienen unter dem Titel La France en Afrique in: L’Ex-


press no. 375, 21. August 1958, S. 12–13. Folgender vorangehender
Absatz findet sich im Original: »Après un séjour à Madagascar, M.
Maurice Merleau-Ponty précise sa conception du rôle qu’a joué et
que doit encore jouer la France en Afrique. Voici sur Madagascar, sur
l’Afrique Noire, sur l’Algérie – et sur France – en suivant l’itinéraire
du voyage politique qu’entame le général de Gaulle cette semaine, les
réflexions d’un des premiers philosophes français. Le texte que nous
publions ici cette semaine, pour des raisons évidentes d’actualité, fait
partie d’un entretien général dont nous publierons la suite (sur : ›La
situation de la philosophie aujourd’hui‹) dans un prochain numéro
de ›L’Express‹.«
2 Vgl. Georges Balandier, Le »Tiers Monde«. Sous-développement
et développement, Presses Universitaires de France 1956, S. 50.
3 Vgl. Germaine Tillion, L’Algérie en 1957, Paris 1957, S. 16.
4 Im Original findet sich an dieser Stelle folgender Satz: »Au-
jourd’hui, à Madagascar, en régime d’autonomie interne, un jour-
naliste malgache laissait entendre devant moi que l’administration
allumait, à dessein des feux de brousse (qui sont interdits) pour pou-
voir faire condamner de prétendus coupables.« Er wird später, vgl.
folgende Anmerkung, eingefügt.
5 Einfügung des vorangehenden Satzes; vgl. vorangehende An-
merkung.

Über den 13. Mai 1958 (S. 498–503)

1 Zuerst erschienen unter dem Titel Du moindre mal à l’union sac-


rée in: Le Monde, 5. Juni 1958, S. 4.

Morgen … (S. 504–518)

1 Zuerst erschienen unter dem Titel La démocratie peut-elle renaî-


tre en France? in: L’Express no. 368, 3. Juli 1958, S. 15–17.
Morgen … 563

2 Pierre Debray, La troisième guerre mondiale est commencée,


Paris 1958.
3 Ebd., S. 96.
4 Ebd., S. 186, 187, 208.
5 Ebd., S. 170f.
6 Ebd., S. 186.
7 Ebd., S. 189, 179, 185.
8 Ebd., S. 208.
9 Ebd., S. 213, 216, 218.
PER S ONE NV E R Z E I CH NI S

Kursive Seitenzahlen verweisen auf Fußnoten.

Alain 225 f., 515 Chateaubriand, François-René de


Alquié, Ferdinand 218 27
Aristoteles 183, 233 Chruschtschow, Nikita
Aron, Raymond 82, Sergejewitsch 4, 7, 433–438,
Augustinus 82, 206, 236, 469 448, 451
Auriol, Vincent 500 Churchill, Winston 405 f.
Clarkson, Thomas 325
Bachelard, Gaston 78 Claudel, Paul 97, 348, 463–470
Bacon, Francis 141 Comte, Auguste 281
Ballandier, Georges 491 f. Coty, René 498
Balzac, Honoré de 106 Croce, Benedetto 225–227
Baudelaire, Charles 346 Cuisinier, Jaenne 478
Beaufret, Jean 227
Beauvoir, Simone de 115, 410 Daix, Pierre 389, 391, 403
Bergson, Henri 38, 225–227, 265, Da Vinci, Leonardo 87 f., 356
266–278, 285 f., 287 Debray, Pierre 505–507
Berthelot, Philippe 466 Defferre, Gaston 496
Biemel, Marly 259 Deixonne, Maurice 498
Biran, Maine de 222 Delacroix, Eugène 81, 335
Blanchot, Maurice 346 Descartes, René 13, 28, 113 f.,
Blondel, Maurice 203, 225 f., 182–184, 190, 208, 215, 217 f.,
269 221, 230, 283, 291, 295, 298
Bohr, Niels 175 Dostojewski, Fjodor Michai-
Borgia, Cesare 318, 321 lowitsch 464
Born, Max 281 f. Dreyfus, Alfred 2
Breda, H.L. Van 153 Dulles, John Foster 472
Bréhier, Émile 203, 205 Duncker, Hermann Ludwig
Breton, André 246 f. Rudolph 418
Brunelleschi, Filippo 56 Durkheim, Émil 164
Brunschvicg, Léon 203, 218, 225,
292, 298 Eastman 368
Bulganin, Nikolai Alexandro- Einstein, Albert 281–286, 288
witsch 410, 434 Engels, Friedrich 385, 404
Burnham, James 368, 371, 384 Euklid 170
Evans-Pritchard, Edward Evan 163
Césaire, Aimé 490
Cézanne, Paul 70 Faulkner, William Cuthbert 335
566 Personenverzeichnis

Fink, Eugen 256 225–227, 233–239, 241–243,


Francastel, Pierre 55 246 f., 250–253, 255, 256, 257–
Frazer, James 172 264, 335
Freud, Sigmund 4, 23, 87, 174,
335, 337–342, 399 Infeld, Leopold 282
Ingres, Jean-Auguste-
Galilei, Galileo 141, 144, 171 Dominique 81, 335
Gaulles, Charles de 163, 165 f.,
370, 372, 498, 500–503, 508–511, James, Cyril Lionel Robert 325
517 Joubert, Joseph 27
Gide, André 334 f., 342 f., 365 f., Jukow, Anton 410
471, 474 f.
Gilson, Étienne Henry 203 Kahan, Théo 281 f.
Giraudoux, Jean Hyppolyte 359 Kant, Immanuel 125, 136, 183,
Goethe, Johann Wolfgang von 219, 223, 251, 265
386 f. Kerensky, Alexander
Gomulka, Wladyslaw 434, 445– Fjodorowitsch 373
447, 450, 453 Kibaltschitsch, Nikolai
Grégoire, Henri ›Abbé‹ 325 Iwanowitsch 374
Grotewohl, Otto 425 Kierkegaard, Søren 222
Gueroult, Martial 183 Klee, Paul 70
Guillaume, Gustave 120 Koestler, Arthur 384, 395
Krawtschenko, Jurij
Hartmann, Nikolaus von 227 Fedorowitsch 397, 403
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich Kuo-Hsiang 193 f.
7, 56, 89, 98–101, 113 f., 157, 177,
182–184, 186, 189, 195–200, 215, La Boétie, Étienne de 305
227, 236, 516 La Bruyère, Jean de 64
Heidegger, Martin 7, 37, 137, 223, Laclos, Pierre-Ambroise-François
228, 234 f. Choderlos de 457
Heraklit 7, 112 Lacoste, Robert 498, 500, 507
Herrnstadt, Rudolf 425 Lacroix, Paul 326
Hervé, Pierre 449, 452 f. Lao-Tse 193
Hitler, Adolf 44, 375, 377, 379 f. Lefort, Claude 434, 441
Hl. Anna 87 Leibniz, Gottfried Wilhelm 217,
Hlasko, Marek 486 230 f., 283
Ho-Chi-Minh 482 Lenin, alias Wladimir Iljitsch
Homer 298 Uljanow 7, 40, 373, 392, 394,
Hook, Sydney 368, 398 402, 407, 408, 448–451, 457
Hsün-Tse 193 Lévi-Strauss, Claude 163, 166,
Humboldt, Wilhelm von 123 177 f., 194
Husserl, Edmund 21, 80 f., 117, Lévy-Bruhl, Lucien 153, 164
119, 129, 131, 136, 139, 144–147, Ludwig XIV 283
149–154, 157–159, 198–201, Lukács, Georg 7, 385–387, 432
Personenverzeichnis 567

Machiavelli, Niccolò 311 f., 314, 221, 223, 291–293, 295 f., 298,
316, 318, 320–322, 324, 326–331 300, 302 f., 305 f., 308–310
Malebranche, Nicolas 203, 206,
209–211, 215, 217 Nagy, Imre 432, 514
Malenkow, Georgi Maximilia- Napoléon Bonaparte 326, 330, 379
nowitsch 410, 434 Nikolaus von Kues 206
Mallarmé, Stéphane 60, 114, Nizan, Paul-Yves 32–49
345
Mallet, Serge 15 f. Ockham, Wilhelm von 206
Malraux, André 64–66, 69–73, Ödipus 99
76 f., 79, 81, 83, 87, 89, 104, 148,
344 f., 348, 363–372, 384 Parmenides 182, 224
Mandelbaum, Kurt 494 Pascal, Blaise 111, 203, 206, 221,
Maritain, Jacques 40, 203 292, 298, 300
Marivaux, Pierre Carlet de 30 Paulhan, Jean 24, 349
Marquis de Sade, Donatien Péguy, Charles Pierre 83, 265,
Alphonse François 342, 273 f., 278, 390
457 f. Péret, Benjamin 369
Marx, Karl 7, 9, 12–16, 106, 186, Pflimlin, Pierre Eugène Jean 502,
189, 329 f., 385, 392, 394, 399, 504, 516
404, 406, 411 f., 449 f., 472, 488 Picasso, Pablo Ruiz 6
Maspéro, François 32 Platon 113, 183
Masson-Oursel, Paul 192 Pleven, René 517
Matisse, Henri 62 Plutarch 306
Maulnier, Thierry 384 Ponge, Francis 104, 348
Mauriac, François 359, 477–483 Pos, Hendrik J. 118, 120, 148, 150
Maurras, Charles 1 Poussin, Nicolas 61
Mauss, Marcel 163–166 Prévost, Jean 348
Mencius 193 Proust, Marcel 334 f., 342 f.
Mendelejew, Dimitrij
Iwanowitsch 169 Rajk, László 386
Mendès-France, Pierre 497 f., 502, Ramadier, Paul 513
516 f. Ramdane, Abane 506
Mérimée, Prosper 462 Renaudet, Augustin 324, 327
Merleau-Ponty, Maurice 36 Renoir, Pierre-Auguste 76, 86
Mikojan, Anastas Richelieu 457
Iwanowitsch 448 f. Ricœur, Paul 93
Mill, John Stewart 141 Rimbaud, Arthur 345
Mollet, Guy 498–501, 512 f. Rivière, Jacques 465 f.
Molotow, Wjatscheslaw Robespierre, Maximilien Marie
Michailowitsch 472 Isidore de 447
Mornard, Jacques 378 Romm, Vladimir 367
Monnier, Adrienne 464 Roosevelt, Theodore 405 f.
Montaigne, Michel Eyquem de 30, Rosmer, Alfred 408
568 Personenverzeichnis

Rousset, David 389, 391, 400–403 Tito, Josip Broz 428, 434
Rubaschow, Schneur Salman 370 Togliatti, Palmiro 434, 442–444,
Sacher-Masoch, Leopold von 458 446, 449, 453
Sarel, Benno 411, 413 f., 417, 419, Tolstoi, Leon 386 f.
421, 423, 425, 429 Toussaint-Louverture, François-
Sartre, Jean-Paul 7, 23, 31–39, Dominique 326, 330
41–47, 49 f., 53, 75, 78, 86, 137, Trinquier, Roger 504
189, 224, 226, 348, 451, 452 Trotzki, Leo Lew
Saussure, Ferdinand de 53–55, 59, Dawidowitsch 364–369,
112, 120, 123, 175 372–379, 381–384, 392, 407 f.,
Sauvy, Alfred 427, 493 450, 457, 505
Schachtman, Max 368 Trotzki, Natalia Sedowa 364, 366
Schelling, Friedrich Wilhelm Troubetzkoy, Nikolai
Joseph 260 Sergejewitsch 176
Serge Kibaltschisch, Victor 363 f., Truman, Harry S. 370
366, 386, 369, 374 f. Tschang Kai-Shek 406
Sertillanges, Antonin-Gilbert 266 Tschuang-Tse 193 f.
Sforza, Francesco 321 Tschu-Hi 194
Shakespeare, William 464
Shaw, Bernard 283 Ulbricht, Walter Ernst Paul 414,
Sirius 502 425
Sokrates 298
Sophokles 36 Valéry, Paul Ambroise 19, 25, 83,
Sorel, Georges 265 262, 334 f., 343 f., 347 f., 356 f.
Spencer, Herbert 267 Vallentin, Antonina 283
Spinoza, Baruch 41, 215, 217, Van Gogh, Vincent Willem 20,
230 f., 282 72, 78
Stalin, Joseph 7, 367 f., 372–374, Velan, Yves 15
379 f., 382, 405 f., 408 f., 440–445, Vermeer, Jan 83 f.
451 Vettori, Francesco 327
Stark, Alexander 417 Viète, François 283
Starobinski, Jean 30 Vuillemin, Jules 87
Stendhal 28, 71, 111, 342, 348,
459, 461, 470, Wahl, Jean 220
Sulzberger, Cyrus L. 363–365, Wallon, Henri 67
368, 372 Warnke, Herbert 418
Suslow, Michail Andrejewitsch Weber, Max 407
434, 437 f., 441, 449 Wilberforce, William 325
Suwarin, Boris 368 Wischinsky, Andrej 375
Wurmser, André 391
Thomas Morus 316
Thomas von Aquin 206 Yeou-Lan, Fong 193
Thorez, Maurice 453
Tillion, Germaine 493 Zenon 53, 182

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