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Mondstrahlen

des Mahāmudrā

von
Dakpo Tashi Namgyal

Kurs 1

Abschrift der Unterweisungen von


Lama Tilmann (Lhündrup)
Ekayāna-Institut, Lenzkirch

15. – 23. April 2017


Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.2

Inhalt
Einleitung.................................................................................................................................... 4
Einführung in den Text ............................................................................................................... 4
Preisung ...................................................................................................................................... 6
Die Gründe für das Verfassen des Textes ................................................................................... 8
Verpflichtung des Autors ............................................................................................................ 9
Die Entscheidung, diesen Text zu schreiben .............................................................................. 9
Meditation: Alles vollzieht sich von selbst ............................................................ 10
Meditation: Wahrnehmen von Unbeständigkeit .................................................... 11
Meditation: Festhalten ........................................................................................... 11
Alle Phänomene beruhen auf dem Geist .................................................................................. 12
Alle Welten sind Geist..................................................................................................... 13
Alle Wesen existieren innerhalb des Geistes ................................................................... 13
Alle Dinge sind geistige Abbilder ................................................................................... 14
Alle Dharmas sind Erleben im eigenen Geist ................................................................. 15
Die grundlegende Trennung von Subjekt und Objekt .............................................................. 15
Der Einfluss der Gewohnheitsmuster ....................................................................................... 16
Der Eindruck von Stabilität ...................................................................................................... 17
Die Einheit von Samsara und Nirvana erkennen ...................................................................... 17
Der Geist als Quelle von Samsara und Nirvana ....................................................................... 18
Fragen .................................................................................................................... 20
Kurze Zusammenfassung der bisherigen Erklärungen ............................................................. 22
Die Nachteile, nicht über den Geist zu meditieren ................................................................... 23
Ohne Meditation ist der Dharma wirkungslos ................................................................ 23
Gefangen in den verstrickenden Emotionen ................................................................... 24
Ohne meditative Versenkung keine Weisheit .................................................................. 25
Fragen .................................................................................................................... 26
Meditation .............................................................................................................. 27
Die spiegelgleiche Qualität des Geistes.................................................................................... 27
Kurze Erklärung zur Meditation über die Natur des Geistes.................................................... 27
Der Nutzen der Meditation der Natur des Geistes .................................................................... 28
Zum Umgang mit den Sinneserfahrungen ...................................................................... 29
Drei Formen des Erwachens ........................................................................................... 32
Fragen .................................................................................................................... 33
Allgemeine Meditationsunterweisungen zu Geistesruhe und Intuitiver Einsicht .................... 34
Zur Klärung der Begriffe................................................................................................. 34
Meditation mit Bezugspunkt ........................................................................................... 36
Meditation ohne Bezugspunkt......................................................................................... 36
Einsichtsmeditation ......................................................................................................... 37
Vertrauen als essentielle Qualität auf dem Weg .............................................................. 38
Das Zusammenwirken von Geistesruhe und Einsicht ..................................................... 39
Geistesruhe und Einsicht .......................................................................................................... 40
Die Ursachen für Geistesruhe und Einsicht .................................................................... 40
Heilsames Verhalten mit Körper, Rede und Geist und Reine Sicht ....................... 41
Weitere Ursachen ................................................................................................... 42
Tendrel .......................................................................................................... 42
Ansammeln von Verdienst ........................................................................... 42
Auflösen von Schleiern ................................................................................ 42
Sechs günstige Bedingungen für Geistesruhe ................................................................. 43
Drei Faktoren, die Einsicht unterstützen ......................................................................... 43
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 3

Bedingungen für einen günstigen Ort der Praxis ............................................................ 44


Aktivitäten aufgeben ....................................................................................................... 45
Heilsames Verhalten pflegen ........................................................................................... 47
Gedanken der Anhaftung loslassen ................................................................................. 48
Das Hören von Unterweisungen ..................................................................................... 49
Korrektes Kontemplieren ................................................................................................ 50
Fragen .................................................................................................................... 50
Die Schleier der Geistesruhe und der Einsicht auflösen ................................................. 52
Die Schleier identifizieren ..................................................................................... 52
Aufgewühlter Geist ................................................................................................ 53
Bedauern ................................................................................................................ 54
Dumpfheit, Trübung und Schlaf ............................................................................ 55
Zweifel ................................................................................................................... 56
Fünf Formen der Ablenkung .................................................................................. 58
Fünf Fehler............................................................................................................. 60
Gegenmittel bei aufkommenden Hindernissen ............................................................... 61
Allgemeine Erklärungen ........................................................................................ 61
Weitere Erläuterungen zum Auflösen der Hindernisse .......................................... 62
Auflösen von Faulheit............................................................................................ 64
Auflösen von Vergesslichkeit ................................................................................ 64
Auflösen von mangelnder oder zu großer Anstrengung ........................................ 65
Die Geschmeidigkeit des Geistes .................................................................................... 65
Auswirkungen der Geschmeidigkeit ...................................................................... 65
Sati - Gewahrsein ............................................................................................................ 67
Den eigenen Geist steuern ............................................................................................... 69
Gleichmut ........................................................................................................................ 70
Meditation .............................................................................................................. 71
Spezifische Methoden um Dumpfheit und Wildheit entgegen zu wirken ....................... 71
Ursachen für Dumpfheit und Wildheit .................................................................. 71
Ursachen für einen aufgewühlten Geist ................................................................. 73
Auflösen von Dumpfheit und Aufgewühltsein ...................................................... 76
Meditation .............................................................................................................. 78
Abschließende Zitate ....................................................................................................... 79
Fragen .................................................................................................................... 81
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.4

Einleitung

Der Anlass zu dieser neuen Serie von Übertragungen zum Text „Mondstrahlen des Mahāmudrā“, ist ein
Wunsch von Gendün Rinpoche, meinem tibetischen Lehrer, der uns in Frankreich unterrichtet hat. Er hat uns
zum Abschluss der beiden Dreijahres-Retreats gesagt: „Eigentlich bräuchtet ihr, um Mahāmudrā richtig zu
verstehen, das Studium dieses Werks von Dakpo Tashi Namgyal aus dem 16. Jahrhundert, „Mondstrahlen
des Mahāmudrā“.“ Darin wird genau erklärt, warum der 9. Karmapa das Mahāmudrā so erklärt, wie ihr es
zum Beispiel aus dem „Ozean des wahren Sinnes“ kennt, und warum in der Kagyü-Linie, die für das
Mahāmudrā berühmt geworden ist, Mahāmudrā genauso gelehrt wird und nicht anders.

Es handelt sich hier um eines der drei großen Meditationsmanuale aus dieser Übertragungslinie.

Das erste habe ich schon erwähnt, das ist „Mahāmudrā – Ozean des wahren Sinnes“, übersetzt von Lama
Henrik Havlat. Das ist das Standardwerk, das ich normalerweise unterrichte.

Das zweite Werk vom 9. Karmapa, „Marig Münsel“ auf Tibetisch, haben Frank und ich übersetzt und ich
habe es jetzt fünf Jahre in Möhra gelehrt: „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“. Dieses
Werk wird uns auch bald gedruckt zur Verfügung stehen.

Es fehlt uns jetzt noch dieses dritte Werk, um das wir uns in den nächsten Jahren kümmern werden. Über-
schlagen werden wir ungefähr sieben Jahre brauchen, zweimal im Jahr einen achttägigen Kurs. Es hängt im-
mer davon ab, wie lange ich mich in bestimmten Bereichen aufhalte.

In Lama Johanns Retreat haben wir diesen Text Wort für Wort, Satz für Satz, durchgearbeitet und dabei eine
große Inspiration erlebt, eine tiefe Bereicherung für die persönliche Meditationspraxis. Es ist mir ein Anlie-
gen, auch der Öffentlichkeit diesen Text zur Verfügung zu stellen – später auch in einer deutschen Überset-
zung.

Jetzt werden wir uns mit diesem Text hier befassen. Traleg Rinpoche, ein tibetischer Meister, der in Austra-
lien gelebt hat, hat diesen Text dort gelehrt und es gibt die englische Mitschrift davon. Traleg Rinpoche hatte
als gebildeter Lehrer dasselbe Bedürfnis, seiner englischsprachigen Zuhörerschaft diesen tiefen Text zur Ver-
fügung zu stellen. Er wird euch als Orientierung dienen, um mitzukommen im Unterricht.

Es gibt auch einen französischen Text: „Rayons de Lune“, sorgfältig übersetzt von einem Schüler von Gen-
dün Rinpoche, Christian Charrier. Damals hat er uns als Grundlage für das Studium gedient, zusammen mit
dem tibetischen Text. An manchen Stellen wird meine Übersetzung vom französischen Text abweichen, weil
wir mit dem Tibetischen noch genauer verglichen haben.

Vom englischen Text werden wir stark abweichen, weil er nur eine mündliche Übersetzung von Traleg Rin-
poche ist. Die hat er frei gesprochen. Sein großer Verdienst ist, dass er schwierige Passagen relativ einfach
darstellt. Das ist wunderbar. Deshalb könnt ihr in dem Text für eure Praxis ausreichende Inspiration erfahren.
Als Übersetzung mangelt es an Präzision. Es werden manchmal halbe oder ganze Sätze übergangen oder zu-
sammengefasst– aber man bekommt eine ausreichende Struktur des Textes.

Ich habe den tibetischen Text vor mir liegen und ich werde mich an diesen tibetischen Text halten, aber ich
möchte genauso vorgehen wie Traleg Rinpoche in Australien. Mit etwas mehr Präzision möchte ich euch die
Inhalte eines jeden Satzes, einer jeden Passage so darstellen, dass ihr einfach nur durch Zuhören folgen
könnt. Ihr braucht also beim Zuhören nicht in den Text zu schauen. Es kann sogar hilfreich sein, das nicht zu
tun, um weniger mit dem Intellekt zuzuhören, sondern mehr mit dem Gefühl, dem Herzen, der Intuition.

Einführung in den Text


Der Text heißt „Mondstrahlen des Mahāmudrā“. Warum Mondstrahlen und nicht Sonnenstrahlen? Weil es
einen anderen Text gibt, der „Sonnenstrahlen des Mahāmudrā“ heißt. Es hat vielleicht auch eine gewisse
Symbolik: das Mondlicht macht die Nacht hell – und es geht hier wie in dem anderen bereits erwähnten Text
darum, die Dunkelheit des mangelnden Verständnisses aufzuhellen.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 5

Der vollständige Titel heißt auf Tibetisch - den hat Lama Gendün auch immer erklärt, damit wir eine kurze
Verbindung zum Originaltext bekommen - Nges don phyag rgya chen po´i sgom rim gsal bar byed pa’i legs
bshad zla ba’i ’od zer. Es geht um das ngedön tschag-gya chenpo, das Mahāmudrā der definitiven oder si-
cheren Bedeutung. Genau wie der Titel des Buches vom 9. Karmapa. Man nennt es oft einfach Mahāmudrā
des wahren Sinnes oder der letztendlichen Bedeutung.

Das heißt, es geht in diesem Text nicht in erster Linie um den stufenweisen Weg, wie man den Weg in Stu-
fen erklärt, sondern um das, was wir das Essenz-Mahāmudrā nennen, das eigentliche Mahāmudrā, in dem es
um eine Praxis geht von Moment zu Moment. Immer im Jetzt. Ohne Stufen. Letzten Endes: keine Stufen.
Was zählt ist nur: jetzt, gewahr oder nicht gewahr. Gendün Rinpoche sagte immer: jetzt - rigpa - Gewahrsein
oder - marigpa - kein Gewahrsein. Das ist der Weg.

Es geht um dieses Mahāmudrā, wo nicht mehr so sehr pädagogische Konzepte benutzt werden wie „mach
erst das, danach kannst du das machen – und dann kommt das“. Dann entsteht die Illusion, man würde sich
einen Weg entlang arbeiten.

Diese Präsentation des Mahāmudrā gibt es auch. Das nennt sich Sūtra-Mahāmudrā. Es ist ein Weg, wo das
Mahāmudrā stufenweise erklärt wird.

Tatsächlich werden wir auch hier erst mal über eine stufenweise Darstellung eingeführt und dann wird der
größte Teil des Buches – also etwa sechs Jahre unseres Studiums – mehr mit dem Essenz-Mahāmudrā zu tun
haben.

Es gibt noch eine dritte Form des Mahāmudrā, das Tantra-Mahāmudrā. Das ist die Verbindung der
Mahāmudrā Praxis mit den Vajrayāna Methoden, also mit den Visualisationen von sich selbst als Buddha,
Buddha Mandalas um uns herum. Wie man hier das Mahāmudrā übt und wie man dadurch zu tiefer Einsicht
kommt.

Dieses Werk, das wir hier vor uns liegen haben, ist also gezielt geschrieben, um dieses Mahāmudrā der ei-
gentlichen Bedeutung zu erläutern, wo nach Möglichkeit mit Begriffen gearbeitet wird, die nicht symbolhaft
sind oder nur zeitweilige Bedeutung haben, sondern die möglichst genau auf die eigentliche Bedeutung hin-
weisen; auf das, was wirklich gemeint ist.

Es handelt sich hier um eine klare, deutliche Erklärung der verschiedenen Stufen der Meditation, der ver-
schiedenen Aspekte der Mahāmudrā Meditation.

Das Mahāmudrā der definitiven Bedeutung schließt nicht aus, dass man darauf hinweist, in welcher Reihen-
folge normalerweise die Erfahrungen entstehen. Die Erfahrungen, wie sie nach und nach entstehen, werden
beschrieben – und es wird auch erklärt, warum sie so entstehen, welche Gründe es gibt für die verschiedenen
Schwierigkeiten in der Meditation und wie wir sie auflösen können.

Die eigentliche Botschaft ist immer die Praxis im Moment, nicht mit einer Ausrichtung auf später und ohne
ein Vergleichen mit dem, was vorher war. Immer im Moment schauen; das, was den Geist am meisten öff-
net.

Das Text hat zwei Teile, die hier ‚zwei Bücher‘ genannt werden.

Im ersten großen Teil wird uns eine Übersicht gegeben über die allgemeinen Grundlagen der Meditation.
Damit werden wir diesen Kurs und auch noch den nächsten verbringen: eine Einführung in die allgemeinen
Grundlagen der Meditation, wie sie auch in anderen Schulen gelehrt werden. Die restlichen sechs Jahre wer-
den wir uns mit den spezifischen Erklärungen für Mahāmudrā beschäftigen, die typisch für Mahāmudrā sind.

Es wird mir eine Freude sein, euch auch zu Anfang schon immer wieder auf den Mahāmudrā Aspekt hinzu-
weisen, so dass ihr leichten Zugang dazu findet und auch die allgemeinen Erklärungen bereits im Lichte des
Mahāmudrā verstehen könnt.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.6

Preisung
Jetzt kommt schon die erste Passage – die einzige große Passage, die im englischen Text fehlt. Dakpo Tashi
Namgyal beginnt mit einer Hommage, einer Preisung – mit dem, was er als die angemessene Einführung
empfindet. Man kann es auch als Beiwerk betrachten, es gehört nicht zur Kernaussage des Werkes. Es ist
aber wichtig um zu spüren, mit welcher Haltung der Autor selbst an den Text herangegangen ist, wie er
selbst sich eingestimmt hat. Mit welchen Worten Dakpo Tashi Namgyal in der zweiten Hälfte des 16. Jahr-
hunderts sein Werk eingeleitet hat und was er eigentlich wollte, das die künftigen Leser als erstes mitneh-
men, um sich selbst auch einzustimmen.

Respektvoll verneige ich mich vor meinem Meister, vor meinem Lama, und vor dem Vajra des Geis-
tes.

Damit nimmt er eine zweifache Zuflucht. Er verbeugt sich vor seinem Lama, dem Meister, von dem er diese
Übertragung bekommen hat. Und damit vor der ganzen Übertragungslinie, also all den Meistern, die seit
dem Anfang der Mahāmudrā Tradition - die etwa ins 4. nachchristliche Jahrhundert datiert wird und bis ins
16. Jahrhundert reicht – gelehrt haben. Vor all den Lamas, die dann in seinem Wurzellama ihren Schluss-
punkt finden, verbeugt er sich.

Er verbeugt sich aber auch vor dem Vajra des Geistes. Das bedeutet, er verbeugt sich vor der unwandelbaren,
vajragleichen Natur des Geistes als der eigentlichen Zuflucht. Das ist es, was auch wir tun, wenn wir uns vor
dem Altar verbeugen. Wir verbeugen uns letzten Endes nicht vor irgendetwas Äußerem, sondern wir verbeu-
gen uns vor der Buddhanatur, vor der Natur des Geistes, vor den Qualitäten des Geistes, die es uns ermögli-
chen, tatsächlich frei zu werden. Was in uns steckt, wird der Vajra des Geistes genannt.

Dann verbeugt sich Dakpo Tashi Namgyal vor Vajradhara. Vajradhara ist der Urbuddha. Vajradhara mit ge-
kreuzten Armen, rechts den Vajra, links die Glocke als die untrennbare Einheit von Vajra - Mitgefühl - und
Glocke - Weisheit. Vajradhara ist Symbol für die Natur des Geistes und hat sich immer wieder in Form von
Visionen manifestiert, um Mahāmudrā Erklärungen oder tantrische Erklärungen an verschiedene Schüler zu
geben. Er hat keine Biographie, keine Geschichte. Vajradhara ist nicht ein Mensch, der gelebt hätte und dann
Buddha geworden ist, sondern er ist immer nur in Form von Visionen aufgetreten.

Vor diesem Vajradhara, dem Meister, der aller Wirklichkeit innewohnt, ob materiell oder immateri-
ell, verbeuge ich mich.

Die Natur des Geistes wohnt allen Erscheinungen inne, und vor dieser Natur des Geistes verbeuge ich mich.

Obwohl die Natur des Geistes von Natur aus frei ist von allen Konzepten, von allen Vorstellungen,
manifestiert sie sich in Formkörpern. In Visionen, Lichtkörpern und in Manifestationen, so wie unser
Körper auf der Erde. Man nennt das Sambhogakaya und Nirmanakaya, den Freudenkörper und den Aus-
strahlungskörper.

Obwohl eigentlich völlig frei von allen Vorstellungen, manifestiert sich die Natur des erwachten Geistes
doch in der Welt der Vorstellungen, in vielfältiger Form.

Ihre melodiöse Stimme, mit der die Natur des Geistes den Dharma lehrt, übertrifft jede gewöhnliche
Sprache, ist unzerstörbar und nicht beschreibbar. Ihr Mitgefühl, Quelle des Heilsamen und des
Glücks, ist von Natur aus rein, frei von allen Unterschieden zwischen Selbst und anderen.

Ich fasse nochmal zusammen: Wir verbeugen uns vor der Natur des Geistes (die der Meister ist), die alle
Phänomene, alles Erleben durchdringt, sich auf verschiedenste Art und Weise manifestiert, den Dharma - die
Wahrheit, das was befreit - kommuniziert, und deren wahre Natur Mitgefühl ist und alles Heilsame hervor-
bringt. Davor verbeugen wir uns. Das ist also die tiefste Form der Zuflucht.

Im nächsten Vierzeiler verbeugt sich Dakpo Tashi Namgyal vor dem Buddha und beschreibt ihn.

Sein Körper manifestiert illusorische Erscheinungen in allen Welten. Seine Rede erläutert die Prakti-
ken des Dharmas der drei Fahrzeuge - Fahrzeug der Selbstbefreiung, Fahrzeug der Buddhas für sich und
das Große Fahrzeug der Bodhisattvas. Seine Sprache spricht in der Sprache, die die Schüler verstehen
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können - genau entsprechend dem Geisteszustand der Schüler. Sein Geist umfasst alle Wesen mit einem
Mitgefühl ohne Bezugspunkt. Vor diesem unvergleichlichen Meister, dem wahren Freund aller vom
Glück Begünstigten, die den Dharma hören können, der die drei Geheimnisse manifestiert - das sind
Körper, Rede und Geist, die geheimnisvollen Weisen, wie sich das Erwachen in der Welt manifestiert -
verbeuge ich mich.

Der Sinn des Vierzeilers ist die Verbeugung vor dem Buddha. Er wird hier als jemand wahrgenommen, der
überall präsent ist, nicht begrenzt auf den historischen Buddha, sondern in fortlaufender Manifestation in
allen Universen. Seine Rede stellt alle Dharma Unterweisungen zur Verfügung, immer in Übereinstimmung
mit den Bedürfnissen der Schüler. Sein Geist umfasst alle Lebewesen, mit einem Mitgefühl ohne Bezugs-
punkt, das bedeutet ohne Mittelpunkt. Es ist ein Mitgefühl, in dem es niemanden gibt, der sagt: „Ich fühle
mit dir“, sondern es ist ein spontanes Mitgefühl, das einfach da ist und von niemandem erzeugt wird, sich
nicht nährt aus der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt. Das ist damit gemeint.

Ich werde jetzt die einführenden Bemerkungen von Dakpo Tashi Namgyal, die Lobpreisungen, diese Hom-
mage, nicht ganz so viel erklären.

Im nächsten Vierzeiler geht es darum, dass er einen Yidam, eine Meditationsgottheit, einen Buddha Aspekt
anruft, um selbst als Autor im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte zu sein. Er bittet also um Unterstützung
seiner Intelligenz, seiner Einsicht, um dieses Werk schreiben zu können. Er wendet sich dabei an Trowo
Miyowa, eine zornvolle Ausstrahlung von Manjushri, also der Weisheit, und sagt über diesen Buddha-
Aspekt:

Ein Bruchteil seines Mitgefühls reicht aus, um den vorläufigen und definitiven Sinn einer Vielzahl von
Abhandlungen zu erläutern. Denen, die unterrichten, debattieren oder schreiben, gewährt er eine In-
telligenz - eine Verständnisfähigkeit - frei von Angst und Blockaden, und er führt sie mit Leichtigkeit in
die direkte Verwirklichung der tiefgründigen Natur der Dinge, die den gewöhnlichen Lebewesen ver-
borgen ist. Dieser höchsten Gottheit, dem Buddha Aspekt, dem zornvollen Meister, bringe ich meine
Verehrung dar. Bitte gewähre mir deine höchste Gabe, die unerschöpfliche erwachte Weisheit.

Im Grunde genommen also eine Verbeugung vor den Kräften des Verstehens, die eben nicht aus dem Ich
entspringen. Der Autor nimmt hier eine innere Haltung ein, geführt zu werden in seinem Verständnis von
den Buddhas und an erster Stelle von dieser Ausstrahlung, die speziell die Lehrenden und die Autoren der
Dharmatexte inspiriert und leitet.

Mit dem nächsten Vers wendet er sich an die Übertragungslinie.

An den Bogenschützen Saraha, dessen Körper wie der Raum ist, und an diejenigen, die Nagarjuna
genannt werden, Shavari, Tilopa, Naropa, Maitripa, Marpa, Milarepa und die die eigentliche, wahre
Natur des Geistes erkannt haben, das natürliche Sein, die Natürlichkeit an sich, tiefgründig und klar,
und die die trügerische Verdinglichung der Phänomene durchschaut haben, deren Aufenthaltsort die
untrennbare Einheit von Leerheit und Bewusstheit ist, die dem Raum gleicht. Vor all denjenigen, die
die Basis, den Weg und die Frucht verwirklicht haben, verbeuge ich mich mit Respekt.

Er verbeugt sich vor allen, die das natürliche Sein verwirklicht haben, nennt die Namen der Gründer der
Karma Kagyü Linie, zurückgehend in die Mahāmudrā Linie Indiens in der Hochblüte der buddhistischen
Entwicklung – das geht zurück auf Nagarjuna, der erwähnt wird, 2. Jahrhundert nach Christus, nimmt man
an; die anderen Namen aus dem 4., 8., bis ins 12. Jahrhundert im nördlichen Indien. Er bittet sie um ihren
Segen, dass er den Weg erklären kann, wie man in das raumgleiche, mitfühlende Bewusstsein hineinfinden
kann, wo Leerheit und Gewahrsein untrennbar sind. Leerheit bedeutet, dass diese Bewusstheit keinen We-
senskern hat, es da niemanden gibt, der dieses Gewahrsein besitzt.

Dann verbeugt er sich vor Gampopa. Er ist der Meister, der berühmt dafür wurde, die Mahāmudrā Lehren in
Tibet verbreitet zu haben, ohne dabei eine notwendige Beziehung zum Tantra herzustellen. Gampopa hat
wirklich Essenz-Mahāmudrā unterrichtet, ohne dass man unbedingt die Visualisationspraktiken des
Vajrayāna ausführen musste.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.8

Dakpo Tashi Namgyal gilt als mögliche Reinkarnation Gampopas. Man nimmt an, dass er vier Jahrhunderte
später Gampopa war, sich als solcher manifestiert hat. Er schreibt über Gampopa:

Er hat die Erleuchtung in Gegenwart des Buddhas erlangt in Form des jungen Bodhisattvas Daö
Schönnu, das jugendliche Mondlicht. Aufgrund seines Mitgefühls für das tibetische Volk hat er sich
als der Mönchsarzt in Tibet manifestiert, um die Prophezeiung des Siegreichen in dieser Zeit des Ver-
falls umzusetzen als der zweite berühmte Lehrer, der zweite Buddha - als wäre der Buddha ein zweites
Mal gekommen - mit dem Namen Gampopa.

Es gibt ein Sūtra, in dem der Buddha fünfhundert Bodhisattvas im eigentlichen Sinne der Meditationspraxis
unterrichtet. Das ist das Samadhiraja Sūtra. Der Unterricht geschah auf Einladung eines Arztes, Kumarajiva,
der sich dann, als der Buddha fragt, wer in Zukunft diese Lehren weitertragen möchte, schlussendlich aus
dem Samadhi erhebt und das Versprechen ablegt, sich in Zukunft in den Zeiten des Verfalls, wenn es
schwierig wird, wieder als Mahāmudrā Lehrer im Land des Schnees zu manifestieren - damit war Tibet ge-
meint.

Die anderen fünfhundert Bodhisattvas, die anwesend waren, sagten: „Und wir werden dir dabei helfen“. Um
diese Prophezeiung als solche geht es. Die scheint Gampopa erfüllt zu haben. Er hatte tatsächlich fünfhun-
dert große, verwirklichte Schüler und war verantwortlich dafür, dass die Mahāmudrā Praxis in Tibet sogar
ganz jungen Menschen zugänglich gemacht wurde.

Bis zu Gampopa war es so, dass die Mahāmudrā Lehren nur für weit fortgeschrittene Praktizierende zugäng-
lich waren. Man musste bereits intensivste Praktiken über viele Jahre ausgeführt haben, um dann die Einfüh-
rung ins Mahāmudrā zu bekommen. Gampopa hat zum Teil 16-Jährige und 18-Jährige in Höhlen gesetzt und
gesagt: „Hier – darum geht es, schaut in den Geist, da geht’s lang!“.

Er wurde belächelt von anderen Meistern: „Wie kannst du nur! Ohne dass sie die Grundlagen studiert haben,
all die Sūtras und Tantras?“ Er sagte nur: „Wartet ab, ein paar Jahre später werdet ihr sehen“. Tatsächlich,
weil er die Intuition hatte für die Schüler, mit denen er das machte, kamen große Resultate heraus. Viele die-
ser jungen Menschen wurden große Mahāmudrā Lehrer in Tibet.

Das war ein ganz wichtiger Schritt in der tibetischen Geschichte, wo etwas, das vorher wie eine Geheimlehre
war, immer mehr auch anderen zugänglich gemacht wurde, ohne dass sie all diese sonstigen Praktiken und
Studien absolvieren mussten, wobei man 10 oder 20 Jahre mit anderem beschäftigt ist.

Trotzdem ist es natürlich gewagt, über Mahāmudrā unter uns zu sprechen. Aber eigentlich kann man damit
nichts falsch machen, denn es sind einfach Unterweisungen über die Natur des Geistes und wie man sie ver-
wirklichen kann. Darum geht es. Gendün Rinpoche hat uns sehr ermutigt, das zu tun. Er hat bei jeder öffent-
lichen Unterweisung über Mahāmudrā gesprochen und hat gesagt: „Die es nicht verstehen, werden schon
merken, dass sie vielleicht erst die Grundlagen legen müssen und stufenweise vorgehen. Aber es ist trotzdem
gut zu sagen, worum es eigentlich geht.“

Die Gründe für das Verfassen des Textes


Jetzt geht es um die Einführung in den Text, wo er ein bisschen schreibt, warum er diesen Text verfasst.

In diesem Land des Schnees gibt es gelehrte und verehrte Mönche, die die Natur des Geistes logisch
analysiert haben und Adepten im Geheimen Tantrayāna sind – Praktiken des Tantra – und die vorge-
ben, die Erfahrung hiervon gemacht zu haben. Aber ihre Verwirklichungen der Natur des Geistes sind
ziemlich klein – so wie der Geist tatsächlich ist. Deswegen verbeuge ich mich vor euch, segensreiche
Meister der Kagyü-Linie, die ihr direkt die grundlegende Natur des Geistes gesehen habt und anstren-
gungslos wisst, wie man sie anderen lehrt. Ich verbeuge mich vor euch. Schenkt mir euren Segen.

Eure Übertragung dieser Lehren, die den Namen Mahāmudrā tragen, überwinden die Fallstricke der
Begrifflichkeit und Definitionen. Sie weisen das intellektuelle Verständnis in seine Grenzen, ebenso
auch die dualistischen Erfahrungen. Dieser Weg ist tatsächlich der eigentliche, der definitive Sinn aller
Sūtras und aller Tantras.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 9

Dies ist die Erläuterung dessen, um was es eigentlich in den Sūtras und Tantras geht.

Einige (in Tibet) rennen dem begrifflichen Denken nach wie auf dem Wasser einer Fata Morgana.
Andere kümmern sich sehr um den formgerechten Ausdruck ihres begrifflichen Denkens. Noch ande-
re geben große Wichtigkeit auf ihre meditativen Erfahrungen, die genauso vergänglich sind wie Re-
genbögen. Wer schnelle Befreiung sucht, sollte diesen Wegen nicht folgen.

Man kann viel studieren, all die vielfältigen Abhandlungen über den vorläufigen und definitiven Sinn.
Man kann darüber nachdenken, kontemplieren, und sie fein analysieren. Wenn man aber den eigent-
lichen Sinn nicht wirklich meditiert, wird es lange dauern, die Befreiung zu erreichen.

Manche behaupten sogar, unsere Epoche - 16. Jahrhundert in Tibet - sei nicht mehr für die Meditation
geeignet. Aber diese trügerischen Behauptungen entmutigen sie selbst genauso wie andere.

Kleine Bemerkung von mir: Das finden wir heute auch. Es ist nicht so anders. Nicht nur über Meditation an
sich, sondern es gibt Lehrer, die behaupten, wir könnten die Natur des Geistes nicht verstehen, die Zeit dafür
sei nicht mehr da. Wir müssten vielleicht einfach Verdienste ansammeln oder uns mit der Praxis der Geistes-
ruhe begnügen. Tastsächlich kann aber jeder die Natur des Geistes verstehen, sehen, direkt erfahren, auch
heute noch. Man muss nur wissen wie. Es geht darum, gute Unterweisungen zu bekommen und ihnen auch
zu folgen und sie tatsächlich umzusetzen.

Die von ihrem Karma begünstigten Schüler, die sich solchen Behauptungen widersetzen und Abstand
davon halten, sollten sich mit Aufrichtigkeit der Meditation widmen. Damit meint er: denn es ist tatsäch-
lich möglich, den Sinn des Dharmas, das eigentliche Herz des Dharmas, jetzt in diesem Leben zu verwirkli-
chen.

Verpflichtung des Autors


Jetzt kommt die Verpflichtung des Autors, sie gehört in Tibet immer zur Einleitung eines solchen Kommen-
tars dazu. Sie wird in der Ich-Form ausgedrückt.

Ich werde jetzt ausführlich die Strahlen dieses Mondes niederschreiben, dieses Mondes, der voll ist -
wie bei Vollmond - und den Sinn der Sūtras und Tantras enthält, wo der natürliche Zustand mit sol-
cher Klarheit wie die Silhouette des Hasen erstrahlt.

Das könnt ihr nicht verstehen. Wir sehen immer den Mann im Mond, wenn wir auf die Mondscheibe gucken.
Die Tibeter sehen einen Hasen. Die Oberflächenstruktur des Mondes ist ja deutlich zu sehen bei klarem Wet-
ter, in Tibet ist sowieso sehr klare Sicht auf die Sterne. So klar wie die Oberflächenstruktur des Mondes zu
sehen ist, genauso klar ist auch die Natur des Geistes zu sehen.

Möge der Geist all derer, die sich im Dunkel mangelnden Gewahrseins verlaufen haben, Frieden fin-
den - Frieden bedeutet hier Nirvana, Befreiung. Ihr Schüler, die ihr der großen Wahrheit nicht den Rü-
cken kehrt und euch nicht von irrigen Sichtweisen täuschen lasst, die ihr Meditation praktizieren
möchtet, um die wahre Natur zu verwirklichen, ihr außerordentlichen Schüler mit Unterscheidungs-
vermögen, bitte hört nun zu mit Respekt.

Das ist das Ende dieser Einführung.

Die Entscheidung, diesen Text zu schreiben


Er fährt fort mit dem Versprechen, diesen Text zu schreiben.

Damit sind wir am Anfang eurer Fotokopie. Wie gesagt, sie dient euch zur Orientierung. Ich habe den tibeti-
schen Text durchgearbeitet, Notizen im französischen Text gemacht - und versuche, euch die wesentlichen
Punkte etwas genauer zu erklären.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.10

Es gibt unglaublich viele Unterweisungen im Buddha-Dharma. Die Lehren des Buddhas sind schon sehr
zahlreich – wenn ihr mal schaut, wie umfangreich der Pali Kanon ist, diese auf Pali niedergeschriebenen
Schriften: das ist sehr viel, die alle zu lesen.

Die Mahāyāna Buddhisten waren auch nicht faul. Allein bei den Sūtras haben sie das 10- oder 20-fache ge-
schrieben. Dann kommen noch die Tantras hinzu und die Kommentare zu all den Schriften. Es gibt richtig
viel zu studieren, wenn man möchte.

Aber alle Praktiken des edlen Dharma – für uns, die wir den Unterweisungen des Buddha folgen, der
vollkommen erleuchteten Meister – können in zehn verschiedene heilsame Praktiken zusammengefasst
werden. Das ist eine klassische Liste. Im Französischen gibt es da eine Fußnote:

Als heilsame Dharmapraktiken seit 2000 Jahren gilt es, die Texte abzuschreiben, - also zu kopieren -;
Gaben darzubringen; den drei Juwelen zu dienen - Buddha, Dharma, Sangha -; Unterweisungen zu hö-
ren, sie zu behalten, - auswendig zu lernen -, sie zu lesen zur eigenen Instruktion, sie zu erklären für
andere, sie auswendig zu rezitieren, sie zu kontemplieren und, zehntens, ihre eigentliche Bedeutung zu
meditieren.

Es geht in diesem Buch um den zehnten Punkt von diesen zehn Dharmapraktiken. Es geht um die Meditation
auf die Bedeutung der Wirklichkeit. Das ist der feinste, subtilste Punkt der Lehren, da wo alle anderen hin-
führen. Meditieren bedeutet hier so viel wie „im wahren Sinn aufgehen“. Meditieren bedeutet: sich vertraut
machen damit, hineinfinden. Das ist mit Meditation gemeint: also sich üben im So-Sein, so wie die Dinge
sind, darin aufzugehen – das wäre Meditation im eigentlichen Sinne des Wortes.

Dakpo Tashi Namgyal beklagt sich: Heutzutage praktizieren die meisten den Dharma, studieren und
kontemplieren gar nicht, sie wenden ihn nicht wirklich in der eigentlichen Praxis an. So manche, die
meditieren, haben nur ein vages Verständnis von den Schlüsselpunkten der Meditation. Mein Anliegen
ist es, mit der besten altruistischen Intention zum Wohl aller denen zu helfen, die mir ihr Vertrauen
schenken, die Schlüsselpunkte der Meditation tiefer zu verstehen.

Das ist auch das Anliegen dieser Serie von Erklärungen. Wir sind jetzt in der etwas mühsamen Einleitungs-
phase. Es geht tatsächlich darum, das Meditieren, also die Praxis des Eigentlichen, tief zu verstehen – und
nicht im Vagen zu bleiben. „Der Tilmann und die anderen sagen immer, entspannt euch.“ Dann haben wir
vielleicht als einziges, dass euch bleibt, Entspannung. Oder: „Öffne dich.“ Oder: „Wenn du nicht mehr
kannst, bleib beim Atem.“ Das sind vage Verständnisse von Meditation. Wir wissen nicht genau, was wir
eigentlich mit dem Geist machen, worum es eigentlich geht.

So kann man auch nach vielen Jahren Praxis manchmal noch feststellen, wenn man über Meditation gefragt
wird, dass man nicht so genau antworten kann und selbst nicht so genau weiß, wie es eigentlich geht. Damit
aufzuräumen ist das Anliegen dieses Textes. Deswegen hat Gendün Rinpoche uns diesen Text empfohlen
und deswegen, mit derselben Motivation, möchte ich ihn euch weitergeben.

Ich habe mich bemüht, in diesem Text eine einfache Sprache zu schreiben, manchmal etwas poetisch –
und das sollte eigentlich allen das Verständnis des Textes leichtmachen. Ich drücke mich auf eine
leichte Art und Weise aus, leicht verständlich, und werde jetzt als erstes die Gründe anführen, warum
es wesentlich, essentiell ist, überhaupt über die wahre Natur des Geistes zu meditieren. Dann werde
ich die verschiedenen Stufen dieser Meditation darstellen.

Das ist wie bei uns im Westen. Wenn man einen Vortrag hält, sagt man zunächst, was man ungefähr vorhat –
und dann geht es los.

Danach kommen wir zu den Gründen, warum man über die Natur des Geistes meditiert.

Meditation: Alles vollzieht sich von selbst


Wir meditieren jetzt ein wenig. Ja, macht es euch extra bequem.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 11

In guter alter Mahāmudrā Manier: wenn wir anfangen zu meditieren und wir sagen uns: jetzt meditiere ich,
dann sagt unser innerer Lama: hier wird nicht meditiert. Also, wir meditieren zwar, aber etwas in uns weiß:
niemand meditiert über irgendetwas.

Wir meditieren nicht über irgendetwas.

Ohne über irgendetwas zu meditieren, zeigt sich das Sein, so wie es ist. Es zeigt sich als Sinneserfahrungen,
körperliches Erleben, Hören, Sehen – falls ihr die Augen aufmacht -, Riechen, Schmecken, und feine Geis-
tesbewegungen, die zum Teil die Sinnesempfindungen miteinander verknüpfen und Sinn geben und die sich
zum Teil aus unseren Eindrücken speisen, die wir früher gemacht haben oder die mit Gefühlen zusammen-
hängen, mit Intuitionen, Ideen… Das alles passiert von selbst.

Ein erster wichtiger Schritt besteht darin wahrzunehmen, dass wir nichts zu tun brauchen, um dem Geist zu
sagen, er möge aktiv sein.

Nehmen wir uns eine Weile Zeit wahrzunehmen, wie lebendig der Geist ist, wahrzunehmen, was jetzt gerade
von selbst geschieht… Ob er aufgewühlt oder müde ist, ob wir schon fast einschlafen … All das vollzieht
sich von selbst. Dem geben wir einfach Raum, und das ist zugleich der Raum, einfach zu sein.

Schon allein diese kleine Entdeckung, dass es nichts braucht. Es braucht kein Zutun von unserer Seite, um zu
sein und um zu erleben – das ist schon ein wichtiger erster Schritt. Leben, Erleben vollzieht sich ohne mein
Zutun. Es passiert. Es wird jetzt im ganzen Rest dieser Unterweisungen darum gehen, dieses natürliche Sein
zu erforschen und so tief zu verstehen, dass es zu einem völligen Einklang mit der Wirklichkeit kommt, wir
selbst im Einklang sind mit dem, wie es ist. Alles Leid, aller Stress, dukha in den Worten des Buddhas, ent-
steht aus einem Widerspruch, einem Unterschied, einer Diskrepanz zwischen unseren Vorstellungen über die
Wirklichkeit und wie es wirklich ist. Diese Spannung zwischen unseren Annahmen über die Natur des Seins
und wie das Sein wirklich ist, werden wir auflösen. Wir werden das Spannungsverhältnis erkunden, um her-
auszufinden, wo wir uns täuschen. Das Ende der Täuschung nennt man das Erwachen: aus der Täuschung,
aus dem Schlaf der Unwissenheit erwachen.

Das ist es, worum es eigentlich geht. Erster Schritt: Leben, Erleben, Gewahrsein vollzieht sich einfach so.

Meditation: Wahrnehmen von Unbeständigkeit


Es folgt die nächste kleine Meditationsphase. Haltet nicht durch – sondern immer, wenn ich spreche könnt
ihr euch bewegen, und dann leite ich die nächste Meditationsphase ein.

Wir beschäftigen uns weiter damit, wie es ist zu sein. Ein wichtiger Stresspunkt in unserem Sein, unserem
Erleben ist, dass wir manchmal belastende Gedanken und Emotionen loswerden wollen. Schauen wir mal
hin, wie es jetzt gerade ist. Löst sich nicht alles ohnehin von selbst in das nächste Erleben auf, wenn wir es
zulassen? Der Buddha nannte dies Unbeständigkeit. Erleben entsteht von selbst und ist aus sich heraus ohne
Bestand. Nichts dauert. Schaut mal. Schaut mal jetzt in der stillen Phase hinein, wie sich Erleben ständig von
selbst wandelt.

Das sind Aspekte der Meditation, die wir uns immer wieder anschauen werden. Diese Art des Untersuchens
dient dem Auflösen von Stress, von Stress mit dem Leben, den viele von uns erleben.

Das erste ist schon erleichternd: ich brauche nichts zu tun, um zu sein. Das Sein vollzieht sich.

Das Sein ist dynamisch, es wandelt sich. Das ist der zweite Schritt.

Meditation: Festhalten
Und jetzt geht es um die Kontrolle. Was bewirkt Festhalten? Kann ich in diesem Wandel, diesem unbestän-
digen Sein das Erleben festhalten? Da kann man beim Meditieren versuchen das festzuhalten, mal versuchen,
das Erleben von gerade jetzt zu stabilisieren. Das würde man ja mal gerne, zumindest in einem schönen
Moment. Viel Stress entsteht dadurch, dass man das oft nicht schafft. Ist das eine prinzipielle Schwierigkeit
oder machen wir etwas verkehrt? Halten wir nicht auf die richtige Art und Weise fest oder so etwas?
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.12

Machen wir eine kleine Meditation, machen wir all das, ohne dass ihr euch anstrengt.

Ich nehme was kommt, in den sechs Sinnesfeldern, angefangen beim Körper, über Hören, Sehen, Riechen
Schmecken, bis in die inneren Prozesse des Denkens und Wahrnehmens, Fühlens… Ich nehme es wie es
kommt. Ja, das Erleben verändert sich, im Hören, Sehen, Körperempfindungen, Gedanken … Gibt es die
Möglichkeit, Veränderungen zu stoppen? Kann ich irgendetwas davon stabil halten? Oder die Alternative: ist
es vielleicht tatsächlich so, dass sich der Fluss des Erlebens durch nichts aufhalten lässt? Wie ist das genau?

Ja, und so weiter und so fort mit dem Erforschen des Geistes. Mahāmudrā, denkt man, wäre einfach so sein,
aber tatsächlich ist Mahāmudrā das Sosein, das sich einstellt, wenn unser Geist die Natur des Seins wirklich
ganz verstanden hat und damit nicht mehr kämpft.

Jetzt gerade hatten wir die Frage: kann ich das Erleben irgendwie anhalten? Kann ich eigentlich nicht, aber
ich kann natürlich mitgestalten.

Das würde uns in die nächste Meditation führen: was sind die gestaltenden Kräfte, die da aktiv sind? Wenn
ich etwas halten möchte im Geist, zum Beispiel einen Gedanken behalten möchte, müsste ich ihn ja immer
wieder neu erzeugen, er bleibt ja nicht einfach von sich aus. Von sich aus löst er sich auf. Ich muss Kräfte
aktivieren, die diesen Gedanken immer wieder neu erzeugen.

Ein Gefühl braucht Kräfte, die aktiv bleiben, um immer wieder eine ähnliche Gefühlsstimmung zu erzeugen.
Da geht es weiter. Das sind die Antworten auf die Fragen: wie entsteht Leid? Wie entsteht Glück? Was sind
die gestaltenden Kräfte? Wie kann ich in dieser dynamischen Natur des Seins, die sich unaufhaltbar wandelt,
gestaltend aktiv werden? Was bewirkt das eigentlich? Da kommen wir in abhängiges Entstehen, also wech-
selseitige Abhängigkeit usw., in ganz viele Bereiche des Dharmas, die uns mehr und mehr verstehen lassen,
wie es eigentlich ist.

Mit der Zeit werden wir sehr geschickt darin, weil wir im Einklang mit der Wirklichkeit sind. Wir merken,
wenn ich mich so anstelle, gibt es einen Krampf, gibt es Anspannung, gibt es Stress. Wenn ich es anders ma-
che, öffnet es sich, wird leichter, fließender.

Das alles ist Teil der Mahāmudrā Praxis, des Hineinwachsens in die Mahāmudrā Praxis. Schlussendliche
Mahāmudrā Praxis ist dann schlussendlich: einfach sein, ohne Mittelpunkt, da braucht man nicht mehr davon
zu sprechen, im Einklang zu sein. Der ist von selbst gegeben, weil sich kein künstlicher Mittelpunkt abson-
dert vom Geschehen.

Darum wird es gehen in diesen vielen Erklärungen, den vielen Worten. Schrittchen für Schrittchen. In unse-
ren Meditationen werden wir immer wieder versuchen, euch in die Essenz zu führen, immer wieder in dieses
befreiende Sehen der Wirklichkeit, so wie es ist, unseres Erlebens.

Alle Phänomene beruhen auf dem Geist


Wir haben gestern Nachmittag bereits den Einstieg in das Buch geschafft, uns angehört, wie Dakpo Tashi
Namgyal selber um Segen bittet, Zuflucht nimmt, um Inspiration und Geistesklarheit bittet und sich ent-
schließt, diesen Text zu verfassen. Er tut das, weil er das Gefühl hatte, damals im 16. Jahrhundert, dass es
allzu viele Missverständnisse beim Meditieren gibt, vage Unklarheit besteht, warum man so meditiert, wie es
im Mahāmudrā erklärt wird. Wir werden uns jetzt mit der nächsten Passage befassen, warum es so wichtig
ist, auf die Natur des Geistes zu meditieren.

Wohlgemerkt - die Frage ist nicht einfach zu beantworten, warum es wichtig ist zu meditieren. Vielleicht
kennt ihr das auch, dass in Gesprächen mit Freunden darüber gesprochen wird, warum es wichtig ist zu me-
ditieren. Hier geht es nicht darum, warum es wichtig ist zu meditieren, sondern warum es wichtig ist, über
die Natur des Geistes zu meditieren. Das ist der Unterschied zu vielen grob gesagt „Wellness-Meditationen“,
bei denen es um Wohlgefühl oder Entspannung geht, die aber nicht zur Einsicht und Befreiung beitragen.

Das ganze Buch hier und alles, was wir in den nächsten Jahren in diesen Kursen zweimal jährlich besprechen
werden, handelt von dieser Erkenntnis der Natur des Geistes, die dann tatsächlich befreiend wirkt. Es geht
nicht um bloße Meditation, ein einfach entspanntes Sein, um ein relatives Wohlgefühl zu erreichen.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 13

Die Überschrift der ersten Passage von dreien, die sich mit diesem Thema befassen, heißt: „Alle Phänomene
beruhen auf dem Geist.“ Dieses Wort Phänomene – auf Tibetisch chos, auf Sanskrit dharma, also „Alle
Dharmas beruhen auf dem Geist“ – bedeutet hier in diesem Zusammenhang: all unser Erleben, alles, was als
Phänomene wahrgenommen wird, alle Erscheinungen, sind Geist. Also alle Erfahrungen, alles in Samsara
und Nirvana - alles, was überhaupt möglich ist zu erfahren.

Alle Welten sind Geist


Alle Phänomene, die im Kreislauf dessen, was wir Samsara nennen sind - also im Kreislauf der dualisti-
schen Fixierung beinhaltet sind - und alles was jenseits davon ist - was das Erleben der Befreiten, der Er-
wachten ist - beruht auf dem Geist. All unser Erleben geschieht im Geist. Und so heißt es auch in dem
Sūtra der 10 Bhumis, der 10 Stufen: Oh Sohn der Siegreichen, die drei Welten sind bloß Geist.

Die drei Welten sind sich hier der Bereich des Anhaftens, auch Begierdebereich genannt, der Bereich der
Form und der Bereich der Formlosigkeit. Wir könnten aber auch sagen – und das wäre sehr zutreffend – alle
Welten sind Geist, denn in diesen dreien sind alle enthalten. Und tatsächlich ist jeder von uns in seiner eige-
nen Welt, jetzt gerade. Ich weiß eigentlich nicht, was meine Nachbarin gerade erlebt. Sie ist in ihrer Welt,
ich bin in meiner, du bist in deiner – jeder von uns ist in seiner eigenen Welt der Wahrnehmung. Wie wir die
Welt erleben, hängt davon ab, wie wir sie interpretieren, wie sie sich für uns in unserer Wahrnehmung zu-
sammensetzt.

Das ist von unseren Erfahrungen abhängig, von unserer sozialen Prägung. Die Welt hier, so wie wir jetzt zu-
sammensitzen, würde von einem Menschen aus einem komplett anderen Kulturkreis ganz anders wahrge-
nommen werden. Nehmen wir mal an, es würde ein Eskimo hier unvorbereitet hereinkommen. Er würde dies
sehr anders wahrnehmen, mit ganz anderen Gefühlen – er wäre in einer anderen Welt unterwegs als wir. Und
so nehmen wir die Welt schon als Kind anders wahr, dann als Erwachsener. Auch dieselbe Person nimmt die
Welt immer unterschiedlich wahr. Ich nehme die Welt morgens anders wahr als mittags und abends.

Das ist mit Welten gemeint. Wenn wir von Welt sprechen, ist damit nicht eine äußere stabile Welt gemeint,
sondern die Welt unseres Erlebens. Das, was wir tatsächlich erleben, nicht was wir spekulieren über eine
vermeintlich stabile äußere Welt. Sondern das, was tatsächlich unser Erleben ist – das wird hier mit dharmas
beschrieben.

Alle Wesen existieren innerhalb des Geistes


Das Vajrapanjara Tantra sagt: Ob sie nun erwacht sind oder gewöhnlich – kein einziges Lebewesen
existiert außerhalb dieses juwelengleichen Geistes.

Es ist dasselbe mit anderen Worten. Lebewesen: wo leben sie, wo erleben sie, wo gibt es sie wirklich? Es
gibt sie, jeden von uns gibt es, wir sind ja Lebewesen. Menschen gibt es – als die, die etwas erleben. Wenn
das Erleben aufhört, sind wir tot. Dann ist dieses Leben vorbei. Wenn wir leben, wird erlebt. Da ist Bewusst-
sein. Da findet etwas statt in unserem Geist.

Menschen, Tiere und dergleichen zu abstrahieren und zu sagen, du existierst unabhängig von deinem Geist:
das gibt es nicht. Denn tatsächlich ist meine Existenz, deine Existenz dadurch definiert, dass wir etwas erle-
ben. Sonst würden wir nicht sagen: „Mich gibt es! Solange ich etwas erlebe, gibt es mich.“ Ansonsten würde
man sagen, da ist kein Erleben; jemand ist tot.

Was immer wir als Lebewesen definieren, ist ein Bewusstseinsstrom, ein lebendiges Erleben, das immer
wieder neu erlebt - und das macht das Leben aus. Es sind so einfache Dinge, die ich erkläre. Aber die sind so
grundlegend, weil wir den Fehler machen, äußere Tatsachen, wie zum Beispiel die körperliche Existenz von
jemandem, als seine Existenz darzustellen. Dabei ist das relativ irrelevant, wie die äußeren Bedingungen
sind. Es kommt immer darauf an, wie es erlebt wird. Das ist unsere Welt.

Wir können uns ja im selben Körper total unterschiedlich fühlen. Unsere Welt verändert sich ständig, obwohl
der Körper sich deutlich langsamer verändert. Das ist jetzt sehr typisch für die buddhistische Lehre, was ich
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.14

beschreibe. Sie nimmt einen subjektiven Standpunkt ein, der der eigentlich objektive ist. Über eine Welt
kann man nur sprechen vom Standpunkt des Erlebens aus.

Die Welt der äußeren Chiffren, Daten, Moleküle und was wir noch beschreiben wollen – die gibt es nur in
unseren Vorstellungen, unseren Deduktionen, aber es gibt sie nicht als etwas direkt Erfahrbares. Direkt er-
fahrbar ist das, was wir durch die Sinne wahrnehmen: Körperempfinden, Hören, Sehen, Riechen, Schmecken
und all das, was wir Denken, Fühlen, innerlich kombinieren und so weiter. Das ist unsere Welt.

Alle Dinge sind geistige Abbilder


Das Samputa Tantra sagt: Äußere Phänomene und innere Erfahrungen – alle Dinge sind geistige Ab-
bilder. Außer dem Geist gibt es nichts.

Jedes Zitat führt uns ein bisschen weiter in die Beschreibung dessen, worum es geht. Alles sind geistige Ab-
bilder. In der Psychologie der Wahrnehmung weiß man – das ist gut erforscht – wie sich zum Beispiel die
Eindrücke der Retina vom rechten und linken Auge über den Sehnerv, das Kleinhirn, dann das Großhirn ver-
schalten, mit anderen Eindrücken verkoppelt werden, bis wir nicht nur zu einer dreidimensionalen Wahr-
nehmung kommen, sondern zum Identifizieren von sich bewegenden Objekten oder unbewegten Objekten.
Wie wir darin aufgrund unserer Erfahrung Männer und Frauen unterscheiden, Bäume von Blumen, Himmel
von Erde und so weiter: wie eine Wahrnehmung, hier nur im visuellen Sinn, interpretiert wird.

Wenn wir uns gegenseitig anschauen, sehen wir ja etwas. Wir sind überzeugt, einen Raum voller Menschen
zu sehen. Das hat einen guten Grund. Der Raum ist voller Menschen. Aber dass wir das so sehen können, ist
eine unglaubliche Leistung unseres Geistes. Das ist erlernt. Es ist verbunden mit vielen Erfahrungen, die da
gleichzeitig einfließen, um Bedeutung zu geben, Sinn zu geben.

Wenn wir als Babys in diesen Raum geschaut hätten, wären wir noch nicht in der Lage gewesen, so differen-
ziert wahrzunehmen. Das sind Lernleistungen. Ihr könnt jetzt zum Beispiel die Übung machen, die Augen zu
schließen, und dann könnt ihr für einen Moment immer noch sehen, wie der Raum vorher aussah. Das ist ein
klares Beispiel für ein produziertes Abbild.

Aber das geschieht auch, während wir schauen, auch beim Hören. Wir hören diese Klänge und wir machen
daraus dieses Geräuschbild – es macht in uns ein Sinnbild. Wir verstehen Sprache. Das ist, wie wir Sprache
entschlüsseln. Wir verkoppeln Klangfolgen mit inneren Bildern. Ich sage nur die Klangfolge „Ball“ und alle
verbinden irgendetwas Ball-ähnliches damit. Das ist nur die Klangfolge gewesen. Dies ist mit Abbild ge-
meint.

Sprache ist ein gigantisches Werk der inneren Abbilder. Begriffliches Denken ist eine gigantische Leistung
unseres Geistes, mit Bildern zu arbeiten und sie sogar abstrakt vernetzen zu können.

Ohne etwas zu sehen, können wir uns vorstellen, wie jemand mit dem Fallschirm aus dem Flugzeug springt.
Das können wir einfach so sehen, bloß weil ich es gerade sage. Das ist eine gigantische Leistung. Wir arbei-
ten mit Bildern.

Diese Bilder entstehen im Moment der Wahrnehmung. Sofort werden unsere rudimentären Pixeleindrücke
auf der Retina mit Milliarden von inneren abgespeicherten Erfahrungen verknüpft und zu einem sinnvollen
visuellen Bild verknüpft. Dasselbe machen wir mit dem Hören, dem Schmecken, dem Riechen, den Körper-
empfindungen. Und wir machen das mit unseren sehr viel komplexeren geistigen Prozessen.

Es war den Buddhisten schon vor 2500 Jahren klar, dass wir mit Abbildern leben. Also das, was wir für wahr
und wirklich halten, immer eine Interpretation ist. Wir haben da gewisse Überschneidungen, deshalb schaf-
fen wir es, zur selben Zeit am selben Ort zu sein und so ungefähr das Gleiche zu verstehen. Das ist eine gro-
ße Leistung, aber tatsächlich nennt man das Abbilder.

Da es sich um Abbilder handelt, sind sie natürlich dem Einfluss unserer Emotionen ausgesetzt, dem Einfluss
unserer Vorstellungen, Begriffe, Werte, Prägungen und so weiter.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 15

Alle Dharmas sind Erleben im eigenen Geist


Der große Mahāmudrā Siddha Shavari - ein indischer Mahāsiddha - sagt: Alle Phänomene sind der ei-
gene Geist. Außerhalb des Geistes gibt es sie nicht, nicht mal ein Stäubchen davon, nicht mal kleine
Partikel.

Bitte stört euch nicht an der anderslautenden englischen Übersetzung. Manchmal hat Traleg Rinpoche ein-
fach sehr frei gesprochen. Da braucht ihr nicht zu versuchen, Korrekturen anzubringen. Es ist nur eine grobe
Orientierung.

Also, was wir dharmas nennen, ist tatsächlich das Erleben im eigenen Geist. Dharma hat ganz viele Bedeu-
tungen, zehn traditionelle Bedeutungen im Sanskrit. Eine davon ist: ‚das, was wir erleben‘, also die Phäno-
mene; das, woraus sich unser Erleben zusammensetzt. Und was wir erleben, also die Situation jetzt zum Bei-
spiel, wie ich sie jetzt ... jetzt … jetzt gerade erlebe hier im Raum, gibt es als solches nur in meinem eigenen
Geist.

Deine Perspektive dieses Raumes, dein Erleben mit all dem, was du emotional interpretierst, gibt es nur bei
dir. Das gleiche gilt für mich, für dich. Alle von uns meinen aber, die Welt, die wir erleben, gäbe es nur da
draußen. Tatsächlich sind wir jetzt mit 100 verschiedenen Perspektiven unterwegs. Diese Welt gibt es nie als
etwas Stabiles, sondern sie ist in ständigem Fluss. Unsere Perspektive der Welt gibt es nicht als etwas Blei-
bendes und es gibt sie auch nicht da draußen.

Es ist so wichtig, sich das klarzumachen. Wir sind schon dabei, ein wenig mit diesen Überlegungen die Na-
tur des Geistes zu untersuchen. Es wird uns klar, ich habe meinen eigenen Filmemacher hier laufen. Mein
Geist ist so wunderbar beschaffen, dass er aus den sechs Sinnesfeldern einen kohärenten Film erzeugt, in
jedem Moment. Das ist klasse; das ermöglicht uns, in dieser Welt unterwegs zu sein.

Aber gleichzeitig halte ich diesen für mich kohärenten Film für allgemein verbindlich für andere, die mit mir
unterwegs sind. Ich verstehe nicht, warum wir nicht denselben Film sehen. Wir sind doch im selben Raum.
Das kann ja äußerst unterschiedlich sein. Der Raum hat zwar eine messbare Temperatur, aber für den einen
ist er zu kalt, für den anderen ist er zu warm. Für den einen ist er zu groß, für den anderen zu klein. Für die
einen zu voll, die anderen könnten gerne noch welche dazu packen.

Das abstrakt äußere Faktum existiert als solches nicht in unserem Erleben. Die äußeren Fakten sind nur
Grundlage des Erlebens, sie lösen etwas aus. Die verschiedenen Farben, die unsere Augen hier wahrnehmen,
aus denen sie dann Gestalten formen und aufgrund von zwei Augen dann dreidimensional sehen können -
das wird ständig gestaltet. Es geschieht ständig in jedem von uns, in jedem Moment, in einem laufenden Pro-
zess.

Wenn das doch so ist, dann sollte man sich fragen, warum die äußere Wirklichkeit, die wir wahrnehmen, die
Formen, Klänge usw., uns so wirklich vorkommt. Die Frage ist doch berechtigt. Warum erscheint uns das
alles so wirklich - wenn es sich doch die ganze Zeit um unsere eigenen Verarbeitungsprozesse handelt?

Die grundlegende Trennung von Subjekt und Objekt


Kurze Erklärung von Tashi Namgyal: Seit anfangsloser Zeit ist der Geist sich seiner eigenen grundle-
genden Natur nicht bewusst und trennt sich vom anderen ab. Damit ist gemeint: während dieses Erleben
stattfindet, wird in dem Film auch noch die Illusion von Getrenntheit produziert. Also ich hier und das, was
ich wahrnehme, dort. In dieser Produktion, die ständig mitläuft, wird das Ich-Gefühl in dem Film zusätzlich
erzeugt und Beobachter, also Erlebender, und Erlebtes voneinander getrennt. Diese grundlegende Trennung
zwischen jemandem, der erlebt und etwas Erlebtem ist die Grundlage dafür, dass wir die Wirklichkeit als
unabhängig existent wahrnehmen.

Wenn diese Trennung in unserem Bewusstsein nicht so stark kultiviert würde, kämen wir gar nicht auf die
Idee, das andere, die äußere Welt, als etwas unabhängig Existierendes einzustufen. Dafür braucht es eine
Trennung zwischen Erlebtem und Erlebendem, Subjekt und Objekt.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.16

Wenn wir an diese Dualität glauben, dann verliert sich unser Geist in den Gewohnheitsmustern, den dualisti-
schen Mustern, mit denen wir in der Welt unterwegs sind. Dazu gehören auch die Emotionen. Ihr wisst, dass
die Grundemotionen das Haben-wollen und das Nicht-haben-wollen sind, dieses Zu-mir-Heranziehen und
das Von-mir-Wegstoßen. Diese Grundbewegung beruht auf der Trennung – und alles andere folgt daraus.

Diese Grundbewegung – ich hier, das dort, will ich haben, will ich nicht haben - verdinglicht das, was wir
als getrennt wahrnehmen. Dadurch kommt es dazu, dass uns die sogenannten äußeren Phänomene als wirk-
lich unabhängig existent vorkommen.

Der Einfluss der Gewohnheitsmuster


Lankavatara Sūtra sagt dazu: Der von den Gewohnheitsmustern aufgewühlte Geist nimmt das Er-
scheinen, das Auftauchen von Erfahrungen, von Phänomenen als wirklich. Tatsächlich aber gibt es
keine solche Wirklichkeit außerhalb des Geistes. Eine äußere Wirklichkeit anzunehmen, ist ein Irr-
tum, eine Täuschung.

Wir werden jedes Mal ein bisschen weitergeführt. Wir können es immer hier an der Situation jetzt gerade
festmachen. Unser dualistischer Geist – so sind wir halt nun mal – nimmt eine äußere Wirklichkeit wahr. Ich
nehme jemanden wahr, der reinkommt und sich hinsetzt, und denke, das ist so. Ja, der Platz ist jetzt besetzt.
Da ist eine äußere Wirklichkeit. Aber was ich wahrgenommen habe, ist gar nicht die äußere Wirklichkeit,
sondern ich habe gleichzeitig in meiner persönlichen Welt viel interpretiert. Ganz viele Einschätzungen sind
da vorgenommen worden, und das ist das eigentliche Erleben.

Dieses Erleben, das in mir stattgefunden hat, gibt es nicht außen. Außen gibt es nur relative Auslöser, also im
Grunde genommen sich bewegende Farbpixel. Das ist, was es außen gibt. Da kann man hingehen und kann
es anfassen und merken, da ist sogar Substanz. Aber der Rest ist Interpretation. Das ist ganz wichtig zu ver-
stehen. Diese Sinneserfahrungen, zum Beispiel Seh-Erfahrungen, werden direkt uminterpretiert in einen
kleinen Film. So und so, dies und das passiert da. Dieser Film ist für jeden von uns ein bisschen anders. Das
nennt man den Einfluss der Gewohnheitsmuster.

Aufgrund unserer Erfahrungen haben sich Muster gebildet, mit denen wir die Wirklichkeit interpretieren.
Deswegen sehen zum Beispiel – und das ist ein Phänomen, mit dem sich die Polizei sehr gut auskennt – alle
Zeugen eines Unfalls etwas anderes. Es ist haarsträubend, aber die Polizei ist darauf vorbereitet und versucht
irgendwie aus den verschiedenen Zeugenaussagen eine Schnittmenge dessen herauszufinden, was wirklich
passiert ist. So hört auch jeder, der der Unterweisung zuhört, etwas anderes und nimmt etwas anderes mit aus
diesem Saal.

Persönliche Interpretation. Auf welchen Boden fällt eine Sinneswahrnehmung, in welche Stimmung hinein,
in welche subjektiven Wertvorstellungen und Prioritäten? Das macht das Erleben aus. Das sogenannte neut-
rale Erleben ohne Gewohnheitsmuster ist eine reine Hypothese. Es handelt sich immer um ein subjektives
Erleben, um eine subjektive Verarbeitung. Sonst würde jetzt zwar Hören stattfinden, aber es wäre kein sinn-
erfülltes Hören für euch. Dass wir jetzt alle Sinn hören, jeder auf seine Art, hängt damit zusammen, dass
euch die jeweilige Sprache, in der ihr hört, an etwas erinnert, an Lautfolgen, die ihr schon gehört habt, die
den und den Sinn damals gehabt haben. Jetzt muss das ungefähr etwas damit zu tun haben.

Diese Ansammlung von Gewohnheitsmustern, die verwirrt sind, von täuschender Natur, gibt der äu-
ßeren Wirklichkeit eine illusorische Qualität von Festigkeit. Es ist spannend zu beobachten: wir neigen
dazu, um von der sich wandelnden Welt nicht überfordert zu werden, überall etwas Verfestigendes einzu-
bauen, um uns sicher zu fühlen.

Zum Beispiel kenne ich dich schon seit 30 Jahren und es wäre beruhigend für mich zu denken, A. ist immer
noch die, die ich damals gekannt habe. Das ist gar nicht der Fall. Schon zwischen heute und gestern ist wahr-
scheinlich ein Unterschied – das ist ja anzunehmen – aber so machen wir das. Um uns sicherer zu fühlen in
dieser Welt, tun wir alles, um da, wo wir können, zu verlangsamen und ein Gefühl von Solidität, Stabilität
und Verlässlichkeit aufzubauen. In Beziehungen geht das völlig schief, aber selbst in der materiellen Welt,
mit unseren Häusern, Autos und Geldanlagen gibt es diese Festigkeit, diese Verlässlichkeit nicht.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 17

Und es ist extrem herausfordernd, sich der ungeheuren Dynamik unserer Welt zu stellen. Die ist so intensiv,
so dass wir den Filter der Unwissenheit sehr schätzen. Wir schätzen diese Täuschung einer gewissen Stabili-
tät. Das gibt uns eine Ruhe. Damit konfrontiert zu werden, wie dynamisch alles ist, ist ziemlich beunruhi-
gend. Das kennt ihr. Ihr habt schon genug Dharma kontempliert, um zu wissen, wie beunruhigend es ist,
wenn man sich des ganzen Ausmaßes der Unbeständigkeit bewusst wird.

Der Eindruck von Stabilität


Tatsächlich ist diese sogenannte äußere Welt so veränderlich wie Wasser, das allerdings vom Wind
aufgewühlt wird, und dann so solide Formen annimmt als wäre es Erde oder Stein.

Wir können das am Phänomen der Wellen sehr gut sehen. Wenn wir am Ozean stehen und Wellen beobach-
ten, wissen wir, es ist Dynamik, aber der Eindruck ist, als hätten wir Mauern vor uns. So, als wären das rol-
lende Mauern, als würden sich feste Formen ergeben. Aber es ist alles nur Wasser. Die Kraft des Windes
steht hier in diesem Beispiel für den karmischen Wind unserer Gewohnheitsmuster, der dieses dynamische
Leben in unserem inneren Bewusstsein immer wieder so aufpeitscht und wie stabile Formen entstehen lässt.
Stabile Dämonen, stabile Götter, etwas, zu dem wir uns als stabil in Beziehung setzen können.

Saraha - von dem es heißt, dass er der Begründer des Mahāmudrā ist, vermutlich auch im 2. Jahrhundert
nach Christus, vielleicht auch etwas später - sagt: Das Wasser, das doch so weich ist, nimmt Formen an,
wenn es von dem Wind aufgewühlt wird, die so hart sind wie Stein. Aufgewühlt, aufgepeitscht von un-
serem Denken nimmt der unwissende Geist das, was ohne Form ist, als substanziell.

Der von den Gewohnheitsmustern aufgepeitschte Geist nimmt das, was keine bleibende Form hat, als sub-
stanziell, solide, existent. Das ist das Grundproblem in dem, was wir Samsara nennen, täuschende Wahr-
nehmung.

Ich kriege so gut mit, wie sich bei einem Phänomen wie das, was wir „Grüner Baum“ nennen - ein Retreat-
haus und das Leben darin - Neigungen einschleichen, das für gegeben zu halten; als wäre da etwas. Da ist gar
nichts. Da ist nur Dynamik. Es ist eine solche Dynamik, und wir versuchen immer, da irgendetwas Stabiles
reinzukriegen. Wir sind dann so verzweifelt, wenn das Stabile sich dann schon wieder als endlos dynamisch
herausstellt. Dies ist nur ein Beispiel für irgendetwas in eurem Leben. Ihr könnt alles nehmen, ob ihr im Be-
ruflichen oder Familiären oder sonst wo schaut.

Es wäre schön, es würde alles seine Form haben. Aber es hat keine Form. Es wäre so schön, wenn die Men-
schen mal so bleiben könnten, wie sie gerade okay sind. Sie haben keine Form. Es entwickelt sich weiter.
Immer muss man sich auf Neues einstellen, immer wieder, unaufhörlich. Das ist leichter, wenn das Ge-
wahrsein der veränderlichen Natur der Dinge groß ist. Dann ist die Einstellung auf das immer Neue total
leicht.

Die Einheit von Samsara und Nirvana erkennen


Im Hevajra Tantra heißt es: Das, was wir Samsara nennen, nimmt Form an aufgrund von mangeln-
dem Gewahrsein. Wenn dieses mangelnde Gewahrsein, auch Unwissenheit genannt, gereinigt ist, dann
wird Samsara zu Nirvana. Dann zeigt sich Samsara als Nirvana.

Das Samputa Tantra sagt: Verschleiert von den Schatten vieler Vorstellungen, vieler Gedanken, be-
herrscht vom Irrsinn, Verrücktsein, so schnell wie ein Blitz und verschmutzt durch Begierde und die
anderen schwer zu vermeidenden Unreinheiten, ist dieser Geist, so sagt Vajradhara, tatsächlich Sams-
ara. Wir befreien uns, indem wir verwirklichen, dass dieser Geist von Natur aus Luminosität ist, er-
hellende Klarheit. Frei von allen Beimengungen, allen Schatten, von Begierde und dergleichen Un-
reinheiten, befreit von der Dualität, von Subjekt und Objekt, ist dieser höchste erwachte Geist - das ist
ein Wortspiel im Tibetischen: dieser Erleuchtungsheld - das höchste Nirvana.

Wir begegnen hier in diesen beiden Zitaten einer ganz tiefen Erklärung über die Natur des Seins. Was wir
jetzt verwirrt wahrnehmen und uns in der Dualität als die Welt der Wahrnehmung erscheint, in der wir an-
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.18

haften und ablehnen, in emotionalen Aufruhr geraten: dasselbe Erleben ist, wenn es von der Illusion der
Dualität befreit ist, das Erleben der Erwachten. Das ist Nirvana. Das sogenannte Nirvana, also tiefster innerer
Frieden, Offenheit, die große Freude ist nicht anderswo zu suchen als jetzt, im jetzigen Erleben. Es ist das-
selbe Erleben: wenn es frei ist vom Greifen, dualistischen Fixieren, zeigt es sich in seiner ursprünglichen
Natur.

Dies ist eine ganz wesentliche Unterweisung, weil es klar wird - wenn wir dem soweit vertrauen - dass wir
Befreiung nicht woanders zu suchen brauchen, wir Nirvana nicht woanders suchen und finden. Das heißt für
den Meditierenden: immer im Jetzt, jetzt gerade, im jetzigen Erleben, da ist der Schlüssel. Ich brauche nichts
anderes, als was mir das Leben jetzt präsentiert. Wenn ich es so lasse, wie es ist, werde ich erkennen, wie es
ist, und darin Freiheit finden. Das ist der Schlüssel zur Mahāmudrā Meditation.

Mahāmudrā gibt es nicht ohne dieses Verständnis der Einheit von Samsara und Nirvana. Sie sind nicht gleich
– sie sind extrem verschieden. Samsara ist Leid, Stress – Nirvana ist Freiheit, Frieden. Es ist extrem ver-
schieden, aber das, was jetzt jederzeit möglich ist; so oder so. Mit dualistischem Greifen ist es Samsara, ohne
dualistisches Greifen ist dasselbe Jetzt Nirvana.

Deswegen sagte Gendün Rinpoche wie viele andere Mahāmudrā Meister immer: „Entweder ist da Ge-
wahrsein (rigpa) oder es ist kein Gewahrsein (marigpa).“ Das ist der einzige Unterschied zwischen Erwach-
ten und Nicht-Erwachten: rigpa und marigpa, Bewusstheit und mangelnde Bewusstheit.

Der Geist als Quelle von Samsara und Nirvana


Nagarjuna sagte: Die Reinheit, die erlangt wird, indem wir die Ursache von Samsara reinigen, das ist
Nirvana. Die Ursache von Samsara, die es zu reinigen gilt, ist dieses dualistische Ergreifen. Dann zeigt sich
die Welt als Nirvana. So ist also der Geist die Wurzel aller Nachteile, denen wir in Samsara begegnen,
und aller Qualitäten des erwachten Erlebens. All das geschieht im Geist. Der Geist ist die einzige Quel-
le von Samsara und Nirvana. Niemand anderes, nichts anderes ist dafür verantwortlich zu machen.

Das ist auch ganz wichtig. Praxis bedeutet: Samsara und Nirvana sind die Produktion des eigenen Geistes
und da will ich doch mal schauen, wo ich gerade dabei bin, mir mein eigenes Samsara zu produzieren. Das
werde ich entspannen und damit öffnet sich der Geist in die neue Erfahrung, die neue Dimension. Also keine
Ausrede: es sind nicht die anderen, es ist nicht die Welt.

Das Lankavatara Sūtra sagt: Die Formen, die sich in einem Spiegel zeigen, sind Bilder ohne Substanz.
In der gleichen Weise ist die scheinbare Dualität einfach eine Wahrnehmung in unserem Geist. Eine
äußere phänomenale Wirklichkeit wahrzunehmen, kommt durch Gedanken, durch Geistesbewegung,
durch geistige Aktivität unter dem Einfluss von Gewohnheitsmustern.

Sehr klar gesagt. Es war vielleicht ein bisschen schnell für euch. Was immer wir als vermeintliche Dualität
wahrnehmen, ist in unserem Geist – auch jetzt. Bitte fangt nicht an, gegen diese dualistische Wahrnehmung
zu kämpfen. Es ist tatsächlich nur wie ein Spiegelbild, wie ein vorübergehendes Bild im Geist. Auch die Du-
alität existiert nicht als solche. Sie entsteht als ein Erleben aufgrund von Gewohnheitsmustern, die in uns
aktiv sind, und die wir leider ständig bedienen. Deswegen werden sie immer aktiver, sind wie tiefe Spurrillen
der Wahrnehmung, in denen wir unterwegs sind.

Es ist dieser ständig sich wandelnde Geist, der dynamische Geist, der die Vielfalt der Objekte so er-
scheinen lässt, als ob es konkrete, stabile Objekte gibt. Tatsächlich gibt es eine solche äußere stabile
Realität nicht.

Zum Glück helfen uns heute die moderne Physik und auch das Wissen aus Chemie und Biologie, um zu wis-
sen, dass selbst solche richtig stabilen Pfeiler und Metallträger in ständiger Bewegung sind. Das ist auch ein
dynamisches Geschehen, selbst äußerlich sind sie ein dynamisches Geschehen - ganz zu schweigen davon,
dass sie innerlich in uns immer ein dynamisches Wahrnehmen sind. Ihr kennt das berühmte Sprichwort, dass
man nie ein zweites Mal in denselben Fluss steigt. Man sieht aber auch nie ein zweites Mal dieselbe Säule.
Die Säule verändert sich, der Betrachtende verändert sich, das Erleben verändert sich.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 19

Um es für den Meditierenden zu sagen: Wir nehmen nie denselben Atemzug ein zweites Mal. Wir sind für
keinen Moment dieselben.

Dann heißt es weiter: Ich sage es nochmal, dass die materiellen Objekte Geist sind. Sie sind einfach geis-
tige Wahrnehmung.

Ich bin doch so überzeugt, wenn ich jetzt hier die Klangschale in die Hand nehme und ihr seht die alle, ich
habe ein materielles Objekt in der Hand. Was tatsächlich stattfindet: ich habe Erfahrung von Gewicht, von
etwas Kühlem, Rundem, Glattem, ich habe auch Klangphänomene, der Schall wird anders reflektiert. Ich
habe eine Menge Sinneswahrnehmungen, die sich in mir zu der klaren Überzeugung zusammensetzen, hier
habe ich eine Klangschale, die man zum Glück dann auch noch anschlagen kann, um sich zu überzeugen.

Die buddhistischen Meister streiten nicht ab, dass es eine Klangschale gibt. Sie alle bedienen die Klangscha-
le und sie alle trinken Tee. Das wird nicht abgestritten. Sondern es ist so, dass man jedes Mal eine andere
Klangschale anschlägt, einen anderen Tee trinkt, weil das Erleben ein anderes ist. Sie wird jedes Mal anders
gehört, sie ist selbst, in sich, anders. Es ist alles dynamisch. Alles verändert sich.

Wir hören also nicht auf, uns auf eine stabile äußere Welt zu beziehen. Wir kriegen nicht plötzlich Angst,
bloß weil alles dynamisch ist, dass uns hier das Stockwerk einstürzen wird und wir uns nicht mehr in den
Raum hinein trauen. Wir vertrauen darauf, dass die Erde uns trägt, dass dieser Zwischenboden uns trägt - all
das bleibt gleich.

Es gibt etwas Zusätzliches. Nämlich, dass wir mit Gewahrsein uns bewusst sind, dass all dies subjektiv erlebt
wird und in sich total dynamisch ist - auch wenn es, so lange hier nicht zu viel Hitze wirkt oder zu große
Stürme, unter gleichbleibenden Bedingungen stabil ist. Wir schütten jetzt also nicht das Kind mit dem Bade
aus. Wir behalten den gesunden Menschenverstand und unsere Erfahrung – all das ist verlässlich. Man kann
sich darauf verlassen im Rahmen der Bedingungen, unter denen es gleichbleibt.

Wenn dieses Haus anfängt zu brennen und die Temperaturen ansteigen, ist dieser Raum kein sicherer Raum
mehr, denn diese Metallsäulen hier werden als erstes knicken. Das muss man wissen. Wir verändern die Be-
dingungen und schon ist die Situation anders. Also nehmen wir zu unserer stabilisierenden Weltsicht noch
die Korrektur hinzu: Ja, die Dinge sind so weit ungefähr stabil, wie die Bedingungen gleich bleiben.

Aber alles ist unter dem Einfluss von Bedingungen äußerlich veränderlich und sowieso innerlich. Innerlich
setzen wir an mit unserer Praxis, weil das entscheidet, mit welcher Haltung, welchem Erleben wir unterwegs
sind. Denn da entsteht Leid. Leid entsteht nicht durch das Äußere. Leid, Stress und Spannung entstehen
durch unsere Art, wie wir uns mit der Welt in Beziehung setzen. Samsara entsteht innerlich, nie äußerlich.
Samsara ist Stress pur und der entsteht innerlich, dadurch wie wir mit Situationen umgehen.

Das Avatamsaka Sūtra, das Sūtra der wunderbaren Ornamente, sagt: Der Geist ist wie ein Künstler.
Er erschöpft, erzeugt durch die mentalen Skandhas alle Welten, wo immer wir sind: das Kunstwerk
des Geistes.

Mit den Prozessen des Wahrnehmens, Empfindens, Gestaltens erzeugen wir die Wahrnehmung der Welt, so
wie ein Künstler ein Gemälde malt. Das ist die Aussage hier. Wir sind Künstler, die unsere eigene Welt stän-
dig malen. Wir malen uns aus, wie es ist. Wie es jetzt ist, das ist ein inneres Bild; wie es sein wird, ist ein
Bild; wie die Vergangenheit war sind weitere Bilder.

Man kann diese Fähigkeit des Geistes nutzen, um anzufangen und erst mal richtig schöne Bilder zu malen.
Gendün Rinpoche nannte das, von einem schlechten Traum in einen guten Traum zu wechseln. Dann können
wir aus dem Traum noch erwachen und merken, dass all diese Bilder keinerlei Substanz haben. Sie können
so oder so gestaltet werden.

Das Ratnamegha Sūtra sagt: Es ist der Geist, der die Welt anführt, bestimmt. Aber Geist sieht nicht
den Geist. Er sammelt Handlungen an, heilsame oder weniger heilsame. Er dreht sich wie ein Feuer-
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.20

kreis. Er ist aufgewühlt wie Wellen. Er entflammt sich wie ein Waldbrand und breitet sich aus wie ein
großer Fluss.

Das Thema wird sein, dass der Geist beginnt, den Geist zu erforschen und zu sehen, wie er selbst funktio-
niert. Bis jetzt sind wir von den Produktionen des Geistes fasziniert wie Kinder, die einen Film für wirklich
halten. Dem gilt es auf die Schliche zu kommen und nicht nur dem: sondern wenn wir das einmal merken,
bewusst zu gestalten, auf erleuchtete, erwachte Weise zu gestalten.

Ansonsten ist es so, dass der Geist Heilsames und Nicht-heilsames produziert, so wie die Gewohnheitsmus-
ter geschaffen sind, und sich die Auswirkungen dieser Gewohnheitsmuster in jeden Lebensbereich hinein
ausbreiten, wie ein Waldbrand, wie eine Überschwemmung, und eine Illusion erschaffen, die diesen Ge-
wohnheitsmustern entspricht.

Das Vajrapanjara Tantra sagt: Seit anfangsloser Zeit ist das, was wir die äußere Welt nennen, die
Projektion des Geistes. Es ist der Geist, von dem all das kommt.

Das sind Beschreibungen der Schöpferkraft des Geistes. Der Geist ist wirklich ein Schöpfer. Wenn dieser
dynamische schöpferische Prozess im Geist befreit ist, entsteht erwachte Schöpfung. Dann wird zum Wohl
Aller erschaffen, gedacht, gesprochen, gehandelt. All das vollzieht sich ohne Ich-Bezogenheit und ohne die
Illusion von einer tatsächlich bestehenden Trennung.

Dieser selbe schöpferische Geist in der Illusion der Trennung wird aus Ich-Bezogenheit heraus erschaffen.
Seine Projektionen sind durchtränkt von Ich-Bezogenheit. Dementsprechend sieht dann unsere Wahrneh-
mung aus. Unser Erleben dieser Welt ist dann aus der Perspektive des großen Ich.

Die Tibeter sagen dazu nga gyal, das ist das Wort für Stolz. Ich König. Nga heißt ich und gyalpo König. Ich
– der stolze Mittelpunkt der Welt! Das ist der normale Film, der entsteht, das ist Samsara. Nirvana ist, frei
davon zu werden. Dann ist derselbe schöpferische Geist der, der die erwachte Aktivität vollbringt.

Im selben Text heißt es: Es gibt keine äußere Wirklichkeit, nichts, was äußerlich vom Geist wirklich
wäre. Formen und all die anderen Erscheinungen, Sinneswahrnehmungen, sind seine einfache Mani-
festation.

Das können wir jetzt ruhig etwas philosophisch nehmen, denn das, was wir Wirklichkeit nennen, ist ja das,
was wirkt, was Auswirkungen hat. Es ist immer nur das, was wir wahrnehmen, etwas, das in unserem Geist
stattfindet. Etwas, das nicht wahrgenommen wird, beginnt nicht zu wirken, ist wie nicht da, obwohl es eine
äußere Wirklichkeit hat. Nur das, was in unserem Erleben auftaucht, beginnt in unserem Geist zu wirken -
auch wenn es in einem wenig bewussten Erleben auftaucht, aber es muss darin auftauchen. Dann beginnt es
zu wirken.

Fragen
Jetzt haben wir Zeit für Fragen. War etwas unklar?

Teilnehmer/in: Wenn die Schriften sagen, dass es keine Realität gibt und du vorher aber gesagt hast, dass
die buddhistischen Meister nicht bestreiten, dass es diese Klangschale gibt – dann ist darin doch ein Wider-
spruch.

Da ist ein Widerspruch, wenn wir es nur bei diesen Worten belassen, dass es keine bleibende unabhängige
Realität gibt. Das ist in der Art, wie diese Worte benutzt werden, im indischen Verständnis eingebaut. Wenn
von der Realität von etwas, das existiert, gesprochen wird, dann meinen wir, es existiert aus sich heraus, un-
abhängig von Bedingungen.

Das ist weder in unserem Erleben der Fall, weil in unserem Erleben ständig andere Bedingungen aktiv sind,
noch ist es hier der Fall, denn es ist gar nicht dieselbe unabhängige, aus sich heraus entstehende Klangschale.
Selbst die hat sich von gestern auf heute ein klein wenig verändert, nicht für uns sichtbar; manchmal sicht-
bar, wenn sich Rost bildet, Staub ansammelt. Dann merken wir, etwas hat sich verändert. Aber manchmal
kriegen wir es nicht mit.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 21

Der Begriff Realität ist also sehr eng gefasst. Man kann sagen, es ist eine Prozessrealität, eine dynamische
Wirklichkeit, die relativ stabil ist und hoffentlich noch viele Jahre als Klangschale erhalten bleibt. Wenn man
den Begriff weitet und sagt, es braucht nicht eine unabhängige Existenz, sondern innerhalb des Feldes, des
Netzwerks der Bedingungen, hat das eine gewisse bleibende Realität: so kann man es schon sagen.

Kreieren wir dann Realität?

Ja, wir kreieren Realität in dem Sinn, wie wir das ständig wahrnehmen. Man sieht als Kleinkind nicht schon
eine Klangschale. Wenn jemand aus einer anderen Kultur hereinkommt, wird er das als einen wunderbaren
Topf zum Kochen benutzen. Es sieht gar nicht so anders aus wie die guten, indischen Kochtöpfe. Man kann
sich auch draufsetzen, anders herum natürlich. Eine kleine Katze wird das als idealen Schlafplatz sehen und
nutzen. Das ist mit Realität gemeint, wenn es um Realität geht, die von Lebewesen wahrgenommen wird.

Unsere Wissenschaft hat sich extrem damit befasst, die sogenannte objektive Realität zu versuchen zu be-
stimmen, messbare Realitäten zu bestimmen. Aber das ist nicht das, wo Leid entsteht oder Befreiung. Das ist
relativ uninteressant. Dies ist nur die Schnittmenge, von der man irgendwie innerhalb der wechselnden Be-
dingungen ausgehen kann, dass es da ungefähr das hat. Aber wie es erlebt wird, ob mit oder ohne Stress er-
lebt wird, ist damit noch nicht ausgesagt. Von daher ist es im philosophischen Sinne keine Wirklichkeit im
Sinne von etwas, das eine Wirkung freisetzt. Das ist immer das, was wir innerlich erleben, was wir damit
machen.

Teilnehmer/in: Du hast den Begriff „Karmischer Wind“ erwähnt. Könntest du da nochmal Licht hineinbrin-
gen?

Dieses Beispiel vom Wind, wie er mit den karmischen Mustern gleichgesetzt wird? Das war dieses Zitat, wo
es darum ging, dass - ähnlich wie die Wellen, die vom Sturm oder vom Wind aufgebauscht werden und soli-
de erscheinen - in unserem Geist die karmischen Winde, also die Gewohnheitsmuster, die Dinge so aufbau-
schen, dass es total wirklich erscheint. So wird eine flüchtige Idee von etwas, wonach wir großes Verlangen
haben, durch die Kräfte des Verlangens – das wären die karmischen Winde – so aufgebauscht, dass es fast
unmöglich wird, dem nicht zu folgen.

Oder von der karmischen Kraft, dem karmischen Wind des Ärgers und der Abneigung wird etwas, was mir
nicht gefällt, so verstofflicht, dass ich abends gar nicht mehr einschlafen kann, weil in mir immer diese Ge-
danken aufsteigen von diesem konkreten Problem, das ich habe – welches natürlich nicht mit mir im Bett ist,
ja? Das Problem ist weit weg, aber es wird von meinen karmischen Winden so vergegenständlicht, dass es so
ist, als wäre ich mit meinem Problem ins Bett gegangen.

Das meint man damit, dass karmische Winde den Dingen eine Gegenständlichkeit geben, sie uns wie Mauern
erscheinen, wie Steine, wie die härtesten Dinge in der äußeren Welt. Wer hat nicht schon so eine karmische
Mauer, vor der er stand, in einem Nu, als die Sichtweise sich änderte, verschwinden sehen? Plötzlich war
weder das, was das Verlangen ausgelöst hat, noch das, was den Ärger ausgelöst hat, noch fassbar. Das ist den
meisten von uns wohl schon passiert.

Teilnehmer/in: Du hast vorhin gesagt an einem Beispiel, man könne aus schlechten Bildern gute Bilder ma-
chen. Das ist etwas, worüber ich stolpere. Wenn es irgendetwas Leidvolles gibt, was mich bewegt oder be-
schäftigt – dann kann ich doch nicht einfach denken, nein, es ist alles gut, also das Bild umändern. Wie ma-
che ich das? Ich weiß zwar, es ist mein Geist, ich beruhige mich vielleicht, achte auf den Atem, bediene mich
der Erfahrungen, die ich gemacht habe, die sich positiv ausgewirkt haben - und doch ist es wieder etwas,
was ich mache. Verstehst du, was ich meine?

Ich verstehe ganz gut, was du sagst. Das erste ist ein Missverständnis. Es geht nicht darum, aus einem
schlechten Bild ein gutes zu machen, sondern, wenn ich mich ärgere, dann stelle ich fest: oh, schlechter
Film. Der wühlt die schlimmsten Seiten in mir auf mit ganz viel Anspannung. Diese Bilder umformen zu
wollen, geht nicht. Das wäre so, als ob man eine schwarze Mauer rosa streicht. Das klappt auch nicht im
Geist und ist nicht sehr überzeugend.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.22

Aber der heilsame Film wäre zum Beispiel - ein Beispiel unter vielen, die wir anführen könnten -, dass ich
mir den, der mich nervt, mal etwas genauer anschaue und merke, wie stark der unter dem Einfluss von Emo-
tionen ist, wie gefangen dieser Mensch in seinen Emotionen ist. Dann entsteht in mir ein gewisses Verständ-
nis und ich unterstelle ihm nicht mehr, dass er das alles extra macht, nur um mich zu ärgern. Ich merke, er
kann gar nicht anders. Dann entsteht ein Hauch von Verstehen, von Verständnis - schon fast der Beginn von
Mitgefühl. Aber nur durch ein direktes Sehen, was eben auch noch ist. Ich bin nicht mehr so selektiv in mei-
ner Wahrnehmung und nehme nicht nur das wahr, was mich ärgert, sondern auch das, was etwas erklärend
wirkt. Schon beginnt sich mein Film zu wandeln. Ich trete in einen heilsameren Traum ein, der durchaus
glaubwürdig ist, aber auch ein Erzeugnis unseres Geistes, wie du es schon gesagt hast.

Es ist noch nicht das Erkennen von dem, dass da eigentlich niemand ist, der sich zu ärgern braucht. Das ist es
noch nicht. Es ist noch nicht das Aussteigen aus der Dualität. Es ist immer noch im Rahmen der Dualität.
Der heilsame Traum ist ein geschickterer, heilsamerer Vorgang in unserem Geist, in unserem Prozess, der
aber immer noch aus dem eigenen Tun heraus entsteht.

Dies nutzen wir. Das ist schon sehr, sehr hilfreich. In dem Bereich siedeln sich all die hilfreichen Interven-
tionen an: alles, was wir für unsere Freunde tun können im Gespräch, was Therapeuten tun können usw., das
ist alles in dem Bereich, zu einem viel heilsameren Traum zu kommen. In dem entspannen wir uns - und da
ist es viel leichter zu erwachen, als wenn wir noch voll in unserem Alptraum sind.

Hier in dem Buch wird es nicht darum gehen, einen besseren Traum zu erzeugen. Das ist nicht das Anliegen
dieser Unterweisung, sondern es geht um ein Untersuchen des Geistes und der geistigen Vorgänge, um das
Ding an der Wurzel zu packen und aus dem mangelnden Gewahrsein in volles Gewahrsein zu wechseln.

Die Unterweisungen zum geschickten Umgang mit Emotionen, wie man die Gegenmittel anwendet und so
weiter, werden hier nur ganz kurz am Rande erwähnt. Aber hier geht es darum, wie wir die Einsicht in die
Natur der Dinge fördern können. Das bedeutet nicht, dass das andere irrelevant ist. Es ist nur nicht Thema in
dieser Darstellung.

Dann machen wir jetzt noch eine kleine Abschlussmeditation. Wie ist denn das Erleben, wenn wir unseren
Projektionen keine Beachtung mehr schenken?

Kurze Zusammenfassung der bisherigen Erklärungen


Ich fasse zusammen, wo wir in den Erklärungen sind. Die Mahāmudrā Erklärungen haben schon begonnen.
Sie sind bereits in diesen einführenden Erklärungen immer dabei. Das bewirkt Dakpo Tashi Namgyal durch
die Auswahl der Zitate und was im Hintergrund alles mitschwingt. Ihr werdet spüren, dass es von der Tiefe
her eigentlich immer schon um das Wesentliche geht. Es geht immer schon um die Natur des Geistes, es geht
immer um das Sosein. Da brauchen wir nicht auf später zu warten. Die Frage, die uns dabei beschäftigt, ist
immer: Wie können wir uns da hinein öffnen? Wie finden wir den Weg da hinein? Dieser Frage werden wir
auf viele verschiedene Arten und Weisen nachgehen.
Nun ist dieses Buch ein Meditationsmanual. Es geht die ganze Zeit um Meditation, von der ersten bis zur
letzten Seite. Die anderen Dinge, die normalerweise als Einbettung dazu gehören, werden vorausgesetzt.
Der Autor geht davon aus, dass wir unser Leben bereits auf eine gesunde, ethische Grundlage gestellt haben,
wir den Entschluss gefasst haben und umsetzen, anderen Lebewesen und uns selber nicht zu schaden und
heilsam zu handeln. Ihr kennt die zehn heilsamen Handlungen.
Er geht davon aus, dass wir Zuflucht genommen und Bodhicitta entwickelt haben, uns also in den Strom des
Erwachens hinein begeben mit dem Wunsch: was immer wir verwirklichen, wir erfahren, es möge allen zu
Gute kommen.
Er geht davon aus, dass wir ein Verständnis entwickelt haben von den sechs Paramitas oder zehn Paramitas.
Das sind die befreienden Qualitäten, angefangen mit Freigebigkeit, heilsamem Handeln, Geduld, freudige
Ausdauer, meditative Stabilität und Weisheit. Dass wir uns in dieser Praxis wie zu Hause fühlen und nun
wissen wollen, wie man das macht mit der Meditation und der Weisheit, den letzten beiden Paramitas.
Darum geht es in diesem Buch. Es geht um die letzten beiden Paramitas, das andere wird vorausgesetzt. Oh-
ne dass es groß erwähnt wird, wird vorausgesetzt, dass wir uns alle auf dem Bodhisattvaweg fühlen, wir also
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 23

wissen, wie wir diese Praxis, die jetzt so ganz fein im Detail beschrieben wird - wir werden immer mehr da-
von hören - einbetten können in eine Praxis von Liebe und Mitgefühl; sie aufgehoben ist in einem warmen
Herzen, einer warmen Grundhaltung, mit der wir in die Welt hinein gehen; auch in die Praxis, das Bodhicitta
meditieren zu lassen; wir schon davon gehört haben, dass es nicht ein ehrgeiziges Projekt der Ich-
Bezogenheit ist, das wir versuchen anzugehen. „Ich will Mahāmudrā verwirklichen“: das ist völlig unmög-
lich.
Es geht um Bodhicitta. Es geht darum, diesen erwachten Geist zuzulassen. Das, was natürlicherweise in uns
ist, zuzulassen und uns selbst diesem Strom zu übergeben, sodass es durch uns hindurch wirken kann.
Eine andere Dimension davon ist, uns dem Segen zu öffnen, also der Inspiration, der vielen Vorbilder und
dem Segen der erwachten Dimension des Geistes - und diese in uns wirken lassen. Also nicht aus dem Ich
heraus praktizieren, sondern mit einem warmen Herzen in wirklich gelöstem Sein unsere eigene Wichtigkeit
loslassen. Darin arbeiten wir dann ganz fein mit dem Geist, um ihn immer weiter aus den Verstrickungen zu
lösen. Diese feine Arbeit, wie wir uns aus den Verstrickungen lösen können, wie wir die Meditationsschleier
auflösen können usw., darum geht es in diesem Text.
Der Dharma umfasst unser ganzes Leben und dann gibt es die Praxis, die ganz in die Essenz führt, da wo
man nicht mehr von Liebe und Mitgefühl und dergleichen spricht, sondern nur von: Gibt es ein Gefühl von
Mittelpunkt oder gibt es keins? Gibt es ein Greifen, gibt es kein Greifen? Die ganz feine Mechanik des Geis-
tes sozusagen, wie Leid entsteht, wie Offenheit entsteht usw., darum wird es gehen.
Ich bitte euch, diese Einbettung der Praxis nicht zu vergessen. Ich habe mit Johann darüber gesprochen und
er hat gesagt, er hat bereits mit euch angefangen, das einzubetten - und genau darum geht es. Es ist ganz
wichtig. Das kann man nicht immer alles gleichzeitig machen. Ich wollte das noch mal angesprochen haben,
dass ihr das für euch auch immer so einbettet und mit Liebe durchdringt.
Es gibt tatsächlich nichts Stärkeres in der Welt als Liebe. Man kann über die Liebe ins Mahāmudrā hinein-
finden: Öffnung, dieses Loslassen von sich selbst, die Hinwendung zu allen Lebewesen und natürlich die
Hinwendung, die Öffnung für die inspirierenden Vorbilder mit ihrem Segen.
Gendün Rinpoche sagte immer, ich wiederhole es noch mal: Was die Hingabe, diese Öffnung des Herzens,
zu den Buddhas ist und zu den großen Bodhisattvas, den Vorbildern, ist eigentlich dieselbe Öffnung des
Herzens zu den Lebewesen, die wir dann Mitgefühl nennen. Nur ist es etwas unterschiedlich, in welche
Richtung wir uns öffnen, was dann genau passiert. Aber beide bewirken, dass wir uns öffnen - Segen durch
Hingabe und Segen durch Mitgefühl.
Nun mache ich weiter mit der Passage, bei der wir angekommen sind. Wir haben gehört, welche Gründe es
gibt, über die Natur des Geistes zu meditieren. Wir haben gehört, dass es wichtig ist zu sehen, dass sich
Samsara und Nirvana im selben Augenblick als Möglichkeiten anbieten, je nachdem ob Greifen da ist oder
nicht. Wir haben einiges gehört darüber, warum es wichtig ist, die Natur des Geistes zu kennen, zum Beispiel
um zu durchschauen, wie ein innerer Film entsteht, wie die ganze Welt unserer Wahrnehmung unsere eigene
Produktion, unsere eigene Schöpfung ist. Wie man sie durchschauen, wie man darin frei werden kann. Das
ist der Grund, warum es sich lohnt und warum es absolut notwendig ist, über die Natur des Geistes zu medi-
tieren.

Die Nachteile, nicht über den Geist zu meditieren


Jetzt kommt eine Passage über die Nachteile, wenn man nicht über die Natur des Geistes meditiert.
Die Schüler des Buddhas, die nicht über die Natur des Geistes meditieren, sondern sich damit zufrie-
den geben, die Worte des edlen Dharma zu hören und zu kontemplieren, werden nur zeitweiligen Nut-
zen davon haben und nicht die letztendliche Befreiung erlangen.

Ohne Meditation ist der Dharma wirkungslos


So sagt das Gandavyuha Sūtra in vielen verschiedenen Beispielen:
Wir können die vollkommenen Unterweisungen des Buddhas nicht einfach durch Hören und Studie-
ren verwirklichen. Ohne Meditation ist der Dharma so wenig wirksam wie ein Verdurstender, der an
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.24

Durst stirbt, während er vom Fluss davongetragen wird. Er bräuchte eigentlich nur den Mund aufzuma-
chen und zu trinken. Ohne Meditation ist der Dharma so wenig wirksam oder so unwirksam, wie bei
einem Menschen, der an Hunger stirbt, nachdem er Nahrung und Getränke im Überfluss geopfert hat,
anderen dargebracht hat.
Dieses Beispiel ist speziell für die Dharmalehrer- und lehrerinnen, die den Dharma praktizieren. Die den
Dharma zwar anderen darbringen, weitergeben, aber selbst nicht anwenden. Sie sind wie Hungrige, die ihre
Nahrung zwar verschenken, aber nicht wissen, wie man selbst isst.
Ohne Meditation ist der Dharma so unwirksam, wie bei einem Arzt, der alle Arzneien besitzt, aber sie
nicht auf sich selbst anwendet und an einer Krankheit stirbt. Ohne Meditation ist der Dharma so un-
wirksam wie ein Schatzmeister, der Juwelen zwar zählt, aber nicht ihr Besitzer ist.
Um es mit anderen Worten zu sagen: den Dharma zu hören und vielleicht zu zählen, d.h. vielleicht eine super
Bibliothek zu Hause zu haben, die gesammelten Dharmaschätze - eine Reihe nach der anderen -, aber sie
sich nicht zu eigen gemacht zu haben. Sie sind nicht im Herzen angekommen. Wenn wir aus dem Haus ge-
hen, begleiten sie uns nicht. Es ist, als ob wir nicht wirklich über sie verfügen können. Wie traurig.
Das Wort Meditation sollte ich kurz erklären. Das ist gom auf Tibetisch und bhavana auf Sanskrit. Das be-
deutet so viel wie sich üben, vertraut werden. Also ein Anwenden, damit wir allmählich vertraut werden mit
dem, worum es eigentlich geht. Meditation hier in diesem Buch ist das Vertrautwerden mit dem eigenen
Geist; mit dem, wie wir Befreiung finden im eigenen Geist und auch damit vertraut werden, wie wir aus Ver-
strickung wieder herausfinden.
Meditation: das eigentliche Wort, was dahintersteckt im Tibetischen und im Sanskrit, ist ein kontinuierliches
Üben, das zu völliger Vertrautheit führt, sodass wir uns im eigenen Geist ganz und gar zu Hause fühlen. Hier
bedeutet es also, mit dem Dharma vertraut zu sein. Mit all dem vertraut zu sein, was tatsächlich befreit, be-
deutet, dass wir den Dharma intus haben. Das ist Meditation.
Ohne Meditation ist der Dharma so unwirksam wie bei einem Menschen, der als Diener in einem
wunderbaren Palast geboren wird und dem nichts, was er isst und trinkt, selbst gehört.
Also immer das Gefühl, nicht wirklich satt zu werden, nicht wirklich zu Hause anzukommen. Wir sind wie
ein Fremder in dem Palast des Dharmas. Wenn wir im Dharma ankommen, fühlen wir uns zu Hause, völlig
zu Hause. Jeden Satz und jede Erklärung werden wir schätzen können und wissen, welches Geschenk das für
uns ist. Ich kann es aufnehmen, ich kann es anwenden, es gehört mir.
Ohne Meditation ist der Dharma so wirkungslos wie ein blinder Künstler auf dem Marktplatz, der das
nicht malen kann, was er nicht sieht.
Alles ist eigentlich da um uns herum, das Leben spielt sich um uns herum ab, aber wir haben wie nicht den
Schlüssel, wir haben nicht die Augen, die Dharma Augen, um es zu sehen, zu verstehen. Wenn wir meditie-
ren und zu einer direkten Erfahrung des Geistes kommen, enthüllt sich uns der Dharma in jeder Situation.
Ohne Meditation ist der Dharma so wirkungslos wie ein Fährmann oder Kapitän, der Mengen von
Passagieren übers Meer transportiert, aber stirbt, indem er ertrinkt.
Er hat nicht schwimmen gelernt. Das ist das Beispiel für Gelehrte. Man hat irgendwie gelernt, den Dharma
weiterzugeben, wenn man dann jedoch selbst in die Situation kommt, dass man schwimmen muss, wie zum
Beispiel bei Krankheit, im Alter, im Tod, dann ist man wie ohne Hilfe, ohne Dharma. Das gibt es auch.
Ohne Meditation ist der Dharma so wirkungslos wie jemand, der an der Wegkreuzung alles Wunder-
bare preist, aber die Reichtümer, die er preist, gehören ihm nicht.
Er bleibt selber arm. Es kann sein, dass es für einige von euch zutrifft, die voller Bewunderung sind für den
Dharma und im Grunde genommen in ihrer Bewunderung den Dharma den ganzen Tag loben könnten, aber
sich ihn wie nicht zu eigen machen. Sie können anderen davon erzählen: geh da mal hin, das musst du prak-
tizieren. Aber sie schaffen selber den Schritt nicht, in diesen Reichtum einzutreten und bleiben immer ge-
trennt davon.

Gefangen in den verstrickenden Emotionen


Hier ist das Ende des Zitates, jetzt kommt wieder Tashi Namgyal.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 25

Außerdem, wenn man nicht meditiert, werden unsere verstrickenden Emotionen den Geist beherr-
schen und zu einer Wiedergeburt in Leid führen, nicht nur in diesem Leben, sondern auch in zukünf-
tigen Leben.

Das Manjushrivikridita Sūtra sagt, wenn wir nicht die Natur des Geistes, das Wesen des Geistes ver-
wirklichen, werden wir von unserem begrifflichen Denken davongetragen, was dazu führt, dass wir in
den drei Welten umherirren und in den sechs Daseinsbereichen.

Die drei Welten hatte ich schon gesagt: Begierde, Form, Formlosigkeit. Man kann sie noch weiter aufschlüs-
seln und sagen, zum Bereich der Begierde gehören die Existenzen in höllischen Qualen, im Hungergeistbe-
reich voller Mangelgefühl, im Tierbereich, im Menschenbereich, im Halbgötterbereich und dann im Götter-
bereich. Hier gibt es sowohl die Götter, die noch zum Begierdebereich gehören als auch der Formbereich
und der Bereich der Formlosigkeit, wo auch immer.

Jemand, der die Natur des Geistes nicht kennt, ist tatsächlich nicht in der Lage, das Greifen nach den Er-
scheinungen zu lassen. Er ist nicht in der Lage sich aus Widerstreit, Kampf, Ärger und dergleichen zu befrei-
en und wird sich verstricken. Das ist in der Natur der Dinge. Völliges Freisein von Verstrickungen gibt es
nur, wenn wir die Natur des Verstricktseins durchschaut haben und uns eben nicht mehr darin verwickeln.

Shantideva schreibt im Bodhicaryāvatāra: Der Mensch, dessen Geist abgelenkt ist, wird von den Fän-
gen der verstrickenden Emotionen erfasst, oder lebt zwischen den Greifzähnen der Emotionen.
Wenn hier Shantideva sagt, jemand der abgelenkt ist, dann bedeutet das, abgelenkt von der wahren Natur des
Seins. Das ist nicht nur einfach Ablenkung, sondern ein Nichtwissen um das Eigentliche. Dies ist die tiefere
Bedeutung von Ablenkung.
Selbst wenn so jemand das Ende des Leidens und wahres Glück anstrebt, wird er, da er das Geheim-
nis des Geistes nicht kennt, was das beste und wesentlichste aller Dharmas ist, ohne Erfolg und ohne
Ausweg umherirren.
Seine Anstrengungen werden ergebnislos sein. Das ist für uns ganz wichtig. Wir streben ja alle danach, nicht
zu leiden. Das ist klar. Wir wollen alle frei sein von Leid, wollen glücklich sein, je tiefer, desto besser. Voll-
kommenes Glück, da haben wir nichts dagegen. Jeder möchte wirklich das höchste Glück erlangen. Wir ha-
ben schon so viel Dharma gehört, dass wir eine Ahnung davon haben, dass es eine Form des Glücks gibt, die
nicht mehr von Ich-Bezogenheit geprägt ist.
Da können wir lange hinstrebe. Das bloße Wünschen und Streben führt nicht heraus aus dem Leid in dieses
angestrebte Glück, wenn wir nicht die Natur des Geistes erkennen. Mit anderen Worten: wenn wir nicht in
die Nondualität, in dieses offene Sosein hineinfinden, oder anders gesagt: wenn wir uns nicht selbst verges-
sen können. Merkt ihr, dieser letzte Ausdruck “sich selber vergessen“: das ist das Auflösen der Ich-
Bezogenheit. Wie geht das, wie kann ich diese ständige Ich-Bezogenheit auflösen?

Ohne meditative Versenkung keine Weisheit


Weisheit - diese Weisheit des sechsten Paramitas; die Weisheit, die die Natur der Dinge erkennt - entsteht
nicht ohne meditative Versenkung - ohne diese komplette Präsenz, die es ermöglicht, die Dinge klar zu
sehen wie sie sind. Ohne Weisheit lässt sich das Erwachen nicht verwirklichen.
Das ist ein Dreierschritt. Wir möchten gerne ins Erwachen, für das Erwachen brauchen wir das Seinsver-
ständnis und kein Seinsverständnis ohne das Sein, voll erleben zu können, also volles Gewahrsein dessen,
wie es ist. Das braucht es, damit dieses Seinsverständnis entsteht.
Nagarjuna sagt im Suhrleka, im Brief an einen Freund: Ohne meditative Versenkung keine Weisheit.
Wir kommen nicht darum herum, wir müssen wohl üben. So vertraut werden mit dem eigenen Geist, dass er
ganz klar wird. Tatsächlich kann ich euch sagen, dann brauchen wir uns kaum noch um etwas zu kümmern.
Aber wir müssen so weit praktizieren, dass der Geist wirklich in seine natürliche Klarheit hineinfindet. Dann
zeigt sich alles ganz natürlicherweise, wie es ist.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.26

Alle, die bereits heilsames Verhalten praktizieren, den Dharma studieren und kontemplieren, sollten
also schließlich auch meditieren.
So sagt der Abidharmakosha: So sollten also alle, die heilsames Verhalten praktizieren, studieren und
kontemplieren, sich auch der Meditation widmen.
Das war schon das kleine Kapitel über die Nachteile, wenn wir nicht über die Natur des Geistes meditieren.
Man könnte denken, warum wird das überhaupt gelehrt? Ich weise noch einmal darauf hin, dass die meisten
Meditierenden auf unserem Planeten Erde eben nicht über die Natur des Geistes meditieren. Es ist wirklich
wichtig, darauf hinzuweisen, wie wichtig das ist und nur dies der Weg der Befreiung ist.
Erinnert ihr euch an eure eigenen Meditationen, wie viele Stunden ihr meditiert, ohne dass die Natur des
Seins irgendwie im Bewusstsein, im Blickfeld ist? Man setzt sich schnell mal hin und ist entspannt und prak-
tiziert, macht seine Mantren, aber ohne diesen Blick nach innen auf das, wie es ist. Das geht leicht und man
kann sich daran gewöhnen und, so ist es die Erfahrung von uns Lamas, kommt dann zum Lama und sagt: Du,
ich meditiere schon 10, 20, 30 Jahre, es tut sich nichts. Ich bin immer noch nicht weiter. Das hängt damit
zusammen, dass wir diese kostbare Zeit nicht für das genutzt haben, was wirklich befreit. Deswegen braucht
es diesen Hinweis zu Anfang, bevor überhaupt weitere Instruktionen gegeben werden.
Fragen
Teilnehmer/in: Ich würde mich zu den Leuten zählen, die sagen, dass sie schon eine Weile meditieren und
nicht wissen, wie viel es bisher gebracht hat. Ich mache die vorbereitenden Übungen, das Ngöndro. Wie
kann ich nun diese Mahāmudrā Sicht, die du uns gerade versucht hast näher zu bringen, in meine tägliche
Praxis einbringen, damit ich diese kostbare Zeit nicht verschwende?
Das ist das Wunderbare, dass wir tatsächlich jede dieser Übungen als eine Meditationsübung auf die Natur
des Geistes nutzen können. Wir können bei den Verbeugungen, beim Zufluchtnehmen den Blick nach innen
wenden: wie ist der Geist, wie entstehen die inneren Bilder, wie lösen sie sich auf?
In der Vajrasattva-Meditation können wir damit arbeiten, wie die dualistischen Fixierungen entstehen, wie
sie sich auflösen, uns dem Bodhicitta öffnen und damit ins Mahāmudrā eintreten. In den Verschmelzungs-
phasen treten wir immer in diese Offenheit ein, die uns das natürliche Sein, das Sosein zugänglich macht.
Wir können jede dieser Übungen, auch die Mandala Praxis, als eine Vertiefungspraxis nehmen, bei der wir
uns ganz darauf einlassen, unabgelenkt in dieser heilsamen Visualisationssphäre zu sein und dabei lernen,
wie der Geist gestaltet und wie sich diese Gestaltungen wieder auflösen, sie keine Substanz haben.
Beim Guru Yoga geht es nur darum, die Qualitäten des erwachten Geistes zu meditieren und sich immer
wieder dafür zu öffnen.
Jede dieser Praktiken kann als Mahāmudrā Praxis praktiziert werden. Dafür braucht es natürlich ein bisschen
Unterstützung von Lehrern, die einen darauf hinweisen.
Ich erinnere mich gut, es war mein zweites Retreat - ich habe das Ngöndro insgesamt wohl dreimal gemacht
- aber es war, als ich es das zweite Mal gemacht habe. Ich hatte also schon drei Jahre hinter mir und es waren
tiefe Einsichten entstanden. Ich war bei den Niederwerfungen und strengte mich an, zusammen mit der ande-
ren Gruppe, die fast alle in ihrem ersten Retreat waren, und verfiel wieder in dieses Tun und Machen: jetzt
geht‘s aber los, ein paar tausend pro Tag.
Dann kam Gendün Rinpoche zu Besuch und ich sprach mit ihm über die Praxis. Er bemerkte, in welcher An-
strengung ich war und fragte, ob ich eigentlich alles vergessen hätte. Praktiziere jetzt bitte die Niederwerfun-
gen mit Mahāmudrā. Eigentlich geht es darum, in den Niederwerfungen, in der Vajrasattvapraxis, also Dorje
Sempa, in der Mandalapraxis, in diese Anstrengungslosigkeit zu kommen.
Da ich das ein zweites Mal praktizieren konnte mit einem Lehrer, der mich darauf hingewiesen hat, habe ich
entdeckt, dass man tatsächlich jede der vorbereitenden Übungen als Mahāmudrā Praxis machen kann. Geis-
tesruhe entwickeln, Einsicht in die Natur des Geistes vertiefen und in offenen, natürlichen Sein ankommen.
Es geht mit jeder der Praktiken, mit jedem Aspekt der Praxis.
Vielleicht kann ich dir ein bisschen diese Inspiration weitergeben, es zuhause auch so zu machen. Im Detail
bräuchtest du dazu noch etwas Hilfestellung.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 27

Meditation
Jetzt machen wir eine kleine Meditation.
Nach so vielen Worten ist das erste immer, dass wir uns daran erinnern, gar nichts zu tun mit dem Geist. Ein-
fach nur sein. ...
Und wenn ihr etwas tun wollt, dann ist es mehr ein Erlauben. Erlaubt eurem Geist, ganz weit zu werden. …
Offen, ohne Trennung aufrecht zu halten. …
In dieser offenen Weite braucht es bloß ein gewisses Interesse dafür zu spüren, wie es ist zu sein. …
Merkt ihr, wie der Geist von selbst gewahr ist? Es ist seine Natur, gewahr zu sein. …
Seht ihr, wie sich das Erleben die ganze Zeit neu gestaltet, unaufhörlich? …
Seht ihr, wie sich all dieses, was sich da gestaltet, von selbst auflöst, von selbst verschwindet und zu neuem
anderen wird - ohne unser Zutun? Genau weil wir nichts tun, können wir sehen, wie es sich von selbst auf-
löst. …

Die spiegelgleiche Qualität des Geistes


Dieses ungehinderte Entstehen und sich ständig weiter Entwickeln nennt man die spiegelgleiche Qualität des
Geistes. Wie ein Spiegel, in dem die Reflexionen, die Spiegelbilder auftauchen, jeweils entsprechend der
Richtung, wo er hingewendet wird. Das vorherige Bild behindert das nächste Bild überhaupt nicht am Ent-
stehen: es löst sich im selben Moment auf, wo der Spiegel sich anderem zuwendet.
Genauso ist es auch im Geist. Was an Gestaltungen, an inneren Bildern, an innerem Erleben auftaucht, löst
sich spurlos auf, wenn der Geist sich dem Nächsten zuwendet. Das ist eine der grundlegenden Qualitäten des
Geistes. In diese Qualitäten können wir vertrauen. Das ist immer so.
Solange da kein Greifen ist, das ständig ähnliche Erscheinungen hervorruft, löst sich alles deutlich wahr-
nehmbar im Nu auf. Es löst sich auch auf, wenn Greifen da ist, nur entsteht sofort wieder etwas Ähnliches,
was aufgrund des Greifens gestaltet, ausgelöst wird. Deswegen sehen wir nicht so deutlich, dass selbst im
Greifen, im Anhaften, die spiegelgleiche Natur des Gewahrseins genauso aktiv ist.
Im Greifen zeigt sich unbehindert, was das Greifen hervorbringt. Nichts hindert unseren Geist daran, die
nächsten Erscheinungen, die in diesem Fall die Erscheinungen des Greifens oder Ablehnens sind, hervorzu-
bringen. Da wir aber im Greifen sind, merken wir nicht, dass das auch die unbehinderte, spiegelgleiche Natur
des Geistes ist.

Kurze Erklärung zur Meditation über die Natur des Geistes


Wir kommen jetzt zum nächsten Absatz, zu den Qualitäten, dem Nutzen, den es bringt, über die Natur des
Geistes zu meditieren.
Da möchte ich ein paar klärende Worte sprechen, was es eigentlich bedeutet, über die Natur des Geistes zu
meditieren. Ich glaube, ihr habt schon verstanden, dass die Natur des Geistes kein Gegenstand ist, über den
man meditieren kann. Es ist nicht so als würde man etwas ansehen. Das geht nicht.
Wenn wir sagen, dass wir über die Natur des Geistes meditieren, dann ist das ein innerer Prozess, so als wür-
den wir uns in das Erleben hinein öffnen. Das ist das Gegenteil von Beobachten. Wir lassen das Beobachten
sein und es öffnet sich in uns für das, wie es ist, wenn nicht mehr beobachtet wird.
Das Gewahrsein geht von selbst weiter, es hört nicht auf. Es findet weiterhin Erleben statt, aber dieses Erle-
ben ist nicht mehr von einem Mittelpunktsdenken charakterisiert. Wir, als ein Ich, sind so überflüssig. Das
Sosein kommt völlig ohne Ich aus.
Sich da hinein zu öffnen, ist wie die Lotusblüte oder eine Blume, die sich öffnet. Diese Bewegung machte
Gendün Rinpoche die ganze Zeit, um uns den Dharma zu erklären: die Finger schließen sich zu einer Faust
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.28

und öffnen sich wieder - das können die beiden Hände noch viel besser ausdrücken als die Worte. Es ist ein
sich öffnen, sich fallen lassen, ein sich offenbaren lassen von dem, wie es ist.
Wenn wir dann mit solchen Fragen operieren: Wie ist es zu sein? – dann ist nicht gedacht, dass diese Frage
wie auf ein Ziel geht, sondern diese Frage soll ein Interesse in uns wecken, wie es ist, einfach zu sein. Die
Antwort ist stummes Schweigen. Es braucht keine Antwort. Die Antwort ist das Erleben selbst. Das Erfahren
wie es ist, ist die Antwort. Es braucht keine begriffliche, konzeptuelle Antwort. Es ist eine Einladung, sich
fallen zu lassen.
In der Sprache braucht man solche Präpositionen, wie über die Natur des Geistes zu meditieren, auf die Na-
tur des Geistes zu meditieren oder die Natur des Geistes zu meditieren - immer mit Objektbezug. Die Spra-
che ist so aufgebaut: Subjekt, Prädikat, Objekt. Das ist unsere Sprachstruktur. Es ist ganz schwer, raus zu
kommen. Man muss zum Sprachkünstler werden, um Wege zu finden, das zu kommunizieren, was eigentlich
gemeint ist.
Also lasst euch nicht irreführen von solchen Titeln. Es geht den Tibetern genauso, dass sie auch wie alle die
Sprache benutzen und darin gefangen sind, dass Sprache normalerweise aus dem dualistischen Denken
stammt und davon geprägt ist.

Der Nutzen der Meditation der Natur des Geistes

Die Qualitäten der Meditation der Natur des Geistes


Die positive Kraft, die Verdienste, die entstehen, indem man die wahre Natur des Geistes meditiert,
sind grenzenlos.
So sagt das Tattvaprakasha Sūtra über die Natur des Soseins: Shariputra, sich in die Meditation des
Soseins zu vertiefen, und sei es auch nur so lange wie ein Fingerschnippen, entwickelt stärkere positive
Kraft, als den Dharma ein ganzes Weltzeitalter lang zu hören und zu studieren. Deswegen, Shariputra,
bemühe dich, andere in diese Vertiefung, ins Sosein, einzuführen.
Shariputra war einer der nächsten Schüler des Buddhas und hatte eine unglaubliche Gabe, den Dharma wun-
derbar zu erklären. Deswegen musste er die Anfänger unterrichten. Die besten Lehrer bekommen immer die
Anfänger, die Fortgeschrittenen können auch andere unterrichten. So hatten sich Shariputra und Maudga-
lyāyana, die beiden großen Schüler des Buddhas, die Aufgaben geteilt. Shariputra unterrichtete die vor dem
Stromeintritt und Maudgalyāyana die nach dem Stromeintritt, die schon die Natur des Geistes gesehen hat-
ten. Shariputra möge doch den Schülern dieses Sosein, diese Meditation des Soseins aufzeigen. Und wenn es
auch nur ein Fingerschnippen dauert, hat die Erfahrung des Soseins größere Kraft als alles, was wir durch
Studieren und Hören des Dharmas erreichen können, weil alles Studieren und Hören des Dharmas nur dazu
dient, endlich die Erfahrung des Soseins zu machen. Das nennt man das Erwachen. Da alles dahin führen
soll, ist diese Erfahrung diejenige, die die echte innere Transformation bewirkt.
Das Mahosnisha Sūtra sagt:
Es ist besser, einen einzigen Tag den Sinn, die Bedeutung, die Natur des Seins zu meditieren, als wäh-
rend vieler Weltzeitalter zu studieren und zu kontemplieren. Warum? Weil diese Meditation einen aus
dem Weg der Geburt und des Todes - also aus dem Kreislauf der Wiedergeburten - herausführt.
Denn nur sie hat die Kraft, uns aus dieser Ich-Bezogenheit zu lösen, die dazu führt, dass wir immer wieder in
denselben Mustern weitermachen. Es ist eine andere Geschichte, wenn wir aufgrund von Bodhicitta wieder-
kommen. Das ist eine andere Entscheidung. Aber zwangsweise Geburt anzunehmen, immer wieder im sel-
ben Leid, in denselben Mustern weiterzumachen, das hört damit auf.
Das Sūtra über das Ausweiten der großen Verwirklichung sagt: Ein Moment der Vertiefung - in die
Natur des Seins - ist besser, als das Leben aller Lebewesen der drei Welten zu retten.
Das wäre doch schön, wenn wir das Leben aller Lebewesen retten könnten. Aber was würde passieren? Wir
würden ihr Leben retten vor dem Ertrinken, vor dem Hunger, vor dem Krieg usw. - und dann machen sie
weiter in ihren Mustern und verstricken sich erneut. Also eigentlich kann man gar kein Leben retten.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 29

Man kann nur jetzt gerade aus dem Leid befreien und wenn sich nichts geändert hat in der Einstellung, geht
es genauso weiter wie vorher. Das ist eine bittere Erkenntnis. Es muss sich etwas ändern und es muss sich
etwas Grundlegendes ändern.
Wir müssen aus dieser Täuschung erwachen, aus diesem Irrglauben, hier innen drin das Zentrum der Welt zu
verorten. Das ist der Irrtum. Hier ist kein Ich, welches das Zentrum der Welt ist. Es ist nicht zu finden. Die-
ser ganze Ich und Du-Bezug, ich und das andere, Subjekt und Objekt, innerlich und äußerlich - das ist ein
großer Irrtum und solange wir in diesem Irrtum sind, werden wir mit dem Irrtum weitermachen.
Deswegen ist ein Augenblick der echten Erkenntnis besser als Leben zu retten, egal wie viele. Die übertrei-
ben dann immer. Die Beispiele sind krass, damit man anfängt nachzudenken.
Außerdem heißt es, dass solche Meditation - solche meditative Vertiefung in die Natur des Seins - das
Verlangen umkehrt oder auflöst.
Das Verlangen, das wir normalerweise gegenüber den Objekten unseres Verlangens haben, also den ver-
schiedenen Sinneserfahrungen, die wir als angenehm einstufen. Ob es nun die äußeren Sinne sind, etwas,
was wir gerne sehen, riechen, schmecken, fühlen. Oder ob es ein Verlangen nach inneren geistigen Objekten
ist. Dinge, die wir gerne denken, die wir gerne innerlich visualisieren.
Wo auch immer das Greifen stattfindet, es wird nur durch eine Erkenntnis aufgelöst, die in einem
Moment meditativer Versenkung stattfindet, wo sich die innere Klarsicht entwickelt, dank tiefer Prä-
senz.
Hierdurch entsteht auch das große Mitgefühl, da intuitiv erkannt wird, dass genau das die Wurzel des
Leides aller Lebewesen ist.
Solche meditative Praxis, die die Natur des Geistes erkennen lässt, vertieft also unser Mitgefühl, aber nicht
im Sinne von stärker werden, sondern dass wir endlich wissen, was der eigentliche Grund des Leidens ist,
woran Menschen, Tiere usw. wirklich leiden. Dass wir wissen, was der Unterschied ist, wie es ist frei zu sein
von dieser Ich-Bezogenheit.
Wenn wir das erkennen, spüren, dann gibt es einen wirklichen Quantensprung - unser Mitgefühl geht in eine
andere Dimension. Wir sehen hinter den vermeintlichen Ursachen des Leidens, also zum Beispiel schlechte
Lebensbedingungen, verschiedene emotionale Probleme usw., den eigentlichen Irrtum und seine Lösung.
Damit wird das Mitgefühl in eine andere Dimension gehoben, orientiert sich nicht mehr so stark am Äuße-
ren, sondern am Eigentlichen, dem Kreisen um sich selbst, den irrigen Annahmen über die Wirklichkeit, das
Für-wirklich-Halten dessen, was wir wahrnehmen usw.
Da wir jetzt die Natur der Wirklichkeit erkennen, sind wir auch in der Lage, Schüler zu führen auf
dem Weg des Erwachens. Denn erst jetzt kennen wir das Erwachen. Wer das Erwachen nicht kennt, kann
niemanden in das Erwachen führen, das ist so einfach, wie es ist. Wir können den Dharma erst dann wirklich
weitergeben, wenn diese Erfahrung sich in uns klar vollzogen hat. Dann entstehen natürlich jede Menge an-
dere Qualitäten. All diese Qualitäten entstehen durch eine klare, stabile Erkenntnis der Natur des Geis-
tes, die durch solche tiefe Meditation hervorgerufen wird.
So heißt es im Prajnaparamita-Samcayagatha - also in einer Kurzform der Prajnaparamita Sutren: Solche
Absorption löst das Haften an den niederen Qualitäten der Sinnesfreuden auf - an den vordergründigen
Qualitäten würde man vielleicht auf Deutsch sagen - und führt uns zu den subtilen Qualitäten, den feine-
ren Qualitäten, in die höchste Klarsicht, in das Sehen des Eigentlichen und in den Samadhi, die Fähig-
keit, im Sosein verweilen zu können.

Zum Umgang mit den Sinneserfahrungen


Vielleicht eine kleine Bemerkung zum Verhältnis zu den Sinneserfahrungen. Sinneserfahrungen sind, wie sie
sind: visuelle Eindrücke, Klangeindrücke, wir spüren unseren Körper, Denken und Fühlen findet statt usw. -
die ganzen geistigen Prozesse. Daran ist überhaupt nichts falsch.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.30

Wir haben zwei Möglichkeiten, damit umzugehen. Wir können am Äußeren haften und uns dem Äußeren
widersetzen, wenn wir es nicht mögen. Am Angenehmen haften wir ja normalerweise und das, was wir als
unangenehm erleben, möchten wir ausschließen und heraus kriegen aus unserem Leben, weg damit.
Das ist eine Beziehung zu den gröberen Aspekten der Sinneswahrnehmungen, ob etwas zu laut oder leise ist,
ob es sanft oder hart ist, spitz usw., ob es sich angenehm oder unangenehm anfühlt, ob es gut schmeckt, we-
niger gut oder gar nicht gut, schlecht schmeckt - Einstufungen, die wir vornehmen. Das nennt man die äuße-
ren Aspekte der Sinneswahrnehmungen.
Es ist jetzt keineswegs so, dass der Buddha nicht merken würde, wenn eine Suppe versalzen ist. Das kriegt er
genauso mit wie andere, aber er spart sich das ganze Theater darum herum. Entweder er isst sie oder er lässt
es sein. Es fühlt sich niemand persönlich beleidigt durch die versalzene Suppe, es gerät auch niemand in Pa-
nik, vor Hunger zu sterben und man kann auch auf den gleichen Geschmack aller Sinneserfahrungen medi-
tieren. Nämlich, dass viel Salz auch eine vorübergehende substanzlose Sinneserfahrung ist, die sich gleich
wieder auflöst, wie die Erscheinungen im Spiegel.
Wo kein Haften ist wird die Transparenz der Erfahrungen wahrgenommen. Wir nehmen wahr, dass die Sin-
neserfahrung intensiv, aber nicht solide ist. Sie hat aus sich heraus keinen Bestand. Sie wird gleich vorbei
sein. Deswegen gibt es kein Theater.
Ein Erwachter lässt die Sinneserfahrung ihren Weg gehen, da sind kein Greifen und kein Ablehnen. Das
heißt aber nicht, dass er unbedingt die versalzene Suppe auslöffeln muss. Nein, muss er nicht, er ist nicht
gezwungen dazu, irgendetwas zu tun. Er kann sie auch stehen lassen, wenn sie ihm nicht gut tut.
Aber da ist diese ganze Sensibilität, die uns sonst ausmacht: wir reagieren hyperempfindlich auf Verände-
rungen in der Umgebung und machen gerne mal ein Theater. Ist etwas angenehm, machen wir ein Theater
des Verlangens und aus Unangenehmem machen wir ein Theater der Abneigung. Immer sind wir aber im
Bewerten. Dieses Theater findet nicht statt. Das ist das erste.
Das zweite ist, dass wir jede Sinneserfahrung, zum Beispiel auch die versalzene Suppe, als eine Stimulation
für das Gewahrsein nutzen können. Ein krasses Geräusch kann den Geist völlig öffnen, ein krasser Ge-
schmack kann den Geist völlig öffnen, subtile Empfindungen können den Geist völlig öffnen.
Man nennt dies das Dakini-Prinzip. Jede Sinneserfahrung wird als Dakini, als Weisheitsbotin betrachtet.
Egal worum es sich handelt, immer können Sinneserfahrungen dazu benutzt werden, den Geist zu öffnen,
wacher zu machen, und zwar wacher für die Natur des Erlebens, für die Natur des Geistes. So ist jede Erfah-
rung ein Hinweis auf die Natur des Geistes. Das lässt sich auf dem Weg der Praxis unglaublich gut nutzen:
einfach jede Sinneserfahrung als Stimulation, als Katalysator für unsere Meditationspraxis zu nutzen.
Ein Buddha braucht das nicht mehr. Er ist im Gewahrsein, er braucht nicht mehr darin stimuliert zu werden.
Er ist in diesem offenen, ganz wachen Gewahrsein ohne Mittelpunkt, ganz im Erleben. Aber bis dahin kann
man sagen, dass Sinneserfahrungen den Grad der Wachheit in uns jederzeit erhöhen können.
Die grundlegendste Sinneserfahrung, die es gibt, ist die Erfahrung, gewahr zu sein. Die hat gar keinen Inhalt.
Die hat keine andere Sinneswahrnehmung als Gegenstand. Wenn wir nachts im Schlaf in das eintreten, was
wir das Klare Licht nennen, diese erhellende Klarheit des nichtbegrifflichen Seins, ohne dass irgendeine Sin-
neswahrnehmung stattfindet, dann ist das einzige, was übrig bleibt das Gewahrsein, das sich seiner selbst
gewahr ist, in sich gewahr.
Auch das erlebt man als Stimulation für das Gewahrsein selbst. Es reicht, das Gewahrsein selbst wahrzu-
nehmen. Das Gewahrsein ruht in sich selbst, es hat kein anderes Objekt, nichts außerhalb. Das ist, was mit
klarem Licht bezeichnet wird. Es braucht kein äußeres Objekt. Das Gewahrsein ist aus sich selbst heraus ge-
wahr.
Ich wollte euch diese Palette aufzeigen von krassen äußeren Sinneserfahrungen bis hin zur absolut subtilsten
Erfahrung, wo es einfach nur noch das Erleben des Seins gibt, aber ohne Trennung, wo man ganz im Sein,
im Gewahrsein aufgeht. All das sind Möglichkeiten des Erwachens: jede Sinneserfahrung.
Jetzt kommen wir zum Dashacakra-kshitigarbha Sūtra. Das ist der Name eines Bodhisattva, der diese Un-
terweisung erhalten hat.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 31

Nur meditative Versenkung - in die Natur des Geistes - vertreibt die Zweifel. Keine andere Methode
schafft das. Da solche Meditation die höchste Übung ist, wird sie von allen weisen Menschen eifrig kul-
tiviert.
Wer weise ist, widmet sich genau dem, was alle Zweifel über die Natur des Seins auflöst. Seins-Erkenntnis
wird im europäischen Sprachraum großgeschrieben. Darum geht es in der Philosophie.
Die Methode, die dabei genutzt wird, ist allzu oft über den Verstand. Zur Seins-Erkenntnis über ein völliges
Ausstopfen der Möglichkeiten unseres Intellekts zu kommen, führt immer wieder zu Widersprüchen, weil
der Intellekt in dieser dualistischen Wahrnehmung gefangen ist.
Es gibt auch andere Hinweise in der westlichen Philosophie, die mit Momenten spontaner Intuition, intuiti-
ver Erkenntnis, einhergehen und aus denen auch die Philosophen geschöpft haben. Das ist der Weg im Bud-
dha-Dharma.
Im Buddha-Dharma gehen wir nicht den Weg über den Intellekt zur Seins-Erkenntnis. Das nutzen wir nur
soweit, wie es jetzt in einer Unterweisung möglich ist. Wir gehen an die Grenzen dessen, was der Geist oder
Verstand noch nachvollziehen kann. Und den Rest des Weges gehen wir in kontemplativer Schau, also in
meditativer Versenkung, Präsenz, im Sosein ohne Kommentar, ohne das begriffliche Denken noch zu stimu-
lieren.
Das ist der Unterschied zwischen Studium und Kontemplation und dann kommt das Hinübergleiten in die
Meditation hinzu. Da lassen wir das begriffliche Denken sein, dort kommt das Verständnis der Wirklichkeit
von innen heraus.
Das Dharmasamgiti-Sūtra sagt: Wenn wir den Geist geeint verweilen lassen, werden wir ihn wahr-
nehmen so rein, wie er ist. Indem wir seine wahre Natur gerade so, wie sie ist, vollkommen wahrneh-
men, werden wir Bodhisattvas von dem großen Mitgefühl erfasst für das Wohl aller Lebewesen.
Aus der Erkenntnis der Natur des Seins, gerade so wie es ist, entsteht dieses große Mitgefühl. Wir haben per-
sönlich erfahren, wie es ist, ganz und gar frei zu sein, in dieser Phase, wo dieses Erkennen sich vollzogen
hat. Daraus speist sich die unermüdliche Energie, anderen genau das zu zeigen. Das nennt man das große
Mitgefühl, das aus dem eigenen Erleben entsteht, diese Erfahrung innerer Freiheit.
Dann möchte man allen, die gefangen sind, diese Freiheit zugänglich machen, ohne dass dabei aber ein Je-
mand, ein Ich als Mittelpunkt wirksam ist in diesem Mitgefühl. Es handelt, das Mitgefühl handelt und findet
Wege, den Dharma vorzuleben, dafür zu inspirieren, ihn vielleicht auch zu erklären, einfach die Wege aufzu-
zeigen, die es braucht, um dahin zu kommen.
Mit einfachen Worten gesagt, fühlt sich das so an, dass in dem Moment, wenn man realisiert, was jetzt ge-
schehen ist, was man verstanden hat, man sich wie an den Kopf fasst und sagt: Wie dumm konnte ich nur
sein? Wie war es möglich, dass ich dieses einfache Sosein nicht früher erkannt habe? Wie konnte ich daran
vorbei leben? Es ist doch so einfach.
Dann, ganz natürlicherweise, beginnt der Geist irgendwann an diejenigen zu denken, die genauso wie wir
sind, die ebenfalls daran vorbei leben, was ihre eigene, wahre Natur ist. Daraus entsteht ganz natürlicher-
weise ohne irgendein Zutun der Impuls, das zu kommunizieren.
Es ist so, als wenn ihr etwas besonders Tolles gefunden habt, was euch Riesenfreude macht, euch total frei
macht. Natürlich werdet ihr bei der nächsten Begegnung mit eurem Freund genau das ansprechen und wei-
tergeben. Es ist, als hätte man die gleiche Krankheit und man findet eine super Meditation, ist geheilt und
trifft jemand anders mit dieser Krankheit und sagt: Du, das ist heilbar, mache es so. Das ist die super Kur.
Genauso sind wir natürlicherweise. Das ist genau der Elan des Herzens, der sich auch im Erwachen zeigt.
Der ganz natürliche Elan der Freundschaft: das Beste, das wir selber erfahren, natürlich anderen weiterzuge-
ben.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.32

Drei Formen des Erwachens


Das Sūtralamkara - Schmuck der Mahāyāna-Sutren - sagt: Dank der meditativen Versenkung - in die
Natur des Seins, dies immer mitlesen - werden alle Lebewesen in die drei Formen des Erwachens ge-
führt.
Die Grundaussage ist: dieses Eintreten in die Natur des Seins, was man hier meditative Versenkung nennt, ist
genau das, aus dem das Wohl aller Lebewesen bewirkt wird - das Erwachen für alle Lebewesen.
Dann fragt man sich: Drei Formen des Erwachens? Es geht um das Erwachen auf dem Weg der Shravakas,
der sogenannten Hörer, der Buddhas für sich, der Pratyeka-Buddhas und derjenigen auf dem Bodhisattva-
weg.
Am liebsten würde ich euch die Erklärung ersparen. Es bringt nämlich nicht viel. Es ist ein Erwachen, es ist
dasselbe Erwachen. Die Frage ist nur, in welches Gefäß dieses Erwachen hinein kommt. Das Erwachen ist
dasselbe. Das Gefäß, indem es stattfindet, sind wir selber. Wenn das Erwachen in einem Geistesstrom statt-
findet, der nichts anderes vorhat, als so schnell wie möglich aus dem Kreislauf der Wiedergeburten auszu-
steigen, dann ist es möglich, aus dem Kreislauf der Wiedergeburten auszusteigen. Das ist die erste Form des
Erwachens: ja, es ist möglich.
Man kann mit diesem Erwachen auch noch ein bisschen weitergehen, zu einem noch tieferen Seinsverständ-
nis, das mehr noch die sogenannten Phänomene, das Sosein der vermeintlichen Außenwelt, angeht. Das ist
der Weg der Buddhas für sich, die aber dann auch noch schweigen und nicht in die Aktivität eintreten, dieses
Erwachen einander zugänglich zu machen.
Und dann kann das Erwachen stattfinden in einem Behältnis, in einer Motivation, wo von vornherein klar ist,
was auch immer wir für ein Erwachen verwirklichen, wir es allen anderen zur Verfügung stellen werden.
Wir sind bereit, so lange für das Erwachen aller Lebewesen zu arbeiten, bis das letzte Lebewesen befreit ist.
Das nennt man die Motivation eines Bodhisattva.
Das beinhaltet, dass wir diese Seins-Erkenntnis noch weiter ausdehnen müssen, um in der Lage zu sein, in
jeder Situation in Samsara, ob es die Höllenbereiche sind oder die Samadhis in den Götterbereichen, in die-
ser Erkenntnis verweilen zu können und die dort lebenden Wesen ansprechen und ihnen den Weg zeigen zu
können.
Diese Fähigkeit braucht es nicht, wenn man aus dem Daseinskreislauf aussteigen möchte. Die braucht es
auch nicht, wenn wir zwar so viel wie möglich verstehen wollen, aber gar nicht daran denken, es anderen
weiterzugeben. Das ist das, was mit Gefäß gemeint ist.
Das Gefäß ist das Gefäß unserer Motivation und sie scheint eine Auswirkung darauf zu haben, wie wir den
Weg weitergehen, wenn diese Erfahrungen des Erwachens gemacht werden. Mit der Bodhicitta-Motivation,
also mit der Motivation eines Bodhisattva für das Erwachen aller Lebewesen, werden wir selbstverständlich
alles tun, weit über unser eigenes Bedürfnis hinaus, um das Sein in all seinen Aspekten zu verstehen - was
man für die eigene Befreiung gar nicht braucht.
Da macht die Motivation dann eben einen Unterschied. Jetzt glaubt aber nicht, dass man diese Motivation
irgendwelchen buddhistischen Strömungen zuordnen könnte. Das wäre nicht angebracht, weil in jeder bud-
dhistischen Strömung es Shravakas, Pratyeka-Buddhas und Buddhas, also Bodhisattvas gibt.
Es gibt ziemlich viele tibetisch-buddhistisch Praktizierende oder so genannte Mahāmudrā-Praktizierende, die
eigentlich auf einem Weg der Selbstbefreiung sind. Das muss man sich ehrlich eingestehen. Oder die gerne
noch ein Stück weitergehen, aber wirklich keine Lust haben, wiederzukommen, bis das letzte Lebewesen
befreit ist. Ja, es ist doch so. Es ist gut, dies einmal klar zu benennen.
Wir sind nicht bloß, weil wir irgendwann ein Bodhisattva-Gelübde abgelegt haben, per se schon auf dem
Bodhisattva-Weg. Das hängt davon ab, ob wir diese Motivation ständig in uns wachhalten und es wird sich
dann zeigen, wie es damit weitergeht. Diese Motivation wird sich weiter entwickeln, wenn wir ihr eine
Chance geben. Es gibt also grob gesagt drei Arten, wie sich das Erwachen dann vollziehen kann. Alle sind
okay.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 33

Fragen
Teilnehmer/in: Du hast mal gesagt: die Meditation auf die Natur des Seins, dann wieder auf die Natur des
Geistes, die beiden Begriffe oszillierten ein bisschen. Ist das eine Fehlleistung oder eine bedeutungsvolle
Fehlleistung?
Das ist eine Hochleistung! Ich habe mir jedes Mal das Tibetische herausgeschrieben, damit ich genau weiß,
welchen Begriff ich im Tibetischen übersetze. Tatsächlich ist zum Beispiel der französische Text hier nicht
präzise. Er wechselt zwischen verschiedenen Begriffen ab, ohne dass man den roten Faden sieht. Ich benutze
tatsächlich jedes Mal denselben Begriff für das, was im Tibetischen steht. Es ist eine kleine Nuance.
Ja, sie sind auf jeden Fall miteinander verwandt.
Auf jeden Fall.
Teilnehmer/in: Wenn ich richtig verstanden habe, ist die Vorstellung von einem Ich eine Konstruktion meines
Geistes und hat keine Substanz. Jedoch gibt es nach dem Erwachen trotzdem einen Weg weiter, wo ich mich
entscheide, einen Bodhisattva-Weg oder einen anderen Weg zu gehen. Besteht dann dieses Ich trotzdem in
irgendeiner Form weiter? Etwas geht ja weiter.
Ja, interessante Frage, das hat mich auch beschäftigt. Im eigenen Erleben, was mein Erleben angeht, ist es
keine wirklich freie Wahl, es gibt eigentlich nur eine Möglichkeit. Es gibt für mich nicht die Möglichkeit,
jetzt zu sagen: ich möchte einfach nur aussteigen. Mein Herz, mein ganzes Wesen geht in Richtung dieser
Bodhisattva-Aktivität. Ich habe versucht, mit anderen zu sprechen, die auch die Natur des Geistes verwirk-
licht haben, und zu schauen: wie ist es denn? Ich habe mich auch mit Praktizierenden aus dem Theravada-
Buddhismus darüber ausgetauscht, die auch tiefe Erkenntnis haben.
Es ist wirklich ganz schwierig, genau den Punkt zu erwischen, wo die Weichen gestellt werden. Aber es gibt
Praktizierende, die tatsächlich aussteigen wollen und wo diese Erfahrungen der offenen Natur des Geistes
nicht automatisch bewirken, dass sie zumindest bewusst den Bodhisattva-Weg jetzt gehen.
Es gibt Mahāyāna-Texte, die sagen, dass die jetzt erst mal aussteigen, dann werden sie von den Buddhas auf
der anderen Seite wieder abgeholt, dann erhalten sie die Bodhisattva-Teachings und dann kommen sie doch
alle wieder. Aber ich weiß nicht, ob das einfach Mahāyāna-Publicity-Spots sind.
Also so, wie man die Lehren versteht, wie ich sie bis jetzt gelesen habe, werden die Weichen offenbar durch
eine Motivation gestellt, die schon vor dem Erwachen prägend wirkt und die sich aus früheren Leben ergibt,
die im Laufe einer längeren Zeit des Sich-Übens entsteht und vertieft wird. In dieser Einbettung findet das
Erwachen statt. Da ist der Geistesstrom durch tausende und Millionen von Gedanken schon wie vorbereitet,
zum Beispiel zum Wohle aller Lebewesen zu wirken. Soviel erst mal dazu, wie die Erklärungen sind.
Dann gibt es aber noch etwas. Ich habe auch Praktizierende getroffen, die eigentlich auf dem Weg der
Selbstbefreiung waren und durch die Erfahrung des Erwachens festgestellt haben, dass es ja überhaupt kein
Problem ist, für das Wohl der Wesen zu wirken und ja anstrengungslos geht, wenn man nicht in dieser Ich-
Bezogenheit landet. Sie verlieren auf ganz natürliche Weise ihre Angst vor dem involviert sein in der Welt
und damit eröffnet sich die Möglichkeit, eventuell wieder Geburt anzunehmen unter diesen Vorzeichen. Hier
kann also auch noch eine Wandlung stattfinden. Das habe ich auch schon erlebt, dass Menschen so einen
Prozess beschrieben haben.
Aber es geht doch etwas weiter - also ein Ich erwacht, versteht - und es gibt eine Fortsetzung von diesem
Selbst?
Dieses konventionelle Ich geht weiter, diese äußere Form. Ein Buddha sagt auch ‚ich‘ und spricht über sich
in der Ich-Form, das ist überhaupt kein Problem. Aber innen ist kein Glaube mehr an die Existenz dieses
Ichs. Die Motivationen speisen sich nicht mehr aus einem Abwägen, was für mich gut oder schlecht ist, son-
dern aus einem inneren Abwägen, was für die Gesamtsituation gut oder nicht so gut ist, und was dieser Geis-
tesstrom in dieser Situation tun kann.
Das ganze Denken verschiebt sich und ist nicht mehr mit sich selbst befasst. Es ist nicht mehr in Hoffnung
und Furcht für sich selbst gefangen. Soweit kann ich dir darauf antworten. Da es ein Ich sowieso nie gegeben
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.34

hat, wird es das auch nach dem Erwachen nicht geben. Es hat es vorher nicht gegeben, es wird es auch nach-
her nicht geben. Ich habe nur versucht zu beschreiben, wie die Entscheidungsprozesse stattfinden.
Teilnehmer/in: Wenn ich mich in ein Erleben hinein öffne - es gibt unterschiedlichste Möglichkeiten von Er-
leben. Du hast von kontemplieren gesprochen; ich möchte zum Beispiel ein Erleben erforschen, wie mache
ich das? Mache ich das, indem ich mich noch weiter in das Erleben hinein öffne, weil denken ist ja nicht
richtig? Wenn ich etwas auf den Grund kommen möchte und merke dann, ich taste mich vom Denken rund-
herum an.
Mach das doch. Denk mal so tief, wie du kannst darüber nach und wenn das Denken beginnt, sich zu wie-
derholen und nicht mehr produktiv ist, dann gehst du weiter mit deinen intuitiven Fähigkeiten. Zunächst
einmal ist es gut, das alles tief zu bedenken und zu kontemplieren, bis wir an die Grenzen des Denkens
kommen. Dann wissen wir, es geht noch weiter. Wir brauchen das Denken nicht zu überspringen.
Da ich die Dinge immer tief bedacht, tief kontempliert habe, fällt es dann viel leichter, den Dharma in Worte
zu fassen. Wenn man diese Phase weniger stark kultiviert, dann kann man zwar zu einem intuitiven Erfassen
der Wirklichkeit kommen, aber man hat viel mehr Mühe, zum Beispiel mit den Fragen umzugehen, die ande-
re haben und die vielleicht dann doch noch bei einem selbst auftauchen, weil man sie nicht tief genug be-
dacht hat.
Die beste Form des Bedenkens ist, wenn die intuitive Erkenntnis aufgetaucht ist, noch mal kontemplierend,
also denkend, in Beziehung zu setzen mit Worten, mit Begriffen, mit dem, was die Texte sagen und verglei-
chen. Ein Kontemplieren nach der gemachten Erfahrung ist dann noch mal sehr sinnvoll.

Allgemeine Meditationsunterweisungen zu Geistesruhe und Intuitiver Ein-


sicht
Zur Klärung der Begriffe
Wir beginnen ein neues Kapitelchen. Das ist der Abschnitt dieses Buches, der so überschrieben ist:

Die allgemeinen Meditationsinstruktionen zu Geistesruhe und Intuitiver Einsicht

Mit allgemein oder gemeinsam ist gemeint, dass diese Vorgehensweise, die jetzt auf diesen Seiten beschrie-
ben wird, die Grundlage ist für alle Praktizierende der Meditation im Großen Fahrzeug. Das nennt Dakpo
Tashi Namgyal das erste Buch, also den ersten großen Abschnitt dieses Buches.

Im zweiten Buch geht es spezifisch um Mahāmudrā, weil Mahāmudrā sich im Ansatz unterscheidet von dem,
was wir jetzt als die allgemeinen Meditationsunterweisungen kennenlernen werden.

Zunächst geht es um die meditative Versenkung, die verschiedenen Stufen, die zu beschreiten sind auf dem
Weg in die Geistesruhe.

Er gibt uns einen kleinen Überblick, worum es eigentlich geht, um unsere Fragen zu beantworten und Zwei-
fel zu beseitigen, was eigentlich mit Geistesruhe und Einsichtsmeditation gemeint ist.

Ich will nur die Begriffe kurz erklären. Wenn ich den Begriff Geistesruhe benutze, ist das gemeint, was all-
gemein als Shamatha oder Shine bekannt ist. Wenn ich von Einsichtsmeditation oder intuitiver Einsicht spre-
che, ist es das, was als Vipassana oder Lhaktong in Sanskrit und Tibetisch gemeint ist. Wenn ich von medita-
tiver Versenkung oder Vertiefung, Absorption spreche, dann ist Samadhi gemeint, ting nge dzin auf Tibe-
tisch. Nur dass ihr wisst, welche Worte im Hintergrund sind.

Es geht also hier in dem Kapitel um Samadhi, um ein Hineinfinden in die Geistesruhe, so dass sie so still,
offen und fließend wird, dass man von Samadhi sprechen kann. In die Richtung bewegen wir uns.

In dieser Praxis der Geistesruhe mit ihren Vertiefungen geht es bereits um das Auflösen der Ich-Bezogenheit.
Man erreicht dieses Ziel noch nicht vollständig, aber es geht alles schon in die Richtung.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 35

Ihr wisst, dass Geistesruhe nur zu verwirklichen ist, wenn wir uns entspannen, wenn wir uns öffnen. Ich-
Bezogenheit bewirkt das Gegenteil: wir spannen uns an, wir wollen etwas, wir kämpfen, wir sind im Wider-
stand. Wenn wir also mit der Geistesruhe eine Vertiefung erfahren, bedeutet das schon, dass diese normalen
Mechanismen der Ich-Bezogenheit, der verstrickenden Emotionen, schon geschwächt werden.

Da aber, solange wir von Geistesruhe sprechen, die Illusion eines tatsächlichen bestehenden Ichs noch weiter
in uns aktiv ist, kommt es nach der Meditation der Geistesruhe immer wieder zu einem Aufflackern dieser
Ich-Bezogenheit. Wir finden darin keine endgültige Lösung. Die Muster in der Tiefe sind noch nicht aufge-
löst, obwohl wir uns in diesen Versenkungen so fühlen, als wären wir frei.

Das ist nicht der Fall. Wenn man den Unterschied kennt, weiß man, was für eine subtile Anspannung noch
vorhanden ist. Man fühlt sich wie frei von Ich-Bezogenheit. Es gibt die Möglichkeit, darin stundenlang, so-
gar tagelang zu verweilen, ohne dass überhaupt der Gedanke „Ich“ auftaucht. Das hat dazu geführt, dass man
tiefe Zustände der Geistesruhe schon mit dem Erwachen verwechselt hat und gemeint hat, das wäre schon
die Befreiung.

Zur Enttäuschung aller, die das praktizieren, merkt man, wenn man daraus auftaucht, dass die alten emotio-
nalen Mechanismen doch wieder anspringen und doch wieder greifen, und dass mit der Zeit, wenn man län-
gere Zeit keine Geistesruhe praktiziert, man durchaus wieder in derselben Verstrickung landen kann wie frü-
her. Solange die Geistesruhe sehr präsent ist, ist man allerdings sehr ausgeglichen, fällt kaum in diese emoti-
onalen Muster hinein, und merkt aber, dass man immer wieder meditieren muss, um das Level zu halten,
diese Entspannung weiter aufrecht zu erhalten.

Das waren ein paar persönliche Worte, bevor wir anfangen mit dem Thema.

Tashi Namgyal schreibt: Es gibt viele Erklärungen darüber, wie die meditativen Versenkungen des
kleinen und großen Fahrzeugs zu praktizieren sind. Diese Erklärungen finden sich sehr klar beschrie-
ben in den verschiedenen Sūtras, wie sie allgemein bekannt sind. Dort ist diese meditative Versenkung
immer wieder Thema. Das Samdhinirmocana Sūtra, der Abhidharmasumuccaya, der Yogācarabhumi
von Asanga und die Prajnaparamitopadesa von Shāntipa, und die drei Bhāvanākrama, die Stufen der
Meditation von Kamalashila und andere sind solche Texte, auf die allgemein alle Mahāyāna Schulen
Bezug nehmen.

Das sind indische Texte, auf Sanskrit geschrieben, die - wir wissen nicht genau, wann sie alle geschrieben
wurden - zwischen dem zweiten und achten Jahrhundert nach Christus entstanden sind, die meisten von
ihnen. Diese Texte, die eben erwähnt wurden, ihr seht sie auch im Text aufgeführt, sind Referenztexte für die
Grundlagen der Meditation im tibetischen Buddhismus. Sie werden ganz viel zitiert werden auf den nächsten
Seiten, für den Rest unserer Woche werden wir ganz viele Passagen aus diesen Texten kennenlernen.

Diese Texte sind besonders berühmt für ihre Klarheit. Wir werden mit Hilfe dieser Texte die allge-
meine Bedeutung meditativer Versenkung erläutern und beginnen mit dem Samdhinirmocana Sūtra,
das eine kurze Erklärung gibt, von dem, was mit Samadhi, meditativer Versenkung, gemeint ist.

Das, was wir die Meditation der Geistesruhe und der Einsicht nennen, beinhaltet viele Aspekte des
Samadhi, also der meditativen Versenkung, und was auch immer an verschiedenen meditativen Ver-
senkungen gelehrt wird: sie alle können zusammengefasst werden als die Praktiken von Geistesruhe
und Einsicht.

Kamalashila schreibt im mittleren Werk, also im zweiten Werk der Stufen der Meditation: der Yogi soll-
te sich zu jeder Zeit der Geistesruhe und der Einsichtsmeditation widmen, da darin alle Samadhis
enthalten sind.

Warum ist das so wichtig? Im Grunde genommen geht es Tashi Namgyal darum zu sagen, ich werde jetzt
über Geistesruhe und Einsichtsmeditation sprechen. Denkt nicht, dass es außerhalb davon noch etwas ande-
res gibt. Wenn es um Meditation geht, sind es entweder die Meditationen, die Geistesruhe fördern oder Ein-
sicht oder beide. Darin kann alles zusammengefasst werden, was an meditativer Versenkung erfahren wird.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.36

So wie die Wurzeln eines Baumes den Stamm, die Äste und Blätter nähren, so sind Geistesruhe und
Einsichtsmeditation die Basis aller Vertiefungen des Kleinen und Großen Fahrzeugs.

Es stellt sich nun die Frage, wie denn diese beiden, Geistesruhe und Einsichtsmeditation, all die Medi-
tationen mit Bezugspunkt und ohne Bezugspunkt des Kleinen und Großen Fahrzeugs beinhalten kön-
nen. Also Meditationen mit Zeichen und ohne Zeichen, mit Fokus, ohne Fokus, auch der Tantras und
all die tiefen Meditationen des Mahāmudrā mit den Erfahrungen von Freude, Klarheit und Nichtden-
ken. Ist es tatsächlich so, dass alles unter Geistesruhe und Einsicht zusammengefasst werden kann?

Ob sie nun mit Bezugspunkt ausgeführt wird oder nicht, mit Zeichen oder ohne, ist eine Meditation, in
der der Geist auf etwas Heilsamem ruht, eine Praxis der Geistesruhe.

Praxis der Geistesruhe kann man auch anders kurz erklären. Bei der Geistesruhe ist immer noch eine be-
obachtende Funktion aktiv, immer noch eine leichte Dualität zu finden. Deswegen hat man auch das Gefühl,
der Geist ruht in etwas, auf etwas, hat einen Bezugspunkt oder auch, wenn er keinen bestimmten Bezugs-
punkt hat, ist er doch wie fokussiert, er ist ausgerichtet. Es entsteht das Gefühl von: hier ist jemand, der me-
ditiert, und die Meditation wird wahrgenommen als so oder so. Man kann sie beschreiben. Das ist das ge-
meinsame Merkmal von allen Meditationen der Geistesruhe.

Meditation mit Bezugspunkt


Was die Begriffe angeht, werden wir oft damit zu tun haben, dass unterschieden wird, ob etwas mit Bezugs-
punkt oder ohne Bezugspunkt ist. Eine Meditation mit Bezugspunkt ist eine Meditation, in der wir die Auf-
merksamkeit auf etwas ausrichten. Das können äußere visuelle Objekte sein oder innere als Visualisation.
Das können äußerlich hörbare Klänge sein oder innerlich zu hörende Klänge. Das können Gerüche, Ge-
schmäcker sein, alle Körperempfindungen, da gehört auch der Atem dazu. Eine Meditation auf den Atem ist
eine Meditation mit dem Atem als Bezugspunkt.

Dann, je nach Schule, kann man auch die Meditationen über abstrakte Inhalte entweder mit Bezugspunkt
oder ohne Bezugspunkt nennen. Wenn ich z. B. über Mitgefühl meditiere oder Metta-Meditation mache,
Tonglen, sind da Bezüge. Ich habe entweder die Herzensqualität Liebe und Mitgefühl, Freude, Gleichmut als
Bezug und widme mich dem Ausstrahlen und eventuell Empfangen dieser Qualitäten, genauso auch beim
Guru-Yoga, wenn ich mich dem Lama über mir oder dem Buddha über mir öffne und Segen empfange. Man
kann es Bezugspunkt nennen. Manche Schulen nennen das schon eine Meditation ohne Bezugspunkt, weil
kein konkreter Bezug besteht.

Sobald man sich einen Menschen vor sich vorstellt, in der Tonglen Praxis, haben wir einen konkreten Be-
zugspunkt. Man kann die Tonglen-Praxis, dieses Annehmen und Teilen auch ohne konkretes Gegenüber ma-
chen. Der Geist ist dabei aber trotzdem ausgerichtet und es gibt bestimmte Zeichen für diese Praxis, dass
man sich zum Beispiel auf die Herzgegend konzentriert usw.

Damit wir uns verstehen, egal wie verschiedene Schulen das einstufen: immer, wenn wir den Geist bewusst
auf etwas ausrichten, würde ich das als Meditation mit Bezugspunkt einstufen.

Meditation ohne Bezugspunkt


Eine klassische Meditation ohne Bezugspunkt wäre, jeden auftauchenden Gedanken als Meditationsobjekt zu
nehmen. Das sind aber auch Bezüge, denn jedes Mal bemerken wir den Gedanken und entspannen uns damit.
Wir lassen ihn durchrauschen, lassen ihn wie er ist.

Obwohl man das eine Meditation ohne Bezugspunkt nennen kann, weil nichts Fixes da ist, hat auch das Me-
ditieren mit jeder Sinneserfahrung, die auftaucht, jedem Gedanken, der auftaucht, in dem Moment, wo die
Meditation stattfindet, einen gewissen Bezug, eine Wahrnehmung - und in diesem Wahrnehmen entspannen
wir uns. Das alles ist Geistesruhe.

Dann geht es mit der Geistesruhe noch weiter. Man kann noch weniger Bezugspunkte haben, also sich gar
nicht mehr um die Gedanken kümmern und um die Sinneserfahrung - und in ganz tiefe innere Ruhe kom-
men, wo man z. B. die äußeren Sinneserfahrungen gar nicht mehr wahrnimmt. Dann ist da kein Bezug in
diesen Sinnesfeldern.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 37

Es gibt auch eine Geistesruhe, in der kein bewusster Bezug genommen wird auf Ich und jemand anders. Es
ist alles still. Es entstehen gar keine Gedanken mehr. Das nennt man Geistesruhe ohne Bezugspunkt. Ganz
fein ist in dieser Geistesruhe ein schweigender Beobachter vorhanden. Nein, einen Beobachter gibt es nicht:
es ist eine stille, schweigende Trennung spürbar zwischen dem Meditierenden und seiner Meditation, ohne
dass dieses Beobachten unbedingt einen Kommentar machen müsste. Es ist eine schweigende, stille, kom-
mentarlose, dualistische Trennung.

Das geht in die tiefen Samadhis hinein. Dort haben wir es genau mit solchen Phänomenen zu tun, dass gar
nicht mehr begrifflich gedacht wird. Die äußeren Erscheinungen sind nicht mehr wichtig, treten zurück, wer-
den gar nicht mehr wahrgenommen. Auch der Körper wird irgendwann nicht mehr wahrgenommen und dann
hat man das Gefühl, der Geist würde im Geist ruhen, ohne sich auf irgendetwas auszurichten. Aber das feine
dualistische Muster des stillen Beobachtens ist immer noch aktiv. Das ist die Grenze dessen, was man Geis-
tesruhe nennt.

Das Merkmal von Geistesruhe ist, dass man immer irgendetwas noch beschreiben kann, was man erfahren
hat. Man kann seine Mediation sich selbst und anderen in Erinnerung rufen und beschreiben, weil diese be-
obachtende Funktion aktiv ist.

Das war ein keiner Ausflug in die Beschreibung, wie sich die Arbeit mit den Stützen der Meditation und den
Bezugspunkten entwickelt, verändert, wie wir verschiedene Möglichkeiten haben. Denn darüber werdet ihr
in den Texten über Meditation immer wieder stolpern. Man nennt das manchmal Meditationsobjekt, manch-
mal nennt man das Stütze der Meditation. Hier in diesem tibetischen Text wird das migpa genannt, Bezug,
Referenz, das, worauf sich die Aufmerksamkeit ausrichtet.

Da muss man sehr fein hinschauen und ehrlich mit sich selber sein. Wenn man meint, über die Leerheit zu
meditieren und dabei eine Vorstellung von Leerheit entwickelt, hat man einen Bezug. Es ist nicht die Medi-
tation über Leerheit.

Wenn wir über Vergänglichkeit meditieren, haben wir das Gefühl, wir haben keinen Bezug. Tatsächlich rich-
ten wir den Geist aber auf etwas aus. Das ist sehr hilfreich, aber wir sollten uns im Klaren sein, dass es sich
immer noch um ein Ausrichten auf etwas handelt. Es sind feine subtile Bezüge da und weil sie so fein und
subtil sind, nennt man das manchmal schon Meditation ohne Bezugspunkte. Aber da sind die Grenzen flie-
ßend, weil es immer weniger Bezugspunkt hat.

Einsichtsmeditation
Ich gehe wieder zurück in den Text.

Immer wenn die natürlicherweise heilsame Weisheit, die Natur des Seins, die Wirklichkeit wahr-
nimmt, handelt es sich um Einsichtsmeditation.

Man spricht hier von intuitiver Einsicht in den Texten, die Lama Hendrik übersetzt hat. Das finde ich eine
sehr gute Übersetzung, denn es handelt sich hier um Einsichten, die nicht aus dem Intellekt geboren sind. Die
kommen von innen. Zunächst hat man sogar Mühe, sie irgendwie mit Worten auszudrücken, obwohl ein
ganz klares Verständnis davon da ist, wie es eigentlich ist.

Die Einsichten, um die es hier geht, sind keine intellektuellen Einsichten, keine Schlussfolgerungen, sondern
ist die Aktivität der natürlichen Fähigkeit zu erkennen, die in uns aktiv ist, ohne begriffliches Denken zu ge-
brauchen. Das begriffliche Denken ist sehr langsam. Wir haben schon längst Dinge erkannt, erspürt, erahnt,
erfühlt bevor wir irgendwelche Sätze im Geist formulieren können, die das kommentieren und nochmal un-
terstreichen.

In derselben Weise nennt man im Mahāmudrā Geistesruhe immer dann, wenn unser Geist - ob es sich
nun um einen sehr feinen subtilen Geist handelt oder eher einen noch gröberen Geist - wenn dieser
Geist auf ein Objekt der Meditation gerichtet ist, also einen Bezugspunkt hat.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.38

Das wäre das, was ich euch vorhin erklärt habe. Immer, wenn Bezüge wahrnehmbar sind - zwischen etwas,
was wahrnimmt und etwas, was wahrgenommen wird - sind wir noch im Bereich der Geistesruhe.

Die Wirklichkeit dann zu untersuchen und zu verstehen, so wie sie ist, unterstützt die intuitive Ein-
sicht.

Da müssen wir jetzt auch unterscheiden. Wenn wir von Lhaktong-Meditation sprechen in der tibetischen
Tradition oder Vipassana in der Theravada-Tradition, sind ein Teil der Praktiken konzeptueller Natur. Wir
untersuchen, wir stellen uns Fragen, wir richten den Geist zum Beispiel darauf, wie alles Prozess ist. Wir
untersuchen Vergänglichkeit, wir schauen hin, wer meditiert da. Das ist eine Frage, die in die Entdeckung
des Nicht-Selbst führen soll.

Welche Farbe hat der Geist? Wo findet sich der Geist? Hat er überhaupt einen Ort? Wir untersuchen den
Geist mit vielen solchen Fragen, betrachten die Natur der Wahrnehmungsvorgänge, untersuchen also, wie
entsteht eine Erinnerung, wie bildet sich eine Erinnerung, wie bildet sich ein Gefühl? All das wird Ein-
sichtsmeditation genannt, weil wir in einem Prozess sind, der Einsicht stimuliert.

Tatsächlich haben wir, solange wir so unterwegs sind, die ganze Zeit Bezugspunkte. Wir stellen uns Fragen
und schauen irgendwo hin. Das heißt, diese Einsichtsmeditation findet in der Geistesruhe statt, nutzt die
Klarheit des ruhigen Geistes und untersucht die Natur des Seins. Solange da noch eine begriffliche Frage
gestellt wird, zum Beispiel „Wer meditiert“?, ist das ein begrifflicher Vorgang innerhalb des Geistesruhe, der
eine neue Ausrichtung des Geistes vornimmt - und dann finden wir nichts.

Wir suchen nach dem, der meditiert, und finden nichts. Wenn keine begriffliche Antwort kommt, nur ein
staunendes Erkennen, ist dieses Erkennen Einsicht. Der ganze Rest vorher ist keine Einsicht. Wenn eine be-
griffliche Antwort kommt, ist es auch keine Einsicht, dann ist es einfach eine Schlussfolgerung.

Da müssen wir gut unterscheiden. Echte Vipassana- oder Lhaktong-Erfahrungen sind diejenigen vor begriff-
lichen Einsichten, die man zwar manchmal nachher formulieren kann, die so entstehen; natürliche Weisheit,
die sich zeigt, natürliches Erkennen. Das, was dahinführt, sind Brücken, Fragen, Ausrichtungen der Acht-
samkeit, der Aufmerksamkeit, die unterstützen, dass wir in die richtige Richtung schauen. Darum geht es
eigentlich: da hinzuschauen, wo etwas Interessantes zu entdecken ist.

Aber dieser Prozess - obwohl das alles Vipassana und Lhaktong genannt wird - sind hinführende Methoden,
die alle in der Geistesruhe praktiziert werden. Erst das echte Erkennen ist wirkliche Einsichtsmeditation.

Wenn wir das so beschreiben, dann versteht ihr, dass tatsächlich alle Meditationen in Geistesruhe und Ein-
sicht zusammengefasst werden können. Ihr fragt jetzt vielleicht, das wäre eine natürliche Frage: Ja und jetzt -
die Meditation der Herzensgüte, Metta-Meditation, ist das jetzt Geistesruhe oder Einsicht oder ist das etwas
extra?

Da ist zwar die Qualität der Liebe und des Mitgefühls aktiv. Tatsächlich ist es eine Praxis der Geistesruhe, so
lange diese Meditation der liebenden Güte mit dem Gefühl eines Mittelpunktes ausgeführt wird. Ich als Zent-
rum eines Feldes der Liebe oder als Zentrum einer Tonglen-Praxis usw. Dann ist es eine Praxis, von der wir
auch tatsächlich merken, sie öffnet und weitet den Geist. Ich vergesse mich zwar nicht ganz darin, aber ich
erlebe tiefen Frieden, tiefe Geistesruhe aufgrund dieser Herzensöffnung.

Wenn wir in dieser Meditation verloren gehen und es keinen Mittelpunkt mehr gibt, wird sie automatisch zu
einer Einsichtsmeditation. Dieselbe Meditation - also nicht dieselbe, weil wir tatsächlich ohne Mittelpunkt in
der Liebe, in dem Segen oder der Hingabe usw. aufgehen, egal welche Qualität wir als Eintrittstor nehmen.
Dann entdecken wir, wie Liebe strömen kann, ohne einen Besitzer zu haben.

Vertrauen als essentielle Qualität auf dem Weg


In dem Mahāyāna Sūtra über das Entwickeln von Vertrauen heißt es: Kind aus guter Familie, verste-
he, dass das Vertrauen der Bodhisattvas im Großen Fahrzeug und alles, was sie erreichen auf diesem
Weg, alles was sie verwirklichen, im Wesentlichen aus der Unabgelenktheit entsteht - ein anderes Wort
für meditative Versenkung - und aus ihrem unterscheidenden Erkennen der Wirklichkeit, so wie die
Phänomene tatsächlich sind.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 39

Dieser Text spricht über das Vertrauen. In dem Text geht es darum, dass Vertrauen die essentielle Qualität
auf dem Weg ist. Vertrauen wächst in uns aufgrund von Erfahrung. Wir vertrauen mehr und mehr in die Na-
tur des Seins, weil wir sie kennenlernen. Vertrauen verdichtet sich oder entwickelt sich bis hin zur Gewiss-
heit.

Zunächst sind wir inspiriert, wir erleben so etwas wie ein inspiriertes Vertrauen. Wir begegnen Lehrerinnen
und Lehrern und sind inspiriert. Wir lesen die Texte des Dharma, wir sind inspiriert und wir entwickeln ein
Streben, eine Aspiration, eine Ausrichtung, das verwirklichen zu wollen. Das ist auch eine Form des Ver-
trauens, das strebende Vertrauen. Das richtet unsere Praxis aus.

Wir beginnen zu praktizieren, wir nehmen Zuflucht, wir hören Unterweisungen, und unsere Inspiration und
unser Wunsch, das zu verwirklichen, führen dazu, es anzuwenden. Mit jedem Mal, wenn wir es anwenden,
machen wir persönliche Erfahrungen.

Wir machen Erfahrungen in der Praxis. Mit jeder Erfahrung wird unser Vertrauen größer, weil wir sehen, so
ist es. Wir machen Erfahrungen in dem Bereich der Geistesruhe. Immer, wenn der Geist ruhig und klar wird,
machen wir Erfahrungen, die uns schon fühlen lassen: eigentlich brauche ich mich ja nur zu entspannen.
Immer wenn ich mich öffne, entspanne, wird der Geist ruhig und klar, beruhigt sich alles innerlich, die Emo-
tionen greifen nicht mehr und wir beginnen, in unseren eigenen Geist zu vertrauen. Das ist alles noch im Be-
reich der Geistesruhe.

Wir beginnen durch die Erfahrung der Geistesruhe, Vertrauen ins Entspannen zu entwickeln. Das ist ganz
wunderbar. Wir verabschieden uns von dem Denken, dass unser Geist blöd wäre, wir einen unbrauchbaren
Geist hätten. Sondern wir merken, er ist total verlässlich. Immer, wenn ich mich entspanne und öffne, zeigt
er diese grundlegenden Qualitäten.

Wenn wir dazu noch erkennen, wie der Geist wirklich beschaffen ist, er keine Substanz hat, er dynamisch ist
und selbst keinen Ort hat, und erkennen, dass das, was wir Geist nennen, die Beschreibung einer Summe von
Phänomen ist, die mit Gewahrsein und vielen anderen Qualitäten zu tun haben: dann wird unser Vertrauen
immer größer, bis es so stark ist, dass wir im Moment des Sterbens, wenn der Zeitpunkt kommt, wo die
Trennung zwischen Körper und Geist stattfindet, totales Vertrauen in den Geist haben.

Wir kennen uns im Geist, d.h. wir kennen uns bei uns zuhause so aus, dass wir uns völlig loslassen können,
nichts mehr festzuhalten brauchen und uns ganz in die Qualitäten des Geistes hinein öffnen können.

Das ist die Sicherheit, die wir Vertrauen oder Gewissheit nennen, die dann das Resultat eines Lebens von
Praxis ist, wo wir völlig sorglos in totaler Gewissheit sterben können und genau wissen, wie wir mit dem
Geist umgehen, wenn wir wieder zu Bewusstsein kommen im Nachtodzustand. Wir kennen uns völlig aus
mit dem Geist, völlige Gewissheit. Das alles ist mit Vertrauen gemeint. Das ist der große Begriff von Ver-
trauen.

Das Zusammenwirken von Geistesruhe und Einsicht


So kann man sagen, dass sich alle Qualitäten im Kleinen wie im Großen Fahrzeug finden durch das
Zusammenwirken von Geistesruhe, also von Eins-Gerichtetheit, und Weisheit, die die Natur des Seins
erkennt.

Alle Qualitäten des Erwachens werden verwirklicht, indem wir die Einheit von Eins-Gerichtetheit mit einem
Objekt, einem Bezugspunkt zusammen praktizieren mit der Weisheit, die alle Aspekte der Wirklichkeit er-
kennt. Alle Qualitäten des Erwachens verwirklichen sich durch die kombinierte Praxis von Geistesruhe und
Einsicht.

Ich kann das bestätigen – nicht, dass ich alle Qualitäten schon spüren würde, aber alles, was sich entwickelt
hat, hat sich durch die Verbindung dieser beiden Aspekte der Praxis ergeben. Das scheint die Erfahrung von
allen zu sein, die ich kenne und mit denen ich gesprochen habe. Das war die Erfahrung der früheren Genera-
tionen von Meistern.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.40

Lasst uns noch einmal überlegen, warum das wohl so ist. Wir würden ja denken, alle Qualitäten kommen
vielleicht aus der Liebe oder dem Mitgefühl. Das wäre unsere erste Vermutung. Liebe und Mitgefühl sind
eben solche Qualitäten, die immer zum Vorschein kommen, wenn wir uns entspannen und öffnen.

Immer, wenn wir herausfinden aus der Illusion der Ich-Bezogenheit, sind Liebe und Mitgefühl natürlicher-
weise da, genauso wie Freude und Dankbarkeit und all die anderen Qualitäten des Seins: Geduld, Ausdauer
und Belastbarkeit, was auch immer ihr nehmen wollt. Sie sind dann einfach da.

Geistesruhe ist fast ein Synonym für Entspannen des Geistes, Herzgeist, Körper und Geist entspannen, zur
Ruhe kommen lassen. Der Geist wird dadurch so klar wie eine völlig ruhige Wasseroberfläche, spiegelklar.
So klar wird unser Geist, dass er alles wahrnehmen kann, und in diesem Wahrnehmen wird die Natur des
Seins erkannt.

Das löst die irrigen Annahmen auf, mit denen wir unterwegs sind. Wenn die Täuschung aufgelöst ist, ist da-
mit der Ich-Bezogenheit der Boden entzogen und es können all die Qualitäten entstehen wie Liebe, Mitge-
fühl usw., die sich aufgrund von Ichlosigkeit zeigen können.

Kamalashila schreibt im dritten Band seiner Meditationsstufen: Der Buddha hat unzählige, unvor-
stellbar viele meditative Versenkungen der Bodhisattvas erklärt, aber da die gemeinsame Praxis von
Geistesruhe und Einsicht all diese Samadhis beinhaltet, werden wir hier - also in seinem Werk - den
Weg beschreiben, der diese beiden verbindet, zu einer Einheit integriert.

Das war der Vorspann zum Kapitel über Geistesruhe und Einsicht, der allgemeinen Basis für sämtliche Me-
ditationen.

Geistesruhe und Einsicht


Die Ursachen für Geistesruhe und Einsicht
Ich habe mich versprochen. Das nächste Kapitel ist noch gemeinsam über
Geistesruhe und Einsicht
und da geht es gleich um die
Ursachen, aus denen Geistesruhe und Einsicht entstehen.
Dieses Thema der Einheit von Geistesruhe und Einsicht wird sich durch das gesamte Buch ziehen. Man kann
fast sagen, dass dieses Buch geschrieben wurde, um diesen einen Punkt zu machen: bitte nicht Geistesruhe
von der Einsichtsmeditation trennen und bitte nicht die Einsichtsmeditation von der Geistesruhe trennen; sie
gehen immer zusammen.
Wenn man in den Pali-Lehrreden des Buddhas nachliest, findet man keine Trennung von Geistesruhe und
Einsichtsmeditation. Diese Trennung ist in der Geschichte des Buddhismus ungefähr um die Zeitenwende,
also in dem Jahrhundert vor Christus entstanden, mit einem Kommentar, Visuddhimagga, der in den Pali
Kanon sogar noch nachträglich integriert wurde und ganz stark diese pädagogische Unterteilung von Geistes-
ruhe und Einsicht vertritt.
Das ist der erste Hinweis, den wir finden, wo diese Auftrennung stattgefunden hat. Es ist Kernmerkmal des
Mahāmudrā-Ansatzes, dass die beiden immer zusammen praktiziert werden, weil sie eine natürliche Einheit
bilden.
Immer, wenn der Geist ruhig und klar wird, versteht er die Wirklichkeit umso mehr. Immer, wenn die Wirk-
lichkeit verstanden wird, wird der Geist wieder ein Stückchen ruhiger und klarer. Das ist ganz wichtig, dass
ihr das mit nach Hause nehmt. Nie voneinander trennen.
Man kann die Einsicht gar nicht stoppen. Wenn die Geistesruhe einsetzt, purzeln die Einsichten. Wenn die
Einsichten purzeln, wird man immer entspannter und gelöster. Man geht nicht mehr so den Stressmustern auf
den Leim, also vertieft sich dadurch die Geistesruhe. Deswegen geht es auch jetzt erst einmal noch um die
beiden gemeinsam.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 41

Heilsames Verhalten mit Körper, Rede und Geist und Reine Sicht
Man liest dann im Samdhinirmocana Sūtra - der Buddha wird angesprochen von Maitreya:
„Ehrwürdiger, was sind eigentlich die Ursachen für Geistesruhe und intuitive Einsicht?“ „Maitreya,
sie haben als Ursachen ein reines heilsames Verhalten, eine reine Sicht, die aus dem Hören und Kon-
templieren entstehen.“

Ich erkläre das kurz noch einmal. Die gemeinsame Ursache von Geistesruhe und Einsicht, man kann sagen
für jede Form von Samadhi, ist zunächst, dass wir unser Leben im Heilsamen etablieren. Das bedeutet heil-
sames Verhalten mit dem Körper: Respekt vor Lebewesen, nicht töten, nicht stehlen usw. Heilsames Verhal-
ten mit der Rede: heilsame Kommunikation, nicht lügen, kein sinnloses Zeug schwätzen, keine Zwietracht
säen, sondern im Gegenteil Streit schlichten; so sprechen, dass die Herzen aufgehen, Verständnis entsteht.
Und unseren Geist so ausrichten, dass wir ihn nicht vagabundieren lassen in nicht heilsame Gedankengänge
und Geisteszustände, sondern ihn immer wieder in offene Gelöstheit, in liebevolle mitfühlende Geisteszu-
stände zurückholen.
Das ist die Basis. Das nennt man Shila, heilsames Verhalten. Oft wird es als Disziplin übersetzt, was furcht-
bare Assoziationen bei uns auslöst. Wir verbinden mit Disziplin an erster Stelle, dass wir uns zusammenrei-
ßen. Das ist nur insofern richtig, als wir uns manchmal zusammenreißen müssen, um die Klappe zu halten
und nicht ausfallend zu werden und uns körperlich zu bremsen. Aber der ganze Rest dessen, was wir Shila
nennen, dieses erfrischende, heilsame Verhalten ist mit hohem Genuss, hoher Freude verbunden, immer
mehr im Heilsamen aufzugehen, im heilsamen Denken, Sprechen, und Handeln.
Das hat gar nichts mit zusammenreißen zu tun. Es ist ein Geschenk, das wir uns selber und anderen machen.
Deshalb übersetze ich jetzt tsültrim, das tibetische Wort, das eigentlich so viel heißt wie: so wie es zu tun ist,
so wie man handeln sollte - und damit ist heilsames Handeln gemeint - als heilsames Verhalten.
Shila auf Pali, Sanskrit bedeutet: das, was erfrischend ist, was Herz und Geist erfrischt, im Unterschied zu
der Hitze der emotionalen Verstrickungen. Das, was die Emotionen auflöst und hilft, Erfrischung reinzubrin-
gen, wird heilsames Verhalten genannt. Dies ist die Basis der Meditation. Ohne diese Basis werden wir kaum
Fortschritte machen.
Der zweite Punkt ist eine reine Sicht, eine hilfreiche Sicht oder eine Sicht, die der Wirklichkeit entspricht
oder nahe kommt. Eigentlich geht es dem Buddha darum, dass wir uns von allen Standpunkten, von allen
Sichtweisen befreien. Da geht es hin. Aber um da hinzukommen, brauchen wir eine Orientierung,
Diese Orientierung besteht darin, dass wir wissen, worum es im Dharma, in der Praxis geht. Das nennt man
die Sicht, mit der wir meditieren, praktizieren. Das ist die zweite notwendige Grundlage, um mit der Medita-
tion Erfolg haben zu können. Wir müssen wissen, was wir tun. Das nennt man die Sicht. Ein Verständnis
darüber, worum es geht.
Diese beiden, also zu wissen, wie wir uns heilsam mit Körper, Rede und Geist verhalten können und worum
es geht, entstehen aus dem Hören und Studieren der Unterweisungen und dem tiefen Bedenken, dem tiefen
Kontemplieren des Gehörten. Das wir damit in dem tiefen Kontemplieren auf uns selber anwenden.
Ihr hört zum Beispiel heute diese Unterweisungen, das ist das Hören; ihr macht Euch Notizen, ihr studiert
den Text. Das ist der erste Schritt. Da entsteht ein intellektuelles Verständnis.
Kontemplation ist dann der Schritt, sich zu fragen: Was hat das mit mir zu tun? Wenn ich das ernst nähme,
wie würde es mein Leben verändern? Ich beginne den gehörten Dharma, den ich sauber aufgenommen habe,
intellektuell gut verstanden habe, auf mich selbst anzuwenden. Das ist der Schritt, der hier Reflektion ge-
nannt wird und den wir meistens Kontemplation nennen. Ich kontempliere, was die Folgen wären, wenn ich
das umsetze in meinem Leben.
Die Umsetzung nennt man dann Üben, Tib. gom, Skt. bhavana, das ist das Wort, das hier immer mit Medita-
tion übersetzt wird. Es ist die Umsetzung des in der Kontemplation für richtig befundenen. Der Begriff gom
oder bhāvanā ist viel größer als das, was wir gewöhnlicher Weise mit Meditation meinen. Dieser Begriff be-
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.42

zieht alle Lebensbereiche mit ein, Meditation in allen Aspekten unseres Lebens. Aber natürlich üben wir erst
mal auch ganz viel auf dem Kissen oder dem Stuhl.
Weitere Ursachen
Der ehrwürdige Gampopa nennt dieselben Ursachen für das Hervorbringen von Geistesruhe, aber er
fügt dem noch den Segen der Meister hinzu, die hilfreichen Verbindungen, die glücksverheißenden
Verbindungen - tendrel auf Tibetisch, ich erkläre das gleich noch -, das Ansammeln oder das Erwerben
von positiver Kraft und Verdiensten und das Auflösen von Schleiern. Diese Ursachen gelten ebenfalls
für das Entwickeln von Einsicht.
Gampopa, der berühmte Mahāmudrā-Meister, spricht viel davon, wie Segen dazu beiträgt, Geistesruhe und
Einsicht entstehen zu lassen. Das passiert, wenn wir uns innerlich öffnen und wie den Buddha in uns eintre-
ten lassen; uns öffnen dafür, dass der Buddha in uns meditiert, der Lama in uns meditiert, wir mit dem Se-
gensstrom verbunden sind. Das ist ein Schritt, in dem sich das Ich zurücknimmt, sich dafür öffnet, dass etwas
Größeres als das Ich, etwas Weiseres, Mitfühlenderes sich in uns ausbreiten darf. Das sind Erfahrungen, die
mit Segen einhergehen. Man nennt den Prozess oft Hingabe. Es ist ein Sich Öffnen für die inspirierenden
Qualitäten des Erwachens in uns.
Tendrel
Was wir hier tendrel nennen, hat erst einmal eine ganz praktische Bedeutung. In den Meditationsinstruktio-
nen geht es zum Beispiel darum, eine aufrechte Haltung einzunehmen. Das ist für Anfänger sehr hilfreich:
aufrecht mit dem Körper zu sitzen, die Augen entspannt ruhen zu lassen, den Bauch zu entspannen. Das
schafft eine Verbindung zu Geistesruhe und Klarheit. Das sind alles schon tendrel. Wir nutzen die Bedin-
gungen des Körpers, wie wir mit dem Körper umgehen, um Geistesruhe und Einsicht zu erleichtern.
Genauso achten wir auch darauf, nicht zu schwer und zu viel zu essen, damit der Geist nicht absackt; wir uns
leicht bekleiden, wenn es warm ist, damit der Geist klar bleibt; wir, wenn der Geist aber aufgewühlt ist, uns
eher warm anziehen und eher etwas Nahrhaftes zu uns nehmen. Das alles sind schon tendrel. Tendrel sind
Beziehungen, man kann sagen Faktoren unseres Lebens. Dazu gehören die Umwelt und der eigene Körper
und deren Auswirkungen auf den Geisteszustand.
Wenn wir merken, dass wir müde und dumpf werden, richten wir den Blick nach oben, wir machen das Licht
etwas heller, damit der Geist klarer wird, oder wir schauen in die Weite oder zum Fenster hinaus. Wenn der
Geist eher aufgewühlt ist, richten wir den Blick nach unten und sorgen dafür, dass das Licht eher etwas ge-
dämmt ist.
Wir berücksichtigen auch Feng-Shui Aspekte, z. B. wie der Meditationsplatz ist, wohin wir schauen, wie wir
ausgerichtet sind, damit all das Geistesruhe und Einsicht unterstützt. Das Haus, in dem wir meditieren, der
Ort, an dem wir meditieren, in der Natur; die Arten und Weisen, wie wir die Sitzung beginnen, wir uns zum
Beispiel erst einmal auf die Zuflucht ausrichten: all das schafft tendrel, schafft Beziehungen zu dem, was
dann folgen wird.
Als Folge dieser Ausrichtung wird es leichter sein, Geistesruhe zu meditieren. Wir achten auf all diese ande-
ren Bedingungen. Gampopa führt sie auf, weil so vieles Einfluss auf unsere Meditation hat: die Begegnun-
gen, die wir im Laufe des Tages haben, wie wir den Tag anfangen, wie wir ihn abschließen. All das hat
Auswirkungen.
Ansammeln von Verdienst
Das Ansammeln von Verdiensten ist das Aufbauen einer positiven Kraft in unserem Leben. Es hilft der Me-
ditation, wenn wir viel Heilsames tun, für uns selbst und andere, wirklich freigebig sind, andere pflegen, un-
terstützen, Spenden machen, wo sie möglichst sinnvoll sind: uns in jeder Form für das Wohlergehen und das
Erwachen aller Lebewesen einsetzen. Alles, was wir in dieser Richtung tun, hilft tatsächlich in der Meditati-
on, schnell in die Tiefe zu finden. Alles, was die Ich-Bezogenheit untergräbt oder nicht aus Ich-Bezogenheit
gespeist ist, nennt man Verdienste. Das ist die positive Kraft, die dem Erwachen zustrebt, dem Erwachen
zuarbeitet.
Auflösen von Schleiern
Das Auflösen von Schleiern - großes Thema -, bedeutet für uns ganz konkret, dass wir mit den Geisteszu-
ständen arbeiten, die wir als verwirrt erleben. Wenn wir selbst verwirrt sind, kümmern wir uns darum, es
aufzulösen, Schleier zu lüften.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 43

Das kann therapeutische Arbeit beinhalten, das kann einfach auch eine authentische Arbeit mit sich selbst
sein, indem wir ehrlich mit uns selbst sind. Klassisches Beispiel ist die Vajrasattva Praxis, manchmal Dia-
mantgeist genannt, wo wir all unsere Schatten, unsere Negativität, unsere Emotionen offenlegen und da hin-
ein das Bodhicitta einladen, da hinein den Geist des Erwachens fließen lassen.
Das ist eine Art, Schleier zu reinigen, aber auch mit unserem Partner, unserer Partnerin zusammen zu sitzen
und ehrlich über unsere Geisteszustände zu sprechen, uns zu offenbaren und den Geist der Liebe da hinein
einzuladen. Das ist derselbe Prozess des Reinigens von Schleiern und geht in dieselbe Richtung.
Wenn jemand, der sich so offenbart hat, nichts zu verstecken hat, sich zum Meditieren hinsetzt, ist das Medi-
tieren ganz einfach, weil uns nichts mehr belastet, nichts Unaufgearbeitetes mehr da ist. Wir können einfach
da sein. Deswegen führt Gampopa es noch extra auf.
Das können wir ganz konkret tun. Wenn wir aufgewühlt sind in unserer Meditation oder immer nur dumpf,
hat es oft Gründe im Bereich unseres Verhaltens im Alltag, unserer Beziehungen mit Menschen, wie wir mit
unserem Körper umgehen, wie wir unsere Umwelt gestalten. All das hat Auswirkungen auf unsere Meditati-
on oder die Unfähigkeit zu meditieren.
So viele Worte. Was ich eigentlich sagen wollte, ist - die Stille.

Sechs günstige Bedingungen für Geistesruhe


Zitat aus dem zweiten Teil des Bhāvanākrama von Kamalashila: Es gibt sechs begünstigende Bedingun-
gen für Geistesruhe: An einem günstigen Ort praktizieren, wenige Verlangen haben, mit wenig auch
zufrieden sein – Zufriedenheit -, viele Aktivitäten aufgeben, ein reines heilsames Verhalten pflegen und
- jetzt kommt das Schwierigste - vollständig alle dualistischen diskursiven Gedanken aufgeben - sehr
günstig für die Geistesruhe -.

Diese Liste ist genau das, was es braucht. Zunächst einmal: wenn wir in tiefere Meditation einsteigen möch-
ten, suchen wir uns einen guten Ort. Der Ort muss stimmen und wir müssen uns dort grundlegend wohl füh-
len, wohl und sicher.

An diesem Ort lassen wir die verschiedenen Verlangen los, was alles noch besser sein könnte, richten uns
erst einmal gut ein und dann ist es fertig.

Dann schauen wir darauf, dass sich nicht wieder viele Aktivitäten einschleichen, ohne dass wir es beabsich-
tigen. Deswegen ist es ganz wichtig, keine Projekte mit ins Retreat zu nehmen, möglichst keine Außenkon-
takte; nichts, was einen dann wieder beschäftigt - sodass es wirklich in uns zur Ruhe kommen kann.

Während des ganzen Lebens praktizieren wir so gut es geht mit Respekt für alle Lebewesen in all unseren
Handlungen. Dann findet unser Geist leicht in Ruhe, weil uns nichts aufwühlt, was wir persönlich noch re-
geln müssen, aufräumen müssen, wir bedauern, wo wir Schuldgefühle haben - es gibt keinen Grund dafür.
Wir haben uns um alles gekümmert und verhalten uns anderen gegenüber so, dass wir es vor uns selbst und,
sagen wir mal, auch vor den Buddhas gut vertreten können. Das hilft enorm für die Geistesruhe.

Was bleibt, ist der Gedankenzirkus. Das ist unser karmisches Feuerwerk. Wenn wir es schaffen, es durchrau-
schen zu lassen und uns nicht darin zu verwickeln, nennt man dies dann, was hier der letzte Punkt ist, den
nam tog, dieses dualistische Denken loszulassen, das Ich-bezogene Denken. Eigentlich ist nam tog ein Be-
griff im Tibetischen für alles überflüssige Denken. Wenn wir meditieren, ist alles Denken ziemlich überflüs-
sig.

Drei Faktoren, die Einsicht unterstützen


Dann gibt es drei Faktoren, die speziell für die intuitive Einsicht dazu kommen: einer vertrauensvollen
Person oder einer Person mit großen Qualitäten folgen. Damit ist ein spiritueller Lehrer, eine spirituelle
Lehrerin gemeint. Sich darum zu bemühen, viele Unterweisungen anzuhören und sie tief und auf kor-
rekte Weise zu kontemplieren. Das sind die drei Faktoren, die der intuitiven Einsicht noch besondere
Unterstützung geben.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.44

Wenn wir uns hier jetzt auf Dakpo Tashi Namgyal einlassen und seinen Text kontemplieren, machen wir
genau das. Wir sind jetzt dabei, massiv unsere Praxis der intuitiven Einsicht zu unterstützen. Das läuft so,
dass wir tagsüber in unserem Erforschen des Geistes durch die Unterweisungen ganz angeregt werden in un-
serem Erforschen des Geistes. Wenn wir dann meditieren, brauchen wir das eigentlich gar nicht mehr extra
zu tun. Es arbeitet in uns weiter.

Die Unterweisungen, die wir hören und kontemplieren, arbeiten in uns weiter und ohne dass wir es merken,
ist innerlich wie so ein Radar aktiv, um das alles besser zu verstehen. Wenn wir merken, dass dieser Radar
wie abgestellt ist und wir nicht mehr wirklich interessiert sind an dem, wie wir die Dinge erleben, geben wir
dem ein bisschen Unterstützung, indem wir innerlich eine Frage stellen, zum Beispiel die Passepartout-
Frage: Wie ist es zu sein? Oder wir erinnern uns: wer meditiert da eigentlich? Oder eine Frage oder Erinne-
rung: hat das alles Substanz?

Also leiten wir eine Kontemplation ein über Vergänglichkeit, über die prozesshafte Natur. Das reicht, um
einen kleinen Anstoß zu geben. Der Rest ist schon dadurch abgedeckt, dass wir uns mit den Unterweisungen
befassen und sie kontemplieren. Das läuft alles über den Intellekt und beim Meditieren brauchen wir, weil
wir schon angeregt sind, gar nicht so viel zu tun.

Bedingungen für einen günstigen Ort der Praxis


An einem günstigen Ort zu leben, zu praktizieren, bedeutet, in einer förderlichen Umgebung zu sein,
in der es einem leicht fällt, sich Nahrung und Kleidung zu besorgen, wo sich niemand befindet, der uns
schaden möchte, kein Feind, aber auch keine wilden Tiere, vor denen wir Angst zu haben brauchen.

Es ist ein angenehmer Ort, der gesund ist und auch keine Krankheiten hervorruft. An diesem Ort ist
tagsüber wenig los und es gibt nachts wenig Lärm. Dort wohnen nur gute Gefährten, die demselben
heilsamen Verhalten folgen und dieselbe innere Ausrichtung oder Sichtweise praktizieren - seht ihr, es
ist die Beschreibung des Grünen Baums.

Das sind die Merkmale, auf die man achtet. Um es ganz konkret zu sagen: eine angenehme Umgebung. Für
längere Retreats ist es gut, in der Natur zu sein. Wir sind eigentlich Naturmenschen. Der Mensch ist eigent-
lich mit der Natur verbunden und es ist gut, vom Grün umgeben zu sein, hinausgehen zu können und mit den
Elementen in Kontakt zu sein. Das war eines der Kriterien, die wir hier berücksichtigt haben.

Es ist leicht, Nahrung zu finden. Wenn man sich gemeinsam organisiert und sogar einen Zulieferer hat, wie
bei uns den Biozulieferer, der einmal in der Woche unseren gesamten Einkauf bringt und wir im Normalfall
nicht einmal mehr einzukaufen brauchen: das ist super. Wir sind nicht mit Einkaufen beschäftigt. Wir brau-
chen nicht raus zu gehen. Ansonsten reduziert man es auf das Minimum. Zum Beispiel, als wir im Wald in
der Dordogne Retreat gemacht haben, haben wir eine Einkaufsliste geschrieben und es gab Menschen, die
für uns einmal alle zwei Wochen unseren Großeinkauf gemacht haben. Damit kommt man dann einfach aus.
Das musste dann reichen. Man teilt es sich dann so auf, dass die Gemüse, die am längsten halten, später ge-
kocht werden und die anderen zuerst. Also auch da die Bedürfnisse einschränken.

Kleidung spielt heutzutage gar keine Rolle mehr. Ich glaube, wir haben alle genug Kleidung im Schrank,
sodass wir wahrscheinlich ein paar Jahre lang nicht einzukaufen brauchen.

Dass es dort keine Feinde gibt, niemanden, der uns Schaden zufügen möchte, ist auch wichtig. Stellt euch
vor, wir hätten Nachbarn, die uns nicht wohlgesonnen wären, oder wir würden in einem Haus leben, wo uns
jemand schikaniert. Da kommt der Geist nicht zur Ruhe. Wir fühlen uns nicht wohl.

Natürlich ist es so, wenn wir zum Beispiel in Brasilien Retreat machen, dass wir schauen, dass wir keine
Angst vor Schlangen zu haben brauchen, also wir nicht an einen Ort gehen, wo uns wilde Tiere gefährden
können. Das ist hier in Mitteleuropa eher weniger der Fall. Wir schauen, dass wir uns entspannen können.
Wenn jemand mit Ungeziefer nicht umgehen kann, macht er sich ein Fliegennetz vors Fenster und schaut,
dass er seine Tür dicht hält, so dass er keine Angst hat: wie in Griechenland, zum Beispiel vor Skorpionen
keine Angst zu haben braucht.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 45

Man trifft Vorkehrungen, so dass man sich dann, wenn man sich zur Meditation setzt, entspannen kann. Die
es gewohnt sind, denen macht es gar nichts, aber für manche ist das ein wichtiger Punkt und dann achten wir
darauf.

Wenn das alles der Fall ist, muss man darauf achten, in einer Gemeinschaft zu leben, in der man sich mag
und unterstützt und niemand dem anderen etwas Übles möchte. Das ist das Beste, eine Retreatgemeinschaft,
eine Praxisgemeinschaft. In dieser Praxisgemeinschaft ist es auch wichtig, dieselbe Ausrichtung zu pflegen,
sodass es nicht zu einem Hin- und Hergezerre von Anschauungen, Meinungen, Standpunkten usw. kommt,
man sich da nicht in die Quere kommt. Es hat nichts damit zu tun, dass man andere Standpunkte nicht res-
pektiert, sondern: wenn wir ins Retreat gehen, dann wollen wir uns damit nicht befassen. Das ist nicht der
Zeitpunkt, um Diskussionen zu haben und Meinungen und Philosophien zu diskutieren. Da sollte man das
Gefühl haben, gemeinsam in dieselbe Richtung zu gehen.

Im Schmuck der Mahāyāna Sutren heißt es: Ein weiser Praktizierender, dem es um Verwirklichung
geht, wird einen geeigneten Ort aufsuchen, wo alles leicht zu finden ist, der gut geschützt ist, gesund,
umgeben von guten Gefährten und mit guten materiellen Bedingungen für die Praxis.

Vielleicht wundert ihr euch, dass die Zitate manchmal dasselbe nochmal sagen wie der Autor. Das ist guter
Stil auf Tibetisch. Der Autor beweist damit, dass er nichts erfunden hat. Er möchte nicht seinen eigenen
Dharma verfassen, sondern er stützt sich auf die Übertragungslinie und belegt alles, was er sagt, mit entspre-
chenden Zitaten, die den anderen studierten Lesern auch zugänglich sind. So wird vieles zweimal ausge-
drückt, manchmal mit einer leichten Nuance, mit einer leichten Schattierung, bei der er den Akzent auf etwas
legt. Daran müsst ihr euch gewöhnen. Das ist also kein Langweiler, sondern es hat etwas mit der Authentizi-
tät der Übertragung zu tun, dass er uns zeigen möchte: ja, so ist das schon immer.

Ich habe übrigens vergessen, etwas zu erklären: ein gesunder Ort. Das ist sehr wichtig. Zum Beispiel darf der
Ort nicht feucht sein, sodass wir Rheuma bekommen. Unser erster Ort im Wald in Dhagpo Kagyü Ling war
so feucht, dass Irene und ich Rheuma bekommen haben. Als junge Menschen hatten wir innerhalb von drei
Jahren Rheuma. In einem feucht-warmen Wald geht das recht schnell. Auf solche Dinge muss man achten.
Das Wasser muss gut sein und, und, und. Wenn man länger an einem Ort praktizieren möchte, muss dieser
Ort förderlich für die Gesundheit sein.

So gibt es Beschreibungen für ideale Höhlen im Himalaya. Die müssen trocken sein, mit einem Wasserfall in
der Nähe oder, wenn ein Rinnsal durch die Höhle geht, muss die Höhle trotzdem noch trocken sein und gut
belüftet usw. Das sind alles Hinweise, auf die man zu achten hat. Es kommt nicht jeder Ort in Frage. Es gibt
Orte, an denen die Praktizierenden, egal wie gut ihre Praxis ist, krank werden. Darauf sollte man bei der
Auswahl seines Praxisplatzes achten.

Was ist damit gemeint, wenige Bedürfnisse, wenig Verlangen zu haben, nicht an der Qualität oder
Quantität von Nahrung und Kleidung anzuhaften?

Wo wir grundlegend gute Bedingungen haben, nicht immer den Kritiker rauszuholen, wenn es um das Essen
geht, sondern da leicht zufrieden zu sein, auch mit der Kleidung. Es ist dann völlig egal, ob sie Löcher hat.
Sich entspannen, auch was das angeht.

Was bedeutet es, Zufriedenheit zu praktizieren? Sich immer mit der Nahrung und der Kleidung, die
wir haben, zufrieden zu geben, egal, was sie für eine Qualität haben.

Aktivitäten aufgeben
Was ist gemeint mit viele Aktivitäten aufgeben? Zunächst einmal, sich von allen schädlichen Aktivitä-
ten abzuwenden, insbesondere das Handel treiben oder exzessiven Kontakt mit Laien oder monastisch
Praktizierenden zu pflegen, nicht mehr den Heilberuf, die Medizin auszuüben, keine Astrologie usw.

Einiges dürfte euch verwundern oder vielleicht nicht gleich so klar sein. Es geht ja darum, dass wir Geistes-
ruhe und Einsicht entwickeln wollen. Da ist klar, dass alle schädlichen Aktivitäten unseren Geist aufwühlen,
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.46

mit Schuldgefühlen, Selbstzweifeln, Verwicklungen und Verstrickungen. Wenn wir uns überlegen müssen,
wem wir was gesagt haben, weil wir gelogen haben, wird das einfach kompliziert.

Oder, etwas ganz Einfaches. Jemand, der aus verständlichen Gründen Geld hinterzogen und wirklich Angst
hat, dass ihm das Finanzamt eine Steuerprüfung macht oder eine Betriebsprüfung, wird Mühe haben, Geis-
tesruhe und Einsicht zu entwickeln. Das hat Folgen. Es beunruhigt uns innerlich etwas. Oder vielleicht haben
wir bei der Scheidung unseren Partner, unsere Partnerin etwas über den Tisch gezogen und es nicht fair auf-
geteilt - und es beunruhigt uns. Es ist etwas, es stimmt nicht. Darauf sollten wir achten. Das sind so die Klas-
siker, die uns aufwühlen.

Den Handel aufgeben. Es ist nicht so, dass Handel treiben schlecht wäre. Handeln, also Geschäfte machen,
beschäftigt den Geist unglaublich. Es gibt Praktizierende, die mich gefragt haben, ob sie im Retreat ihren
Aktienhandel im Internet weiter betreiben können. Tägliche Routine für manche. Eine Stunde im Internet
und wieder ein bisschen mit Aktien handeln. Das geht nicht. Du bist ständig beschäftigt mit Kursverlauf, mit
Einflüssen, mit Nachrichten aus der Wirtschaft. Oder auch persönlicher Handel, wie das hier gemeint ist: du
gibst mir das, ich gebe dir das. Das Denken, wie man Profit aus der Situation schlagen kann, wühlt den Geist
auf. Deswegen steht das da drin. Das könnt ihr nachvollziehen: das ist etwas, das Unruhe schafft.

Oder wenn jemand ins Retreat geht und will gleichzeitig noch sein Jahresprogramm für seine sonstigen Ak-
tivitäten schreiben. Oder er meint, eine Stunde Emails mit ins Retreat nehmen zu müssen, um immer alles
schön klar zu haben. Da kommt so viel Stoff rein. Manchmal reicht ein einziges Email und schon bist du ei-
nige Stunden beschäftigt, bis das wieder aufgelöst ist.

Intensiven Austausch pflegen mit anderen, egal ob mit Laien oder monastisch Praktizierenden bedeutet, viele
intensive Gespräche zu haben, viele Neuigkeiten zu bekommen, mit den Lebensfragen anderer konfrontiert
zu sein usw. Das wühlt auch auf. Wenn wir Meditation vertiefen wollen, möchten wir das nicht.

Im letzten Dreimonats-Retreat konnten wir sehr gut sehen, dass Menschen, die für eine Woche kamen, was
bei uns der Fall ist und sein sollte, oft recht viel an persönlicher Geschichte mitbrachten und erst einmal eini-
ge Tage brauchten, um zu erzählen und runter zu kommen. Das war für die anderen, die den Unterschied
merken, eine Herausforderung, dass bei Tisch jemand ist, der noch ganz beladen ist von dem, was er gerade
draußen erlebt hat und es irgendwie loswerden möchte. Das sind aber alles wohlmeinende Menschen, die
bringen nicht irgendwie extra etwas mit. Man ist in einer anderen Energie, man kommt noch aus dieser in-
tensiven Aktivität, hat noch alles erledigt, um ins Retreat kommen zu können, landet da endlich, setzt seine
Sachen ab und hat endlich mal Zeit, mit jemand zu sprechen. Das ist auch selbstverständlich. Nur ist das
nicht der Sinn eines Retreats für diejenigen, die zum Beispiel schon einen Monat im Retreat sind. Darauf
muss man achten und das werden wir auch in Zukunft mehr tun. Deswegen spreche ich es jetzt an, damit ihr
schon ein darauf bisschen vorbereitet seid, dass man den Übergang entspannter für alle gestaltet.

Für Yogis in Tibet war es auch so. Man geht nicht stundenlang Teetrinken mit dem Yogi in der nächsten
Höhle. Man geht nicht während der Meditationssitzungen ins Nachbarzimmer, um sich stundenlang auszu-
tauschen. Das bewirkt, dass man aufgewühlt, angeregt wird. Und es geht weiter. Man hat plötzlich mit den
Emotionen zu tun, die der andere erlebt - nicht, dass die auf einen selbst gerichtet wären, sondern man ist wie
mit drin in der Geschichte. Und das wollen wir jetzt gerade vermeiden, denn wir wollen den Geist erforschen
mit all dem, was er aus sich heraus produziert.

Wir wollen unseren karmischen Schrott aufarbeiten, unser karmisches Feuerwerk. Das kommt gar nicht zum
Zug, da es von dem neuen Input ständig überlagert wird. Da kommt es dann nicht zum Aufarbeiten der eige-
nen inneren Prozesse, weil ständig durch das, was aktuell angeregt wird, diese Überlagerung vorhanden ist.
Es reicht pro Tag ein Brief, eine etwas intensivere Email, um zu solch einer Überlagerung zu führen. Schon
ist das ganze Retreat für die Katz, weil man jeden Tag mit etwas anderem beschäftigt ist und nie wirklich in
die Tiefe kommt. Das ist so schade.

Da können Monate der Praxis vorbeigehen und man ist immer irgendwie mit etwas beschäftigt. Jetzt kommt
die Fähigkeit hinzu, die man entwickeln kann, wirklich sein zu lassen. Man muss sich ja nicht damit beschäf-
tigen. Man muss nicht damit auf dem Meditationskissen landen. Aber das ist für Anfänger eine schwere
Übung. Wir haben gerade etwas gehört, das uns berührt, uns angeht und dann sollen wir es gleich schon los-
lassen, wenn wir uns hinsetzen und den Geist erforschen. Das ist eine eher schwierige Übung. Es wird immer
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 47

wieder auftauchen. Bis so etwas ganz losgelassen ist, taucht es zwei, drei, fünf, zehn Mal auf und dann ist es
irgendwie durch. Das ist die normale Erfahrung.

Dann stand da noch, dass wir den Heilberuf sein lassen sollen. In Tibet gab es Ärzte wie bei uns, die dann
allerdings mit Pflanzen und Mineralien heilten und es gab auch welche, die eine sehr feine Form von Astro-
logie praktiziert haben. Das alles sind wunderbare Aktivitäten, aber sie verwickeln uns mit unserer eigenen
Wichtigkeit.

Der springende Punkt ist nicht, das Heilen zu lassen, sondern wir sind wichtig für jemand anders und ohne es
zu merken, nähren wir unseren Stolz. Ich bin wer für jemand anders. Wir haben alle ein gewisses Helfersyn-
drom und nähren es dann während des Retreats. Bei mir war das extrem ausgeprägt. Dieses erste Retreat, wo
ich niemanden mehr behandelte - es war solch ein Wandel, weil ich vorher sehr viele homöopathische Be-
handlungen hatte. Ich wusste zunächst kaum noch, wer ich bin.

Wer bin ich, wenn ich nicht wichtig bin für irgendjemand? Bei meiner Frau schlugen alle meine homöopa-
thischen Therapieversuche sowieso fehl. Sie prüfte jedes Medikament und hatte immer die entsprechenden
Symptome, aber nichts half richtig. Das war obendrein noch ein guter Schlag für meine Ich-Bezogenheit. Ja,
niemand fragt mehr nach einem.

Wir waren sehr beliebt, sehr bekannt, wir erhielten zu Anfang sehr viele Briefe und dann wurden die Briefe
weniger, weil wir im zweiten oder dritten Retreat waren, und irgendwann bekam ich nur noch zwei bis drei
Briefe pro Monat. Da hat man Zeit, ganz zu sich zu kommen.

Man hat keine Ahnung mehr, wer man ist, weil man sich nicht mehr an dem Blick, am Respekt der anderen
orientiert und die Wertschätzung nicht mehr bekommt. All das, was uns normalerweis aufbaut. Retreat be-
deutet, dass genau all das im Lauf der Zeit wegfällt, man es durchschaut, man merkt: darüber kann ich mich
nicht definieren, das hilft mir nicht im Tod. Es ist nicht das, was mir wirklich hilft, wenn ich mit mir im ei-
genen Geist konfrontiert bin. Das fällt weg, sobald ich krank werde. Es ist nicht mehr da, wenn ich umziehe,
woanders hingehe und keine Freunde mehr habe usw.

Deswegen gibt man das Heilen auf und das Ratgeber sein und all diese Dinge, damit sich dieses Gefühl ein-
stellen kann und die Suche. Wer bin ich eigentlich, wenn ich mich nicht mehr über Aktivitäten definiere,
wenn ich mich nicht mehr über die Wertschätzung anderer definiere?

Heilsames Verhalten pflegen


Was versteht man unter heilsames Verhalten pflegen? Das bedeutet, dass wir uns klar an die Verhal-
tensrichtlinien halten, die im Dharma empfohlen werden, insbesondere an die Gelübde der Selbstbe-
freiung und die Bodhisattvagelübde, und dass wir, falls wir sie durch Unachtsamkeit übertreten, so-
fort die verschiedenen Heilmittel anwenden, jedes Mal beginnend mit dem Bedauern darüber, was wir
getan haben.

Das sind die Grundlagen des Dharma, der Lehre. Es bedeutet, dass wir immer mal wieder schauen: Habe ich
jemandem heute geschadet, waren meine Handlungen, meine Worte und eventuell auch meine Gedanken in
Einklang mit der inneren Ausrichtung, die ich eingeschlagen habe? Halte ich meine Versprechen? Und wenn
nicht, dass ich es bereinige. Erst alleine, dann eventuell auch mit der betroffenen Person, falls das hilfreich
sein könnte - sodass man immer kontinuierlich bei sich aufräumt.

Im Alltag merkt man es gar nicht so sehr, welche Auswirkungen nicht-heilsames Handeln hat. Wenn wir in-
tensiver praktizieren, merken wir, wie es den Geist aufwühlt, selbst einer einzigen Fliege Leid angetan zu
haben. Das berührt uns. Oder wenn man Gartenarbeit gemacht hat und einen Regenwurm verletzt hat, even-
tuell sogar vermeidbar verletzt hat, sodass man es im letzten Moment vielleicht noch hätte abwenden kön-
nen. Solche Dinge beschäftigen uns.

Unser Herz öffnet sich und wird sehr viel empfindlicher für die innere Haltung, mit der wir durch die Welt
gehen. Das ist etwas Gutes, braucht aber zusätzliche Aufmerksamkeit, uns darum zu bemühen, in unserem
Verhalten eine sehr gute Basis für unsere Praxis zu legen.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.48

Man merkt auch bei einem einzigen negativen abwertenden Gedanken gegenüber jemandem in der Praxis-
gemeinschaft, wenn unser Herz sich verschließt: der Leidtragende sind in erster Linie wir selbst. Unser Geist
hat sich verschlossen, unser Herz. Wir werden Mühe haben, in der nächsten Meditationssitzung so offen und
entspannt zu sein, wie vielleicht vorher. Alles hat Auswirkungen.

Deshalb achten wir darauf, den ganzen Tag mit Bodhicitta zu leben, unser Herz für jeden zu öffnen, dem wir
begegnen, für alle Menschen, die wir in den Augen und in den Ohren haben, die uns in den Sinn kommen.

Die Tibeter haben es so gemacht, dass sie immer, wenn ihnen jemand in den Sinn kam, innerlich Om Maṅi
padme Hūng rezitiert haben, innerlich gleich in eine Haltung des Wohlwollens gegangen sind.

Oder wir können es uns zur Gewohnheit machen, Tonglen zu üben mit den Menschen, die in unserer Umge-
bung sind. Also immer mal wieder jemanden aus unserem Freundes- und Bekanntenkreis oder aus dem Haus
in die Herzenspraxis mit hinein zu nehmen, uns vorzustellen, der Mensch wäre vor uns zu spüren. Wie geht
es dir, was brauchst du? Uns zu öffnen und die Unterstützung fließen zu lassen. So können wir ständig neu
um uns herum aufräumen. Das alles ist mit heilsamem Verhalten gemeint.

Gedanken der Anhaftung loslassen


Was ist damit gemeint, die Gedanken des Anhaftens vollkommen loslassen? Er hat hier ein etwas ande-
res Zitat, vorher waren es die dualistischen Gedanken, hier nennt er sie Gedanken des Anhaftens, des Ver-
langens, der Begierde.

Wir machen uns bewusst, welche Folgen es hat, unserem Verlangen nachzuhängen, welche schädli-
chen Auswirkungen das für uns selber hat in diesem und in zukünftigen Leben. Wir geben die Gedan-
ken auf, die um unsere verschiedenen kleinen und großen Verlangen und Begierden kreisen und wid-
men uns gezielt der Kontemplation, dass alle angenehmen und unangenehmen Sinneserfahrungen,
alles Erleben in jeder Existenz vorübergehender, unbeständiger Natur ist.

Alles, was entsteht, wird wieder vergehen. Überall wo Begegnung stattfindet, wird es Trennung geben. Wir
kontemplieren dies ganz tief als ein Heilmittel für unser Anhaften und Verlangen. Das ist sehr wichtig.
Nachdem wir alles andere berücksichtigt haben, hätten wir eigentlich einen klaren offenen Raum für die Pra-
xis. Und dann taucht irgendein Bedürfnis auf: das Bedürfnis, nicht alleine zu sein; wenn ich alleine bin, das
Bedürfnis nach Partner, nach Intimität; das Bedürfnis freudige Dinge zu erleben; die Bedürfnisse dieses und
jenes Schöne zu erfahren. Das ist alles gut, darum können wir uns kümmern, wenn wir Zeit haben. Aber jetzt
wollen wir meditieren.

Dann ist es wichtig zu sagen: Lohnte sich denn der ganze Aufwand, immer darüber nachzudenken?

Wenn es etwas zu tun gibt, tue ich es. Wenn es nichts zu tun gibt, nehme ich das Leben so, wie es ist, und
mache mir klar, so, wie es ist, vergeht ohnehin alles Angenehme wieder. Alles Unangenehme vergeht wie-
der, Beziehungen sind ewigem Wandel unterzogen, jedes Zusammenkommen endet in Trennung - spätestens
beim Tod. Und ich bringe etwas Entspannung hinein. Das bedeutet nicht, dass ich behaupte, diese Bedürfnis-
se sollten nicht sein, sondern: jetzt bin ich im Retreat oder in intensiver Praxis oder zumindest mal für eine
Stunde in Meditation. Und da geht es darum, das loszulassen.

Wenn ich mich zum Beispiel auf drei Jahre Retreat einlasse, werde ich während der drei Jahre keinen Part-
ner, keine Partnerin finden. Dann lasse ich das sein und denke auch nicht drei Jahre lang darüber nach, wie
schön es wäre, wenn. Da kann man nicht immer alles haben. So einfach ist das.

Wenn ich mich entschließe, den Weg der Praxis zu gehen, den Weg der Geistesruhe und Einsicht, kann ich
nicht gleichzeitig groß raus kommen in der Welt oder die tollen Beziehungen pflegen. Das geht nicht. Es
kann mir auch keiner vormachen, dass das ginge. Da schließt sich etwas gegenseitig aus. Manchmal hat man
das Glück, dass man mit einem Partner, einer Partnerin ins Retreat gehen kann. Super, wenn es so ist, tut
man es. Sonst muss man warten bis danach.

Ihr merkt, ich spreche ganz viel über Retreat. Hier handelt es sich nicht um Instruktionen für eine Meditati-
onsstunde. Hier handelt es sich um Instruktionen, wie man ins Erwachen finden kann und das braucht inten-
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 49

sive Praxis. Man kann sich natürlich sein Zuhause so einrichten, dass man immer, wenn man nichts anderes
mehr zu tun hat, in die Praxis hinein findet. Das ist super, dann praktiziert man all das auch zuhause.

Aber an sich spricht Tashi Namgyal hier über Vollblutpraktizierende, die sich ganz auf diesen Weg einlassen
können. Denn es geht ihm ja um Samadhi, es geht um Vertiefungen. Also: Minimum einige Tage am Stück,
in denen man praktizieren kann.

Was ist darunter zu verstehen, einem edlen Wesen zu folgen? Das bedeutet, einem spirituellen Freund
zu folgen, jemandem, der uns im Heilsamen anleitet und der oder die selbst die Geistesruhe und Ein-
sicht gemeistert hat und der aus eigener Erfahrung bestens die Wichtigkeit oder die Schlüsselpunkte
des Hörens, Kontemplierens und Meditierens kennt.

Also jemand, der genau versteht, was mit den verschiedenen Aspekten der Praxis gemeint ist, wie man das
macht, wie man die Hindernisse dabei überwindet und tatsächlich Fortschritte macht.

Das Hören von Unterweisungen


Was bedeutet es, zu schauen, viele Unterweisungen zu hören? Das bedeutet, die spezielle Form der
Weisheit zu kultivieren, die durch das Hören und Studieren von Unterweisungen entsteht; von Unter-
weisungen, die natürlich gute makellose Unterweisungen sein sollten, wo es um die wahre Bedeutung
geht, die definitive Bedeutung, den wahren Sinn des Dharma. Besser nicht Unterweisungen, wo es um
den konventionellen, vorläufigen Sinn geht und die mehr oder weniger persönlichen Interpretationen
sind, oder die sich nur mit Definitionen befassen.

Wenn wir Geistesruhe und Einsicht in einer Retreatperiode vertiefen wollen, nehmen wir Dharma-Literatur
oder Audios mit, wo es genau um das geht: das Sein, die Erklärung zur Natur der Wirklichkeit, Hilfestellung
zur Geistesruhe und Einsichtsmeditation - und nähren uns daran. Was den Geist ablenkt und nur von zeitwei-
ligem Nutzen ist, lassen wir besser beiseite.

Wenn ich ins Retreat gehe und praktiziere den Tag über acht oder zehn Stunden und verbringe dann die
Nacht damit, einen Roman zu lesen: das ist nicht so hilfreich. Es kann einmal eine Notlösung sein und es
kann auch sein, dass ich jemandem einen Roman gebe: „Hier, entspann dich mal.“ Aber das ist nicht das,
was wirklich hilft. Was hilft, ist eine kurze Passage in einem Text zu lesen, in der es genau darum geht, wo
ich Inspiration brauche, damit ich wieder angeregt werde, in meiner Praxis tiefer zu gehen. Das ist es, was es
an Retreat-Literatur braucht.

Alles andere ist Zeitvergeudung. Es wird mehr Zeit vergeudet, als die Zeit, die es braucht, um das zu lesen.
Alles was wir lesen, hat Auswirkungen und braucht auch erst einmal eine Weile, bis es durch ist. Dann erst
können wir dort weiterarbeiten, wo wir eigentlich in unserer inneren Verarbeitung schon gewesen sind, als
wir anfingen, diese ablenkenden Dinge zu lesen oder zu hören.

Jedes Mal, wenn wir uns Ablenkung hingeben, verzögern wir unseren Weg um mehr als das, was die eigent-
liche Ablenkung braucht. Wir müssen immer einberechnen, wieviel es braucht, um den Geist ganz frei davon
zu haben.

Also schnell mal ins Internet und schnell etwas machen, dauert zehn Minuten. Aber vorher und nachher sind
wir schon damit beschäftigt und das müssen wir einbeziehen. Um genau so viel verzögert sich unser Weg.
Ich habe schon viele Praktizierende gesehen, die so ihre Retreats richtig in den Sand gesetzt haben. Ganz
schade.

Es fehlte immer die Weisheit, um das zu lassen, was einen vorübergehend entspannt, aber es im Grunde ge-
nommen weitere Schleier aktiviert, verdunkelnd und aufwühlend für den eigenen Geist wirkt. Man beschäf-
tigt sich mit allem möglichen, außer mit sich selbst.

Das kehren wir um in intensiver Praxis. Das heißt, wir setzen uns in intensiver Praxis der Herausforderung
aus, nur mit uns selbst zu sein. Das ist richtig hart. Es ist völlig in Ordnung, wenn jemand ein paar Monate
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.50

braucht, um sich daran zu gewöhnen. Es ist wirklich nicht einfach. Man kann eine Weile brauchen, aber dann
irgendwann müssen wir ernst machen mit der Situation.

Korrektes Kontemplieren
Was ist nun damit gemeint, wenn es heißt, auf korrekte Weise kontemplieren? Es bedeutet, über den
wahren Sinn der Unterweisungen nachzudenken mit dem Ziel, sich mit der Hilfe von entsprechenden
Schlussfolgerungen, von entsprechenden persönlichen Analysen ein klares Verständnis der Sicht zu
erarbeiten.

Zum Beispiel der Klassiker: ich kontempliere Vergänglichkeit. Ich gehe tief damit. Wenn wirklich alles ver-
gänglich ist und ich vergänglich bin, was bleibt eigentlich, was macht dann noch Sinn? Wir gehen von einer
Schlussfolgerung zur nächsten. Es sind Gedankenreisen, die wir unternehmen, mit denen wir allmählich den
Sinn der Lehre ergründen und auf uns selber beziehen.

Was macht eigentlich Sinn, wenn es tatsächlich sein könnte, dass ich dieses Jahr nicht mehr überlebe? Was
macht eigentlich Sinn, wenn es doch tatsächlich nicht auszuschließen ist, dass ich dieses Jahr vielleicht doch
einen Unfall habe? Was möchte ich auf jeden Fall bis dahin erledigt haben?

Oder ich gehe mit dem Verstand bis an die Grenze des Möglichen: der Unterweisung über das Nicht-Selbst,
dass es in diesem ganzen Prozess wirklich kein stabiles Selbst gibt. Ich versuche herauszufinden, was das für
mich bedeutet. Was macht es für einen Sinn, sich an Titel, Einkommen, Ruhm und solcherlei Dingen festzu-
halten, wo doch in der Tiefe sowieso alles Prozess ist? Was macht es für mich persönlich für einen Sinn?

Das alles sind kontemplierende Schlussfolgerungen für einen selbst. Es geht dabei nicht um hochphilosophi-
sche Schlussfolgerungen, sondern um ein Anwenden dessen, was uns in buddhistischer Psychologie, Philo-
sophie, Meditationslehre - also Abhidharma – entgegen kommt. Das auf mich selbst anwenden, bis ich an die
Grenzen des Verstandes komme. Dann wird meditiert. Das nennt man korrektes Kontemplieren.

Abstraktes Kontemplieren, wie das für alle Leute ist und warum das im Dharma so ist, ohne es auf sich an-
zuwenden, ist nicht korrekt. Das ist im Dharma nicht mit Praxis gemeint. Das ist keine Dharmapraxis. Das
kann man an der Uni machen. Es ist denen vorbehalten, die sich abstrakt mit Themen befassen. Aber im
Dharma geht es darum, jedes Thema persönlich zu nehmen und alles andere nicht persönlich zu nehmen. Wir
wenden alles auf uns selbst an und bringen den Dharma in uns zur Entfaltung.

Das war das Kapitel über die Ursachen von Geistesruhe und Einsicht. Ich würde jetzt gerne hören, was ihr
für Fragen habt.

Fragen
Teilnehmer/in: Was ist mit körperlicher Betätigung?

Sehr hilfreich. Es ist sehr empfohlen, ein bis zwei Stunden pro Tag körperliche Betätigung im Retreat zu ha-
ben. Am besten Niederwerfungen oder Yoga oder etwas, was den Geist nicht mit irgendwelchen Projekten
füllt. Man würde nicht mit der Stoppuhr laufen und seine Zeiten verbessern wollen. Man macht beim Spa-
ziergang zum Beispiel auch keinen Plan, die Landschaft voll und ganz erkunden zu wollen, sondern man
läuft einfach, tut dem Geist etwas Gutes und setzt sich dann irgendwo hin und meditiert wieder ein Weile.
Das gehört mit dazu.

Die Tibeter hatten da nicht so sehr darauf zu achten, weil sie ja in den Bergen meditierten und sowieso ext-
rem fit waren. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie fit Yogis in Tibet normalerweise waren. Die mussten
zum Teil ein paar tausend Höhenmeter überwinden, alleine um ihren Proviant zu schleppen. Da war schon
ein Toilettengang manchmal eine akrobatische Angelegenheit. Unser Leben hält nicht so gesund, deshalb
müssen wir sehr darauf achten.

Teilnehmer/in: Sich nicht über Beziehung zu anderen Menschen zu definieren, da ist meine Frage: Ich hatte,
bevor ich ins Retreat gegangen bin, schon dieses Gefühl, mich mit den Menschen zu verbinden, mit denen ich
emotional verbunden bin und auch für sie mit im Retreat zu sein - oder diese Verbindung zu spüren. Ich hatte
den Eindruck, das hat meiner Praxis gut getan. Ein Stück weit habe ich meine Praxis auch über die Verbin-
dung mit anderen Menschen definiert.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 51

Das kann ich gut nachvollziehen. Es war eine gesunde Art, die Menschen innerlich wie mitzunehmen. Das
ist auch eine tägliche Praxis, dass man all denen, mit denen man verbunden ist, seine Praxis widmet, Gebete
für sie macht, diese Verbundenheit spürt. Aber ansonsten engagiert man sich nicht weiter in den paar Tagen.
Das ist etwas, was dann wieder für die Zeit nach dem Retreat vorbehalten ist.

Tatsächlich ist es aber ganz wichtig, sich eingebettet zu fühlen, es auch tatsächlich zu sein. Wir arbeiten im
Retreat auch daran, dieses Verbunden sein mit anderen zu verstärken. Wenn das Bodhicitta stärker und stär-
ker wird, kommt dieses Gefühl von Verbunden sein mit allen Menschen, mit allen Lebewesen, ob wir sie
sehen oder nicht.

Also zuerst einmal die Schritte, die du beschreibst. Das ist auch ganz gut, damit wir uns wohlfühlen können
im Retreat. Dann entwickelt es sich von dort aus weiter.

Teilnehmer/in: Wieviel Hoffnung gibt es für die, die keine Dreimonats- oder Dreijahresretreats machen kön-
nen? Und wieviel Retreat kann man wirklich im Alltag leben?

Das dürftest du sehr gut abschätzen können. Du lebst ja in einem Meditationszentrum und weißt, dass dort
kaum ein echtes Retreat möglich ist, solange man in der Aktivität ist. Man muss sich, um tief zu gehen, die
Zeit nehmen. Kurze Retreats können sehr effektiv sein, wenn all diese Bedingungen zusammenkommen, da
kann jemand in einer Woche ganz tief gehen. Über die Zeitdauer wurde hier nichts gesagt.

Ich war da ganz frustriert. Ich war mit Irene schon zwei Jahre im Retreat, dann kam dieser Pole an, setzte
sich ins Retreat, machte Guru-Yoga und hatte innerhalb kürzester Zeit die Natur des Geistes verwirklicht.
Voller Hingabe und abgesessen und innerhalb weniger Monate war es schon so weit. Wir hatten ein Inter-
view mit ihm zusammen bei Gendün Rinpoche und waren die, die schon länger im Retreat waren und bei uns
hatte es noch nicht geschnackelt. So geht es halt.

Ich habe schon sehr kurze Prozesse gesehen, bei denen es zu tiefen Erfahrungen kommt. Man sollte sich aber
nichts vormachen: die Integration dieser Erfahrungen braucht richtig Zeit und Intensität.

Auch wenn die Erfahrungen und Erkenntnisse zum Teil recht überraschend und schnell kommen können,
braucht die Integration - unser ganzes Leben. Wir sind tatsächlich Rund-um-die-Uhr-Praktizierende, denn
dass der Geist sich mal auftut, kann relativ schnell passieren, aber dass man es dann umsetzt und was es für
Auswirkungen hat, wie man das lebt, braucht kontinuierliche Übung. Da kommt niemand drum herum.

Was bei Menschen passiert, bei denen sich der Geist mit Leichtigkeit auftut und die Erkenntnisse haben, ist,
dass sie oft sehr gut darüber reden können, aber noch genauso im Leid feststecken wie vorher, weil es nicht
zu einer echten Integration gekommen ist.

Deswegen bereitet euch einfach darauf vor, dass das ganze Leben Praxis ist. Es gibt nichts anderes. Es macht
keinen Sinn. Auch wenn wir zur Arbeit gehen, wir werden einfach die Arbeit zur Praxis machen; wir werden
unsere Beziehung zur Praxis machen. Wir werden formell üben, soviel es geht.

Sonst macht das alles keinen Sinn. Man braucht sich nichts vorzumachen, dass man irgendwie in einer stabi-
len Realisation ankommt. Das braucht man sich nicht einzubilden. Es braucht intensive Praxis, auch wenn
einem die ersten Erkenntnisse manchmal einfach so geschenkt werden. Mitten im aktiven Leben kann der
Geist plötzlich aufgehen und alles ist sonnenklar. Wenn man da weiter praktizieren würde, wäre das super.

Die Art, wie wir hier den Dharma unterrichten, ist nicht so sehr darauf ausgerichtet, durch intensive kurze
Retreats starke Erfahrungen zu machen, sondern durch ein sehr entspanntes Vorgehen alle Aspekte des Seins
zu integrieren, sodass die Entspannung und das Gelöstsein in alle Bereiche hinein findet und dabei gleichzei-
tig schon die Integration stattfindet.

Im Unterschied zu sehr strengen Retreats, die woanders auch angeboten werden, gehen wir hier etwas locke-
rer heran, was das unmittelbare Praktizieren angeht. Aber dann praktizieren wir so, dass es über lange Zeit
beibehalten werden kann.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.52

Die längsten Sesshins zum Beispiel dauern drei Monate. Ein Sesshin in der Struktur kann man nicht ein Le-
ben lang durchhalten. Ein Vipassana-Retreat im klassischen Stil von zehn Tagen lässt sich nicht ein Leben
lang durchhalten.

Es braucht eine Öffnung für mehr in uns: mit derselben Intensität rund um die Uhr zu praktizieren, aber sehr
viel entspannter. Das beherrschen die Tibeter einfach phantastisch, Lebenssituationen unterschiedlichster Art
zu schaffen, in der unser ganzes Sein einbezogen wird in den Praxisprozess - auch das Sprechen, auch die
Sexualität, auch Essen, Tanzen, Singen, usw., alles wird einbezogen.

Dessen seid ihr euch wahrscheinlich bewusst und wahrscheinlich seid ihr sogar hier, weil euch das gefällt.
Wahrscheinlich würdet ihr woanders hingehen, wenn es euch woanders mehr zusagen würde. Das ist ja das
Wunderbare, dass wir so verschiedene Dharma-Traditionen haben, wo jeder das finden kann, was ihm oder
ihr entspricht. Aber ich will euch da nichts vormachen. Mit ein bisschen Praxis kommt man auch nur ein
bisschen weiter.

Die Schleier der Geistesruhe und der Einsicht auflösen


Die Schleier identifizieren
Jetzt kommen wir zu einer Passage, die auf heißt Tibetisch: Die Schleier aufgeben oder beseitigen, welche
Geistesruhe und Einsicht verhindern. Leider haben beide Texte für das Wort Hindernisse, obstacles, gewählt,
was hier nicht zutrifft.
Also: Die Schleier der Geistesruhe und der intuitiven Einsicht auflösen.
Erster Teil: Die Schleier identifizieren. Die Schleier erkennen, wenn sie präsent sind.
So lesen wir im Samdhinirmocana Sūtra: „Ehrwürdiger, unter den fünf Schleiern, welche von ihnen
verhindern eigentlich die Geistesruhe - da wird sich auf fünf Schleier der Meditation bezogen - und wel-
che von ihnen behindern die Einsicht und welche von ihnen behindern beide zugleich?“ „Maitreya,
Wildheit oder aufgewühlter Geist und Bedauern sind Hindernisse für die Geistesruhe. Dumpfheit,
Schläfrigkeit und Zweifel verschleiern die intuitive Einsicht. Begehren, Verlangen und Böswilligkeit
behindern sowohl die Geistesruhe wie auch die Einsicht.“
Ich erkläre das ganz kurz: ein aufgewühlter Geist, alles, was aufwühlend wirkt, behindert die Geistesruhe,
das weiß jeder.
Bedauern ist hier ein Bedauern, das den Geist aufwühlt, wo wir Bedauern über Vergangenes haben, über et-
was, das wir getan haben und nicht hätten tun wollen. Das hat nur insofern eine positive Funktion, als es da-
zu führen kann, dass wir uns das eingestehen und bereinigen und dann ist es gut. Aber solange das Bedauern
da ist, inklusive Schuldgefühle usw., ist es extrem aufwühlend für den Geist und verhindert Geistesruhe.
Dumpfheit ist kein idealer Zustand für Einsicht. Dumpfheit behindert die Fähigkeit des Erkennens. Dumpf-
heit ist kein solches Hindernis für die Geistesruhe. Wir können dabei ruhige Geisteszustände erfahren und in
der Dumpfheit sogar recht bewusst sein, wie dumpf wir sind und unabgelenkt dumpf sein. Schlaf ist auch
keine geniale Voraussetzung für Einsicht.
Mit Zweifel ist hier etwas sehr Spezifisches gemeint. Zweifel ist eines der Wurzelkleshas, der emotionalen
Trübungen, die zu den sechs Haupttrübungen im ursprünglichen Abhidharma gehören und ist ein Oszillieren
des Geistes, kein Vertrauen finden können. Zweifel ist hier das Gegenteil von Vertrauen und einer klaren
Sichtweise.
Das ist eine neurotische Form von Zweifel, die immer wieder das eigene Erleben in Frage stellt: Habe ich
das wirklich erlebt, ist das wirklich so? Ist es wirklich so, dass da niemand zu finden ist? Ist das wirklich so,
dass durch Entspannen der Geist ruhig wird? Jedes Mal muss man neu überprüfen. Man kann auf gar nichts
aufbauen. Es wird alles immer wieder in Frage gestellt, obwohl die Erfahrungen schon vorliegen.
Es ist eine Form des Zweifelns, die verhindert, dass wir auf gemachten Erfahrungen aufbauen können und
darin zu tieferer Einsicht kommen. Als würden wir immer im Nachhinein alles wieder kaputt machen, uns
immer wieder fragen. Das gibt es in vielerlei Beziehung, zum Beispiel spürt man Liebe und zweifelt dann an
seiner eigenen Liebe. Das ist genau so etwas, obwohl man sie ganz klar spürt. Man hat Vertrauen und be-
zweifelt dann das eigene Vertrauen, ob es wirklich so ist. Das macht alles kaputt. Diese Art von Zweifel ist
gemeint. Ein neurotischer Zweifel.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 53

Es gibt gesunde Zweifel. Zweifel, die zu einem gesunden Erforschen führen, ob es denn wirklich so ist. Das
ist ein konstruktiver Zweifel, der zu einem tieferen Hinschauen führt, der nicht das, was wir schon klar gese-
hen und erfahren haben, in Frage stellt. Dieser Zweifel ist geradezu ein Motor des Vorankommens, weil wir
Dogmen und Lehrsätze, Behauptungen und Annahmen über die Wirklichkeit hinterfragen. Dieses Hinterfra-
gen braucht es geradezu, während die sicheren Erfahrungen, die wir schon gemacht haben, nicht durch neu-
rotischen Zweifel wieder in Frage gestellt werden sollten. Dann kommen wir nicht vorwärts. Deswegen ist
Zweifel ein starkes Hindernis für Einsicht.
Was hier mit Verlangen beschrieben wird, ist auf Tibetisch döpa la dünpa. Es ist eigentlich ein ‚sich sehnen
nach dem Verlangen, dem Verlangten‘. Es beschreibt diese innere Unruhe, dieses innere Sehnen nach irgen-
detwas Angenehmen - wobei das Angenehme eigentlich austauschbar ist. Es ist nicht unbedingt gemeint,
dass es ein festes Objekt unseres Verlangens ist, sondern dass wir im Prozess des Verlangens nach Ange-
nehmem, nach irgendetwas, nach wechselnden Bezugspunkten, gefangen sind - und das ist richtig störend.
So jemand kommt nicht zur Ruhe und kann auch tatsächlich keine Einsicht entwickeln.
Die Böswilligkeit ist eine Form von Ärger und Hass, bei der wir anderen etwas Ungutes wünschen, also rich-
tig aufgebracht sind. Es ist klar, dass in dem Moment sowohl Geistesruhe wie Einsicht gestört sind.
Aufgewühlter Geist
Der Abidharmakosha sagt: Was versteht man unter Aufgewühltsein oder Wildheit? Eine Geisteshal-
tung, in der wir nicht im Frieden sind, die darin besteht, sich nach dem zu sehnen, was schön oder an-
genehm erscheint.
Aufgewühltsein gehört in die Kategorie des Anhaftens und hat die Auswirkung, Geistesruhe zu unterbre-
chen. Für uns ist eine ganz wichtige Botschaft darin.
Das sind jetzt Abhidharma-Zitate, komprimierte Definitionen von dem, was damit gemeint ist.
Wenn ich aufgewühlt bin - was mir auch passiert -, dann weiß ich, ich sollte mich auf die Suche begeben,
woran ich eigentlich festhalte, was mein Haften ist. Irgendwo ist ein Anhaften mit im Spiel. Das lässt sich
bei aufgewühltem Geist immer finden.
Ich empfehle euch, dies genauso zu tun. Wenn der eigene Geist aufgewühlt ist und nicht zur Ruhe kommt:
wo steckt die Identifikation, wo steckt das Anhaften, wo steckt das Verlangen? Ihr werdet immer fündig. Es
gibt keinen aufgewühlten Geist, ohne dass dieser Prozess des Anhaftens stark aktiv wäre. Schaut hinein. Da,
wo ihr es findet, könnt ihr euer Gewahrsein hinein bringen. Das gilt es zu entspannen.
Es geht nicht um die Objekte des Denkens. Es geht nicht darum, was uns scheinbar aufwühlt, woran wir
denken, sondern welche Haltung wir dem gegenüber einnehmen. Mit welcher Haltung begegne ich dem
Problem, den Urlaubsplänen oder meiner Partnerin, meinem Partner? Immer sind Anhaftungen, Erwartun-
gen, Identifikationen im Spiel, und die gilt es, sich vorzunehmen.
Zum Beispiel, wenn mich ein Problem im Grünen Baum aufwühlt, dann schaue ich, wo ich identifiziert bin.
Warum nehme ich mich da so wichtig, warum kann ich damit nicht einfach sein und mich später um die Lö-
sung kümmern? Warum beschäftigt es mich, was ist da los in mir? Wo hakt es ein?
Es gibt keinen aufgewühlten Geist ohne das Phänomen von Öse und Haken. Es gibt Themen in unserem Le-
ben, die sind wie so zirkulierende Ösen, Ringe. Die sind jederzeit da, jederzeit verfügbar und – zack - haken
wir ein. Was macht den Haken aus? Wo ist die Anhaftung? Wo kommt sie her?
Dem müssen wir auf die Spur kommen, dann können wir den Haken lösen. Dann sind uns diese zirkulieren-
den Ringe, die Probleme, die Objekte des Anhaftens und der Abneigung, egal. Sie können sein, wie sie sind.
Es gibt niemanden, der sich verstrickt, der einhakt. Das ist unsere Aufgabe.
Nicht die Probleme zu lösen, nicht die Situationen alle bewältigen und dann können wir praktizieren, son-
dern mit einer unvollkommenen Welt leben zu können, das ist unsere Aufgabe. Sie wird nie vollkommen
sein.
Wenn wir erst Samsara aufräumen wollen, bevor wir Geistesruhe praktizieren, wird es nie dazu kommen. Es
ist unsere permanente Entschuldigung, nicht zu meditieren: Samsara ist noch nicht gut genug. Damit reden
wir uns ständig raus. Und es wird es nie sein. Es gibt keine perfekte Welt, es sei denn im Bewusstsein des-
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.54

sen, der damit ganz entspannt sein kann, wie die Dinge sind. Dann wird die Welt plötzlich ziemlich perfekt,
weil es uns nicht mehr aufwühlt. Wir sind in Frieden mit der Welt. Sie darf so unvollkommen sein. Wir wer-
den daran arbeiten, so viele Menschen, so viele Lebewesen wie möglich ins Erwachen zu führen.
Aber es ist nicht die Welt, die verantwortlich ist, dass es Leid gibt, sondern es ist das Anhaften der Lebewe-
sen. Ich bin derjenige, der an seinem Geist arbeiten kann, an meinem Anhaften. Das ist meine Aufgabe. Wer
keine Geistesruhe erfährt, mag sich fragen, ob da nicht etwas Anhaften im Spiel ist und genau dem auf die
Spur gehen. Nicht den Themen hinterher laufen. Die Themen sind auswechselbar. Wenn ich heute ein The-
ma erledigt habe zur völligen Befriedigung und mein Geist sich durch Anhaften und Identifizieren bestätigen
möchte, wird er sofort darauf wieder ein neues Thema finden.
Von einem begehrten Objekt angezogen, verhindert das vagabundierende Denken, dass wir die geisti-
ge Stabilität aufrechterhalten können.
Bedauern
Was nun das Bedauern angeht, sagt derselbe Text:
Bedauern ist ein Nachdenken heilsamer oder nichtheilsamer Natur über Handlungen, die wir bewusst
oder unbewusst – das heißt absichtlich oder unabsichtlich - ausgeführt haben oder die andere ausgeführt
haben. Darüber kann man auch nachdenken. Es sind auch neutrale Gedanken. Dabei geht es um Hand-
lungen, die entweder zur rechten Zeit oder nicht sind. Es geht um Gedanken, die tatsächlich vernünf-
tig sind oder unvernünftig sind. Aber all dieses Nachdenken über Handlungen verhindert, dass der
Geist sich stabilisiert.
Bedauern ist manchmal sehr heilsam, aber manchmal verstrickt es uns noch mehr. Die Schuldgefühle wach-
sen ins Unendliche. Das ist eine nichtheilsame Form des Bedauerns. Es führt nicht in die Lösung. Manchmal
ist es nur ein Darüber-gleiten, ohne sich zu verstricken.
All das ist mangelndes Gewahrsein. Diese Form des Bedauerns wird der Unwissenheit, dem mangelnden
Gewahrsein zugeordnet. Wenn wir klar sehen, wo es schief gelaufen ist, dann entschließen wir uns, das zu
ändern. Wir bereuen es. Wir arbeiten an diesem Muster, das zu dieser Fehlhandlung geführt hat und damit ist
die Sache erledigt. Das wühlt den Geist nicht auf. Das ist volles Gewahrsein.
Wenn wir mit mangelndem Gewahrsein unterwegs sind und die Dinge nicht richtig anschauen, zum Beispiel
im Bedauern, im Beklagen, in Schuldgefühlen sind, ohne uns dem wirklich zuzuwenden, kann das ein Leben
lang dauern. Wir können unser Leben lang in diesem Bedauern, in diesen Schuldgefühlen verbringen. Es ist
völlig unfruchtbar.
Wenn wir über Handlungen nachdenken, die wir selbst ausgeführt haben oder nicht oder die wir uns
auch nur vorgestellt haben, und dabei ständig am überlegen sind, ob es sich um etwas Gutes oder
Schlechtes handelt, ob diese Handlung sinnvoll oder nicht sinnvoll war, ist das tatsächlich ein Hinder-
nis für Geistesruhe.
Es ist fast immer ein Nachdenken über Vergangenes. Es kann sogar das Bedauern eines Gedankens sein:
dass wir uns damit beschäftigen, so einen negativen Gedanken gehabt zu haben. Es braucht niemand gemerkt
zu haben.
Diese Form des Bedauerns kreist um etwas, das stattgefunden hat, ob wir es ausgeführt haben oder nicht, und
befasst sich auf neurotische Weise damit, dreht sich immer wieder darum herum und raubt uns die innere
Ruhe. Wenn es etwas zu ändern gibt, ändern wir das und damit ist es gut.
Bedauern hat eine gesunde Funktion, uns aufmerksam zu machen auf etwas, das falsch gelaufen ist. Das gilt
es zu ändern, die innere Haltung zu ändern, daran zu arbeiten; aber nicht, sich ständig damit zu beschäftigen.
Deswegen ist zum Beispiel die Vajrasattva-Praxis, die Praxis mit dem Hundert-Silben-Mantra von Dorje
Sempa, eine der vorbereitenden Übungen für Mahāmudrā, um mit diesem gesamten Bedauern und Schuldge-
fühlen aufzuräumen, das Gewahrsein in jeden dieser Bereiche hinein zu lenken, wo wir nicht so gut gehan-
delt haben, starke Gefühle gehabt haben, jemandem geschadet haben, respektlos gehandelt haben. Jeder die-
ser Bereiche bekommt klare Aufmerksamkeit, wird mit den vier Kräften bearbeitet - also Bedauern, sich ent-
schließen, es anders zu machen, Bodhicitta da hinein einladen und das Muster an der Wurzel bearbeiten -
und dann ist es gut.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 55

Dann beenden wir die Sitzung der Hundert-Silben-Praxis in einer völligen Auflösung jeglicher Schuldgefüh-
le, wir werden eins mit Vajrasattva und fühlen uns gesund, frei und ohne Schuldgefühle. Das ist die ideale
Voraussetzung, um zu meditieren, die Praxis der Geistesruhe und der Einsicht auszuführen.
Dumpfheit, Trübung und Schlaf
Was nun den dumpfen Geist angeht, sagt derselbe Text: Dumpfheit macht den Geist unflexibel, unge-
schmeidig, indem Dumpfheit nämlich den sechs Hauptemotionen und zwanzig sekundären emotiona-
len Verstrickungen Vorschub leistet. Von daher wird Dumpfheit der Kategorie mangelnden Ge-
wahrseins, der Unwissenheit zugeordnet.
Schaut mal, was in dumpfen Geisteszuständen eigentlich passiert. Erst einmal erscheinen sie nur dumpf, ein
bisschen verschattet, vernebelt. Aber in dieser Vernebelung schleichen sich, ohne dass wir es merken, andere
Gefühle ein. Sie kommen aufgrund unserer karmischen Prozesse in Bewegung. Weil es an Klarheit mangelt,
sitzen wir ihnen auf und sie entwickeln sich unter dem Schutz der Dumpfheit. Wenn wir es merken, ist es
schon zu spät. Sie haben sich wie eingeschlichen in den dumpfen Geisteszustand.
Deshalb heißt es: Dumpfheit leistet den sechs Haupt- und zwanzig sekundären emotionalen Verstrickungen
Vorschub und ist ein Zustand von sehr wenig Gewahrsein. Deswegen passiert das auch so.
Im Abidharmakosha heißt es: Dumpfheit ist eine körperliche und geistige Schwere, die uns in unserem
gesamten Wesen wie belastet - also schwer macht - und die Geschmeidigkeit raubt.
Ihr werdet noch viel über dieses Wort Geschmeidigkeit, Flexibilität hören. Flexibilität des Geistes ist die
zentrale Qualität, die durch die Dharmapraxis zunimmt. Alles lässt sich darauf zurückführen. Was wir die
Öffnung des Herzens und des Geistes nennen, hat alles damit zu tun, dass der Geist ganz geschmeidig und
flexibel wird, man ihn gut für jede Aufgabe einsetzen kann.
Geistesruhe erhöht die Flexibilität des Geistes. Wenn sie das nicht tut, ist es nicht die Geistesruhe, von der
wir sprechen. Dann ist es Dumpfheit. Es ist zwar ruhig, aber nicht flexibel. So könnt ihr das unterscheiden.
Ein Geist, der unwillig ist, die verschiedenen Aufgaben auszuführen, die wir ihm geben, ist kein Geist, der in
Shamatha oder Shine ist. Er ist dumpf, wie in einer Sackgasse. Er ist unbeweglich.
Alle Prozesse, die ins Erwachen führen, machen den Geist beweglicher, sodass man ihn auf vielfältigste
Weise nutzen und einsetzen kann. Das ist das zentrale Kriterium für Fortschritte in der Praxis. Wird der Geist
wirklich gelöster, flüssiger?
Wenn ich Anhaften, Begierde verspüre, merke ich, dass die geistige Beweglichkeit abnimmt. Wenn ich mich
ärgere, nimmt meine geistige Beweglichkeit ab. Wenn ich Standpunkte mit Identifikationen einnehme,
nimmt meine geistige Beweglichkeit ab.
Wenn ich Freude erlebe, nimmt sie zu. Wenn ich Liebe erlebe, nimmt sie zu. Wenn ich Mitgefühl erlebe,
nimmt sie zu. Durch Dankbarkeit nimmt sie zu. Merkt ihr? All die Qualitäten, die wir Paramitas oder er-
wachte Qualitäten nennen, haben etwas gemeinsam. Sie sind Ausdruck dieser inneren Beweglichkeit.
Je freier, je klarer der Geist wird, desto mehr kann ich ihn einsetzen wofür ich möchte. Ich kann über etwas
nachdenken, ich kann es auch sein lassen, ich kann in die Aktivität gehen, ich kann sitzen bleiben, völlig frei.
Der Geist ist geschmeidig, er ist nicht mehr den inneren Zwängen ausgesetzt.
Diese inneren Zwänge nennen wir Dukkha, nennen wir Stress. All diese Praktiken führen dazu, dass die Ge-
schmeidigkeit des Geistes zunimmt, der Stress nachlässt, die Spannung nachlässt - und wir uns dadurch per-
sönlich freier fühlen in Körper und Geist.
Dumpfheit und Schläfrigkeit werden hier als Synonyme benutzt. Schläfrigkeit wird jetzt nicht extra noch
erklärt, schreibt Tashi Namgyal.
Kamalashila schreibt dazu: Es ist gut zu wissen, dass Dumpfheit dann vorhanden ist, wenn der Geist
nicht mehr klar sein Objekt, seinen inneren Bezug wahrnimmt.
Dumpfheit ist immer dann vorhanden, wenn ich nicht mehr klar denken kann, mir der Bezug verloren geht.
Dumpfheit ist da, wenn die Sinneswahrnehmungen verschleiert sind: ich kann nicht mehr klar sehen, ich
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.56

kann nicht hören, usw., alle Sinne sind beeinträchtigt. Ich kann nicht mehr visualisieren. Der Geist ist zu
dumpf, um noch eine klare Visualisation hervorzubringen.
All das ist Ausdruck davon, dass das, worauf ich den Geist richten möchte, unklar wird. Ich kann es nicht
mehr fassen. Ich kann nicht dabei bleiben. Das ist ein Zeichen für Dumpfheit.
So, wie bei einer blinden Person oder bei einer Person, die einen dunklen Ort betritt, oder jemand, der
die Augen schließt.
Das ist Beispiel für Dumpfheit. Jetzt sehen wir klar mit offenen Augen, wenn wir die Augen schließen, sehen
wir nicht mehr. Wenn wir in einen dunklen Raum gehen, in dem kein Licht ist, sehen wir nichts. Dumpfheit
ist genau dieser Geisteszustand, in dem wir nichts mehr sehen, nicht mehr klar wahrnehmen.
Man kann diese Dumpfheit noch von Trübheit des Geistes abgrenzen. Tashi Namgyal schreibt:
Diese mangelnde Klarheit, was den Gegenstand unserer Aufmerksamkeit angeht, die durch Entspan-
nung von Körper und Geist entsteht, kann zu einer Trübung führen. Das ist aber nicht derselbe Fehler
wie die Dumpfheit, von der bisher gesprochen wurde.
Es gibt unscharfe Wahrnehmungen als Durchgangszustand von Entspannung. Wenn wir uns entspannen, los-
lassen, erfahren wir auch vorübergehend eine etwas unklarere Wahrnehmung, weil wir nicht mehr so fokus-
siert sind. Das ist ein gewisser Preis, den wir zunächst zahlen, indem wir loslassen und entspannen.
Das sollten wir nicht mit Dumpfheit verwechseln. Der Geist wird darin beweglicher. Wenn er aber noch
nicht völlig entspannt ist, kommt es uns so vor, als ob wir unklarer werden. Wenn wir weiter entspannen,
wird der Geist ganz klar, viel klarer als vorher.
Das ist ein vorübergehender Schleier, der durch unvollständiges Entspannen auftaucht.
Dann kommt noch einmal ein Zitat aus dem Abidharmakosha: Was ist denn nun mit Schlaf gemeint?
Im Schlafen hört das Denken auf, egal ob heilsame, nichtheilsame oder neutrale Gedanken, angemes-
sen, unangemessen, vernünftig, unvernünftig, das hört alles auf. Schlaf ist ein Nichthandeln, ein
Nichtaktivsein - und wird hier in die Kategorie des mangelnden Gewahrseins eingeordnet.
Da Schlaf diese Unbeweglichkeit unterstützt, geht es auch so mit der Schläfrigkeit: Sie unterbricht die kogni-
tiven Funktionen, was in der Meditation dazu führt, dass wir unseren Bezugspunkt verlieren, egal was wir
meditieren wollten. Wenn Schläfrigkeit oder Schlaf auftreten, ist es vorbei mit unserer Meditation. Er unter-
bricht diesen Prozess der klaren Präsenz.
Zweifel
Was ist nun mit Zweifel gemeint? Das ist, zwei entgegengesetzte Gedanken zu haben in Bezug auf die
Wahrheiten - in Bezug auf das, was wir als wahr oder wirklich erkennen -, die den Geist daran hindern,
sich dem Heilsamen zuzuwenden.
Klassisch können wir uns jetzt die vier edlen Wahrheiten oder die vier Wahrheiten der Edlen in Erinnerung
rufen, also die vier Erkenntnisse, die der Buddha in seiner ersten Lehrrede angesprochen hat. Es gibt Leid, es
gibt klar erkennbare Ursachen für Leid, es gibt ein Ende von Leid und Stress und es gibt einen Weg dorthin.
Der Zweifel über den hier gesprochen wird, der zweifelt schon an: Eigentlich leide ich ja, oder leide ich doch
nicht? Ich bin ziemlich gestresst, oder bin ich eigentlich gar nicht gestresst? Was die erste Wahrheit angeht,
sich selbst gar nicht über den eigenen Geisteszustand klar zu werden. Ist da jetzt gerade Anspannung oder
keine Anspannung?
Dann entdeckt man: Ja, tatsächlich, ich bin da so gestresst, weil ich so Ich-bezogen bin. Oder vielleicht doch
nicht? Vielleicht ist das ja auch ganz normal? Vielleicht braucht es ja diese Ich-Bezogenheit? Immer produ-
ziert ein Gedanke des Erkennens sein Gegenteil und führt uns an der Nase herum.
Das ist eine Funktion des gegenläufigen Denkens, die bei Menschen in psychiatrischen Zuständen manchmal
extrem stark wird. Ein heilsamer Gedanke ruft sein genaues Gegenteil hervor, eine Erkenntnis den genau
entgegengesetzten Zweifel. Das ist in jedem von uns in gewissem Masse angelegt. Wir tun gut daran, daran
zu arbeiten, es zu entspannen, aus diesem Zirkus heraus zu kommen. Das ist mit Zweifel gemeint.
Dritte Wahrheit, dritte Erkenntnis. Wir haben einen Moment völliger Gelöstheit erlebt: das muss es wohl
sein... oder doch nicht... kann doch nicht sein... nein, ich doch nicht... kann doch nicht sein, dass ich das er-
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 57

fahren habe. Merkt ihr? Man kann dann auf nichts aufbauen. Es kommt immer direkt das Gegenteil. Dann
merkt man, was einem gut tut, zum Beispiel was der Weg zum Auflösen von Stress ist: es tut mir gut, so o-
der so mit mir umzugehen - und schon kommt der Zweifel: nein, mach ich besser nicht, kann ich mich nicht
darauf verlassen, es ist bestimmt nur eine Einbildung gewesen.
So kommt man nicht dazu, wirklich gut zu untersuchen und auf dem Erkennen aufzubauen, welches man
durch seine eigene Erfahrung und sein Untersuchen erworben hat. Immer bricht die Grundlage weg. Das ist
das sechste Wurzel-Klesha, das der Buddha als starkes Hindernis für das Erwachen benannt hat. Damit müs-
sen wir aufräumen.
Wir müssen lernen, unserer eigenen Erfahrung zu vertrauen und Boden zu bekommen, indem wir diese
Zweifel entspannen. Sie werden auftauchen, aber wir entspannen auch sie und schauen ganz gelassen weiter
hin und benennen vielleicht auch unsere Erfahrungen. Dazu ist es auch gut, im Austausch mit anderen zu
sein. Dadurch reduziert sich dieser neurotische Selbstzweifel.
Oft handelt es sich bei solchem Zweifel um ein Dilemma zwischen den beiden Aspekten der Wirklichkeit:
der relativen oberflächlichen Wirklichkeit und der letztendlichen. Oder wir stellen auch die vier Wahrheiten
der Edlen in Frage.
Manchmal spielt uns unser Verstand einen Streich, indem er das Relative gegen das Letztendliche ausspielt.
Wieder unsere berühmte Klangschale: auf der relativen Ebene, konventionelle Wahrheit, existiert sie doch.
Es gibt sie doch. Ich kann sogar einen Klang damit machen und alle können sie sehen. Wie kann man be-
haupten, sie wäre nur Geist?
Unser Verstand tut so, als ob nur das eine oder das andere der Fall sein könnte, dabei stimmt beides zugleich.
Der Zweifel, dieses oppositionelle Denken, lässt uns in einem Entweder-Oder gefangen sein und sieht nicht,
dass vielleicht beides oder noch etwas Drittes gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen wahr ist.
Tatsächlich ist diese Klangschale nur Geist, ein geistiges Phänomen für alle von uns. Und doch ist sie auf der
relativen Ebene durch das Zusammenkommen von Bedingungen sehr konkret da und man kann sich damit
den Schädel einschlagen. Das sollte niemand leugnen.
Dieses Sowohl-als-auch Denken räumt mit dem Zweifel auf, sodass wir Haltungen einnehmen können, in
denen wir sagen: “Ja, es könnte auch beides zutreffen, wollen wir mal gucken. Vielleicht ist es gleichzeitig,
vielleicht schließt es sich gar nicht aus.“ So finden wir aus dem gegensätzlichen Denken heraus, indem wir
einfach mal schauen: wie ist es denn?
Da hilft uns wieder die Flexibilität des Geistes. Eigentlich ist der Zweifel auch wieder Ausdruck dieser Infle-
xibilität, nicht zwei oder drei oder zehn Sichtweisen gleichzeitig einnehmen zu können. Es muss eine von
denen stimmen. Damit haben wir es wahrscheinlich häufiger zu tun in der Praxis.
Zum Beispiel die Sichtweise, die oft angesprochen wird: ich bin ein beschränktes Lebewesen in Samsara.
Was vom Standpunkt des Zweifels aus bedeutet, ich kann kein Buddha sein. Wieso kann ich nicht gleichzei-
tig ein beschränktes Lebewesen in Samsara und ein Buddha sein?
Das bekommt unser beschränkter Geist zuerst erst einmal nicht hin. Wenn wir einen Yidam praktizieren und
uns als Tara oder Tschenresi visualisieren, dann hieven wir uns in die Sichtweise „Jetzt bin ich Buddha.“
Dann kommt der Selbstzweifel und sagt: „Komm, vergiss es. Du mit deinen Emotionen bildest dir ein, Bud-
dha zu sein." Genau das ist gemeint. Das ist die Funktion dieser neurotischen Bezogenheit auf Standpunkte.
Ja, das Buddha-Potential ist voll in uns da, wir brauchen nichts zu erzeugen und gleichzeitig sind wir ganz
ordentlich verwirrt. Das schließt sich gar nicht aus. Es ist vielleicht ganz gut, es einmal ein bisschen ausführ-
licher erklärt zu haben. Dann könnt ihr in eurer Praxis damit experimentieren.
Der Zweifel nistet sich im Geist des Praktizierenden ein und lässt ihn zögern, was das Ziel der Praxis
angeht.
Das habe ich gerade beschrieben. Er bringt eine Unsicherheit hinein, was die Verwirklichung der Praxis oder
den Misserfolg in der Praxis angeht, und bremst jeglichen Schwung in der Praxis aus. Wir verlieren unsern
Schwung komplett und kriegen irgendwann unsere Praxis gar nicht mehr zusammen. Das war das Ende der
Passage über Zweifel.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.58

Wir sind in den Erklärungen durch die Ursachen für Geistesruhe und Einsicht durchgegangen und jetzt sind
wir gerade in der Passage, wo es um das geht, was Geistesruhe und Einsicht verhindert. Es ist gut, das so klar
zu hören.
Aber jeder dieser Punkte braucht eine persönliche Beschäftigung, damit man sie in sich identifiziert. Das ist
alles eine Beschreibung von uns, von jedem von uns. Wir haben mit all dem zu tun. Ich habe all das in mei-
nem eigenen Geist erfahren und immer wieder mal. Es löst sich auch auf, aber nur, wenn wir uns dem zu-
wenden.
Es wäre also gut, wenn ihr auf eurem Weg der Praxis diese Faktoren, die die Meditation unterstützen und
die, die sie verschleiern, untersuchen würdet und auch identifizieren könntet, dass ihr wisst, wenn sie da sind.
Die Übung, die das möglich macht, ist, diese Schleier zu benennen, wenn sie auftauchen – ah, Schläfrigkeit -
ah, Dumpfheit - okay, aufgewühlter Geist – ah, Zweifel. Das schafft schon eine gewisse Disidentifikation.
Wir lösen uns ein bisschen, wir nutzen die Distanz des Beobachters, um nicht so mit unserem Hindernis ver-
backen, identifiziert zu sein. Dann wenden wir die entsprechenden Mittel an, die sicher noch im Buch erklärt
werden.
Jetzt kommen wir zum Verlangen, zur Begierde. Das ist ganz einfach definiert als der Durst, das Verlangen,
ein begehrtes Objekt zu besitzen. Wir sehen etwas, was ein Begehren auslöst, das Begehren geht weiter
und führt zu einem stärkeren Verlangen, das uns längere Zeit begleitet.
Was nun die Böswilligkeit angeht, so ist sie definiert als der Wunsch, jemandem aufgrund von Abnei-
gung oder Eifersucht zu schaden. Diese beiden lassen sich leicht verstehen, deswegen mache ich direkt
weiter.
Fünf Formen der Ablenkung
Im Samdhinirmocana Sūtra heißt es zu weiteren Hindernissen für Geistesruhe und Einsicht: „Bhagavān,
was für Formen der Ablenkung gibt es, die dazu führen können, dass der Bodhisattva in seiner Medi-
tation der Geistesruhe und Einsicht gestört wird?“ „Fünf, Maitreya, die Ablenkung durch Beschäftigt-
sein mit dem Geist, äußere Ablenkung, innere Ablenkung, Ablenkung aufgrund von Merkmalen - auf-
grund von Haften an Merkmalen - und Ablenkung aufgrund negativer Neigungen. Das sind die fünf
Formen der Ablenkung.“
Und das gleiche Sūtra erklärt sie zum Glück auch. „Maitreya, die Ablenkung aufgrund von geistigem Be-
schäftigtsein zeigt sich, wenn ein Bodhisattva seine Bodhisattva-Verpflichtung aufgibt und in eine
Geisteshaltung absinkt, die der der Hörer oder …“
Ich sollte dieses geistige Beschäftigtsein besser übersetzen. Das ist eine Ablenkung aufgrund eines Wandels
des inneren Ausgerichtetseins, also abgelenkt in der inneren Ausrichtung.
Das Engagement, die innere Ausrichtung ändert sich. Wir verlieren in diesem Fall das Bodhicitta - das
Bodhicitta führt zu einem ganz weiten, offenen Geist - und sind mit unserer persönlichen Befreiung beschäf-
tigt. Das ist ein Grund, warum es beim Meditieren schwierig werden kann.
Äußere Ablenkung findet statt, wenn wir den Geist die fünf äußeren Sinneserfahrungen verfolgen las-
sen, wenn wir uns weltlichen Aktivitäten hingeben, an Zeichen der äußeren Erscheinungen haften,
wenn wir uns diskursivem Denken hingeben, die sekundären Kleshas, - die sekundären emotionalen
Verwirrungen - zulassen und uns insgesamt mit äußeren Objekten befassen.
Ich wiederhole ich es noch mal. Das erste war ein Wandel in der inneren Ausrichtung. Von einer Meditation,
in der wir für alle da sind, beginnen wir uns mit uns selber und mit unserem eigenen Weg zu beschäftigen.
Das ist eine Ablenkung.
Das zweite sind äußere Faktoren. Es tauchen Sinneserfahrungen auf, zum Beispiel Geräusche. Wir beginnen,
uns damit zu beschäftigen. Das ist eine sogenannte äußere Ablenkung. Wir meditieren, jemand geht durch
den Raum. Wir schauen hinterher: äußere Ablenkung.
Die äußere Ablenkung setzt sich aber auch fort in Form von Gedanken und Emotionen, die wir über diese
Geschehnisse haben. Es bleibt nicht dabei, dass wir mit den Augen oder Ohren hängen bleiben, sondern
gleichzeitig findet eine Reaktion im Geist statt.
Dann gibt es die innere Ablenkung, die entsteht, wenn wir in Dumpfheit oder Schläfrigkeit abtauchen
oder an der subtilen Erfahrung oder dem Geschmack meditativer Versenkung anhaften, die dabei
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 59

auftauchenden emotionalen Regungen zulassen und uns damit identifizieren.


Das ist eine innere Ablenkung, weil sie durch innere Geisteszustände kommt. Schlaf, Dumpfheit ist ein Fak-
tor, aber eben auch das Haften an meditativen Zuständen. Die gewisse Aufregung, die durch sie entsteht,
Faszination, ein Wieder-haben-wollen, ein sich bemühen darum: das alles ist Ablenkung in der eigenen Pra-
xis.
Wenn man sich in der meditativen Versenkung mit äußeren Zeichen beschäftigt, wie diese Versen-
kung ist, dann nennt man das Ablenkung aufgrund von Merkmalen.
Man beschäftigt sich mit den Merkmalen der Versenkung. Zum Beispiel: bin ich jetzt im ersten Dhyāna, im
zweiten Dhyāna oder im dritten Dhyāna? Meditative Versenkung wird untersucht im Hinblick auf ihre
Merkmale. Erfahrungen werden untersucht, um sich irgendwie sicher zu fühlen, wo man gerade ist. Das ist
eine subtile Ablenkung aufgrund von Merkmalen. Aber jede Beschäftigung mit Merkmalen von Erfahrungen
ist eine Ablenkung. Das ist nur die subtilste Form davon.
Wenn wir zum Beispiel im „Ozean des wahren Sinnes“ die erste Meditation ausführen, wo wir mit einem
äußeren Objekt meditieren, zum Beispiel einer Kerze, einem Stein oder einer Pflanze, beschäftigen wir uns
nicht mit den Merkmalen dieser Objekte. Es geht nicht darum zu schauen, wie der Stein oder die Pflanze
aussieht, sondern wir lassen den Geist nur darauf ruhen.
Dieses Prinzip, den Geist auf etwas ruhen zu lassen - oder besser noch, in diesem Erleben ruhen zu lassen -
setzt sich fort bis in die subtilsten Formen des Erlebens hinein. Wir lassen den Geist einfach im Erleben ru-
hen. Das ist Geistesruhe. Sich damit zu beschäftigen ist Ablenkung. Das ist etwas, was wir zu lernen haben.
Es ist gar nicht so einfach, sich nicht mit den Merkmalen dessen zu befassen, was wir erleben.
Das ist genau das, was wir gewöhnlich tun. Wir sind ständig dabei, die äußeren Merkmale zu unterscheiden
wie auch die inneren Kriterien, mit denen wir Erfahrungen unterscheiden können. In der Geistesruhe lernen
wir bereits, das zu vereinfachen und kommen mehr und mehr im Sein an, ohne immer in diesem Unterschei-
den und Abschätzen zu sein.
Wenn die Aufmerksamkeit nicht nach außen auf Merkmale gelenkt ist, sondern sich nach innen rich-
tet, - wobei man sich selbst für ein Ich hält, sich zum Beispiel mit seinen Körperempfindungen identifiziert -
dann handelt es sich um Ablenkung aufgrund von unguten Neigungen.
Es ist die ungute Neigung, die uns immer wieder im Samsara wiedergeboren werden lässt. Diese Identifika-
tion mit einem Ich geht noch subtiler weiter. Man ist nicht nur mit den Körperempfindungen und den ande-
ren Sinnesempfindungen, sondern auch mit den eigenen inneren Prozessen identifiziert.
Ihr merkt, es ist eine Menge, was man in der Praxis von Geistesruhe zu entspannen hat. Es ist das Gegenteil
dessen, was wir normalerweise tun. Normalerweise sind wir immer mit den äußeren Wahrnehmungen be-
schäftigt. Mit mir, mit Ich. Wie geht es mir damit? Bin ich auf dem richtigen Weg? Ist meine Meditation tief
genug?
Wir klappern sie alle ab, diese fünf Formen der Ablenkung. Wenn wir beginnen zu meditieren, sind wir
ständig in einer von ihnen unterwegs. Danach lernen wir, sie der Reihe nach zu entspannen. Ich blättere noch
einmal zurück, um euch noch einmal eine Idee zu geben, wie man das sukzessive entspannt:
Um mit der Meditation zu beginnen, entwickeln wir Bodhicitta. Das heißt, wir setzen uns hin oder wir üben,
wo auch immer wir üben, mit dem Wunsch, dass es allen zu Gute kommt und es gar nicht um uns selber
geht. Es ist eine super Vorbereitung, wenn uns schon gelingt, uns mit einer Haltung hinzusetzen: Möge es
mir und allen anderen gut tun. Möge es zu diesem Erwachen führen, wo ich allen anderen helfen kann. Diese
Bodhicitta-Grundhaltung.
Aus dieser Grundhaltung heraus öffnen wir die sechs Sinne. Wir nehmen wahr. Wir gehen ins Erleben, ohne
aber an dem, was wir erleben, zu haften. Wir lassen alles Haften an äußeren Erfahrungen sein, obwohl sie
wahrgenommen werden. Auch alles Haften an inneren Zuständen, was immer an Gefühlen auftaucht: Wohl-
gefühl, meditative Versenkung, Trauer oder Unruhe. All das lassen wir, wie es ist: wahrnehmen, ohne mehr
daraus zu machen.
So gehen wir weiter. Entspannen alle Neigungen, irgendwo aus etwas ein Theater zu machen, bis wir mer-
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.60

ken, dass wir auch dies entspannen können: die Impulse der Ich-Bezogenheit, uns, ein Ich immer wieder ins
Zentrum des Erlebens zu setzen. Dann sind wir wirklich unabgelenkt. Da kommt der Geist ganz tief zur Ru-
he.
Fünf Fehler
Der Text „Das Unterscheiden zwischen der Mitte und den Extremen“ sagt: Es gibt fünf Fehler: Faul-
heit, Vergesslichkeit, was die Unterweisungen angeht, Schläfrigkeit, aufgewühlten Geist, mangelnde
Anstrengung und übertriebene Anstrengung bzw. ein zu starkes Involviert-sein.
Das sind die fünf Fehler, die bei der Praxis von Geistesruhe auftauchen können. Sie gelten aber auch für die
Einsichtsmeditation - und je nachdem kann man sie als fünf oder sechs zählen. Das hängt davon ab, ob wir
Schläfrigkeit und Aufgewühltsein separat zählen.
Was wir Faulheit nennen, entsteht aus einem Gefühl der Abwertung oder der Indifferenz, einer gewissen Ta-
tenlosigkeit in Bezug auf jegliche Anstrengung, die wir zu machen hätten, so dass wir unaufmerksam werden
und uns die Gewohnheiten des Nichtstuns als Praktizierende von unserer Motivation schließlich ganz ab-
bringen.
Diese leichte oder starke Abschätzung kann sich in Gedanken äußern wie: „Das bringt doch sowieso nichts!“
oder in starken Gedanken: "So blöd bin ich doch nicht, mich an einem so schönen Tag zur Meditation hinzu-
setzen!“.
Es ist eine Abwertung dessen, was ich mir eigentlich vorgenommen habe, die zur Faulheit führt. Obwohl ich
vielleicht Radfahren gehe, ist es im Hinblick auf das, was ich eigentlich vorhatte, Faulheit. Faulheit ist nicht
immer so, dass man die Beine hochstreckt, dass man sich ausstreckt, sondern Faulheit ist das Vermeiden von
dem, was ich eigentlich vorhatte, das Aus-dem-Weg-gehen dieser gewissen Anstrengung, die es braucht, um
das auszuführen, was ich vorhatte.
So kenne ich das zum Beispiel: wenn ich unangenehme Bürodinge zu erledigen habe, muss ich unbedingt
mein Zimmer putzen. Das ist Faulheit. Das ist eine Aktivität, die unseren Widerstand gegenüber dem, was
wir zu tun haben, kaschiert. Faulheit wird hier als das verstanden, was uns nicht den Weg des Erwachens
gehen bzw. üben lässt. Darin sind wir unglaublich geschickt. Es gibt tausende Dinge, die wir immer zuerst
erledigen müssen. Das ist Faulheit: eine bestimmte Art von Anstrengung wollen wir nicht machen. Es hat
mit Abneigung zu tun.
Es ist eine Abwertung, weil wir uns ganz ehrlich sagen müssen: es ist uns im Moment nicht wichtig genug.
Es kann viele Momente so gehen. Wenn das einige Tage nacheinander so war, haben wir völlig den Faden
verloren. Es können dann Monate vergehen, bis wir wieder anfangen zu meditieren. Das ist hiermit gemeint.
Es gibt noch eine etwas andere Nuance von Faulheit, die nicht mit Abwertung einhergeht, sondern mit
Gleichgültigkeit. Das, was uns vorher wichtig war, spielt keine Rolle mehr, ist egal. Es ist nicht egal, aber
die Haltung tut so, als ob es egal wäre. Das führt zu einem Müßiggang. So vergehen die Tage, Wochen, Mo-
nate und Jahre und wir kommen nicht dazu, umzusetzen, was wir eigentlich vorhatten, was unsere Weisheit,
unser Verständnis uns gesagt haben; was eigentlich schon klar war.
Es gibt dann noch das zweite Hindernis, die Unterweisungen zu vergessen, welches dem ersten Hindernis
noch assistiert. Das kann auch einfach ein Black out sein. Wir setzen uns hin und wissen nicht mehr, wie es
geht. Was, wie soll ich jetzt eigentlich üben? Wir können aber auch während der Praxis einfach vergessen,
worum es geht. Wir sind draußen. Wir vergessen die Instruktionen. Es ist dann unmöglich, sich auf den Fo-
kus unserer Meditation auszurichten und zu konzentrieren. Es ist also das Gegenteil von Sati, von der Fähig-
keit, immer wieder zurückzukehren. Es ist, als wäre diese Fähigkeit nicht vorhanden.
Weiter gibt es die Schläfrigkeit und die Wildheit des Geistes. Diese wurden bereits erklärt.
Daneben gibt es mangelnde Anstrengung, die vor allem darin besteht, Schläfrigkeit und Wildheit nicht auflö-
sen zu wollen und den Geist einfach laufen zu lassen.
Es ist nicht dieses wache Laufen lassen, bei dem wir im Gewahrsein sind und bei allem mitbekommen, was
passiert und den Geist nicht zu kontrollieren brauchen, weil das Gewahrsein schon da ist. Das ist eine Form
der Mahāmudrāpraxis. Stattdessen geben wir uns hier einfach den Ablenkungen, den normalen Geistesbewe-
gungen hin und es findet keinerlei Kultivieren von Achtsamkeit statt.
Und es gibt ein Zuviel an Anstrengung. Dieses kommt immer vor, wenn wir uns zu sehr anspannen, um bei
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 61

der Meditation zu bleiben, zum Beispiel beim Atem oder die Visualisation aufrecht zu erhalten.
Diese Form eines Hindernisses tritt auf, wenn Wildheit und Schläfrigkeit bereits verschwunden sind. Wenn
man sich dann noch weiter anstrengt, kippt es und man landet im Stress. Der Geist ist schon klar, aber man
macht trotz klaren Geistes zu große Anstrengungen. Diese sind kontraproduktiv.
Wir hindern so den Geist daran, sich in seinem eigenen natürlichen Zustand niederzulassen. Wir wühlen ihn
durch unsere Anstrengung ständig auf. Wir unterhalten eine unnötige Anstrengung beim Meditieren, wäh-
rend es doch eigentlich darum geht, den Geist wach in seinem natürlichen Sein ruhen zu lassen.
Das waren die Hindernisse und Schleier, die in der Meditation auftauchen können.

Gegenmittel bei aufkommenden Hindernissen


Es geht nun weiter mit den verschiedenen Mitteln und Methoden, die uns helfen, diese Schleier aufzulösen.
Allgemeine Erklärungen
Zunächst die allgemeinen Erklärungen.
Bisher haben die Zitate, die wir angeführt haben, nicht genau erklärt, wie man diese Hindernisse auf-
lösen kann. Da die meisten dieser Hindernisse als Schläfrigkeit, Dumpfheit oder aufgewühlter Geist
zusammengefasst werden können, geht es vor allem darum, zu wissen, wie wir diesen beiden Hinder-
nissen begegnen können. Dann werden automatisch auch die anderen Hindernisse oder Schleier mit
aufgelöst.
Wenn wir jetzt all die verschiedenen Schleier, die angesprochen wurden, durchgehen würden, könnten wir
sie der einen oder anderen Kategorie zuordnen, entweder dem dumpfen, schläfrigen Geist oder dem aufge-
wühlten Geist. Deshalb geht es vor allem darum zu merken, wann wir aufgewühlt sind und wann eher
dumpf.
Was den aufgewühlten Geist angeht, beruhigen wir ihn. Wir bringen ihn etwas runter, bringen ihn dazu sich
etwas zu setzen, indem wir über die Vergänglichkeit meditieren. Vergänglichkeit, Wandel und all das wird
hier meditiert, um das Greifen nach den Sinneserfahrungen oder nach Projekten, nach Ideen, nach verschie-
denen Wünschen, die wir haben, zu reduzieren. Wenn wir erkennen, dass das, wonach ich greife, was mich
jetzt unruhig macht, vergänglich ist und nicht bleiben wird, reduziert das mein Verlangen.
So erleben wir zum Beispiel jetzt, wenn die Sonne gerade mal wieder scheint: Ich sitze auf dem Kissen und
nach ein paar Tagen bewölktem Wetter kommt die Sonne raus. Es wird schier unmöglich, auf dem Kissen
sitzen zu bleiben - weil die Sonne scheint. Ich denke, das geht doch nicht; ich kann doch jetzt nicht meditie-
ren. Wenn ich aber darüber meditiere, dass dieser Sonnenschein sehr vergänglich ist - was er uns gleich be-
weisen wird - und mir im Vergleich dazu klar mache, wie viel wichtiger es ist, bei gutem wie bei schlechtem
Wetter den Geist offen und weit zu haben und mir klar mache, dass das langfristig gesehen vielmehr bringt,
dann schaffe ich es, durch das Kontemplieren der Vergänglichkeit dessen, woran ich hafte, den Geist aus
dieser Anspannung zu lösen und wieder in der Meditation anzukommen.
So geht es bei vielen Dingen. Man fängt natürlich mit den äußeren Objekten an. Es geht um Beziehungen, es
geht um so vieles, was man im Leben machen kann, und da tut es gut zu kontemplieren, wie wenig das auf
die Dauer bringt. Niemand streitet ab, dass es schön ist, für kurze Zeit. Aber wenn wir nach Hause kommen,
sei es beispielsweise von einer Radtour im Sonnenschein, dann haben wir immer noch keine Geistesruhe ge-
übt. Wir sind im Entspannen von Anhaftung kein Stückchen weitergekommen. Das Grundproblem bleibt
also und wir haben wieder nicht daran gearbeitet.
Es tut gut, sich das klar zu machen, ohne dabei das Leben abzuwerten und miese Laune zu bekommen, als
dürften wir uns nicht mehr freuen. Die beste Form der Freude ist, sich wirklich zu freuen ohne Anhaften.
Dann wird die Freude immer schöner. Sie führt nicht zu dieser Anspannung.
Das ist die Lösung. Sie besteht nicht darin, abzuwerten, was uns anzieht und zu sagen, das bringe nichts, das
sei nicht gut bzw. ich solle mich nicht mehr am guten Essen oder am schönen Wetter freuen usw. Sondern
darin zu lernen, sich zu freuen, ohne daraus Anspannung zu erzeugen. Dann können wir uns immer mehr
freuen, an immer mehr Dingen.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.62

Um das Bedauern aufzulösen, wird man es vermeiden, sich auf den Gegenstand des Bedauerns zu
konzentrieren - also nicht immer darüber nachzudenken, was mal war und nicht gut gelaufen ist. Es wirk-
lich sein zu lassen.
Wir ändern, was zu ändern ist, bleiben im Moment und gehen nicht immer wieder zum Auslöser unseres Be-
dauerns zurück. Das gilt zum Beispiel auch für Trennungsschmerzen. Das gilt für viele Dinge, die uns auf-
wühlen. Es ist klar, solange man dem Nahrung gibt, den Geist dahinein lenkt, wird es schmerzhaft sein und
immer wieder zu denselben Gedankenformen führen. Aber was gibt es zu tun? Tun wir das – und dann las-
sen wir dieses Thema.
Was die Dumpfheit angeht, können wir als Heilmittel den Geist auf das lenken, was Freude hervor-
ruft.
Also ganz gezielt den Geist auf etwas lenken, was uns gut tut und anregt. Freude ist eine anregende und sti-
mulierende Kraft.
Um Schläfrigkeit aufzulösen, werden wir ebenfalls den Geist stimulieren. Wir werden Körper und Geist
wie innerlich aufrichten. Wenn wir merken, dass wir in Schläfrigkeit sind, werden wir uns ganz gerade hin-
setzen, die Augen weit aufmachen, ins Helle schauen, vielleicht das Fenster ein wenig öffnen oder etwas we-
niger Kleidung tragen; all das tun, was zu einer Erfrischung des Geistes beiträgt.
Dazu gibt es viele Hinweise. Wir werden zum Beispiel Licht einladen oder Licht visualisieren. Man kann
sich vorstellen, dass die Sonne scheint, man im strahlenden Sonnenlicht sitzt. Oder man kann das Bewusst-
sein auf Buddha Vajrasattva oder Tschenresi lenken, die über uns sind, und von denen es heißt, dass ihre
Körper so strahlend weiß sind wie frisch gefallender Schnee in der Mittagssonne. Also so starkes Licht, dass
man kaum hinschauen kann. Wenn man das tut, wird der Geist tatsächlich belebter.
Was nun die Zweifel angeht, so geht es darum, innere Entschlossenheit zu praktizieren und den Geist
auszurichten, einsgerichtet zu praktizieren - sich nicht von den Zweifeln immer wieder abbringen zu las-
sen.
Es geht darum, den oszillierenden Geist auszubremsen und zu sagen: „Jetzt mache ich das“. Es gilt wirklich
eine Entscheidung zu treffen, so dass wir nicht mehr in den Fängen von mal so, mal so sind, von ja und nein,
von aber, aber, aber.
Weitere Erläuterungen zum Auflösen der Hindernisse
Ihr müsst wissen, all diese Heilmittel, diese Gegenmittel für meditative Schleier, sind die ersten Dinge, die
man in der Meditation lernt. Was ich euch jetzt beibringe, ist noch nicht Mahāmudrā. Es sind allgemeine
Meditationsinstruktionen, um überhaupt mal den Geist ein wenig lenken zu können. Viele dieser Methoden
haben etwas damit zu tun, dass wir korrigierend eingreifen, wie wenn wir ein Boot lenken würden, wo wir
tatsächlich den Geist woanders hinsteuern.
Das sind die normalen Instruktionen, die man überall bekommt, um zu lernen, ein wenig Herr des eigenen
Geistes zu sein, um zu steuern und ein bisschen gegenzusteuern, ausgleichend zu wirken, so dass wir auf
Kurs bleiben.
Wirkliches Mahāmudrā ist nicht davon abhängig, solche Korrekturen anzubringen, weil wir die Natur der
Schleier durchschauen. Im Mahāmudrā würden wir unsere Aufmerksamkeit direkt auf die Natur der Schläf-
rigkeit lenken, direkt auf den Zweifel, auf die Anhaftung lenken und merken, es hat keine Substanz.
Das ist eine sehr fortgeschrittene Praxis. Ich erwähne sie jetzt nur, weil ihr mich sicher schon anders gehört
habt und damit ihr nun nicht unruhig werdet und denkt, was sollen wir mit dieser Liste von allen möglichen
Dingen, die wir zu tun haben, um unseren Geist zu korrigieren. Ich merke aber - und das geht allen Lehrern
so - dass diejenigen, die ihren Geist nicht einmal lenken können, um diese Heilmittel zur Anwendung zu
bringen, es für gewöhnlich auch nicht schaffen, die Natur der Schleier zu durchschauen, weil auch das be-
deutet, eine bestimmte Ausrichtung einzunehmen.
Wenn wir zum Beispiel auf die Natur des Zweifels schauen wollen, dann gilt es, sich nicht mehr mit dem
Inhalt des Zweifels zu identifizieren, sondern dieses Gefühl von Zweifel, den Prozess von Zweifeln selbst ins
Zentrum unseres Erlebens zu holen. Das geht nur, wenn wir diesen schon loslassen können. Die ersten
Schritte dafür sind die, die gerade beschrieben wurden: dieses Loslassen üben. Dann wird es uns immer
leichter fallen, die Natur der Erfahrung anzuschauen.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 63

Wenn wir mit Schläfrigkeit identifiziert sind, dann werden wir müde und geben uns ganz dem Schlaf, der
Schläfrigkeit hin. Mahāmudrāpraxis würde da bedeuten, die Natur der Schläfrigkeit anzuschauen. Da dürfen
wir nicht mehr mit der Schläfrigkeit identifiziert sein. Wir nehmen sie als ein Phänomen im Geiste war, ler-
nen ihre Natur kennen und werden dabei erstaunliche Entdeckungen machen.
Dazu muss es uns aber erst mal egal sein, ob wir wach sind oder schlafen. Wenn wir unbedingt schlafen wol-
len, werden wir nicht die Natur des Schlafens untersuchen können.
So geht das mit allem. Wenn wir in der Begierde sein wollen, werden wir nicht die Natur der Begierde unter-
suchen können. Wenn wir ärgerlich sein wollen, werden wir nicht die Natur des Ärgers untersuchen können.
Diese Unterweisungen, die ihr jetzt bekommt, helfen uns, überhaupt mal ein wenig das Steuer in die Hand zu
nehmen und ausgleichend zu wirken. Das müssen wir lernen. Wenn ich zum Beispiel schläfrig werde, habe
ich inzwischen gelernt, dass ich mich gar nicht mehr aufzurichten brauche, weil ich dann einfach in die Natur
der Schläfrigkeit schaue. Es ist nicht unbedingt notwendig, aber ich kann es. Wenn ich wollte, könnte ich
mich aufrichten und Helles visualisieren usw., den Geist mit diesen Methoden auf etwas anderes ausrichten.
Es tut gut, zu wissen, dass man könnte, wenn man wollte, dass man das wirklich gelernt hat und wirklich
beherrscht, man all diese Hinweise wirklich beherrscht.
Es gibt Menschen, die verzweifeln, wenn sie zwei gleich gute Dinge zur Auswahl haben: esse ich Schokola-
deneis oder Vanilleeis? Das ist das Verzweifeln am So-oder-so. Wenn es hier heißt, den Geist ausrichten,
dann sagt man: Ok, ich mache das, jetzt gibt es das.
Es ist so, als ob man eine Münze in die Luft wirft und sieht: Kopf oben - also wird jetzt Vanilleeis gegessen.
Diese Einfachheit, den Geist auszurichten und zu sagen, jetzt geht es da entlang, ist schon eine Übung im
Nicht-anhaften, weil man einfach die andere Option sein lässt. Ihr lacht, aber es sind die ganz einfachen Din-
ge, die man im eigenen Geist entwickeln kann.
Wie gehen wir mit unseren Wünschen und Begierden um? Wir werden uns die Auswirkungen klar machen.
Wir werden kontemplieren, was die schädlichen Auswirkungen davon sind, ständig unserem Verlangen zu
folgen, und werden Zufriedenheit entwickeln, also glücklich zu sein, mit dem, was wir haben.
Böswilligkeit werden wir auflösen, in dem wir Gefühle von Liebe und Freundschaft kultivieren – also ein
Wohlwollen, eine Haltung, anderen Gutes tun zu wollen.
Das klingt banal, aber wenn mich jemand ärgert - also ich mich über jemanden ärgere, genervt bin und mit
ihm eigentlich nichts mehr zu tun haben will -, muss ich mir nicht sagen: „Aber ich muss dem doch Gutes
tun“. Sondern ich kann mir in Erinnerung rufen, dass ich irgendwann mal ein Bodhisattva-Gelübde abgelegt
habe und vielleicht am Morgen noch wiederholt habe, dass alle Lebewesen glücklich und frei von Leid sein
mögen.
Über diesen Umweg kann ich mich an meine Intention erinnern, dass ich zum Wohl aller in der Welt bin.
Ich komme nicht umhin mir einzugestehen, dass dieser Mensch vielleicht auch dazu gehört. Schon sind wir
aus der Böswilligkeit erst mal heraus. Das Wohlwollen klopft an und wir geben ihm einen Raum: „Ja, wenn
ich denn mal kann, werde ich dem auch helfen“. Jetzt ist diese Situation vielleicht noch nicht gegeben. Aber
das Türchen geht wieder auf und es treten keine böswilligen Gedanken auf. Das ist total effektiv, was ich
euch sage. Das funktioniert. Es funktioniert in hundert Prozent der Fälle, wenn wir nur ausreichend motiviert
sind, das Heilmittel anzuwenden.
Man kann aus all diesen Geisteszuständen herausfinden. Man braucht jedoch nicht immer ihre Natur zu er-
kennen. Man kann wirklich mit diesen wunderbaren Heilmitteln arbeiten. Eine Abkürzung ist natürlich,
wenn ich mich ärgere: „Om Maṅi Peme Hūng, Oṁ Maṅi Peme Hūng, Oṁ Maṅi Peme Hūng …“. Das erin-
nert mich an das Bodhisattva-Gelübde, an die vier Unermesslichen, an die Grundhaltung meines Seins, es
beruhigt mich, öffnet mich und wäre eine Abkürzung, einfach durch meine Hauptpraxis.
All dies sind Schlüsselpunkte von großer Wichtigkeit, und es sollte uns klar sein, dass diese Hinweise sich
auch auf die fünf Formen der Ablenkung anwenden lassen.
Im Grunde genommen werden wir selber zu Forschern, die herausfinden, welche meditative Praxis oder wel-
che andere Ausrichtung des Geistes uns hilft, einen jetzt vorhandenen Schleier aufzulösen. Wir werden mit
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.64

der Zeit Experten darin zu wissen, was uns gut tut, wenn wir in der Sackgasse sind, was uns hilft, aus ihr
herauszufinden. Das muss jeder für sich klar bekommen.
Wir fangen jetzt mal an zu üben mit den Vorschlägen, die gemacht sind, aber wir finden vielleicht noch eine
Menge anderer Möglichkeiten heraus.
Auflösen von Faulheit
Madhyantavibhanga sagt: Acht Heilmittel lassen sich auf fünf Fehler anwenden. Von diesen acht
Heilmitteln für die fünf Schleier sind vier geeignet, um Faulheit aufzulösen. Dazu zählen Vertrauen,
Streben, Anstrengung und Geschmeidigkeit des Geistes.
Ich glaube, ich muss kurz den Zusammenhang mit der Faulheit erklären. Faulheit ist diese unglaubliche
Trägheit, das zu tun, was wir eigentlich tun wollen, was eigentlich unser Anliegen ist. Es geht nicht darum,
uns zu überzeugen, etwas zu tun, was wir ohnehin nicht vorhaben. Da können wir ruhig faul sein. Es geht um
das, was uns selbst wesentlich ist.
Das erste ist, mit Vertrauen zu arbeiten, also mich daran zu erinnern, in was ich wirklich vertraue. Klassisch
würde man sagen: in die Zuflucht, den Weg der Bodhisattvas, den Wert, bestimmte Geistesqualitäten zu
praktizieren. Es gilt, sich daran zu erinnern, wo ich Vertrauen habe, den Geist da hinein zu lenken und dar-
über die Kraft zu entwickeln, mich dem wieder zu widmen.
Das nächste ist unsere Aspiration, unser Streben, mich daran zu erinnern, was meine eigentliche ursprüngli-
che Motivation war. Weswegen habe ich mich überhaupt auf diesen Weg begeben? Weswegen habe ich
mich entschlossen, diese Praxis auszuführen? Weswegen bin ich auf diesen Kurs gekommen? Was war mein
eigentliches Anliegen? Es tut immer sehr gut, sich an dieses ursprüngliche Anliegen zu erinnern, worum es
eigentlich geht. Das ist also gar nicht so verschieden von Vertrauen, aber es geht hier um das, was mir ei-
gentlich wichtig ist.
So machen wir das ja auch, wenn wir merken, jetzt werden wir gerade faul – das ist bei allen Aktivitäten.
Wir haben gerade gar keine Lust, im Garten zu arbeiten. Da erinnern wir uns an unser eigentliches Anliegen:
Ich will doch später im Garten etwas ernten, Tomaten, Kohl usw. Damit dieses Anliegen umgesetzt wird,
müsste ich jetzt in den Garten gehen.
Genauso ist es auch in der Meditationspraxis. Wenn ich das Anliegen habe, anderen wirklich eine Helferin,
ein Helfer zu sein, der in der Lage ist, den Weg des Erwachens zu zeigen, sollte ich vielleicht jetzt anfangen,
mit dem eigenen Geist zu arbeiten. So wird der Bogen geschlagen.
Man kann die Faulheit auch direkt durch einen Entschluss zur Anstrengung auflösen, man kann direkt ins
Umsetzen gehen und der Faulheit einfach keine weitere Aufmerksamkeit mehr schenken.
Wenn wir es schaffen, Zugang zu der Geschmeidigkeit des Geistes zu finden, ist das natürlich das größte
Hilfsmittel gegen Faulheit. Faulheit ist ein träger, überhaupt nicht geschmeidiger Geisteszustand. Faulheit ist
unbeweglich, es ist eine Blockade im Geist.
Entweder könnten wir uns sagen, etwas geschmeidig zu sein - das klappt aber nur, wenn wir es schon gut
kennen - oder wir können genau in das, was uns in diesem Moment so blockiert, hinein entspannen und da
hindurch entspannen. Dann entsteht die Geschmeidigkeit wieder und wir sehen plötzlich überhaupt kein
Hindernis, das zu tun, was wir vorher nicht tun konnten.
Auflösen von Vergesslichkeit
In dieser Liste heißt es: Sati, diese Fähigkeit, sich an das Wichtige zu erinnern, löst die Vergesslichkeit
auf, das Vergessen von dem, um was es geht. Das Dranbleiben mit unserer Achtsamkeit, diese Wach-
heit, die mit verfolgt, wie es ist zu sein, beseitigt Schläfrigkeit und Wildheit.
Sati bringt uns zurück und Wachheit ist das, was dann dran bleibt. Die Praxis kontinuierlicher Präsenz löst
Schläfrigkeit und Wildheit auf. Das ist zum Beispiel der Effekt, wenn wir in der Schläfrigkeit immer daran
bleiben zu fühlen: wie ist es, schläfrig zu sein? Genau das bewirkt, dass die Schläfrigkeit sich auflöst.
So ist ebenfalls das Dranbleiben: zum Beispiel sind wir aufgewühlt, Sati bringt uns zurück zur Atemmedita-
tion. Wir sagen, Atemmeditation tut mir gut, wenn ich jetzt aufgewühlt bin. Dann bleiben wir dran und ver-
folgen einfach den Atem. Wie ist es zu atmen? Wie ist es einzuatmen? Wie ist es auszuatmen? Wie ist der
Umkehrpunkt? Wir bleiben dran. Wie ist es, genau das zu tun?
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 65

Auflösen von mangelnder oder zu großer Anstrengung


Rechtes Bemühen - also den Geist auszurichten - löst mangelnde Anstrengung auf und natürlich löst der
Gleichmut die Überanstrengung, das Zuviel an Anstrengung auf.
Wenn wir uns in der Praxis zu stark anspannen, sind wir nicht gleichmütig. Wir kultivieren dann eine
gleichmütige Grundhaltung, die es ermöglicht, dass sich der Geist in seinen natürlichen Zustand hinein ent-
spannt.
Im Text schreibt Dakpo Tashi Namgyal: Vertrauen, Streben und Anstrengung. Das versteht man leicht,
was damit gemeint ist, ich habe es kurz erklärt.

Die Geschmeidigkeit des Geistes


Was nun diese Geschmeidigkeit, die Flexibilität des Geistes, angeht, wird jetzt mehr dazu erklärt.
Da sagt der Abhidharmasumuccaya: Was ist diese Geschmeidigkeit?
Für diejenigen, die sich auskennen: schin tu djang wa auf Tibetisch und prashrapti auf Sanskrit. Das ist die
sehr wichtige Qualität des Geistes, die sich beim Praktizieren einstellt. Definition:
Es ist die Flexibilität des Körpers und des Geistes, die entsteht, wenn wir körperliche und geistige
Steifheit, Fixierungen, Blockaden auflösen. Und sie löst alle Schleier auf.
Das ist eine krasse Aussage. Also Geschmeidigkeit des Geistes, Flexibilität löst alle Schleier auf. Darin ist
schon fast die Definition von Schleiern enthalten, denn Schleier haben immer etwas mit Festhalten, Anhaf-
ten, Fixieren zu tun. Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass wir in der Geschmeidigkeit die Qualität haben,
auf die es schlussendlich ankommt.
Ein Buddha, ein vollkommen Erwachter, ist vollkommen geschmeidig, vollkommen flexibel im Geist und
deswegen auf eine Art unvorhersehbar. Wenn wir hingegen an unseren Triggerpunkten berührt werden,
wenn wir dort stimuliert werden, wo es weh tut, wir empfindsam sind, ist sehr vorhersehbar, was dann pas-
siert. Das ist die mangelnde Geschmeidigkeit, die mangelnde Flexibilität: wir sind fixiert.
Diese Blockaden - oder Triggerpunkte - in Körper und Geist bewirken, dass der Geist widerspenstig
wird, dass wir nicht mehr das Heilsame praktizieren können.
Das merken wir: Wenn wir da, da und da berührt werden, wo auch immer unsere Triggerpunkte sind, schaf-
fen wir es nicht mehr, unseren Vorsätzen zu folgen. Das Heilsame zu praktizieren wird unmöglich, es rückt
in weite Ferne, im Grunde genommen einfach „schlechte Punkte“, also Fixierungen, Triggerpunkte.
Auswirkungen der Geschmeidigkeit
Geschmeidigkeit bewirkt, dass wir den Körper aus seiner Schwere und Trägheit befreien und aus all
den anderen Hindernissen, die das heilsame Handeln bremsen. Begleitet von Wohlgefühl oder Freude,
macht Geschmeidigkeit den Körper leicht und einsatzbereit. Wir können ihn für alles nutzen. Ge-
schmeidigkeit löst Leid im Geist auf, indem sie ihn auf etwas ausrichtet, das Quelle von Freude und
Glück ist. So wird der Geist einsatzbereit, flexibel.
Wir haben es da mit der Fähigkeit zu tun, jederzeit eine andere Sichtweise, einen anderen Standpunkt oder
Blick einzunehmen, etwas, was uns in der Emotion erst mal vollkommen verloren geht - aber genau darum
geht es: eine hohe innere Beweglichkeit, besser eine vollständige innere Beweglichkeit.
Im Bodhicitta üben wir das, indem wir den Standpunkt eines jeden Lebewesens einnehmen; uns ganz gezielt
darin üben, jede andere Sichtweise des Lebens nachzuempfinden, zu fühlen, uns einfühlen zu können. Wir
können auch im eigenen Geist mit verschiedenen Geisteszuständen frei jonglieren. Wir werden ganz beweg-
lich.
In dieser Beweglichkeit ist es möglich, sich im Moment, sofort, der neuen Situation zu öffnen. Das, was die
Beweglichkeit in der Meditation ausmacht, ist, dass wir überhaupt nicht am vorherigen Erleben anhaften und
vollkommen offen sind für das, was jetzt ist. Nichts hängt mehr nach.
Das ist mit Geschmeidigkeit gemeint. Das ist die Beweglichkeit. Nichts hängt mehr nach vom letzten Atem-
zug, von den letzten Sinneswahrnehmungen. Nichts hängt mehr an dem gerade noch gesehenen visuellen
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.66

Eindruck, schon sind wir wieder bei dem, was jetzt ist. Nichts hängt mehr an dem gerade Gehörten, wir sind
wieder bei dem, was jetzt ist. Nichts hängt bei dem gerade Gefühlten im Körper, wir sind bei dem, was jetzt
ist. Nichts hängt bei dem gerade gedachten Gedanken, wir sind bei dem, was jetzt ist. Das ist Beweglichkeit.
Es ist das Wort für „nicht haften“, „an nichts kleben bleiben“. Es gibt keinen Kleber mehr im Geist.
In meinem Studium verschiedener Kommentare über die Früchte der Praxis wurde mir allmählich klar, dass
die eigentliche Frucht der Praxis diese Geschmeidigkeit ist. Das wird immer wieder erwähnt. Oft denkt man,
das wäre Liebe, Mitgefühl usw., oder auch Weisheit, aber das sind nur verschiedene Spielformen genau die-
ser Beweglichkeit des Geistes.
Wer so beweglich ist, der versteht. Wer so beweglich ist, hält nicht fest an Ich-bezogenen Sichtweisen und
kann sich in alles einfühlen, ist selbstverständlich in Liebe und Mitgefühl. So ist schlussendlich diese frei
fließende Beweglichkeit des Geistes das eigentliche Kriterium des Erwachens.
Meister Sthiramati erklärt, dass diese Geschmeidigkeit des Körpers es leicht macht, verschiedene kör-
perliche Aktivitäten auszuführen.
Ich war jedes Mal völlig erstaunt, den fast 80-jährigen Gendün Rinpoche sich bewegen zu sehen, mit wel-
cher Geschmeidigkeit dieser alte Körper unterwegs war. Es ist unglaublich. Das kann man sehen. Man kann
die Geschmeidigkeit eines Menschen sehen, auch wenn er alt ist. Man kann sehen, dass der geschmeidige
Geist den Körper geschmeidig hält, die Energien gut fließen. Es ist wirklich schön, inspirierend, das zu se-
hen.
Man kann es sehen, wie sich jemand bückt, wie sich jemand wendet, wie er die Treppen rauf und runter geht,
egal, wie alt und wie zerbrechlich der Körper ist und wie schwach er ist. Trotzdem merkt man, dass da eine
gewisse Geschmeidigkeit bleibt, die es leicht macht, Verschiedenes zu unternehmen.
Ja, es gilt auch der Umkehrschluss: wenn der Körper steif wird, hat das vielleicht etwas mit unserem Geist zu
tun. Oder wenn er von Natur aus steif ist, hat das etwas mit unserem Geist zu tun. Wir werden merken, dass
das entspannte Praktizieren uns geschmeidiger im Körper macht, nicht nur im Geist, und dass wir gar nicht
so viel Yoga, gar nicht so viel Übung brauchen, damit der Körper geschmeidig bleibt.
Das sind jetzt aber keine hundertprozentigen Zusammenhänge. Bitte, behauptet nicht, bloß weil da gerade
Steifheit ist, zum Beispiel ein steifer Hals, dass ich wohl gerade rigide im Geist war. Es kann auch einfach
Zugluft gewesen sein. Macht bitte nicht so eine Milchmädchenrechnung, dass ihr das eine mit dem anderen
gleichsetzt. Aber ihr wisst ja, wie viel geschmeidiger man ist, wenn der Geist sich öffnet; was sich allein im
Körper schon an Geschmeidigkeit zeigt.
Dieser geschmeidige leichte Geist ist leicht für jegliche Form von Aktivität einzusetzen.
Man kann ihn mit Leichtigkeit, zum Beispiel die Visualisationen durchgehen lassen, die in ausführlichen
Praktiken ausgeführt werden. Er bleibt mit Leichtigkeit beim Atem. Er kontempliert mit Leichtigkeit über
eine Textstelle. All das fällt einfach so leicht. Es gibt keinen Widerstand und es gibt keine Ablenkung, denn
Ablenkung ist auch ein Haften. Ein Geist ohne Widerstand und ohne Greifen nach etwas anderem ist einfach
klasse, den kann man für alles nutzen.
Man kann ohne Hindernis bei allem bleiben, auf was man sich ausrichtet, aber man sollte schon wis-
sen, dass eine tiefe Geschmeidigkeit sich erst ab dem ersten dhyāna einstellt.
Also ab der ersten meditativen Versenkung in der Geistesruhe. Für die, die die anderen Klassifikationen ge-
wohnt sind: Geistesruhe ist zunächst, dass man zwar nicht mehr so involviert ist, aber es kommt einem im-
mer noch so vor, als wäre der Geist wie ein Wasserfall. Man beobachtet unglaubliche geistige Aktivität, ist
aber nicht mehr involviert. Als ob man neben einem Wasserfall stehen würde oder wie in einem Wasserfall
und das Wasser strömt über einen rüber. Man ist nicht mehr verfangen darin.
Die zweite Stufe von Geistesruhe: das innere Erleben ist wie ein fließender Strom. Man ist außerhalb dieses
Stromes und merkt, die Gedanken kommen und man ist nicht mehr so aufgewühlt wie zuvor. Allmählich wir
dieser Strom immer ruhiger.
Die dritte Stufe von Geistesruhe ist wie ein Ozean, ein ruhiger Ozean, nicht aufgewühlt, kein Wind, mit ganz
glatter Oberfläche.
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In dieser Geistesruhe, in der vielleicht ab und zu mal ein Gedanke auftaucht, beginnen die vier Vertiefungen,
die vier dhyānas, die vier Versenkungen. Diese sind Ausdruck dieser dritten Stufe von Geistesruhe.
Das bedeutet, bis wir da ankommen, ist der Geist schon wirklich richtig flexibel geworden, denn es gibt so
wenig Anhaftung, dass es kaum noch zu einem Gedanken kommt. Der Körper sitzt und ist so entspannt und
geschmeidig, dass stundenlanges Sitzen kein Problem ist. So durchlässig wird der Körper und so frei ist da
schon der Geist von Anhaften. Das ist der Beginn von echter Geschmeidigkeit, sagt der Text, um euch klar
und präzise hinzuweisen, worum es geht.
Das braucht natürlich fortgesetzte Praxis. Um diese Wirkung zu haben, brauchen wir die notwendige Übung,
Anstrengung, um dahin zu kommen, so unangestrengt zu sein.
Aber wenn wir uns dem ausdauernd widmen, werden wir das vollkommen erfahren.
Gemäß dem Text Shravakabhumi erlaubt diese ausgeprägte Geschmeidigkeit des Geistes, den subtilen
Energien - den Prana-Energien - im Körper frei von Blockaden zu zirkulieren und sich im Körper zu
verteilen. Durch diesen geschmeidigen Geist zirkulieren die körperlichen Energien harmonisch. Das ist
auch der Grund, warum man lange ohne irgendwelche Beschwerden sitzen kann.
Das ist genau der Grund, warum man die körperliche Geschmeidigkeit erlebt: weil die Blockaden sich
im Fluss der subtilen Energie in gleichem Maße lösen wie die geistigen Blockaden. Sie hängen direkt
miteinander zusammen.

Sati - Gewahrsein
Was nun den weiteren Geistesfaktor von Sati angeht, von Achtsamkeit, Gewahrsein, diese Fähigkeit, immer
wieder zurück zu kommen zum Wesentlichen, also gewahr zu bleiben, da erklärt der Abidharmakosha:
Dieses Gewahrsein besteht darin, nicht das zu vergessen, woran wir uns bereits gewöhnt haben und
dabei zu bleiben, bis Unabgelenktheit entsteht.
Auch wenn ihr das schon viele Male gehört habt, denn ich spreche eigentlich bei jedem Kurs darüber, möch-
te ich euch nochmals darauf hinweisen, was die einfachste Fähigkeit von Sati ist. Es ist das Beispiel mit dem
Kind, das zum Brötchen kaufen geschickt wird. „Hier ist das Geld. Lauf zum Bäcker. Bring fünf Brötchen
zurück.“ Die Fähigkeit des Kindes, von zuhause bis zum Bäcker dranzubleiben und nicht woandershin zu
laufen, einzukaufen und wieder zurückzukommen, das ist alles Sati. Es ist die Fähigkeit, bei dem zu bleiben,
was man sich vorgenommen hat.
Bei uns wäre das in der Übung: ich nehme mir vor, zehn Atemzüge ganz bewusst beim Atem zu bleiben.
Diese Fähigkeit, immer dabei zu bleiben, nennt man Sati. Das nennt man Achtsamkeit.
Achtsamkeit entwickelt sich. Das sind jetzt äußere Formen von Achtsamkeit. Es gibt die Achtsamkeit, das
Erinnern, das Sich erinnern an die Motivation. Das ist eine hohe Form von Achtsamkeit, zum Beispiel wäh-
rend einer Teamsitzung immer daran zu denken, was die eigentliche Motivation ist. Zum Beispiel, zu einer
alle befriedigenden Lösung zu kommen, und man immer dran bleibt, dieser Motivation zu folgen, sich nicht
ablenken und nicht in Emotionen verstricken lässt. Das ist schon eine höhere Form von Sati.
Wenn ich jemandem zuhöre, der mir seine Probleme schildert, bleibe ich innerlich in der Tonglen-Haltung,
in einem ganz offenen Annehmen von allem, was ich höre, und in einem Fließen lassen und Unterstützen.
Das ist Sati: bleibe beim Wesentlichen, worum es eigentlich geht. Diese Fähigkeit, dabei zu bleiben am We-
sentlichen, geht soweit, bei jeder Sinneswahrnehmung ihrer wahren Natur gewahr zu sein, also ein Ge-
wahrsein des Wesentlichen, dessen, wie es ist.
Immer in dieser offenen, nicht greifenden Präsenz zu bleiben, die die Natur der Dinge erkennt, das ist die
höchste Form von Sati. Es ist das Sich erinnern, immer wieder zurückfinden, zurückführen in das offene
Sein, in das völlig gelöste Sein. Das ist diese Fähigkeit, von der der Buddha gesagt hat: das ist Ekayāna, das
ist der eine Weg, das eine Fahrzeug, dieses Gewahrsein zu entwickeln.
Tashi Namgyal schreibt: Wir vermeiden jegliche Ablenkung und halten den Geist kontinuierlich un-
unterbrochen darauf, womit wir uns vorher vertraut gemacht haben und was unsere Referenz ist.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.68

Einfaches Beispiel: wir haben uns vertraut gemacht, wie es ist, auf den Atem zu meditieren, die Atememp-
findung. Wir bleiben auf dieser Referenz. Es ist ja eine ganze Menge von Körperempfindungen, die insge-
samt unsere Referenz darstellen. Wir bleiben darauf.
Oder wir haben uns vertraut gemacht mit Tonglen und bleiben mit dieser Form der Praxis. Oder wir haben
uns vertraut gemacht mit Vajrasattva-Meditation und wir verbleiben mit all dem, was zur Vajrasattva-
Meditation gehört, oder zur Tschenresi-Meditation. Das ist jeweils unsere Referenz, unsere Ausrichtung. Es
braucht eine Weile, um sich damit vertraut zu machen, damit wir wissen, worum es geht, und dann bleiben
wir dabei. Das ist Sati, diese Fähigkeit, gewahr zu bleiben.
Dieses ununterbrochene Verweilen mit unserem Bezug, mit unserer Referenz, verhindert, dass wir
das, was uns so wichtig ist, vergessen. Zu Anfang ist es wichtig, sich immer wieder daran zu erinnern.
Also es ist ein „Erinnere-Dich“, „Komm-zurück“, „Geh-dahin“, „Bleib-dabei“. Es ist wie sich innerlich im-
mer wieder daran zu erinnern, an das was sein muss - wie das Kind, das einen Freund trifft und sagt: „Nein,
ich muss Brötchen holen!“ Genau so. Zu Anfang braucht es das. Dann aber stabilisiert es sich und es braucht
nicht mehr ständig dieses Erinnern. Das Gewahrsein stabilisiert sich dort, wo es ausgerichtet wurde. Dann ist
Sati nicht mehr ein so starkes Sich erinnern, sondern ein dabei Verweilen.
Zu dieser Fähigkeit, zu der wachen kontinuierlichen Präsenz, sagt der Text von Madhyantavibhanga:
Wir praktizieren sie, in dem wir vollkommen aufmerksam bleiben und mitbekommen, wenn Ablen-
kung auftritt. Sei es wenn Schläfrigkeit, ein aufgewühlter Geist oder Gedanken auftauchen. Wir blei-
ben ganz nahe dran, ganz achtsam dabei mit dem, was es zu kennen gilt, was es zu wissen, wahrzu-
nehmen gilt.
Das ist diese zusätzliche Fähigkeit. Sati bringt uns auf das Objekt zurück. Dieses wache Dranbleiben hält den
Fokus und nimmt wahr, wenn Ablenkung, wenn Schläfrigkeit auftaucht; lässt sich nicht davon ablenken,
sondern bleibt dran. Diese Fähigkeit gilt es, in der Meditation zu entwickeln.
Das ist zunächst richtige Schulung. Wir werden noch sehen, dass es eigentlich keine Schulung braucht, aber
zunächst ist es eine Schulung. In dem wir uns so schulen, merken wir, wie stark unser Anhaften eigentlich
ist, wie schnell es nach etwas greift.
Eigentlich geht es nur um Entspannung. Die Fähigkeit, dabei zu bleiben, ist die Fähigkeit, all die Muster zu
entspannen, die uns irgendwohin führen wollen. So wie der kleine Junge, der zum Bäcker läuft, das Muster
entspannen muss, mit dem Freund spielen zu wollen. „Immer, wenn ich den sehe, gehe ich doch spielen“,
dieses Muster muss ich jetzt gerade mal entspannen, denn ich habe etwas anderes vor.
So ist es auch mit unserem Geist. Eigentlich geht es nur um Entspannung. Es geht darum, all das Greifen zu
entspannen, das woanders hinführt.
Zunächst mal denken wir, es habe mit Willen zu tun: da festhalten. Dann merken wir aber, das braucht es gar
nicht: wenn wir das andere entspannen können, geht es automatisch. Weil keine anderen Kräfte wirksam
werden, bleibt der Geist automatisch ganz von selber dabei.
Je stärker die Kräfte des Anhaftens sind, desto mehr haben wir das Gefühl, wir müssten mit dem Willen me-
ditieren, es bräuchte Anstrengung. Je weniger die greifenden Kräfte in uns aktiv sind, desto anstrengungslo-
ser wird unsere Praxis, bis wir merken, der Geist ist ja von Natur aus so, dass er einfach da bleibt, worauf er
ausgerichtet wird. Das braucht ja überhaupt keine Anstrengung, wirklich gar keine.
Das ist eine Entdeckung, die wir im Verlauf der Jahre unserer Praxis machen. Zu Anfang kommt es uns an-
strengend vor. Nachher merken wir, es war bloß so anstrengend, weil so viele widerstreitende Kräfte in mir
aktiv sind aufgrund meiner Identifikation, meiner Verlangen und von Abneigung.
Diese kontinuierlich kultivierte Achtsamkeit erlaubt uns, das Innere, also unseren Geist, zu kennen,
genauso wie er ist. Mit ihr können wir diese Aktivität kontinuierlich fortsetzen.
Das ist die Geschmeidigkeit. Wir können dabei bleiben, wir können das kontinuierlich fortsetzen. Um euch
ein Beispiel zu geben, es ist ein krasses Beispiel. Schon bevor Gampopa Milarepa, den Lehrer, der ihm
Mahāmudrā beigebracht hat, getroffen hat, ist es Gampopa schon passiert, dass er in der Meditation den
Geist auf etwas lenkte und so entspannt dabei blieb, dass er erst zwölf Tage später aus dem Samadhi wieder
aufgetaucht ist - weil der Geist einfach dabei bleibt.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 69

Oder Rechungpa. Als er zu Milarepa kam, gab dieser ihm eine Instruktion, die wohl etwas damit zu tun hat-
te, den eigenen Geist so weit zu machen wie der Himmel. Er war ein Hirtenjunge. Er setzte sich hin und kon-
templierte die Weite des Himmels. Sein Geist wurde so weit und offen, so entspannt, dass er erst 24 Stunden
später von seinen besorgten Eltern gefunden wurde, noch genauso dasitzend wie zu Anfang: in völliger Geis-
tesruhe, in der Öffnung, der Geschmeidigkeit des Geistes. Er war natürlich im dritten oder vierten Dhyāna
eingetaucht, damit er die Nacht hindurch so sitzen konnte.

Also, in diese Richtung geht es: bis der Geist einfach dabei bleiben kann, worauf man ihn ausrichtet. Bitte
übt, bis ihr diese Fähigkeit entwickelt. Das ist wunderschön. Es macht das Leben sehr einfach, wenn man
sonst immer mit sich selbst im Kampf ist. Man muss dabei immer sich selbst wieder zurückholen. Das ist so
anstrengend, so mühsam. Also übt dieses Loslassen, von dem was ablenkt, damit der Geist einfach wirklich
da bleibt, worauf ihr ihn richtet.
Shantideva schreibt: Diese kontinuierliche Wachheit erscheint, wenn die Achtsamkeit an der Ein-
gangspforte des Geistes den Wachposten aufstellt.
Das ist ein Bild. Wenn wir meditieren, stellen wir, symbolisch gesprochen, einen Wachposten auf. Der
Wachposten ist die Fähigkeit zu bemerken, wenn ich abgelenkt bin, schläfrig werde, irgendetwas passiert,
dass ich mich zurückbringen muss. Das ist unser innerer Wachposten. Der wird später überflüssig, den brau-
chen wir aber zu Anfang. Wenn wir es nicht mitkriegen, dann sind wir, solange wir es nicht mitkriegen, wo-
anders unterwegs. Dann kommen die Brötchen halt erst später oder gar nicht.
Shantideva schreibt auch: Das wiederholte Untersuchen der Situation, wo sich Körper und Geist be-
finden, das ist, was es, kurz gesagt, braucht, um diese wache Aufmerksamkeit zu definieren: wieder-
holt zu schauen, wie geht es Körper und Geist.
Das ist es, worum es geht. Es ist eine ganz wichtige Meditationsinstruktion: wie geht es Körper und Geist
jetzt gerade? Braucht es etwas? Braucht es eine Korrektur oder braucht es keine? Ist da Anspannung, dann
entspanne ich. Ist keine da, lasse ich den Geist, wie er ist. Mit dieser Fähigkeit, immer wieder zu schauen,
wie ist es, was braucht es, wie ist es, was braucht es, beginnen wir dann die Steuerfähigkeit zu entwickeln,
wie wir den eigenen Geist steuern können.

Den eigenen Geist steuern


Was nun dieses Steuern angeht - dieses Engagement, ja auch eine gewisse Anstrengung - sagt das Abid-
harmakosha: Was ist denn dieses Sich-einsetzen, Sich-ausrichten? Es ist eine geistige Aktivität, die den
Geist dazu bringt, sich vollständig einzulassen, sei es in eine heilsame, nicht-heilsame oder neutrale
Richtung.
Dieser Faktor, sich einzulassen, sich auszurichten, zu steuern, ist nicht notwendigerweise heilsam. Wir kön-
nen auch all unsere geistigen Kräfte in die Richtung steuern, wie wir zum Beispiel in eine Bank einbrechen.
Das ist dieselbe geistige Fähigkeit, die jedoch für ganz anderes Ziel eingesetzt wurde.
Sich total darauf einlassen, ist sowohl für heilsame Dinge möglich, wie für nicht-heilsame oder auch für völ-
lig irrelevante. Deswegen kommt es darauf an, klar zu wissen, wofür wir uns einsetzen, worauf wir den Geist
richten.
Meditation findet immer mit einer heilsamen Ausrichtung statt. Wir richten uns auf etwas aus, das gut tut.
Manchmal tut es gut, sich auf etwas Neutrales auszurichten. So ist beispielsweise der Atem kein heilsames
Meditationsobjekt, sondern ein neutrales. Deswegen ist er so gut, weil er keine Assoziationen von „Mag ich“
oder „Mag ich nicht“ auslöst. Der Atem ist einfach immer da. Das Meditieren auf den Atem ist heilsam, weil
es den Geist beruhigt und öffnet. Die Folge davon ist also etwas Heilsames.
Es handelt sich bei diesem Sich-einlassen, diesem Steuern, um eine geistige Aktivität, durch die Ver-
nunft, durch den Verstand ausgelöst, die unseren Geist auf drei Arten geistiger Aktivität ausrichtet:
sei es heilsam, nicht-heilsam oder neutral.
Steuern ist eine Fähigkeit, die wir entwickeln. Dazu müssen wir noch wissen, worauf wir sie richten. Es geht
hier darum, einen Gedanken, eine Geistesbewegung zu haben, die beispielsweise weg von der Schläfrigkeit
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.70

oder heraus aus der Wildheit steuert. Wir lassen uns auf das ein, was die Heilmittel für diese Dumpfheit und
Wildheit sind.

Gleichmut
Was nun den Gleichmut angeht - ihr erinnert euch noch, das letzte Wort in der Liste war Gleichmut als
Heilmittel für Überanstrengung, zu große Anspannung bei der Praxis - Gleichmut bedeutet, den Geist na-
türlich zu lassen.
So wie es wiederum der Text Shravakabhumi erklärt: Was versteht man unter Gleichmut? Gleichmut
ist ein Zustand, in dem der Geist im Gleichgewicht ruht in oder auf dem Objekt der Geistesruhe, also
in dem, worauf wir uns in der Praxis der Geistesruhe oder in der Praxis der Einsichtsmeditation aus-
richten, ohne dabei von einer emotionalen Verstrickung aufgewühlt zu sein. Er bleibt also entspannt
im natürlichen Sein, wird dadurch von Freude erfüllt, wird sehr geschmeidig und lässt sich ohne An-
strengungen ausrichten.
Das ist der Faktor Gleichmut. Er bedeutet, natürlich, entspannt, ohne von Emotionen aufgewühlt zu sein,
geschmeidig und freudig. Gleichmut löst ein Wohlgefühl aus. Gleichmut tut gut. Gleichmut ist nicht eine
andere Form von Geduldsübung, es ist echte Geduld, es ist ein Sehen, dass wir nichts zu tun brauchen. Es ist
so, wie es ist, gut.
Wenn wir frei von Schläfrigkeit und Wildheit sind, dann sind Geistesruhe und Einsicht im Gleichge-
wicht. Wir stabilisieren diesen Zustand des inneren Friedens, in dem wir geschickt alle überflüssige
Spannung entspannen und den Geist geschmeidig halten.
Dies ist so ein Schlüsselsatz. Er enthält alles, was wir für die Meditation brauchen. Wir praktizieren Geistes-
ruhe und Einsicht zusammen im Gleichmut und lassen jegliche Form von unnötiger Spannung los. Wir ent-
spannen alle überflüssige Anspannung.
Das ist für mich zu einem Lebensmotto geworden. Was immer ich mit dem Körper und dem Geist tue, ich
schaue stets, wo ist noch überflüssige Anspannung. Das macht das Leben leichter. Ich setzte mich entspannt
hin. Wenn ich Rad fahre, dann nur mit der Anstrengung, die es braucht und nicht mehr. Wenn ich studiere,
wenn ich spreche – nur das, was es an Anstrengung braucht, nicht mehr. Den Geist nicht in einem Zuviel-
wollen verspannen, mit einem Übermaß an Anstrengung. Bei allem so entspannt bleiben, wie es irgendwie
geht.
Dann bleibt die Anstrengung übrig, die es gerade braucht. Es ist immer eine gesunde Anstrengung. Es ist
zum Beispiel nicht anstrengend, zu unterrichten. Wenn ich mich jetzt, beim Unterrichten, ständig noch durch
Fragen anspanne, „Wie komme ich rüber, was denkt ihr jetzt, haltet ihr noch aus, weil es so lange geht und
zu viele Worte?“ und es mir dadurch noch schwerer mache, dann ist das überflüssige Anstrengung. Es
braucht nur die Anstrengung, beim Thema zu bleiben, mit den Erfahrungen verbunden zu bleiben und mit
euch verbunden zu bleiben, indem ich euch anschaue und wahrnehme, wie ihr reagiert.
So kann man sich jede Aktivität leichter machen. Immer leichter und es ist eigentlich fast kein Ende in Sicht,
wie leicht das Leben sein kann. Ja, es ist unglaublich. Denn diese grundlegende Ich-Bezogenheit macht es ja
so anstrengend. Wenn die draußen ist, gibt es nur noch Herausforderungen im Leben, aber nicht wirklich
etwas, was den Geist so verspannt macht.
Was sind die Zeichen von Gleichmut? Das ist ein geistiges Gleichgewicht, das mithilfe der inneren
Ausrichtung erlangt wird, wo es keine wirkliche Anstrengung braucht, um es aufrecht zu erhalten.
Gleichmut ist schon fast anstrengungslos.
Wann erreicht man dieses Gleichgewicht? Wenn weder Schläfrigkeit noch Aufgewühltheit des Geistes
die Geistesruhe und die Einsicht beeinflussen.
Darin haben wir schon fast eine Definition von Mahāmudrā. Wenn Geistesruhe und Einsicht vorhanden sind
- der Geist ruhig, klar und in vollem Gewahrsein, es ist nichts mehr aufgewühlt, nichts mehr schläfrig, es
sind keine emotionalen Schleier mehr aktiv, der Geist ist natürlich entspannt. Das ist es eigentlich schon.
Wir könnten dann noch einiges darüber sagen, was dann dieses Gewahrsein ausmacht, das Gewahrsein der
Natur der Dinge. Aber eigentlich ist schon alles gesagt.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 71

Meditation
Dann meditieren wir noch ein wenig.
Es wäre jetzt klasse, wenn wir den Geist einfach in diese Geschmeidigkeit hinein gleiten lassen könnten. Ers-
te Voraussetzung dafür, dass der Geist in seine Geschmeidigkeit hineinfinden kann, ist, dass wir es dem
Körper ganz leicht machen. Ich hoffe, ihr habt euch jetzt in die Haltung gebracht, die für euch die leichteste
ist. …
Es gibt einen Trick, mit dem wir uns helfen können, die Geschmeidigkeit zu finden. Wenn wir durch den
Körper gehen, lassen wir durch die Wirbelsäule so etwas wie kleine Wellen laufen, solche kleinen Ondulati-
onen, kleine Wellenbewegungen. …
Gerade die Cranio-Sakral-Therapeuten wissen, dass unser Körper so etwas wie Pulsationen hat, es pulsiert
und speziell die Wirbelsäule ist eigentlich immer ganz fein in Bewegung.

und während wir den Körper pulsieren lassen, Wellen hindurch laufen lassen, öffnen wir den Geist für genau
dieselbe Empfindung, pulsieren zu dürfen, Wellen hindurch laufen lassen. ...
Und wir geben uns allen Raum, so unendlich viel Raum, dass sich alles bewegen darf, was sich bewegen
möchte. …
Wenn wir irgendwo Anspannung bemerken, dann erlauben wir Bewegung. …
Der Geist bleibt ganz weit. Wir erlauben Bewegung, aber wir machen keine Bewegung. Alles darf einfach
sein, wie es ist. …
ganz weich, offen, fließend.

Spezifische Methoden um Dumpfheit und Wildheit entgegen zu wirken


Wir kommen jetzt zu den

Methoden, mit denen wir Schläfrigkeit und Wildheit des Geistes aufgeben bzw. entgegenwirken kön-
nen.

Ursachen für Dumpfheit und Wildheit


Zunächst mal: Wie wir die Ursachen für Dumpfheit und Wildheit aufgeben können

Die meisten Hindernisse in der Meditation, die meisten Schleier, kommen von Dumpfheit und Wild-
heit. Tatsächlich sind die eigentlichen Ursachen in unserem Handeln mit Körper, Rede und Geist zu
suchen.

Es ist nicht von ungefähr, dass wir dumpf werden und wir aufgewühlt sind. Es hängt mit unserem Denken
zusammen, es hängt mit den Handlungen, mit der Kommunikation und mit unserem körperlichen Handeln
zusammen.

Der Text „Fundament der Bhumis“ sagt: Was sind die Ursachen von Schläfrigkeit? Wir werden
dadurch schläfrig, dass wir unsere Sinne nicht mehr kontrollieren. Wir werden dadurch schläfrig,
dass wir zu viel essen, wir uns nicht bemühen, morgens in der Dämmerung und abends in der Nacht
noch länger zu praktizieren, statt zu schlafen; wir insgesamt ohne Achtsamkeit leben, eigentlich Gefal-
len finden an der Dumpfheit und zu viel schlafen, und nicht die Methoden kennen bzw. einsetzen, die
das verhindern würden; wir etwas faul sind in unserem Streben, auch faul in der Anstrengung, in der
Kontemplation, in der Analyse und darin, uns mit der Geistesruhe vertraut zu machen.
Zudem kann es auch sein, dass wir eine partielle Geistesruhe praktizieren statt einer allumfassenden
Geistesruhe und wir in einer Art geistiger Trübheit verweilen und keinen Gefallen daran finden, bei
einer Stütze der Meditation, einem Bezugspunkt der Meditation zu verweilen.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.72

Der erste Punkt: wenn wir die Sinne einfach sich selber überlassen, dann ist zu wenig Aufmerksamkeit da.
Das ist ein Faktor, der der Schläfrigkeit, Dumpfheit Vorschub leistet.

Über das zu üppige Essen brauche ich nicht zu sprechen.

Dass wir uns morgens und abends nicht ausreichend bemühen zu praktizieren, führt dazu, dass wir uns im-
mer mehr daran gewöhnen zu schlafen, wir der Müdigkeit Vorschub geben. Ihr kennt das Phänomen. Wenn
wir abends müde werden und stellen dann noch den Fernseher an, schaffen wir es locker, bis Mitternacht
noch aufzubleiben. Oder wir gehen an den Computer, wir vergessen die Zeit.

In der Zeit könnte man auch meditieren. Aber wenn wir uns hinsetzen zum Meditieren, werden wir ganz mü-
de. Das Interesse, das wir für einen Film haben oder durch einen Film aktiviert wird oder wir für die Dinge
am Computer haben, wecken wir nicht für unsere Meditationspraxis. Dies führt dazu, dass wir von der Nei-
gung her eher immer noch dumpfer werden. Da hilft auch nicht das Fernsehschauen.

Dieser Unterschied ist doch interessant, es hat etwas mit dem Interesse zu tun, wie interessiert, wie wach wir
bei der Sache sind. So zögern wir auch morgens das Aufstehen eher hinaus, drehen uns nochmal um und
nicht, wie es bei Yogis eher Sitte ist, mit dem ersten bewussten Gedanken dann auch gleich aufzustehen. Al-
so nicht noch weiter abzuwarten, sondern: ah, das Bewusstsein kehrt zurück, also ist Zeit aufzustehen und zu
praktizieren. Auch hier meinen wir oft, es sei eher die Uhr ausschlaggebend als die innere Wachheit und dre-
hen uns nochmal um und versuchen, noch eine Stunde rauszuschlagen. Das wäre auch eine gute Zeit für die
Praxis.

Die Methoden nicht zu kennen ist all das, was ich inzwischen angesprochen hatte: sich um Licht bemühen,
sich leicht kleiden, den Geist aufhellen usw. All diese verschiedenen Methoden, die einem helfen, frisch zu
sein.

Dass wir faul sind und eigentlich unser Streben unklar ist - eigentlich sind unsere Prioritäten unklar. Wir
denken, wir würden gerne meditieren. Irgendjemandem in uns ist das klar, aber so anderen Anteilen in uns
ist das überhaupt nicht klar. Dies führt immer wieder zu einer großen Verwirrung, weil wir eigentlich schon
wollen, aber dann eigentlich doch nicht. Das führt zu dem Dilemma, dass man sich nicht ganz motivieren
kann, weil man sich noch nicht alles angeschaut hat und sich ganz klar darüber geworden ist, was die eigene
Priorität ist.

All die verschiedenen Aspekte der Dharmapraxis brauchen eine gewisse Anstrengung, ein gewisses Bemü-
hen. Es geht tatsächlich darum zu studieren, so wie wir das jetzt tun, sich durchzukauen und wirklich zu ver-
stehen, worum es geht; zu kontemplieren, es auf sich anzuwenden, und dann eine Übung zu finden, die wir
einsetzen können.

Es ist auch nicht leicht, sich an die Geistesruhe zu gewöhnen. Da gibt es zunächst einige Hindernisse. Geis-
tesruhe ist nicht per se angenehm für uns, weil wir uns oft über unsere Aktivität definieren. In der Geistesru-
he gibt es keine Aktivität, über die wir unsere Identifikation weiter aufbauen oder nähren könnten. Wir haben
nichts vorzuzeigen. Der Geist öffnet sich und wird ruhig. Das ist zwar toll, aber bitte nicht zu lange, sagt un-
ser normales Muster, weil es mir langweilig wird, ich mich alleine fühle, noch so viel anderes zu tun habe
usw. Die Geistesruhe: es ist gar nicht so klar, dass es genau darum geht, im Üben der Geistesruhe aus all den
Mustern auszusteigen, die sonst den Stress und die Anspannung im Leben verursachen. Da braucht es auch
eine größere Klarheit und dann ein Aushalten-Können des Nichtstuns.

Eine partielle Geistesruhe: das lässt sich verschieden erklären. Zum einen sind damit Formen der Geistesruhe
gemeint, wo ich mich wie wegschalte, also raus will aus den Sinneserfahrungen. Möglichst Jalousien zu,
möglichst allen im Haus sagen, dass sie die Klappe halten, damit ich ungestört von Geräuschen bin. Innerlich
weg von den Gedanken, wie in ein inneres Nest, in dem ich mich einfinde. Das nennt man partielle Geistes-
ruhe, weil sie eigentlich gar nicht den Herausforderungen gewachsen ist.

Echte Geistesruhe kommt gut damit zurecht, dass es um uns herum laut ist, hell ist usw. All die Bedingun-
gen, vor denen wir sonst davonlaufen möchten.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 73

Insbesondere hat Geistesruhe kein Problem damit, wenn Denken im Geist stattfindet. Wir brauchen die Ge-
danken nicht tot zu machen. Wir folgen ihnen nicht und wir kämpfen nicht mit ihnen. Sie laufen sich von
selber aus. Gedanken, die nicht genährt werden, sind gleich vorbei. Wir brauchen sie nicht als Feinde der
Meditation zu betrachten. Das wären Beispiele für partielle Geistesruhe, Geistesruhe nur unter bestimmten
Bedingungen, von Bedingungen abhängig.

Dann gibt es diese besondere Form der Geistesruhe, die ich schon ab und zu erwähnt habe. Man richtet sich
in der Geistesruhe und bleibt nicht mehr in der Frische des Seins.

Gendün Rinpoche nannte das die Geistesruhe eines Schafes. So wie das widerkäuende Schaf sitzen wir in
unserer angenehmen Ruhe, finden das auch irgendwie klasse und können darin ganz viel Zeit verbringen. Ich
habe darin einige Monate verbracht, ohne es zu bemerken. Das fühlt sich nämlich gut an, man ist relativ klar,
aber irgendwie nicht wirklich frisch. Man ist dabei, die Dynamik des eigenen Geistes auszugrenzen. Da
braucht es eine viel höhere Wachheit, eine größere Frische. Da kommen wir aus dieser Form der geistigen
Trübheit heraus, die sich klar anfühlt und wo man gar nicht merkt, dass man dabei ist, sich selbst zu be-
schränken.

Dann gibt es den ganzen Widerstand unseres Stolzes und anderer Neigungen in uns, sich überhaupt auf Me-
ditationsübungen einzulassen, sich dem Training zu unterziehen, das sich auch für andere schon bewährt hat.
Wir meinen, wir hätten es nicht nötig und möchten, dass es einfach bitte so kommt, ohne Training.

Diesen Widerstand kann man ganz oft erleben, wenn Praktizierende mit den Visualisationen vertraut werden,
die unter anderem für Geistesruhe gedacht sind. Sie möchten es am liebsten sein lassen. Am liebsten würden
sie direkt auf den Geist meditieren und dann immer berichten, dass sie so abgelenkt sind. Aber mit dem Ob-
jekt arbeiten, das lehnen sie dann eher ab.

Es gibt zum Beispiel wenige, die wie es im „Ozean des Wahren Sinnes“ beschrieben steht, der Reihe nach
die Meditationsobjekte ausführlich durcharbeiten: äußeres visuelles Objekt, inneres visuelles Objekt, die ver-
schiedenen Sinneswahrnehmungen, mit der Kerze, mit dem weiten Raum, mit dem spitzen Objekt, mit dem
Atem und all das, was da beschrieben steht. Man sich wirklich alles mal erarbeitet und die Auswirkung ver-
schiedener Bezugspunkte auf die Meditation erforscht, man sich wirklich die Mühe macht – und es nicht nur
einmal probiert und dann sein lässt. Das ist mit den Widerständen gegen die Arbeit mit hilfreichen Bezugs-
punkten gemeint.

Ursachen für einen aufgewühlten Geist


Jetzt kommen wir zu den Ursachen oder Zeichen für einen aufgewühlten Geist.

Dazu gehören die vier ersten Punkte, die auch für Dumpfheit gegolten haben. Hinzu kommt dann
noch, dass man seinen Begierden folgt, seinem Verlangen, oder auch, dass man nicht wirklich friedlie-
bend ist in der Tiefe, man sich dem Ärger hingibt.
Also erst mal sind wir alle wahrscheinlich recht motiviert, uns nicht dem Ärger hinzugeben und nicht einfach
der Begierde per se zu folgen. Aber wenn wir uns das subtiler anschauen, geht es uns wohl allen so, wenn
wir ärgerlich sind, dass wir ja Recht haben, ärgerlich zu sein, und wir unseren Ärger nicht einfach aufgeben
wollen. Wir wollen ihn noch ein wenig unterhalten. Wenn es angenehme Dinge sind, findet dasselbe statt.
Wir finden es eigentlich ganz gut, ein bisschen von unserer eigenen Faszination für das Angenehme unserer
kleinen und größeren Verlangen stimuliert zu sein. Und auch da haben wir keine Lust, es einfach aufzuge-
ben. Das ist eine Ursache für einen aufgewühlten Geist.
Wenn wir diese beiden Punkte immer wenn wir ärgerlich oder angeregt durch Verlangen sind, anschauen,
berücksichtigen würden, könnten wir uns ganz viele der Gedankenketten sparen. Die würden einfach nicht
mehr auftauchen, weil es keine Faszination fürs Angenehme und keine Identifikation mit dem Unangeneh-
men gibt.

Es kommt hinzu, dass wir keine Abneigung gegenüber Samsara empfinden. Wir haben nicht die Nase
voll.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.74

Da müssen wir mit uns selber mal ins Gericht gehen. Wir tun so, als wollten wir zum Erwachen, aber wir
hätten das Erwachen gerne mit Samsara. Das heißt: Erwachen gerne, aber ohne uns zu ändern. Wir haben
nicht die Nase voll von unseren Verstrickungen, unseren Identifikationen. Der tibetische Ausdruck heißt so
viel wie Abscheu.

Man muss so die Nase voll haben, dass man sich von diesen Mustern abwendet, als sei es wirklich das Letzte
von der Welt, einem übel wird, wenn man diese Muster bemerkt. Aber uns wird nicht übel, wenn wir unsere
verstrickenden Muster bemerken. Wir liebäugeln immer noch mit ihnen. Das ist etwas, was wir in die Kon-
templation mit hineinnehmen könnten. Wenn wir nicht mehr mit unseren verstrickenden Mustern liebäugeln
würden, wäre unser Geist ruhig, da können wir sicher sein.

Das nennt man Identifikation, wir sind identifiziert mit unseren Mustern. Es fällt uns schwer, sie rigoros zu
lassen, sie einfach nicht mehr zu bedienen - wir bedienen sie immer noch. Dieses Bedienen nennt man dann
Gedankenketten. So entstehen die Gedankenketten. Jede Gedankenkette ist Ausdruck davon, dass wir ein
Muster bedient haben.

Es taucht ein Gedanke auf, eine Reaktion springt an aufgrund von einem emotionalen Muster, und wenn wir
das bedienen, folgt der nächste Gedanke, folgt der nächste Gedanke usw. Jemand, der da mit großer Klarheit
vorgeht, findet sehr schnell in Geistesruhe.

Man muss die Nase voll haben davon. Das ist eine Form der Weisheit. Wenn ich sage „die Nase voll“, be-
deutet das, dass man sehr weise sieht, wo das einen hinführt.

Auch hier ist es so, wenn wir ohne Methode meditieren, wenn wir die Methoden nicht kennen und deswegen
nicht anwenden, wir uns eher in aufgewühlten Geisteszuständen verlieren. Die Methoden, die uns in ver-
schiedenen Traditionen, Schulen angeboten werden, machen es leichter, den Geist zu stabilisieren, ihn auszu-
richten.

Sucht euch geeignete Methoden, auf die ihr immer zurückkommen könnt, wenn ihr merkt, dass der Geist
nicht von selber einfach offen, ruhig, ohne Anhaften ist. Dann brauchen wir etwas Unterstützung. Methoden
sind kein Fehler. Sie sind dazu da, um uns zu unterstützen, zum Beispiel die einfache Methode der Gehmedi-
tation oder auch Niederwerfungen. Die Bewegung als Anker nehmen, um präsent zu bleiben.

Keine Angst vor Methoden. Methoden sind gute Freunde. Sie begleiten uns, solange wir sie brauchen. Wenn
wir merken, dass der Geist von sich aus klar, präsent ist usw., brauchen wir die Methode nicht weiter anzu-
wenden. Wir können immer wieder darauf zurückkommen, wenn wir merken, jetzt brauche ich eine Stütze.

Es gibt noch etwas anderes, was bei den Methoden von Vorteil ist. Wenn wir viele Methoden praktiziert ha-
ben, tief praktiziert haben, können wir anderen damit helfen. Wir können sie zur rechten Zeit jemandem an-
bieten, können sie erwähnen. Wir kennen ihre Auswirkungen und wissen für andere, wann sie einzusetzen
sind. Das ist von der Bodhisattva Motivation her ein ganz entscheidender Faktor. Wir üben Methoden ers-
tens, um uns selbst zu helfen, und zweitens, um auch für andere zu lernen, was hilfreich sein könnte.

Was natürlich auch den Geist aufwühlt, ist zu viel Anstrengung in unserem Streben nach guter Medi-
tation.

Das ist gerade im Retreat so, wenn einige von euch für ein paar Wochen oder Monate kommen, eines der
häufigsten Hindernisse: man möchte jetzt die Zeit gut nutzen, ist hoch motiviert und diese hohe Motivation
führt zu einer Verspannung und ist dann kontraproduktiv. Da versucht man dann eventuell, frühere Erfah-
rungen zu wiederholen - also die Enttäuschung aufgrund der zu hohen Motivation, aufgrund von zu viel An-
strengung und nicht an die Erfahrungen des letzten Retreat anknüpfen zu können. Man hat Vorstellungen
und will diese Vorstellungen in der Meditation wieder erreichen - und das führt dazu, dass wir nicht mehr
offen sind für das, was ist, wie es ist.

An seine Nächsten zu denken: Freunde, Partner, Familie, wühlt auch auf.

Da sollten wir uns klar darüber sein: wenn wir an sie denken, dann binden wir sie am besten mit ein in die
Praxis. „Okay, wenn ihr schon da seid, macht mit mir zusammen in der Vorstellung Niederwerfungen, ihr
bekommt auch einen Vajrasattva auf den Kopf und es wird Reinigungspraxis gemacht. Wenn ihr schon da
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 75

seid, entwickeln wir zusammen Liebe und Mitgefühl. Wenn ihr schon da seid, dann könnt ihr euch in meiner
Vorstellung auch mit mir entspannen und in die Geistesruhe eintauchen.“ Sie dürfen da sein, wir dürfen die
Verbindung spüren, aber wir denken nicht darüber nach. Es wird direkt in die Praxis eingebaut. Sie bekom-
men ihren Platz und stören die Praxis nicht, indem wir sie sofort mit einbeziehen und sie das Gleiche tun las-
sen wie wir selbst.

Jetzt schreibt dann Dakpo Tashi Namgyal, dass hier das Wort Zeichen tatsächlich Ursachen bedeutet,
Ursachen der Schläfrigkeit und des aufgewühlten Geistes. Wenn wir von Faulheit sprechen, heißt das
mangelnde Anstrengung auch beim Kontemplieren und Analysieren.

Da ist noch ein Punkt, den habe ich noch nicht erwähnt. Manche von euch wollen nur meditieren, bitte nicht
den Geist oder die Vorgänge analysieren. Diese Haltung führt dazu, dass der Intellekt, unser Verstand, nicht
mit auf die Reise geht. Wir sollten den Verstand mit einbeziehen. Eine gute, klare Analyse von dem, was
eigentlich vorgeht in uns – wie zum Beispiel als ich eben sagte: Schaut doch mal hin, ein Gedanke taucht
auf. Was bewirkt, dass daraus eine Gedankenkette entsteht? Das nennt man Analyse. Man schaut hin, analy-
siert, woran hängt es eigentlich? Das hilft.

Man spart sich so viel, wenn man klar analysiert und besser versteht, was vor sich geht. Dann kann man da-
mit besser umgehen. Also intelligent meditieren, so nennen Lama Gerd und Kerstin oft ihre Kurse. Das ist
genau damit gemeint, dass wir unseren Verstand mitnehmen auf die Reise und einsetzen, um besser zu ver-
stehen.

Sich mit der Geistesruhe zufrieden zu geben bedeutet, dass wir uns mit allein den Erfahrungen, Empfin-
dungen der Geistesruhe schon so wohl fühlen, dass wir nicht weitergehen wollen. Das erlebe ich auch sehr
häufig, wenn einige von euch - die können sich vielleicht erinnern, sitzen hier im Raum – beginnen, Geistes-
ruhe zu entwickeln, der Geist wird klarer und ruhig - und dann kommt der Lama und quält euch mit Lhak-
tong Fragen, mit Fragen zur Natur des Geistes.

Es ist doch gerade so schön friedlich. Wieso soll ich mich jetzt nicht damit zufriedengeben? Weil es nicht ins
Erwachen führt. Geistesruhe ist nur vorübergehend erleichternd. Wir müssen die Geistesruhe dann nutzen,
um die Natur des Geistes zu erforschen.

Es bleibt nicht bei einer Geistesruhe, sondern es wird wieder Bewegung eingeladen. Bewegung: Lhaktong
hat ja etwas mit hinschauen, hinspüren und erforschen zu tun, sich neuen Dimensionen zu öffnen. Das stört
in der Geistesruhe.

Das sollten wir von vornherein wissen. Es ist ein unbequemer Weg. Jetzt geht es uns gerade so gut mit der
Geistesruhe und jetzt kommt der Lehrer, die Lehrerin daher und sagt, nun wende dich doch mal deinen
Schatten zu, den versteckten Anhaftungen. Schau doch mal dahin, wo diese ganz versteckte tiefe Angst ist.
Was ist da eigentlich los? Was ist diese noch verbleibende Unruhe? Woher kommt eigentlich das noch ver-
bleibende Anhaften?

Alles sehr unbequeme Fragen, und genau dazu dient die Geistesruhe. Sie ist das Mikroskop, mit dem wir
diese Prozesse untersuchen und erkennen, um was es sich eigentlich handelt, woher all dieser Stress kommt
und wie er sich auflösen lässt.

Wenn vorhin von zu viel Anstrengung gesprochen wurde, bedeutet das, dass der Wille eingesetzt wird und
wir voller Wollen zu lange und zu viel Anstrengung machen, mit einem gewissen Haften an etwas, das uns
angenehm ist, wir wertschätzen. Also im Normalfall wollen wir einen bestimmten Meditationszustand errei-
chen.

Genau dieses Erreichen-Wollen bewirkt einen aufgewühlten oder einen schläfrigen Geist. Das ist vielen
nicht klar. Schläfrigkeit, die sonst keine Ursache hat, ich bin eigentlich frisch. Wenn ich meditiere, werde ich
schläfrig. Das hat manchmal oder gar nicht so selten die Ursache in einem Zuviel an Anstrengung. Unser
Geist blockiert, wird schläfrig aus Protest gegen dieses Übermaß an Wollen. Das ist etwas recht Häufiges.
Jeder Meditierende wird damit irgendwann vertraut.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.76

Auflösen von Dumpfheit und Aufgewühltsein


Im nächsten Kapitel geht es um das

Auflösen oder Zurückweisen von Schläfrigkeit oder Dumpfheit, oder aufgewühltem Geist.

Da gibt es verschiedene Methoden, um die gröbere Schläfrigkeit, Dumpfheit aufzulösen.

Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf helle Erscheinungen, helles Licht oder zum Beispiel auf die
stimulierenden Qualitäten des Buddhas.

Wenn wir auf einen Yidam, einen Guru oder den Buddha meditieren und dabei schläfrig werden, richten wir
die Aufmerksamkeit zum einen mehr auf seinen oberen Bereich, weil unser Körper mit reagiert. Wir gehen
mehr in den Kopfbereich oder in den Oberkörperbereich.

Wir betonen den Lichtaspekt in der Visualisation, also wie strahlend sie wird. Zusätzlich betonen wir noch
die Qualitäten, die den Buddha so strahlend machen: seine Güte, Liebe, klare Präsenz. Wir kontemplieren die
inspirierenden Qualitäten der jeweiligen Form.

Wir untersuchen auch den jetzigen Geisteszustand, wenn wir schläfrig werden, mit der Weisheit die
alles unterscheidet - das ist eine Weisheit, die genau hinschaut. Wir setzen in der Schläfrigkeit unsere Un-
terscheidungsfähigkeit ein. Wir machen eine gewisse Analyse, um zu verstehen, was da eigentlich abläuft.

Wenn die Lehrer, die uns diese Unterweisungen weitergeben, nicht diese innere Analyse vorgenommen hät-
ten, gäbe es diese Unterweisungen nicht. All das ist das Unterscheidungsvermögen zu wissen, woher kommt
das eine, woher kommt das andere, und dieses Wissen sogar weitergeben zu können, um es uns leichter zu
machen.

Wenn wir mit Visualisationen arbeiten, können wir bei Müdigkeit auch einfach die Visualisation immens
groß machen. Wir können sie ganz weit, ganz riesig machen. Das hilft auch, um aus der Enge des müden
Geistes herauszufinden.

Wir können den Geist stimulieren, indem wir Freude kultivieren. Mit freudigem Interesse, wach, uns
zum Beispiel wieder am Sosein erfreuen, an den Sinneserfahrungen, am Gewahrsein und was auch immer
die verschiedenen Möglichkeiten sind, jetzt in sich Freude wachzurufen. Ein freudiger Geist schläft nicht ein.

Kamalashila schreibt in seinem Text über die Stufen der Meditation im ersten Band: Wenn es uns so
geht, dass wir von Schläfrigkeit und Dumpfheit erfasst werden, während wir meditieren, dann werden
wir sehen, dass sich unser Bezugspunkt - also das, worauf wir meditieren - verdunkelt, verschattet und
unklar wird und der Geist wie einschläft, schwer wird. Dann sollten wir auf eine klare Erscheinung
meditieren oder die feinen Qualitäten und Zeichen der Schönheit des Buddhas kontemplieren und an-
dere Qualitäten, die Quellen von höchster Freude sind. Wenn dann die Schläfrigkeit aufgelöst ist, fah-
ren wir fort damit, mit den Objekten unserer Meditation kontinuierlich präsent zu bleiben.

Nachdem wir das Heilmittel eingesetzt haben und der Geist wieder klar und frisch geworden ist, bleiben wir
einfach kontinuierlich dabei, ohne noch weiter zu korrigieren. Wir bleiben einfach dran und passen dann nur
auf, dass wir nicht wieder in die Muster abgleiten, die vorher aktiv waren.

In der Kurzform der Prajnaparamita-Samcayagatha heißt es: Wenn dich ein gewisser Trübsinn
überwältigt, stimuliere deinen Geist, indem du Lhaktong, also Einsicht, kultivierst.

Das ist jetzt eine noch subtilere Unterweisung. Der Geist wird etwas trüb, etwas dumpf - man kann fast sa-
gen depressiv. Es ist aber nur ein vorübergehender Geisteszustand. Statt die anderen Gegenmittel anzuwen-
den, können wir hier mit Einsichtsmeditation das Ganze auflösen.

Das würde bedeuten, die Natur dieser Erfahrung anzuschauen. Das hatte ich schon mal erwähnt. Das ist der
Übergang zu Mahāmudrā und da machen wir genau das. Wir schauen uns die substanzlose, prozesshafte Na-
tur genau dieses Erlebens an. Es kann sein, wenn es sonst keine Gründe gibt für die Müdigkeit, dass in einem
Moment die ganze Schläfrigkeit weg ist. Einfach nur, weil wir uns ihrer wahren Natur zugewendet haben.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 77

Das ist eine sehr überraschende Erfahrung. Man glaubt es selbst nicht. Die Schläfrigkeit war so heftig und
ein Erkennen ihrer wahren Natur löst sie völlig auf.

Das ist echtes Lhaktong. Aber auch wenn wir diesen Lhaktong-Blick in der Geistesruhe anwenden, werden
wir bemerken, dass wir die Schläfrigkeit, deren Essenz wir uns zuwenden, nicht mehr als bedrückend erfah-
ren, sondern in der Schläfrigkeit wach bleiben. Das ist so, als würde in der Höhle ein Licht brennen, als wür-
de im Dunkeln ein helles Bewusstsein durchgehen. Wir erfahren dann die Schläfrigkeit als eine Fortsetzung
der Praxis der Geistesruhe.

Der Text Madhyamakahridaya sagt: Vertreibe den trüben Geist, indem du dein Meditationsobjekt
größer machst und den Geist so weitest. Das hatten wir schon erwähnt.

Was nun das Meditieren auf die hellen Erscheinungen angeht, liest man in Shravakabhumi: Richte die
Aufmerksamkeit auf das Licht, das von einer Lampe kommt, auf ein Feuer, oder auch auf die Sonne.

Diese drei Zitate waren nochmal die Zitate, die die Aussage stützen, die Dakpo Tashi Namgyal in seinem
eigenen Text gemacht hat. Deshalb kamen jetzt nochmal dieselben Punkte. Ich erinnere euch nur: es passiert
jetzt immer wieder, dass Dinge zweimal erwähnt werden.

Man richtet seinen Geist auf alles, was sich klar und deutlich in diesem Licht zeigt.

Nehmen wir mal an, ihr wärt jetzt gerade müde. Es kann sein, dass es dem einen oder anderen so geht, weil
noch die Verdauung in euch nachwirkt. Wir haben eine Lichtquelle hier über uns. Ohne den Blick heben zu
müssen, können wir unsere Aufmerksamkeit auf dieses Licht richten.

Macht das, während ihr einfach ruhig vorwärts zu mir schaut. Nehmt im Bewusstsein ganz stark das von
oben kommende Licht wahr. Das ist die erste einfache Übung. Dann kann man sogar mit den Augen nach
oben gehen, um den Effekt zu verstärken.

Man kann es aber auch so machen, dass man sich des Lichtes bewusst wird und wahrnimmt, wie das Licht
alles hier im Raum erhellt, also genau den erhellenden Effekt des Lichtes im Bewusstsein stark macht - und
unser Geist kann nicht anders als mitgehen. Er wird auch weit und irgendwie auch hell, ohne natürlich wirk-
lich hell zu werden. Er kann nicht an der Dumpfheit festhalten.

Wenn ihr jetzt das Gegenteil machen würdet und ihr würdet die dunklen Orte im Raum aufsuchen, dort mit
dem Bewusstsein in die dunklen Farben gehen oder sogar dahin schauen oder einen dunklen Ort suchen, wo
ich meinen Blick hin senken kann - schon werden die subtilen Energien herunter reguliert und wir werden
wieder etwas müder, bzw. wenn wir aufgewühlt sind, werden wir ruhiger.

So könnt ihr euch ständig ins Gleichgewicht bringen, indem ihr den Tag über auf diese Phänomene achtet
und es euch mal heller macht, mal dunkler, je nachdem, was ihr gerade braucht.

So sollten wir auch während unserer Aktivität - also während der Meditationspausen - den Geist stimu-
lieren, indem wir uns auf lichte Wahrnehmungen ausrichten und das sechsfache Erinnern praktizie-
ren.

Zum Glück stehen sie in der Fußnote.

Wir erinnern uns an die Qualitäten des Buddhas, an die Qualitäten des Dharma und an die Qualitäten
der Sangha. Wir erinnern uns an die Qualitäten des heilsamen Verhaltens, die Qualitäten der Freige-
bigkeit und an die Qualitäten der Buddhas in Lichtgestalt, zum Beispiel Tschenresi und Tara.

Das sind sechs Formen, sich stimulierende Qualitäten in Erinnerung zu rufen. Dadurch kann man sich auch
wach halten. Immer, wenn wir stimuliert sind, werden wir wieder wach. Das ist das Prinzip, das wir hier nut-
zen. Wir schauen, wo wir eine heilsame Stimulation hinein holen können in unsere Praxis.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.78

Wir vertreiben also die Schläfrigkeit, indem wir die verschiedenen Nachteile der Ursachen für Schläf-
rigkeit kontemplieren, und wir lösen Schläfrigkeit, Dumpfheit auch auf, indem wir statt sitzen zu blei-
ben stehen oder gehen. Damit haben wir die Dumpfheit auch aufgelöst, indem wir nachts bewusst den
Mond und die Sterne kontemplieren, uns also auch Lichtquellen zuwenden, oder indem wir uns Was-
ser aufs Gesicht sprenkeln.

Das klingt für euch vielleicht seltsam, aber wer wirklich entschlossen ist, wachzubleiben und zu meditieren,
kann sich bei schwül-heißem Wetter ohne weiteres einen Topf Wasser neben den Meditationssitz stellen und
zwischendurch mit dem Waschlappen über das Gesicht gehen. Das mussten wir in der Dordogne machen,
wenn es über 40 Grad ging. Bei der Schwüle lief uns der Schweiß und meditieren war nur möglich, wenn wir
genau das taten. Die Hinweise kommen zum Teil auch aus Indien - dort wird es auch wahnsinnig heiß. Dann
muss man einfach das tun, was einem ermöglicht, weiter präsent zu bleiben.

Die richtige Meditationshaltung ist immer die, die größtmögliches Gewahrsein ermöglicht, von daher verän-
dert sie sich ständig. Mal braucht es ein wirkliches Aufgerichtet-sein, mal können wir uns anlehnen, mal ist
es sogar wichtig sich anzulehnen, um aus einem aufgewühlten Geist herauszufinden. Manchmal ist Stehen
die richtige Haltung.

Meditation
Wir lassen die sonstigen Vorbereitungen mal weg und beginnen jetzt direkt mit dem Meditieren. Dazu müss-
ten wir erst mal schauen: wie ist denn der aktuelle Geisteszustand? Wie fühlt es sich innerlich an? Wenn ich
Anzeichen für Müdigkeit und Dumpfheit finde, brauche ich etwas Straffung, etwas Stimulation. Wenn ich
Anzeichen für aufgewühlten Geist finde, muss ich ihn etwas beruhigen. Wenn der Geist einfach so in seiner
Weite ist, frisch und klar, dann brauche ich gar nichts zu tun.

Wenn wir nicht so recht wissen, wie es ist, dann ist es kein Fehler, einfach dem Atem zu folgen, ein- und
ausatmen ganz entspannt und mit wachem Interesse. …

Waches Interesse bedeutet: so als würde ich zum ersten Mal atmen. …

Bei diesem wachen Interesse achte ich darauf, dass es entspannt bleibt. Eine schöne Art, das zu tun ist, es
einfach zu genießen, so wach bewusst zu sein.

Immer mal wieder schaue ich, ob der Geist etwa braucht: eine gewisse Stimulation oder ob ich ihn eher be-
ruhigen sollte und etwas entspannen und weiten. Das ist ein ganz feines Steuern, eine Feinjustierung. So wie
beim Fliegen eines Adlers, der seine weitausgebreiteten Flügel sanft korrigiert, sanft anpasst und fast an-
strengungslos segelt. …

Vielleicht merke ich auch, dass die Energien etwas zu weit oben sind, ich ein wenig zu sehr mit dem Kopf
meditiere. Da kann ich mehr vom Herzen her atmen, den Bauch spüren, die Tiefe des Beckens. …

Immer mehr öffne ich mich der jetzigen Erfahrung. Zulassen, annehmen, fließen lassen. …

Alles Unnötige lassen wir weg. Je einfacher desto besser. …

Einfaches Sein, natürlich, entspannt - braucht es dafür jemanden? Braucht es mich dafür, ein Ich, oder geht
das auch ohne? …

Es ist mein Eindruck, dass ihr durch die Erklärungen schon etwas geschickter geworden seid in diesem fei-
nen Justieren eurer Praxis. Ich habe verschiedene Bewegungen wahrgenommen, ein bisschen mehr Stimula-
tion, ein bisschen mehr Entspannen, ein bisschen feines Verlagern von oben nach unten. Genau darum geht
es.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 79

Abschließende Zitate
Ich schließe hier noch mit ein paar Zitaten dieses Kapitelchen ab.

Kamalashila schreibt in seinem ersten Band zu Bhāvanākrama:

Wenn wir bemerken, dass unser Geist etwas aufgewühlt wird, wenn wir uns an nette Ereignisse, Wit-
ze, Spiele aus der Vergangenheit usw. erinnern, dann denke gleich an die Vergänglichkeit und an an-
dere Dinge, die dir helfen, die Faszination dafür aufzugeben, loszulassen. Also etwas, was eine gelöste
innere Haltung bewirkt.

Hier wird oft das Wort Entsagung benutzt. Aber Entsagung ist etwas, was auf Weisheit beruht und was dazu
führt, dass wir dort, wo wir vorher festgehalten haben, einen gelösten Geist erfahren. Darum geht es eigent-
lich. Wenn du also merkst, du verwickelst dich in angenehmen Geschichten, Erinnerungen, dann hilf dir da-
bei auch damit, ganz gelöst und offen zu sein. Sie sind deswegen nicht weniger schön, nur verstricken wir
uns nicht darin.

Wenn wir so unsere Faszination für die Tagträume, die Gedanken, die Erinnerungen aufgelöst haben, bleiben
wir wirklich in unserem Bezug, das worauf wir meditieren ohne irgendwelche Vorstellungen zu kultivieren.

Geistesruhe: was wir gerade eben praktiziert haben, nennt man Geistesruhe. Es kommt ohne Vorstellungen
aus. Erleben braucht nicht noch zusätzliche Kommentare, Vorstellungen usw. Erleben findet einfach statt in
einer solchen Einfachheit, ganz von selbst. Tatsächlich braucht es uns nicht dazu. Gewahrsein braucht kein
Ich, um gewahr zu sein. Das Leben braucht kein Ich, um sich zu vollziehen. Die Kommentare usw., die
Stimmen, die dazu kommen: ja, dazu braucht es Ich-Bezogenheit, nur dann tauchen sie auf.

Aus dem Text „Die Essenz des mittleren Weges“: Was nun die Ablenkungen angeht und ihre entspre-
chenden Ursachen oder Zeichen, sammle den Geist oder sammle dich, indem du ihre Nachteile be-
trachtest.

Wir sehen, dass unser Geist abgelenkt ist. Dann schauen wir hinein: wieso ist er eigentlich abgelenkt. Die
Ursache: wieso? Welche Form von Identifikation und welche Form von Faszination spielen da eine Rolle?
Und dann kontempliere ich, welchen Nachteil dieses Muster hat, diese Art, sich mit der Wirklichkeit in Be-
ziehung zu setzen. Ich kontempliere, was für einen Nachteil es hat, sich auf diese Art und Weise zu verstri-
cken. Dadurch kultiviere ich ein weises Verständnis von den Ursachen und Wirkungen, die in meinem Geist
aktiv sind. Dieses weise Erkennen davon, dass es mir gar nicht gut tut, bewirkt, dass ich davon ablasse.

Dieser Prozess kann sehr schnell gehen. Ich habe ein Projekt, in der Meditation tauchen Gedanken über die-
ses Projekt auf. Ich merke, die Ursache davon ist: ich nehme mich ganz wichtig in diesem Projekt. Eigentlich
gibt es da gar nichts zu lösen. Es ist nur, dass es mich in meiner Ich-Bezogenheit stimuliert, immer wieder
daran zu denken, was für ein Ding das ist und wie das kommt.

Dann merke ich, das tut mir nicht gut. Das Projekt braucht es nicht, ich brauche es nicht, tut mir nicht gut -
und vielleicht dann noch die Frage: wer nimmt sich da so wichtig? Damit geht der Ausstieg über Weisheit,
ein weises Erkennen; tut mir nicht gut, es geht auch anders. So kann man es bei jeder inneren Verwicklung
machen, wenn wir wieder mal unseren Anhaftungen auf den Leim gehen.

In dem Text Prajnaparamita-Samcayagatha heißt es: Wenn unser Geist aufgewühlt ist, vertreibe diese
Wildheit durch Geistesruhe.

Einfach gesagt. Beim Handeln und auch beim Meditieren können wir der Ablenkung dadurch entgegenwir-
ken, dass wir unsere Sinne kontrollieren. Das ist etwas, was ihr vielleicht auch noch lernen möchtet. Die Sin-
ne kontrollieren - das kann man erst mal ganz wörtlich nehmen.

Meine stärkste persönliche Erfahrung war die Zeit in Indien mit den unglaublichen Menschenmengen, die
sich über die Straßen bewegen. Ich erinnere mich, wie ich Gehmeditation inmitten von Kalkutta gemacht
habe, unter Tausenden von Menschen, die mir entgegenströmten und die mit mir strömten. Sinne kontrollie-
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.80

ren bedeutet, dass man den Blick, also den visuellen Sinn, wirklich zum Beispiel vor sich hält und nicht
überall herumguckt.

Ich hatte das vorher in Bodhgaya geübt beim Gehen durch die Reisfelder. Das war einfach. Gehmeditation in
diesem zweiwöchigen Vipassanaretreat, das ich da machte: da hatte ich dies geübt. Dann war die nächste
Etappe die Millionenstadt Kalkutta und dort habe ich das einfach weitergemacht: die Sinne kontrollieren, den
Blick ein wenig gesenkt halten, ganz wach bleiben, ganz präsent.

Ich machte die erstaunliche Erfahrung, dass ich mitten in diesem Gewimmel über das bewusste Kontrollieren
des visuellen Sinnes tiefe Geistesruhe erfahren konnte. Es ist sehr hilfreich, das zu lernen. Wir können das
auch mit dem Hören machen. Wir können anders als beim Sehen das Hören ja nicht abstellen. Die Augen
können wir schließen, die Ohren können wir nicht schließen.

Wir können uns aber zum Beispiel darin üben, beim Hören von Geräuschen die Stille mitzuhören, den
Klangraum mitzuhören oder die vergängliche, prozesshafte Natur der Geräusche mitzuhören. Nicht nur den
Klang selbst uns vergegenständlichen, sondern das An- und Abschwellen, die Dynamik im Hören mitzube-
kommen.

Oder wir können uns darin üben, ganz bewusst den Tönen die Aufmerksamkeit entziehen. Wir können sa-
gen: ich bleibe beim Körper, ich konzentriere mich auf meine Füße, auf meinen Bauch, auf meinen Rücken,
auf den Atem, auf was auch immer. Das nennt man Kontrollieren der Sinne. Wir steuern die Art des Wahr-
nehmens mit den Sinnen. Das führt dann dazu, dass sich unser Geist beruhigt.

Das sind Fähigkeiten, die viele von uns noch nicht wirklich entwickelt haben. Wir leiden ein wenig darunter,
dass uns die Sinne wie in Besitz nehmen. Wir fühlen uns den visuellen Eindrücken so ausgeliefert, sie stimu-
lieren uns ständig. Die Geräusche machen ständig etwas mit uns. Und wir haben auch Mühe mit den Körper-
empfindungen. Das sind die drei wichtigsten Sinne, von denen wir das Gefühl haben, dass sie uns ständig
dominieren, wir ihnen hilflos ausgeliefert sind.

Da empfiehlt es sich zu üben, die Aufmerksamkeit so zu platzieren und so auszurichten, dass es dazu bei-
trägt, den Geist zu entspannen, zu beruhigen und zu öffnen. Dazu gibt es viele Übungen.

Wir können uns dabei vorstellen, dass wir wie in Rekonvaleszenz sind, also wie ein Genesender nach einer
Krankheit. Wenn wir von einer Krankheit genesen, achten wir darauf, dass wir nicht gleich alles Mögliche
tun, sondern uns ein bisschen bremsen und vorsichtig sind, uns nicht zu überanstrengen; also ein Zuviel an
Aktivität vermeiden.

Es tut uns auch gut, wenn wir das ansonsten in der Aktivität machen. Wir neigen ja dazu, uns wie die be-
rühmten Zitronen auszupressen. Das heißt, wir holen im Normalfall das Maximum aus uns heraus, was dann
bei einigen von uns schon im Extremfall zum Burn-out geführt hat, aber sich oft einfach als Erschöpfung
zeigt. Jeden Abend, an den Wochenenden und in den Ferien - oft reichen drei Wochen Ferien nicht, um aus
der Erschöpfung rauszukommen.

Da hilft es, den ganzen Tag über bei allen Aktivitäten immer nur die minimale Anstrengung zu bringen, nicht
die maximale, gerade das, was nötig ist, und vieles Überflüssige wegzulassen wie ein Genesender, der zwar
zurück zum Arbeitsplatz kommt, aber noch in der ausklingenden Phase der Rekonvaleszenz ist und sich
schont.

Wir schonen uns, das ist eine Art der Selbstfürsorge. Wir schonen uns im Umgang mit den vielen Herausfor-
derungen der Welt und kultivieren dabei Präsenz, Geistesruhe, um herauszufinden, wo unsere wirkliche Be-
lastbarkeit liegt. Wo liegen eigentlich unsere Grenzen?

Je entspannter wir werden, desto mehr können wir tatsächlich leisten. Das ist der nächste Fallstrick für die
Praktizierenden. Durch die Dharmapraxis können wir uns noch besser ausbeuten. Das heißt: wir sind immer
entspannter, wir können sehr viel leisten und neigen dazu, genau diese Entspannung immer weiter einzuset-
zen, um immer noch mehr tun zu können. Aufgepasst, da können wir uns leicht mal übernehmen.

Natürlich ist es wichtig zu lernen, nicht an das zu denken, nicht in den Gedankenketten zu verweilen, die den
Geist immer noch weiter aufwühlen. Diese Fähigkeit, Gedankenketten, die uns nicht gut tun, zu stoppen, den
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 81

Geist auf etwas anderes zu lenken, brauchen wir unbedingt. Sonst werden wir nie frei sein. Das ist grundle-
gende Freiheit, den Geist dahin lenken zu können, wo wir ihn haben wollen.

Es hat mit Willen und Weisheit zu tun. Die Weisheit sieht, das tut mir nicht gut - und dann die Entschlossen-
heit, es zu lassen. Das bezieht sich auf die jetzt gerade stattfindende Gedankenkette, auf das, worüber ich
jetzt gerade nachdenke. Also das, was mich beschäftigt und was ich jetzt gerade nicht lösen kann, und wo es
sich nicht lohnt, jetzt darüber nachzudenken - da zu sagen: Schluss jetzt. Tut mir nicht gut, ich nehme mir
dafür später Zeit, aber jetzt nicht. Diese Fähigkeit zu sagen: jetzt nicht. Mit dieser Schneidebewegung wie
stopp, Schluss jetzt. Das braucht es. Es sind elementare Fähigkeiten, um innere Freiheit zu erleben.

Wir können auch unsere überschüssige Energie in Aktivitäten kanalisieren wie zum Beispiel Nieder-
werfungen.

Das ist eine heilsame Aktivität, die uns mit der Zuflucht und dem Bodhicitta verbindet und diese starke
Energie kanalisiert und ausrichtet.

Das machen viele von uns. Indem sie Sport treiben, um diese Energie ausdrücken zu können, loszuwerden.
Das können wir auch innerhalb des Dharma, dass wir aktive Dharmapraxis einbauen und nicht einfach nur
im Fitnesscenter sind und unsere Kilometer runter laufen oder uns abstrampeln, oder unsere Kilometer im
Schwimmbad hinter uns bringen. Wir verbinden diese Aktivitäten auch mit einer heilsamen Praxis.

Der erste Schritt wäre vielleicht, die Gehmeditation zu üben und dann das Gehen selbst mit Gewahrsein zu
verbinden, mit Achtsamkeit, eventuell mit Mantrarezitation, mit Meditationen zu verbinden, so dass wir die
Energien umsetzen und gleichzeitig den Geist schulen, kultivieren. Das können wir auf jede andere Aktivität
übertragen.

Wie gehen wir mit den subtileren Zuständen von Dumpfheit und Aufgewühltsein um? Wenn der Geist
schwerer, dumpfer wird, müssen wir ihn dynamisieren, stimulieren und ausrichten. Wenn er wilder,
aufgewühlter wird, ist die Reaktion immer, ihn zu entspannen und zu beruhigen, indem wir die be-
kannten Methoden anwenden.

Das ist der Schlusssatz von Tashi Namgyal. Das ist das Grundprinzip. Wird der Geist träge, muss ich für
Stimulation sorgen, ist der Geist aufgewühlt, muss ich für Entspannung sorgen.

Beim trägen Geist, dem dumpfen Geist, muss ich schauen, ob es nicht ein kaschiert aufgewühlter Geist ist.
Manchmal ist er ja einfach dumpf, weil er eigentlich innendrin noch hohl dreht, noch unglaublich am Rotie-
ren ist. Und man bekommt es kaum mit, so schnell und fein dreht er sich. Man merkt eigentlich nur, dass
man sich auf nichts konzentrieren kann. Da würde man auf einen dumpfen Geisteszustand auch mit Entspan-
nung reagieren, nicht stimulieren. Das müssen wir noch unterscheiden lernen.

Meistens ist es so, das ist meine Erfahrung als Meditationslehrer: wenn wir nicht wissen was tun, ist Ent-
spannung die erste Wahl. Immer mal mit Entspannen anfangen. Und wenn wir merken, das tut uns nicht gut,
dann können wir immer noch ein bisschen stimulieren. Aber eigentlich ist das Entspannen das Wichtigere.

Ich habe diese Formel im Moment, die ich benutze: alles was da ist zulassen, es annehmen und fließen las-
sen. Dieses Zulassen, Annehmen, Fließen lassen bewährt sich als eine sehr ausgeglichene Meditationsin-
struktion, um uns zu öffnen für alles, was ist; es nicht zu verdrängen. Damit schützen wir uns vor dieser par-
tiellen Geistesruhe, die irgendwo ihr Nest finden will. Wir lassen alles zu, wir öffnen uns im Annehmen und
lassen es aber so, wie es ist. Die Erfahrung davon, dass wir es fließen lassen: da ist schon die Betrachtung der
Vergänglichkeit, der Unbeständigkeit oder der prozesshaften Natur allen Geschehens mit dabei.

Dies ist ganz hilfreich, um erste Schritte in ein Gleichgewicht zu gehen. Meistens reicht das schon. Das wa-
ren die Erklärungen für heute.

Fragen
Teilnehmer/in: Ich spreche für die Fraktion, die sich überfordert fühlt. Ich fühle mich überfordert.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.82

Das kann ich dir nachempfinden. Ich kann nichts daran ändern. Du fühlst dich überfordert, einfach weil du
noch ziemlich am Anfang stehst und alles auf einmal kommt. Deshalb werden solche Texte wie dieser nor-
malerweise gar nicht unterrichtet. Was da helfen kann ist, wenn du dir sagst: okay, ich nehme es mal auf, es
wird irgendwann schon nützlich sein. Es wird in mir reifen und mir in Zukunft helfen, wie die Samen, die
aufgehen. Ich lasse es über mich ergehen.

Teilnehmer/in: Eine praktische Frage. Wie wir das geübt haben, unseren Geist entspannt, geöffnet haben
und wie diese Adlerschwinge… Wenn wir aus einem klassischen Vajrayāna Kontext kommen - ich denke, da
kann man vieles während der Mantraphase verwenden, auch in der aufbauenden Phase? Vielleicht kannst du
noch ein paar Worte zu diesem Thema sagen, wenn es sinnvoll ist.

Kurz, denn es wird später in dem Buch noch relativ ausführlich behandelt. Was du ansprichst mit der auf-
bauenden Phase, das ist das Visualisieren im Rahmen einer Vajrayāna Praxis. Zum Beispiel beim Zuflucht-
nehmen visualisieren wir den Zufluchtsbaum vor uns mit all den Buddhas, Lamas, Yidams usw., mit allen
Lebewesen um uns herum und wir gehen in diese Dynamik des Zufluchtnehmens hinein. Das sind zum Teil
sehr detaillierte Visualisationen und die sind in dem Fall unser Bezugspunkt.

Das heißt, wir würden darauf achten, dass wir unabgelenkt in diesem Feld der Visualisation bleiben. Der
Vorteil so einer großen Visualisation ist, dass wir uns in diesem Feld bewegen können. Wir müssen nicht
ständig bei dem zentralen Buddha Vajradhara bleiben. Wir können mal auf Milarepa kontemplieren, dann
sind wir vielleicht bei Tara, dann sind wir dabei, wie den Dharma innerlich zu hören, dann sind wir wieder
im Mitgefühl mit allen Lebewesen verbunden - wir bleiben aber in dieser heilsamen, stimulierenden Welt.

Das ist unsere Achtsamkeitsübung. Das wäre der Aspekt der Geistesruhe: unabgelenkt zu bleiben. Und der
Aspekt der Einsicht wäre, all das als geistige Projektionen zu durchschauen, als substanzlos. Und wahrzu-
nehmen, dass das alles erscheint, so klar, wie es ist, ohne irgendeine Substanz zu haben, und sich in dieser
Welt zu bewegen wie in einem Traum, den wir als Traum erkennen. Das ist der Aspekt der Einsichtsmedita-
tion. So kannst du das in jede Vajrayāna Praxis einbauen.

Teilnehmer/in: Ich finde es zum Teil sehr schwierig zu unterscheiden. Dieses Annehmen, Anschauen, wie mal
noch gefühlt werden, Altes zum Beispiel, - wann schneide ich es ab, weil es einfach eine Bestätigung vom Ich
ist? Wie finde ich besser heraus: wann ist es weise durchzuschneiden, um beim Objekt zu bleiben? Manch-
mal, wenn es immer wieder kommt, ist es wie noch nicht genug verdaut.

Verstehe ich gut. Du fängst jetzt die Mandalaopferung an, du bist in dieser Form von Praxis und dann merkst
du, da kommt zum Beispiel ständig wiederkehrend eine Trauer hoch: die sollte dann mal oder auch immer
wieder zum Hauptgegenstand deiner Meditation werden. Du versuchst nicht, sie abzuschneiden und ihr ir-
gendwie keinen Platz zu geben.

Du merkst, sie kommt immer wieder. Du machst sie dann auf geschickte Art zum Hauptgegenstand deiner
Praxis, indem du mit liebevollem Gewahrsein da hineingehst und diesen traurigen Geisteszustand erforschst,
seine Ursachen, die Ich-Bezogenheit, die darin zu finden ist, seine vergängliche prozesshafte Natur, die illu-
sorische Dimension dieses Gefühls, bis du ganz weise erkennend diesen Gefühlszustand kennst und ihn dann
auch lassen kannst.

Was wir manchmal versucht sind, Abschneiden zu nennen, dass wir ein Gefühl abschneiden, ist nie ein wirk-
liches Abschneiden, denn wir lassen es einfach nur. Wir geben kein Öl mehr ins Feuer. Wir brauchen irgend-
ein Gefühl, eine Emotion nie abzuschneiden, sondern nur nicht weiter zu nähren. Das wird immer offenkun-
diger, wenn wir uns mit diesen Gefühlszuständen beschäftigen, dass sie aufgrund von inneren Kräften, inne-
ren Bedingungen entstehen, und wenn sie nicht mehr genährt werden durch unser Interesse, unsere Identifi-
kation, sie sich im Nu auflösen.

Dazu braucht es aber, dass wir uns zwischendurch diesen Gefühlen ganz und gar zuwenden und sie nicht
einfach wegtun. Wenn wir das getan haben und dann merken, wir sind quasi routinemäßig identifiziert da-
mit, dann können wir auch sagen: nein! Jetzt lasse ich es einfach. Die haben schon genug Aufmerksamkeit
bekommen. Das sind jetzt Gewohnheitsmuster und im Moment brauche ich sie mir nicht näher anzuschauen.
Das entscheidet man je nachdem, ob man sich dem schon zugewendet hat oder nicht.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S. 83

Teilnehmer/in: Du hast das Thema Vertrauen erwähnt als essentielle Qualität, die auch mit der Erfahrung
wächst in Zusammenhang mit der Meditation. Ich muss gestehen, mir kommt es immer wieder abhanden und
es ist auch etwas, was ich lernen muss. Es kommt nicht so natürlich, ich muss es immer wieder fördern. Viel-
leicht kannst du zu dem Thema nochmal was sagen, wie wir das gut im Prozess auch der Meditation nutzen
können, egal ob Ruhemeditation der Einsichtsmeditation, als Qualität auf dem Weg.

Das Wichtigste erscheint mir, mit der Zeit ein Vertrauen in unseren eigenen Geist zu entwickeln, ein auf Er-
fahrung aufbauendes Vertrauen, dass unser Geist in sich und aus sich heraus einfach gut ist, er sich mit all
seinen Qualitäten zeigt, wenn wir entspannen. Da hast du schon Erfahrung. Diesen Erfahrungen zu vertrauen
ist wichtig, wenn wir uns wieder dabei ertappen, dass wir an uns selbst herumdoktern, wir uns in ein spiritu-
elles, meditatives oder sonst wie Korsett hineinzwängen. Das ist eigentlich nicht nötig. Ich kann mich in den
Geist hinein entspannen, so wie er ist. Ich habe schon die Erfahrung gemacht, dass immer dann, wenn er ent-
spannt ist, sich seine Qualitäten zeigen. Das ist die wichtigste Form von Vertrauen für das Meditieren.

Teilnehmer/in: Wenn sich der Kern einer Persönlichkeit bei näherer Erkenntnis als Illusion erweist, wer o-
der was entschließt sich, die geschickten Mittel einzusetzen?

Genau. Man würde jetzt als grobe Antwort geben: das sind die Weisheitskräfte in uns, das ist das weise Er-
kennen selbst. Du würdest nachfragen: aber wer erkennt denn da weise?

Beim genaueren Hinschauen merken wir, dass die Erkenntnisprozesse keinen Wesenskern, kein Ich im Zent-
rum dieser Prozesse haben; dass tatsächlich ein Erkennen, Verstehen entstehen kann so wie beim Sehen und
Hören, ohne dass sich ein Ich zeigen muss, das dieses Gesehene, Gehörte erkennen kann; dass diese Prozesse
spontan ablaufen durch das Zusammenwirken der Kräfte der Erfahrung, das Unterscheidungsvermögen und
der Konzentration usw.; diese Kräfte, die zusammenwirken und ein Verständnis bewirken.

Da würden wir sagen, dass das, was entscheidet, was wir Willen nennen, auch nicht Ausdruck eines konkre-
ten soliden Ichs ist oder sind, sondern es sich um ein prozesshaftes Ich handelt, in dem Kräfte aktiv sind, die
sich ständig wandeln und weiterentwickeln. Also in diesem prozesshaften Ich finden Lernprozesse statt. Wir
beginnen nicht ständig neu, sondern ein Lernen findet statt, ohne dass es eine zentrale Kontrollinstanz gibt,
die das alles beherrschen oder besitzen würde.

Es ist sehr erstaunlich zu entdecken, wie wir spontan lernen, wie wir spontan handeln können - spontan in
dem Sinne, ohne dass es jeweils einen Impulsgeber braucht, ein Ich, das sagt: und jetzt bitte dies und jetzt
das. Wir eigentlich umso besser, umso effektiver handeln, sprechen, etwas verstehen können, je weniger Ich
im Spiel ist.

Für mich war das immer ganz krass im Sport. Da sind unglaubliche Erfahrungen möglich in den Momenten,
wo wir gar nicht an uns selbst denken, wo diese Ich-Bezogenheit wegtritt. Oder beim Sprechen mit Men-
schen, beim Austausch mit Menschen. Auch beim Sprechen vor größeren Menschenmengen ist es so: je
mehr Ich - desto schwieriger. Je offener, je weniger Ich-Bezogenheit. Wenn die inneren Kräfte auf schöne
Art aktiv sein können, ohne gehindert zu werden, ist das umso einfacher.

Da kannst du nochmal ein bisschen hineinschauen. Wir können schon von einem Prozess-Ich sprechen, was
die Summe all dieser Qualitäten und Fähigkeiten ist, die wir normalerweise dem Ich zuordnen - wobei der
Irrtum auftaucht, dass es sich um ein stabiles Ich handeln würde.

Wenn dich das mehr interessiert, dann schlag doch mal das Kapitel in dem Buch „Buddhistische Psycholo-
gie“ auf, das ich kürzlich mit Wolfgang herausgegeben habe. Ich glaube, es ist das Kapitel G, wenn ich mich
richtig entsinne, über Ich-Stärke und Nicht-Selbst. Da findest du eine ausführliche Antwort zu deiner Frage.

Teilnehmer/in: Ich habe eine Frage über Offenheit, so offen zu bleiben. Für mich ist es immer eine Heraus-
forderung, diese Offenheit im Alltag, bei jeder Kleinigkeit, in der Küche oder wenn man die Arbeit erledigt.
Oft kommen mir Sachen entgegen, wo man ein bisschen schockiert ist, und man möchte im meditativen Zu-
stand bleiben, friedlich: so ist es und so weiter. Da drücke ich mich ein bisschen, mit Offenheit und dem
Nehmen, wie es ist.
Mondstrahlen des Mahāmudrā Lama Tilmann, Raitenbuch, April 2017, S.84

Vielleicht hilft dir da ein etwas anderer Zugang. Du hast offenbar eine Vorstellung, es könnte etwas leichter
gehen, diese Handlung im Alltag. Mir hilft es in solchen Situationen, wo es etwas blockiert, etwas hapert,
mich nicht so wichtig zu nehmen im Tun und zu schauen, darüber dass ich mich darin nicht so wichtig neh-
me, wieder in diese Geschmeidigkeit zu finden, diese innere Beweglichkeit.

Die Geschmeidigkeit ist: ach, egal?

Es ist nicht egal, das hört sich nicht so gut an. Erzähl mal.

Allgemein im Austausch mit Menschen. Ich ärgere mich darüber, dass ich mich ärgere. Ich möchte einfach
locker, liebevoll…Ja! und besonders, wenn in der Meditation über loving care und compassion angeleitet
wird, bekomme ich die Krise.

Wir müssten vielleicht länger darüber sprechen. Wenn ich mich ärgere, mache ich den Ärger nicht weg, son-
dern ich ärgere mich und tue es trotzdem. Ich ärgere mich und das darf sein, aber es wird nicht weiter be-
dient, ich mache weiter. Ich gebe dem nicht diese Wichtigkeit und damit nicht mir in diesem Ärger diese
Wichtigkeit. Der darf sein, aber ich mache es trotzdem.

Das ist nur eine Teilantwort. Es ist eine riesengroße Frage, die du stellst, und wahrscheinlich sind die Punkte,
an denen du arbeiten könntest, etwas subtiler als das, was ich jetzt gerade so erspüre. Das reicht schon?
Okay.

Teilnehmer/in: Mit dem Thema mich nicht so wichtig zu nehmen - du hattest beim Kontrollieren der Sinne
gesagt, Überflüssiges weglassen wie bei der Schonung in einer Rekonvaleszenz. Meine Frage ist jetzt, wenn
ich mich reinmanövriert habe in „Ich nehme mich so wichtig“ und komme in eine Enge und Angst hinein:
das darf ich nicht mehr, das muss ich essen, das Überflüssige weglassen... Wie kann ich unterscheiden, wo
ist wirklich etwas überflüssig, wo nehme ich mich zu wichtig oder gehe tatsächlich in eine Ängstlichkeit, in
einen Schutz, in eine Enge hinein?

Verstehe ich das richtig, dass diese Unterweisung, sich wie jemand in der Genesung zu verhalten, sich wie
Protektionismus auswirken könnte, in eine angstvolle Schutzhaltung umschlagen könnte?

Ja, in die Richtung geht es.

Wenn ich mich so verhalte, dass ich das Überflüssige weglasse und zum Beispiel auch nicht Verantwortung
an mich reiße, sondern delegiere und andere machen lasse und mich nicht immer so in den Mittelpunkt stelle,
dann erlebe ich dies als erleichternd und erweiternd, während die Schutzhaltung aus Angst mich eng macht.
So kannst du das unterscheiden. Du schaust, wie du dich innerlich fühlst, ob du dich bei der Haltung öffnest
oder eng wirst.

Und wenn ich schon eng bin, wie komme ich wieder heraus?

Indem du schaust, was diese Enge bewirkt und mit diesem liebevollen Gewahrsein dahin gehst.

Also praktisch in der Meditation auf die Enge schauen.

Ja, Enge bedeutet normalerweise Angst, bedeutet Hoffnung und Furcht, etwas beschäftigt mich da. Da
schaue ich hinein. Da mache ich ein bisschen Schattenforschung.

***

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