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Gérard Bless

Wirkungen der schulischen Integration


auf Schülerinnen und Schüler

Zusammenfassung
Auf der Grundlage bisheriger empirischer Forschungsergebnisse wird eine Wissenskarte zur Frage nach den Wirkun-
gen der schulischen Integration auf die Schülerinnen und Schüler skizziert. Dabei geht es einerseits um den Vergleich
zwischen Integration und Aussonderung und andererseits um die Wirkungen innerhalb der Regelklasse. Diese Wis-
senskarte basiert auf diversen Forschungsübersichten, Metaanalysen sowie einzelnen Untersuchungen und bietet ei-
nen globalen Überblick zum Stand sowie zu bestehenden Wissenslücken der Integrationsforschung. Daraus lassen
sich Perspektiven für künftige Forschungen ableiten.

Résumé
Une carte du savoir concernant les effets de l’intégration sur les élèves est dressée sur la base de recherches empi-
riques réalisées à ce jour. La comparaison des effets entre l’intégration et la séparation ainsi que les effets à l’inté-
rieur des classes régulières sur les enfants ayant des besoins éducatifs particuliers sont présentés. La carte du savoir
esquissée se base sur des revues de l’état de la recherche, des méta-analyses ainsi que sur des études individuelles
et propose une vue d’ensemble du savoir mais également des lacunes. Quelques perspectives pour les recherches fu-
tures sont proposées.

Der vorliegende Beitrag ist dem Artikel «In- gründig sozialpolitisch versteht, wird sich
tegrationsforschung: Entwurf einer Wissens- vor allem mit rechtlichen und ethischen
karte», welcher in der Zeitschrift für Heilpä- Argumenten auseinandersetzen. Letztge-
dagogik (Bless, 2017) veröffentlicht wurde, nanntes ist in der Inklusionsdebatte mehr-
entnommen und fokussiert auf die Wirkun- heitlich der Fall. Inklusion wird als Recht
gen der Integration auf die Schülerinnen vertreten und das empirische Wissen spielt
und Schüler. Auf die Darstellung anderer nur eine nachrangige Rolle. Die erstge-
Forschungsergebnisse, zum Beispiel zu den nannte pädagogische Sichtweise kann
Einstellungen von Lehrpersonen und Eltern, durchaus als pragmatische Sichtweise be-
zu mittel- bis langfristigen finanziellen, or- zeichnet werden. Doch was macht nun das
ganisatorischen, schul- und gesellschafts- Wesen dieser pädagogischen Massnahme
politischen Entwicklungen und Konsequen- aus?
zen sowie zur konkreten Gestaltung der a) Der durch die gemeinsame Schulung am
schulischen Integration wird aus Platzgrün- Wohnort des Kinds ermöglichte soziale
den verzichtet. Austausch wird zum Motor des schuli-
schen und sozialen Lernens in der allge-
Wer schulische Integration in erster Linie meinen Schule. In diesem Raum werden
als pädagogische Massnahme versteht, alle Beteiligten auf eine Gesellschaft mit
kommt nicht umhin, nach empirischem optimaleren Teilhabechancen in ver-
Wissen über die Wirksamkeit dieser Mass- schiedenen Bereichen des gesellschaftli-
nahme zu suchen. Wer Integration vorder- chen Lebens vorbereitet.

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b) Es wird davon ausgegangen, dass die mentation der schulischen Integration so-
Mitschülerinnen und Mitschüler mit ei- wie für die Bewertung bereits existierender
nem typischen Entwicklungsverlauf über oder künftiger integrativer Schulformen
die möglich gewordenen Interaktionen dienen. Werden diese wenigen Grundprin-
genauso die Entwicklung der integrier- zipien in die Schulpraxis umgesetzt, so ist
ten Kinder unterstützen und anregen bereits ein beachtlicher Schritt in Richtung
wie die erwachsenen Lehr- und Fachper- einer integrationsfähigeren Schule getan.
sonen. Im Folgenden wird eine Wissenskarte
c) Zentral ist die Vermeidung der sozialen zur Frage nach den Wirkungen der schuli-
Entwurzelung aus dem Wohnumfeld der schen Integration skizziert. Anhand dieser
Schülerinnen und Schüler. Die Zukunft sollen sowohl das derzeit vorhandene Wis-
und somit der Lebensmittelpunkt der sen als auch die Wissenslücken aufgezeigt
Kinder mit besonderem Unterstützungs- werden. Die Bewertung der Forschungser-
bedarf dürften im Erwachsenenalter gebnisse erfolgt unter Berücksichtigung der
mehrheitlich entweder am selben Ort oben genannten Prinzipien. Da die Fülle an
oder zumindest in geringer Entfernung relevanten Studien unterdessen sehr gross
des Wohnumfelds liegen. Die Festigung ist, kann hier kein Anspruch auf Vollständig-
der sozialen Bezüge am Wohnort bereits keit eingelöst, wohl aber ein informativer
während der Schulzeit ist somit von Überblick geboten werden. Als Quellen
grosser Relevanz. werden zumeist – aber nicht ausschliesslich
d) Die durch die Realisierung der Integra- – Überblicksarbeiten herangezogen. Auf
tion leicht steigende Heterogenität der die Nennung jeder einzelnen Untersuchung
Schülerinnen- und Schülerschaft erfor- muss verzichtet werden.
dert individualisierte pädagogische
Vorgehensweisen in Bezug auf die Un-
Die Festigung der sozialen Bezüge am
terrichtsgestaltung und -methodik,
Wohnort bereits während der Schulzeit
Lerninhalte und -ziele, aber auch hin-
sichtlich der Leistungsbeurteilung von ist von grosser Relevanz.
Schülerinnen und Schülern.
Vergleich zwischen Integration
Qualitativ gut realisierte schulische Integra- und Separation
tion berücksichtigt folgende Grundprinzipi- Bisher wurde im Rahmen der Integrations-
en: die Garantie einer adäquaten Förderung forschung am häufigsten die Situation von
aller Kinder, den Besuch einer öffentlichen Kindern mit Lernbehinderungen untersucht,
Schulklasse am Wohnort, die Akzeptanz deutlich weniger häufig jene von Kindern
und Toleranz gegenüber Andersartigkeit mit intellektuellen Beeinträchtigungen und
und gegenüber der natürlichen Heterogeni- nur selten jene von Kindern mit anderen För-
tät aller, das Angebot besonderer Massnah- derschwerpunkten (vgl. Tab. 1). Zahlreiche
men vor Ort in der Schule und – falls not- Forschungsarbeiten zeigen auf, dass im
wendig – auch ausserschulische Massnah- Rahmen der Integration mindestens gleich
men wie beispielsweise der Transport oder gute, häufig jedoch grössere Fortschritte in
die Entlastung der Eltern. Diese Prinzipien der Lernentwicklung erzielt werden als in
können als Referenzrahmen für die Imple- Sonderschulen oder Sonderklassen (Baker,

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Wang & Walberg, 1995; Bless, 2000; Bless, & Mohr, 2007; Elbaum & Vaughn, 2001,
2007; Bless & Mohr, 2007; Carlberg & Kava- 2003; Avramidis, 2013). Bei integriert be-
le, 1980; Fisher, Roach & Frey, 2002; Free- schulten Kindern mit Hörbehinderung ist
man & Alkin, 2000; Lindsay, 2007; Peetsma das allgemeine Selbstkonzept tiefer als bei
et al., 2010; Ruijs & Peetsma, 2009; Sermier separiert beschulten. Im Gegensatz dazu ist
Dessemontet, Bless & Morin, 2012; Szumski die Befundlage bei Kindern mit Körperbe-
& Karwowski, 2014; Wang & Baker, 1985, hinderung genau umgekehrt (Bless, 2007,
1986). Dieser Vorteil ist bei Kindern mit S. 43). Weitere Forschungsarbeiten sind hier
Lernbehinderungen ausgeprägter als bei erforderlich, da je nach Aspekt des Selbst-
Kindern mit intellektuellen Beeinträchtigun- wertgefühls und je nach Art des Unterstüt-
gen. Bei Kindern mit Verhaltensauffälligkei- zungsbedarfs die Wirkungen unterschied-
ten zeigt die Forschungslage bezüglich der lich sein dürften.
Lernfortschritte keinen Vorteil der Integrati- Die Langzeitwirkungen der schuli-
on (Lindsay, 2007; Ellinger & Stein, 2012). schen Integration beziehungsweise der Se-
paration auf die Lebenssituation junger Er-
wachsener sind selten untersucht worden
Sobald die Kinder mit Lernbehinderung
und betreffen vor allem Personen, die als
den Schonraum der Sonderklasse verlassen,
Schülerinnen und Schüler als «lernbehin-
sinkt das Begabungskonzept. dert» galten. Die Arbeiten von Blöchlinger
(1991), Hauer (1990), Riedo (2000) sowie
Das Begabungskonzept von integriert be- Eckhart et al. (2011) legen unter anderem
schulten Kindern mit Lernbehinderungen ist Vorteile der integrierten Schulung in Bezug
tiefer als jenes ihrer Mitschülerinnen und auf die berufliche Ausbildung und die Er-
Mitschüler ohne Beeinträchtigung und auch werbstätigkeit nahe. Die Separation in den
als jenes von vergleichbaren Kindern in Son- Schonraum der Sonderklasse zur Vorberei-
derklassen oder Sonderschulen (Bless, tung der nachschulischen Lebenssituation
2000; Bless, 2007; Bless & Mohr, 2007; Ve- scheint die diesbezüglichen Erwartungen
netz et al., 2012). Dieses Resultat ist jedoch weniger gut zu erfüllen als die integrierte
mit grosser Wahrscheinlichkeit kein päda- Schulung. Zudem kann aufgrund der be-
gogisches Ergebnis, sondern eine Konse- scheidenen Forschungslage in Bezug auf
quenz der Referenzgruppe, mit der sich das die Entwicklung diverser Merkmale der Per-
Kind täglich vergleicht. Mit dem Fragezei- sönlichkeit von Kindern mit Lernbehinde-
chen in Tabelle 1 wird deshalb angedeutet, rungen nach wie vor keine Aussage ge-
dass dieser Befund nur a priori gegen die In- macht werden (Bless, 2007).
tegration spricht. Das Begabungskonzept Obwohl aus Gründen der Evidenz sel-
kann in der Sonderklasse vermutlich allein ten in Publikationen explizit darüber berich-
aufgrund des Bezugsgruppeneffekts hoch- tet wird, zeigt die Analyse der Untersu-
gehalten werden. Sobald die Kinder den chungsstichproben verschiedener For-
Schonraum der Sonderklasse verlassen, schungsarbeiten (Haeberlin et al., 1999;
sinkt das Begabungskonzept wieder. Bless, 2007; Sermier Dessemontet, Benoit &
Zum allgemeinen Selbstkonzept ist die Bless, 2011), dass schulische Integration er-
Befundlage bei Kindern mit Lernbehinde- wartungsgemäss wohnortnahe Schulung
rungen widersprüchlich (Bless, 2007; Bless in grossem Ausmass ermöglicht und somit

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Tabelle 1: Wirkungen auf Schülerinnen- und Schülerebene:


Vergleich zwischen Integration und Separation

Intellektuelle Beeinträchtigung

Sprach- und Sprechstörung


Wirkungen auf Schülerinnen- und Schülerebene:
Vergleich zwischen Integration und Separation

Verhaltensauffälligkeit

Körperbehinderung
Legende: + zu Gunsten der Integration

Lernbehinderung

Hörbehinderung
Sehbehinderung
– zu Ungunsten der Integration
= weder für noch gegen die Integration

Allgemein
zuverlässige Forschungslage
mehr Forschung ist erforderlich
Forschungslücke

Lernentwicklung =/+ =/+ –/= = +

Begabungskonzept –?

Allgemeines Selbstkonzept = + –

Langzeitwirkungen +

Diverse Persönlichkeitsmerkmale =

Wohnortnahe Schulung + + +

Adaptive Kompetenzen =/+

Soziales Netz ausserhalb des Schulkontextes +

einer sozialen Entwurzelung aus der natür- Die Forschungslage weist darauf hin, dass
lichen Wohnumgebung entgegenwirkt. Im integriert beschulte Kinder mit einer intel-
Rahmen der individuellen Integration in ei- lektuellen Beeinträchtigung mindestens
ne Regelklasse ist die Häufigkeit der wohn- ebenso gute bis bessere Fortschritte in Be-
ortnahen Schulung deutlich höher als bei zug auf ihre adaptiven Fähigkeiten erzielen
der schulischen Integration in Integrations- als vergleichbare Kinder in Sonderklassen
klassen mit mehreren Kindern mit einem oder Sonderschulklassen. Die adaptiven Fä-
sonderpädagogischen Unterstützungsbe- higkeiten sind beeinflussbar und bilden ein
darf. Zudem ist davon auszugehen, dass je wichtiges Diagnosekriterium der intellektu-
seltener eine Behinderungsform ist, desto ellen Beeinträchtigung. Insgesamt ist von
häufiger die schulische Integration wohn- einer Pattsituation mit Hinweisen auf einen
ortnah realisiert wird. Ausser für Kinder mit leichten Vorteil der integrativen Beschulung
Lernbehinderungen oder intellektuellen Be- auszugehen (Sermier Dessemontet, Benoit
einträchtigungen liegen keine nachprüfba- & Bless, 2011; Sermier Dessemontet, Bless
ren Daten vor. Im Hinblick auf die Zielset- & Morin, 2012).
zung optimaler Teilhabechancen am gesell- Eine Untersuchung zeigt, dass sich die
schaftlichen Leben dürfte die mit der Inte- Schulungsart auch auf das soziale Netz aus-
gration verknüpfte wohnortnahe Schulung serhalb des schulischen Kontexts auswirkt.
mittel- bis langfristig von entscheidender Integriert beschulte Kinder mit Lernbehin-
Bedeutung sein. derungen scheinen ein signifikant aktiveres

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Freizeitverhalten mit einem grösseren sozi- ihre Mitschülerinnen und Mitschüler mit ei-
alen Austausch und einem geringeren Me- nem typischen Entwicklungsverlauf (Avra-
dienkonsum als separiert beschulte Kinder midis, 2013; Baker & Bosman, 2003; Bless,
aufzuweisen (Grimaudo, 2012). Diese Un- 2000; Bless & Mohr, 2007; de Boer et al.,
tersuchung ist erwähnenswert, weil sie im 2013; Ellinger & Stein, 2012; Huber, 2009;
Hinblick auf die mittel- bis langfristige Ziel- Huber & Wilbert, 2012; Kavale & Forness,
setzung der schulischen Integration auf- 1996; Ruijs & Peetsma, 2009; Schwab,
zeigt, dass eine Vermeidung der sozialen 2014). Dieses negative Resultat scheint sich
Entwurzelung auch im ausserschulischen jedoch nicht bei Kindern mit einem anderen
Kontext einen besseren sozialen Austausch Unterstützungsbedarf zu zeigen. Die For-
zu bewirken scheint. schungsergebnisse decken hier eine grosse
Werden die in Tabelle 1 dargestellten Herausforderung für die Integration auf.
hellgrauen Felder betrachtet, so sprechen Zurbriggen und Venetz (2016) zeigen zu-
diese zurzeit weder für noch gegen die Inte- dem, dass soziale Partizipation negativ mit
gration. In einigen Bereichen deuten sich in- Verhaltensauffälligkeiten verknüpft ist. Si-
tegrationsstützende Befunde an. Insgesamt tuationen des gemeinsamen Lernens schei-
ist die Anzahl bisheriger Untersuchungen nen positiver als Einzelsituationen erlebt zu
aber noch zu gering, um Ergebnisse genera- werden. Das Ausmass sozialer Partizipation
lisieren zu können. Die zahlreichen farblos steht zudem in positiver Beziehung zum ak-
gebliebenen Felder deuten auf Forschungs- tuellen Erleben im Unterricht.
lücken hin.
Ein zentrales Ergebnis betrifft die Tatsache,
Die direkten Auswirkungen der Integration dass die Mitschülerinnen und Mitschüler
mit einem typischen Entwicklungsverlauf in
auf Kinder mit sonderpädagogischem
Bezug auf ihre Lernfortschritte durch die In-
Förderbedarf sind insgesamt als vorteilhaft tegration von Kindern mit sonderpädagogi-
einzustufen. schem Unterstützungsbedarf nicht ge-
bremst werden (Bless & Klaghofer, 1991;
Vergleich innerhalb von Klassen Bless, 2007; Sermier Dessemontet & Bless,
der Regelschule 2013; Farrell et al., 2007; Kalambouka et al.,
In Tabelle 2 werden Forschungsergebnisse 2007; Ruijs & Peetsma, 2009). In Tabelle 2
bewertet, die die Wirkung der Integration werden die Ergebnisse zur Lernentwicklung
innerhalb der Klassen in Regelschulen un- der Mitschülerinnen und Mitschüler mit ei-
tersuchen. Am häufigsten hat sich die For- nem «+» gekennzeichnet, da sie einem in-
schung bisher mit der sozialen Akzeptanz tegrativen Vorgehen nicht widersprechen.
beziehungsweise der sozialen Partizipation
der Kinder mit sonderpädagogischem Un- Schlussbemerkungen
terstützungsbedarf befasst. Kinder mit ei- Der vorliegende Forschungsüberblick zeigt,
ner Lernbehinderung oder Verhaltens- dass das empirische Wissen über die Wir-
schwierigkeiten und teilweise auch Kinder kung der Integration im Vergleich zur Sepa-
mit einer intellektuellen Beeinträchtigung ration vor allem für die Kinder mit Lernbe-
erfahren im Rahmen der integrativen Schu- hinderungen und etwas weniger deutlich
lung eine geringe soziale Akzeptanz durch für Kinder mit einer intellektuellen Beein-

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Tabelle 2: Wirkungen auf Schülerinnen- und Schülerebene:


Vergleich innerhalb von Klassen der allgemeinen Schule

Intellektuelle Beeinträchtigung

Sprach- und Sprechstörung


Wirkungen auf Schülerinnen- und Schülerebene:
Vergleich innerhalb von Regelklassen

Verhaltensauffälligkeit

Körperbehinderung
Legende: + zu Gunsten der Integration

Lernbehinderung

Hörbehinderung
Sehbehinderung
– zu Ungunsten der Integration
= weder für noch gegen die Integration

Allgemein
zuverlässige Forschungslage
mehr Forschung ist erforderlich
Forschungslücke

Soziale Akzeptanz, soziale Partizipation =/+ – –/= – = = =

Wirkung auf die Lernentwicklung der Mitschülerinnen + + +


und Mitschüler

trächtigung sehr zuverlässig ist; dies in Be- Die tabellarischen Darstellungen verdeutli-
zug auf die Lernentwicklung, das Bega- chen, dass sich die Forschung einerseits
bungskonzept, die adaptiven Kompeten- vorrangig mit jenen Populationen befasst
zen, die soziale Akzeptanz und die Wirkung hat, die am ehesten integriert beschult wur-
auf die Mitschülerinnen und Mitschüler. Et- den und werden. Zudem wurden jene For-
liche Lücken bestehen diesbezüglich für schungsfragen häufiger untersucht, deren
Schülerinnen und Schüler mit anderen För- abhängige Variablen forschungstechnisch
derschwerpunkten. Für Populationen mit «leicht» zu erheben sind. Dass zuerst das
einer geringen Prävalenz ist es äusserst Machbare und Einfachere untersucht wird,
schwierig, einerseits gute Stichproben zu sofern die Forschungsfragen relevant sind,
finden und andererseits mögliche Störvari- ist verständlich. Wichtige Perspektiven für
ablen wirkungsvoll zu kontrollieren. Metho- die künftige Integrationsforschung bilden
disch sauber durchgeführte empirische Ein- einerseits Fragestellungen über die Lang-
zelfallstudien bilden hier eine Alternative. zeitwirkungen der Integration beziehungs-
Die direkten Auswirkungen der Integration weise Separation bis ins Erwachsenenalter
auf Kinder mit sonderpädagogischem För- sowie Forschungsfragen im Bereich der
derbedarf sind im Vergleich zur Separation konkreten und wirkungsvollen Gestaltung
insgesamt als vorteilhaft einzustufen. Die der integrativen Praxis, obwohl hierzu
mangelnde soziale Akzeptanz vor allem von schon einige Untersuchungen existieren.
Kindern mit Lernbehinderungen oder Ver- Andererseits sollte auch die Bearbeitung
haltensauffälligkeiten innerhalb der Regel- von Forschungsfragen, die den Rahmen der
klassen ist hingegen negativ zu bewerten. Schule verlassen und gesellschafts- und so-
Hierzu sind Forschungsarbeiten gefragt, zialpolitische Entwicklungen und Konse-
welche nach Lösungen zur Verbesserung quenzen der schulischen Integration bezie-
der sozialen Akzeptanz suchen (z. B. Huber, hungsweise der Separation untersuchen,
2011; Huber, Gebhardt & Schwab, 2015). vermehrt in den Vordergrund rücken.

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Prof. Dr. Gérard Bless


Direktor des Heilpädagogischen Instituts
der Universität Freiburg
Petrus-Kanisius-Gasse 21
1700 Freiburg
gerard.bless @unifr.ch

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