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TERESA MARGOLLES
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ÄSTHETIK DES FADENS
fische Gewalt in der Realität Mexikos, auf die Armut und das darin
aufflackernde Verbrechen mit seinen Opfern. Viel feiner jedoch gibt
sie einen Hinweis auf das Problem des Wertes und der Symboltaug-
lichkeit von Dingen. Die Frage lautet: Was wird aufbewahrt, was
wird dem Müll und damit dem Vergessen überantwortet? Die in die
Fäden eingesickerten Körperflüssigkeiten sowie die Mikroreste von
Haut zeigen, dass das, was Fäulnis und Schmutz war, nun zum
Symbol eines Augenblicks wurde, in dem die Zweckmäßigkeit der
Gerichtsmedizin mit einer pathetischen Kunstgeste pariert wurde.
Das Abgelebte wird noch einmal zum Scheinen gebracht und ihm
die Dignität einer Sichtbarkeit verliehen. Die realen Körperreste wie
auch die Fadenreste sind verstehbar als melancholische Symbole ei-
nes Nicht-Loslassens, einer Melancholisierung des toten Objekts: In
der Melancholie schwindet die Tatkraft zugunsten eines Eingeden-
kens, einer Versunkenheit ins Verlorene, die durch das Werk poten-
ziell verewigt wird.
Die Arbeit von Margolles ähnelt strukturell der Trophäe, die al-
lerdings auf der Gegenseite der Melancholie, auf der manischen Sei-
te des Todeszeremoniells zu finden ist. Auch die Trophäe stellt ja
das Tote in Gestalt von Leichenteilen (Geweihe, Köpfe, Zähne, Füs-
ße, Gebisse etc.) aus, um eine ruhmvolle Tat in die Erinnerung zu
heben. Die Beziehung zur Kunst erhellt sich vor allem mit Rück-
blick auf die ursprüngliche Bedeutung des altgriechischen Begriffs
des tropaion. Auf dem Schlachtfeld sammelte man Überbleibsel
von Waffen und Rüstungen der geschlagenen Feinde auf, um sie an
einem Pfahl zu befestigen. Zunächst nur auf den Schlachtfeldern
aufgestellt, wanderten diese Trophäen später in die Städte, wo sie
als Siegeszeichen und Denkmal fungierten sowie zuweilen religiös
aufgeladen wurden. 1 Die Kunst übernimmt die trophäisierende Po-
tenz dort, wo sie von der Wirklichkeit etwas erhält und daraus ihre
Siegeszeichen macht, die möglichst an Orten der Verehrung auf-
gestellt werden. Das Stückhafte und Montierte, hinter dem der le-
bendige Zusammenhang unsichtbar wird, ist hier wie dort charakte-
ristisch.
Trotz der Nähe zu dieser Form der Erinnerungskonstitution ist
die Differenz im Werk Margolles eklatant: Die Künstlerin verkehtt
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DIE LEBENDIGKEIT DES TOTEN
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