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DIE LEBENDIGKEIT DES TOTEN.

TERESA MARGOLLES

Ein Faden durchquert einen leeren Raum. Präziser: ein zusammen-


gestückelter Strang, zusammengeknotet aus vielen kleinen Fäden.
Weiter nichts. An den Verbindungsstellen störrische Enden, die ei-
gensinnig die Linie verlassen.
Der Patchwork-Faden erscheint dem Betrachter wie ein Artefakt
des Unfertigen, des Behelfsmäßigen, das im Widerstreit mit der
Reinheit und klaren Geometrie des klinisch-weißen Raums steht.
2006 hat die mexikanische Künstlerin Teresa Margolles diesen
Faden aufgespannt und der Installation den Titel 127 cuerpos gege-
ben. Die aufgerufenen 127 Körper sind ganz offenkundig 127 abwe-
sende Körper. Der Titel begleitet als kaltes Medium die Szene und
versetzt die Imagination des Betrachters in Unruhe. Denn was wir
nicht sehen, aber wissen sollen: Das Objekt besteht aus Fäden, die
in der Gerichtsmedizin verwendet werden. Es handelt sich um Reste
von Fäden, mit denen nach der Autopsie die Opfer von Gewalt-
verbrechen in Mexiko vernäht wurden. Jedes Fadenstück entspricht
einem Körper. Von Entsprechung zu schreiben, verfehlt in einem
wichtigen Aspekt den Charakter der Installation, denn das Material
hat Spuren der Leichen aufgenommen, ist zum Träger von Restkör-
per geworden. Eine sinnhafte Spannung kommt damit ins Spiel: Der
Faden ist das Archiv für das Wertlose, das Unbeerdigte aber auch
fLir das Nicht-Beherrschbare. Es geschieht also eine Verwandlung,
dem Wertlosen wird die Würde eines Kunstwerks gegeben.
Bekannt wurde die Künstlerin mit ähnlichen Interventionen in
die Wirklichkeit der Leichen: So ließ sie zum Beispiel Seifenblasen
aus dem Reinigungswasser eines Leichenschauhauses auf das Mu-
seumspublikum sinken, breitete ein riesiges Leichentuch oder Bett-
laken mit blutigen Abdrücken von Leichen aus.
Ein Konflikt wird spürbar zwischen dem, was wir als Abfall be-
zeichnen können und einer Rettung, die das Fast-Verlorene einer
musealen Konservierung zuführt. Margolles verweist auf eine spezi-

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ÄSTHETIK DES FADENS

fische Gewalt in der Realität Mexikos, auf die Armut und das darin
aufflackernde Verbrechen mit seinen Opfern. Viel feiner jedoch gibt
sie einen Hinweis auf das Problem des Wertes und der Symboltaug-
lichkeit von Dingen. Die Frage lautet: Was wird aufbewahrt, was
wird dem Müll und damit dem Vergessen überantwortet? Die in die
Fäden eingesickerten Körperflüssigkeiten sowie die Mikroreste von
Haut zeigen, dass das, was Fäulnis und Schmutz war, nun zum
Symbol eines Augenblicks wurde, in dem die Zweckmäßigkeit der
Gerichtsmedizin mit einer pathetischen Kunstgeste pariert wurde.
Das Abgelebte wird noch einmal zum Scheinen gebracht und ihm
die Dignität einer Sichtbarkeit verliehen. Die realen Körperreste wie
auch die Fadenreste sind verstehbar als melancholische Symbole ei-
nes Nicht-Loslassens, einer Melancholisierung des toten Objekts: In
der Melancholie schwindet die Tatkraft zugunsten eines Eingeden-
kens, einer Versunkenheit ins Verlorene, die durch das Werk poten-
ziell verewigt wird.
Die Arbeit von Margolles ähnelt strukturell der Trophäe, die al-
lerdings auf der Gegenseite der Melancholie, auf der manischen Sei-
te des Todeszeremoniells zu finden ist. Auch die Trophäe stellt ja
das Tote in Gestalt von Leichenteilen (Geweihe, Köpfe, Zähne, Füs-
ße, Gebisse etc.) aus, um eine ruhmvolle Tat in die Erinnerung zu
heben. Die Beziehung zur Kunst erhellt sich vor allem mit Rück-
blick auf die ursprüngliche Bedeutung des altgriechischen Begriffs
des tropaion. Auf dem Schlachtfeld sammelte man Überbleibsel
von Waffen und Rüstungen der geschlagenen Feinde auf, um sie an
einem Pfahl zu befestigen. Zunächst nur auf den Schlachtfeldern
aufgestellt, wanderten diese Trophäen später in die Städte, wo sie
als Siegeszeichen und Denkmal fungierten sowie zuweilen religiös
aufgeladen wurden. 1 Die Kunst übernimmt die trophäisierende Po-
tenz dort, wo sie von der Wirklichkeit etwas erhält und daraus ihre
Siegeszeichen macht, die möglichst an Orten der Verehrung auf-
gestellt werden. Das Stückhafte und Montierte, hinter dem der le-
bendige Zusammenhang unsichtbar wird, ist hier wie dort charakte-
ristisch.
Trotz der Nähe zu dieser Form der Erinnerungskonstitution ist
die Differenz im Werk Margolles eklatant: Die Künstlerin verkehtt

Siehe Andreas Jozef Jansen: Het antieke tropaion, Diss. Nijmegen,


Lederberg/Gent 1957. Gunnar Schmidt: »Trophäe. Ästhetisierung der
Melancholie«, in: Fragmente, 44/45 (1994), S. 245-254.

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DIE LEBENDIGKEIT DES TOTEN

Teresa Margolles: 127 cuerpos, 2006.

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die manische Trophäisierung in ein Gedenken, das Traurigkeit und


vielleicht Schaudern hervorruft. Neben der dezidierten Glanzlosig-
keit ihrer Installation ist es vor allem die Übernahme realer Körper-
spuren, durch die eine durchgreifende Bearbeitung des Kunstge-
genstandes, mit dem Ziel reiner Zeichenhaftigkeit, vermieden wird.
Den Spuren der Toten haftet etwas Obszönes an, sie sind nicht auf
der Höhe des gereinigten, von der Körperlichkeit enthobenen Sym-
bols. Andererseits ist die Abstraktion der Fadeninstallation ein
Schutz. Erst die Beigabe des Wissens um den Prozess der Werkent-
stehung erzeugt einen Imaginationshall im Betrachter. Im Zusam-
mentreffen von Artefakt und Wissen erfolgt auch der Zusammen-
prall mit dem Ausgestoßenen oder Verworfenen, der den Gedanken
zurückführt zu dem Augenblick, an dem die Dinge aus den Händen
oder aus dem Blick gerieten. Das Schweben zwischen Kunstsache
und Lebensnähe, zwischen Hm1-Faktischem und Weich-Symboli-
schem bringt die Schwierigkeit des Übersetzens ins Spiel. Margol-
les macht oberflächlich gesehen einen bildhaften Kommentar zu ei-
ner Wirklichkeit, die sie in Mexiko antrifft. Der gespannte Faden ist
darüber hinaus auch ein kunstimmanenter Verweis flir die Unmög-
lichkeit, diese Wirklichkeit in Kunst zu übertragen. Alles ist Stück-
werk, parspro foto. Der Tod, auf den der Titel indirekt anspielt,
findet nicht nur auf den Straßen Mexikos statt, er ist auch eine Rea-
lität der Kunst, die das Leben in eine starre Gegebenheit und in eine
armselige Andeutung verwandeln muss. Aber genau diese Armut
des Fadens ist seine Kraft.
Die Aufgespanntheit des Fadens erzeugt einen Assoziations-
reichtum, der zurückweist auf die verlorene Lebendigkeit. Das Seh-
nige, das Nicht-Schlaffe, die zarten Vibrationen der Saite, die Ver-
bundenheit der Einzelfäden werden lesbar als Metaphern der Vitali-
tät. Die Darstellung des Nicht-Darstellbm·en läuft letztlich auf die
Evokation einer Vorstellungswelt hinaus, in der nicht der Rückruf
einer (sozialen, politischen, alltäglichen etc.) Wirklichkeit entschei-
dend ist, sondern eines Denkens der Empfindungen. Nicht der kon-
krete Tod oder das konkrete Leben der 127 berührt uns; vielmehr
ist es der Kontakt mit einem Bild, das unsere Existenz berührt.

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