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Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht

SS 2011

Fall 5
Haftungsrecht

Mario (M) betreibt eine Pizzeria in Köln. Da sein Geschäft gut läuft, beschließt er zusätzlich
innerhalb des Stadtgebiets ein „Pizza-Taxi“ anzubieten, das die Pizzen auf Bestellung der
Kunden zu ihnen nach Hause liefert. Um seinen Lieferservice einzurichten, stellt er Luigi (L)
ein, der gegen ein monatliches Bruttoentgelt in Höhe von € 1.400 an fünf Werktagen in der
Woche die Auslieferung der Pizzen übernehmen soll.

A.
M möchte mit der Anschaffung eines Fahrzeugs für sein „Pizza-Taxi“ warten bis der
Lieferservice Gewinn abwirft. An seinem ersten Arbeitstag soll L die Pizzen daher mit dem
„Ferrari 599 GTB“ des M im Wert von € 175.000 ausliefern. Der motorsportbegeisterte L, der
schon immer davon geträumt hat, einen italienischen „12-Zylinder“ zu fahren, erklärt sich
hiermit sofort einverstanden.
Da schon am ersten Tag des Lieferservices zahlreiche Kunden bei M Bestellungen aufgeben
und L der einzige Fahrer des M ist, stapeln sich bereits nach kurzer Zeit die ersten Pizzen im
Lokal des M. Damit sich die Wartezeit der Kunden nicht weiter verlängert, beschließt L
daraufhin seine regelmäßige Fahrtgeschwindigkeit auf 70 km/h zu erhöhen. Aufgrund dieser
hohen Geschwindigkeit und den regnerischen Witterungsverhältnissen kommt L, der den
615 PS des Ferraris nicht gewachsen ist, von der Fahrbahn ab und fährt gegen einen am
Straßenrand stehenden Baum. An dem Fahrzeug entsteht ein Schaden in Höhe von
€ 40.000.

Kann M von L den Schadenersatz verlangen?∗

B.
M möchte seinen Pizzaservice nicht schon am zweiten Tag wieder einstellen. Da sein Ferrari
zur Reparatur in der Werkstatt ist, leiht er sich bei der Hartz Autovermietung GmbH (H) einen
Maserati GranTurismo im Wert von € 115.000. Da ihm kein anderer Fahrer zur Verfügung
steht, weist er L an, die Pizzen mit diesem Fahrzeug auszuliefern.
Obwohl L die zulässige Höchstgeschwindigkeit einhält, fällt ihm während der Fahrt aus
Unachtsamkeit seine brennende Zigarette in den Fußraum. Während er daraufhin die
Fußmatte abtastet, um die Zigarette aufzuheben, kommt er erneut von der Fahrbahn ab und
fährt gegen ein Straßenschild, wodurch an dem Maserati ein Schaden in Höhe von € 30.000
entsteht.

I. Kann H von L den Schadenersatz verlangen?∗


II. Welche Ansprüche hat L gegen M?∗

C.
Auch am dritten Tag möchte M seinen Lieferservice aufrecht erhalten. Da sein Ferrari aber
immer noch nicht aus der Werkstatt zurück ist, bittet M den L die Pizzen mit seinem eigenen
Fahrzeug ausliefern. L erklärt sich hierzu bereit und übernimmt die Lieferservice mit seinem
Fiat Punto.


Ansprüche nach dem StVG sind nicht zu prüfen.
 Institut für Deutsches und Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, Universität zu Köln
Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht
SS 2011

Als L mit mehreren Pizzen beladen in Köln durch die Römergasse fährt, läuft unvermittelt ein
achtjähriges Kind auf die Fahrbahn. L wirft daraufhin reflexartig das Steuer herum und kann
hierdurch einen Zusammenstoß mit dem Kind in letzter Sekunde vermeiden. L prallt jedoch
in voller Fahrt gegen ein am Straßenrand geparktes Fahrzeug, wodurch an seinem Fiat ein
Schaden in Höhe von € 100 entsteht.

Welche Ansprüche stehen L gegen M zu?∗

D.
Nachdem am vierten Arbeitstag des L die Reparatur des Ferrari abgeschlossen ist und das
Fahrzeug wieder zur Verfügung steht, beschließt M, mit L die Rollen zu tauschen. L soll im
Lokal bleiben und die Pizzen zubereiten, während nunmehr M deren Auslieferung
übernimmt.
Weil M die Pizzen aber nicht nach jeder Fahrt im Lokal abholen möchte, soll L sie ihm zum
Wagen bringen. Nachdem L ihm die erste Bestellung übergeben und die Beifahrertür des
Ferraris zugeschlagen hat, tritt M, ohne weiter auf L zu achten, auf das Gaspedal. L kann
nicht mehr rechtzeitig vom Fahrzeug zurücktreten, sodass M ihm über den rechten Fuß fährt.
L erleidet dadurch einen äußerst schmerzhaften Bruch eines Mittelfußknochens.

Kann L von M die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes verlangen?∗

Zur Vorbereitung auf Fall 6:

Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz / Betriebliche Übung


Brox/Rüthers/Henssler, Arbeitsrecht, 18. Aufl., 2010, Rn. 307 – 329 / Rn. 137f.
Junker, Grundkurs Arbeitsrecht, 9. Aufl., 2010, Rn. 162 – 165 / Rn. 79 – 84
Preis, Arbeitsrecht – Individualarbeitsrecht, 3. Aufl., 2009, S. 425 – 477 / S. 217 – 224
Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, 6. Aufl., 2008, S. 202 – 209 / S. 61 – 63


Ansprüche nach dem StVG sind nicht zu prüfen.
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Lösung Fall 5

Gliederung

A. Ferrari....................................................................................................... 2
I. § 280 Abs. 1 BGB ................................................................................. 2
1.
Schuldverhältnis ................................................................................. 2
2.
Pflichtverletzung ................................................................................. 2
3.
Vertretenmüssen ................................................................................ 2
a) Vorsatz ............................................................................................ 2
b) Fahrlässigkeit .................................................................................. 2
c) Haftungsmilderung nach § 276 BGB............................................... 3
4. Schaden ............................................................................................. 5
5. Innerbetrieblicher Schadensausgleich................................................ 5
a) Begründung und Rechtsgrundlage.................................................. 5
b) Haftungsumfang.............................................................................. 7
II. § 823 Abs. 1 BGB ................................................................................. 9
B. Maserati ................................................................................................. 10
I. Ansprüche der H gegen L (§ 823 Abs. 1 BGB) ................................... 10
II. Ansprüche des L gegen M (Freistellungsanspruch)............................ 10
1. Rechtsgrundlage .............................................................................. 10
2. Hypothetische Haftungsquote .......................................................... 11
a) Verschuldensgrad ......................................................................... 11
b) Haftungsverteilung ........................................................................ 12
3. Rechtsfolge ...................................................................................... 13
C. Fiat Punto (§ 670 BGB analog)............................................................. 14
I. Voraussetzungen des Analogieschlusses........................................... 14
1. Regelungslücke ................................................................................ 14
2. Interessenlage.................................................................................. 14
II. Aufwendung........................................................................................ 14
1. Schaden ........................................................................................... 15
2. Zusammenhang mit Erbringung der Arbeitsleistung......................... 15
D. Schmerzensgeld ................................................................................... 17
I. §§ 280 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB .......................................................... 17
1.
Pflichtverletzung ............................................................................... 17
2.
Vertretenmüssen .............................................................................. 17
3.
Rechtsfolge ...................................................................................... 17
4.
Anspruchsausschluss....................................................................... 17
a) Unternehmer und Versicherter ...................................................... 17
b) Versicherungsfall........................................................................... 17
c) Kein Vorsatz.................................................................................. 18
d) Personenschaden ......................................................................... 18
II. §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB .......................................................... 19

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Lösung Fall 5

A. Ferrari

I. § 280 Abs. 1 BGB

Zu prüfen ist, ob M von L Schadenersatz für die Beschädigung seines Ferraris


nach § 280 Abs. 1 BGB verlangen kann.

1. Schuldverhältnis

Aufgrund des zwischen M und L geschlossenen Arbeitsvertrages bestand


zwischen den Parteien ein Schuldverhältnis im Sinne des § 280 Abs. 1 BGB.

2. Pflichtverletzung

Indem L mit dem Ferrari des M gegen einen Baum fuhr, verletzte er seine
arbeitsvertragliche Nebenpflicht nach §§ 611, 241 Abs. 2 BGB, auf das
Eigentum des M Rücksicht zu nehmen.

3. Vertretenmüssen

Der Schadenersatzanspruch nach § 280 Abs. 1 BGB ist nach § 280 Abs. 1
Satz 2 BGB ausgeschlossen, wenn L die Pflichtverletzung nicht zu vertreten
hat. Abweichend von § 280 Abs. 1 BGB bestimmt § 619a BGB jedoch, dass
ein Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber Schadenersatz für die Verletzung einer
arbeitsvertraglichen Pflicht nur dann zu leisten hat, wenn er die
Pflichtverletzung zu vertreten hat. Das Vertretenmüssen des L wird daher
nicht nach § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB vermutet.

a) Vorsatz

Nach § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB hat der Schuldner Vorsatz und Fahrlässigkeit
zu vertreten.

L hat den Ferrari des M nicht wissentlich und willentlich beschädigt,


weswegen er nicht vorsätzlich gehandelt hat.

b) Fahrlässigkeit

Gemäß § 276 Abs. 2 BGB hat L fahrlässig gehandelt, wenn er die im Verkehr
erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Die im Verkehr erforderliche
Sorgfalt bestimmt sich dabei insbesondere nach staatlichen
Sorgfaltsnormen. Die für die Teilnahme am Straßenverkehr im Sinne des
§ 276 Abs. 2 BGB erforderliche Sorgfalt ergibt sich daher insbesondere aus
der Straßenverkehrsordnung.

Der Lieferservice des M erstreckte sich nur auf das Stadtgebiet von Köln, so
dass der Weg des L zu den Kunden innerhalb einer geschlossenen Ortschaft
lag. Nach § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO beträgt die zulässige Höchst-
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geschwindigkeit hier auch unter günstigsten Umständen für alle


Kraftfahrzeuge 50 km/h. Indem L die Fahrtgeschwindigkeit auf 70 km/h
heraufsetzte, verletzte er mithin die sich aus § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO
ergebenden Sorgfaltspflichten.

Darüber hinaus schreibt § 3 Abs. 1 Sätze 1 und 2 StVO vor, dass der
Fahrzeugführer nur so schnell fahren darf, dass er sein Fahrzeug ständig
beherrscht und seine Geschwindigkeit den Wetterverhältnissen sowie
seinen persönlichen Fähigkeiten anzupassen hat. L hatte keine Erfahrung
im Umgang mit hochmotorisierten Fahrzeugen und hatte noch nie ein
Fahrzeug mit einer Leistung von über 600 Pferdestärken gefahren. Aufgrund
dieses Umstandes hätte er daher seine Fahrgeschwindigkeit seinen
persönlichen Fähigkeiten sowie darüber hinaus auch dem regnerischen
Wetter anpassen müssen. Er hat daher auch seine Sorgfaltspflichten nach § 3
Abs. 1 StVO verletzt.

L hat die im Verkehr erforderlich Sorgfalt außer Acht gelassen und mithin im
Sinne des § 276 Abs. 2 BGB fahrlässig gehandelt.

c) Haftungsmilderung nach § 276 BGB

Fraglich ist allerdings, ob sich für die Haftung des L gegenüber M gemäß
§ 276 Abs. 1 Satz 1 BGB aus dem Inhalt des zwischen ihnen bestehenden
Arbeitsverhältnisses ein milderer Haftungsmaßstab ergibt.

Der Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes ging davon aus,


dass die Haftungsprivilegierung des Arbeitnehmers nach der ständigen
Rechtsprechung des BAG mit § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB kodifiziert würde. Der
Wille des Gesetzgebers spricht deswegen dafür, dass dem Arbeitsvertrag im
Sinne des § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB eine mildere Haftung zu entnehmen ist
(vgl. Däubler, NZA 2001, 1329, 1331f.).
[Aus der Begründung zur Neuregelung des § 276 BGB im Rahmen der Modernisierung
des Schuldrechts:] „Die Bundesregierung hat im Anschluss an die vom Bundesrat
angesprochenen Bedenken, die Löwisch in NZA 2001, 465 ff., erhoben hat, geprüft, ob
sich bei der Regelung der Folgen von Pflichtverletzungen im Hinblick auf Arbeitnehmer
Änderungen ergeben. Sie ist zu dem Ergebnis gelangt, dass dies im Grundsatz nicht
der Fall ist, weil die neuen Vorschriften den von der Rechtsprechung zum geltenden
Recht entwickelten Grundsätzen der Arbeitnehmerhaftung künftig eine tragfähige
Grundlage geben. Sie stellen sie nicht nur nicht in Frage, sie bestätigen sie vielmehr.
Nach ständiger Rechtsprechung ist bei der Haftung des Arbeitnehmers aus dem
Arbeitsverhältnis auf Seiten des Arbeitgebers das Betriebsrisiko zu berücksichtigen.
Während dies früher nur bei gefahrengeneigter Tätigkeit galt, ist dies nacheinem
Beschluss des Großen Senats des BAG vom 21. September 1994 (NJW 1995, 210,
212) auch bei anderen dienstlichen bzw. betrieblichen Tätigkeiten anzunehmen. In
welchem Umfang der Arbeitnehmer haftet, richtet sich danach im Rahmen einer
Abwägung der Gesamtumstände, insbesondere von Schadensanlass und
Schadensfolgen, nach Billigkeits- und Zumutbarkeitsgesichtspunkten. Zu den
Umständen, denen je nach Lage des Einzelfalls ein unterschiedliches Gewicht
beizumessen ist und die im Hinblick auf die Vielfalt möglicher Schadensursachen auch
nicht abschließend bezeichnet werden können, gehören der Grad des dem
Arbeitnehmer zur Last fallenden Verschuldens, die Gefahrengeneigtheit der Arbeit, die
Höhe des Schadens, ein vom Arbeitgeber einkalkuliertes oder durch Versicherung
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deckbares Risiko, die Stellung des Arbeitnehmers im Betrieb und die Höhe des
Arbeitsentgelts, in dem möglicherweise eine Risikogruppe enthalten ist, gegebenenfalls
auch die persönlichen Verhältnisse des Arbeitnehmers (BAG – GS –, NJW 1995, 210,
213; BGH, NJW 1996, 1532). Diese Rechtsprechung wird bisher auf § 254 BGB
gestützt. Daran ändern die Vorschläge des Entwurfs nichts. Sie bieten der
Rechtsprechung vielmehr eine bessere Absicherung dieser Judikatur. Nach § 276
Abs. 1 BGB-RE kann sich nämlich eine mildere Haftung (auch des Arbeitnehmers) aus
dem Inhalt des Schuldverhältnisses ergeben. Auch wenn die Rechtsprechung dieses
Ergebnis bisher aus § 254 BGB ableitet, begründen die von der Rechtsprechung
berücksichtigten Umstände weniger ein Mitverschulden des Arbeitgebers, als vielmehr
eine vertragliche Haftungsbeschränkung zugunsten des Arbeitnehmers. Diese wird
– anders als früher – jetzt in § 276 Abs. 1 BGB-RE ausdrücklich angesprochen, so
dass die Rechtsprechung nicht mehr auf den an sich nicht recht passenden § 254 BGB
ausweichen muss. Es bleibt ihr aber unbenommen, bei der bisherigen dogmatischen
Begründung der Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung zu bleiben.“ (BT-Drucks.
14/6857, 31. 8. 2001, S. 48)

Dagegen spricht jedoch, dass die richterrechtlichen Grundsätze der


beschränkten Arbeitnehmerhaftung nicht an den Haftungsgrund anknüpfen,
indem sie das Vertretenmüssen gegenüber der Grundregel des § 276 BGB
einschränken. Vielmehr nehmen sie, wenn der Haftungsgrund feststeht, eine
besondere Risikozuweisung vor. Es geht daher um eine Regelung der
Haftungsfolgen, die nicht Gegenstand von § 276 BGB sind (Waltermann,
RdA 2005, 98, 99f.). Die Einbettung der Haftungsprivilegierung des
Arbeitnehmers in das Vertretenmüssen nach § 276 BGB erlaubt zudem nur
eine „Alles-oder-Nichts-Lösung“ und bietet keine Erklärung für die von der
Rechtsprechung zumeist vorgenommene Schadensteilung (Krause, NZA
2003, 577, 581).

„Im Übrigen lässt sich nicht feststellen, dass die Rechtsprechung zum
innerbetrieblichen Schadensausgleich auf eine neue Grundlage gestellt wird. Die
Stellungnahme der Bundesregierung zu den Änderungsvorschlägen des Bundesrates
wirbt zwar geradezu damit, dass der neu gefasste § 276 Abs. 1 BGB eine bessere
Absicherung der bisherigen Judikatur biete. Nach § 276 Abs. 1 BGB könne sich
nämlich eine mildere Haftung (auch des Arbeitnehmers) aus dem Inhalt des
Schuldverhältnisses ergeben. Die vom BAG der Sache nach bejahte vertragliche
Haftungsbeschränkung zugunsten des Arbeitnehmers werde – anders als früher – jetzt
in § 276 Abs. 1 BGB ausdrücklich angesprochen, so dass die Rechtsprechung nicht
mehr auf den an sich nicht recht passenden § 254 BGB ausweichen müsse.
Es erscheint indes kaum vorstellbar, dass die Rechtsprechung dieser Umwerbung
nachgeben wird. Schon wegen der Schadensteilung, zu der es im Bereich der
mittleren Fahrlässigkeit kommt, ist der Ansatz über den in § 254 BGB verankerten
Gedanken der Mitverantwortung auch künftig vorzugswürdig. § 276 Abs. 1 BGB mag
zwar eine Rechtfertigung für die umfassende Freistellung im Bereich der leichten
Fahrlässigkeit bieten. Die Regelung, die das Arbeitnehmerhaftungsprivileg zur
Disposition der Vertragspartner stellen würde, ist aber im Übrigen nicht flexibel genug,
um die erforderliche umfassende Interessenabwägung umzusetzen, bei der vielfältige
Kriterien zu berücksichtigen sind, angefangen vom Grad des dem Arbeitnehmer zur
Last fallenden Verschuldens, über die Gefahrengeneigtheit der Arbeit, die Höhe des
Schadens, ein vom Arbeitgeber einkalkuliertes oder durch Versicherung abdeckbares
Risiko, die Stellung des Arbeitnehmers im Betrieb bis zur Höhe des Arbeitsentgelts, in
dem möglicherweise ein Risikoausgleich enthalten ist, sowie den persönlichen
Verhältnissen des Arbeitnehmers. Der in § 254 BGB verankerte Gedanke der
Mitverantwortung des Arbeitgebers passt hier weit besser.“ (Henssler, RdA 2002,
129, 133).

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Das BAG hat seine bisherige Rechtsprechung auf der Grundlage des § 254
BGB beibehalten, ohne die Überlegungen der Gesetzesverfasser zu § 276
BGB auch nur zu erwähnen (BAG, NZA 2003, 37). Eine Einschränkung der
Arbeitnehmerhaftung nach dem Inhalt des Arbeitsverhältnisses gemäß § 276
Abs. 1 Satz 1 BGB ist daher abzulehnen.

Anm.: Die Gegenansicht, die die Haftungsprivilegierung des Arbeitnehmers unter den
vom BAG formulierten Bedingungen auf § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB stützt, ist gut
vertretbar und dürfte in der Regel nicht zu anderen Ergebnissen als die Lösung über
§ 254 BGB führen.

L hat seine Pflichtverletzung zu vertreten.

4. Schaden

Der am Ferrari des M entstandene Sachschaden ist ein in voller Höhe nach
§ 249 Abs. 1 BGB erstattungsfähiger Vermögensschaden.

5. Innerbetrieblicher Schadensausgleich

Fraglich ist, in welcher Höhe L gegenüber M zur Leistung von Schadenersatz


verpflichtet ist.

a) Begründung und Rechtsgrundlage

Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG und der allgemeinen Ansicht
im Schrifttum gilt für die Haftung eines Arbeitnehmers gegenüber seinem
Arbeitgeber eine Haftungsmilderung nach den Grundsätzen des
innerbetrieblichen Schadensausgleichs.

Die Begründung hierfür liegt darin, dass dem Arbeitnehmer häufig


Arbeitsmaterial von großem Wert zur Verfügung gestellt wird. Nach dem in
§§ 249ff. BGB niedergelegten Prinzip der Totalreparation würde der
Arbeitnehmer für Beschädigungen an diesem Material selbst bei leichtester
Fahrlässigkeit in voller Höhe haften. Das würde aber regelmäßig zu hohen
Schadenersatzforderungen führen, die aus dem gewöhnlichen Arbeitslohn
nicht beglichen werden könnten. Darüber hinaus bestimmt der Arbeitgeber
durch die Ausübung seines Weisungsrechts nach § 106 GewO und seiner
betrieblichen Organisationsmacht die Haftungsrisiken des Arbeitnehmers.
Diese organisationsspezifischen Risiken müsste der Arbeitgeber, wenn er
sich nicht des Einsatzes von Arbeitnehmern bedienen würde, selbst tragen.
Es wäre daher unbillig, wenn er die mit seiner Arbeitsorganisation
geschaffenen Betriebsrisiken auf die Arbeitnehmer abwälzen könnte. Die mit
seinem Unternehmen geschaffene Betriebsgefahr muss sich der Arbeitgeber
daher in analoger Anwendung des § 254 BGB zurechnen lassen.
Dementsprechend gilt für den Arbeitnehmer bei „betrieblich veranlassten
Tätigkeiten“ eine Haftungserleichterung (Erfurter Kommentar – Preis, § 619a
BGB, 11. Aufl., 2011, Rn. 9).

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„Die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches enthalten keine geschlossene


Regelung des Arbeitsvertragsrechts (…). Schon bei Erlass des Bürgerlichen
Gesetzbuches ging man hinsichtlich der Arbeitnehmerhaftung von einer
Gesetzeslücke aus. In den Materialien wurde "baldtunlichst" eine spezialgesetzliche
Regelung für Arbeitsverträge "einschließlich der schadenersatzrechtlichen Fragen"
gefordert (…). Das Bedürfnis dafür wurde im Laufe der Zeit immer drängender. Der
Arbeitnehmer ist seit der Zeit des Inkrafttretens des BGB wachsenden
Haftungsrisiken ausgesetzt. Hielten sich früher die vom Arbeitnehmer verursachten
Schäden noch in Grenzen, so können inzwischen schon geringe Fehler wegen des
erheblich höheren Wertes der vom Arbeitgeber eingesetzten Betriebsmittel zu
außerordentlich hohen Haftungssummen führen. Die im BGB von Anfang an
vorhandene Regelungslücke wurde von der Rechtsprechung mit Hilfe der
Haftungsgrundsätze bei gefahrgeneigter Arbeit (…) ausgefüllt. Die entsprechenden
Haftungsbeschränkungen erweisen sich jedoch als unzureichend, um den
geänderten betrieblichen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Der Arbeitnehmer kann
auch bei nicht gefahrgeneigten Tätigkeiten in der heutigen Arbeitswelt einem
unzumutbar hohen Schadensrisiko ausgesetzt sein. (…)

Die Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung bei allen Arbeiten, die durch den Betrieb
veranlasst sind, folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 254 BGB. (…)

Der Arbeitgeber organisiert den Betrieb und steuert den Arbeitsprozess. In diese
organisatorische Einheit wird der Arbeitnehmer eingegliedert, um allein oder
zusammen mit den im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmern den arbeitstechnischen
Zweck des Betriebs durch weisungsgebundene Tätigkeit zu verwirklichen. Der
Arbeitgeber kann den arbeitstechnischen Zweck des Betriebs eigenverantwortlich
bestimmen, die Betriebsorganisation nach seinen Plänen und Bedürfnissen
gestalten und auf die Tätigkeit des Arbeitnehmers einwirken. Mit der Eingliederung in
die Betriebsorganisation und den faktischen Gegebenheiten des Arbeitsprozesses
(z.B. der Art der vorhandenen, oft besonders wertvollen technischen Anlagen, der
Ausgestaltung der Arbeitsorganisation und des Produktionsverfahrens mit
qualitativen und quantitativen Anforderungen an die Arbeitsprodukte) wird die
Berufsausübung des Arbeitnehmers gesteuert. Der Arbeitnehmer kann den
vorgegebenen Arbeitsbedingungen in der Regel weder tatsächlich noch rechtlich
ausweichen. Aufgrund des Weisungsrechts bestimmt der Arbeitgeber die
arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsleistung. Er kann die Modalitäten der
Arbeitsleistung (z.B. durch organisatorische oder technische Maßnahmen) gestalten.
Auch den Umfang und die Lage der Arbeitszeit kann er im Rahmen der rechtlichen
Grenzen vorgeben. Schließlich kann er auch den Ort der Arbeitsleistung nach
Maßgabe der arbeitsvertraglichen Regelung festlegen. Damit prägt die vom
Arbeitgeber gesetzte Organisation des Betriebs das Haftungsrisiko für den
Arbeitnehmer. Kraft seiner Organisationsbefugnis kann der Arbeitgeber Bedingungen
für Schadensrisiken schaffen, beibehalten oder verändern, z.B. Gefahrenmomenten
entgegenwirken durch Veränderung der Arbeitsabläufe, durch bessere Überwachung
oder durch Sicherheitsvorkehrungen. Durch den Abschluss einer Versicherung kann
er sein Risiko häufig absichern.
Die Verantwortung für die Organisation des Betriebs und die Gestaltung der
Arbeitsbedingungen (…) ist dem Arbeitgeber deshalb bei allen Arbeiten zuzurechnen,
die durch den Betrieb veranlasst sind. Dies führt im Rahmen des § 254 BGB dazu,
dass der Arbeitnehmer einen von ihm bei einer betrieblich veranlassten Tätigkeit
verursachten Schaden nicht nach §§ 276, 249 BGB stets in vollem Umfang ersetzen
muss, wenn ihn ein Verschulden an der Schadensverursachung trifft.
Die Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung durch entsprechende Anwendung des
§ 254 BGB ist im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung der
Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2
Abs. 1 GG) geboten.“ (BAG-GS, NZA 1994, 1083, 1084f.).

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Betrieblich veranlasst sind Tätigkeiten des Arbeitnehmers, die ihm


arbeitsvertraglich übertragen worden sind oder die er im Interesse des
Arbeitgebers für den Betrieb ausführt. Die Tätigkeit braucht dabei nicht zum
eigentlichen Aufgabengebiet des Beschäftigten zu gehören (BAG NZA 2011,
345, 347). Dabei spielt es für die Frage der betrieblichen Veranlassung der
Tätigkeit, bei der der Unfall eingetreten ist, keine Rolle, ob sie fehlerfrei oder
fehlerhaft erledigt und ob bei der Arbeit vorsichtig oder leichtsinnig gehandelt
wurde. Der betriebliche Charakter der Tätigkeit geht nicht dadurch verloren,
dass der Arbeitnehmer bei Durchführung der Tätigkeit vorsätzlich oder
fahrlässig seine Verhaltenspflichten verletzt. Zwar liegen derartige
Verhaltensverstöße nicht im Interesse des Arbeitgebers. Dem wird aber
durch eine entsprechende Haftung des Arbeitnehmers Rechnung getragen.
Für die betriebliche Veranlassung reicht es, dass die jeweilige Tätigkeit als
solche dem vertraglich Geschuldeten entspricht, und zwar auch dann, wenn
dies nicht für deren jeweilige Durchführung im Einzelfall gilt (BAG, NZA 2003,
37, 38).

Der Unfall des L mit dem Ferrari ereignete sich während er auf Weisung
sowie im Interesse des M und mithin in Erfüllung seiner arbeitsvertraglichen
Pflichten Pizzen auslieferte. Obwohl M die überhöhte Geschwindigkeit, die
zum Unfall führte, nicht angeordnet hatte, handelte es sich um eine betrieblich
veranlasste Tätigkeit. Für die Schadenersatzhaftung des L gilt daher dem
Grunde nach die Haftungsprivilegierung nach den Grundsätzen des
innerbetrieblichen Schadensausgleichs.

b) Haftungsumfang

Liegt ein durch eine betrieblich veranlasste Tätigkeit entstandener Schaden


vor, gelten für die Haftungsquote folgende Grundsätze:

Bei Vorsatz hat der Arbeitnehmer den Schaden stets, bei grober
Fahrlässigkeit und gröbster Fahrlässigkeit in der Regel allein zu tragen.
Bei leichter Fahrlässigkeit trägt der Arbeitgeber den Schaden in voller Höhe.
Bei mittlerer Fahrlässigkeit ist der Schaden unter Berücksichtigung aller
Umstände des Einzelfalls quotal zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer
aufzuteilen.

Anm.: Für eine unbeschränkte Haftung des Arbeitnehmers wegen vorsätzlicher


Pflichtverletzung verlangt das BAG, dass sich der Vorsatz – anders als sonst im
bürgerlichen Recht (!) – nicht nur auf die Pflichtverletzung, sondern auch auf den
Schadenseintritt bezieht. Ein Arbeitnehmer müsse den Schaden in seiner konkreten
Höhe zumindest als möglich voraussehen und ihn für den Fall des Eintritts billigend in
Kauf nehmen. Darüber hinaus sei erforderlich, dass der Arbeitnehmer den als
möglich vorgestellten Erfolg auch in seinen Willen aufnehme und mit ihm für den Fall
seines Eintritts einverstanden ist (BAG, NZA 2003, 37, 39; abl. Krause, NZA 2003,
577, 582f.).

Grobe Fahrlässigkeit fällt dem Arbeitnehmer zur Last, wenn er die im Verkehr
erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in einem ungewöhnlich
hohen Grad verletzt hat und unbeachtet gelassen hat, was im gegebenen Fall
jedem hätte einleuchten müssen. Leichte Fahrlässigkeit liegt dagegen in den
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Fällen des „typischen Abirrens“ der Arbeitsleitung vor, also wenn der
Arbeitnehmer sich vergreift, verspricht oder vertut (Münchener Kommentar –
Henssler, 5. Aufl., 2009, § 619a BGB, Rn. 35f.; ErfK – Preis, § 619a BGB,
Rn. 15 und 17).

L hat die zulässige Höchstgeschwindigkeit zwar um 20 km/h überschritten,


jedoch musste dieses Verhalten nicht zwangsläufig zu einem Unfall führen.
Zudem sind Geschwindigkeitsübertretungen keine Seltenheit, so dass L nicht
unbeachtet gelassen hat, was jedem eingeleuchtet hätte. Damit liegt kein Fall
grober Fahrlässigkeit vor. Allerdings hat L sich bewusst für die
Geschwindigkeitsüberschreitung entschieden, so dass nicht ein bloßes
Versehen zum Unfall geführt hat. Auch leichte Fahrlässigkeit ist daher
ausgeschlossen, so dass letztlich mittlere Fahrlässigkeit vorliegt, bei der
eine Haftungsquote zu bilden ist.

Die Haftungsquote richtet sich im Rahmen einer Abwägung der


Gesamtumstände, insbesondere von Schadensanlass und Schadensfolgen,
nach Billigkeits- und Zumutbarkeitsgesichtspunkten. Primär ist auf den Grad
des dem Arbeitnehmer zur Last fallenden Verschuldens, die
Gefahrgeneigtheit der Arbeit, die Höhe des Schadens, die Versicherbarkeit
des Risikos, die Stellung des Arbeitnehmers im Betrieb und die Höhe seines
Arbeitsentgelts sowie persönliche Umstände des Arbeitnehmers, wie etwa die
Dauer der Betriebszugehörigkeit, sein Lebensalter, seine Familienverhältnisse
sowie das bisherige Verhalten des Arbeitnehmers abzustellen (BAG, NZA
2003, 37, 39).

„Die Beteiligung des Arbeitnehmers an den Schadensfolgen ist durch eine Abwägung
der Gesamtumstände zu bestimmen, wobei insbesondere Schadensanlass,
Schadensfolgen, Billigkeits- und Zumutbarkeitsgesichtspunkte eine Rolle spielen.
Eine möglicherweise vorliegende Gefahrgeneigtheit der Arbeit ist ebenso zu
berücksichtigen wie die Schadenshöhe, ein vom Arbeitgeber einkalkuliertes Risiko,
eine Risikodeckung durch eine Versicherung, die Stellung des Arbeitnehmers im
Betrieb und die Höhe der Vergütung, die möglicherweise eine Risikoprämie enthalten
kann. Auch die persönlichen Verhältnisse des Arbeitnehmers und die Umstände des
Arbeitsverhältnisses, wie die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die
Familienverhältnisse und sein bisheriges Verhalten können zu berücksichtigen sein.“
(BAG NZA 2011, 345, 347).

Für einen hohen Haftungsanteil des L spricht seine leichtsinnige Fahrweise


sowie der Umstand, dass er sich bewusst für einen Verstoß gegen die StVO
entschieden hat. Zudem ereignete sich der Unfall am ersten Arbeitstag des L,
so dass er erst kurze Zeit dem Betrieb des M angehörte. Haftungsmildernd
ist hingegen zu berücksichtigen, dass ein Ferrari kein adäquates Fahrzeug für
einen Pizza-Lieferservice ist und sein hoher Wert daher für L ein
unangemessen hohes Haftungsrisiko begründet hat. Wenn M dieses
Fahrzeug gleichwohl für seinen Lieferservice einsetzen wollte, dann wäre ihm
der Abschluss einer Vollkasko-Versicherung zuzumuten gewesen, mit der das
Haftungsrisiko auf ein noch hinnehmbares Maß hätte reduziert werden
können. Die Höhe des tatsächlich entstandenen Schadens überschreitet
ferner die Summe von zwei Jahresbruttogehältern des L. Schließlich hat L
seine Fahrtgeschwindigkeit nur deswegen unzulässig erhöht, weil es bei der
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Auslieferung der Pizzen zu einem Rückstau und für die Kunden zu einer
erheblichen Verlängerung der Wartezeit gekommen ist. Der Grund hierfür
liegt in der Entscheidung des M, seinen Pizzaservice nur mit einem Fahrer zu
betreiben. Beim Unfall des L hat sich mittelbar das mit dieser
Organisationsentscheidung des M begründete Betriebsrisiko verwirklicht.

In der Gesamtschau dieser Umstände ist eine Haftung des L in Höhe eines
Bruttomonatslohns von € 1.400 angemessen.

Anm.: In einer Klausur kommt es in erster Linie auf die Abwägung der
haftungsschärfenden und haftungsmildernden Umstände an. Die Bemessung der
Haftungssumme ist hingegen zweitrangig. Im Fall des L erscheinen Beträge zwischen
1 1
€ 700 ( /2 Bruttomonatslohn) und € 10.000 ( /4 des verursachten Schadens) noch
vertretbar.

Nach § 280 Abs. 1 BGB kann M von L Schadenersatz in Höhe von € 1.400
verlangen.

II. § 823 Abs. 1 BGB

Ferner ist zu untersuchen, ob M gegen L einen Schadenersatzanspruch nach


§ 823 Abs. 1 BGB zusteht.

L hat rechtswidrig und fahrlässig das Eigentum des M, namentlich dessen


Ferrari, beschädigt. Dabei hat er einen nach § 249 Abs. 1 BGB
erstattungsfähigen Vermögensschaden in Höhe von € 40.000 verursacht.

Die Haftungsprivilegierung des Arbeitnehmers nach den Grundsätzen des


innerbetrieblichen Schadensausgleichs liefe jedoch leer, wenn sie nur für
vertragliche, nicht aber auf deliktische Ansprüche gelten würde. Sie findet
nach allgemeiner Ansicht auch auf Ansprüche des Arbeitgebers aus § 823
Abs. 1 BGB Anwendung.

Nach § 823 Abs. 1 BGB steht M gegen L ein Schadenersatzanspruch folglich


ebenfalls nur in Höhe von € 1.400 zu.

Anm.: Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 303 Abs. 1 StGB scheitert an der
fehlenden Strafbarkeit fahrlässiger Sachbeschädigungen (vgl. § 15 StGB). Auch ein
Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 3 StVO scheidet aus. Der Schutzzweck des
§ 3 StVO erstreckt sich nämlich nicht auf den Schutz des Eigentums im Verhältnis
zwischen dem Fahrer und dem Eigentümer eines Fahrzeugs.

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Lösung Fall 5

B. Maserati

I. Ansprüche der H gegen L (§ 823 Abs. 1 BGB)

L hat rechtswidrig und fahrlässig den Maserati und mithin das Eigentum der H
beschädigt. Dabei hat er einen ersatzfähigen Vermögensschaden in Höhe
von € 30.000 verursacht.

Die Haftungsmilderung nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen


Schadensausgleichs gilt nur im Verhältnis des Arbeitnehmers gegenüber
seinem Arbeitgeber.

BGH und BAG haben es abgelehnt, diese Grundsätze auf das


Außenverhältnis des Arbeitnehmers zu einem geschädigten Dritten
auszudehnen. Dabei stützt sich der BGH auf den

„allgemeinen zivilrechtlichen Grundsatz, dass der Schuldner mit Einwendungen aus


dem Rechtsverhältnis zu einem Dritten – hier: im Verhältnis zu dem Geschädigten mit
Haftungserleichterungen als Ausfluss des Arbeitsvertrags mit seinem Arbeitgeber –
nicht gehört wird. (BGH 19.9.1989, AP Nr. 99 zu § 611 BGB Haftung des
Arbeitnehmers)

Darüber hinaus weist der BGH darauf hin, dass die Grundsätze zur
privilegierten Haftung des Arbeitnehmers maßgeblich auf dem Gesichtspunkt
beruhen, dass der Arbeitgeber das Verhalten des Arbeitnehmers durch seine
Organisationsgewalt beeinflusst. Eine solche Möglichkeit fehlt aber einem
außenstehenden Dritten. Dementsprechend sind die Fälle nicht vergleichbar
und eine Übertragung der Grundsätze ausgeschlossen (BGH 21.12.1993, AP
Nr. 104 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers).

Gegenüber Dritten kann sich L nicht auf seine Arbeitnehmereigenschaft


berufen und haftet daher in voller Höhe.

H hat gegen L aus § 823 Abs. 1 BGB einen Anspruch auf Schadenersatz in
Höhe von € 30.000.

II. Ansprüche des L gegen M (Freistellungsanspruch)

Fraglich ist aber, ob L gegen M einen Anspruch auf Freistellung von seiner
Haftung gegenüber H hat.

1. Rechtsgrundlage

Sofern L bei einer betrieblich veranlassten Tätigkeit das Eigentum des M


beschädigt, haftet er privilegiert nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen
Schadensausgleichs (siehe A.). Beschädigt er bei solchen Tätigkeiten das
Eigentum Dritter, haftet er diesen gegenüber hingegen unbeschränkt (siehe
B.I.). Wenn es bei diesem Ergebnis bliebe, könnte der Arbeitgeber die
Grundsätze des innerbetrieblichen Schadensausgleichs umgehen und seinen

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Lösung Fall 5

sich daraus ergebenden Haftungsanteil vermeiden, indem er Betriebsmittel


zum Einsatz bringt, die im Eigentum eines Dritten stehen.

Aus diesem Grund bejahen Rechtsprechung und Schrifttum einen


Freistellungsanspruch des Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber, wenn er
bei einer betrieblich veranlassten Tätigkeit arbeitgeberfremde Betriebsmittel
beschädigt. Der Arbeitgeber muss den Arbeitnehmer aufgrund dieses
Anspruchs insoweit von dessen Haftung gegenüber dem Dritten freistellen,
wie es der Haftungsverteilung im Verhältnis zwischen dem Arbeitnehmer
und dem Arbeitgeber entsprochen hätte, wenn die beschädigte Sache dem
Arbeitgeber gehört hätte.

Die rechtliche Grundlage des Freistellungsanspruchs ist nach der


bisherigen Rechtsprechung die sich aus § 611 BGB ergebende
Fürsorgepflicht des Arbeitgebers (BAG, Urt. v. 23.6.1988, AP BGB § 611
Gefährdungshaftung des AG Nr. 7). Im Schrifttum wird der Anspruch
hingegen zum Teil aus § 670 BGB analog i.V.m. § 257 S. 1 BGB hergeleitet
(vgl. ErfK – Preis, § 619a BGB, Rn 77ff.). Dem scheint sich das BAG nunmehr
anzuschließen (BAG 28.10.2010 – 8 AZR 647/09, NZA 2011, 406). Die
unterschiedliche rechtliche Begründung führt jedoch nicht zu
unterschiedlichen Ergebnissen, so dass eine Entscheidung dieser Streitfrage
unterbleiben kann.

2. Hypothetische Haftungsquote

Damit stellt sich die Frage, in welchem Umfang L gegenüber M gehaftet hätte,
wenn der Maserati nicht H, sondern M gehört hätte.

a) Verschuldensgrad

Die Fahrt des L mit dem Maserati erfolgte auf Weisung des M und war folglich
betrieblich veranlasst. Die hypothetische Haftungsquote hängt nach den
Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs daher vom
Verschuldensgrad des L ab.

Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach den
gesamten Umständen in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und unbeachtet
lässt, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Im Gegensatz
zum rein objektiven Maßstab bei einfacher Fahrlässigkeit sind bei grober
Fahrlässigkeit auch subjektive Umstände zu berücksichtigen. Es kommt also
nicht nur darauf an, was von einem durchschnittlichen Anforderungen
entsprechenden Angehörigen des jeweiligen Verkehrskreises in der jeweiligen
Situation erwartet werden konnte, ob also die Gefahr erkennbar und der
Erfolg vorhersehbar und vermeidbar war, sondern auch darauf, ob der
Schädigende nach seinen individuellen Fähigkeiten die objektiv gebotene
Sorgfalt erkennen und erbringen konnte.

Ein Autofahrer, der während der Fahrt nach einer herunter gefallenen
brennenden Zigarette sucht und dazu die Fahrt nicht unterbricht, handelt grob
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Lösung Fall 5

fahrlässig (OLG Hamm, ZfSch 2000, 347; OLG Karlsruhe, VersR 1993,
1096; VersR 1986, 770; VersR 1979, 758; OLG Düsseldorf ZfSch 1980, 248;
LG Lüneburg, ZfSch 2002, 439).

„Reagiert der Versicherungsnehmer spontan und reflexartig auf eine


zwischen seine Beine auf den Sitz gefallene brennende Zigarette und verliert
er dadurch die Übersicht über das Verkehrsgeschehen, führt er den
Versicherungsfall grob fahrlässig herbei. (…)
Bereits das Rauchen einer Zigarette während der Fahrt stellt erhöhte
Sorgfaltsanforderungen an den Fahrer. Es ist zwar als solches noch nicht als
grob fahrlässiges Verhalten zu werten (…). Gleichwohl ergeben sich aus dem
Rauchen während der Fahrt für den Fahrer wesentlich gesteigerte
Anforderungen, was die Sicherheit seiner Fahrzeugführung betrifft. Hierzu
gehört auch, dass der Fahrer in hohem Maß dafür Sorge tragen muss, dass
die brennende Zigarette sicher verwahrt bleibt und er nicht durch
Fallenlassen – auch von Teilen wie Glut oder Asche – Situationen herbeiführt,
auf welche möglicherweise nur reflexartig reagiert werden kann. Die Gefahr,
dass solche Situationen eintreten können, ist bei mangelnder Vorsicht beim
Rauchen im Fahrzeug durchaus nicht ungewöhnlich. Der Fahrer muss daher
sein gesamtes Verhalten so einrichten, dass es zu derartigen Fällen erhöhter
Gefahr nicht kommt.“ (OLG Karlsruhe, VersR 1993, 1096)

Nicht nur von einem durchschnittlichen Autofahrer, sondern auch vom L


konnte erwartet werden, dass er sich nicht sofort während der Fahrt nach der
Zigarette bückt, sondern die Fahrt zu diesem Zweck unterbricht. L handelte
daher grob fahrlässig.

b) Haftungsverteilung

Bei grober Fahrlässigkeit des Arbeitnehmers war nach bisheriger


Rechtsprechung eine Haftungserleichterung zu seinen Gunsten
ausgeschlossen, wenn ein Fall gröbster Fahrlässigkeit vorliegt. Nach einer
neueren Entscheidung des BAG ist selbst in solchen Fällen eine
Haftungserleichterung nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Vielmehr soll
nunmehr selbst bei gröbster Fahrlässigkeit eine einzelfallbezogene Abwägung
erforderlich sein (BAG NZA 2011, 345, 348). Gröbste Fahrlässigkeit ist
insbesondere dann gegeben, wenn der Arbeitnehmer in mehrfacher oder in
subjektiv unentschuldbarer Weise Sicherheitsvorschriften verletzt, die
tödlichen Gefahren entgegenwirken sollen (BAG, NZA 1998, 310, 312).

Indem L sich nach der brennenden Zigarette bückte, hat er lediglich eine
Sorgfaltspflichtverletzung begangen. Zudem beabsichtigte er mit dieser
Handlung, eine Beschädigung des Maserati zu verhindern und handelte
daher nicht in unentschuldbarer Weise. Schließlich verletzte er eine
allgemeine Sorgfaltsnorm, die im Bereich des gesamten Straßenverkehrs gilt,
und nicht nur der Vermeidung tödlicher Gefahren dient. Ein Fall gröbster
Fahrlässigkeit liegt daher nicht vor.

Im Übrigen hat der Arbeitnehmer einen grob fahrlässig verursachten Schaden


des Arbeitgebers in aller Regel voll zu tragen. Doch sind

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Haftungserleichterungen auch bei grober Fahrlässigkeit nicht


ausgeschlossen, wenn der Verdienst des Arbeitnehmers in einem deutlichen
Missverhältnis zum verwirklichten Schadensrisiko der Tätigkeit steht (BAG,
NZA 2002, 612, 614).

Der Schadenssumme von € 30.000 steht ein Bruttojahresverdienst des L in


Höhe € 16.800 gegenüber. Der eingetretene Schaden erreicht damit
annähernd die Summe zweier Jahresbruttogehälter des L, so dass zwischen
Verdienst und dem verwirklichten Schadensrisiko ein deutliches
Missverhältnis besteht. Die Haftung des L ist daher auf ein angemessenes
Maß von € 8.400 zu begrenzen, das sechs Bruttomonatsgehältern entspricht.

Anm.: Haftungssummen von € 4.200 (drei Bruttomonatsgehälter) bis zu € 16.400 (ein


Bruttojahresgehalt) wären ebenfalls gut vertretbar.

3. Rechtsfolge

Im Außenverhältnis zu H haftet L für die Beschädigung des Maserati in voller


Höhe von € 30.000 (s. oben B.I.).

Im Verhältnis zu M muss er hiervon einen Betrag von € 8.400 selbst tragen.


Hinsichtlich der verbleibenden Restsumme in Höhe von € 21.600 kann er von
M Freistellung von seiner Haftung gegenüber H verlangen. Dieser Betrag
entspricht dem Haftungsanteil des M, den er hätte tragen müssen, wenn der
Maserati ihm gehört hätte.

Anm.: Der Freistellungsanspruch des L befreit ihn nicht von seiner


uneingeschränkten Haftung gegenüber H. Wenn H von L Schadenersatz verlangt und
M seiner Freistellungsverpflichtung nicht nachkommt, ist L in voller Höhe zur Zahlung
an H verpflichtet.
Zahlt L in diesem Fall € 30.000 an H, wandelt sich sein Freistellungsanspruch wegen
der Pflichtverletzung des M nach § 280 Abs. 1 BGB in einen – nach wie vor gegen M
gerichteten – Anspruch auf Zahlung von € 21.600 um.
Anstatt einer Zahlung kann L der H die Abtretung seines Freistellungsanspruches
nach § 398 BGB anbieten. Nimmt H dies an, wandelt sich der Freistellungsanspruch
auch in diesem Fall in einen Zahlungsanspruch der H gegen M in Höhe von € 21.600
um.

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Lösung Fall 5

C. Fiat Punto (§ 670 BGB analog)

Es ist zu prüfen, ob L gegen M einen Anspruch auf Ersatz des an seinem Fiat
Punto entstandenen Schadens in Höhe € 100 aus § 670 BGB analog hat.

Die unmittelbare Anwendung des § 670 BGB setzt nach der systematischen
Stellung der Norm im BGB ein unentgeltliches Auftragsverhältnis voraus.
Eine Anwendung über die Verweisung in § 675 Abs. 1 BGB setzt einen
Dienstvertrag voraus, der eine Geschäftsbesorgung zum Gegenstand hat.
Geschäftsbesorgung ist jede selbstständige Tätigkeit wirtschaftlicher Art zur
Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen (Palandt/Sprau, § 675 Rn. 2).
§ 675 BGB setzt also Selbstständigkeit des Geschäftsführers voraus (h.M.,
vgl. statt aller MüKo – Heermann, BGB, § 675, Rn. 6). Das zwischen M und L
bestehende Arbeitsverhältnis, wird aber von der persönlichen Abhängigkeit
des Arbeitnehmers geprägt. Daher findet § 670 BGB keine unmittelbare
Anwendung.

I. Voraussetzungen des Analogieschlusses

§ 670 BGB könnte aber analog anwendbar sein. Eine analoge Anwendung
des § 670 BGB setzt zum einen eine planwidrige Regelungslücke und zum
anderen eine mit der Vorschrift vergleichbare Interessenlage voraus.

1. Regelungslücke

Weder das BGB noch die übrige Rechtsordnung enthält eine


verschuldensunabhängige Ersatzpflicht des Arbeitgebers für Aufwendungen
des Arbeitnehmers. Dabei besteht Einigkeit, dass der Arbeitgeber für
arbeitsbedingte Aufwendungen des Arbeitnehmers einzustehen hat. Daher
liegt eine planwidrige Regelungslücke vor.

2. Interessenlage

Der Zweck des § 670 BGB ist es, dass der im fremden Interesse Handelnde
keine Vermögensverluste erleiden soll, die über den Einsatz seiner
Arbeitskraft hinausgehen. Auch bei einem Arbeitsverhältnis soll der
Arbeitnehmer lediglich für den Einsatz seiner Arbeitskraft vergütet werden,
nicht aber darüber hinausgehende Aufwendungen auf sich nehmen. Die
Interessenlage ist daher vergleichbar und die Voraussetzungen der analogen
Anwendung des § 670 BGB damit erfüllt.

II. Aufwendung

§ 670 BGB gilt nach seinem Wortlaut nur für Aufwendung. Aufwendungen
sind freiwillige Vermögensopfer. Davon werden Schäden, die dem
Arbeitnehmers unfreiwillig entstehen, nicht erfasst.

Nach allgemeiner Ansicht wird § 670 BGB aber auch analog auf Schäden
angewendet, die typischerweise mit der Arbeitsleistung verbunden sind
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und im Interesse des Arbeitgebers erlitten werden. Der betreffende Schaden


muss daher bei Erbringung der Arbeitsleistung entstanden sein. Der
Arbeitgeber darf darüber hinaus nicht wegen einer schuldhaften
Verursachung des Schadens bereits nach § 280 Abs. 1 BGB haften. Der
Schaden muss ferner dem beruflichen Betätigungsfeld des Arbeitnehmers
zuzurechnen sein und mithin nicht zu dessen allgemeinen Lebensrisiko
gehören. Zudem darf der Schaden nicht arbeitsadäquat, d.h. er darf nicht
regelmäßiger Weise mit der Arbeitsleistung verbunden sein, und schließlich
darf der Schaden nach der arbeitsvertraglichen Risikoverteilung nicht vom
Arbeitnehmer zu tragen sein. Das ist etwa dann der Fall, wenn der
Arbeitnehmer für die Übernahme des Risikos, dass sich im jeweiligen
Einzelfall verwirklicht hat, eine besondere Vergütung, etwa eine Risikozulage,
erhält.

1. Schaden

An dem Fiat des L ist ein Sachschaden in Höhe von € 100 entstanden. Einen
Vermögensverlust hat L hierdurch aber nur dann erlitten, wenn für diesen
Schaden – mit Ausnahme des M – niemand einzustehen hat.

Dementsprechend hätte L möglicherweise dann keinen Schaden erlitten,


wenn das achtjährige Kind, das unvermittelt auf die Straße gelaufen ist, für
die Beschädigung des Fiats haften würde. Eine Haftung nach § 823 Abs. 1
BGB setzt jedoch die Schuldfähigkeit des Kindes voraus. Nach § 828 Abs. 2
Satz 1 BGB ist, wer das siebente, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet
hat, für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug einem
anderen zufügt, nicht verantwortlich. Nach dieser Vorschrift ist das Kind für
die Beschädigung des Fiats nicht verantwortlich. Eine Ausnahme hiervon
nach § 828 Abs. 2 Satz 2 BGB wegen vorsätzlicher Herbeiführung des Unfalls
kommt nicht in Betracht.

Anderweitige Anspruchsgrundlagen oder eine Haftung der Eltern wegen einer


Verletzung ihrer Aufsichtspflicht sind nicht ersichtlich. L hat daher einen
Vermögensschaden in Höhe von € 100 erlitten.

2. Zusammenhang mit Erbringung der Arbeitsleistung

Dieser Schaden entstand L als er auf Weisung und im Interesse des M sein
Kraftfahrzeug verwendete, um damit in Erfüllung seiner Arbeitspflicht Pizzen
für M auszuliefern.

Der Schadenseintritt ist dabei eine Folge der Verwendung des Fiats für den
Pizzaservice des M und nicht der privaten Risikosphäre des L zuzurechnen.

Dieser Schaden ist nicht regelmäßige Folge, die sich aus der Arbeitspflicht
des L ergibt, und schließlich hat L dieses Risiko nicht im Arbeitsvertrag mit M
übernommen.

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Daher liegt ein Schaden vor, der einer Aufwendung gleichsteht und auf den
§ 670 BGB analog anzuwenden ist.

Im Ergebnis hat L gegen M einen Erstattungsanspruch in Höhe von € 100 aus


§ 670 BGB analog.

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D. Schmerzensgeld

I. §§ 280 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB

L kann einen Schmerzensgeldanspruch gegen M aus §§ 280 Abs. 1, 253


Abs. 2 BGB haben.

1. Pflichtverletzung

Indem M dem L über den Fuß gefahren ist, hat er seine arbeitsvertragliche
Nebenpflicht zur Rücksichtnahme auf die körperliche Unversehrtheit aus des
L nach §§ 611, 241 Abs. 2 BGB verletzt.

2. Vertretenmüssen

Das Vertretenmüssen des M wird nach § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB vermutet.
Anhaltspunkte für eine Widerlegung dieser Vermutung sind nicht ersichtlich.

3. Rechtsfolge

Nach § 253 Abs. 2 BGB kann L für die Verletzung seines Körpers, die kein
Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld fordern.

4. Anspruchsausschluss

Der Anspruch des L ist jedoch möglicherweise nach der


unfallversicherungsrechtlichen Vorschrift des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII
ausgeschlossen.

a) Unternehmer und Versicherter

M ist als Arbeitgeber ein Unternehmer im Sinne des § 104 Abs. 1 Satz 1
SGB VII.

Als Arbeitnehmer ist L ein Beschäftigter und mithin gemäß § 2 Nr. 1 SGB VII
ein in der gesetzlichen Unfallversicherung Versicherter. Zudem ist er für das
Unternehmen des M tätig.

Anm.: Für die Haftung eines Arbeitnehmers gegenüber einem anderen


Arbeitnehmer bei einem Arbeitsunfall schränkt § 105 SGB VII die Haftung für
Personenschäden ein.

b) Versicherungsfall

Nach § 7 SGB VII sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten


Versicherungsfälle. Arbeitsunfälle sind gemäß § 8 Abs. 1 SGB VII Unfälle
von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz § 2 SGB VII
begründenden Tätigkeit.

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Die Versicherungspflicht des L wurde mit seinem Arbeitsverhältnis zu M


begründet. Bei der Erfüllung seiner sich aus diesem Verhältnis ergebenden
Arbeitspflicht fuhr ihm M über den Fuß. Bei diesem Unfall handelt es sich
daher um einen Arbeitsunfall und folglich auch um einen Versicherungsfall im
Sinne des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII.

c) Kein Vorsatz

Als er mit dem Ferrari losfuhr hat M nicht auf L geachtet. Er hat den Unfall
somit wie von § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII vorausgesetzt nicht vorsätzlich
herbeigeführt.

Im Übrigen liegt auch kein Wegeunfall im Sinne des § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4
SGB VII vor.

d) Personenschaden

§ 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII schließt nach seinem Wortlaut nur die Haftung
für Personenschäden aus. Es ist unklar, ob dies auch die Haftung des
Arbeitgebers auf Schmerzensgeld ausschließt.

Gegen die Anwendbarkeit von § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII auf
Schmerzensgeldansprüche spricht, dass die gesetzliche Unfallversicherung
nach den §§ 26ff. SGB VII auf den Ersatz materieller Schäden zugeschnitten
ist. Wenn sie aber die vom Versicherten erlittenen Schmerzen nicht
ausgleicht, dann spricht dies dafür, dass ihm seine entsprechenden
Ansprüche gegen den Arbeitgeber erhalten bleiben und nicht von § 104
Abs. 1 Satz 1 SGB VII ausgeschlossen werden.

Nach seinem Sinn und Zweck dient § 104 SGB VII dem sozialen Schutz des
Arbeitnehmers bei Arbeitsunfällen. Der Arbeitnehmer wird bei Arbeitsunfällen
nach dem SGB VII durch ein verschuldensunabhängiges Haftungssystem
und die gesetzlichen Berufsgenossenschaften als leistungsfähige
Schuldner abgesichert. Im Gegenzug soll der Arbeitgeber, der die
wirtschaftliche Last der Versicherungsbeiträge allein zu tragen hat, nach
§ 104 SGB VII von Ansprüchen des Arbeitnehmers freigestellt werden. Dieser
Haftungsausschluss soll zugleich der Wahrung des betrieblichen Friedens
dienen und verhindern, dass es aufgrund gerichtlicher Klagen eines
Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber zu betrieblichen Konfliktsituationen
kommt. Zu solchen Situationen kommt es aber auch dann, wenn ein
Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber Schmerzensgeld einklagt. Auch solche
Klagen sollten vom geschlossenen Haftungssystem des SGB VII
ausgeschlossen sein.

Das spricht im Ergebnis mit entscheidendem Gewicht dafür, nicht nur


Ansprüche des Arbeitnehmers auf Schadenersatz, sondern auch auf
Schmerzensgeld unter den Begriff des Personenschadens im Sinne des
§ 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII zu subsumieren.

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Der Anspruch des L gegen M auf eine billige Entschädigung nach §§ 280
Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB ist nach 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ausgeschlossen.

II. §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB

Soweit L aus § 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB ein Schmerzensgeldanspruch


gegen M zusteht, ist auch dieser nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII
ausgeschlossen. § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII gilt für alle „anderen
gesetzlichen Vorschriften“ und schließt daher nicht nur die vertragliche,
sondern auch die deliktische Haftung auf Schmerzensgeld aus.

L hat keinen Schmerzensgeldanspruch gegen M.

Zur Wiederholung und Vertiefung:


BAG, Urt. v. 28.10.2010 – 8 AZR 418/09, NZA 2011, 345
(Magnetresonanztomograph, Haftungserleichterung auch bei gröbster
Fahrlässigkeit).
BAG, Urt. v. 18.4.2002 – 8 AZR 348/01, NZA 2003, 37 (Gabelstaplerfall zum
Bezugspunkt des Verschuldens bei der Arbeitnehmerhaftung)
Raimund Waltermann, Besonderheiten der Haftung im Arbeitsverhältnis,
JuS 2009, S. 193 – 200
Rüdiger Krause, Geklärte und ungeklärte Probleme der Arbeitnehmerhaftung,
NZA 2003, S. 577 – 586
Raimund Waltermann, Risikozuweisung nach den Grundsätzen der
beschränkten Arbeitnehmerhaftung, RdA 2005, S. 98 – 109

Seite 19

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Annex

Universalfrage: Wer schädigt wen woran?

I. Ansprüche des AN nach einem Arbeitsunfall

Personenschaden Sachschaden
• Anspruch AN gegen Unfall- • Kein Anspruch des AN gegen
versicherung aus § 2 ff. SBG VII Unfallversicherung
• Ansprüche des AN gegen AG aus • Ansprüche des AN gegen AG aus
§§ 280, 823 BGB sind gem. § 104 §§ 280, 823 BGB, wenn AG
SGB VII ausgeschlossen schuldhaft gehandelt hat
§ 104 SGB VII gilt nach h.M. auch • Anspruch gegen AG analog § 670
das Schmerzensgeld! BGB, wenn dieser schuldlos
Ausnahmen: Vorsatz und Wegeunfall gehandelt hat

• Anspruch des AN gegen Kollegen • Anspruch gegen Kollegen aus § 823


aus § 823 BGB ist wg. § 105 SGB VII BGB möglich
ausgeschlossen • Kollege hat ggf. Freistellungs-
§ 105 SGB VII gilt nach h.M auch das anspruch analog § 670 BGB gegen
Schmerzensgeld! den AG
Ausnahmen: Vorsatz und
Wegeunfall

II. Ansprüche des AG gegen den AN

Personenschaden Sachschaden
• AN schädigt AG an der Gesundheit: • Ansprüche des AG gegen den AN
§ 105 II SGB VII (Unfallversicherung aus §§ 280, 823 BGB
übernimmt Schaden, um Achtung: Grundsätze über die
Betriebsfrieden zu sichern) Haftungsbeschränkung im
Arbeitsverhältnis finden Anwendung
(sog. innerbetrieblicher
Schadensausgleich)

III. Ansprüche eines Dritten gegen den AN

 Anspruch aus 823 BGB (Keine Haftungsprivilegierung)


 AN hat im Innenverhältnis einen arbeitsrechtlichen Freistellungsanspruch
gegen den AG aus der arbeitsvertraglichen Fürsorgepflicht oder gem. 670 BGB
analog (str.)

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