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British Psycho

 Vor 130 Jahren trieb der wohl bekannteste Serienmörder der Geschichte sein
Unwesen im Bezirk Whitechapel des Londoner East Ends. Dass der Mörder
„bekannt“ war, ist natürlich latent irreführend, denn immer noch hat man keinen
blassen Schimmer, wer die Morde begangen hat. Man taufte ihn „Jack the Ripper“.

Paulette Gensler

Whitechapel, das außerhalb der Stadtmauern lag, war seit längerer Zeit ein Ort, der
sich der Erfassung und Kontrolle durch die Stadtverwaltung entzog. Hier siedelten
sich zahlreiche Wirtschaftszweige an, die vor allem aufgrund ihrer
Geruchsentwicklung in der Stadt weniger geduldet wurden: Schlachthäuser,
Brauereien und Färbereien. Die mangelnde Kontrolle zog schon im 17. Jahrhundert
allerhand krumme Gesellen an, die sich hier niederließen. Das eigentliche East End
entstand jedoch erst im Zuge der Industrialisierung. Neben den britischen
Landflüchtlingen setzte sich die Bevölkerung vor allem zusammen aus Hugenotten,
Iren und osteuropäischen und deutschsprachigen Einwanderern, unter denen viele
Juden waren, die vor Pogromen in ihren Herkunftsländern flohen. Aber schon um
1850 war die Industrie, welche als „Hinterhof-Industrie“ mit der Konkurrenz in
Nordendland nicht mehr mitkam, weitestgehend zusammengebrochen. Aus den im
18. Jahrhundert noch als prosperierende geltenden Arbeiter- und Fabrikviertel, was
selbstverständlich nur hieß, dass damals noch ausgebeutet wurde, waren längst
reine Armenviertel geworden, in denen all die Überflüssigen, die man „Whitechapel
class“ nannte, zu überleben versuchten. Wer von den hier Geborenen das Glück
hatte, zu jener Hälfte zu gehören, die das erste Jahr überlebten, konnte darauf
hoffen, ein Höchstalter zwischen zwanzig und vierzig Jahren zu erreichen. Das
Ausmaß der Armut, des Drecks, der Obdachlosigkeit und Gewalt sowie billigem
Fusel ist nicht nur aus heutiger Sicht schwer zu fassen. Auch der
Theaterschauspieler Jacob Adler vermerkte in seiner Biographie über den Aufenthalt
in Whitechapel im Jahre 1884, weder in Russland noch in den Slums von New York
oder irgendwo anders habe er jemals solches Elend gesehen wie im London der
1880er. Schätzungsweise um die 1.200 Frauen waren nur allein in Whitechapel
gezwungen, sich zu prostituieren, und wurden in der Regel von brutalen
Zuhälterbanden ausgebeutet. Dazu kamen unzählige Gelegenheitsprostituierte. 

Die schnell einsetzende Aufregung über die Morde ist erst einmal relativ
verwunderlich. So waren es beispielsweise recht „wenige“ Morde. Schon zur
damaligen Zeit betrachtete man fünf als „kanonische“ Morde (August bis November
1888) aus insgesamt elf „Whitechapel Morden“ (1888-1891) als dezidierte Taten des
Rippers. Bei den weiteren war und ist die Zuordnung umstritten. Einige gelten als
Trittbretttaten, andere als überhaupt nicht mit der Serientat zusammenhängend, die
eher durch die Massenhysterie, die die Bewertung erschwerten, damit assoziiert
wurden. Nur stellten aber im East End und besonders in Whitechapel Mord und
Totschlag eher die Regel als eine Ausnahme dar. Gerade die konkreten Straßen, in
denen die Morde verübt wurden, waren als schlimmste Gegenden des East Ends
und somit ganz Londons angesehen. Außerdem: alle Ermordeten waren
Prostituierte, die damals – wie in Teilen heute noch – keineswegs zu der
Opfergruppe gehörte, um die sich Polizei oder öffentliche Meinung allzu sehr
scherten. Aber selbst für die Verhältnisse Whitechapels waren die Morde mit einer
offenkundig planvollen Bestialität begangen worden. 
Allen Opfern wurde die Kehle von links nach rechts mit einem Messer aufgeschlitzt.
Eventuell wurden sie vorher betäubt. Schon dem ersten Opfer, Mary Ann Nichols,
aber wurde post mortem versuchsweise der Unterleib aufgeschnitten. Der Sinn jener
Schnitte sollte sich eine Woche später beim nächsten Opfer, Annie Chapman,
kundtun. Ihre Leiche, der ebenfalls der Unterleib geöffnet wurde, war nahezu
komplett ausgeweidet. Ihre Organe waren über ihre Schulter gelegt. Später stellte
sich heraus, dass je nach Angaben Teile der oder gar die komplette Gebärmutter wie
auch der Bauchnabel fehlten. Dem nächsten Opfer wurde drei Wochen später „nur“
die Kehle durchgeschnitten, wobei man vermutet, dass die Tat gestört wurde, denn
nur 44 Minuten später wurde einen Kilometer entfernt Catherine Eddowes auf die
selbe Art ermordet, ihre halbe Gebärmutter sowie eine halbe Niere entfernt und ihr
das Gesicht zerschnitten. Schon nach dem zweiten Mord und in Anbetracht des
immer offenkundigeren Versagens der Polizei, welches sich in endlosen Karikaturen
niederschlug, hatten sich Bewohner zum Whitechapel Vigilance Committee
zusammengeschlossen, dessen Mitglied in der Nacht durch die Straßen
patrouillierten. Dies trug zwar weder zur Aufklärung des Falls noch zur Verhinderung
des letzten Mordes bei, doch wird vermutet, dass die Aktionen gewisse Umstände
der letzten Tat mitbedingten. So wurde das letzte Opfer, Mary Kelly, im Gegensatz zu
den anderen, welche auf offener Straße ermordet wurden, in ihrem eigenen Zimmer
umgebracht. Gleichzeitig wies sie mit Abstand die härtesten Verstümmelungen auf,
vermutlich, da der Täter hier genügend Zeit hatte. Ihre Innereien waren förmlich
durch ganze Zimmer verteilt. Die grauenhafte Photographie vom Tatort kann man
heute betrachten. 

Vermutlich aber hätten selbst diese Grausamkeiten sich keineswegs so schnell und
weit verbreiten können, ohne die gewandelte Rolle der Medien. Seit 1855 gab es
aufgrund des technischen Fortschritts und neuer Pressegesetze die günstigen
Massenzeitungen, welche die Mordserie rasch aufgriffen und mit der Schöpfung des
Spitznamens „Jack the Ripper“ für den unbekannten Täter eine neue und durchaus
erfolgreiche Praxis in der Berichterstattung über Mordfälle einführten. Nach kurzer
Zeit kam es zu einer fast weltweiten Aufregung – insbesondere in den USA und
Australien, wo man sich nur zu bewusst war, wohin die meisten flüchten, welche in
Großbritannien polizeilich gesucht werden. 

Hinzu kamen aber noch andere Faktoren. So wurde beispielsweise in der Nacht des
Doppelmordes mit weißer Kreide in der Goulston Street an eine Hauswand das
Graffito geschrieben: „The Juwes are the men that will not be blamed for nothing“
oder „The Juwes are not the men that will be blamed for nothing.“ Nun war der
wachsende Antisemitismus – insbesondere unter der „einheimischen“ Bevölkerung –
wahrlich kein Geheimnis, und auch gewisse beteiligte Polizisten waren nicht frei
davon. Es hätte also kaum so große Aufmerksamkeit erlangt, hätte nicht unter dem
Graffito ein Stück der blutverschmierten Schürze des zweiten Opfers dieser Nacht
gelegen. Schon nach dem ersten Mord wurde eine Jude, den man „Leather Apron“
nannte, in den Gerüchten zum Verdächtigen, und da ein anderer Fall, der Lipski-
Mord, im Jahre 1887 gezeigt hatte, wie stark der Antisemitismus bloß auf einen
Anlass wartete, der etwas dramatischer ist, als den jüdischen Immigranten
vorzuwerfen, dass sie bis zu 18 Stunden am Tag für einen zu geringen Lohn
arbeiten, und damit die Arbeitskämpfe unterwandern, war einem der Beamten die
Sprengkraft durchaus bewusst, weshalb das Graffito von der Polizei zügig
überstrichen wurde, ohne es vorher zu fotografieren. Schon den Zeitgenossen
musste die dem Cockney übliche doppelte Verneinung aufgefallen sein, und ein
damaliger Journalist namens Robert Donston Stephenson, dessen Okkultismus in
bald selbst zu einem Verdächtigen im Ripper-Fall machen sollte, war der Ansicht,
dass die Falschschreibung von „Jews“ auf einen französischen Urheber hindeute,
was dem Zeitgeist der Oberschicht schon von daher entgegenkam, da man so die
Tatmotivation dem sittenlos Erzrivalen auf dem Kontinent zuschieben konnte. Die
Polizeibehörden wie die jüdische Gemeinde sahen es als Versuch des Täters von
sich abzulenken und antisemitische Ressentiments zu schüren – zumindest
Letzteres hatte es tatsächlich bewirkt, denn der Entfernung zum Trotz hatte es sich
längst herumgesprochen. Der Mob jedenfalls verstand es ferner auch gleich als
Geständnis eines Juden und es folgten spontane antisemitische Kundgebungen, die
aber rasch wieder abebneten. Inwieweit überhaupt ein Zusammenhang mit den
Morden besteht, ist bis heute massiv umstritten. 

Für die Ermittlungen war diese Episode aber im doppelten Sinne relevant: zum einen
verstärkte sie den antisemitischen Fokus der „Zeugen“, die auf einmal immer öfter
dem mutmaßlichen Täter „jüdische Erscheinung“ andichteten, und auch einiger
Beamter, wie zum Beispiel des Assistant Commissioner von Scotland Yard, Robert
Anderson, der der Ansicht war, dass ein Jude nicht gegen einen anderen Juden
aussagen würde, was er als Grund ansah, warum der Fall nicht gelöst werden
könne. Zum anderen erschwerte die allgemeine Stimmung den redlicheren Beamten
die Ermittlung gegen Juden, gegen die tatsächlich gewisse Verdachtsmomente
vorlagen. Das plötzliche Ende der Morde im November 1888, ohne, dass sich die
Polizei dies hätte anrechnen können, trug wahrlich nicht dazu bei, die Mischung aus
Euphorie und Hysterie zu entkräften.

Man kann nicht behaupten, dass die Polizei nicht unglaubliche Anstrengungen
unternahm, um die Mordserie aufzuklären. Über 2000 Personen waren befragt
worden, gegen über 300 wurde ermittelt und um die 80 nahm man zeitweise fest. Im
engeren Kreis der von der Polizei verdächtigten Personen war unter anderem
Montague John Druitt, der im Dezember 1888 starb, was das Ende der Morde
erklären würde, gleichzeitig aber auch das einzige ernsthafte Indiz darstellt. Ein
anderer Verdächtigter war Seweryn Antonowicz Kłosowski. Dieser war zwar wirklich,
wie sich später herausstellte, ein Serienmörder, aber einer, der seine eigenen
Frauen und Geliebten vergiftete. Er erschien in London zur Zeit des ersten Mordes,
und die Mordserie endete, als er in die USA auswanderte, wo er seine Giftmorde
verübte. Ferner gab es mit der Ermordung von Carrie Brown ein dem Ripper
ähnlichen Mord in New York, der sich grob zur Zeit seiner dortigen Ankunft ereignete.
Fraglich ist nur, ob er die Passage in der Zeit geschafft haben kann, was heute eher
bestritten wird. Auch ist nach wie vor stark umstritten, inwieweit Serienmörder ihren
modus operandi und ihre Ziele derart drastisch variieren. Zahlreiche andere
Hauptverdächtigte hatten Alibis für zumindest einen der Morde, was in vielen Fällen
aber nicht hieß, dass sie nicht trotzdem Mörder, Vergewaltiger, Frauenhasser und -
misshandler waren. Besonders traf dies auf den zu Reichtum gekommenen
Quacksalber Francis Tumblety zu, der sogar in einer Herrenrunde den Anwesenden
seine Sammlung von in Gläsern eingelegten Gebärmüttern gezeigt hatte und dabei
stolz verkündete, diese stammten von Frauen „aus allen Klassen.“ Zwei Tage vor
dem letzten Mord wegen homosexuellen Akten kurzzeitig verhaftet, floh er aber kurz
darauf über Frankreich in die USA. Die US-Behörden, die ihn observierten, da er
früher mit dem Lincoln-Attentäter Kontakt gehabt haben soll, sahen keine Indizien
bezüglich seiner möglichen Identität als Ripper und verweigerten die Auslieferung
wegen seines laufenden Prozesses. Die Liste derer, die aufgrund ähnlicher Indizien
in Frage kamen und kommen ist äußerst lang. Obwohl es noch kaum kriminologische
Methoden gab, wurden im Ripper-Fall gewisse Profiling-Bestrebungen erstmalig in
gebündelter Form angewandt. So versuchte man sich der Identität des Rippers zu
nähern, indem man versuchte, das Ende der Morde zu erklären, was die Suche aber
nur bedingt einschränkte, und nicht selten mit einem Toten als Verdächtigten endete,
was nicht sehr befriedigend schien. Auch die Tatsache, dass gewisse Verdächtigte
aus London flohen, kann nicht einfach als Schuldeingeständnis gelten, denn gegen
bekanntgewordene Verdächtigte gab es jeweils unzählige Lynchversuche der
Bevölkerung. Ferner holte man sich Zeugenaussagen darüber ein, wie die Personen
aussahen, mit denen die Opfer zuletzt gesehen wurden, und bekam
Beschreibungen, die sich aber in der Regel komplett widersprachen, der Täter war in
der Regel groß und klein, dick und dünn, blond und brünett und so weiter. Eine
andere Vermutung, die nahelag, war, dass der Täter chirurgische Kenntnisse oder
zumindest jene eines Schlachters besitzen müsste. Gerade dies wurde oft und
energisch bestritten, wobei angemerkt werden muss, dass jene die es bestritten, in
der Regel selbst Ärzte waren und damit ihren Berufsstand aus dem Schussfeld zu
nehmen versuchten. Ein durchgedrehter Chirurg hätte zu sehr verraten, was Freud
später über diesen Beruf schrieb, dessen Wahl seines Erachtens insbesondere auf
sublimierten sadistischen Triebanteilen beruhe. Als wäre dies alles nicht
verkomplizierend genug gewesen, gingen bei der Polizei hunderte
Bekennerschreiben ein. Einige von diesen wurden als „glaubhaft“ angesehen,
woraufhin sie in Zeitungen als Faksimiles abgedruckt wurden – in der Hoffnung, dass
jemand die Handschrift erkennt. Dies hatte nicht nur keinen Erfolg, sondern
vereinheitlichte nur die massenhaften Fälschungen, deren Urheber nun wussten,
was sie nachmachen mussten. Die Polizei ging damals schon davon aus, dass eine
gute Anzahl der Fälschungen durch Journalisten angefertigt wurden, denn die
Zeitungen waren darauf angewiesen, dass die Vermutungen weiterlaufen. Noch
heute sind scheinbar neue Erkenntnisse über die Identität des Rippers ein gutes
Mittel die Auflage kurz zu erhöhen, und die Fälschungen reißen nicht ab. Eher
weniger geschickte Fälscher vergaßen im Rausch schnell einmal, dass ein mit einem
Kugelschreiber geschriebener Brief des Jacks nicht ganz glaubwürdig ist, denn
dieses Schreibgerät wurde erst deutlich später erfunden.

Selbst die kanonischen Schriftstücke, welche damals in die engere Auswahl kamen,
wie der „From Hell“- und der „Dear Boss“-Brief oder die „Saucy Jack“-Postkarte,
vermerkten die Beamten damals als Fälschungen eines Journalisten, dessen Namen
sie aber weder preisgaben noch irgendwo notierten. Nicht immer handelt es sich bei
den von den „Ermittlungen“ hervorgebrachten „Erkenntnisse“ um direkte
Fälschungen, sondern ab und an auch um schlichten Pfusch, wie im Falle von 2014
vorgestellten DNA-Analyse der Sperma- und Blutspuren von einem Schal, von dem
man nicht einmal weiß, ob er Täter oder Opfer gehört hat. Diese sollten den polnisch-
jüdischen Friseur Aaron Kosminski, der schon zu Lebzeiten einer der
Hauptverdächtigen war, überführt haben. Nur stellte sich rasch heraus, dass bei der
Durchführung massive Fehler gemacht wurden. Die Proben wurden bisher immer
noch nicht für ein Kreuzgutachten freigegeben, wobei vermutet wird, dass sie
dermaßen kontaminiert sind, so dass auch dies keinen Sinn mehr ergeben würde.
Polizisten gingen in Frauenkleidern auf Streife, um den Killer zur Tat zu verführen.
Aber weder sie noch der Einsatz von Spürhunden brachten den geringsten
verwertbaren Hinweis. Auch ein königliches Pardon, das jedem Komplizen des
Rippers gewährt wurde, verpuffte wirkungslos.
1896 wurden die Ermittlungen faktisch eingestellt – jedenfalls die polizeilichen, denn
die Mutmaßungen liefen natürlich munter weiter. Im Verlauf traf die Gerüchteküche
nahezu jede etwas exzentrische Persönlichkeit und zahlreiche andere, wie den
royalen Leibarzt Sir William Withey Gull, den Autor Lewis Caroll und sogar den
„Elefantenmenschen“, Joseph Carey Merrick, der offenkundig körperlich nicht in der
Lage gewesen wäre, die Morde zu begehen. Robert Louis Stevenson, Autor des
1886 erschienen Stückes „Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde“, bot sich aufgrund
seines Werkes ebenfalls als Verdächtigter an. Er war aber schon tot, was die
Gerüchteküche nicht automatisch hinderte, sich Umstände auszudenken, unter
denen er doch noch am Leben und somit der Mörder sein könnte. Die zwei
Bühnenadaptionen, welche 1888 in London liefen, mussten zwischenzeitlich
trotzdem aus Pietätsgründen abgesetzt werden. Auch Oscar Wilde verstärkte mit
seinem Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ (1890) nur die Gerüchte, er könne der
Ripper sein. Verdächtigt wurden ferner Polizisten, Nachtwächter oder jemand, der
sich als eines der beiden verkleide. Ein militärischer Hintergrund wurde
zwischenzeitlich angenommen. Und Polizeibeamte gaben anonym Zeitungen zu
Protokoll, sie hätten den Mörder, ein „highly respected doctor“, angeblich gefasst,
aber er sei entlassen worden. Andere vermuteten einen Mann aus der „shabby-
genteel class“ (Evening News, 16. Oktober) oder einen aus der „mechanic class“, der
aber Amerikaner sein sollte. (Evening News, 8. Oktober) Der Manchester Guardian
präsentierte am 15. November die Auflösung einer Mordserie in Frankreich, die ein
Russe begangen habe, der ebenfalls studiert gewesen sei. Der Artikel war mit dem
deutlichen Hinweis versehen, dass dies helfen könne, den Londoner Fall zu lösen.
Der Mörder könne gar ein junger Mann aus der Oberschicht sein, der hypnotisiert
wurde, und gar nicht wisse, dass er der Mörder sei. (Evening News, 16. Oktober)
Kurz darauf war es an anderer Stelle ein malaiischer Schiffskoch, der von einer
Prostituierten ausgeraubt worden sei, und geschworen habe, alle Prostituierten des
Bezirks zu töten und zu verstümmeln, bis er die Betreffende fände. Dass dies die Art
der Malaien sei, brauchte man zu jener Zeit dann eigentlich gar nicht mehr
hinzufügen, tat es aber trotzdem. (Atchison Daily Globe, 27. Oktober) Und die
Vegetarier lieferten nicht direkt einen Schuldigen, merkten aber an, der
Fleischkonsum sei schuld. In verhältnismäßig seriösen Zeitungen konnte man ferner
lesen, dass Vampire und Werwölfe eventuell doch echt seien. Gern endeten solche
Vermutungen jeglicher Art mit einem Satz, wie dem folgenden: „Ein Hinweis dieser
Art mag sinnvoll sein, sicherlich kann es keinen Schaden anrichten.“ (Evening News,
3. Oktober) Den Höhepunkt dürften immer noch die Verdächtigungen gegen den
Prinzen Albert Victor, den Enkel der Königin, darstellen, der ein überzeugter
Bordellgänger war und dessen Name später auch im Cleveland Street Scandal,
einem aufgeflogenen Männerbordell, genannt wurde. Viele der konkreten
Verdächtigungen wurden erst im 20. Jahrhundert abgefasst und versucht, zu
untermauern, waren aber in den meisten Fällen schon längst von den damaligen
Bewohnern Whitechapels und Londons im Allgemeinen erhoben worden. Nur
getrauten sich die Zeitungen, da die betreffenden Personen noch lebten und
durchaus zu Verleumdungsklagen griffen, in der Regel nicht, diese Gerüchte
abzudrucken. Bekannt waren sie nichtsdestotrotz, und im Ausland war auch die
Presse etwas haltloser. Erstaunlich sind die Wege, auf denen Zeitungen doch
bekannte Namen fallenließen – entweder sprachen sie Gerüchten, die vorher nie in
einer Zeitung erschienen, halbherzig die Glaubwürdigkeit ab, wodurch sie das
Gerücht abdrucken konnten, und in anderen Fällen tauchen plötzlich in einem Text
über den neusten Ripper-Mord ohne jeglichen expliziten Zusammenhang ein Satz
auf, der beispielsweise anmerkte, in welchem Theater Oscar Wilde an diesem Abend
gewesen sei. Womit man natürlich fallen lassen konnte, dass er anscheinend zur
Tatzeit in London gewesen war. Assoziationsketten solcher Art waren das wertvollste
Stilmittel in der Ripperberichterstattung. So hatten vorher schon Zeitungen nebenbei
fallengelassen, dass komischerweise keine Jüdin unter den Opfern sei, um
hinterherzuschieben, dass dies natürlich nichts bedeuten müsse. Interessant ist aber
vor allem, dass die Anschuldigungen immer weiter nach oben wanderten. Die
jüdische Gemeinde, die bürgerlichen Ärzte und Chirurgen, und ähnlich kollektiv
verdächtigte Berufsgruppen, Schichten oder Konfessionen waren
verständlicherweise froh, nicht mehr im Fokus zu stehen, und hatten also durchaus
ein Interesse an jener Aufwärtsspirale der Gerüchteküche. Die „upper“ und Teile der
„middle class“ schienen die Gefahr solcher Tendenz nicht gleich zu erkennen.
Gewisse Adlige gaben sich gar als Jack the Ripper aus, erschreckten Frau im East
End, um den Nervenkitzel zu genießen. Mittelschichtler stellten sich der Polizei und
gaben direkt an, der Ripper zu sein, wurden aber alle für verrückt erklärt. Jack the
Ripper umfing recht bald eine Geheimnisträchtigkeit, die wohl nur mit dem „Mann mit
der eisernen Maske“ in Frankreich oder Kaspar Hauser in Deutschland zu
vergleichen war, im Gegensatz zu diesen aber eben deutlich bedrohlicher ausfiel.
Maßgebliche Wirkung entfaltete der Ripper schon kurz nach seinen Taten in Literatur
und Fiktion. Der in der kollektiven Imagination immer mehr zum Super-Schurken
aufsteigende Serienmörder verlangte letztlich nach dem Super-Detektiv. Es wurden
schließlich dieselben Methoden bei den Aufklärungsversuchen angewandt, die man
längst aus bestimmten Detektivromanen kannte, welche der kriminologischen Praxis
weit voraus waren, aber hier in der Realität einfach nicht zum Erfolg führen wollten.
Und so ist es kaum verwunderlich, dass irgendwann Sherlock Holmes auf den Plan
treten musste, den zahlreiche Autoren von Pastiches den Killer gern fangen ließen.
Dessen Schöpfer, Conan Doyle, aber ließ seine Figur niemals nach dem
Serienmörder suchen, zumal er von einer „Jill the Ripper“ ausging. Doyle stellte die
Überlegungen an, dass eine Frau sich als Hebamme verkleidet eher blutüberströmt
durch die Stadt bewegen könne, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, als es ein Mann
je vermöchte. Auch der Chefermittler Frederick Abberline; nahm angesichts des
fünften und letzten kanonischen Mordes an, dass eine Frau in Frage käme, denn
Zeugen hatten das Opfer noch nach der Tatzeit gesehen, woraus er schloss, die
Täterin hätte die Kleidung des Opfers angezogen. Eine Hebamme oder Abtreiberin
hätte ferner die anatomischen Kenntnisse besessen. Die einzige zu Lebzeiten
verdächte Frau war Mary Pearcey, die es für eine andere, dem Ripper durchaus
ähnliche Tat an den Galgen und ins Horrorkabinett von Madame Tussauds schaffte,
während Jack the Ripper dort nur als Schatten vorkommt. Eine andere später
Verdächtige war die eher „berufliche“ Serienmörderin Amelia Dyer, welche bis zu 400
Kleinkinder und Neugeborene verhungern ließ bzw. gleich stranguliert hat, während
sie den Müttern vorgaukelte, die Kinder aufzuziehen und zu Adoptiveltern zu
vermitteln, und dafür eine teilweise stattliche Gebühr kassierte. 

Das Unwissen über das Motiv dürfte zumindest genauso verstörend sein wie das
mangelnde Wissen um die Täterschaft selbst. Der Ort der Verstümmelungen lässt
gewisse psychologische Schlüsse zu, die aber selbstverständlich auch nur
Gedankenspiele sind. Der naheliegendste Gedanke ist schließlich, dass die
Frauenverachtung sich auf das Beneidete, also die Gebärfähigkeit, stürzt. Und
Frauenhass wurde in den Ermittlungen als das offenkundige Hauptmotiv
angenommen, das viele der Kandidaten auch erheblich erfüllten. Und doch kamen
einige zu dem Schluss, dass der Gebärneid als prototypisch männliche Pathologie
durchaus auch für Frauen gelten kann. Eine neuere Verdächtigte ist in diesem Sinne
Mary Elizabeth „Lizzie“ Ann Williams, welche sich vermeintlich für ihre
Unfruchtbarkeit rächen wollte, die durch eine Geschlechtskrankheit verursacht
worden sei, welche ihr Mann sich durch den Besuch bei Prostituierten eingehandelt
habe. Andere Männern, die verdächtigt wurden, berichteten von Verführungen im
Kindesalter durch die Mutter, was den Einbruch des Geburtstraumas in Form des
aufgezwungenen mütterlichen Genitals zu einer möglichen Erklärung der
Verstümmelungen werden lässt. Kant hätte solche Überlegungen wohl als freies
Spiel der Urteilskraft bezeichnet, und damit durchaus Recht gehabt, weshalb die
größte Wirkung auch in der Fiktion, statt in der Populär- bis Pseudowissenschaft der
„ripperology“, wie man diesen – teilweise sehr profitträchtigen - Zweig seit den
1970ern nennt, erzielt wird. Jedes belletristische Buch oder jeder Spielfilm, der eine
Auflösung liefert, verrät aber in dem Versuch, die Ungewissheit zu bannen, seinen
Gegenstand. Will man eine solche Geschichte erzählen, muss man letztlich doch
wieder beim gegenwärtigen Stand der Unwissenheit landen und demnach die
eigenen Phantasmen durch weitere Phantasmen wieder einfangen, womit man sich
aber nur noch tiefer in Verschwörungstheorien verfängt. Besonders repräsentativ
dürfte dafür der Film „From Hell“ mit Johnny Depp sein. Es ist eine Comicverfilmung,
die wie die Graphic Novel selbst, auf den Arbeiten des Verschwörungstheoretikers
Stephen Knight beruhen, welcher sich durchaus mit Dan Brown messen könnte, im
Gegensatz zu diesem aber „Sachbücher“ verfasst. In der Grundlage wie in den
ästhetischen Verarbeitungen ist enthalten, was Verrückte brauchen: Freimaurer, eine
Verschwörung, die bis ins Königshaus reicht und ein königlicher Leibarzt, der eine
Lobotomie erhält, damit er Stillschweigen bewahre. 

Wer Jack the Ripper entlarvt, muss die Vertuschung jener angeblichen Entlarvung
mitliefern. Ein adliger – oder zumindest aus der hohen Oberschicht stammender -
Täter bietet sich hierbei besonders an, da in diesem Fall das Motiv und die
Möglichkeit einer aktiven Vertuschung glaubwürdiger erscheint als im Falle einer
Person aus der Unterschicht, zu der die Hauptverdächtigten der Polizei nahezu
allesamt gehört hatten. Einen historischen Kern haben diese Produktionen insofern,
als dass sie die Mythenbildung der damaligen Unterschicht nachahmen, was
wiederum ein vernichtendes Urteil über die Produkte enthält. Die damalige
Unterschicht wusste nur zu gut um die Klassenschranken, die eine Ermittlung gegen
Personen aus der Oberschicht in der Tat sehr erschweren konnten,  wie der Fall um
Constance Emily Kent (1860) zeigte, in dem die Ermittlungen gegen die 16Jährige,
die ihren Bruder ermordet hatte, für fünf Jahre ausgesetzt wurden, da es dem
damaligen Ermittler aus der Unterschicht nicht anstand, gegen eine junge Dame von
Rang und Namen zu ermitteln. Sie wurde fünf Jahre ins Ausland geschickt und er
verlor fast seinen Job. Constance Kent gestand jedoch 1865. Auch dass im Fall des
Rippers die Polizeiakten größtenteils verschwunden sind, lädt natürlich zu
Verschwörungstheorien ein. Nur weiß man mittlerweile, dass die beteiligten
Polizisten die Unterlagen als Souvenirs mitnahmen, da ihnen durchaus bewusst war,
an was für einem bedeutenden Fall sie gearbeitet hatten. 

Die Bewohner des East Ends selbst konnten mittelfristig eigentlich nur dankbar sein
für die Morde. Jahrzehntelang hatte sich niemand oder zumindest keine hinreichend
große Menge aus der Mittel- und Oberschicht für ihr Elend interessiert. Zwar war
1865 in Whitechapel die Heilsarmee gegründet worden, die ab 1878 auch diesen
Namen trug. Aber deren Erfolg erschien ebenso fragwürdig wie ihre Absichten. Alle
Versuche, wie die Demonstration gegen Arbeitslosigkeit am Bloody Sunday im Jahre
1887 mit unzähligen Verletzten, auf die Armut aufmerksam zu machen, waren
gescheitert, und hatten die Oberschicht, welche mit Ressentiments gegen die
Paupers durchsetzt waren und revolutionäre Unruhen, welche durch osteuropäische
Agitatoren angezettelt würden, befürchtete, eher noch mehr abgedichtet. 

Die Morde aber fielen im doppelten Sinn auf die Oberklasse zurück. Zum einen
richtete sich die weltweite Aufmerksamkeit auch auf das Elend, in dem die Morde
geschahen. Es gehörte in den unzähligen Reportagen einfach zum Rahmen, der gar
nicht groß dramatisiert werden konnte, so gravierend waren die Umstände. Aber
genau diese Zustände kannte die Mittelschicht längst aus den Geschichten Charles
Dickens, dessen Roman „Oliver Twist“ zumindest im Ort der Handlung, dem
südlichen Slum Jacob's Island, das auch als „die Hauptstadt der Cholera“ oder
„Jauchenvenedig“ bekannt war, durch die Aufmerksamkeit auf die Missstände für
Verbesserung gesorgt hatte. Im Bezug auf Whitechapel kam hinzu, dass viele
Leichen, von denen nicht viel mehr auftauchten als vorher, nun aber alle potenzielle
Ripper-Opfer waren und somit von der Presse überhaupt beachtet und entsprechend
ausgeschlachtet wurden. Die Mordserie erschien also wesentlich gravierender als
heute, und selbst wenn die Taten bezüglich des Rippers disqualifiziert wurden,
standen alle jene Morde erst einmal in der Presse und waren untrennbar mit
Whitechapel und dem East End verbunden. Der Presse kam zugute, dass andere
Mörder durchaus versuchten, den Ripper nachzuahmen, sei es, weil sie als
ernsthafte Trittbrettfahrer handelten, oder weil sie naheliegender Weise die Methode
des Rippers kopierten, um von einem Motiv abzulenken, was insbesondere für die
Zuhälter praktisch war. Dazu kam, dass die „gefallenen Frauen“ nun wirklich in
gewissen Kreisen – vor allem bei den Frauen der besseren Schichten - Mitleid
erregten. Aber auch jene Frauen partizipierten durchaus an der Angstlust. Letztlich
boten die Morde des Rippers für sie einen Anlass für eine begrenzte sexuelle
Befreiung, denn „respektable“ Frauen der Mittel- und Oberschicht konnten erstmalig
halbwegs öffentlich über Sexuelles reden, indem sie ihr Grauen und ihre Ängste über
die Taten artikulierten. 

Zum anderen aber geriet die Oberschicht im Verlauf immer mehr ins Visier der
Gerüchte. Dass sich der Wind drehte, wurde deutlich, als beispielsweise während
einer Kundgebung im Hyde-Park ein Banner gehisst wurde, auf dem zu lesen war:
"The Whitechapel Murders. Where are the Police? Looking after the Unemployed."
Die implizierte Botschaft war nicht zu übersehen: Könnte es nicht sein, dass die
Oberschicht nicht beachtet wird, deren Mitglieder im East End ihre Perversitäten im
East End ausließen? Selbst die Times musste am 4. Oktober eingestehen, dass sich
die „Tendenz [der Morde] ausschließlich gegen eine bestimmte Klasse richte“, dass
also die Ärmsten die einzigen Opfer seien. (Times, 4. Oktober) „Zeit wurde
verschwendet, während man unter den Lumpen von Whitechapel nach ihm [Jack the
Ripper] suchte“, vermerkte dann der Daily Telegraph vom 9. Oktober, um
fortzufahren: „Es gibt Umstände, die die Vermutung erlauben, dass der Whitechapel-
Mörder in respektablen Kreisen verkehrt.“ Schon vorher war in den „Evening News“
festgehalten worden, dass es „mörderische Irre“ gegeben habe, deren
Grausamkeiten aufgrund der „sozialen Stellung des Verbrechers unentdeckt“
blieben, um als Beispiele berühmter Sadisten bzw. „mörderischer Verrückter“ unter
anderem Ludwig XI., Robespierre und Mtesa, König von Uganda, anzuführen,
welche als „high rippers“ bezeichnet wurden. (Evening News, 1. September) Auch
wenn die Schuld in Richtung der „vampire classes“ (The Star, 19. September) oder
den „greedy vampires of that class“ (Evening News 13. Oktober) gelenkt wurde, um
auf die Armut aufmerksam zu machen, erhielten jene – bekanntermaßen äußerst
kritikwürdigen Metaphern - aufgrund der effektiven Bluttaten noch einmal eine nicht
ganz andere, aber drastischere Konnotation. Solche Andeutungen bedrohten die
Ideologie der englischen Oberschicht und besonders des Adels massiv, der sich im
Vergleich zum früheren französischen weit eher als Hort der Sitte und des Anstands
präsentierte. Vor allem Malthus, dessen Ausführungen und Werturteile über die
Paupers Charles Dickens in Teilen seiner Figur Ebenezer Scrooge in den Mund
legte, hatte die Oberschicht mit der Gewissheit versorgt, dass der Pöbel unsittlich
und an seinem Elend selbst schuld sei. Anders als jene nie als zentrale Kritik
intendierten Stellen des Kapitals, in denen Marx sich darüber belustigt, dass die
Moral der Kapitalisten sich anscheinend nicht rühre angesichts der Lebens- und
Geschlechterverhältnissen der Paupers und Proletarier, richteten sich die Gerüchte
gegen die Moralpraxis der Oberschicht selbst. Sie traf jenes Gerüst, das dermaßen
wackelig war, dass es ein Jack the Ripper, welcher der feinen Gesellschaft
entstammt, durchaus ernsthaft in Gefahr hätte bringen können. Die Presse der
feineren Gesellschaft hatte außerdem am Anfang durchaus verklausuliertes
Verständnis aufgebracht für den Mörder; zumindest falls es sich um einen Täter
handelt, der aus bloß latent fehlgeleitetem Puritanismus handeln sollte. Jene Artikel
machten sich rasch an eine weitere Verunglimpfung der „Frauen, die von ihren
Männern getrennt ein Leben in Sünde im modernen Babylon lebten.“ Ein beliebter
dinglicher Schuldiger war natürlich der Alkohol, denn „Trinken führt zur Trennung,
und der Rest folgt: Not und Kälte, der Gin-Palace, Mord, Verstümmelung,
gerichtsmedizinische Untersuchung und Armengrab.“ So waren die Frauen also
letztlich mal wieder selbst schuld. (Weekly Herald, 5. Oktober) Auch später zeigte
sich immer wieder eine kaum versteckte Sympathie: „Er hat sich mal wieder als
Mann mit wundervoll ruhigen Nerven oder äußerster Rücksichtslosigkeit erwiesen.
(The New York Sun (US), 10. November) Der Cleveland-Street-Skandal aus dem
kommenden Jahr, in dessen Zuge sich auch gleich erwies, wie gut die Oberschicht
ihre Söhne vor Verfolgung und Berichterstattung abschirmen konnte, trug nicht
gerade dazu bei, dass die Oberschicht den Vorwurf der moralischen Verwerflichkeit
von sich lenken konnte, was letztlich unter anderem im Prozess von Oscar Wilde
kulminieren sollte.

In einem Leserbrief an „The Star“ vom 24. September 1888 mit dem Titel "Blood
Money To Whitechapel" gestand George Bernard Shaw dem Mörder öffentlich zu:
„Eine private Unternehmung hatte Erfolg, wo der Sozialismus scheiterte. Während
wir konventionellen Sozialdemokraten unsere Zeit mit Bildung, Agitation und
Organisation verschwendet haben, hat ein unabhängiges Genie die Sache in die
Hand genommen, und durchs einfache Ermorden und Verstümmeln von vier Frauen
die besitzende Presse zu einer plumpen Form des Kommunismus konvertiert.“ Er,
der später auch Stalin verteidigen sollte, war im weiteren Verlauf des Textes
bestrebt, die Gewaltakte in kollektive Formen der East Ender zu überführen, und
schlug adlige Frauen als neue Opfer vor. Von vielem anderem einmal abgesehen,
zeigte sich an jeder gewünschten Verlängerung, dass Shaw die der Situation
zugrundeliegenden Dynamiken gründlich falsch einschätzte. Der Mord an adligen
Frauen, der laut Shaw angeblich noch mehr hätte rausspringen lassen, hätte weit
eher Repressalien bedeutet als Reformen, und es schien auch niemand seinem
Aufruf gefolgt zu sein. Sein Text hatte vielmehr eine andere Wirkung: Shaw wurde
schnell selbst zu einem Verdächtigten des Volksmundes, da einige annahmen, hier
versuche der Serienmörder das Missionarische seiner Tat zu preisen. Ähnlich traf es
bald darauf den Sozialreformer und Arzt Thomas John Barnardo, der nahezu 100
Waisenhäuser gestiftet hatte, über dessen Praxis jedoch später bekannt wurde, dass
er Kinder durchaus gegen den Willen ihrer Eltern „gerettet“ hatte, und dass er 88 Mal
wegen Entführung vor Gericht stand. In allen Fällen konnte er sich herausreden, da
er auf die Ressentiments der rechtsprechenden Oberschicht zählen konnte. Ein
Artikel erschien eine Woche später ausgerechnet in derselben Zeitung wie Shaws
Brief, in dem nach der allgemein bekannten These, laut derer vor allem Ärzte oder
Medizinstudenten in Frage kämen, noch hinzugefügt wurde: „Finally, there is the off-
chance - too horrible almost to contemplate - that we have a social experimentalist
abroad determined to make the classes see and feel how the masses live.“ (The
Star; 1. Oktober) Shaw hatte mit seinem Urteil insofern Recht behalten, als dass die
Mordserie und die medialen Dynamiken, die mit ihr einhergingen, erheblichen
Einfluss darauf hatten, dass 1890 sowohl der „Housing of the Working Classes Act“
als auch der „Public Health Amendment Act“ verabschiedet wurden, aufgrund derer
in den folgenden zwei Jahrzehnten zumindest die gröbsten Missstände und Slums im
East End beseitigt wurden. Aus den Unterlagen der Parlamentsdebatten von Ende
1888 geht der Zusammenhang zwischen den Verbrechen und den Verordnungen
klar hervor. Neben aller Wahrscheinlichkeit nach mindestens fünf Leichen hinterließ
der Serienmörder also eine derart verstörte Oberschicht, die sich endlich die ewig
geforderten Reformen abringen ließ und einen Geschäftszweig, der lange Zeit noch
nicht ausgequetscht ist. Anders als Shaw zumindest implizierte, waren für die
Reformen weniger die Taten verantwortlich, als vielmehr die Dynamik der
öffentlichen Meinung, die sich verselbstständigte, in der sich aber die Arbeits- und
Obdachlosen, die durch die Presse zumindest befeuerte, wenn nicht gar erst
freigesetzte, Sensationslust bewusstlos aneigneten, und die sich letztlich gegen jene
oberen Schichten wendete, die auch noch selbst daran partizipierten. Für die
Wirkung der Morde auf den Reformwillen aber war grundlegend, dass die Morde
geendet hatten, und man sie demnach nicht mehr aktiv verhindern musste. Gerade
weil man nicht wusste, warum der Ripper die Frauen ermordet hatte, konnte man es
einfach auf die sozialen Umstände in allgemeinster Form abwälzen, war dadurch
aber gezwungen, diese zumindest im Ansatz zu verbessern. Und dabei war das
„Genie“ Jack the Ripper vielleicht einfach bloß der Fleisch-Kutscher, Charles Allen
Lechmere, der die erste Leiche entdeckte, auf dessen Route respektive Arbeitsweg
alle anderen Morde geschahen, für die er auch keine Alibis hatte, und der
nachweislich die Polizei bezüglich seines Namens und der Umstände des Auffindens
der Leiche belog. 

Nicht vergessen sollte man in Anbetracht der Sozialreformen natürlich den


Matchgirls’ Strike aus dem Jahre 1888, vom dem Shaw aber selbst sagt, er habe
weniger bewirkt als die Taten des Rippers, und den Dockarbeiter-Streik von 1889,
von dem Engels schrieb „Das ist der Anfang wirklichen Lebens in East End und wird,
wenn erfolgreich, den ganzen Charakter von East End verändern.“ 

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