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Buytendijk und die Philosophische Anthropologie

Article  in  Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie · January 2011


DOI: 10.1515/jbpa-2011-0120

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1 44

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Jasper van Buuren

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Published in:
Ralf Becker, Joachim Fischer, Matthias Schloßberger (eds.). Philosophische
Anthropologie im Aufbruch: Max Scheler und Helmuth Plessner im Vergleich.
Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie. Berlin: Akademie
Verlag, 2010. pp. 285-300. Please quote only from published version.

BIOGRAMM
JASPER VAN BUUREN

Buytendijk und die Philosophische Anthropologie

Buytendijks Leben war ein bewegtes Leben, mit vielen Anstellungen, Umzügen, dem
Leiden unter der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkrieges und der Be-
kehrung vom Protestantismus zum Katholizismus. Oft haben neue Gegenstände sein
Interesse geweckt. Die üblichen Grenzen zwischen Physiologie, Psychologie und Philo-
sophie hat er ständig überschritten.
Seine Beziehung zur Philosophischen Anthropologie ist doppeldeutig. Einerseits ist
Buytendijk stark von Scheler und Plessner, andererseits von Merleau-Ponty beeinflusst
worden. Während Scheler und Plessner gewöhnlich als Begründer der Philosophischen
Anthropologie betrachtet werden, wird Merleau-Ponty normalerweise überhaupt nicht
zu dieser Denkrichtung gerechnet. Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, Merleau-
Ponty bezüglich der Frage nach Buytendijks Verhältnis zur Philosophischen Anthropo-
logie einzubeziehen. Obwohl auch Scheler in diesem Kontext von wesentlicher Bedeu-
tung ist, beschränke ich mich, was die Vertretung der Philosophischen Anthropologie
betrifft, auf Plessner. Ein zentrales Thema in Buytendijks Arbeit ist der Mensch als
Einheit von Psychischem und Physischem. Weil Buytendijk diese Problematik sowohl
mit Plessner als auch mit Merleau-Ponty teilt, kann er sich bei der philosophischen
Fundierung seiner Arbeit auf beide berufen. Erstens geht es mir, was diese Thematik
betrifft, um die Textverweise: Wer nimmt wo auf wen Bezug? Es ergibt sich, dass
Buytendijk sich im Laufe der Zeit zunehmend auf Merleau-Ponty und zugleich immer
weniger auf Plessner beruft. Die Frage nach den Motiven hinter dieser Entwicklung
führt – zweitens – zu einigen inhaltlichen Überlegungen zum Verhältnis zwischen
Merleau-Ponty und Plessner.
2 BIOGRAMM

Leben1

Frits (Frederik Jacobus Johannes) Buytendijk wird 1887 in Breda in den Niederlanden
geboren. Er ist das einzige Kind in einer protestantischen Familie. Sein Interesse an der
Natur und der Naturwissenschaft bekommt er durch seine Erziehung mit auf den Weg.
Wie er in einer autobiographischen Notiz geschrieben hat (Buytendijk 1958, 126),
sammelt er schon als Kind eine Menge Pflanzen, Käfer und Schmetterlinge, zeichnet
und beschreibt diese. Die Oberrealschule fängt er in Breda an, um sie, nach einem Um-
zug der Familie, in Alkmaar abzuschließen. Sein größtes Interesse gilt der Biologie.
Sein Vater überredet ihn jedoch, eine verwandte, praktischere Disziplin zu wählen und
Medizin zu studieren. Während seiner Studien wird Buytendijk hauptsächlich von
Thomas Place, einem Professor für Physiologie, inspiriert. Einerseits regt Place Buy-
tendijk zu physiologischen Experimenten an. Andererseits veranlasst er ihn dazu, sich
mit den philosophischen Grundsätzen der Physiologie auseinanderzusetzen. Dieses
doppelte Interesse – am empirischen Experimentieren und der Rückbesinnung auf die
Fundamente der Wissenschaft – hat sich in Buytendijks weiterer Entwicklung durchge-
setzt.
Nachdem Buytendijk 1909 sein Medizinstudium abgeschlossen hat, arbeitet er bei
Zwaardemaker an der Utrechter Universität und dann auch außerhalb der Niederlande
in Berlin, Liverpool und Neapel, bis er 1913 in die Heimat zurückkehrt und eine Stelle
als Mitarbeiter an der Groninger Universität bekommt. Buytendijks Lebenslauf bleibt
sehr bewegt. Eine Neuorientierung seiner Arbeit erfolgt, als er 1914 als Sanitätsoffizier
im Amsterdamer Militärkrankenhaus mobilisiert wird und dort eine psychiatrisch-neu-
rologische Ausbildung bekommt. Während dieser Zeit erhält Buytendijk auch eine An-
stellung an der psychiatrischen Klinik der Freien Universität in Amsterdam. Die neuen
Erfahrungen mit der Psychiatrie sind „von entscheidender Bedeutung“ (Buytendijk
1958, 126) für seinen weiteren Lebensweg. Dennoch werden Buytendijks frühere Inter-
essen davon nicht verdrängt.
Für seine Arbeit wird Buytendijk an der Freien Universität 1918 mit einem Lehrauf-
trag für allgemeine Biologie belohnt. Es handelt sich um ein Forschen im Grenzgebiet
von Biologie und Physiologie. Schon ein Jahr später erhält er eine Professur im selben
Bereich. Ebenfalls 1918 promoviert Buytendijk in Utrecht mit einer experimentellen
Arbeit über Gewohnheitsbildung bei Tieren. In dieser Zeit begegnet Buytendijk zum
ersten Mal Max Scheler und kommt so mit der Philosophischen Anthropologie in Kon-
takt.

1
Die Lebensbeschreibung Buytendijks basiert auf folgenden Arbeiten: Buytendijk, „Mensch und
Tier“ (1958), Abschnitt „Über den Verfasser“ (von Buytendijk selbst geschrieben), 126-127; Pless-
ner, „Unsere Begegnung“ (1957); Struyker Boudier, H.M.A., „Buytendijk“, (1989); Dekkers, „Het
bezielde lichaam: het ontwerp van een antropologische fysiologie en geneeskunde volgens F.J.J.
Buytendijk“ (1985); Dietze, „Nachgeholtes Leben“ (2006).
JASPER VAN BUUREN: F.J.J. BUYTENDIJK 3

Folgt man der Entwicklung von Buytendijks frühen Veröffentlichungen, so zeigt sich
eine Verschiebung von physiologischen und physisch-chemischen Experimenten hin zu
tierpsychologischen Fragen (siehe u. a. seine Dissertation). Bei Buytendijks Verhaltens-
forschung an Tieren fällt weiterhin eine Verschiebung von niedrigen Tierarten, z. B.
Einzellern und Insekten, zu höheren Tierarten, z. B. Hunden und Affen, auf. Die Ent-
wicklung ist nicht eindeutig: Es handelt sich um eine langsame Änderung der Schwer-
punkte, die von einem wachsenden Interesse am Menschen begleitet wird.
In den zwanziger Jahren nimmt Buytendijks Bekanntheit im Ausland zu. „Psycholo-
gie der Dieren“ (1920) wird ins Französische und ins Italienische übersetzt. „De wijs-
heid der mieren“ (1922) erscheint 1925 in deutscher Übersetzung als „Die Weisheit der
Ameisen“. Zahlreiche Übersetzungen in weitere Sprachen werden folgen.
Bei Scheler in Köln lernt Buytendijk den fünf Jahre jüngeren Helmuth Plessner ken-
nen.2 Sie teilen das Interesse an Biologie und Phänomenologie und auch persönlich
verstehen sie sich. Als Plessner 1924 vom niederländischen Steuncomité für deutsche
und österreichische Akademiker für einige Monate nach Amsterdam eingeladen wird,
nimmt er die Gelegenheit wahr, seinen Kollegen Buytendijk zu besuchen. Das Wieder-
sehen führt zu einem gemeinsamen Forschungsvorhaben während Plessners Aufenthalt.
Beliebt unter Plessner-Kennern ist die Anekdote, wie die Zusammenarbeit möglich
wurde: Die Finanzierung für einen Mitarbeiter fehlte, aber es gab noch einen Fonds für
einen zur Forschung bestimmten Affen, „und für den sprang ich ein“, so Plessner in
„Unsere Begegnung“ (1957, 332). Aus dieser Zeit stammt „Die Deutung des mimischen
Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs“ (1925d), die
wichtigste gemeinsame Arbeit von Plessner und Buytendijk.
Die Anstellung 1925 als Professor der allgemeinen Physiologie an der Rijksuniver-
siteit Groningen ist der nächste Meilenstein in Buytendijks Karriere. Buytendijk widmet
sich zunehmend der Theorie tierischen Verhaltens und der Psychologie. Zu dieser Ver-
schiebung gehört auch Buytendijks Interesse an der Philosophischen Anthropologie und
der dazugehörigen phänomenologischen Methode, das unter dem Einfluss von Scheler
und Plessner gewachsen ist. Die Neuorientierung kommt nun in seiner selbständigen
Arbeit zum Ausdruck, zum ersten Mal in seiner Antrittsrede in Groningen, Over het
verstaan der Levensverschijnselen. Das verstaan aus dem Titel betrifft das phänome-
nologische Verstehen, das Buytendijk in seiner Rede gegenüber der kausalen Erklärung
hervorhebt.
In dieser Zeit gibt Buytendijk seine protestantische Konfession auf. Anlass ist die Af-
färe Geelkerken. Der Prediger Geelkerken ist 1926 aufgrund seiner Aussagen über die
Historizität der Bibel von seinem Amt entbunden worden. Mittlerweile wächst Buyten-
dijks Interesse am Katholizismus, das früher schon von Place geweckt worden war.
Aber erst 1937 wird er sich umtaufen lassen.

2
Plessner zufolge fand die Begegnung „ etwa 1923“ statt (Plessner 1957, 331).
4 BIOGRAMM

Aus den späten zwanziger Jahren ist Buytendijks Forschung im sportmedizinischen


Gebiet am bekanntesten. Die Olympischen Spiele von 1928 in Amsterdam haben dabei
eine bedeutende Rolle gespielt. Mit Übersetzungen in vier Sprachen ist seine Studie zur
Psychologie des Fußballspiels ohne Zweifel das erfolgreichste Ergebnis dieses Interes-
ses.3
Die Dreißiger sind produktive Jahre für Buytendijk. „Het spel van mensch en dier“
(1932), „De psychologie van de hond“ (1932) en „Grondproblemen van het dierlijk
leven“ (1938) sind nur einige der vielen Titel, die in dieser Periode erscheinen. Ab 1936
veröffentlicht Buytendijk keine Berichte experimenteller Forschung mehr. Die Untersu-
chungen richten sich jetzt ausschließlich auf die philosophisch-theoretische Deutung
früherer Ergebnisse oder Ergebnisse anderer Forscher.
Bald kommt es auch zu einem Wiedersehen mit Plessner. Als Sohn eines jüdischen
Vaters hatte Plessner 1933 seine Anstellung in Köln verloren. Nach einigen vergebli-
chen Versuchen, zuerst in Deutschland, später auch in der Schweiz und in der Türkei
eine dauerhafte Stelle zu bekommen, bekommt Plessner einen Brief aus den Niederlan-
den. Buytendijk bietet an, ihm einen Platz in Groningen zu besorgen. In „Unsere Be-
gegnung“ beschreibt Plessner das Treffen mit Buytendijk Anfang 1934 mit großer
Herzlichkeit. Plessner arbeitet in Buytendijks Laboratorium, wird 1936 von der Gronin-
ger Universität zum Dozenten ernannt und 1939 zum Stiftungsprofessor für Soziologie.
Anfang 1943 hat sich die Aufmerksamkeit der Besatzer auf Plessner gerichtet. Er
wird entlassen und taucht in Utrecht unter. Auch Buytendijk ist von der Besatzung be-
troffen. Wegen seiner scharfen Ablehnung der Nazi-Ideologie und der Rassentheorie
wird er 1942 einige Monate interniert. Kurz nach seiner Freilassung Ende 1943 taucht
er bis zur Befreiung im Mai 1945 unter. Während der Kriegszeit geht für beide die Ar-
beit weiter. Der Krieg scheint die Themenfelder indirekt zu beeinflussen. Plessner pub-
liziert 1941 ein Buch zu Lachen und Weinen als „Krisen-Erfahrungen“ bzw. „Kapitula-
tion“ des Menschen, der seine Endlichkeit erfährt (Plessner 1941/2003, 364 und 378);
Buytendijk schreibt während seines Untertauchens sein Werk „Over de pijn“ (1943;
später von Plessner übersetzt als „Über den Schmerz“, 1948b). Auch entsteht in dieser
Zeit Buytendijks erste wichtige psychologische Arbeit „Algemene theorie van de han-
deling en beweging“ (1948a).
1946 wird Buytendijk in Utrecht zum Professor der allgemeinen und theoretischen
Psychologie ernannt. Weil er ein Autodidakt in diesem Bereich ist, stellt die Ernennung
für die Welt der Psychologen eine Überraschung dar. Trotzdem wird er Schule machen.
Nach kurzer Zeit folgen zusätzliche Professuren in Nimwegen und Löwen. Buytendijk
begegnet Maurice Merleau-Ponty, dessen „La structure du comportement“ (1943) viele
Verweisungen auf seine eigene Arbeit enthält. Buytendijk und Merleau-Ponty entwi-
ckeln bald eine kollegiale Beziehung. Es werden Briefe und Neuerscheinungen ausge-

3
„Het voetballen“ (1952) ist ins Französische, Deutsche, Spanische und Portugiesische übersetzt
worden.
JASPER VAN BUUREN: F.J.J. BUYTENDIJK 5

tauscht. In dieser Zeit ändert sich das Verhältnis zwischen den beiden: Buytendijk wird
zunehmend auf Merleau-Ponty verweisen; umgekehrt geschieht dies kaum noch.
Ab den fünfziger Jahren erwirbt sich Buytendijk einen internationalen Ruf im Gebiet
der phänomenologischen Psychologie und der anthropologischen Physiologie. Die aka-
demische Welt betrachtet ihn als den Begründer der „Utrechtse School“ in der Psycho-
logie. Buytendijk publiziert u. a. „Psychologie van de roman“ (1950), „Zur Phänome-
nologie der Begegnung“ (1950) und „De vrouw“ (1951). 1957 wird der siebzigjährige
Buytendijk in Utrecht emeritiert. Als Zeichen der Anerkennung wird ihm bei dieser
Gelegenheit die Festschrift „Rencontre, Encounter, Begegnung“ übergeben.4 In Nimwe-
gen bleibt er weitere fünf Jahre und verabschiedet sich dann mit der Rede „Aspecten
van de vermoeidheid“ („Aspekte der Müdigkeit“). Auch nach der Emeritierung publi-
ziert Buytendijk weiter. 1965 erscheint als Übersichtswerk „Prolegomena van een
antropologische fysiologie“. Am 21. Oktober 1974 stirbt Buytendijk mit 87 Jahren in
Nimwegen.

Schwerpunkte der Forschung

Buytendijk hat nicht nur sehr viel veröffentlicht; sein Oeuvre ist überdies durch eine
erstaunliche Vielseitigkeit gekennzeichnet. Er publizierte in den Bereichen der Physio-
logie, Pädagogik, Psychologie, Medizin und Philosophie. Seine Themen variierten von
der Erregungsleitung im Kaltblüterherzen (Buytendijk 1910) zur Bedeutung des Ge-
staltkreises für die Physiologie (Buytendijk 1948a) oder von der Psychologie des Tan-
zes (Buytendijk 1949) bis zu grundsätzlichen Existenz- und Glaubensfragen (Buyten-
dijk 1936, 1950a, 1950b). Die Vielseitigkeit zeigt sich an drei Entwicklungen, die eng
miteinander zusammenhängen: Seine Perspektive verschiebt sich zunehmend a) von
niedrigeren Lebensformen zu höheren Lebensformen bis hin zum Menschen, b) von
physisch-chemischen Erklärungen zu gestalt- oder verhaltensorientiertem Verstehen, c)
von der empirischen Wissenschaft zur theoretischen Psychologie und Philosophie.5 Die
Physiologie bildet meistens den Ausgangspunkt sowohl der biologischen als auch der
psychologischen Arbeit. Buytendijks Absicht ist es, diese Disziplin philosophisch zu
bereichern, wobei er einerseits aus der existenzphilosophischen Tradition schöpft
(Merleau-Ponty), andererseits aus der Philosophischen Anthropologie (Scheler, Pless-
ner). Statt von einer Verschiebung können wir daher vielleicht besser von einer Erwei-
terung der Perspektive sprechen.
Hinter diesem Versuch kann man einen philosophisch-weltanschaulichen und einen
wissenschaftlichen Beweggrund erkennen. Zur näheren Bestimmung des ersten Beweg-
grunds könnten wir auf Buytendijks Religiosität verweisen. Aber der springende Punkt

4
Im selben Jahr wird auch Plessner eine Festschrift überreicht: „Wesen und Wirklichkeit des Men-
schen“. Anlass ist sein 65. Geburtstag. Buytendijk trägt mit „Der Geschmack“ (42-57) dazu bei.
5
Vgl. Dekkers 1985, 11, 20-21.
6 BIOGRAMM

ist vielleicht eher Buytendijks phänomenologische oder existenzphilosophische Er-


kenntnis, dass man dem Menschen zunächst im Leben begegnet, und zwar als (relativ)
freier Person. Erst in zweiter Instanz wird die Person eventuell zum Objekt der For-
schung gemacht.6 Buytendijks Projekt – sofern wir von einem Projekt reden dürfen –
besteht jedoch nicht darin, Philosophie oder existenzielle Psychologie methodisch zu
definieren und beide so voneinander oder auch vom Alltagsleben, von der Literatur
usw. abzugrenzen. Die Trennung der Sphären ist für Buytendijk ziemlich unscharf. In
„Psychologie van de roman“ nimmt Buytendijk die Rolle des Schülers von Dostojewski
an, um auf diese Weise unmittelbar aus dem Roman „Der Idiot“ etwas über die Gründe
der menschlichen Existenz zu lernen. Aus dem Primat der Person geht also nicht hervor,
dass die Psychologie auf den zweiten Rang verwiesen wird. Vielmehr muss die objekti-
vierende Psychologie sich umwandeln zu einer Disziplin, die das Subjekt in seiner fak-
tischen Existenz ernst nimmt.7 Die psychologische Erkenntnis entspringt unserem Ver-
hältnis „von Herz zu Herz“ (Buytendijk 1950a, 11).8 Das erklärt, weshalb für Buyten-
dijk Dostojewski nicht weniger Psychologe ist als er selbst.
Das zweite Motiv der Bewegung von der Empirie zu einer philosophisch informier-
ten Deutung ist weniger ein weltanschauliches; vielmehr entspringt es der Verarbeitung
der experimentellen Daten. Die Ergebnisse physiologischer Forschung selbst zwingen
uns, so Buytendijk, die Ebene der physisch-chemischen Ursachen zu verlassen und uns
der Schicht des Verhaltens und seines Sinngehalts zuzuwenden. „Die Deutung des mi-
mischen Ausdrucks“ ist repräsentativ für diesen Grundgedanken (Buytendijk/Plessner
1925d, 71-89). Verhaltensweisen wie Suchen, Flüchten oder Spielen können Plessner
und Buytendijk zufolge nicht als bloße Reaktionen auf Reize aufgefasst werden. Ein-
zelne Reaktionen sind der gestaltmäßigen Ganzheit des Verhaltens untergeordnet, die
für die physisch-chemisch erklärende Physiologie unsichtbar, für die Phänomenologie
jedoch anschaulich ist. Leibliche Bewegungen sollten dementsprechend nicht als Me-
chanismen, sondern als Modi der intentionalen „Leibumweltrelation“ (ebd., 81) des
Organismus verstanden werden. Die 1935 ebenfalls mit Plessner veröffentlichte Kritik
an Pawlows Reflexlehre hat denselben Tenor („Die physiologische Erklärung des Ver-
haltens. Eine Kritik an der Theorie Pawlows“).
Damit sind wir mitten im Problemfeld der psycho-physischen Einheit des Menschen
angekommen. Es ist dieses Problem, das Buytendijk mit der philosophischen Anthro-
pologie verbindet. Es lohnt sich daher, nach dem Frühwerk auch das Spätwerk „Prole-
gomena einer anthropologischen Physiologie“9 zu lesen. Das Thema ist dasselbe, aber
im Laufe der Zeit hat sich etwas wesentlich geändert: Merleau-Ponty spielt nun dort,
wo es um die Themen Leib, Subjekt und Person geht, eine sehr wichtige Rolle. Diese

6
„De psychologie van de roman“ (1950a), 7-29. Dieses einführende Kapitel bietet einen guten Ein-
blick in Buytendijks Auffassung der Psychologie.
7
Für Buytendijk sind die Begriffe Subjekt und Person gleichbedeutend.
8
Buytendijk schließt sich hiermit Pascal und Binswanger an.
9
Alle Verweise beziehen sich auf die Übersetzung (Buytendijk 1967).
JASPER VAN BUUREN: F.J.J. BUYTENDIJK 7

Themen haben auch immer Plessners Arbeit, v. a. „Die Einheit der Sinne“ (1923), „Die
Stufen des Organischen und der Mensch“ (1928) und „Lachen und Weinen“ (1941)
bestimmt. Trotzdem kommt Plessner in den „Prolegomena“ kaum noch vor. Es stellt
sich daher die Frage nach den Gründen, die Buytendijk veranlasst haben, sich zuneh-
mend mit Merleau-Ponty und weniger mit Plessner auseinanderzusetzen.

Die Beziehung zu Plessner und Merleau-Ponty

Wie erwähnt hat Buytendijk mehrmals intensiv mit Plessner zusammengearbeitet. Drei
Texte wurden gemeinsam veröffentlicht. „Die Deutung des mimischen Ausdrucks“ von
1925 ist der erste. 1935 folgt die Kritik an der Reflexlehre Pawlows: „Die physiologi-
sche Erklärung des Verhaltens“. Schließlich erscheint 1938 „Tier und Mensch“.10 Wie
C.E.M. Struyker Boudier bemerkt, ist Buytendijk zuerst „ein empirischer Forscher und
ein Experimentator, und viel weniger ein ursprünglicher Theoretiker, und sicherlich
kein unabhängiger Philosoph“ (C.E.M. Struyker Boudier 1986, 10). Es ist daher wahr-
scheinlich, dass der philosophische Teil der gemeinsamen Veröffentlichungen v. a. auf
Rechnung Plessners gegangen ist (Dekkers 1985, 136f.). Auch für Buytendijks selb-
ständige Arbeit ist Plessner anfänglich wichtig, insbesondere wenn die Beschreibungen
von physiologischen Prozessen mit einem umfassenden Begriff des Menschen verbun-
den werden (vgl. Buytendijk 1948b, 37, 86f., 137).
Ähnliches gilt für Buytendijks Verhältnis zu Merleau-Ponty. Buytendijk stützt sich
besonders dann auf ihn, wenn er seine Beobachtungen von physiologischen Prozessen
mithilfe des Begriffs der leiblichen Existenz des Menschen verarbeitet. Plessner und
Merleau-Ponty spielen für Buytendijk eine ähnliche Rolle, weil sie einige fundamentale
Ansätze gemeinsam haben (Stuyker Boudier 1986, 8). Eine ausführliche Analyse von
Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Plessner und Merleau-Ponty, die hier nicht
durchgeführt werden kann, könnte deutlich machen, wie weit der Vergleich trägt.
Auf jeden Fall ist klar, dass sowohl Merleau-Ponty als auch Plessner sich gegen den
cartesianischen Dualismus von res extensa und res cogitans richten.11 Beide erkennen
diesen Gegensatz in den Gegenüberstellungen von Sensualismus, Empirismus oder
physikalischer Physiologie einerseits, Intellektualismus, Idealismus oder auf das See-
lenleben beschränkter Psychologie andererseits.12 Sowohl Merleau-Ponty als auch

10
Aus politischen Gründen ist dieses Werk anfänglich nur unter dem Namen von Buytendijk
erschienen.
11
Es ist unmöglich, hier eine vollständige Auflistung von relevanten Textstellen zu geben. Trotz-
dem erwähne ich einige. Kritik an Descartes: Plessner (1928/2003, 78-91); Merleau-Ponty (1945,
51-55).
12
Vgl. den Aufbau der „Einheit der Sinne“ mit dem Aufbau der „Phénoménologie de la percep-
tion“: In beiden Werken gibt es eine dialektische Bewegung vom Rationalismus/Intellektualismus
über den Sensualismus zum eigentlichen psycho-physischen Problem. Vgl. ebenso Plessners und
Merleau-Pontys Kritik an der „Assoziationstheorie“ des Sensualismus (Plessner 1928/2003, 103-
8 BIOGRAMM

Plessner versuchen den cartesianischen Dualismus mittels einer Erläuterung der Sinn-
lichkeit und der Expressivität zu überwinden, und beide betrachten die Leiblichkeit des
menschlichen Lebens als das zentrale Phänomen dieser zwei Richtungen des In-der-
Welt-seins.13 Schließlich teilen sie die Einsicht in die Komplementarität von
Phänomenologie und empirischer Wissenschaft: Die Phänomenologie soll nicht versu-
chen zu zeigen, dass die Daten der Physiologie und empirischer Psychologie irrelevant
für das Verstehen des Menschen (oder sogar falsch) seien. Vielmehr geht es darum
herauszustellen, dass empiristische oder intellektualistische Deutungen dieser Ergeb-
nisse in die Irre führen, weil der Sinn des Verhaltens nur für die phänomenologische
Anschauung sichtbar ist.14
Selbstverständlich gibt es auch viele Unterschiede zwischen beiden Programmen.
Merleau-Pontys Unterscheidung von vorpersönlichem Leib und persönlichem Leben
läuft auf eine andere Konzeption des Menschen hinaus als Plessners doppelte Distanz
der Person zu ihrem Körper (der exzentrischen Positionalität). Gerade die Unterschiede
könnten erklären, warum Buytendijk sich im Laufe der Zeit zunehmend auf Merleau-
Ponty und immer weniger auf Plessner gestützt hat. Darauf komme ich unten zurück.
Insofern wir, Plessner und Merleau-Ponty vergleichend, von ähnlichen Grundgedan-
ken sprechen können, finden wir deren ersten Ausdruck in Plessners „Einheit der
Sinne“ (1923). In diesem Frühwerk entwickelt Plessner einen Begriff der Sinnlichkeit,
indem er die rationalistische gegen die sensualistische Auffassung ausspielt. Die Sinne
zeigen ihre innere Einheit nur in der Verbindung von Körperleib und Seele. Die wahr-
nehmende Person kann weder auf ihre physiologische noch auf ihre psychische Seins-
weise reduziert werden: Sie gehört zum „Zwischenreich der psychophysischen Exis-
tenz“ (Plessner 1923/2003, 20). 1928 folgen „Die Stufen des Organischen und der
Mensch“, in denen Plessner seinen Begriff des Menschen in der phänomenalen Vielfalt
der Natur verortet.
Erst 1942 erscheint Merleau-Pontys „La structure du comportement“, 1945 seine
„Phénoménologie de la perception“. Trotzdem hat Merleau-Ponty kaum auf Plessner
verwiesen. Nur in „La structure du comportement“ finden wir einige Hinweise, und
zwar auf Plessners und Buytendijks gemeinsame Arbeit (vgl. Krüger 2008, 119). So-
wohl „Die Deutung des mimischen Asudrucks“ als auch „Die physiologische Erklärung
des Verhaltens“ werden mehrmals angeführt. Merleau-Ponty zeigt sich mit Buytendijks
und Plessners Kritik an Pawlows Reflexlehre einverstanden (Merleau-Ponty 1945, 61-

106; Merleau-Ponty 1945, 20-33). Allerdings muss man berücksichtigen, dass Plessner und Mer-
leau-Ponty nicht derselben Generation angehören und jeder sich auf die Diskussion in seiner Zeit
bezogen hat.
13
Zur Sinnlichkeit: Plessner (1923/2003) und Merleau-Ponty (1945); zur Expressivität: Plessner
(1928/2003), 396-418 und 1941/2003; Merleau-Ponty (1945, 203-234 und 1964). Übrigens wird
bei beiden die Motorik ebenfalls – wenn auch in einem anderen Sinn als die Expressivität – als
Gegenstück der Sinnlichkeit aufgefasst.
14
Dies ist der Ausgangspunkt aller hier erwähnten Werke.
JASPER VAN BUUREN: F.J.J. BUYTENDIJK 9

66). Es geht um den Übergang von einer mechanistischen zu einer phänomenologischen


Physiologie. Folgende Passage, in der Merleau-Ponty Buytendijk und Plessner zitiert,
illustriert dies: „Sagt man etwa: Reizung ‚ist‘ Änderung der Oberflächenspannung einer
Nervenzelle, so wäre damit für das Verständnis der Phänomene selbst nicht nur nichts
gewonnen, sondern man hätte die Reizung selber als physiologische Erscheinung aus
dem Auge verloren. Genauso, wie die Definition des Tones als einer Luftschwingung
zwar die physikalische Akustik möglich macht, aber den Zugang zur Unmittelbarkeit
und damit zur Musiklehre verschließt.“15
Die Passage verdeutlicht die Verwandtschaft von Buytendijk und Plessner auf der ei-
nen und Merleau-Ponty auf der anderen Seite. Aber besonders in Bezug auf Plessner
bildet dieses Zitat eine Ausnahme. Warum verweist Merleau-Ponty nicht auf „Die Ein-
heit der Sinne“ oder die „Stufen“? Hat er diese Werke je gelesen? In seinem Vorwort
zur zweiten Auflage der „Stufen“ schreibt Plessner 1965, dass er die Ähnlichkeiten
zwischen ihm selbst und Merleau-Ponty (und übrigens auch Sartre) wahrgenommen
habe. Er reagiert relativierend: „Bei Sartre, vor allem in seinen frühen Arbeiten, und
Merleau-Ponty finden sich manchmal überraschende Übereinstimmungen mit meinen
Formulierungen, so daß nicht nur ich mich gefragt habe, ob sie nicht vielleicht doch die
‚Stufen‘ kannten. Aber das gleiche ist mir auch bei Hegel passiert, auf den ich mich
hätte berufen müssen, wären mir damals die entsprechenden Stellen bekannt gewesen.
Konvergenzen beruhen nicht immer auf Einfluß. Es wird in der Welt mehr gedacht, als
man denkt.“ (Plessner 1965/2003, 34.)
Bezieht man schließlich Buytendijks selbständige Arbeit mit in den Vergleich, dann
zeigt sich: Während sich Buytendijk hauptsächlich für seine philosophische Grundlagen
auf Merleau-Ponty stützt, verweist Merleau-Ponty vor allem auf Buytendijks experi-
mentelle Arbeit. Des weiteren fällt ins Auge, dass Merleau-Ponty sich in „La structure
du comportement“ ausgesprochen häufig auf Buytendijk beruft. Insgesamt sind es fünf-
zig Hinweise.16 In der „Phénoménologie de la perception“ gibt es dann nur noch einen
Hinweis, in späteren Veröffentlichungen überhaupt keine Bezugnahme mehr. Trotz des
wichtigen Einflusses von Buytendijk und einer starken Verwandtschaft mit Plessners
Arbeit hat Merleau-Ponty sein Werk nie als eine Fortsetzung der philosophisch-anthro-
pologischen Tradition aufgefasst.17
Während Merleau-Pontys Verweisungen auf Buytendijk abnehmen, nehmen umge-
kehrt Buytendijks Bezugnahmen auf Merleau-Ponty zu. Diese Tendenz geht mit einer

15
Buytendijk/Plessner (1935/2003, 23); zitiert von Merleau-Ponty (1942, 64, Fußnote 1).
16
Darin eingeschlossen sind die Verweise auf die gemeinsamen Werke von Buytendijk und
Plessner. Mit Dank für C.E.M. Struyker Boudier, der alle gegenseitigen Verweise zwischen
Merleau-Ponty und Buytendijk und alle Verweise von Buytendijk auf Plessner (und zwar in allen
Werken) gezählt hat (C.E.M Struyker Boudier 1985, 13).
17
Stattdessen betrachtet Merleau-Ponty sich v. a. als einen Schüler von Husserl. Seinen Begriff der
Phänomenologie entwickelt er dementsprechend aus seiner Husserl-Interpretation. Siehe dazu
sein Vorwort zu „Phénoménologie de la perception“ (1945), I-XVI.
10 BIOGRAMM

Abnahme von Buytendijks Verweisen auf Plessner einher. „Over de pijn“ ist gleichzei-
tig mit „La structure du comportement“ veröffentlicht worden, enthält einige wichtige
Hinweise zu Plessner, aber noch keine zu Merleau-Ponty. In „Het voetballen“ (1952)
und „Mensch und Tier“ (1958) kehrt sich das Verhältnis um: Es gibt kaum noch Ver-
weise auf Plessner, aber einige auf Merleau-Ponty. Diese Tendenz setzt sich durch.
Hinweise auf Plessner gibt es immer weniger. Die Verweise auf Merleau-Ponty hinge-
gen summieren sich im Laufe der Zeit auf insgesamt dreihundert (C.E.M. Struyker
Boudier, 15).
Die Frage ist, warum Buytendijk immer weniger auf Plessner verweist. In seinem
Spätwerk stützt Buytendijk seine Erörterungen des psycho-physischen Problems nicht –
jedenfalls nicht explizit – auf Plessner. Aber auch eine Kritik an Plessner fehlt. Obwohl
er dessen Philosophie offensichtlich nicht mehr als die geeignete Grundlage seiner Ge-
danken betrachtet, erklärt Buytendijk nicht, warum dies nicht mehr der Fall ist. Im Ge-
genteil: Als Buytendijk seine „Prolegomena“ Anfang 1964 fast fertiggestellt hat,
schreibt er in einem Brief an Plessner: „Du wirst sehen wie viel ich deiner Schriften zu
verdanken habe, gerade zur Verdeutlichung des Problems der körperlichen Subjektivi-
tät.“18 Nachdem Plessner eineinhalb Jahre später die „Prolegomena“ gelesen hat,
antwortet er Buytendijk: „Mein Anteil an der Anthropologischen Physiologie, den du in
deinem Brief erwähnst, wird allerdings im Text für den Leser weniger deutlich. Da wird
man dich für einen Schüler Merleau-Pontys und Weizsäckers halten“ (Buytendijk 1993,
173).19 Buytendijk scheint sich der philosophischen Distanz zwischen ihm und Plessner
kaum bewusst gewesen zu sein. Hätte Buytendijk sich mit Plessner auseinandergesetzt,
dann hätte sich wahrscheinlich gezeigt, dass er nicht mehr ganz mit ihm einverstanden
war. Der Einfluss von Merleau-Ponty hätte sich als stärker erwiesen.
Ein inhaltlicher Vergleich zwischen den Grundgedanken von Plessner, Merleau-
Ponty und Buytendijk bestätigt diese Vermutung. Obwohl dieser Vergleich hier nicht
ausführlich erörtert werden kann, möchte ich ihn im Folgenden skizzenhaft darstellen.
Die Ähnlichkeiten zwischen Plessner und Merleau-Ponty sind schon behandelt worden.
Was sind die wichtigsten Unterschiede zwischen den beiden?20
In der „Phénoménologie de la perception“ widersetzt Merleau-Ponty sich bekanntlich
der ‚physiologie mécaniste‘, die unsere leibliche Subjektivität auf ein objektives Ge-
schehen nach Gesetzen der Kausalität reduziert. Der menschliche Leib ist in Merleau-
Pontys Auffassung primär Subjekt. Erst in der Perspektive der objektivierenden Natur-
wissenschaft sei er als Objekt gegeben. Zudem gilt: „Le corps vivant ainsi transformé
cessait d’être mon corps, l’expression visible d’un Ego concret, pour devenir un object

18
Buytendijk (1993, 160). Aus dem Niederländischen übersetzt vom Verf. Vgl. Dekkers (1985,
140).
19
Vom Verf. aus dem Niederländischen übersetzt.
20
Die folgende Interpretation von Merleau-Ponty bezieht sich auf dessen Frühwerk (v. a. 1945),
weil Buytendijk sich hauptsächlich darauf beruft. Die Frage, in wiefern sie auch auf Merleau-
Pontys Spätwerk zutrifft, bleibt hier außer Betracht.
JASPER VAN BUUREN: F.J.J. BUYTENDIJK 11

parmi des autres“ (Merleau-Ponty 1945, 68). Die Objekthaftigkeit des eigenen Körpers
wird somit von der Wendung zur wissenschaftlichen Perspektive abhängig gemacht, die
dann als ‚sekundär‘ angedeutet wird. In dieser Hinsicht führt Merleau-Pontys Beispiel
der Hand, die die andere Hand berührt (Merleau-Ponty 1945, 108, 364), leicht in die
Irre. Merleau-Pontys Aussage, dass die berührte Hand somit zum Objekt der berühren-
den Hand wird, ist nur ein Schritt auf dem Wege zur folgenden Schlussfolgerung:
„Chaque contact d’un objet avec une partie de notre corps objectif est donc en réalité
contact avec la totalité du corps phénoménal actuel ou possible“ (Merleau-Ponty 1945,
366).
Wie sieht Plessner das Verhältnis zwischen Leib, Subjekt und Objekt? Plessner
würde tatsächlich bestätigen, dass der menschliche Leib mehr ist als ein Objekt. Aber
im Kontext seines Denkens muss diese Behauptung anders ausgelegt werden als bei
Merleau-Ponty. Selbstverständlich widersetzt sich auch Plessner dem Naturalismus und
Objektivismus der Physiologie und Psychologie. Aber ihm zufolge braucht man die
Subjektivität des Menschen nicht um den Preis seiner Objekthaftigkeit zu verteidigen.
Mit anderen Worten: Man soll die Objekthaftigkeit des eigenen Körpers nicht ganz der
objektivierenden Wissenschaft überlassen.
Der menschliche Organismus ist bei Plessner Leib und Körper. Beiden Aspekten
wird ein ursprünglicher, vorwissenschaftlicher Status beigemessen. Der Leib ist Pless-
ner zufolge zugleich das leibliche Subjekt. Der Körper ist dagegen Objekt: Er ist der
Organismus, insofern er in der Außenwelt steht „wie all die anderen Dinge auch“
(Plessner 1928, 367). Beide Aspekte gehen in der Lebensführung unmittelbar zusam-
men. Der Leib ist in seinem Körper und hat ihn. Die Objekthaftigkeit des eigenen Kör-
pers ermöglicht dem Subjekt somit, ihn als Instrument einzusetzen. Allerdings geht es
Plessner nicht nur um das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt. Auch die leibliche
Distanz zum eigenen Körper ist dem Menschen nämlich noch gegeben. Der Mensch
bezieht sich kraft seiner exzentrischen Position auf beide Aspekte, Körper und Leib-
Subjekt: „Positional liegt ein Dreifaches vor: das Lebendige ist Körper, im Körper (als
Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides
ist. Ein Individuum, welches positional derart dreifach charakerisiert ist, heißt Person“
(Plessner 1928, 365).
Es gibt also einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Merleau-Ponty und Pless-
ner. Bei Plessner gibt es eine ursprüngliche, vorwissenschaftliche Objekthaftigkeit des
eigenen Körpers, die man bei Merleau-Ponty in dieser ausgearbeitete Form nicht fin-
det.21 Der vorwissenschaftliche Körperleib bildet erst die Grundlage für die Differenzie-
rung in verschiedene Perspektiven – darunter die objektivierende Physiologie. Zudem

21
Maarten Coolens Vortrag „Bodily Experience and Experiencing One’s Body“ (IVth International
Plessner Conference, Rotterdam, 16.-18. September 2009), der 2010 unter demselben Titel im
Tagungsband publiziert wird, hat mich auf diesen Unterschied zwischen Plessner und Merleau-
Ponty aufmerksam gemacht.
12 BIOGRAMM

bildet die exzentrische Position bei Plessner eine Distanz zur Subjektivität, die es bei
Merleau-Ponty nicht gibt.
Vor diesem Hintergrund kann anhand von Buytendijks „Prolegomena“ erklärt wer-
den, warum Merleau-Ponty für Buytendijk letztendlich eine attraktivere Position vertrat
als Plessner. In der „Rechtfertigung“ (dem ‚Vorwort‘) der „Prolegomena“ macht Buy-
tendijk seine Absichten für dieses Buch klar. Die Auffassung des menschlichen Leibes
als eines Objekts sei unhaltbar. Stattdessen soll die „Einführung des Subjektes in der
Physiologie“22 verteidigt werden. Im Kapitel „Das psycho-physische Problem“
(Buytendijk 1967, 64-86) bildet Merleau-Pontys Unterscheidung von leiblicher und
persönlicher Subjektivität die Grundlage der Untersuchung. Buytendijk zufolge sind
zwei Extreme unvertretbar geworden. Einerseits ist die Idee des vom Körper unabhän-
gigen Geistes nicht mehr haltbar. Andererseits darf die persönliche Subjektivität nicht
als bloßes Epiphänomen der Leiblichkeit verstanden werden. Auf einer Meta-Ebene
bedeutet letztere Auffassung, dass das Verhältnis zwischen leiblicher und persönlicher
Subjektivität selbst doch wieder als ein Kausales gedacht wird. Das ist nach Buytendijk
die falsche Schlussfolgerung. Zwischen einer Reizung des Gehirns und einer persönlich
durchlebten Situation gibt es nur eine „Korrelation“ oder „koinzidierende Korrespon-
denz“ (ebd., 83). „Hierauf verweist auch Merleau-Ponty, wenn er sagt, dass das wahr-
genommene nicht der Effekt, sondern die Bedeutung des Funktionieren des Gehirns ist.“
(Ebd., 84.)
Buytendijk setzt sich also im Stil Merleau-Pontys mit dem psycho-physischen Pro-
blem auseinander: Es wird nicht so sehr verteidigt, dass die Person ihren ‚objektiven‘
Leib übersteigt; der Gedanke ist vielmehr, dass der Leib selbst kein Objekt unter den
Objekten sein kann. Der zweite und dritte Teil der Prolegomena sind der Ausarbeitung
dieses Gedankens gewidmet. So argumentiert Buytendijk, dass das Atmen nicht ein
objektiver Prozess ist: „Der Mensch atmet selbst“ (Buytendijk 1967, 252-253), und dass
der Blutkreislauf als eine „Leistung“ des leiblichen Subjekts verstanden werden muss
(Buytendijk 1967, 269).23 Dekkers fasst den Projekt gut zusammen, wenn er sagt, dass
Buytendijk versucht hat, „das spezifisch Menschliche in den elementarsten physiologi-
schen Funktionen aufzuzeigen“ (Dekkers 1985, 252). Das ‚spezifisch Menschliche‘ ist
hier das Subjektive im Sinne Merleau-Pontys. Buytendijk widersetzt sich dem Natura-
lismus, indem er dem Subjekt den Primat und der Objekthaftigkeit des menschlichen
Körpers einen sekundären Status verleiht. Für diese Strategie bildet Merleau-Pontys
corps-sujet in der Tat eine bessere Grundlage als Plessners ‚exzentrische Positionalität‘.

Literatur
22
V. von Weizsäcker und Ey, zitiert von Buytendijk (1967, 16). Viktor von Weizsäcker gilt als
einer der Begründer der anthropologischen Physiologie und hat Buytendijk stark beeinflusst.
Siehe Dekkers (1985, 117-120).
23
‚Leistung‘ auch bei Buytendijk in Anführungszeichen.
JASPER VAN BUUREN: F.J.J. BUYTENDIJK 13

Dekkers, W.J.M. (1985): Het bezielde lichaam. Het ontwerp van een antropologische fysiologie en
geneeskunde volgens F.J.J. Buytendijk, Zeist.
Dietze, Carola (2006): Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892 – 1985, Göttingen.
Krüger, Hans-Peter (2008): Expressivität als Fundierung zukünftiger Geschichtlichkeit. Zur Differenz
zwischen Philosophischer Anthropologie und anthropologischer Philosophie, in: Expressivität
und Stil. Helmuth Plessners Sinnes- und Ausdrucksphilosophie. Internationales Jahrbuch für
Philosophische Anthropologie, Hersg.: Accarino und Schloßberger, Berlin, 109-130.
Merleau-Ponty, Maurice (1942): La structure du comportement, Paris.
Ders. (1945): La phénoménologie de la perception, Paris.
Ders. (1948): Sens et non-sens, Paris.
Ders. (1964): L’oeil et l’esprit, Paris.
Plessner, Helmuth (1923): Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes, in:
Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. III (2003), Frankfurt a. M., 7-315.
Ders. (1928): Die Stufen des Organischen und der Mensch, Gesammelte Schriften, Bd. IV (2003).
Ders. (1941): Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens, in:
Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VII (2003), 201-387.
Ders. (1946): Mensch und Tier, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VIII (2003), 52-65.
Ders. (1957): Unsere Begegnung, in: Langeveld, M.J., Reconcontre Encounter Begegnung. Festschrift
für F.J.J. Buytendijk, Utrecht/Antwerpen, 331-338.
Rillaer, J. van (1974): Le corps comme expressions et source d’intentions. Présentation de la physiolo-
gie anthropologique de F. Buytendijk, in: Revue des Questions Scientifique, 41-54.
Struyker Boudier, C.E.M. (1986): Merleau-Ponty and Buytendijk: Report of a relationship, in: Stephan
Strasser, Clefts in the world, Pittsburg.
Struyker Boudier, H.M.A. (1989): Buytendijk, Frederik Jacobus Johannes, in: J. Charité (Red.), Bio-
grafisch woordenboek van Nederland, Deel III, Den Haag, 87-89.

Auswahlbibliographie24
Buytendijk, F.J.J. (1910): Über die Erregungsleitung im Kaltblüterherzen, in: Tijdschrift der Neder-
landsche Dierkundige Vereeniging, 2e serie, deel IX, 52-60.
Ders. (1913-1914): Over het oorzakelijke verband in de natuur, in: Orgaan van de Christelijke Veree-
niging van Natuur- en Geneeskundigen in Nederland, 139-161.
Ders. (1918): Proeven over gewoontevorming bij dieren. Doktorarbeit in der Medizin an der Rijksuni-
versiteit Utrecht, Amsterdam.
Ders. (1919): Oude problemen in de moderne biologie, Antrittsrede an der Freien Universität zu
Amsterdam, am 9. Mai 1919, Haarlem.
Ders. (1920): Psychologie der dieren, Haarlem.
Ders. (1922a): De wijsheid der mieren, Amsterdam.
Ders. (1922b): Beschouwingen over enkele moderne opvoedkundige denkbeelden, Groningen.
Ders. (1925a): Die Weisheid der Ameisen, (Übersetzung von Buytendijk 1922a), Habelschwerdt.
Ders. (1925b): Over het verstaan der levensverschijnselen, Den Haag.

24
In dieser Bibliographie liegt der Nachdruck auf den wichtigsten phänomenologischen Texten von
Buytendijk, und weniger auf seinen Berichten der experimentellen Forschung. Sie ist großenteils
zusammengestellt auf der Grundlage von Dekkers „Het bezielde lichaam“ (1985), 268-318. Mit
51 Seiten Literaturverzeichnis enthält dieses Buch ohne Zweifel die ausführlichste Bibliographie
von Buytendijks Werk und Sekundärliteratur bis 1985.
14 BIOGRAMM

Ders. (1925c): Über das Verstehen der Lebenserscheinungen (Übersetzung von Buytendijk 1925b),
Habelschwerdt.
Ders. (1925d): Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des
anderen Ichs, in: Helmuth :, Gesammelte Schriften VII (2003), Frankfurt a. M., 67-130.
Ders. (1927): Leerboek der algemeene physiologie, Groningen/Den Haag.
Ders. (1928): Erziehung zur Demut. Betrachtungen über einige moderne pädagogische Ideen, (Über-
setzung von Buytendijk 1922b), Leipzig.
Ders. (1932a): De psychologie van den hond, Amsterdam.
Ders. (1932b): Het spel van mensch en dier. Als openbaring van levensdriften, Amsterdam.
Ders. (1933): Wesen und Sinn des Spiels. Das Spielen des Menschen und der Tiere als Erscheinungs-
form der Lebenstriebe, (Übersetzung und Überarbeitung von Buytendijk 1932b), Berlin.
Ders. (1935): Die physiologische Erklärung des Verhaltens. Eine Kritik an der Theorie Pawlows, mit
Plessner, in: Plessner, Gesammelte Schriften, Bd. VIII (2003), Frankfurt a.M., 7-32.
Ders. (1936): Rassenwaan en medische wetenschap, in: Het christendom bedreigd (door rassenwaan
en jodenhaat). Een internationaal protest, S. 28-36, Amsterdam.
Ders. (1938): Tier und Mensch, zusammen mit Plessner, in: Die Neue Rundschau, Nr. 49, 313-337,
und in: Plessner, Politik – Anthropologie – Philosophie: Aufsätze und Vorträge (2001), München.
Ders. (1943): Over de pijn, Utrecht.
Ders. (1948a): Algemene theorie der menselijke houding en beweging. Als verbinding en tegenstelling
van de physiologische en de psychologische beschouwing, Utrecht/Antwerpen.
Ders. (1948b): Über den Schmerz, Übersetzung von Buytendijk 1943, Bern.
Ders. (1949): Bijdrage tot de algemene psychologie van de dans, in: Paedagogische Studien, Nr. 26,
365-378.
Ders. (1950a): De psychologie van de roman. Studies over Dostojewski, Utrecht/Brussel.
Ders. (1950b): Zur Phänomenologie der Begegnung, in: Eranos, Nr. 19, 431-486.
Ders. (1951a): De vrouw. Haar natuur, verschijning en bestaan. Een existentieel-psychologische stu-
die, Utrecht/Brussel.
Ders. (1951b): Zur allgemeinen Psychologie des Tanzes, in: Essays on Psychology Dedicated To
David Katz (Übersetzung und Überarbeitung von Buytendijk 1949), Uppsala, 48-64.
Ders. (1952): Het voetballen. Een psychologische studie, Utrecht/Antwerpen.
Ders. (1953a): Das Fussballspiel. Eine psychologische Studie, (Übersetzung von Buytendijk 1952),
Würzburg.
Ders. (1953b): Die Frau. Natur, Erscheinung, Dasein, (Übersetzung von Buytendijk 1951a), Köln.
Ders. (1956): Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung. Als Verbindung und
Gegenüberstellung von physiologischer und psychologischer Betrachtungsweise, (Übersetzung
von Buytendijk 1948a), Berlin/Göttingen/Heidelberg.
Ders. (1957): Der Geschmack, in: Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth
Plessner, Göttingen, 42-57.
Ders. (1958): Mensch und Tier. Ein Beitrag zur vergleichenden Psychologie, Hamburg.
Ders. (1961): Aspecten van de vermoeidheid, Abschiedsrede zu Nimwegen, am 13. Oktober 1961, in:
Academische Redevoeringen, 151-173.
Ders. (1965): Prolegomena van een antropologische fysiologie, Utrecht/Antwerpen.
Ders. (1966): Psychologie des Romans, (Übersetzung von Buytendijk 1950a), Salzburg.
Ders. (1967): Prolegomena einer anthropologischen Physiologie, Übersetzung von Buytendijk 1965,
Salzburg.
Ders. (1972): Mens en dier, Übersetzung von Buytendijk 1958, Utrecht.
Ders. (1980, postum): Aandenken. Bezinning over de levensloop bijeengelezen uit nageslagen
geschriften van F.J.J. Buytendijk, Baarn.
JASPER VAN BUUREN: F.J.J. BUYTENDIJK 15

Ders. (1993, postum): Filosofische wegwijzer. Correspondentie van F.J.J. Buytendijk met Helmuth
Plessner, Zeist.

Über F.J.J. Buytendijk


Dekkers, W.J.M., Struyker Boudier, C.E.M., Struyker Boudier, H.M.A.: Helmuth Plessner und
Frederik Buytendijk – Ein Dioskurenpaar, in: B. Delfgaauw, H.H. Holz en L. Nauta (Hg.): Phi-
losophische Rede vom Menschen. Studien zur Anthropologie Helmuth Plessners. Frankfurt a. M.
1986.
Ders., F.J.J. Buytendijk’s Concept of an Anthropological Physiology. Theoretical Medicine 16 (1),
1995, 15-39.
Ders., Over de betekenis van F.J.J. Buytendijk voor de fysiotherapie. Nederlands Tijdschrift voor
Fysiotherapie 90 (7/8), 1980, 43-248.
Ders., W.J.M., Buytendijks opvatting van een antropologisch georiënteerde geneeskunde. Metamedica
62 (3), 1983, 190-201.
Prohl, Robert/Heim, Christopher (2006): Frederik Jacobus Johannes Buytendijk: Allgemeine Theorie
der menschlichen Haltung und Bewegung (1956), in: Court, Jürgen, und Meinberg, Eckhard
(Hg.), Klassiker und Wegbereiter der Sportwissenschaft, Stuttgart, 333-340.
Struyker Boudier, H.M.A. (1993): Helmuth Plessner als philosophischer Wegweiser für F.J.J. Buyten-
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