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Originalarbeiten

Daseinsanalyse 1990;7:81-101

Ludwig Binswanger: Daseinsanalyse als


wissenschaftlich exakte Untersuchung
von Weltentwürfen
Alice Holzhey-Kunz

Wer sich über die Daseinsanalyse ins Bild setzen möchte, sieht sich
zwei Richtungen gegenüber, deren Begründer und Hauptrepräsentanten
Ludwig Binswanger und Medard Boss sind. Gemeinsam ist beiden Rich­
tungen die Bezugnahme auf die Philosophie Heideggers; gemeinsam ist die
Überzeugung, auf der Basis von Heideggers «Daseinsanalytik» sei ein
radikal neuer - selbstredend ein «besserer» - Zugang zu den psycholo-
gisch/psychopathologischen Phänomenen möglich; gemeinsam ist die In­
tention, auf dieser philosophischen Basis einen neuen «Grundriss der
Psychiatrie» [Binswanger, 1955, p. 286] oder gar einen neuen «Grundriss
der Medizin und Psychologie» [Boss, 1971] zu schaffen. Das vorliegende
daseinsanalytische Werk der beiden ist allerdings nicht mehr auf einen
Nenner zu bringen. Über den Unterschied kann zunächst der gemeinsame
Gebrauch bestimmter leitender Grundbegriffe, wie «In-der-Welt-Sein»,
«Räumlichkeit» und «Zeitlichkeit» des Daseins, «Verfallen» und wenige
mehr, hinwegtäuschen. Aber der Sinn dieser Begriffe ist ein je anderer.
Binswanger war bekanntlich der erste, der Heideggers Philosophie in
die Psychiatrie einführte. Er bezog sich dabei ausschliesslich auf «Sein und
Zeit» [1957] und den wenig später erschienenen Aufsatz «Vom Wesen des
Grundes» [1955] und beschränkte sich auf diese Texte auch später, als wei­
tere Publikationen Heideggers die «Kehre» seines Denkens anzeigten.
Boss, dessen erste daseinsanalytische Schrift über «Sinn und Gehalt
der sexuellen Perversionen» [1947] noch ganz im Sinne Binswangers ver­
fasst ist, sucht und gewinnt bald nachher eine freundschaftliche Beziehung
und direkte Zusammenarbeit mit dem Philosophen. Boss’ Daseinsanalyse
ist demzufolge von da an durch das spätere Seinsdenken Heideggers
geprägt. Bereits die 2. Auflage des Perversionsbuches (1951) und vor allem
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die 3. Auflage (1966) zeugen von einer grundlegenden Revision des philo­
sophischen Ansatzes. Die 1957 erschienene Schrift «Psychoanalyse und
Daseinsanalytik» ist zu einem guten Teil der kritischen Abgrenzung von
Binswangers Daseinsanalyse gewidmet. Die Kritik ist ganz auf Binswan-
gers Heidegger-Rezeption bezogen, die Zug um Zug als Fehlinterpretation
nachgewiesen wird. Boss macht lediglich das Zugeständnis, dass Heideg­
gers Terminologie in «Sein und Zeit» teilweise noch missverständlich sei.
In Abhebung von Binswanger skizziert Boss den eigentlichen Sinn von
Heideggers Grundgedanken und die darauf basierende neue Daseinsanaly­
se, die nun erst zu Recht den Namen «Daseinsanalyse» trägt. Dass diese
radikale Kritik an Binswanger die Auffassung des Philosophen selbst wie­
dergibt, kann nach der Publikation von Notizen Heideggers über Binswan­
ger in den «Zollikoner Seminaren» kaum bezweifelt werden [vgl. Heideg­
ger 1987, pp. 236ff„ 256f., 286f.].
Diese Verurteilung von Binswangers Werk paart sich mit einer gross­
zügigen Anerkennung von dessen Pioniertat, nämlich als erster die «über­
ragende Bedeutung» Heideggers für die Psychiatrie erkannt zu haben [Boss
1956, pp. 88, 117]. Sein Ort und seine Rolle im Ganzen der daseinsanaly­
tischen Bewegung ist damit bestimmt: Er steht am Anfang - aber nicht als
der erste im Sinne des Vaters, sondern allenfalls als ein Vorläufer, dessen
Werk und sich daraus entwickelnde Schulrichtung den Namen «Daseins­
analyse» zu unrecht beansprucht [Boss, 1966, 3. Vorwort, p. 11]. Aller­
dings gesteht Boss zu, dass mit dem Aufweis der Irrtümer von Binswangers
Heidegger-Auslegung noch nicht entschieden sei über die «Angemessen­
heit» dieses Ansatzes «an die Sache der Psychiatrie und ... ihre Fruchtbar­
keit» [Boss, 1966, p. 12],
Die folgende Darstellung will die wichtigsten Kennzeichen von Bins­
wangers Daseinsanalyse möglichst klar und knapp heraussteilen - mit dem
Ziel, die Diskussion um «Angemessenheit» und «Fruchtbarkeit» dieses
Ansatzes im Bereich psychisch/psychopathologischer Phänomene erneut
in Gang zu bringen.

1. In-der-Welt-sein als theoretischer Leitbegriff


daseinsanalytisch-psychiatrischer Forschung

Als Binswanger auf «Sein und Zeit» stösst, hat er bereits ein beachtli­
ches Wegstück in seinem lebenslangen Bemühen um eine theoretische
Fundierung der Psychiatrie zurückgelegt. Dieses Werk wird von da ab sein
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Denken auf lange Zeit befruchten, aber auch die daraus resultierende «Da­
seinsanalyse» ist nur eine, wenn auch die wichtigste Etappe, auf die dann
ab 1960 die letzte Schaffensperiode folgt, die als phänomenologische Kon­
stitutionsanalyse an Husserl und Szilasi orientiert ist.
Das 1922 erschienene Buch «Einführung in die Probleme der allge­
meinen Psychologie» zeugt sowohl von einer stupenden Sach- und Litera­
turkenntnis wie auch von einem hohen Problembewusstsein bezüglich der
damals intensiv diskutierten Methodenfragen von Natur- und Geisteswis­
senschaften. Eine so grundlegende und zugleich weitläufige Thematik aus
der Feder eines Psychiaters mag zunächst erstaunen. Binswanger aber
wusste, dass nur durch sie eine Klärung der Grundlagen der Psychiatrie
möglich wird. Denn Psychiatrie als Wissenschaft ist einerseits durch ihre
Sache bzw. den Gegenstandsbereich bestimmt, anderseits durch die spezi­
fische Methode. Bezüglich beider Problemkreise mangelt es an «Klarheit
und Schärfe»:
«Wohin wir blicken, herrscht noch Unfertigkeit, Unsicherheit, Zweifel, Wider­
spruch. Deshalb stossen wir mehr auf Fragen als auf endgültige Antworten, mehr auf
Probleme als auf Lösungen» [Binswanger, 1922, p. 5].

Es ist aufschlussreich, dass für Binswanger bereits in diesem Buche


zwei Forderungen zentral sind: Einerseits soll die Bestimmung des Gegen­
standes der Psychiatrie nicht von Abstraktionen, wie sie «Gehirn» oder
auch «Seele» darstellen, sondern von der «anschaulichen Wirklichkeit»
ausgehen, die er damals als «psychische Person» bezeichnet [Binswanger,
1922, pp. 4ff.]. Anderseits soll die Besinnung auf die Methode zu «Klarheit
und Schärfe» bezüglich der Grundbegriffe führen, damit wissenschaftliche
Erkenntnis garantierend. Aber auch hier sieht Binswanger sich einer ver­
worrenen Methodendiskussion gegenüber. 1927 schreibt er in einem Auf­
satz über «Verstehen und Erklären in der Psychologie», nachdem er über
Diltheys Theorie des Verstehens gehandelt hat:
«Nehmen wir hinzu, was in den ... Schriften von Simmel, Rickert, Spranger, Litt,
Erdmann, Max Weber, Jaspers, Scheler, Edith Stein, Haering, Häberlin, Erismann, Rof-
fenstein u.a. Verstehen genannt wird, so mag uns wohl Verzagtheit überfallen bei dem
Gedanken, ob und wie aus diesem Labyrinth wieder herauszugelangen sei. M.E. ist es
einzig und allein die reine Phänomenologie, die uns hier einen Faden an die Hand zu
geben vermag» [Binswanger, 1927, p. 661].

In dieser geistigen Situation hat «Sein und Zeit» auf Binswanger - wie
er 1950 rückblickend sagte - einen «überwältigenden Eindruck» gemacht
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[Binswanger, 1955, p. 283], Es ist die Bestimmung und Auslegung des


menschlichen Existierens als «In-der-Welt-sein», die von Binswanger so
interpretiert wurde, dass sie Antwort gab auf die ihn seit Jahren bedrän­
genden Fragen betreffend Gegenstand und Methode der Psychiatrie. In ihr
sah Binswanger die Einsichten der Lebensphilosophie, von der er jahrelang
Hilfestellung erhofft hatte, aufgenommen, und zugleich die begriffliche
Vagheit, die dem Begriff des Lebens bei Dilthey anhaftet, überwunden
[Binswanger, 1956, pp. 173f.]. Denn die ontologische Aussage über die
Grundverfassung des Daseins als In-der-Welt-sein stellt nach Binswanger
eine «äusserst konsequente Fortbildung und Erweiterung philosophischer
Grundlehren dar, und zwar der Lehre Kants von den Bedingungen der
Möglichkeit der (naturwissenschaftlichen) Erfahrung einerseits, der Lehre
Husserls von der transzendentalen Phänomenologie andererseits» [Bins­
wanger, 1947, p. 192], Das Bahnbrechende von «Sein und Zeit» liegt also
darin, dass hier das Positive aus Lebensphilosophie und Neukantianismus
zu einer Synthese gekommen ist. Denn lag der Mangel der Lebensphiloso­
phie in der begrifflichen Unschärfe, so die des Neukantianismus in der
Abstraktheit und Blutleere des Subjektbegriffs. In der Auslegung des
Daseins als In-der-Welt-sein ist der lebendige «ganze» Mensch in seiner
ontologischen Struktur erfasst, so dass auf dieser Grundlage der psychia­
trische Forscher «wissenschaftlich begründete und nachprüfbare» Er­
kenntnisse zu gewinnen vermag [Binswanger, 1947, p. 192],
«In-der-Welt-sein» wird somit zum tragenden Terminus von Bins-
wangers Daseinsanalyse. An der Bestimmung des menschlichen Daseins
als In-der-Welt-sein sind für Binswanger vier Momente entscheidend:
Ganzheit, transzendentales Apriori, Struktur und Norm. Ich werde zuerst
diese vier Momente und ihre Leitfunktion für die psychiatrisch-daseins­
analytische Forschung darstellen und dann ihre kritische Würdigung
einem zweiten Durchgang Vorbehalten.

a) Ganzheit
In der Bestimmung menschlichen Daseins als In-der-Welt-sein wird
der ganze Mensch in den Blick gebracht [Binswanger, 1955, p. 269]; damit
ist eine wichtige Forderung für eine Neubegründung der Psychiatrie
erfüllt. Das Ganze, das bekanntlich mehr ist als die Summe seiner Teile,
fehlte der Psychiatrie bisher, die immer nur von Teilfunktionen und deren
Störungen ausging und darin steckenblieb. Der Begriff der «Person», der
im Buch von 1922 noch diese Ganzheit einfangen sollte, wird nun durch
den Begriff des In-der-Welt-seins abgelöst. Der Vorteil ist evident:
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«Welt», die jeweilige Welt eines Menschen, das ist genau jene «anschauli­
che Wirklichkeit», wie sie Binswanger schon 1922 an die Stelle der
Abstraktionen «Gehirn» und «Seele» setzen wollte: anschaulich gegebene,
somit phänomenologisch beschreibbare Wirklichkeit.
«Welt» nennt das Ganze im Sinne des umfassenden Horizontes,
innerhalb dessen sich ein Mensch bewegt, denkt und handelt. Dieser Welt­
begriff ist uns aus der Umgangssprache genügend vertraut: Man spricht
historisch von der Welt des Mittelalters im Unterschied zur Welt der
Antike und der Neuzeit, soziologisch von der Welt des Kleinbürgers, ent­
wicklungspsychologisch von der Welt des Kleinkindes usw. Immer ist
damit der jeweilige Bedeutungshorizont gemeint, in den eine Zeitepoche,
eine soziale Schicht oder der Mensch einer bestimmten Entwicklungsphase
eingebunden ist: Der Horizont, der zugleich ermöglicht und begrenzt, wie
etwas erfahrbar wird. «Welt» meint bei Binswanger dieses umfassende
«Wie» des Menschseins; «die Art und Weise, wie ihm das Seiende zugäng­
lich wird» [Binswanger, 1947, p.,193]. Er übernimmt den in Heideggers
Aufsatz «Vom Wesen des Grundes» [1955] zentralen Begriff Weltentwurf,
um deutlich zu machen, dass es sich hier nicht um einen empirisch-geo­
graphischen, sondern um einen transzendentalen Sachverhalt handelt. Der
Begriff des «Entwurfes» ist allerdings mancherlei Missverständnissen aus­
gesetzt, da er in der Umgangssprache entweder etwas Vorläufiges oder
etwas eigenmächtig Gesetztes bezeichnet. In «Sein und Zeit» ist mit «Ent­
wurf» der existenziale Charakter menschlichen Verstehens gekennzeichnet
[Heidegger, 1957, p. 145],
Der Weltentwurf ist bei Binswanger immer der Verständnishorizont
des einzelnen und macht dessen «Individualität» aus: «Individualität ist,
was ihre Welt als die ihre ist» [Binswanger, 1957, p. 149], Durch den
jeweiligen Weltentwurf erhält «jedes Wort, jeder Satz, jede Idee, jede
Zeichnung, Handlung oder Geste ihr besonderes Gepräge» [Binswanger,
1947, p. 204],
Die Verschiedenheit von Menschen gründet also in ihren andersarti­
gen Weltentwürfen. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur Feststel­
lung: «Es sind die Weltentwürfe, die den geisteskranken Menschen vom
Gesunden unterscheiden» [Binswanger, 1947, p. 217]. Das phänomenolo­
gische Bemühen um Verständnis der spezifischen Eigenart eines Individu­
ums hat sich also auf die Erfassung von dessen Weltentwurf zu richten.
Und von hier aus ist nun auch eine klare Definition der «Hauptaufgabe
der Psychopathologie» zu gewinnen: «Kenntnis und wissenschaftliche
Beschreibung der Weltentwürfe» [Binswanger, 1947, p. 217],
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b) Transzendentales Apriori
Das Ganze, das im Begriff des Weltentwurfes gewonnen wird, ist mehr
und anderes als die Ganzheit des seelischen oder auch des lebensgeschicht­
lichen Zusammenhanges eines Menschen: Es ist der transzendentale
Grund für alles seelische und damit auch lebensgeschichtliche Geschehen.
Eben das meint das Wort «transzendental»: Bedingung der Möglichkeit;
und das Wort «a priori» meint: im vorhinein, immer schon.
Wenn menschliches Dasein als In-der-Welt-sein beschrieben wird,
dann heisst das, den Menschen nicht von seinem Bezug zum Seienden her
zu bestimmen (im Subjekt-Objekt-Verhältnis), sondern von seinem Bezug
zur Welt her. Vor allem Bezug zu innerweltlich Seiendem hat der Mensch
dieses schon überstiegen, hat es auf Welt hin als den umfassenden Hori­
zont transzendiert. Und erst dieser vorgängige «Überstieg» zur Welt
ermöglicht und bestimmt die Art und Weise, wie Seiendes einem Men­
schen zugänglich wird: «Wird doch dem Menschen das Seiende nie als
solches zugänglich, sondern immer nur in einem und durch einen be­
stimmten Weltentwurf» [Binswanger, 1947, p. 202], Wenn es also dem
Psychiater gelingt, den Weltentwurf eines Geisteskranken in Erfahrung zu
bringen, so ist er damit zum letzten Grund vorgestossen, aus dem her alles
verständliche und unverständlich-verrückte Verhalten dieses Menschen
interpretierbar wird.
Nun drängt sich die Frage auf, ob das psychoanalytische Konzept des
Unbewussten in dieser daseinsanalytischen Theorie des Weltentwurfs
noch seinen Platz findet, oder ob es als damit «überwunden» gilt. Für
Binswanger verliert die Unterscheidung bewusst-unbewusst (qua ver­
drängt) ihre Bedeutung, weil sie nur eine Differenzierung innerhalb des
Seelischen ist [Binswanger, 1955, pp. 306f.]. Alles Seelische gründet aber,
wie gezeigt, im Weltentwurf. Folglich - von Binswanger zwar nicht expres-
sis verbis formuliert - bestimmt sich vom Weltentwurf her, was an seeli­
schen Regungen der Verdrängung verfällt. In einem allgemeinen, nicht
psychoanalytischen Sinne ist allerdings gerade der Weltentwurf als «unbe­
wusst» zu bezeichnen, indem er eben nicht thematisch gegeben werden
kann, sondern allem Denken und Handeln als dessen Ermöglichung
zugrundeliegt.
Analog bestimmt Binswanger auch das Verhältnis von Weltentwurf
und Genese. Für die Psychoanalyse ist bekanntlich der Rückgang auf
unbewusste Sinnzusammenhänge zugleich ein Rückgang in die Lebensge­
schichte des Betreffenden, in die Zeit der Entstehung der Verdrängungen.
Auch hier täuscht sich nach Binswanger die Psychoanalyse, wenn sie
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annimmt, in frühen traumatischen Erfahrungen die letzten Gründe für


psychopathologische Phänomene namhaft machen zu können. Dass ein
bestimmtes Ereignis der frühen Kindheit als traumatisch erfahren wird,
setzt einen bestimmten Weltentwurf schon voraus [Binswanger, 1947, pp.
205ff.; 1955, pp. 294, 304]. Vom transzendentalen Ansatz Binswangers
her ist also zu verstehen, dass die Daseinsanalyse im Unterschied zur Psy­
choanalyse ein auffallend geringes Interesse an der kindlichen Entwick­
lung des Patienten nimmt; der in phänomenologischer Forschung auf­
deckbare Weltentwurf enthält ja, als «Disposition», was sich dann «in der
Zeit» als spezifische Entwicklung dieses Menschen aus-wickelt, manife­
stiert.
Die phänomenologische Erforschung des Weltentwurfes ist also keine
psychologische Methode, die sich auf die Erfassung empirischer Fakten
und deren Gesetzmässigkeiten begrenzt. Sie ist aber auch nicht Philoso­
phie. Sie beschäftigt sich zwar mit dem Apriori, aber nicht mit jenem
ontologischen Apriori, das dem menschlichen Existieren als solchem zu­
grundeliegt und in «Sein und Zeit» Thema ist, sondern mit dem konkre­
ten Apriori des Individuums, «mit der ontischen faktischen Struktur
bestimmter... Daseinsformen [Binswanger, 1956, p. IX]. Die Daseins­
analyse ist demnach im Unterschied zur Daseinsanalytik Heideggers
eine «phänomenologische Erfahrungswissenschaft», welche die Leitfäden
ihrer Forschung statt einer psychologischen Theorie der philosophischen
Anthropologie Heideggers entnimmt [Binswanger, 1947, p. 191; 1955,
p. 295],
Für Binswanger liegt ein wesentlicher Vorzug der daseinsanalytischen
Forschung gegenüber anderen Forschungsrichtungen in der Überwindung
der Kluft von einfühlbarem und uneinfühlbarem Seelenleben, welche Jas­
pers als Problem psychiatrischen Verstehens formuliert hatte. Weil die
daseinsanalytische Forschung nicht im Bereich des Seelenlebens verbleibt,
sondern dieses auf das zugrundeliegende Apriori hin interpretiert, werden
alle psychischen Phänomene, ob einfühlbar oder uneinfühlbar, wissen­
schaftlich zugänglich als Teile des jeweiligen Weltentwurfes. Das heisst,
dass die phänomenologische Methode als auf das Apriori gerichtete nicht
an Einfühlung gebunden ist - und eben darum im strengen Sinne Methode,
die wissenschaftliche nachprüfbare Erkenntnisse zu vermitteln vermag.
Der daseinsanalytische Psychiater bedarf nicht der Einfühlungsfähigkeit
mit all ihren subjektiven Unwägbarkeiten, um den psychisch Kranken ver­
stehen zu können. Wir könnten ihn zur Verdeutlichung mit dem Ethnolo­
gen vergleichen, der gleichfalls Riten und Gebräuche eines fremden Kul­
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turkreises, die den «Westler» sinnlos oder gar abstossend anmuten, aus
dessen Welthorizont zu deuten vermag.
Dieses Konzept wirft zwei grundsätzliche Fragen auf, die hier wenig­
stens erwähnt sein sollen. Erstens bleibt unklar, wie sich ein möglicher
Wandel des Weltentwurfes und damit auch eine Veränderung mittels Psy­
chotherapie mit der These von dessen transzendentalem Charakter ver­
trägt. Jene Wandlungen bzw. «Abwandlungen», die Binswanger in seinen
Schizophreniedarstellungen beschreibt, sind lediglich zunehmende
Schrumpfungs- und Verfallsprozesse; in ihnen wird nur das, was a priori
schon angelegt ist, im Laufe der Lebensgeschichte manifester und wirk­
kräftiger. Binswanger scheint sich dieser theoretischen Schwierigkeit nicht
bewusst gewesen zu sein. An jenen Stellen, in denen er auf Psychotherapie
zu sprechen kommt, sieht er fraglos die Möglichkeit einer psychotherapeu­
tischen Behandlung und eines psychotherapeutischen Erfolges durch Ver­
mittlung des Wissens um die defiziente Struktur des Weltentwurfes [Bins­
wanger, 1955, pp. 293, 306f.].
Zweitens ist zu fragen, inwiefern das «wissenschaftliche» Verstehen
des Weltentwurfes, welches die Kluft von einfühlbarem und nichteinfühl­
barem Seelenleben überwindet, noch eine Verständigung mit dem Patien­
ten sein kann. Binswanger betont zwar, dass das Verhältnis des daseins­
analytischen Psychiaters zu seinem Patienten ein «mitmenschliches» sei,
das er als «Begegnung und Verständigung» charakterisiert, aber die Er­
kenntnis des Weltentwurfes wird durch «systematische Exploration des
Kranken» gewonnen, die eine neutrale Haltung des Forschers zur Voraus­
setzung hat [Binswanger, 1947, p. 203; 1955, pp. 277f.]. Dies ist ein
wesentlicher Unterschied zur Psychoanalyse, in welcher theoretische Er­
kenntnis nicht von der analytischen Praxis zu trennen ist; dort gewinnt der
Analytiker seine Erkenntnisse nur im Rahmen des analytischen Gesprächs,
in das er als Person tief involviert wird.

c) Struktur
Die bisherige Bestimmung der Daseinsanalyse als wissenschaftliche
Beschreibung der Weltentwürfe ist vorerst Programm: Binswanger muss
zeigen können, wie es einzulösen ist. Die «wissenschaftliche» Beschrei­
bung verlangt bekanntlich im Unterschied zur «Kunst» der Hermeneutik
«methodische Direktiven», sie verlangt Regeln, deren Befolgung zu si­
chern vermag, dass im Resultat nicht ein «zufälliges Aperçu», sondern
«wissenschaftlich begründete und nachprüfbare Antwort» vorliegt [Bins­
wanger, 1947, pp. 191f.].
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Das Programm ist einlösbar, weil Heideggers Aufweis des Daseins als
In-der-Welt-Sein eine Struktur erkennen lässt:

«Das In-der-Welt-Sein ist nur ‘ein anderer Ausdruck für die formal existenziale
Ganzheit des ontologischen Strukturganzen des Daseins’» [Binswanger, 1942, p. 60],

Analoge Formulierungen finden sich in der Tat in «Sein und Zeit»,


etwa wo Heidegger von der «Gliederung der Ganzheit des Strukturgan­
zen» spricht [Heidegger, 1957, p. 317], Dass der Weltentwurf eine Struktur
mit bestimmten Strukturgliedern aufweist - dies gibt dem Forscher die
benötigten Leitfäden für seine Forschung in die Hand: er weiss jetzt, wie
Binswanger [ 1947, p. 202] lapidar sagt, «worauf er bei seiner Beschreibung
zu achten hat». Binswanger hat bekanntlich Heideggers Struktur um wei­
tere Strukturglieder ergänzt, was uns im nächsten Abschnitt noch beschäf­
tigen wird. Diese Ergänzungen sind zum Teil zu verstehen als notwendige
Differenzierungen. Das ontologische Netz ist gleichsam für die empirische
Forschung noch zu grossmaschig und bedarf der Verfeinerung. Hier liegt
also nicht die Absicht vor, Heideggers Aussagen kritisch abzuändern, son­
dern lediglich auf der Grundlage von «Sein und Zeit» das Instrumenta­
rium für den Forscher zu präzisieren [Binswanger, 1955, p. 286], in dem
z.B. «Konsistenz», «Materialität», «Färbung» und «Beleuchtung» der
Weltentwürfe herausgearbeitet werden; Momente, welche für das ontologi­
sche Interesse Heideggers irrelevant, aber zum Zwecke der wissenschaftli­
chen Beschreibung des psychotischen und neurotischen In-der-Welt-seins
«unerlässlich» sind [Binswanger, 1955, p. 286].

d) Norm
Dieses letzte der vier konstitutiven Momente des In-der-Welt-seins
scheint mir das wichtigste; es ist zugleich ein Moment, das Binswanger
gleichsam aus Heideggers ontologischer Analyse «extrapoliert». Heidegger
beansprucht nirgends für seine Existenzialanalyse des In-der-Welt-seins
eine normative Geltung, so, dass sie für die empirische Erforschung
menschlichen Verhaltens als normative Richtschnur fungieren könne. Für
Binswanger hingegen ist eben diese normative Geltung selbstverständ­
lich:

«Einen solchen methodischen Leitfaden vermag die Struktur des In-der-Welt-Seins


aber nur deswegen abzugeben, weil wir in dieser Struktur eine Norm in Händen haben
und damit die Möglichkeit, Abweichungen von dieser Norm exakt wissenschaftlich fest­
zustellen» [Binswanger, 1947, p. 202].
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Teilweise mag das normative Denken Binswangers aus dem südwest­


deutschen Neukantianismus stammen. Dort hat z.B. die Logik normative
Geltung; die logischen Gesetze sind Normen des Denkens; Wahrheit wird
als «Norm» angesprochen. Für Binswanger muss Heideggers ontologische
Struktur des In-der-Welt-seins nur darum normative Geltung haben, weil
diese sich nicht bei allen Menschen als invariante Struktur durchhält. Viel­
mehr finden wir bei den konkreten Menschen je verschiedene Abwandlun­
gen dieser ontologischen Struktur vor: Der Weltentwurf des einzelnen
unterscheidet sich von den Weltentwürfen anderer Menschen durch seine
eigene Struktur, und jede Struktur ist als Abwandlung von der normativen
Struktur, wie sie für Binswanger in «Sein und Zeit» entfaltet ist, wissen­
schaftlich zu erfassen. Dass solche Abwandlungen nicht «in der Zeit» sich
ereignen, sondern a priori abgewandelt sind, haben wir im letzten Ab­
schnitt dargelegt. Die daseinsanalytische Beschreibung der Weltentwürfe
zielt also auf die Beschreibung ihrer apriorischen Struktur, das heisst deren
spezifischer Abwandlung der Norm.
Binswanger ist Psychiater, und wenn es bis dahin scheint, es gehe um
die Erfassung der «Individualität» des einzelnen, so ist dies natürlich nur
zum Teil richtig. Zwar sagt er, wie schon zitiert: «Individualität ist, was die
Welt als die ihre ist» [Binswanger, 1957, p. 149], aber damit bleibt ja das
Rätsel der sogenannten Geisteskrankheiten ungelöst: Diese sind nicht nur
andersartig im Sinne von Individualität, sondern sie sind «anders» im
Sinne eines «abgewandelten», qua defizienten Existierens. Binswanger will
die psychiatrische Unterscheidung von gesund und krank, die nach ihm
ein biologisches Werturteil mit moralisierend-pejorativem Beigeschmack
beinhaltet, überwinden - und kommt um eine analoge Unterscheidung
doch nicht herum. An die Stelle des Gegensatzpaares gesund/krank tritt
die Unterscheidung von normgemäss und normwidrig [Binswanger, 1947,
p. 202; 1955, p. 288; 1957, pp. 12, 263, 269],
Die Bedeutung dieser Unterscheidung wird nun dadurch verstärkt,
dass der theoretische Normbegriff, den Binswanger aus Heideggers we-
sensmässiger Strukturganzheit des In-der-Welt-seins gewonnen hat, mit
einem praktisch-eudämonistischen Normbegriff «geglückten Daseins»
verschmilzt, wie ihn der Philosoph und Freund Binswangers, Wilhelm Szi-
lasi [ 1946], vertritt. Damit wird die Abwandlung von der Norm zum Indiz
«missglückten Daseins».
Hier hat nun Binswangers Kritik und Ergänzung der von Heidegger als
«Sorge» bezeichneten Struktur des In-der-Welt-seins ihren Ort. Unter der
Perspektive der Norm geglückten Lebens wird die Bestimmung dieser
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Strukturganzheit als «Sorge» verdächtig, nicht wirklich die Ganzheit


menschlichen Existierens in den Blick zu bringen, sondern bloss einen ein­
seitigen «Seinsentwurf» zu verabsolutieren, dem «die Idee der Macht...
im Sinne der Mächtigkeit überhaupt» zugrundeliege [Binswanger, 1942,
p. 147],
In der Tat widerspricht nicht nur der Begriff der Sorge - umgangs­
sprachlich verstanden - der Vorstellung glücklich erfüllten Lebens, son­
dern überhaupt die Terminologie, mit der Heidegger in «Sein und Zeit»
die menschliche Grundverfassung beschreibt: «Sein zum Tode», «Nich­
tigkeit», «Unheimlichkeit», «Angst», «Schuld» usw. Dem hält nun Bins­
wanger die Liebe entgegen als die eigentliche bzw. höchste Form des Mit­
einanderseins, dessen zeitlicher Modus die Ewigkeit und dessen räumli­
cher Modus die Unendlichkeit bzw. die Heimat ist. Die umfassende
Struktur des Daseins lautet nun: «In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-
Sein». Es ist, genau besehen, mehr als eine Ergänzung, die Binswanger
vornimmt, vielmehr eine grundlegende Modifikation der ganzen Struk­
tur; die Liebe ergänzt nicht die Sorge, sondern ist ursprünglicher und
eigentlicher als die Sorge. Binswangers Strukturganzheit enthält also in
sich eine Rangordnung. Und wenn einerseits die Liebe niemals aus der
Sorge, die Einheit von «Ich und Du» im «Wir» niemals aus der «Jemei-
nigkeit» des einzelnen entspringen können, so sind umgekehrt die von
Heidegger herausgestellten Charaktere nicht autochthone und somit gleich­
ursprüngliche Formen des Miteinanderseins und Selbstseins, sondern aus
der Liebe als höchster Form zu verstehen; sie sind Formen der
«Schrumpfung» und des «Verfalls» des dualen Modus des Miteinander­
seins [Binswanger, 1942, p. 21], Diese Denkfigur wird uns noch einmal
beschäftigen.
Die Orientierung an der ontologischen Strukturganzheit als Norm gibt
also der daseinsanalytischen Beschreibung der Weltentwürfe das Gepräge.
Sie ist vor allem ein Massnehmen an der Norm. Und weil die Abwandlun­
gen von der Struktur immer und notwendig defizitären Charakter haben,
herrschen zur Charakterisierung abgewandelter Strukturen die Negativ­
begriffe vor: die Abwandlungen sind «Schrumpfung», «Verfall», «Nivel­
lierung» oder «Entleerung» der Struktur. Wenn Binswanger [1957, p. 117]
betont, dass dieses Massnehmen kein Werturteil beinhalte, so kann er
damit nur gemeint haben, dass hier nicht von schuldhaftem Versagen eines
Menschen die Rede ist, da ja der Weltentwurf und dessen Abwandlungen
«diesseits ... des Gegensatzes von Freiheit und Notwendigkeit, Schuld und
Verhängnis» liegen.
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2. Kritische Würdigung im Vergleich

Das meines Erachtens wichtigste Motiv für Binswangers spezifische


Lesart von «Sein und Zeit» ist bereits deutlich geworden: Nur so gelesen
liefert dieses Werk das philosophische Fundament für eine - eben die
daseinsanalytische - Forschungsrichtung in der Psychiatrie, welche sich
dadurch auszeichnet, den strengen Kriterien von Wissenschaft zu genügen.
Binswanger weiss sehr wohl, dass diese Kriterien sich von denen der
Naturwissenschaft unterscheiden und auch unterscheiden dürfen; die Da­
seinsanalyse ist «Erfahrungswissenschaft ... mit einer eigenen Methode
und einem eigenen Exaktheitsideal, nämlich mit der Methode und dem
Exaktheitsideal der phänomenologischen Erfahrungswissenschaften»
[Binswanger, 1947, p. 191].
Der Vater der Phänomenologie, Edmund Husserl, hat bekanntlich für
die Philosophie selbst die Forderung aufgestellt, strenge Wissenschaft zu
sein. Im Aufsatz mit eben diesem Titel [Husserl, 1965, p. 12] heisst es:

«Die nachfolgenden Ausführungen sind von dem Gedanken getragen, dass die höch­
sten Interessen menschlicher Kultur die Ausbildung einer streng wissenschaftlichen Phi­
losophie fordern; dass somit, wenn eine philosophische Umwendung in unserer Zeit
Recht haben soll, sie jedenfalls von der Intention auf eine Neubegründung der Philoso­
phie im Sinne strenger Wissenschaft beseelt sein muss.»

Husserl lässt keinen Zweifel, dass er die Phänomenologie als diesen


philosophischen Neubeginn sieht, welche das Postulat strenger Wissen­
schaft einzulösen vermag.
Binswanger hat also - so könnte man formulieren - «Sein und Zeit»
im Geiste Husserls gelesen, und - bedenkt man, dass Husserl ja mit seiner
Forderung nichts anderem als dem cartesianischen Ideal verpflichtet ist -
im Geiste Descartes. Binswangers spezifisches Verständnis von «Ent­
wurf», von «Struktur» - sowie die Inanspruchnahme der Strukturganzheit
als Norm - hat mit diesem Cartesianismus zu tun.
Ich möchte darum in einem zweiten Teil die Eigenart von Binswan­
gers Daseinsanalyse noch deutlicher hervortreten lassen, indem ich die
drei zentralen Sachverhalte - Welt als Entwurf, als Struktur, als Norm -
sowohl mit Heideggers Weltverständnis als auch mit dem Welt- und
Normverständnis in der Daseinsanalyse von Boss konfrontierte. Es ver­
steht sich von selbst, dass in diesen knappen Hinweisen weder die Daseins­
analyse von Boss noch gar die Philosophie Heideggers hinreichend darge­
stellt werden.
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a) Welt als Entwurf oder das Ideal methodisch gesicherter Erkenntnis


Verglichen mit Heideggers Explikation von Welt in «Sein und Zeit»
und «Vom Wesen des Grundes» erweist sich Binswangers Weltverständnis
als eine Verkürzung. Der Weltbegriff ist verkürzt um das wesentliche
Moment der «Erschlossenheit» bzw. «Offenheit». An zwei fast gleichlau­
tenden Sätzen lässt sich zeigen, worum es geht. Bei Heidegger heisst es:
«Der Entwurf von Welt ermöglicht erst, dass Seiendes als solches sich
offenbart» [Heidegger, 1955, p. 36], und Binswanger sagt scheinbar analog:
«Wird doch dem Menschen das Seiende nie als solches zugänglich, son­
dern nur in einem und durch einen bestimmten Weltentwurf» [Binswan­
ger, 1947, p. 202]. Für Binswanger ermöglicht und bestimmt der jeweilige,
je besondere Weltentwurf, wie sich Seiendes offenbart; nämlich je auf diese
oder jene Art und Weise. Bei Heidegger aber steht wörtlich: «... dass
Seiendes als solches sich offenbart». Dieses zweifellos grundlegende Mo­
ment des «dass» fehlt bei Binswanger. Heidegger denkt mit dieser Frage
nach der Möglichkeit des «dass» in eine bisher in der Philosophie noch
ungedachte Dimension hinein - und leitet damit eine Besinnung auf das
Sein als solches ein, die jenseis aller bisherigen metaphysischen Positionen
liegt. Bedenken wir das radikal Neue dieser Fragestellung Heideggers, so
erstaunt es nicht, dass sie Binswanger nicht bemerkt, gar nicht als solche
wahrnimmt. Die Frage nach dem «dass» ist für seine - Binswangers -
Fragestellung irrelevant: Sein Interesse an der Philosophie Heideggers ist
ja das des Forschers, der «Leitfaden» zur Gewinnung wissenschaftlicher
Erkenntnisse sucht. Nur das Verständnis von Welt als (Bedeutungs-)Hori-
zont und damit als das umfassende Wie des Seienden im Ganzen vermag
solche Leitfäden der Forschung zu geben.
Der Unterschied von Binswanger und Boss lässt sich an ihrem gegen­
sätzlichen Weltverständnis festmachen. Boss, als direkter Schüler Heideg­
gers, legt nun allen Akzent auf das Offenheitsmoment der Welt, auf Welt als
Ermöglichungsgrund dafür, dass Seiendes als Seiendes sich zusprechen und
vom Menschen vernommen werden kann. Der Begriff des Weltentwurfs
wird folgerichtig gemieden, an dessen Stelle treten Wendungen wie «Hellig­
keitsbereich», «Offenheitsbereich» oder «gelichteter Bereich» als Syno­
nyma für Welt. Welt als «jeweilige» Welt im Sinne des geschichtlichen
Bedeutungshorizontes spielt allenfalls noch eine Rolle als epochales Seins­
geschick der Technik (qua Weltentwurf der Neuzeit), aber nicht mehr als
Welthorizont des einzelnen. In-der-Welt-sein heisst also für Boss nicht, sich
in einem bestimmten Verständnishorizont aufzuhalten, sondern Welt als
den Helligkeitsbereich «auszustehen» und damit «offenzuhalten». (Dies
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ist, nebenbei bemerkt, ebenfalls eine Verkürzung des Weltbegriffs von «Sein
und Zeit», in welchem beide Momente untrennbar einbehalten sind.)
Es ist evident, dass sich von einem solchen Weltverständnis her keine
methodischen Direktiven mehr gewinnen lassen. Phänomenologie im
Sinne von Boss versteht sich nicht mehr im strengen Sinn als Methode -
alle Methode im cartesianischen Sinne ist «possessiv», vergewaltigt die
Dinge, statt sie als das sehen zu lassen, was sie von ihnen selbst her sind.
Binswangers Leitspruch, man müsse «wissen, auf was man zu achten hat»,
steht also im Gegensatz zur Auffassung von Boss, dass solches Vor-Wissen
gerade verhindert, dass die Phänomene selbst sich zeigen können, so, wie
sie selbst sind. Phänomenologie im Sinne von Boss ist darum methoden­
freie Wesensschau der Dinge. Der Forderung Binswangers, mittels Leitfä­
den sichere Erkenntnis zu gewinnen, steht der Appell Boss’ entgegen, end­
lich wieder sich unvoreingenommen vor die Sachen selbst zu bringen, die
Kunst des Sehens und Hörens wieder einzuüben.
Bei Binswanger beeindruckt die Fähigkeit, das Ganze im Sinne des
jeweiligen Weltentwurfes in den Blick zu nehmen, und gleichwohl das
Detail nicht aus den Augen zu verlieren. Daraus resultiert die Differen­
ziertheit seiner Schizophreniedarstellungen, die - vorab der Fall «Ellen
West» - zu Recht berühmt geworden sind. Die Lektüre dieser Darstellun­
gen ist aber auch anstrengend und streckenweise ermüdend - nämlich
immer dann, wenn die Darlegungen bzw. Interpretationen schematisch
oder gar konstruiert wirken. Binswangers Phänomenologie eignet ein kon-
struierend-schematischer Zug, der sich aus dem methodischen Zwang
ergibt, jedem einzelnen Phänomen seinen spezifischen Ort innerhalb der
Strukturganzheit zuzuordnen.
Die Phänomenologie von Boss ist - als Wesensschau der Dinge -
weniger auf ein «Ganzes» denn auf die anschaulich gegebenen Dinge
gerichtet; diese gilt es in ihrem vollen Wesensgehalt zu sehen und zu
beschreiben. Die Eigenart eines Menschen erschliesst sich aus der Be­
schreibung der Art und Weise, wie er von welchen Dingen angegangen
wird und wie er in seinem konkreten Verhalten darauf antwortet. Dass
eine solche Wesensschau des Dinges vor allem in der Traumauslegung
Früchte getragen hat, brauche ich hier nicht eigens zu betonen. Die sich
aus diesem Phänomenologieverständnis ergebende Kritik an Binswangers
hermeneutischem Zugriff von den konkreten Gegebenheiten auf das
Ganze des Weltentwurfes hat Heidegger selbst laut den Aufzeichnungen
von Boss in den «Zollikoner Seminaren» prägnant formuliert. Sie bezieht
sich auf Binswangers «Absatzphobie» [Binswanger, 1947, pp. 204ff.]:
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«Man muss also genau untersuchen, wie die einzelnen Dinge wie Absatz, Stuhlbein,
Knopf oder Speichel das Mädchen in Anspruch nehmen. Hier von Kontinuitätsbruch
oder von einer Charakterisierung des Weltentwurfes durch die Kategorie der Kontinuität
zu sprechen, wie Binswanger das tut, ist eine Formalisierung des Existierens, die das
Existieren jedes faktischen Gehaltes entleert» [Heidegger, 19S7, p. 257],

Dass die Phänomenologie von Boss nicht nur ontische Wesensschau


der Dinge ist, sondern auch «existenziale» Auslegung der konkreten
menschlichen Verhaltensweisen als «Austrag» der verschiedenen Existen­
ziale und des tragenden Grundcharakters des Offenständigseins, kann hier
beiseite bleiben, weil auch durch diesen Rückgang vom konkreten Verhal­
ten auf die existenzialen Bedingungen ihrer Möglichkeit [Boss, 1971, p.
238] jenes «Ganze», das Binswanger suchte, nicht in den Blick kommt.

b) Der Verlust des Subjekts in der Struktur


Struktur ist bei Binswanger, im Unterschied zu Heidegger, so gefasst,
dass es den selbsthaften Vollzug ausschliesst. Deshalb lässt sich sagen, dass
hier ein struktureller Ansatz an die Stelle eines selbst- bzw. subjektzentrier­
ten Ansatzes tritt. Struktur ist nicht als «Vollzug» gedacht, sondern als
«vorhanden», als «vorgegeben». Anders gewendet: das «In-Sein» in der
Welt ist gar nicht mehr als (existenzialer) Bezug zu Welt verstanden, son­
dern bloss noch als ein Sich-Vorfinden innerhalb eines bestimmten Welt­
horizontes, innerhalb eines strukturellen Gehäuses. Zwar spricht Binswan­
ger an gewissen Stellen vom «Entwerfen» oder «Bilden» von Welt, aber
ohne sich über den Charakter des «Urhebers» solcher entwerfender Akte
Gedanken zu machen.
Obwohl also der Begriff des Weltentwurfes einen subjektzentrierten
Ansatz vermuten lässt, hat in Wahrheit im Rahmen von Binswangers
Anthropologie das «Subjekt» abgedankt - und zwar hinsichtlich beider
dem modernen Subjektbegriff wesentlichen Momente der «Selbstbestim­
mung» und des reflexiven Sichwissens («Selbstbewusstseins»). Beide Mo­
mente finden sich im Begriff des In-der-Welt-seins von «Sein und Zeit»
aufgehoben, das heisst aus der metaphysischen Tradition kritisch aufge­
nommen und neu gedacht.
Achtet man bei der Lektüre von Binswangers Schizophreniedarstel­
lungen auf das Thema des Selbstvollzuges im Sinne der Auseinanderset­
zung mit dem eigenen Sein, so ist es frappierend zu entdecken, welchen
zentralen Stellenwert dieses Thema dennoch hat. Sätze wie: «Liegt doch an
der Wurzel so vieler Fälle von Schizophrenie der verzweifelte Wunsch, ja
das unerschütterliche Diktat an Eigenwelt, Mitwelt und Schicksal, nicht
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man selbst sein zu wollen, wie auch dessen Pendant, verzweifelt man selbst
sein zu wollen» [Binswanger, 1957, p. 121] oder auch: «Neurotisch kann
nur werden, wer seiner Grenzen spottet» [Binswanger, 1955, p..276], die
mit ähnlichem Inhalt immer wieder auftauchen [Binswanger, 1957, pp.
163, 270, 273, 281 usw.], zeugen von einem Problembewusstsein, das in
Widerspruch zum ganzen strukturellen Konzept steht. Die Einsicht wird
aber dem strukturellen Konzept geopfert; statt als «Wurzel» seelischen
Leidens erscheint die Revolte gegen das eigene Schicksal im Rahmen des
Theorieansatzes nur noch als Folge einer zugrundeliegenden normwidri­
gen Struktur.
Auch das Existenzial der Befindlichkeit fällt dem strukturellen Kon­
zept zum Opfer. Das ist nicht erstaunlich, sind es doch in «Sein und Zeit»
die Stimmungen, die das Dasein vor sein eigenes Sein bringen, indem sie
ihm erschliessen, «wie einem ist und wird» [Heidegger, 1957, p. 134]:
«In der Befindlichkeit ist das Dasein immer schon vor es selbst gebracht, es hat sich
immer schon gefunden, nicht als wahrnehmendes Sich-vorfinden, sondern als gestimmtes
Sichbefinden» [Heidegger, 1957, p. 135].

Binswanger betont zwar zu Recht, dass die «Gefühle» psychologische


Phänomene seien, also nichts «Letztgegebenes», sondern einer ontologi­
schen Interpretation bedürftig. Statt die Gefühle aber am Leitfaden des
Existenzials der Gestimmtheit auszulegen, werden auch sie «aus der Ei­
genart des Weltentwurfes» gedeutet [Binswanger, 1957, pp. 262, 267],
So stellt sich die Frage, worin denn noch das spezifisch Menschliche
dieser Strukturganzheit besteht, die nicht mehr als in einen selbsthaften
Vollzug eingebunden gedacht wird. Es ist meines Erachtens die schwerwie­
gende Folge von Binswangers spezifischem Heidegger-Verständnis, dass
der Begriff des In-der-Welt-seins einen quasi-natürlichen Charakter ge­
winnt. Binswanger hat zwar hellsichtig die Gefahren des Naturalismus von
Freuds Anthropologie aufgezeigt [Binswanger, 1947, pp. 159ff.], verfällt
aber selbst einer anderen Art von Naturalismus, und zwar einem Natura­
lismus formaler Art, in welchem das kämpfende und leidende, das in Kon­
flikte verstrickte und Glück suchende Subjekt, welches in der Psychoana­
lyse der naturalistisch-mechanistischen Terminologie zum Trotz im Zen­
trum bleibt, hintergangen wird auf eine «vorhandene» objektivierbare
Struktur.
Werfen wir wiederum zur Verdeutlichung kurz einen Seitenblick auf
die Daseinsanalyse von Boss, so treffen wir im Unterschied zu Binswanger
auf ein betont existenziales Verständnis des «In-seins»: In-der-Welt-sein
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ist verstanden als ein sich vollziehender selbsthafter Bezug zur Welt. Auf
dem Boden der Spätphilosophie Heideggers ist dieser Bezug aber konse­
quent entsubjektiviert gedacht; der Bezug zu Welt hat nämlich nicht den
Charakter des «Entwerfens» und «Erschliessens», sondern des «Ausste­
hens» und «Offenhaltens» der - vorgängig und ereignishaft eröffneten -
Welt. Vor allem der Begriff des «Seinsverständnisses» gewinnt nun einen
anderen - eben einen entsubjektivierten - Sinn. Stand in «Sein und Zeit»
noch das Verstehen des eigenen (menschlichen) Seins im Zentrum, im
Sinne der stimmungsmässigen Erfahrung der menschlichen Grundsituation
der «Unheimlichkeit», so wird bei Boss, der Spätphilosophie folgend, diese
Selbstbezüglichkeit konsequent fallen gelassen: Seinsverständnis meint das
in jedem «Ist»-Sagen implizierte Vernehmen des Seins als solchen - im
Sinne des Ereignisses der Offenbarkeit von Seiendem überhaupt.
Entsprechend hat zwar bei Boss das Existenzial der Gestimmtheit sei­
nen gebührenden Platz - aber um den Preis, dass das reflexive Moment des
«Vor-sich-selbst-gebracht-Seins» wegfällt: «Jedes Gestimmtsein ist aber
als solches und in sich eine je bestimmte Art und Weise des Offenständig­
seins unseres Daseins» [Boss, 1971, p. 291],
Das bedeutet, dass hier dem Ausstehen bzw. Offenhalten von Welt ein
reflexiv-stimmungsmässiges «Sich-Erfahren» als der, der Welt aussteht,
nicht mehr inhärent ist. Der Vollzug kann also nicht mehr als Bewegtheit
solcher Selbsterfahrung phänomenologisch interpretiert werden; er kann
lediglich noch - analog Binswangers Strukturganzheit - als Gegebenheit in
seinem faktischen «Wie» beschrieben/festgehalten werden. Obzwar hier
also die Gefahr des Naturalismus gebannt ist, insofern das Offenständig­
sein als Vollzug gedacht wird, so bleibt doch als Gemeinsamkeit, dass bei
beiden (obzwar aus gegensätzlichen Motiven) das Subjekt (Selbstverhält­
nis) eliminiert bzw. überwunden ist. Dies führt dazu, dass allen Unter­
schieden zum Trotz die Phänomenologie bei Binswanger und Boss sich
reduziert auf eine Deskription sich zeigender «Gegebenheiten».
Dazu gesellt sich nun eine bei weitem offenkundigere Gemeinsamkeit,
nämlich das Vorherrschen der normativen Auslegung psychopathologi-
scher Phänomene.

c) Zur Herkunft des normativen Zugs daseinsanalytischer


Phänomenologie
Auch in Boss’ Daseinsanalyse ist die Phänomenologie normativ aus­
gerichtet: Am vollen Wesensgehalt eines Dinges bemisst sich, was und
wieviel der Mensch in seiner spezifischen Erfahrung dieses Dinges zu ver-
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nehmen fähig ist, bemisst sich der Grad seines offenen und freien Verneh­
menkönnens. Analog wird auch das spezifische Sich-Einräumen und Sich-
Zeitigen eines Menschen verstanden, indem es am normgemässen Vollzug
dieser Existenziale gemessen wird.
Es würde hier zu weit vom Thema wegführen, Boss’ Normverständnis
zu entfalten und zu zeigen, wie sich von dieser Norm her alle pathologi­
schen Phänomene als «Beeinträchtigung» des normgemässen Vollzuges,
als «Reduktion», «Abblendung», «Schrumpfung» usw., generell als «De-
fìzienz» hinsichtlich der Norm grösstmöglicher Offenständigkeit, verste­
hen lassen [Boss, 1971, pp. 440ff.].
Die Tatsache aber, dass auch bei Boss das normative Element eine
zentrale Bedeutung hat, lässt mich vermuten, dass hier nicht nur, wie ich
für Binswanger andeutete, der Neukantianismus und Szilasi zu Gevatter
stehen, sondern auch Heidegger.
Ich möchte nun zum Schluss noch zwei mögliche Quellen dieses nor­
mativen Denkens in der Philosophie Heideggers anführen.
Eine erste Quelle sehe ich im Begriffspaar Eigentlichkeit/Uneigentlich­
keit aus «Sein und Zeit». Der umgangssprachliche Wortsinn legt es nahe,
sie als normative Begriffe zu verwenden, Eigentlichkeit mit Ganzheit,
Uneigentlichkeit mit dem Verfehlen der Ganzheit zu identifizieren. Wer
«Sein und Zeit» kennt, weiss um Heideggers ausdrückliche Abstandnahme
von solchen normativen Konnotationen. Zwar lässt sich durchaus ein
Zusammenhang von Eigentlichkeit mit Ganzheit nachweisen, aber zweier­
lei macht den Unterschied: Zum einen wird Ganzheit in «Sein und Zeit»
existenzial verstanden, als «Sein zum Tode» - somit als eine «durch und
durch von Nichtigkeit durchsetzte» Ganzheit; zum andern ist Eigentlich­
keit eine Weise der Selbsterschlossenheit, nennt also genau jenes reflexive
Moment des In-der-Welt-seins, von dem wir bereits gehört haben, dass es
bei Binswanger und Boss aus unterschiedlichen Motiven unter den Tisch
fällt. Eigentlichkeit ist in «Sein und Zeit» Übernahme der eigenen Nich­
tigkeit in der Angst: Bei Binswanger ist Eigentlichkeit mit Liebe, bei Boss
mit gelassener Heiterkeit identifiziert; damit ist die Bahn frei, Angst und
Schuld unzweideutig als defiziente Erfahrungen zu qualifizieren, sei es als
Symptom einer geschrumpften Strukturganzheit, sei es als eine auf die
Erfahrung von Nichtigkeit eingeschränkt-abgeblendete Weise des Offen­
ständigseins.
Eine andere, ebenso wichtige Quelle ist jene Heideggers Ontologie
bestimmende Denkfigur, die sich als Opposition zu und Überwindung des
die Neuzeit beherrschenden Stufen- und Entwicklungsgedankens versteht.
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Sie stellt sich bei Heidegger etwa so dar: Die Eigenart des menschlichen
Daseins lässt sich nur von ihm selbst her, mit Begriffen, die aus ihm selbst
gewonnen sind, verstehen. Also nicht, wie die Metaphysik von alters her
getan hat, vom «Lebendigen» her. Binswanger zitiert mit Begeisterung für
das Bahnbrechende dieses Denkens den folgenden Satz aus «Sein und
Zeit»: «Das Dasein wiederum ist ontologisch nie so zu bestimmen, dass
man es ansetzt als Leben (ontologisch unbestimmt) und als überdies noch
etwas anderes» [Binswanger, 1956, p. 173; Heidegger, 1957, p. 50], Diese
Aussage gilt grundsätzlich: Man gelangt nicht zum Wesen einer Sache,
wenn man vom Zugrundeliegend-Anfänglichen als «unten» die zuneh­
mende Differenzierung nach oben verfolgt und etwa als «Resultat» eines
solchen Entwicklungs- bzw. Differenzierungsprozesses versteht. Dies ist
also gegen Darwin, Marx und Freud gesagt, aber auch gegen Nicolai Hart­
mann oder Helmut Plessner [1928], Der umgekehrte Weg, gleichsam von
oben nach unten, scheint Heidegger aber möglich: Eine Ontologie des
Lebens ist in einer «privativen Interpretation» aus der Ontologie des
Daseins zu gewinnen: Leben ist «nur-noch-leben». In den Vorlesungen
1929/30 über «Die Grundbegriffe der Metaphysik» wird diese methodi­
sche Kehre durchexerziert: Der Mensch ist «weltbildend», das Tier ist
«weltarm», der Stein ist «weltlos» [Heidegger, 1983, pp. 284ff.]. Gemäss
dieser Denkfigur ist auch das eigentliche Existieren niemals im Ausgang
vom uneigentlich-verfallenden Existieren, sehr wohl aber umgekehrt das
«Verfallen» als Privativform aus der Eigentlichkeit zu verstehen. Ebenso
verhält es sich etwa mit der Angst, die niemals aus der gewöhnlichen
Furcht, der (existenzialen) Schuld, die niemals aus den moralischen
Schuldgefühlen, der existenzialen Wahrheit, die niemals aus der Urteils­
wahrheit zu gewinnen ist, wohl aber umgekehrt: Furcht, moralische
Schuldgefühle und Aussagewahrheit sind nichts anderes als Privativfor­
men oder, wie Heidegger gerne formuliert, «abkünftige» Modi ursprüngli­
cher und eigentlicher Angst bzw. Schuld bzw. Wahrheit.
Ich vermute also, dass es diese Denkfigur Heideggers ist, welche für
die Daseinsanalyse beider Richtungen so bestimmend wurde. Sind bei
Binswanger alle menschlichen Phänomene letztlich nur von der «Liebe»
als dem eigentlichen Modus des Existierens her zu deuten, so bei Boss vom
«normgemässen» Existieren «grösstmöglicher» Offenständigkeit her. Und
weil diese Denkfigur so prägend ist, konnte auch die Frage nicht auf-
kommen, ob das Kranksein allenfalls mehr und anderes sei als nur eine
Privativform des Gesundseins. Die Übernahme dieser antitraditionellen
philosophischen Denkfigur hat meines Erachtens paradoxerweise in ganz
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traditionelle Bahnen der Auslegung psychopathologischer Phänomene ge­


führt.
Mit der Verpflichtung auf diese Denkfigur hängt auch zusammen,
dass das Phänomen der Entwicklung des Kindes/des Menschen gar nicht
als Phänomen wahrgenommen werden kann, es fehlt dazu der ontologische
Leitfaden. Darum ist die Daseinsanalyse bezüglich dieses Themas bislang
auch nicht über in mancher Hinsicht berechtigte kritische Einwände gegen
die psychoanalytische Entwicklungstheorie hinausgekommen.

3. Schlussbemerkung

Die zuletzt aufgezeigten Gemeinsamkeiten der beiden Daseinsanaly­


sen sollen allerdings die bestehenden Differenzen nicht bagatellisieren. Sie
lassen sich im Wesentlichen um die gegensätzliche Wertschätzung von
Methode gruppieren: Ob Methode (im Sinne Descartes) gegen die Verir­
rungen des blossen Meinens zu schützen und gesicherte Erkenntnis beizu­
bringen vermag, oder ob sie den Zugang zu den Phänomenen von vornher­
ein verstellt, indem sie diese zu «Objekten» reduziert: Hier scheiden sich
die Geister. Und daran liegt es auch, dass ein so anderer Geist weht in den
Schriften von Binswanger und Boss. Er manifestiert sich sowohl in der
unterschiedlichen Haltung zu Heideggers Philosophie, wie in der unter­
schiedlichen Bestimmung der Reichweite der Daseinsanalyse.
Obzwar Binswanger schreibt, «Sein und Zeit» habe auf ihn einen
«überwältigenden Eindruck» gemacht, kommt nirgends der Eindruck auf,
er sei zum «Heideggerianer» geworden - nicht einmal als Forscher, als der
er sich das Recht vorbehält, auf zumeist unpolemische Weise Kritik und
Ergänzung anzubringen, wo es ihm für sein wissenschaftliches Anliegen
notwendig scheint.
Will man analog vom überwältigenden Eindruck reden, den Heideg­
gers Philosophie auf Boss gemacht hat, so ist hier eine Forscher und Person
umfassende, die ganze Lebenshaltung prägende Identifikation mit Heideg­
gers Philosophie angesprochen. Die wesentlichen Gehalte Heideggerschen
Denkens sind nach Boss’ - und wohl auch nach Heideggers - Auffassung in
kritischer Distanz gar nicht zugänglich, sondern nur in einem «Sprung des
gesamten Denkens, Fühlens und Empfindens» [Boss, 1971, p. 391]. Es
versteht sich von selbst, dass ein so radikales Umdenken, wie es von Boss
für die Daseinsanalyse beansprucht wird, sich nicht auf Medizin und Psy­
chologie beschränkt, sondern sich als daseinsanalytischer Zugang universal
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auf allen Gebieten einbringen kann. Demgegenüber zeigt sich Binswangers


wissenschaftliches Ethos in der klaren Begrenzung der Reichweite der
Daseinsanalyse: Sie ist «nur» eine Forschungsrichtung in der Psychia­
trie.

Literatur

Binswanger, L.: Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie (Springer, Ber­
lin 1922).
Binswanger, L.: Verstehen und Erklären in der Psychologie. Z. ges. Neurol. Psychiat. 107:
656-683 (1927).
Binswanger, L.: Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (Niehans, Zürich
1942).
Binswanger, L.: Ausgewählte Vorträge und Aufsätze. I (Francke, Bern 1947).
Binswanger, L.: Ausgewählte Vorträge und Aufsätze. II (Francke, Bern 1955).
Binswanger, L.: Drei Formen missglückten Daseins (Niemeyer, Tübingen 1956).
Binswanger, L.: Schizophrenie (Neske, Pfullingen 1957).
Boss, M.: Psychoanalyse und Daseinsanalytik (Huber, Bern 1957).
Boss, M.: Sinn und Gehalt der sexuellen Perversionen. 3. Aufl. (Huber, Bern 1966).
Boss, M.: Grundriss der Medizin (Huber, Bern 1971).
Heidegger, M.: Vom Wesen des Grundes. 4. Aufl. (Klostermann, Frankfurt 1955).
Heidegger, M.: Sein und Zeit. 5. Aufl. (Niemeyer, Tübingen 1957).
Heidegger, M.: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Gesamtausgabe, voi. 29/30 (Kloster­
mann, Frankfurt 1983).
Heidegger, M.: Zollikoner Seminare (Klostermann, Frankfurt 1987).
Husserl, E.: Philosophie als strenge Wissenschaft (Klostermann, Frankfurt 1965).
Plessner, H.: Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928, 3. Aufl., de Gruyter,
Berlin 1975).
Szilasi, W.: Macht und Ohnmacht des Geistes (Francke, Bern 1946).

Dr. Alice Holzhey-Kunz, Zollikerstrasse 195, CH-8008 Zürich (Schweiz)


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