NR.

04  Juli / August 2023

BRINGT SIE AUF GUTE GEDANKEN

Innere
Saboteure
Wie man sie aufspürt
und ihnen das
Handwerk legt

KANN MAN
Österreich 9,50 € — Benelux 10,00 €
Schweiz 13,50 CHF — Italien 10,90 €
STIL LERNEN? 8,50 EURO

Vom schönen Umgang mit

Menschen und Dingen
23004
4196700208504

+ JIL SANDER IM ZEIT WISSEN - G ESPRÄCH

 EDITORIAL
3 FACHWISSEN SEIT 1974

STILSICHER IN DEN ABEND

Der Mann hatte einen mutigen Tag. Warum nicht mal
eine andere Seite von sich zeigen? Eine abenteuerlustige,
eine exzentrische? Er beschloss also, an diesem Abend
diesen bestimmten Anzug zu tragen, der so ganz
anders war als seine sonstige Garderobe. Er hatte den Jetzt kommt
Anzug nie anprobiert, weil er ihn nicht in einem Beklei-
dungsgeschäft gekauft hatte, sondern in einem Museumsshop. Und auch, die Sonne
weil der Anzug nicht aus Stoff geschneidert war, sondern aus Papier. Es
handelte sich um ein hellbeiges Kunstprojekt eines berühmten Künstlers.
Journalisten werden manchmal zu Veranstaltungen eingeladen, bei denen Unser Themenheft
es einen Dresscode gibt, der »Black Tie« heißt. Dann kommen die Journalisten über Liebe, Streit und
brav im Smoking und bewundern die Leute aus der Film-, Musik- oder Ewigkeit
Kunstszene, die sich um so was nicht scheren. Gab es eine bessere Gele-
genheit für den Anzug als so einen Abend? Was soll ich sagen? Der Mann,
der ich war, der Mann, der so aussah, als wäre er in Packpapier eingewickelt,
und sich auch bei jeder Bewegung so anhörte, der Mann, der ständig Angst
Neues
hatte, die Hose könnte reißen oder das Jackett könnte sich in Weißwein- Design
spritzern auflösen, der deshalb ins Schwitzen geriet und noch mehr Angst neue
Titelfoto: Peter Lindbergh (courtesy Peter Lindbergh Foundation, Paris)  Fotos: Volker Wenzlawski; Anne Morgenstern; privat

bekam – dieser Mann war nie in seinem Leben weiter entfernt von der Ideen
PSYCHOLOGIE

PSYCHOLOGIE HEUTE compact

selbstbewussten und selbstverständlichen Eleganz, die sich Stil nennt.
Liebe Leserin, lieber Leser, das Titelthema unseres Heftes ist eine Frage: HEUTE Nr. 73
Kann man Stil lernen? Die Antwort ist: Ja. Aber lernen heißt eben immer compact
Das Beste aus
unseren Monatsheften
zu einem Thema

auch: üben. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen mit dem neuen ZEIT WISSEN. Inklusive:
Was bringt eine
Paartherapie?

Andreas Lebert, Chefredakteur

AUS DER REDAKTION

2023 HEFT 73 € 9,50 SFR 13,50 43254

Beziehungsfähig
Sich aufeinander einlassen,
Probleme gemeinsam meistern,
die Liebe bewahren

Kim de l’Horizon kratzt mit dem Debütroman

»Blutbuch« stilistisch und inhaltlich an Selbstverständ-
lichkeiten, die wir oft unbemerkt weitertragen:
Geschlecht, Traumata, Klassenzugehörigkeit. Das Buch
gewann den Deutschen Buchpreis. Für ZEIT WISSEN
schreibt de l’Horizon über die Tücken von Stil (S. 32).

Themenhefte
ZEIT WISSEN-Bildredakteur Sebi Berens zögerte entdecken
nicht lange, als es darum ging, unsere Geschichte und portofrei
übers Räuchern zu fotografieren (S. 72). Sebi ist ein bestellen
Genussmensch, der auch leidenschaftlich gern foto-
grafiert. Aber die geräucherten Doraden ließen ihn
fast vergessen, warum er zur Kollegin gereist war.

www.psychologie-heute.de
 INHALT
4

48 78

Aus Hass wurde Liebe. Wie war das möglich?

Die Historikerin Hélène Miard-Delacroix über
das deutsch-französische Verhältnis

Blühender Romantiker:
Ein Gespräch mit dem Holunderstrauch

Fotos: Roderick Aichinger; Getty Images; Christina Koutsospyrou/Debut Art

6 AM ANFANG DREI FRAGEN
1. Ist die Erde vielleicht doch eine Scheibe?
2. Gibt es Religionen mit Humor?
3. Wann sind wir Tieren sympathisch?
12 OPTIMIST
Einheitliche Ladebuchsen sorgen
endlich für weniger Kabelsalat
14 GEORDNETE VERHÄLTNISSE
Eine Infografik über die aussterbende
Welt der Babyboomer
44 GRÜNER WIRD’S NICHT
Können wir Ampeln besser machen?
Ja. Eine Vier-Städte-Tour
48 BEZIEHUNGSSTATUS: KOMPLIZIERT
Was kann die Welt aus der deutsch-
französischen Geschichte lernen?
54 EIN DRITTES MAL HOFFNUNG
Der Mensch sucht seit vielen Hundert
Jahren nach Energiequellen. Hat er
jetzt endlich die beste gefunden?

16 JUNGES WISSEN, ALTES WISSEN 60 DIE INNEREN SABOTEURE

Kiterin Alina Kornelli (23) und Segler Psychische Widerstände überwinden –
Wolfgang Clemens (81) über den Wind mit Militärhistorikern. Serie, Teil 2
 5

KANN MAN STIL LERNEN?

Klar, man muss es sogar. Die wichtigsten Tipps
+ ZEIT WISSEN-Gespräch mit Jil Sander

Auf Instagram:
Kann man Stil lernen?
Das haben wir auch
Prominente gefragt.
Lesen Sie die
Antworten und
diskutieren Sie mit
unter @zeitwissen und
#StilLernen
20

68 F#%CK EVERYBODY 84 DIE ZUMUTUNG

Punkvisionäre: Über den wichtigsten
Tag in der Geschichte der Sex Pistols
72 GLUT UND RAUCH
Eine archaische Kochtechnik, die
glücklich macht: das Räuchern
78 SÜSS DUFTENDER WIND
Von wegen Nutzstrauch: Ein Holunder
erzählt von seinen Mysterien
Farben machen die Welt bunt. Sie
sind Erfahrungswissen. Und vielleicht
der Schlüssel zum Bewusstsein?
90 ZUM DAHINSCHMELZEN
Eis am Stiel: Kleine Kulturgeschichte
vom Kindheitsgenuss
100 ALLES ÜBERS REISEN
Tipps für Bücher, Filme und Digitales

82 AUGEN AUF IM GARTENCENTER 104 IMPRESSUM/BESTE FRAGE

Sie haben keinen grünen Daumen?
Hieran erkennen Sie beim Kauf 106 VON DER GIRAFFE LERNEN
die Qualität von Topfpflanzen So kommt man auf neue Ideen
6 AM ANFANG DREI FRAGEN
1. Ist die Erde vielleicht
doch eine Scheibe?
Wenn der Raum laut Einstein gekrümmt ist und
das Universum aus zehn Dimensionen besteht,
darf man schon mal ins Grübeln kommen
Text Max Rauner  Foto Albert Dros
F
rüher fürchteten Seeleute, sie könnten am
Rand der Erde ins Leere stürzen. Am 22. Fe-
bruar 2020 forderte die Scheibenwelt tat-
sächlich ein Todesopfer. An diesem Tag ver-
sammelten sich ein paar Schaulustige in der
Mojave-Wüste in den USA, um den Start einer Rakete
zu verfolgen. Mike Hughes hatte sie gebaut, ein 64-jäh-
riger Stuntman und Anhänger der Flat Earth Theory,
der zufolge die Erde in Wirklichkeit eine Scheibe ist.
Nun wollte er sich von oben selbst ein Bild machen.
Über eine Leiter kletterte er in den Hohlraum am Kopf
seiner Rakete. Klappe zu, Take-off! Die Rakete hob ab,
geriet aber ins Trudeln. Nach etwa zwanzig Sekunden
bohrte sie sich kopfüber in den Sand, so zeigt es das Vi-
deo eines Lokalreporters. Mike Hughes war sofort tot.
Wenig überraschend, sind die Flacherdler derzeit
nicht mehrheitsfähig, auch wenn die Bewegung An-
schluss sucht an Antisemitismus, QAnon, Trumpismus
und Corona-Leugner. Es mangelt schlicht an Evidenz.
Die derzeit am fleißigsten erforschte Kandidatin
für eine Theorie vom Universum ist die Stringtheorie.
Ihr zufolge bilden winzige, schwingende Saiten, strings,
die Grundbausteine der Welt. Diese Welt besteht nicht
nur aus den bekannten drei plus eins Dimensionen (drei
für den Raum, eine für die Zeit), sondern aus neun plus
eins. Was bedeutet das für die Form der Erde?
Dieter Lüst ist Stringtheoretiker an der Ludwig-
Maximilians-Universität München. In seinem Buch
Quantenfische schreibt er, man könne sich Universen wie
»Hyperflächen« in der zehndimensionalen Raum-Zeit
vorstellen: »In diesem Fall haben wir es mit einem aus
verschiedenen Stockwerken bestehenden Universum zu
tun, dessen solchermaßen verschiedene Komponenten
man als Parallelwelten ansehen kann.« In einem dieser
Stockwerke wohnen wir. Ist die Erde da flach gequetscht?
Nein. »Das macht mathematisch keinen Sinn«, sagt
Lüst. An unserer vierdimensionalen Welt ändere auch
die zehndimensionale Raum-Zeit nichts. Und wenn
Kosmologen davon reden, dass unser Universum »flach«
sei, dann meinen sie nicht, dass es eine zweidimensio-
nale Ebene ist. Sondern nur, dass es nicht gekrümmt ist
und eine ganz normale dreidimensionale Grundschul-
geometrie hat. Kugel bleibt Kugel.
Andererseits: Manche Spielarten der Stringtheorie
erlauben ein Multiversum, also eine schier unendliche
Anzahl von Universen mit Doppelgänger-Erden und
sehr diversen Naturgesetzen, zuletzt popularisiert durch
den Oscar-Gewinner Everything Everywhere All at Once.
Gibt es da irgendwo vielleicht eine Scheiben-Erde? »Das
würde ich ausschließen«, sagt die Planetenforscherin
Doris Breuer vom Deutschen Zentrum für Luft- und
Raumfahrt. Die hohen Drücke und Gravitationskräfte,
die auf einen Planeten von der Größe unserer Erde
wirken, bringen, egal wo, zwangsläufig eine Kugelform
hervor. Sie kostet die Natur am wenigsten Energie.
Und was würde Astro-Weltstar Stephen Hawking
zu einer flachen Erde sagen? Das weiß Thomas Hertog,
Kosmologe an der Katholischen Universität Leuven. Er
hat gerade Der Ursprung der Zeit geschrieben, ein Buch
über die naturwissenschaftliche Schöpfungsgeschichte,
die er, vor dessen Tod, mit Hawking ausgebrütet hat.
Hertog sagt: »Das holografische Universum kommt
dem vielleicht am nächsten.« Unsere 3-D-Welt wäre
demnach das Hologramm einer weit entfernten zwei-
dimensionalen Fläche, in der alle Informationen über
unser Universum quantenmechanisch codiert sind. Die
Erde ist eine Kugel, aber die tiefere Wahrheit eine Fläche.
Das ist sehr abstrakt und noch work in progress, aber
mehr ist gerade nicht drin. Nur schon mal ein Quantum
Trost: Von dieser Welt kann niemand runterfallen. 
7
8
 AM ANFANG DREI FRAGEN
2. Gibt es Religionen
mit Humor?
In Kirchen und Tempeln wird selten
laut gelacht. Dabei erfüllen Witz
und Ironie einen wichtigen Zweck
Text Tobias Hürter  Foto Kari Medig
S
tellen Sie sich vor, es ist Gottesdienst, der
Priester erzählt einen Witz, und die Kirche
schallt vor Lachen. Es wäre zumindest au­
ßergewöhnlich. In der Kirche wird nicht
gelacht, und schon gar nicht stiftet ein Priester während
des Gottesdienstes dazu an. Aber genau diese Szene war
jahrhundertelang gang und gäbe. Bis ins späte Mittel­
alter gab es, vor allem im Süden des deutschen Sprach­
raums, die Tradition des »Osterlachens« (lateinisch:
risus paschalis). Ausgerechnet im höchsten Gottesdienst
des Kirchenjahrs, an Ostern, wurde rituell gelacht, zum
Zeichen der Freude darüber, dass Jesus Christus den
Tod überwunden hat. Für einen Augenblick hatte der
Priester am Altar Narrenfreiheit. Sex, Lügen – fast jedes
Thema, jede Derbheit war erlaubt.
Das ist eine Ausnahme. Humor spielt keine Haupt­
rolle im Christentum. Die katholische Kirche hat Hun­
derte Schutzpatrone für alles Erdenkliche, für gutes
Wetter (Victoria von Córdoba), für Verliebte und
Wahnsinnige (Valentin von Terni), für Flugbegleiter
(Bona von Pisa) und Piloten (Josef von Copertino).
Aber keinen für Humor. Frömmigkeit und Lachen
stehen traditionell gegeneinander. Ja, es gab vereinzelte
Befürworter des Lachens, zum Beispiel Franz von Assisi
und Martin Luther, doch es blieb stets ein Trotzdem-
Lachen im Angesicht von Kreuz, Leid und Tod.
Im Zen-Buddhismus gibt es dagegen Humor, etwa
in den Koans: Das sind unsinnige, manchmal witzige
Kurzgeschichten mit dem ernsthaften Zweck, den Weg
zur Erleuchtung durch nichtverstandesmäßiges Denken
zu weisen. Auch der Sufismus, ein mystischer Zweig des
Islams, kennt humorvolle Geschichten, um den Wert
des Lachens zur Einsicht in tiefere spirituelle Wahrheit
zu demonstrieren. In der türkisch-islamischen Tradition
gibt es die Figur des Mullahs Nasreddin, eines weisen
9
Narren, dessen Geschichten geistliche Lehren in Humor
verpacken – vergleichbar mit den Schwänken des Till
Eulenspiegel. Und da ist die große, jahrhundertealte
Tradition des jüdischen Humors, in dessen Witzen es
oft um besondere Herausforderungen des jüdischen
Lebens geht, mit feiner Selbstironie und Sinn für die
Absurditäten des Alltags.
Eher neue Trends sind das in Lachclubs, Fitness­
studios und Seniorenzentren praktizierte Lachyoga, das
mit anlasslosem Lachen das Wohlbefinden verbessern
soll, und das Fliegende Spaghettimonster, eine Re­li­
gions­pa­ro­die, erfunden von einem jungen amerikani­
schen Physiker, um den christlichen Fundamentalismus
in den USA lächerlich zu machen. Doch diese Trends
sind eher Lifestyle als Religion.
Wer die Humorsichtungen in Religionen ver­
gleicht, kann eine Gemeinsamkeit erkennen: Das
Lachen verschafft eine Atempause von allzu viel Ernst
und Ehrfurcht. Auch der frömmste Christ kann schwer­
lich jede Stunde seines Lebens in Passionsstimmung
verbringen. Einer orthodoxen Jüdin kann es guttun,
über die strengen Regeln, die ihr Glaube ihr aufbürdet,
auch mal zu lachen. Es ist ein bisschen wie in einem gut
gebauten Thriller: Wenn die Spannung unerträglich zu
werden droht, kommt ein befreiender Moment des
comic relief. Wenn es aber um den Kern des Glaubens
geht, dann tritt der Humor meist wieder in den Hinter­
grund. Lachen und Ehrfurcht vor dem Göttlichen,
beides gern, aber nicht beides gleichzeitig. Wer ernst sein
möchte, muss auch lachen können – und umgekehrt.
Manche Geistliche beleben die Tradition des Os­
terlachens heute wieder. Der Passauer Bischof Stefan
Oster zum Beispiel erzählt seit Jahren zum Abschluss
der Osternacht einen Witz. Einmal im Jahr wird laut
gelacht im Passauer Dom. 
10 AM ANFANG DREI FRAGEN
3. Wann sind wir Tieren
sympathisch?
Menschen können tiefe Bindungen zu Tieren
aufbauen. Doch wie ist es eigentlich umgekehrt?
Eine Annäherung
Text Paula Schweers  Foto Simen Johan
S
eit je hat die Menschheit den Wunsch, mehr
über die Gefühlswelt von Tieren herauszu-
finden. Der amerikanische Philosoph Tho-
mas Nagel beschrieb 1974 in seinem Essay
Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, dass die Erlebnisse
von Fledermäusen so anders sind als die von uns Men-
schen, dass wir sie nur begrenzt nachvollziehen können.
Verständlich, schließlich kann sich niemand von uns in
tiefster Finsternis per Echoortung zurechtfinden oder
den Tag an den Füßen hängend verbringen. Zu ver-
stehen, was Tiere für uns empfinden, klingt da erst
recht illusorisch – oder?
2015 zeigten japanische Wissenschaftler im Fach-
magazin Science, wie der Blickkontakt zwischen Hunden
und ihren Besitzern die Bindung zwischen beiden stärkt.
Schaut der Mensch seinem Hund in die Augen, steigt
in seinem Körper der Gehalt des »Kuschelhormons«
Oxytocin. Auch beim Hund wird das Hormon durch
intensiven Augenkontakt und die daraus folgende Zu-
wendung ausgeschüttet. Der chemische Botenstoff ver-
mittelt das Gefühl von Vertrauen und Zugehörigkeit.
Den gleichen Anstieg des Oxytocinspiegels kann man
beobachten, wenn sich Mütter und ihre Babys in die
Augen schauen. Vermutlich hat sich diese Interaktion
über die Artgrenzen hinweg entwickelt, um fürsorgliches
Verhalten bei den Menschen auszulösen: Sympathie
zwischen Mensch und Tier bringt den Hunden somit
auch einen Überlebensvorteil.
Eine 2019 im Fachjournal Current Biology veröffent-
lichte Studie stellte zudem fest, dass Hauskatzen sich auf
ähnliche Weise an ihre menschlichen Bezugspersonen
binden, wie Kinder an ihre Eltern. An dem Experiment
nahmen 79 junge Katzen und ihre Halter teil. Die Katze
und ihr Besitzer verbrachten zunächst zwei Minuten in
einem fremden Raum. Dann verließ der Mensch zwei
Minuten lang das Zimmer, um anschließend zurück-
zukehren. Zeigte sich die Katze während der Abwesenheit
gestresst, miaute viel und ließ sich nach der Rückkehr
freudig vom Menschen beruhigen, sprach das für eine
sichere Bindung zwischen beiden. Für die Mehrheit der
Katzen sei ihr Besitzer eine Quelle von Trost und Sicher-
heit, schreiben die Wissenschaftlerinnen. Ihr Praxistipp
für den Beziehungsaufbau: Die meisten Katzen bevor-
zugten das Spielen und Kuscheln mit den vertrauten
Menschen gegenüber Leckerlis.
Schön und gut. Bei seit vielen Tausend Jahren an
Menschen gewöhnten Säugetieren kann man sich das
vorstellen. Aber wie sieht es bei den uns viel fremderen
Reptilien aus? Ein Anruf bei dem Tierpfleger und Be-
reichsleiter Terraristik Florian Ploetz, der sich im Ham-
burger Tierpark Hagenbeck um die tropischen Terrarien
und um sechs Krokodile kümmert: Natürlich könne
man die Kommunikation mit einem Krokodil nicht mit
der mit Säugetieren gleichsetzen, sagt Florian Ploetz.
Aber eine Art von Beziehung lasse sich trotzdem auf-
bauen. In einem Verhaltenstraining mit akustischer Be-
stätigung und Fisch als Belohnung lernen die Krokodile
in Hagenbeck, auf acht verschiedene Kommandos zu
hören. Das ist wichtig, damit sie sich beispielsweise für
medizinische Behandlungen an den Zähnen und am
Rücken berühren lassen. Die Krokodile unterschieden
mittlerweile zwischen den Pflegern: Bekannte Stimmen
locken sie aus ihrem Becken, während unbekannte sie
kaltließen. »Das Wichtigste ist es, die Tiere neugierig
darauf zu machen, mit uns in Kontakt zu treten«, sagt
Ploetz. Damit das klappt, muss das Umfeld stimmen:
angenehme Lichtverhältnisse, Temperatur, Pflanzen im
Gehege. Die Hauptsache seien aber Freiwilligkeit, kein
Stress und die langsame Gewöhnung aneinander. Gar
nicht so anders als bei uns Menschen.   
11
12

OPTIMIST
Bis 2009 gab es
allein für Handys
30 verschiedene
Stecker. Die
Industrie verdient
gut an mangelnder
Kompatibilität

Der Kabelknoten löst sich

Endlich kommen einheitliche Ladebuchsen für tragbare
Elektrogeräte. Was ändert sich dadurch?
Text Paula Schweers

E
s fühlt sich an wie ein Naturge-
setz, dass das passende Ladegerät
fürs Smartphone immer genau
dann verschollen ist, wenn man
es am dringendsten braucht: einen wichti-
gen Anruf erwartet, noch schnell die Zug-
verbindung checken muss oder mitten in
der Nacht in einer fremden Stadt nach dem
Weg sucht. Verknotete Kabel im Rucksack,
etwa für Digitalkamera und E-Reader,
nerven zusätzlich. Wie viel leichter würde es
doch den Alltag machen, wenn man mit nur
einem einzigen Einheitskabel alle Geräte
aufladen könnte! Jeder weiß das. Die Her-
steller kümmerte es wenig.
Die Vereinheitlichung wird bald Rea-
lität. Das EU-Parlament und die Mitglied-
staaten zwingen die Industrie, das Kabel-
chaos zu reduzieren. Ab Ende 2024 schreibt
die EU einen Standard vor: Neue Mobiltele-
und viele andere tragbare Geräte müssen
fürs Aufladen einen USB-C-Anschluss
haben. Ab 2026 soll diese Norm auch für
Laptops gelten. Wer ein neues Gerät kauft,
wird zudem durch spezielle Etiketten darüber
aufgeklärt, ob es mit vorhandenen Lade-
kabeln kompatibel ist.
Der Weg zu dieser Lösung, auf die
auch Umweltschützer drängten, war lang:
Die EU-Kommission hatte einen ersten
Vorschlag bereits vor mehr als zehn Jahren
eingebracht. 14 Hersteller einigten sich da-
mals auf Druck der Brüsseler Behörde in
einer Selbstverpflichtung zumindest auf
eine stärkere Vereinheitlichung von Handy-
Netzteilen. Vor allem Apple stemmte sich
gegen die Anpassung und bezeichnete sie als
innovationshemmend. Kritiker sahen die
Weigerung des Konzerns hingegen darin
begründet, weiter an dem Verkauf eigener
verdienen zu wollen. Von einst mehreren
Dutzend Anschlusstypen blieben drei übrig:
USB-C, Apples Lightning-Anschluss sowie
Micro-USB. 14 Jahre später wird aus dem
Kabelsalat eine Monokultur. Für Verbrau-
cher und Umwelt hat die neue gesetzliche
Regelung Vorteile: Ein Gutachten im Auf-
trag der EU-Kommission zeigt, dass derzeit
bis zu 11.000 Tonnen Elektroschrott pro
Jahr durch entsorgte und nicht genutzte
Ladekabel entstehen. Davon sollen künftig
1000 Tonnen jährlich entfallen.
Die erwartete Kostenersparnis beziffert
das Gutachten auf rund 250 Millionen Euro
pro Jahr. Als Nächstes will die Kommission
bis Ende 2024 einen Standard für kabelloses
Laden erarbeiten. Apple kritisierte derweil
auch die neuen Regulierungen als Innovati-
onsbremse. EU-Kommissar Thierry Breton
schoss zurück: Einzellösungen hätten auf
Foto: pryzmat/Shutterstock

fone, Digitalkameras, Kopfhörer, Tastaturen Ladegeräte und Lizenzen an Dritthersteller dem Markt künftig keinen Platz mehr. 

Weiterlesen: Das Institut der deutschen Wirtschaft bewertet in einer Studie das Recyclingpotenzial von
»Schubladenhandys«, also den 200 Millionen ungenutzten Smartphones in Deutschland: bit.ly/425vMOZ
DIE PFLEGE
UNTER-
STÜTZEN.
Du wirst gebraucht –
wir wissen, wo.
Ein kleiner Spaziergang, vorlesen oder
in der Verwaltung zur Hand gehen –
jede Hilfe ist wertvoll. Wir bringen deine
Stärken für die Unterstützung der
Pflege mit dem passenden Einsatz-
bereich vor Ort zusammen – schnell und
unbürokratisch.
www.pflegenetzwerk-deutschland.de

Passende
Anfrage
finden und
helfen!

Eine Initiative von

Helfende Hände
14
GEORDNETE  VERHÄLTNISSE

Boomer
Sie bestimmten lange die Geschicke
des Landes, nun übernehmen Jüngere das
Ruder – und die haben andere Vorstellungen.
Willkommen in der Welt der Babyboomer

Steigende Preise / Inflation / Lebenskosten
Deutschland72 %

Großbritannien82 %

Infografik Mirko Merkel Quellen Ipsos, Prognos, R+V, Randstad, Statista Global Consumer Survey, Statistisches Bundesamt, TikTok
China23 %

Gesundheit und soziale Sicherheit

Deutschland49 %

Griechenland73 %

Israel54 %

Armut
Deutschland48 %

Brasilien73 %

Schweiz26 %

Klimawandel
Deutschland48 %

Kanada49 %

Schweden37 %

Wohnungen
Deutschland35 %

USA  55 %

Japan28 %

Internationale Umfrage unter Boomern: »Welches sind die Zukunftsthemen Ihres Landes?«
(Angaben für Deutschland im Vergleich mit ausgewählten Nationen)
 15

16,53 Eher Eher Babyboomer

15,88 angespannt harmonisch 27 % Wein
24 % Bier
11 % Biermischgetränk
9 % Cocktails/Longdrinks
12,53 56 % 44 %
Generation X
11,57 24 % Bier
15 % Wein
15 % Biermischgetränk
9,35 9,22
14 % Cocktails/Longdrinks
8,15 Wird sich Wird sich
Nachkriegsgeneration (1946–1955)

Generation Y
verschlechtern verbessern
22 % Bier
Generation Alpha (seit 2010)

21 % Cocktails/Longdrinks
Generation Z (1996–2009)

Generation X (1966–1980)

Babyboomer (1956–1965)
Generation Y (1981–1995)

16 %
15 % Wein
15 % Biermischgetränk
Generation bis 1945

37 %

Generation Z
47 % 32 % Cocktails/Longdrinks
18 % Bier
13 % Spirituosen pur
Wird gleich
bleiben 7 % Wein

Anzahl der Einwohner in Dtl. nach Mehr als die Hälfte der Boomer Beliebteste alkoholische Getränke
Generationen (in Mio.). 1964 war mit empfindet das Verhältnis der der Deutschen nach Generationen.
rund 1,3 Mio. Babys das Jahr mit den Generationen als angespannt Die Lieblingsdrinks insgesamt: Bier
meisten Geburten (2021: 795.492) und erwartet keine Besserung (22 Prozent) u. Cocktails (19 Prozent)

4,1 Mrd. Babyboomer

Generation Z
Materieller
Wohlstand
Mal haben jüngere Tik­­­­­Tok-Nutzer 100 %
mit dem Hashtag #okboomer auf
80 %
die Äußerungen Älterer reagiert
60 %

Karriere 40 % Gebraucht

zu machen zu werden
20 %

44 %

… der Babyboomer sagen zur Mich selbst Viel freie Zeit

Frage der Gleichberechtigung zu verwirklichen zu haben
der Geschlechter: »Die Gleich­
stellung von Männern und Frauen Umfrage unter Angehörigen der Generation Z (14–27 Jahre alt) und der Baby-
wird zu meiner Lebzeit erreicht« boomer (58–67 Jahre): »Was ist Ihnen bei der Gestaltung Ihres Lebens wichtig?«
16
JUNGES WISSEN
ÜBER DEN
WIND
Unsere Expertin:
Alina Kornelli, 23,
ist erfolgreiche
Profi-Kitesurferin
und liebt den Sport
seit der Kindheit.
Mit ihrem Wing Foil
(Foto) kann sie
schon bei einer
leichten Brise von
acht Knoten auf
dem See trainieren.
W
enn ich aufstehe, checke
ich als Erstes die Windvor-
hersage-App. Ich warte auf
konstanten Wind, der ideal
fürs Kiten ist: Steht man am Strand und
blickt auf das Meer, sollte einem der Wind
am besten aus einem Winkel von 45 Grad
entgegenblasen. Das macht das Starten und
Landen leicht, und man wird nicht zu weit
aufs Meer hinausgetrieben. Im Training
brauchen wir aber auch Herausforderungen:
große Wellen oder böigen, ablandigen
Wind, der also vom Land aus Richtung
Wasser weht. Deshalb haben wir vor Wett-
kämpfen eine Meterologin dabei.
Eigentlich dreht sich mein ganzes
Leben um den Wind. Schon als Kind habe
ich mit meinem Vater Urlaube an Kitespots
verbracht. Wenn im Herbst in Europa die
Saison zu Ende geht, trifft sich die Szene in
Brasilien. Dort ist es warm und der Wind
besonders konstant. Vor allem nahe der
nördlich gelegenen Stadt Fortaleza wehen
starke und beständige Passatwinde.
Ich selbst komme aus einem bayerischen
Dorf, bin also nicht wie viele Profis am
Meer aufgewachsen. Wenn wir nicht auf
Reisen waren, konnte ich also nur über die
Bergseen gleiten. Dieses improvisierte Trai-
ning hat mich vielseitig gemacht. Schließ-
lich konnte ich bei den Bedingungen nicht
wählerisch sein: Bei einer schwachen Brise
von um die zehn Knoten muss man den Kite
gefühlvoll führen, um Geschwindigkeit zu
erreichen. Bei stürmischem Wind kraftvoll
dagegenhalten. Dann kann man sogar bei
einer Stärke von bis zu 38 Knoten noch auf
dem Wasser bleiben, obwohl sich schon
Wellenberge auftürmen. Wir nennen das
den »Überlebensmodus«.
Aufgezeichnet von
Paula Schweers
Foto
Santiago Vidal
Gefährlich wird es, wenn die Windge-
schwindigkeit schwankt und kurze, kräftige
Böen entstehen. Einmal war ich mit einem
Freund nahe der Fehmarnsundbrücke auf
der Ostsee, als der Wind plötzlich nachließ
und unsere Kites abstürzten. Die Strömung
war so stark, dass ich mein Board verlor.
Zum Glück hat uns ein Fischer rechtzeitig
entdeckt. Seitdem ist mir noch klarer ge-
worden, dass der Wind bis zu einem ge-
wissen Grad immer unberechenbar bleibt.
Das gibt mir Rückenwind: Meine Sport-
art verändert sich ständig, das reizt mich.
Aktuell trainiere ich die olympische Disziplin
Formula Kite, bei der Rennen auf dem
Wasser gefahren werden.
So gehe ich mit Angst um: Auf dem Wasser
habe ich immer Respekt. Ich achte darauf,
nie weiter rauszufahren, als ich auch zu-
rückschwimmen kann. 
ANZEIGE

Gesundheit
Gesundheit wirkt sich maßgeblich auf unser Wohlbefinden
aus. Fühlen wir uns wohl, können wir aktiv am Leben ganzheitlich
denken
teilnehmen und positiv in unsere Zukunft blicken.
Durch Ernährung, Selbstachtsamkeit und Bewegung
tragen wir dazu bei, auch im Alter noch gesund zu sein.

Gesundheit, davon ist dm fest
überzeugt, ist mehr als nur die
Abwesenheit von Krankheit. Mit
diesem Ansatz hat der israelische
Soziologe Aaron Antonovsky
bereits in den 1970ern ein Modell
entwickelt, das sich Salutogenese
nennt. Das Wort setzt sich aus dem
lateinischen Wort für Gesundheit
(salus) und dem griechischen für
Entstehung (genese) zusammen.
Antonovsky wollte damit den
Menschen nicht nur als körperliche
Funktionseinheit betrachten,
sondern ganzheitlich schauen,
wie Gesundheit entsteht.
Zur Gesunderhaltung gehört auch
die Gesundheitsvorsorge. Damit
müssen wir uns nicht nur ganz
individuell, sondern auch gesamt-
gesellschaftlich beschäftigen. Alle
Menschen brauchen einen niedrig-
schwelligen Zugang zur Früherken-
nung. Denn Früherkennung ist auch
deswegen wichtig, weil wir immer
älter werden und bis ins hohe Alter
aktiv am Leben teilhaben möchten.
Doch was genau können wir tun?
Eine wichtige Rolle spielt unsere
Ernährung. Egal, ob diese
vegetarisch, flexitarisch, eiweiß-
reich oder kalorienreduziert ist:
Eine gesunde Ernährung
sollte vielseitig und abwechslungs-
reich sein. Für eine lebenswerte
Zukunft auf einem gesunden
Gesundheit ist viel mehr,
als nicht krank zu sein.
Planeten ist aber auch die
umweltbewusste Herstellung
unserer Lebensmittel wichtig.
Deshalb hat dm schon vor
über 30 Jahren als Pionier
Bio-Lebensmittel ins Sortiment
aufgenommen.
Zusammen mit Marken wie
Listerine und elmex unterstützt
dm im Jubiläumsjahr Initiativen,
die der Gesunderhaltung des
Menschen dienen.
Die Marke Listerine steht für die
Verbesserung der Mundgesundheit
aller Menschen und investiert
kontinuierlich in Forschung und
Entwicklung. Bereits seit 60 Jahren
setzt sich die Marke elmex für eine
forschungsbasierte und bedarfs-
gerechte Zahngesundheit in allen
Lebensphasen ein.
Auch unser größtes Organ – unsere
Haut – braucht Aufmerksamkeit,
damit wir uns in ihr wohlfühlen.
Dafür engagiert sich dm gemein-
sam mit der Marke Nivea, die seit
über 100 Jahren für gesunde,
Eine Initiative von: Gemeinsam mit:
schöne Haut steht und eine
entsprechende Hautpflege für alle
Menschen zugänglich machen
möchte.
Schließlich ist auch Bewegung
zentral für unsere Gesundheit.
Denn diese zahlt auch auf unser
psychisches Wohlbefinden ein:
Wer regelmäßig spazieren geht,
läuft, springt oder tanzt, fördert
die Bildung von Endorphinen –
unseren Glückshormonen.
Und gute Fitness führt darüber
hinaus zu positiven Auswirkungen
auf Selbstbewusstsein und Selbst-
wirksamkeit.
Wenn wir auf uns selbst achten,
können wir viel zur Erhaltung
unserer Gesundheit beitragen.
18
ÜBER DEN
WIND
Unser Experte:
Wolfgang Clemens
alias Gangerl (81) hat
als Einhandsegler
schon mehr als
100.000 Seemeilen
zurückgelegt. Er
bereiste 127 Länder
und berichtet über
seine Abenteuer in
der Buchreihe »Der
Paradiesjäger«.
M
ein erstes selbst gebautes
Schiff: 16 Meter lang und
18 Tonnen schwer. So hat
mein Abenteuer vor 50 Jahren
begonnen. Als Segler ist der Wind unver-
zichtbar. Irgendwann geht der Diesel aus,
und dann ist der Wind dein einziger An-
trieb. Wie brutal er sein kann, habe ich
1993 beim Jahrhundertsturm Polly erlebt.
Ein Zyklon, der mit 80 Knoten Windge-
schwindigkeit und 20 Meter hohen Wellen
für Weltuntergangsstimmung gesorgt hat.
In so einer Situation bleibt einem nichts
anderes übrig, als abzuwarten. Mehrmals
wurde der Mast unter Wasser gedrückt und
das Segel zerfetzt. Da merkt man als
Mensch, dass man ein Nichts ist gegen die
Natur. Wichtig ist die ständige Beobach-
tung des Wetters. Ganz viel sagen einem die
Wolken. Dehnt sich zum Beispiel die harm-
ALTES WISSEN
lose Kumuluswolke zur dichteren Gewitter-
wolke, der Kumulonimbus, aus, muss man
schnell reagieren. Dann heißt es: Vorsicht!
Schnell die Segel runterreißen.
Der Wind auf dem Wasser ist immer
stärker als der an Land. Jeder Baum und
jeder Felsen dient als Bremse und sorgt so
für plötzliche und scharfe Richtungsände-
rungen. Man spricht dann auch von Wind-
scherungen. Auf dem offenen Meer herrscht
freie Fahrt, hier ist der Wind gleichmäßiger.
Landmassen beeinflussen den Wind hinge-
gen stark, sodass jede Region für sich typi-
sche Winde besitzt. An den Polen wehen die
Winde von Westen nach Osten. Am Äqua-
tor trifft man auf die beständigen Passat-
winde, die stets Richtung Westen wehen.
Wetterkarten helfen dabei, den Überblick
nicht zu verlieren. Ohne diese Karten bringt
auch viel Erfahrung nichts.
Aufgezeichnet von
Lea Erdmann
Foto
Fauzy Chaniago
Der Klimawandel hat ganz klar eine Aus-
wirkung auf den Wind. Eine Garantie für
eine Windrichtung gibt es nicht mehr.
Durch die steigenden Temperaturen haben
Winde wie Zyklone und Hurrikans zuge-
nommen, auch in ihrer Stärke. Während
ich früher fünf heftige Stürme im Jahr hatte,
sind es jetzt um die zwanzig. Es lässt sich
ein weltweiter Wetterumbruch beobachten.
Die Zeiten werden unsicherer, und das
Meer wird ruppiger. Nicht nur als Segler
sollte man darauf gefasst sein.
Das gibt mir Rückenwind: Wenn hier
draußen ein ruhiger Wind bläst und mein
Schiff mit fünf Knoten fährt – weit weg
von der Zivilisation.
So gehe ich mit Angst um: Ich habe ge-
lernt, dass es wichtig ist, Respekt zu haben.
Bändigen kann man den Wind nicht, nur
lernen, ihn zu verstehen.
 Lifestyle
Kann Sendung
live auf
s ein? .
ri ll u x R a dio
zt s c h o n :B
Jet
ur y o u r life!
Colo

en
Jetzt hör
+
über DAB
!
oder App

www.brillux.radio
20

Kann
man
Er gilt als hohe Kunst.
Aber was ist das eigentlich,
Stil? Hat man ihn einfach,
oder bekommt man ihn erst?
Und wie geht das?
Text Susanne Mayer

lernen?
 21

Für ihre Collagen nutzt Stina Persson Tinte, Wasserfarbe und Schnipsel, ihre Kunden sind unter anderem Nike und Louis Vuitton
22

Stil erkennen ist einfach. Es geht so: Man betritt, sagen

wir, ein Café. Man schaut sich um, etwa so, als sei das
Café eine Galerie, und rundum hängen Bilder, viele
Bilder, und man sucht das eine, an dem die Augen
hängen bleiben, das zu betrachten sich lohnt. Im Café,
heute Morgen in Charlottenburg, war das eine Person.
Sie ist mollig. Weißes kurzes Haar. Dazu hat die
Dame ein großes helles Tuch um die Schultern gewor-
fen, man meint, noch den Schwung zu sehen, mit dem
das Tuch um sie fliegt, man möchte es berühren, so
schön ist der Stoff, ein fast weißer Stoff aus weichem
Strick. An der Hand steckt ein Ring. Ein grauweißer
Glanz. Alles ganz einfach, was diese Dame trägt, ver-
mutlich nicht teuer, insgesamt aber ein Effekt von:
Wow. Die Dame wirkt, obwohl sie sich in dem quirligen
Café an den Rand platziert hat, als sei sie der Pol in-
mitten des Geschehens, als leuchte sie von dort.
Da ist eine Klarheit, die für Stil typisch ist. Stil
braucht keine Chanel-Schnalle auf dem Bauch, kein
Dior-Emblem auf dem Täschchen, kein Miu-Miu-
Röckchen, schon gar nicht alles zusammen an einer ein-
zigen Person befestigt, ihr lieben Russinnen. Stil ist auch
nicht, liebe Mädels, herzustellen mithilfe der »Style-

Modezeichnung von 1954: Geblümtes Chiffon von Christian Dior neben Jacques-Fath-Tweedkleid, rechts: Garten von Piet Oudolf

Guide-Pages« der Magazine, die je ein Set von Blazer,
Hose, Täschchen präsentieren, als seien Frauen Anzieh-
puppen. Blazer in Leopardenprint oder Zebra, dazu eine
Bustier-Schatulle aus pinkigem Ziegenleder. Ergänzend
Stilettos mit PVC, Manolo Blahnik, ca. 645 Euro, sowie
eine Clutch mit Kugelnieten, Bottega Veneta, ca. 3900
Euro. Auch wow. Aber: noch kein Stil, höchstens stylish.
Stil ist Ausdruck eines Verlangens nach Schönheit.
Das klingt nach 19. Jahrhundert, ist aber doch etwas
sehr Gegenwärtiges, so wie unser alltägliches Verlangen
nach der Schönheit von Blumen, wer erträgt schon an
einem Frühlingstag sein Zuhause ohne Blumen. »Blumen
sind – gleich nach Frauen – das Herrlichste, was Gott
erschaffen hat«, schwärmte der unvergleichliche Christian
Dior, »wenn sich Ihr Modebewusstsein an der Natur
orientiert, können Sie nichts falsch machen.« Gedacht
war hier wohl an das immer wieder beglückende Auf-
blühen im Frühjahr, vielleicht auch an die leichten
Bewegungen von Blättern und Gräsern, an die haltlose,
großzügige Verschwendung einer sich öffnenden
Knospe. Mühelose Eleganz.
Christian Dior suchte nach dem Ende der Grauen
des Zweiten Weltkriegs für die erschöpften Frauen ein
Fotos: Interfoto, mauritius images, Natasscha Girelli, dpa
Von der Natur inspiriert: Mode von Natasscha Girelli, rechts: Die Prada-Sommerkollektion 2023 auf der Mailänder Fashion Week
23
neues Lebensgefühl und schuf es, mit verwegenen Linien,
mit frei und weit ausschwingenden Röcken (angesetzt
an die ausgehungerten Wespentaillen) – man nannte es,
mit dem Zungenschlag der Sieger, new look. Es waren
Kleider, in denen sich die exquisite Perfektion der Blumen
spiegelte, wie er sie in seinem Garten in der Normandie
zog und liebte. Viele Designer lieben Blumen, etwa Yves
Saint Laurent, der als Diors Assistent begann, später sein
eigenes Modehaus gründete und dessen Garten in
Marrakesch noch heute, Jahre nach seinem Tod, eine
Sehenswürdigkeit ist. Nicht nur Personen können also
Stil haben, auch Modehäuser. Und eben Gärten. Noch
heute erkennt man auf einen Blick die Spuren, die der
weiße Garten der rasanten Vita Sackville-West, Schrift-
stellerin aus Sissinghurst in Kent, durch die Gartenge-
schichte Europas zog. Die modernistischen Pflanzungen
des Holländers Piet Oudolf sind in aller Welt zu er-
kennen, in ihren so präzise kalkulierten Rhythmen der
Pflanzungen, in denen skulpturhafte Strukturen in
fedrige, borstige, kugelige Elemente eingebettet sind,
es muss Piet Oudolf sein, sagt man sich, wenn man
auf der New Yorker Highline spaziert oder im Kunst-
museum Voorlinden im holländischen Wassenaar aus
24
den Fenstern in den Park schaut. Architektur kann Stil
haben, man denke an die verwegenen skulpturalen
Baukörper einer Zaha Hadid, von denen die meisten
gar nicht gebaut wurden, aber eingesickert sind in
unser kulturelles Erbe.
In der Entschiedenheit von Stil, bei gleichzeitig fast
nachlässig wirkender Gestik, liegt ein Geheimnis. Aber
welches? Auf welche Weise entsteht Stil? Kann jeder
Mensch Stil haben? In diesen Schmerzpunkt hinein
gefragt: Kann man Stil lernen?
Die Antwort: Man muss Stil lernen. Stil ist eine
Frage der Wahrnehmung, welche eine Fähigkeit ist, die
wie jeder andere lebensnotwendige Muskel etwas Training
braucht. Das Auge muss sich üben, in der Erkenntnis
der Abstufung der Farben, in der Wahrnehmung von
Texturen, ihrer matten oder glänzenden, irisierenden
oder samtigen Oberflächen, es gilt, ein Gespür zu ent-
wickeln für Linien, Flächen, für Gewichtung. Es braucht
eine Bereitschaft, Impulse aufzunehmen, von woher
auch immer, und sie zu transformieren in etwas Eigenes,
seien es Anregungen aus der Historie, aus Filmen, not-
falls von Mama. Neulich, zum Muttertag, postete die
amerikanische Geschäftsfrau Iris Apfel, mit ihren fast
100 Jahren der Inbegriff einer Stilikone, ein Foto ihrer
Mama, und was sah man? Eine ältere Dame in glitzern-
der Abendrobe, die sich im Flur eines Kreuzfahrtschiffs
leichthändig abstützte.
Man frage sich, was wir in einigen Jahren von der
neunjährigen britischen Prinzessin Charlotte sehen
werden, die neulich zur Krönung ihres Opas, King
Charles III., in einem Ensemble von Alexander McQueen
aufschlug. Weißes Kleid mit Cape, passend zum
McQueen-Outfit der Mama. Und auf ihrem Köpfchen
saß eine Mini-Kopie des eisig glitzernden Lorbeerkranzes,
der im Haar der Prinzessin von Wales steckte.
Stil hat diese Besessenheit mit Detail. Als der Belgier
Raf Simons das Maison Dior übernahm, präsentierte er
seine erste, die Sommerkollektion 2012 – Kreationen,
deren transparente Kunstfertigkeit die Gäste fassungslos
machte –, in Räumen, deren Wände, vom Boden bis
zur Decke, dicht an dicht mit Blumen besteckt waren.
Mimosen, weiße Orchideen, tiefblauer Rittersporn –
Blumen, die Dior einst inspiriert hatten; hier in Farben
und Kombinationen, für die sich Raf Simons übrigens
seine Inspiration in immer wiederholten Begegnungen
mit der modernen Kunst holt. So wie Miuccia Prada,
die Intellektuelle der Designerinnen und Designer, die
ihrerseits Kunst sammelt. Heute entwickeln Raf Simons
und Miuccia Prada zusammen neue Kollektionen. Man
schaue auf diese fragilen Trägerkleider der jüngsten
Prada-Kollektion, Sommer 2023, metallisch schim-
mernde, aufgerissene Schläuche in Gold und Olive oder
Gold und Siena. Schlicht, ein Eindruck von »Rohheit«,
mit einer Neigung zur »Zerbrechlichkeit«, so die Be-
schreibung. Ach, Mailand!
Stil gedeiht nicht überall. In Frankreich ist er eine
nationale Obsession, in Italien ein lustvolles Spiel. In
Deutschland ist Stil immer ein bisschen fragwürdig.
Eine Frau mit Stil steht im Verdacht, in ihrem hübschen
Kopf nichts als Mode zu haben, womöglich dumm zu
sein. Oder eitel. Narzisstisch. Eine historische Erbschaft,
schreibt Barbara Vinken, Professorin der Philologie, die
sich einer alten Misogynie verdanke, die Frauen nicht
als denkende Wesen wahrnehmen konnte.
Frau Vinken hat das gut ausgetestet, wie die Re-
aktionen sind, wenn eine Professorin mit Pelz und Netz-
strümpfen auf einem Podium Platz nimmt und dann
den Lippenstift rauszieht und noch etwas Rot auflegt.
Es ist interessant, wie sehr in Deutschland eine Intel-
lektuelle mit Stil unter dem Radar bleibt. Kann eine

Elfriede Jelinek, mit einem Werk, das 2004 den Literatur-
nobelpreis erhielt, tatsächlich noch bedrohlicher wirken,
als sie es eh tut, mit ihrem aufregenden avantgardistischen
Stil? Leider ja. Als sei es zu viel, dass eine Frau, die
politisch scharfe, ästhetisch gewagte Texte schreibt, auch
noch Stilikone ist, mit dieser hochgetürmten Tolle über
der Stirn, dazu Zöpfe, die Augen lasziv geschminkt.
Unfassbar. Wie sie sich bewegt, in der ihr eigenen
schlaksigen Eleganz, und dann Platz nimmt in einer
transparenten Bubble, die von der Decke baumelt,
Design Eero Aarnio, 1968 – dieser Skandal ist aufs
Schönste zu bewundern in dem Dokumentarfilm Die
Sprache von der Leine lassen von Claudia Müller, der
gerade den Deutschen Filmpreis gewann.
Man kann also denken und gleichzeitig Stil haben.
Und noch mehr. Um es mit dem Philosophen Arthur
Schopenhauer zu sagen: »Nur wer echte eigene Ge-
danken hat, hat echten Stil.«
Bekanntlich war Schopenhauer jetzt kein Frauen-
fan, man stellt sich deshalb gern vor, wie er gucken
würde, heute, auf Frauen, die über das Verhältnis von
Stil und weiblichem Intellekt sogar spotten können.
»Weil nichts dick genug war, nichts leicht genug war,
Fotos:Valerio Mezzanotti/The New York /Redux/laif; Firuz Mukhtarov/Deposit Photos
Diese Frau trägt ein Kleid von Raf Simons, rechts: Das Kulturzentrum in Baku, Aserbaidschan, hat Zaha Hadid entworfen
25
nichts weich genug war, nichts weltumspannend genug
war, nichts vernichtend genug war, nichts rührend genug
war, nichts bewährt genug war, nichts genug dachte,
nichts aufgebläht genug, nicht lang genug, nicht Pelz
genug, nicht liebevoll genug, nicht genug gefiel, nicht
genug anzog, nicht Samt genug, nicht genug regnete,
brauche ich ein mit Federn besetztes Kleid, um Pessoa
zu lesen, ich brauche lila Plateaupumps, um Mouré zu
lesen, ich brauche Puder und lange Strümpfe, um
Agamben zu lesen ...«, lästert die Kunstdozentin Lisa
Robertson in dem herrlichen Reader Frauen und Kleider.
Frauen mit Stil werden manchmal bewundert.
Gern Jackie Kennedy, sie ist ja auch schon tot und des-
halb unbedrohlich. Dass sie ihren berühmten Stil, mit
dem sie als die Gattin des Präsidenten von Amerika
auftrat, vor allem den französischen Modehäusern ver-
dankte – Balmain und Givenchy, fantastische Ensembles,
über die französische Botschaft ins Weiße Haus ge-
schmuggelt –, war ein Staatsgeheimnis.
Stil ist hierzulande erlaubt, es sei denn, es ist die
Kollegin oder die Nachbarin. Dann kann es auch mal
bissig werden. Klingt bestenfalls so: »Die ist total sty-
lish, aber sonst ganz nett.« Ein Mann mit Stil läuft
26
hierzulande immer in Gefahr, für schwul gehalten zu
werden. Oder für transgender. Die Klügsten machen
daraus ein Spiel und pinseln noch ein bisschen Nagel-
lack drauf. In Mailand dagegen ist ein Mann ohne Stil
ja gar kein Mann.
Es ist ja noch nicht erwähnt worden, dass Stil immer
mehr verlangt als die richtige Kleidung. Stil verlangt
einen schönen Gang (siehe Elfriede Jelinek). Gepflegt
sein gehört dazu, auch eine gepflegte Unterhaltung. Wir
haben Glück, dass wir nicht in der Renaissance leben,
in der auch noch elegantes Fechten erwartet wurde
oder das leicht hingeworfene Sonnet. Trotzdem, in-
mitten des Modischen auf Kurs zu bleiben ist nicht
wenig und führt wohl oft zu dem Gefühl der Über-
forderung, weshalb viele in einer Art Vorwärtsattacke
behaupten, Stil sei ihnen egal. Hauptsache, praktisch.
Praktisch ist natürlich der Tod von Stil.
Zum Verhältnis von Praktisch und Stil könnten wir
von den indischen Wanderarbeiterinnen etwas lernen,
die sich in der Gluthitze auf den Feldern über durstende
Pflänzchen beugen und für dieses Tagewerk ihre weiten
Saris einfach hochnehmen und in den Gürtel stecken.
Man sieht noch die eleganten, mit Gold oder Silber
Iris Apfel, amerikanische Geschäftsfrau und Stilikone im Jahr 2014, rechts: ein Stillleben des Fotografen Ragnar Schmuck
durchwirkten Bordüren. Wer sich nur einen einzigen
Sari leisten kann, wie diese Frauen, der entscheidet sich
für einen eleganten.
Ins legendäre Kaufhaus Bergdorf-Goodman, das in
seinem Prachtbau am Rande des Central Park in New
York auf vielen Etagen die Exzesse der Modewelt ver-
sammelt, trauen sich jedenfalls viele erst gar nicht rein,
schreibt Betty Halbreich, die dort viele Jahre lang Stil-
beraterin war. Nicht wenige, schreibt sie in ihrer Auto-
biografie I’ll Drink to That, sollten sie denn aus Versehen
durch die große Drehtür hineingeschaufelt worden sein,
verließen das Haus sofort wieder durch dieselbe Drehtür
und fänden sich dann schwindelnd auf der Fifth Avenue
wieder, zwischen diesen vielen unfassbar gut angezogenen
Menschen. Sollten sie dann aber trotzdem bei ihr, in
ihrem unspektakulären Büro landen, was sagen sie
dann? Sie sagen: »Ich möchte so aussehen wie Sie ...«
Soso. Eine einfache schwarze Hose? Kurze weiße Haare?
Wie findet eine Person zu ihrem eigenen Stil? Ich
habe natürlich die Dame im Berliner Café gefragt –
übrigens eine Regisseurin aus dem Osten Berlins –, auf
welche Weise sie durch die Wogen des nur Modischen
zu ihrem Stil navigiert, und sie sagte, es sei ganz einfach.
Fotos: Niall O´Brien, Ragnar Schmuck

Sie stelle sich jeden Morgen genau vor, was sie anzieht.
Wie sie wirken, alle Teile zusammen, und sie selbst in
ihnen, sie habe, ganz mühelos und sofort, das ganze Bild
vor Augen, schon immer, bereits als Kind.
Das wäre jetzt die These vom Stil als Vision. Wo-
möglich angeboren. Erstausstattung mit Stil-Gen. Das
hängt die Latte ganz schön hoch. Andererseits wird
dieser Mythos sehr kultiviert.
Hier kommt eine Version aus dem Jahr 1890. Wir
befinden uns im Petersdom in Rom. Eine kleine Pro-
zession zieht über den kalten Marmor. Ein Signor mit
graukrisseligem Bart, eine Frau, nicht mehr jung, ein
Mädel in Zöpfen und, vor ihnen allen, stilistisch be-
trachtet, eine überirdische Erscheinung.
Es ist eine Matrone, sie trägt einen voluminösen
Rock, er schimmert in allen Farben der Schöpfung.
Mieder aus Samt. Auf dem Kopf der Frau entfaltet sich
eine Schleife, im unwahrscheinlichen Schottenmuster,
deren Stoff wie eine Aureole um das Gesicht fällt. Das
alles wissen wir, weil ein Kind es beobachtet hat, also der
Säugling, der in den Armen der Matrone zum Taufstein
getragen wird, gleich wird er den Namen Elsa erhalten.
Später zu Elsa Schiaparelli heranwachsen, einer der
Modegöttinnen des frühen 20. Jahrhundert, die in ihrer
Autobiografie also behaupten wird, schon als Säugling
in Rückenlage gesegnet gewesen zu sein mit diesem un-
trüglichen Blick für Stil. Wer es glaubt, wird selig.
Als Elsa Schiaparelli 30 Jahre später mit einem
Coup die Modewelt umkrempelt, hatte das tatsächlich
weniger mit Vision zu tun als mit Unverfrorenheit.
Sie ist in Paris eingetroffen, mittellos. Es gibt eine
Einladung zu einem Ball und kein Kleid. In den Galeries
Lafayette ersteht sie dreieinhalb Meter Crêpe de Chine,
sie schlingt die Stoffbahnen um Körper und Beine,
einige Sicherheitsnadeln, voilà. Sie hat auch zwei Meter
Seide in Orange mitgenommen, ratsch, die eine Hälfte
kommt um die Taille, die andere um den Kopf. Dieser
Auftritt macht Furore, schon weil beim Tanz die eine
27
oder andere Sicherheitsnadel aufgibt. Verwegenheit,
auch das braucht Stil. Der Turban, der die unfrisierten
Haare verdeckt, wird übrigens ein Hit, von dem noch
Simone de Beauvoir zehrt, als sie sich 20 Jahre später ein
Stoffband um den klugen Kopf wendet und aus diesem,
sagen wir, Witwe-Bolte-Styling einen eigenen Stil
macht, den der weiblichen Intellektualität.
Stil braucht also Mut. Improvisation gehört dazu.
Schiaparelli experimentierte schon mit Stoffen, mit
denen heute die Modedesignerin Iris van Herpen ihre
madenähnlichen Gebilde baut. Schiaparelli wird übri-
gens ihr ganzes Leben lang die Eindrücke ihrer Kindheit
aus dem sakralen Rom verarbeiten. Es ist ein Schwelgen
in den Farben des Klerus, das bischöfliche Scharlach, das
erhabene Schwarz, darauf Goldbordüren, die sich bei
ihr zu wahren Monstranzen auswachsen.
Sie zieht ins Herz von Paris, Adresse 21, Place
Vendôme. Auf ihren Kostümjäckchen öffnen sich nun
Lippen zu Täschchen, es gibt Hüte, die wie Koteletts
aussehen, denn nun sprechen ihre Freunde mit, die Sur-
realisten Max Ernst und Dalí und Jean Cocteau.
Gegenüber residiert Coco Chanel. Oho. Jaja, Stil
lebt auch von der Konkurrenz. Stil braucht vor allem
aber eine Kultur des Stils. Um den Place Vendôme herum
haben sich schon vor mehr als einem Jahrhundert die
wundervollsten Modehäuser, Juweliere, Schuhhäuser
angesiedelt. Es ist eine Verdichtung von Stil-Kultur.
Weshalb es, auf der Suche nach Stil, immer zu emp-
fehlen ist, nach Paris zu fahren, zum Schlendern, im
Jardin du Luxembourg, in den Tuilerien, durch den
Marais. Nirgendwo ist es einfacher, in einer Menschen-
menge zu schwimmen, die sich so stilvollendet gibt.
Außer in Mailand. Oder New York. Die Madison hoch,
Fifth Avenue runter und zum Meatpacking District,
dann an den Broadway in Lower Manhattan.
Nicht ohne Grund ist es in Mailand oder Paris oder
New York, wo die großen street photographer mit ihren
langen Linsen auf der Lauer liegen. Früher war es Bill
28
Cunningham, der die Stilseiten der Tageszeitung New
York Times bestückte, heute scrollt man sich durch
Schnappschüsse auf Insta, @theSartorialist oder @Ladie-
sonmadisonave oder @coolchicstyle und fragt sich, was
nur all diese Menschen bewegt, die so daherschlacksen,
in ihren weichen breiten Hosen und den vollendeten
Sakkos. Vermutlich der Wunsch, gesehen zu werden.
Stil ist immer ein Statement. Heimlich Stil haben
geht nicht. »We all dress for Bill«, hat einst Anna Wintour,
die Domina der Vogue, gesagt, in untypischer Bescheiden-
heit. Apropos Anna. Sie ist natürlich unverwechselbar,
mit diesem geföhnten Helm mit Pony, seit Jahrzehnten
millimetergenau auf eine Länge gestutzt – ist das Stil?
Oder nur ein Stil? Oder auch ein bisschen Angst, ver-
steckt unter einem mit Haarlack versteiften Kopf? Man
denke an die alte Queen Elizabeth, auf deren Kopf eine
solche Vielfalt von Hüten auftauchte wie vermutlich auf
keinem anderen Kopf der Welt. Hütchen, pill boxes und
Wagenräder, Kappen und Turbane, aus Samt, aus Seide,
Stroh. Gewagte Federninstallationen. In royalem Blau,
in Pernod-Gelb, in Erbsengrün, in errötendem Rosé,
in Knallorange. Sie waren bunt getupft oder raffiniert
geflochten, mit Troddeln und Bordüren geschmückt
So sieht es angeblich im Haus des US-Basketballers Devin Bookers aus, rechts: Zeichnung der norwegischen Künstlerin Christina K.
oder aus Federn gesteckt. Auf einer Haube in Lindgrün
hat sich offensichtlich ein Schwarm aus weißen
Schmetterlingen niedergelassen. Oder das, Glocke aus
Maiglöckchen, Stil wie Badehaube der Sechziger.
Ohne die jahrhundertealte Gartenkultur Groß-
britanniens wäre ein solcher Exzess von Hut-Stil-Blüten
natürlich gar nicht denkbar. Zum Brexit erschien die
Queen im stillen Protest mit goldenen Sternen auf einem
europablauen Hut. Das Erstaunlichste aber an all diesen
Hüten der Königin ist, dass sie sich, wiewohl über Jahr-
zehnte hinweg von den verschiedensten Künstlern ent-
worfen, doch auf überraschende Weise zu einem ein-
zigen Stil verbanden. Wie sie in ihrer Vielfalt
verschmolzen mit den Abertausenden Kleidern, Kos-
tümen, Mänteln, welche die Königin zu all den Anlässen
trug, und in denen sie doch immer unverkennbar war:
als eine Frau mit Stil. Stil, so viel ist klar, braucht immer
und vor allem auch den wohlwollenden, den bewundern-
den, beglückten, ermutigenden Blick der anderen. 
Susanne Mayer entdeckte als Kind einen Stapel Modemagazine
aus den Dreißigern in einem Schrank. Eine Offenbarung! Ein Leben
später schrieb sie das Buch: »Die Kunst, stilvoll älter zu werden«.
Foto: Christopher Sturman/Trunk Archive ; Illustration: Christina Koutsospyrou

Na, wie sehe ich aus?
Stilfragen an Julia von Boehm, deren Modeverständnis unter
anderem die französische »Vogue« und das US-amerikanische
Magazin »InStyle« geprägt hat. Heute verlassen sich Filmstars
wie Nicole Kidman oder Uma Thurman auf ihren Geschmack
Guter Stil und Jeans – geht das?
Selbstverständlich! Momentan sehnen wir
uns nach Klassikern, nach Vertrautem. Un-
sere Welt ist so in Aufruhr, dass uns unsere
Kleider jetzt vor allem Sicherheit geben
sollen. Waghalsige Entwürfe passen eher
in unaufgeregte, langweilige Zeiten. Jeans
sind so ein Klassiker. Vor allem wenn sie
die eigene Figur repräsentieren, möglichst
leicht verwaschen sind, also getragen ­
wirken und nicht wie frisch aus dem Laden.
Ist Stil auch eine Altersfrage?
Natürlich ändert sich unser Stil im Laufe
des Lebens. Das hängt daran, dass wir
uns irgendwann entscheiden müssen,
wann wir wie ernst genommen werden
wollen. Schrille Kombinationen oder aus-
gefallene Designs machen sich nicht gut
in Business-Meetings. Auch sollte man ab
einem gewissen Alter vorsichtiger damit
umgehen, wie viel Haut man zeigt.
Gibt es Farbkombinationen, die guten
Stil signalisieren?
Farblich orientiert man sich am besten
an den Mailänder Männern, wie sie zum
Beispiel auf dem Instagram-Account #the­
sar­to­ria­list des Fotografen Scott Schuman
zu sehen sind: Kombinationen aus Blau und
Braun im Winter und Hellblau und Grau im
Sommer gehen immer und gehören in jede
Kleiderschrank-Farb­palette. Noch mehr
können Sie von Charvet lernen. Besuchen
Sie diese Institution an der ­Place Vendôme
bei einer Paris-Reise, und fotografieren
Sie die Hemden ab, wie sie dort in den ­
Regalen gestapelt ­liegen. Das ist reine
Farbenlehre des ­klassischen Stils.
Ist guter Kleidungsstil immer teuer?
Foto: Valine Brana
Nicht unbedingt. Die Grundgarderobe
kann etwas mehr kosten, hält aber auch
locker ein, zwei Jahrzehnte. Die Variationen,
die sich im Laufe der Zeit an Modetrends
orientieren, können von preiswerteren ­
Anbietern stammen.
Wie findet man seine Grundgarderobe?
Wenn alle mal aus dem Haus sind, Kinder,
Partner, WG-Bewohner ... dann gehen Sie
Ihre Garderobe durch, Stück für Stück.
Nehmen Sie sich ruhig einen halben Tag
Zeit. Ziehen Sie alles an – wirklich alles! –,
und finden Sie heraus, in welchem Look
Sie sich gefallen. Sie werden sehr schnell
merken, wie Sie sich am besten gefallen.
Was darf in keinem Schrank fehlen?
Ein, zwei Blazer werden Sie schon brauchen
im Leben, einer davon sollte schmal ­
geschnitten sein, der andere eher locker.
Dazu einige Hosen, engere und weite. ­
Röcke sind eher optional, und Kleider
brauchen Sie eigentlich nur für den Sommer.
Statt in teure Abendgarderobe investieren
Sie lieber in ein Paar Schuhe, die gehen
dann viele Jahre zu jeder Party mit, das
Kleid dazu kann ein Schnäppchen sein.
Muss man Idealmaße haben für Stil?
Überhaupt nicht. Große Menschen haben
genauso hervorhebenswerte Körperteile
wie kleine, dicke genauso wie dünne!
Wer einen großen Busen hat, sollte viel-
leicht eher in tolle Dessous investieren
als in die hundertste Jeans. Wenn an Ihren
Beinen die Knöchel besonders schön sind:
Tragen Sie Hochwasserhosen. Es ist diese
Mischung aus Selbstbewusstsein und ­
Self-Awareness, die einen stilsicheren
Menschen ausmacht.
Gibt es internationale Unterschiede?
Der beinahe biedere Look von Kate
Middleton, der Prinzessin von Wales,
spielt sich in den klassischen Stilregeln
der englischen Oberschicht ab. Dafür darf
man in England gerade diesen rigiden
Rahmen viel radikaler brechen: Nirgend-
wo sieht man mehr junge Männer, die ­
29
betont weibliche Schnitte und laute Farben
tragen. Für den besten deutschen Stil
steht immer noch Jil Sander und für den
besten italienischen Miuccia Prada. Die
eine hat den Minimalismus zur Maxime er-
klärt, die andere baut in ihre klassischen
Entwürfe immer ein Augenzwinkern mit
ein. Da kann man sich was abschauen.
Was hilft, den eigenen Stil zu finden?
Modemagazine? Soziale Netzwerke?
Suchen Sie sich eine Stil-Ikone, mit der Sie
sich identifizieren können. Vielleicht ist
Ihre Jane Birkin. Oder Serena Williams.
Oder Kate Moss. Achten Sie besonders
auf die Details. Wahrscheinlich gefällt sie
Ihnen ja gerade wegen der kleinen Dinge:
welche Sonnenbrille sie sich aussucht,
wie sie ihre Handtasche trägt, was sie im
Regen macht und was am Strand.
Sie haben unzählige Stars angezogen.
Macht man vorher eine Stil-Recherche?
Nein. Ich will gar nicht so genau wissen,
was eine Person sonst so trägt. Ich versuche
aber, alles zu lesen, was man über sie er-
fahren kann. Ich versuche zu verstehen,
an welchem Punkt sie gerade ist in ihrem
Leben, was sie von sich zeigen will. Dann
komme ich mit Vorschlägen und Ideen.
Was jemand anzieht, erzählt immer auch
eine Geschichte. Nur wenn du etwas zu
sagen hast, hast du auch Stil.
Thema Accessoires?
Eine gute Handtasche lohnt sich. Sie
brauchen sie genauso wie Ihr Telefon, also
an der Stelle eher nicht knausern.
Was ist mit Haaren und Make-up?
Weniger ist mehr, meistens. Auch hier gilt:
Wenn man einen Look für sich gefunden
hat, dann bleibt man dem möglichst treu.
Kontinuität ist vielleicht eines der ­
wichtigsten Kriterien für guten Stil.
Interview: Lisa Feldmann
30
HALTUNG, BITTE!
Wer bei stilvollem Miteinander nur an
Tischmanieren denkt, verpasst das
Wichtigste. Worauf es wirklich
ankommt im Umgang mit Menschen
Text Katrin Zeug
E
s war einmal ein kleiner Bub,
sein Temperament war lebhaft,
sein Blut warm. In ihm verbor-
gen, schrieb er später als Mann,
lagen »Keime zu mancher heftigen Leiden-
schaft«. Außerdem war er »ein wenig ver-
zärtelt« und daran gewöhnt, »sehr viel
Rücksichten von andern Leuten zu fordern«,
weil er, in ein Adelsgeschlecht hineingebo-
ren, schon als kleine Person viel Aufmerk-
samkeit bekommen hatte.
Das Schicksal traf ihn früh und hart.
Mit fast elf verlor er seine Mutter, drei Jahre
später seinen Vater. Das Kind musste das
Schloss verlassen, ihm blieben nur ein Hau-
fen Schulden, von der Misswirtschaft des
Vaters – und der hohe Anspruch ans Leben.
Nicht vorbereitet aber war der Junge
auf jene Beweglichkeit im Umgang, die es
braucht, um allein unter Fremden eine gute
Figur zu machen.
Er schrieb rückblickend: »Meine Leb-
haftigkeit verleitete mich zu großen Inkon-
Welche Worte an wen? Die Blicke wohin? Alles nicht so leicht
sequenzen; ich (...) tat immer zu viel oder zu
wenig, kam stets zu früh oder zu spät, weil
ich immer entweder eine Torheit beging
oder eine andere gutzumachen hatte. (...)
Zuerst war ich zu sorglos, zu offen, gab mich
zu unvorsichtig hin und schadete mir da-
durch; alsdann nahm ich mir vor, ein feiner
Hofmann zu werden; mein Betragen wurde
gekünstelt (...); ich war zu geschmeidig und
verlor dadurch äußere Achtung und innere
Würde, Selbstständigkeit und Ansehen.«
Dieser verwirrte Bub war Adolph Frei-
herr von Knigge. Derjenige, dessen Name
heute der Inbegriff von gutem Benehmen
ist, von stilvollem Miteinander, strauchelte
selbst ein Leben lang damit. Er schlug sich
durch. Zog, auf der Suche nach einer An-
stellung, von Hof zu Hof, von Stadt zu Stadt.
Wollte dazugehören, Karriere machen, Ein-
fluss nehmen. Doch wohin er kam, eckte er
an, flog er raus, kannte er nicht die jeweiligen
Gepflogenheiten, das passende Maß und
nicht den richtigen Ton.
Und es ist ja auch schwer. All die unge-
schriebenen Gesetze im gesellschaftlichen
Verkehr. Wie viel Neugierde ist gut? Wie
viel Schalk? Wohin die Blicke? Wie viele
Worte und welche bei wem? Was darf man
fragen, was lieber nicht? Was macht eine
gute Gastgeberin aus und was den Gast, der
immer wieder gern eingeladen wird?
Knigges Zeit, Ende des 18. Jahrhun-
derts, war geprägt von Standesdünkel und
strengen Verhaltensregeln entlang von Her-
kunft, Zunft und Religion. Vieles davon ist
heute anders, klar, und doch: Was unter
einem guten Ton verstanden wird, ist auch
in unserer aktuellen Welt abhängig davon,
in welchen Kreisen man verkehrt. Ist online
anders als voreinander stehend, unter Freun-
dinnen anders als mit Kolleginnen. Abhängig
von Alter, Kultur oder politischer Ansicht
gelten andere Regeln.
Viele denken bei Knigge an Vorschriften
dafür, wer wem die Tür aufhält, wohin
welches Weinglas auf dem Tisch gehört

und wie man am elegantesten das Besteck
verwendet. Mit solchen Details hat er sich
nicht aufgehalten (wir können davon aus­
gehen, dass er das Wissen darum als Selbst­
verständlichkeit voraussetzte).
Der Kern seiner Stilbibel und außer­
dem das Gerüst allen guten Umgangs ist
sehr viel profunder als Tischmanieren. Es ist
eine Haltung gegenüber dem Menschen an
sich. Knigges Werk Über den Umgang mit
Menschen, erschienen 1788, kurz vor der
Französischen Revolution, ist ein Plädoyer
für ein respektvolles und tolerantes Mit­ein­
an­der mit »allen Arten von Menschen« – un­
abhängig von Herkunft, Alter oder Beruf.
Knigge vermachte uns kein Regelwerk,
dem man starr und hohl nacheifern kann.
Er wollte, dass jeder selbst denkt und fühlt,
während er handelt. Knigge schrieb: »Sei
selbstständig! Was kümmert Dich am Ende
das Urteil der ganzen Welt, wenn Du tust,
was du sollst? Und was ist Deine ganze
Garderobe von äußeren Tugenden wert,
wenn Du diesen Flitterputz nur über ein
schwaches, niedriges Herz hängst?«
Wenn Knigge in seinem Leben aneckte,
war das nicht aus Blödsinnigkeit, wie er
schrieb. Sondern aus dem »Bedürfnis, zu
lieben und geliebt zu werden«. Es waren die
Keime der Leidenschaften, die da – manch­
mal eben etwas ungeschickt – keimten.
Zu seiner Heirat wurde er einem Ge­
rücht nach gedrängt, um die Ehre des Mäd­
chens wiederherzustellen, dem er bei Hofe
einen Schuh unterm Tisch geklaut und dann
vor versammelter Gesellschaft auf einem
Tablett zum Abendessen serviert hatte.
In der Einleitung zu dem Buch, das ihn
berühmt machen sollte, schrieb er:
»Wer kann so gut vor der Gefahr warnen
als der, welcher darin gesteckt hat?«
Würde man Knigge fragen, wie er Stil
gelernt hat, würde er wahrscheinlich ant­
worten: durch all die Erlebnisse, wie man es
lieber nicht macht. Er habe widrige Erfah­
rungen gemacht, die ihn von seiner eigenen
Ungeschicklichkeit überzeugt hätten.
Heraus kam »die Kunst, sich bemerk­
bar, geltend, geachtet zu machen, ohne be­
neidet zu werden; sich nach den Tempera­
menten, Einsichten und Neigungen der
Menschen zu richten, ohne falsch zu sein«.
Foto: Interfoto
Das wichtigste Utensil dabei sei Geis­
tesgegenwart. Wer diese nicht habe (denn sie
ist »ein seltenes Geschenk des Himmels«),
sollte zumindest daran arbeiten, sich und
andere nicht durch Überstürzung in Verle­
genheit zu bringen. Knigges Rat: »Wenn
eine unerwartete Frage, ein ungewöhnlicher
Gegenstand oder irgendetwas anderes uns
überrascht, nur eine Minute still zu schweigen
und der Überlegung Zeit zu lassen.«
Fünf weitere Grundsätze für guten Stil,
herausdestilliert aus seinem Buch:
1. Sei aufrichtig, würde- und respektvoll
Wende dich immer jeweils der Person zu,
die mit dir zu tun hat, egal, welchen Rang
sie hat. Schaue ihr beim Sprechen frei und
offen, doch nicht starr und frech in das
Gesicht. Sind es zwei – oder mehrere –,
dann schenke beiden (beziehungsweise allen)
Beachtung, auch wenn dir eine Person
mehr zusagt als die andere. Respektiere die
Grundsätze und Ansichten der anderen,
ohne die eigenen zu leugnen. Nimm dich
selbst und deine Meinung so weit zurück,
dass sich ein sozialer Raum öffnen kann, in
dem sich Gegenseitigkeiten entwickeln.
Knigge schreibt: Ȇbrigens aber rate ich
auch an, (...) ja nicht zu glauben, es sei ir­
gendeine Gesellschaft so ganz schlecht, (...)
dass man nicht daraus irgendetwas lernen,
irgendeine neue Erfahrung, irgendeinen
Stoff zum Nachdenken sammeln könnte.«
2. Bleib ruhig!
Immer und überall. Es ist wichtig, zu lernen,
Widerspruch zu ertragen. Nicht kindisch
eingenommen zu sein von den eigenen
Meinungen. Nicht hitzig oder grob zu wer­
den im Zank. Auch dann nicht, wenn über
die eigenen ernsthaften Gründe gespottet
wird. Nicht schreien und wild fuchteln,
sondern verständlich reden. Knigge
schreibt: »Du hast, bei der besten Sache,
schon halb verloren, wenn Du nicht kalt­
blütig bleibst, und wirst wenigstens auf
diese Art nie überzeugen.«
3. Sorge für wahres Vergnügen, vermeide
Langeweile
Es gibt diese Leute, die nur mit schläfrigem
Blick und halbem Ohr zuhören. Oder die,
die zwar behaglich dasitzen, sich erzählen
lassen, aber nicht daran denken, auch für
das Vergnügen der übrigen zu sorgen. Knigge
findet solche Leute ungerecht und lästig.
Damit das Gegenüber die Zeit des Mitei­
nanders nicht als vergeudet empfindet, soll
31
man nie voneinander gehen, ohne etwas
mitgegeben zu haben, wovon der andere
mit Kopf oder Herz Anteil nehmen kann.
Knigge schreibt: »Ich möchte gern, wenn es
möglich wäre, alles leere Geschwätz aus
dem Umgange verbannt sehn.« Platte Ge­
meinsprüche und Sprichwörter wie »dass
man durch Schaden klug werde« solle man
lassen, sie seien »sehr langweilig und nicht
selten sinnlos und unwahr«. Vor allem aber,
schreibt er: »Vergesse man nie, dass die Leute
unterhalten, amüsiert sein wollen; dass
selbst der unterrichtendste Umgang ihnen
in der Länge ermüdend vorkommt, wenn er
nicht zuweilen durch Witz und gute Laune
gewürzt wird.«
4. Manieren machen das Leben schöner
Höflichkeit und gute Manieren helfen da­
bei, in Gesellschaft akzeptiert zu werden.
Daher sollte man sich im Alltag immer
achtsam verhalten. Knigge schreibt: »Kurz,
alles was eine feine Erziehung, was Auf­
merksamkeit auf sich selbst und auf andre
verrät, das gehört notwendig dazu, den
Umgang angenehm zu machen, und es ist
wichtig, sich in solchen Dingen nichts
nachzusehen, sondern jede kleine Regel
des Anstandes, selbst in dem Zirkel seiner
Familie« zu beachten – auch dann, wenn
man ganz mit sich allein sei.
5. Sei gut mit dir
»Respektiere Dich selbst, wenn Du willst,
dass andre Dich respektieren sollen«,
schreibt Knigge, denn ein guter Umgang
mit sich ist die Grundvoraussetzung für
einen guten Umgang mit anderen. Daher:
»Gehe nicht schmutzig, nicht lumpig, nicht
unrechtlich, nicht krumm, noch mit groben
Manieren einher, wenn Dich niemand be­
obachtet. Misskenne Deinen eigenen Wert
nicht! Verliere nie die Zuversicht zu Dir
selber, das Bewusstsein Deiner Menschen­
würde.« Um das zu schaffen, solle man für
die eigene Gesundheit von Leib und Seele
sorgen – ohne beides zu verhätscheln und
sich keine Langeweile machen. Das heißt,
sich nie ganz gehen zu lassen: »Lerne Dich
selbst nicht zu sehr auswendig, sondern
sammle aus Büchern und Menschen neue
Ideen. Man glaubt es gar nicht, welch ein
eintöniges Wesen man wird, wenn man sich
immer in dem Zirkel seiner eigenen Lieb­
lingsbegriffe herumdreht.« 
32
Alles Gucci und
mehr Schmutzi
Alle fragen sich hier, ob und wie Stil zu lernen sei. Aber ist
er überhaupt erstrebenswert? Oder schränkt er eher ein,
mit all seinen kulturellen Vorgaben. Ein Zwischenruf
Text Kim de l’Horizon
A
lles Gucci?« Die jugendsprach-
liche Formulierung war auch
schon mal stylischer, um sich
zu erkundigen, ob denn alles
fein sei. Wohlan, drum fang ich auch gar
nicht damit an. Ich mach hier kein Anfang,
Tante. Ich bang grad rein. Nymphisch hüpf
ich in das Tümpelchen des Styles, und da
treffen wir ein Tier. Ja, wenn wir über Style
philistern, dann kommen wir erst mal und
hauptsächlich an ein Tier.
Ein Tier? Was’n für’n Tier? Na, wir.
Also wir, find ich, sind Tier. Und zwar das
einzige Vieh, das sich schämt, Vieh zu sein.
Und ich glaube, dass dein Style, Brudi, dass
du den nur so hegest und pflegest, um dein
Menschsein zu zeigen: Ceci n’est pas un ani-
mal. Dein Stil ist eine Haut, um dich vom
Tierischen abzugrenzen.
Ok, ok, what? Gewagte These? Dann
also doch ein bisschen Bildungsbürgerkacke,
weil du liest dies ja – oha, Mist, bist du kein
Du, sondern ein Sie? – wegen Pädodagogie.
Der gute alte Franzose Bourdieu sagte ja:
There is no such thing as style. Bloß in FRAN-
ÇAIS. Also ich versteh den Typen so: Stil ist
eigentlich immer der Ausdruck von Klasse
und Geschlecht. Zusammen. Shaken, not
stirred. Wie du deinen Löffel hältst und zum
Mund führst: mit zwei Fingerchen oder der
ganzen Faust, die Suppe zu dir hin schau-
felnd oder von dir weg lüpfend. Wie du sitzt.
Breitbeinig ist männlich in der Unterklasse.
Beine übereinander ist männlich in der Up-
per Class, was eben eigentlich ziemlich girly
ist, die dudes in der Bourgeoisie. Deine
Lampen und Tische und Interjektionen
und so, alles, du drückst überall aus, in wel-
cher Klasse du dich befindest und wie pink
oder wie blau oder wie Glitter du bist. Und
beispielsweise ist eben blau bei HARTZ IV
anders als bei Stuckrad-Goldbarrén.
Also, das hat der Bourdieu vielleicht
gar nicht sooo geschrieben. Ich weiß das
nicht so exactément, sondern nur aus der
zweiten Hand. Weil ich hab den Soziologen
gar nie oder nur in kurzen Fetzen selbst ge-
lesen. Wieso? Ja, weil der hatte so Angst,
nicht genug Mensch zu sein, also nicht
genug gebildet, also von seinen KollegEN
nicht genug ernst genommen zu werden.
Der hatte einen so akademischen STIL, das
dauert zehn Leben, den zu lesen. Was sehr
lustig ist. Er kritisiert, dass überall alle im-
mer so Klasse sind und so, dass alle mehr
sophistiqué tun, als sie sind – und dann fährt
er mit seinem Fremdwort-Rolls-Royce vor.
Übrigens gilt es einen der größten Irr-
tümer gleich noch wegzukehren: Es gibt
keinen Unterschied zwischen Kleidungsstil
und Sprachstil. Darum vermenge ich hier.
Und neben Klasse und Geschlecht wird
natürlich auch Ethnizität über Stil ausge-
presst. Hierzu möchte ich den Begriff
CHROMOPHOBIE von David Batchelor
herbeizerren. Farbangst. Die Werkzeuge
und Beispiele von Batchelor sind schon ein
wenig veraltet. Aber er macht einen Punkt.
Farbe wird im globalen Norden oft mit dem
Exotischen verbunden. Dem Orient, dem
Femininen, dem Infantilen. Eine Freundin
von mir trägt oft bunteste Farben. Vielfarbige
Punkte auf den Nägeln. »Sich Beißendes«.
Sie wird ständig nach ihrem Beruf gefragt.
Ob sie Kindergärtnerin sei. Oder Farbthera-
peutin in einer Psychiatrie. Je weiter im
Norden, desto reduzierter der Stil. Nordic
Living ist kein Lifestyle. Es ist eine Arroganz.
(Und vielleicht eine nicht ganz unproblema-
tische: die kühle Überlegenheit des Nordens.)
Große, leere Wohnungen. Wortkarge Kom-
missar*innen in grauen Krimis statt weinende
Drama-Queens in knalligen Soap-Operas.
Henkellose, möglichst dünne Tässchen:
Diese Form des Nicht-zu-Vielen musst du
Foto: Anne Morgenstern, Nazar Chernyy; Illustration: Daniel El Dibujo
dir leisten können. Diese Reduziertheit.
Dieses Gemeisterte. In sich Stimmige. Aus-
balancierte. Dieses Eingekochte, scheint
mir, ist das, was viele in diesen Breitengra-
den meinen, wenn sie von einem »guten«
Stil sprechen. Das, scheint mir, ist die wohl-
überlegte, die souveräne, die in sandigen
Farben und kristallinen Worten gehaltene
Überlegenheit des globalen Nordens. Ich
kotze euch ins Feuilleton, wenn ich noch
eine Rezension lese, in der ein Roman gelobt
wird aufgrund seiner
Knappheit
Nüchternheit
Klarheit und Kühle wegen
Wegen seiner fucking LAKONIE

Stil ist immer eine Bewegung. Ein Absto-
ßen. Eine Abgrenzung vom »Stillosen«. Im
Falle des von mir Verachteten ist es eine Ab-
grenzung vom Armen, vom Weiblichen,
vom Queeren, vom Hysterischen, vom
Heißen, vom Schnellen, vom Östlichen,
vom Südlichen, vom Bäuerischen, vom
Schmierfett, vom Fett.
Gestern war ich auf einem Spielplatz.
Eine offensichtlich erziehungsberechtigte
Person hat ihr Kind angeschrien, weil es sein
Röckchen schmutzig gemacht hatte und
sich auch sonst ganz unmädchenhaft ver-
halten hat, dies aber scheinbar anders von
ihm erwartet wurde. Ich wollte mich stilvoll,
das heißt kühl für das Kind einsetzen. Statt-
dessen wurde meine Einmischung unkühl.
Gefühlslosigkeit musst du dir leisten
können. Hysterie ist ein Vorwurf, der auf-
fallend oft aus überlegenen Positionen nach
»unten« geworfen wird: an die zu sensiblen,
zu emotionalen, zu undistanzierten. Ich
habe ja so ein Buch geschrieben, und in
Hommage an sein Land von dem ukrainischen Modefotografen Nazar Chernyy, rechts: »Pensador N.1«, Ölgemälde von Daniel El Dubijo
diesem Buch drin, wo Blutbuch heißt, da
habe ich eben versucht, keinen ebensolchen
EINEN STIL durchzumachen. Im Buch
drin hat es fünf Teile und etwa fünf Stile
und viereinhalb Sprachen, nämlich das
Hochdeutsche und das Schweizerdeutsche
und das Französische und das Englische und
das von einem Übersetzungsprogramm
namens DeepL Übersetzte. Ich habe zwar
schon ursprünglich angefangen mit einem
Schreiben, von dem ich eben schon auch
wollte, dass es in einen guten Stil hineinge-
fülltes Schreiben sei, und vor allem natürlich
heißt das selbstredlich, dass das eben EIN
EINZIGER Stil ist. Aber in mir drinnen
und im Schreiben war ein Zuviel von den
Gefühlen her und vom Rot und von Ge-
schlechtern und Klassen. Ich glaube, der
gute Stil will sich daran aufzeigen, dass es ein
überall gleichmäßig geschliffenes Schub-
lädchen ist. Konsequenz. Dass ein Text ein-
fach so abbrösmelt und ein ganz neues Jäggli
anzieht, hell, no! Aber genau das will ich.
33
Ein Stil ist eine Haut. Deine instagrammable
Wohnung, dein gut formulierter Bewer-
bungsbrief: Häute sind das. Zum Dichab-
grenzen von den Anderen, vom Anderen.
Zum Dicheingrenzen zum Guten. Zum
Identitätmachen. Nur ist Haut keine Hülle,
sondern immer auch der Inhalt. In Blut-
buch hab ich im Häute-Aus-und-Abziehen
eine Hautlosigkeit versucht. Im Moment des
Umziehens besuchte mich Verletzlichkeit.
Vielleicht habe ich solche Preise bekommen,
weil die Kunst, die Kunst darf das. So kon-
sequent inkonsequent sein. Aber wie kriegen
wir so Hautlosigkeiten in andere Bereiche.
Nichtkunst. Weg von Stil als Identität.
Weg von Stil als Signal: DAS HIER IST
GUT, WEIL ES BESSER IST. Nicht alles
Gucci. Schon bizli. Aber vor allem auch
mehr Schmutzi, bitte. 
Kim de l’Horizon kommt aus der Schweiz und
erhielt für den Debütroman »Blutbuch« sowohl
den Schweizer als auch den Deutschen Buchpreis.
34

Das ZEIT WISSEN

Gespräch
Jil Sander
Geboren im Norden Deutschlands in einem
kleinen Ort namens Wesselburen, machte sie
sich auf, die Welt zu erobern. Ihre Ausrüstung:
ein einzigartiges Gespür für Schönheit

Interview Lisa Feldmann  Fotos Peter Lindbergh, Craig McDean, Paul Warchol

Ein berühmtes Bild: Die Designerin, fotografiert von Peter Lindbergh


M
ode aus Deutschland? Ein deut-
scher Stil gar, der international
reüssiert? Das schien nach dem
Zweiten Weltkrieg beinah undenk-
bar. Frankreich hatte sich mit
Christian Dior und seinem »New
Look« neu erfunden, Giorgio Armani hob später Italien
als Epizentrum lässiger Eleganz auf die internationale
Landkarte – aber erst Jil Sander kreierte einen neuen
deutschen Stil: indem sie edle Materialien innovativ
einsetzte und ihre Vision einer modernen Frau materia-
lisierte, die klasse aussehen wollte. Sie etablierte den
Hosenanzug aus ungewöhnlich hochwertigen Stoffen,
die meisten entwickelte die gelernte Textiltechnikerin
selbst. Sie katapultierte edles Kaschmir von der Wo-
chenend-Couch in die Chefetagen der Konzerne und
flache Sandalen an die Füße einer Frau in Abendrobe.
Das Geheimnis ihres Erfolgs ist auch diese spezifische
Besonnenheit, die ihr Wesen ausmacht: Jil Sander lässt
den Menschen und den Dingen ihren Raum, mehr
noch, sie verschafft ihnen zusätzlichen Raum und da-
mit eine überraschende, neue Wirkung. Beinah mühe-
los scheint ihr diese Magie zu gelingen. Aber das
täuscht: Höchste Konzentration und eine Präzision, die
Fotos: Peter Lindbergh (courtesy Peter Lindbergh Foundation, Paris) S. 34; Craig McDean (Model: Guinevere van Seenus) S. 36/37
niemals nachlässt und kein Detail ausspart – auch das
ist Jil Sander. Für die Fotos zum Interview öffnete sie
für ZEIT WISSEN-Artdirektorin Wiebke Hansen das
Archiv in ihrem Hamburger Atelier, und die beiden be-
gaben sich über drei Stunden lang auf eine visuelle
Zeitreise. Die Fragen für das Interview wollte Jil Sander
lieber schriftlich beantworten.
Jil Sander, Sie sind die wichtigste deutsche Designerin
von internationalem Ruf. Würden Sie Ihre Mode als
»deutsch« bezeichnen?
Nein, ich habe mich nur gegen einen weiblichen Nach-
kriegslook gewendet, der nicht mehr zeitgemäß war.
Vielleicht spiegeln sich in meiner Arbeit aber ein nord-
deutsches Understatement und eine Funktionalität, die
mit dem Protestantismus zu tun haben und mit der
Bauhaus-Ästhetik, die von Deutschland ausging. Funk-
tionalität war ja lange auch eine Stärke der deutschen
Industrie. Die für meine Arbeit zentrale Dreidimen-
sionalität kommt eher aus der frühen Beschäftigung
mit Kunst und Bildhauerei. Die Stoffrecherche und
-entwicklung, mit denen für mich der kreative Prozess
beginnt, stehen möglicherweise auch in der Tradition
der typisch deutschen Wesenssuche, wenn man an die
Alchemisten denkt oder auch die Dresdener Erfindung
des weißen Goldes.
Mein Interesse für Stoffentwicklung wurde durch die
Farbwerke Höchst geweckt, die mich einluden, aus der
neuen Kunstfaser Trevira eine Kollektion zu entwickeln.
Sie kannten mich schon als Moderedakteurin. Ich war
mit meinen Shootings nicht zufrieden gewesen und
35
hatte den Herstellern wiederholt Verbesserungsvor-
schläge gemacht.
Deutschland nach dem Krieg war eine kulturelle
Wüste in jeder Beziehung. Haben Sie Kindheitserin-
nerungen aus dieser Zeit?
Für mich als Kind war die materielle Wüste ein Aben-
teuer. Wenn wir ins Badehaus wollten, mussten wir
durch Trümmerwände, an Schweißereien und auch an
einer Schokoladenfabrik vorbei außer Haus gehen.
Kulturell habe ich vor allem den Erneuerungsprozess
stark empfunden, der um mich herum vor sich ging.
Hat die norddeutsche Landschaft etwas zu tun mit
Ihrer Ästhetik? Waren Sie ein Naturkind?
Ich bin in der Stadt groß geworden. Deshalb waren es
weniger die Landschaft als das Klima und das kompro-
misslose nördliche Licht, das mich beeinflusst haben.
In Hamburg ist auch der geringste Makel an einem
Stoff sichtbar. Das war ein Grund, warum ich lange vor
Farben zurückgeschreckt bin. Eine Schülerin der Natur
bin ich insofern, als ich die Menschen nicht verkleiden
und dekorieren, sondern ihre authentische Ausstrah-
lung zur Geltung bringen will.
Sie waren Anfang der Sechziger zwei Jahre lang als
Austauschschülerin in Los Angeles – was hat Sie diese
Stadt damals gelehrt?
Das Leben in Kalifornien war viel ungezwungener. Das
Klima verleiht dem Körpergefühl einen anderen Stellen-
wert. Man genießt Wind und Sonne, und dieser Sinn
für das Elementare überträgt sich auch auf die Klei-
dung. Wenn meine Schnitte den Körper durch Pro-
portion, Plastizität und Stofflichkeit idealisieren,
dann sind sie vielleicht auch von Kalifornien und den
Menschen dort beseelt.
Wie entstand die erste Vision, die Urfassung des welt-
berühmten Jil-Sander-Stils?
Mein Grundgedanke war zu modernisieren. Wir haben
14 Tage an einer Hose gebastelt und Kleider für Frauen
entworfen, die keine Kleider mögen. Ursprünglich
wollte ich nur für mich selbst als Unternehmerin Klei-
dung entwerfen, in der ich sicher auftreten konnte und
nicht durch übertriebene Weiblichkeit behindert wur-
de. Meine Mutter hat, als ich Kind war, Kleider für
mich genäht und an mir abgesteckt. Vielleicht kommt
daher meine Methode, am eigenen Körper und dem
von Models zu fitten. Anfangs war ich von englischen
Herrenstoffen inspiriert, die ich in London bewundert
habe. Ich wollte die Männermode nicht kopieren, aber
sie hat mir einen Fantasieraum dafür eröffnet, was für
Frauen möglich ist. Ich habe mich nach innovativen
Stoffen mit Struktur und Formvermögen umgesehen
und fand sie in Italien – oder entwickelte sie dort mit
den Webern. Die Eigenschaften dieser Stoffe haben mir
kreativ weitergeholfen. Ich kann einem Stoff anfühlen,
was sich mit ihm machen lässt. Ich bin auf der Suche
nach interessanten Stoffen früh in Indien gewesen, wo
36

»Ich wollte
Kleidung
entwerfen,
in der
ich sicher
auftreten
konnte und
nicht durch
übertriebene
Weiblichkeit
behindert
wurde«
37
38
ich die besten Baumwollen kennengelernt habe. Aus
Indien habe ich das Ideal der Leichtigkeit und Taktilität
mitgenommen.
Können Sie noch den Moment benennen, als Sie
wussten: Jetzt hat es die Welt begriffen, was ich meine?
Es gab immer wieder Momente, vor allem zu Beginn
der Neunziger, als wir an die Börse gingen, in denen ich
dachte, jetzt hat die Mode die Modernität eingeholt,
die in Industrie, in der Kunst und Architektur so selbst-
verständlich war. Aber es gab genauso viele Rückschläge.
Ich vermute, dass die Mode zyklisch bleibt und auch in
Zukunft vergangene Stile recycelt.
Ihre Durchbruch-Kollektion ...
Jil Sander hat sich kontinuierlich entwickelt, aber der
Durchbruch kam in den Neunzigerjahren in Amerika.
Als alle bunt, schrill, breitschultrig daherkamen,
setzten Sie auf puren Stil und Schlichtheit: Gab es da
nie einen Moment, in dem Sie auch gern bunt und
laut designt hätten?
Als ich nach einer Auszeit zu Jil Sander zurückgekehrt
bin, war ich von Künstlern wie Agnes Martin und
Alighiero Boetti inspiriert und offen für Drucke und
Dekoration, nur eben auf meine Art. Ich habe auch
Rüschen gemacht. Nur hatten sie eher ein technisches
und kein romantisches Flair. Laute Mode ist nicht
meine Sache. Meine Entwürfe kommen leise daher und
werden langsam lauter.
Sie haben in Wien an der Universität für angewandte
Kunst Design unterrichtet: Was sollten die Studieren-
den von Ihnen lernen?
Wien war damals noch sehr östlich. Ich habe mit
50 Studierenden eine Kollektion entwickelt. Sie sollten
über Inhalte und Formen nachdenken.
Lässt sich der modische Stil Jil Sanders auch auf
andere Bereiche übertragen?
Ich habe meine Vision ja selbst auf andere Bereiche
übertragen, vor allem aufs Produktdesign und die Ar-
chitektur der Flagshipstores. Und ich merke, dass sich
meine Prinzipien in allem wiederfinden können, auch
in einer einfachen Küche, wenn sie aus hochwertigen
Materialien besteht.
Gibt es Ihren Stil auch als Umgangsform der Men-
schen untereinander?
Ich glaube, dass es der Umgang mit meinem Team war,
der es ermöglicht hat, Jil Sander zu einer globalen Marke
zu machen. Er beruhte zum einen auf dem Gefühl
meiner Mission. Ich wollte immer alle mitnehmen und
verstehen lassen, worum es mir geht. Das hat der Vision
viel Kraft verliehen. Außerdem habe ich mich von jeher,
auch im zwischenmenschlichen Umgang, der Zen-
Ruhe verbunden gefühlt, die vermittelnd und deeska-
lierend wirkt. Ich habe auf konstruktive Beziehungen
gesetzt und destruktive Impulse ferngehalten.
Was ist der Jil-Sander-Stil übertragen auf andere
Bereiche – Literatur, Kunst, Musik?
Wie eine Frau zu
einer Marke wurde
Mit gerade mal 24 Jahren
verkauft Jil Sander 1968 ihr Auto,
um das nötige Eigenkapital für
einen Kredit zu bekommen:
Mit 200.000 D-Mark von der
Dresdner Bank eröffnet sie eine
Boutique für Designermode in
Hamburg-Pöseldorf. 1973 folgt
ihre erste Kollektion, wieder fünf
Jahre später kommen »Jil Sander
Cosmetics« auf den Markt.
Jil Sander ist jetzt ein international
erfolgreiches Modelabel und ein
Gesicht, das die ganze Welt
kennt – als Werbeikone des
eigenen Parfums. 1989 geht
Jil Sander an die Börse, mit dem
neuen Kapital eröffnet sie Flag-
shipstores auf der ganzen Welt,
von San Francisco bis Tokio. 1997
folgt die erste Männerkollektion,
1999 ein Joint Venture mit Prada,
das im Unfrieden endet. 2000
verlässt Jil Sander das eigene
Label, kehrt 2003 nochmals für
zwei Jahre als Kreativdirektorin
zurück. Wieder scheitert die
Zusammenarbeit mit Prada an
Sanders Kompromisslosigkeit.
Von 2009 bis 2011 kreiert sie »+J«
für den japanischen Mode­konzern
Uniqlo. 2012 kehrt sie noch ein-
mal zurück zu Jil Sander, wieder
als Kreativdirektorin. Ein Jahr
später tritt sie aus
privaten Gründen zurück.
39
40
 41

»Meine Entwürfe kommen leise

daher und werden langsam lauter«
42

Ich habe für alle kreative Arbeit Sympathie, die mit
ihrem Material umzugehen versteht und Authentizität
in einer eigenwilligen Form sucht. In der bildenden
Fotos: Anzugdetail: Paul Warchol (MAK Exhibition 2017) S. 39; Jil Sanders privater Garten: Foto Ariadne Ahrens S. 40; Jil-Sander-Showroom Mailand: Paul Warchol (2000) S. 41; Craig McDean (Model: Amber Valetta) S. 42
Kunst habe ich mich besonders für den Minimalismus
interessiert, insofern er durch Konzentration und Re-
duktion Energie generiert hat. Aber ich habe mich auch
vielen Architekten und Fotografen nahe gefühlt und es
genossen, gemeinsam etwas zu gestalten.
Der Jil-Sander-Stil war stets auch eine Philosophie –
für welche Frauen haben Sie Ihre Mode entworfen?
Für alle Frauen. Mein fast pädagogisches Ziel ist es, den
Frauen zu zeigen, wie selbstbewusst und durchset-
zungsfähig sie sein können, wenn die Kleidung sie
nicht unter den Scheffel stellt.
Gibt es heute Frauen, die Sie gern in Ihren Entwürfen
sehen würden?
Die selbstständige, selbstbewusste Frau.
Sehr erfolgreich war in den Neunzigerjahren Ihre
Männermode: Alle klugen jungen Männer in meiner
Umgebung trugen Jil Sander oder wenigstens Ihren
Stil. Welchen Mann sehen Sie heute und denken: Das
wäre ein Jil-Sander-Mann?
Bei meinen Model-Castings habe ich keinen bestimm-
ten Typ gesucht, nur Charakter und Eigenwilligkeit.
Jil Sander war auch revolutionär im Auflösen der
Gender-Grenzen. Man konnte bei Ihren Looks früh
von unisex sprechen. War Ihnen das damals bewusst?
Ich wollte vor allem Frauen durch Kleidung dieselbe
Haltung ermöglichen, die Männer seit 200 Jahren
ganz selbstverständlich kultiviert haben. Insofern habe
ich zunächst Frauen geholfen, sich den modernen
Kleidungscode des Understatements anzueignen und
Funktionalität zu schätzen. Dass diese Gratwanderung
sich dann auch auf meine Herrenmode ausgewirkt hat,
kam ganz von selbst. Ich habe im reduzierten Stil nicht
das Maskuline, sondern eine zeitgemäße Eleganz ge-
sehen. Das hat die Männermode vielleicht subtiler
aussehen lassen.
Sie haben sich immer für eine herausragende Qualität
Ihrer Materialien eingesetzt und dann für die Mode-
kette Uniqlo designt. Wie konnten Sie Ihre Standards
dort durchsetzen?
Das war ein Kampf und wieder ein pädagogischer
Auftrag. Aber Herr Yanai von Uniqlo hat die Chance in
unserer Kooperation erkannt und sich von uns inspi-
rieren lassen. Seither ist Uniqlo global exponentiell
Neue Mode ist nicht lange neu, sie altert schnell. Jil Sander scheint dieses Gesetz aufzuheben: Ihr Stil wirkt gleichzeitig modern und
zeitlos. Die Jahre können ihm nichts anhaben. Die Fotos von Seite 36 und 37 stammen aus dem Jahr 1996, fotografiert von Craig
McDean. Das Bild auf Seite 38 und 39 wurde in der Jil-Sander-Ausstellung »Präsens« 2017 gezeigt. Seite 40: ihr privater Garten,
fotografiert von Ariadne Ahrens. Seite 41: der Showroom in Mailand. Der Kamelhaarmantel auf Seite 42, getragen von Amber Valetta,
wurde 1996 fotografiert. Das ZEIT WISSEN-Cover zeigt Linda Evangelista, fotografiert 1993 von Peter Lindbergh
43
gewachsen. Man muss auch hervorheben, dass die Ja-
paner die Herausforderung angenommen und einen
demokratischen Preis ermöglicht haben, den es für
diese Qualität bis dahin nicht gegeben hatte.
Als Studentin in Hamburg habe ich Sie manchmal in
Ihrem Rolls-Royce vorbeifahren sehen – was hat die-
ser Wagen damals für Sie bedeutet?
Ich komme aus einer Auto-Familie und bin an der Ent-
wicklung und dem Design von Autos sehr interessiert.
Ich erkenne jede Chassis-Kopie. Die Autoindustrie war
in meiner Jugend die Avantgarde. Englische Autos ha-
ben mich begeistert, besonders ihre eleganten Türgriffe.
Und heute? Tesla oder Porsche?
Porsche überzeugt mich immer noch durch Qualität.
Krieg, Klimakrise, künstliche Intelligenz – unsere
Welt verändert sich gerade in Rekordgeschwindig-
keit. Mit welchen Gedanken würde sich Jil Sander
heute daran machen, eine Kollektion zu entwerfen?
Das sind große Herausforderungen, die Flexibilität und
die Fähigkeit zur Neuorientierung von uns verlangen.
Es ist schon sehr viel, wenn es uns gelingt, die Natur in
die demokratische Vision einzubeziehen und die Mehr-
heit zu einer einmaligen Anstrengung des Umbaus bei
laufendem Motor zu motivieren.
Wenn ich den Überfluss sehe, der sich in den letzten
Jahrzehnten in der Wohlstandswelt angesammelt hat,
sind meine Prinzipien nicht ganz falsch gewesen. Masse
macht unglücklich, weniger ist mehr: Ein durchdachtes
Kleidungsstück kann zehn ersetzen, wenn es von bester
Qualität, funktional und attraktiv gestaltet ist.
Kann man den schönen Umgang mit Menschen und
Dingen lernen?
Wir Menschen erziehen uns beständig untereinander.
Ein angemessener Umgang übersetzt sich sofort in
Entgegenkommen und Hilfsbereitschaft. Wir werden
belohnt, wenn wir es richtig angehen, das habe ich in
meiner Karriere immer wieder erfahren.
Würden Sie sich als einen glücklichen Menschen
bezeichnen?
Ja. Ich habe das Glück, dass mir viele Menschen helfen
und geholfen haben.
Lisa Feldmann war Chefredakteurin internationaler Lifestyle-
Magazine und ist Jil Sander immer wieder begegnet. Nach
ihrem ersten Interview mit der Designerin leistete sie sich einen
Wildleder-Blouson, den sie bis heute regelmäßig trägt.
44
Die klügste
Ampel der Welt
Nein, nicht die Regierungskoalition. Hier geht es um
Lichtsignalanlagen. Die sind gefühlt dauernd rot. Können
die das nicht besser? Doch! Eine Vier-Städte-Tour
Text Max Rauner  Illustrationen Studio Pong
B
remen – Am Eingang der Messehallen wer­
den Blasenpflaster verschenkt. Es ist ein
Dienstag im April, und die Stadt Bremen
hat zum Deutschen Fußverkehrskongress
geladen. Mehr als 400 Menschen sind gekommen, Ju­
ristinnen, Architektinnen, Stadtplaner, die Zivilgesell­
schaft. Gastgeberin ist Maike Schaefer, grün, im April
noch Senatorin für Klimaschutz und Verkehr. Die Teil­
nehmenden wollen über lebenswerte Städte reden.
Größtes Hindernis: der Verkehr. Mittendrin: die Am­
pel. Nicht die politische Ampel, sondern die Licht­
signal­anla­ge, wie sie im Behördendeutsch heißt.
Ampeln sollen den Verkehr sicherer machen, aber
alle fühlen sich ungerecht behandelt. Fußgänger
schimpfen über »Bettelampeln«, bei denen sie Grün per
Taster anfordern müssen. Radfahrende fürchten abbie­
gende Lkw, mit denen sie gleichzeitig Grün haben,
Autofahrer regen sich über »rote Wellen« auf.
Wer jeden Tag fünf Minuten an einer Ampel
wartet und 80 Jahre alt wird, steht 100 Tage vor Rot.
Ampeln sind stumme Stellvertreter der Verkehrspolitik.
Wenn sie Ohren hätten, müssten sie eine Menge Hate-
Speech ertragen. Ohne Ampeln geht es nicht, klar. Aber
geht es nicht irgendwie besser?
Bremen erprobt gerade eine neue Technik: Wer zu
Fuß unterwegs ist, muss an einigen Kreuzungen keinen
Taster mehr berühren, sondern wird von Weitem durch
einen Sensor erkannt und bekommt schneller Grün.
»Von solchen innovativen Ideen brauchen wir mehr«,
sagt Senatorin Schaefer in Bremen. Es ist ein kleiner
Schritt im großen Drama namens Stadtverkehr.
Im Foyer der Messehallen steht ein Mann mit
weißen Haaren, Roland Stimpel von Fuß e. V., Stadt­
planer und Journalist, seit 2019 im Vereinsvorstand. Er
sagt: »Ampeln sind keine sichere Veranstaltung. Von
allen Fußgängern, die an Ampeln zu Schaden kommen,
hatten zwei Drittel Grün.« Ampeln seien so geschaltet,
dass man oft von Abbiegern gerammt werde. Oder von
Autos, die in die blockierte Kreuzung reingefahren sind
und dann weiterfahren, wenn die Fußgänger längst
wieder Grün haben.
Man könne Ampeln sicherer machen, sagt Stimpel,
indem alle Fußgänger auf einmal Grün haben, während
alle Autos warten müssen. Er schwärmt von einer be­
rühmten Kreuzung in Tokio, die so funktioniert. Warum
geht das in Deutschland nicht?
Die Fachleute richten sich hierzulande nach einem
92-seitigen DIN-A4-Heft: den Richtlinien für Licht­
signal­anla­gen, von allen nur Rilsa genannt. Darin steht
zum Beispiel, dass die »Umlaufzeit« – die Zeitspanne, in
der sich das Schaltprogramm wiederholt – zwischen 30
und 120 Sekunden betragen darf. Die Grünphase für
den Fußverkehr darf fünf Sekunden kurz sein. Als Geh­
geschwindigkeit können Stadtplaner bis zu 5,4 km/h
ansetzen – sportliches Wandertempo.
Die Formeln, Tabellen und Weg-Zeit-Diagramme
in der Rilsa erwecken den Anschein, als wären Ampel­
schaltungen Naturgesetze. In Wirklichkeit spiegeln sie
eine bestimmte Weltsicht, nämlich die Sicht der For­
schungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen,
Arbeitsausschuss »Verkehrsbeeinflussung innerorts«, 35
Männer und drei Frauen, alle mit Ingenieurs-Diplom,
Doktortitel oder Professur. »Das wird total techno­
kratisch gehandhabt«, schimpft Roland Stimpel. »Da ist
kein Mensch dabei, der Behinderte vertritt oder die
Sichtweise von Senioren hat oder eine ökologische
Sichtweise. Das dominierende Ziel ist, Fahrverkehr
sicher über die Kreuzung zu bekommen.«

Berlin – Treffpunkt vor dem Haupt-
bahnhof. Christian Haegele sei an der
gelben Signalkleidung zu erkennen,
hatte die Sprecherin der Verkehrsbe-
hörde geschrieben. Es ist der letzte
Dienstag im April, keine Klimakleber
am Boden, alles fließt. Bei den Fahrrad-
ständern wartet ein Mann wie ein Text-
marker. Das muss er sein.
Christian Haegele leitet in der Berliner
Senatsverwaltung die Abteilung für Verkehrs-
management. 150 Fachleute kümmern sich hier
um Fahrbahnmarkierungen, die Verkehrsführung an
Baustellen – und um 2148 Ampelkreuzungen, von der
einfachen Fußgängerampel bis zum Megaknoten Dan-
ziger Straße/Landsberger Allee mit 55 Verkehrsströmen
und 21 Ampelmasten. Während der Pandemie hat
Haegele Deutschlands ersten Pop-up-Fahrrad-
weg angeordnet. Zuvor leitete er sieben Jahre
lang die Bußgeldstelle der Polizei und führte
dort ec-Karten-Lesegeräte ein, damit Ver-
kehrssünder direkt bezahlen können. Er
probiert gerne mal was Neues.
An diesem Tag soll es mit dem Rad
zu drei Kreuzungen gehen. Berlin be-
treibt seine Ampeln seit Anfang des
Jahres über ein landeseigenes Unter-
nehmen wieder selbst, zuvor war der
Betrieb outgesourct. Was hat er vor?
Erster Halt: Brunnenstraße/An-
klamer Straße, Hauptstraße kreuzt Ne-
benstraße. Eigentlich unkompliziert,
trotzdem gibt es Ärger. Die Fußgänger-
ampel zeigt neun Sekunden Grün. Kinder
und ältere Menschen schaffen es in dieser
Zeit selten über die vier Spuren. Das müssen
sie auch nicht. Laut Rilsa sollen sie in dieser Zeit
nur die Hälfte der Straße überquert haben, Berlin
rechnet großzügiger mit zwei Dritteln. Wenn die Ampel
auf Rot schaltet, bleibt noch die sogenannte Räumzeit,
in der die Autos weiterhin Rot haben. Doch für Fuß-
gänger ist Räumzeit gleich Stresszeit. Roland Stimpel
vom Fuß-Verein spricht von kommunikativer
Idiotie: »Im Kindergarten wird gepredigt: Bei
Rot sollst du stehen, bei Grün darfst du gehen.
Wenn du aber mitten auf der Straße bist,
heißt es: Bei Rot sollst du weiterlaufen.«
Christian Haegele hat sich für diese
Kreuzung etwas ausgedacht: Wenn die
Fußgängerampel auf Rot schaltet,
leuchtet ein weiteres Signal auf, näm-
lich fünf Streifen, die einer nach dem
anderen erlöschen. Ein Countdown.
Der solle Sicherheit vermitteln, sagt
Haegele: »Das Signal zeigt mir: Ich
45
befinde mich ganz regulär auf der Fahrbahn und kann
meinen Weg zu Ende fortsetzen.« Andere Städte zeigen
Fußgängern einen Countdown bis zur Grünphase, aber
das überzeugt ihn nicht. »Wir zeigen lieber die Räumzeit
an, denn die ist sicherheitsrelevant.« Nach und nach will
er Berlins Ampeln umrüsten. Fehlt nur noch eine Firma,
die die Streifen-Leuchte in Serie fertigt.
Zweiter Halt, höherer Schwierigkeitsgrad: Gips-
straße/Rosenthaler Straße. Hier münden fünf Straßen
ein, auf einer fährt die Tram. Zwei Techniker haben den
grauen Kasten am Straßenrand geöffnet. Da steckt die
Elektronik drin. Mit einem Laptop führen sie vor, wel-
che Sensoren aktiv sind: Die Induktionsschleifen im
Asphalt erkennen Metall, tun sich aber mit Carbon-
Fahrrädern schwer. Die Alternative sind Kameras auf
den Masten. Sie streamen oder speichern die Aufnah-
men nicht, sondern dienen nur dazu, Fahrzeuge zu
In Berlin gibt es ein seltenes
Exemplar von Rundum-Grün.
Ist das die Zukunft? Nicht hier
erkennen. Weitere Antennen kommunizieren mit Bus-
sen und Straßenbahnen. Und dann sind da noch die
gelben Berührungstaster für Fußgänger. Sie haben oft
noch einen Taster an der Unterseite, der aber nicht die
Wartezeit verkürzt, sondern blinden Menschen durch
ein Vibrationssignal bei der Orientierung hilft.
Die Ampel folgt einem Plan, den die Behörde vor-
gibt: Die Straßenbahn soll möglichst immer Grün
haben. Autos haben bei dichtem Verkehr länger Grün.
Außerdem wird sie per Funkuhr auf eine grüne Welle
getaktet. Andere Kreuzungen in der Stadt schalten
morgens und abends unterschiedliche Programme für
den Berufsverkehr. Viel klüger sind sie trotzdem nicht.
»Wir können Ampeln nicht ferngesteuert auf Rot
stellen, wenn ungeplante Verkehrsstörungen auftreten«,
sagt Haegele. Klimakleber zum Beispiel. Oder auf
Grün, wenn irgendwo Verkehr abfließen muss. Für jede
Änderung müssen Techniker anrücken. Das macht die
Ampeln unflexibel, wappnet sie aber gegen Hacker.
Dritter Halt, Checkpoint Charlie. Ein seltenes
Exemplar von Rundumgrün, so wie in Tokio: Alle 80
Sekunden müssen Autos auf jeder Spur stehen bleiben.
Dann haben die Fußgänger Grün in alle Richtungen
und dürfen auch diagonal queren. Doch nur wenige
nutzen die Möglichkeit. Und viele Menschen gehen bei
Rot, wenn die Autos in paralleler Richtung fahren
dürfen. »Wir haben hier jetzt 20 Jahre Pilotbetrieb«, sagt
Christian Haegele, »das Konzept wird nicht angenom-
men.« Bei nächster Gelegenheit will er die Kreuzung
umstellen lassen auf herkömmlichen Betrieb.
46
Hamburg. Wer im Stadtteil Eimsbüttel am Kaiser-
Friedrich-Ufer entlangspaziert, erreicht irgendwann
eine einfache Ampel, die den Fuß- und Radverkehr
über eine zweispurige Straße führt. Der Asphalt ist so
flach, wie der Norden nur sein kann, aber hier findet
eine Gratwanderung politischer Natur statt. Die Be-
hörde für Verkehr und Mobilitätswende, geleitet von
Anjes Tjarks, grün, hat an diesem Übergang Ende 2022
die Ampelschaltung geändert.
Zuvor war dies eine Bettelampel für den Fuß- und
Radverkehr. Wer hinüberwollte, musste also einen Tas-
ter betätigen. 7000 Menschen queren den Übergang
tagsüber zu Fuß oder mit dem Rad. Nun jedoch zeigt
die Ampel für sie Dauergrün. Erst wenn Autos davor
halten – rund 6000 pro Tag – und von der Videokamera
detektiert werden, bekommen sie nach einigen Sekunden
Grün. PrioBike heißt das Pilotprojekt.
In Hamburg steht neuerdings
eine Bettelampel für Autos.
Gemeinheit oder Gerechtigkeit?
Die Bettelampel für Autos – wertfreier Begriff:
Umkehr der Priorisierung – sorgte bundesweit für
Schlagzeilen. Die Hamburger CDU erkundigte sich
prompt in einer Anfrage an den Senat nach den Kosten
(Antwort: Die Schlussrechnung liegt noch nicht vor)
und ob jetzt noch mehr Kreuzungen umpriorisiert wer-
den (drei Kreuzungen sind geplant). Will der Verkehrs-
senator die Autos vergraulen?
Anjes Tjarks ist unverkennbar ein Fahrradfreund.
In seiner Behörde stehen Fahrrad-Exponate wie kleine
Denkmäler, und zu Terminen radelt er gern selbst durch
die Stadt. Zur neuen Priorisierung am Kaiser-Friedrich-
Ufer sagt er: »Der Autoverkehr wird dadurch nicht be-
einträchtigt.« Das zeige eine unabhängige Auswertung
im Auftrag der Stadt: Vor der Neuprogrammierung
zeigte die Ampel tagsüber insgesamt knapp zwölf Stun-
den Grün für Autos und zwei Stunden Grün für den
Fuß- und Radverkehr. Seit der Umstellung haben beide
Seiten jeweils fünf bis sechs Stunden Grün am Tag. Die
mittlere Grünzeit des Fuß- und Radverkehrs verlänger-
te sich von 9 auf 17 Sekunden, die für den Kfz-Verkehr
schrumpfte von 50 auf 12 Sekunden. Trotzdem verän-
derten sich die Reisezeiten für den Kfz-Verkehr nicht
signifikant. Und bei höherem Kfz-Aufkommen schaltet
die Ampel für den Autoverkehr wieder länger aus Grün.
»Es gibt keine Verlierer an dieser Stelle, wir haben die
Ampelschaltung der tatsächlichen Verkehrsnutzung vor
Ort angepasst«, sagt Tjarks. »Man sieht hier nur, wie
ideologisch das System der Ampelprogrammierung in
Deutschland aktuell aufgestellt ist.«
Tatsächlich sagt die Aufregung einiges über die
deutsche Verkehrspolitik und die Normenhierarchie
des Straßenverkehrsrechts. Ganz oben steht das
Straßenverkehrsgesetz StVG. Es ist so etwas wie
das Grundgesetz des Straßenverkehrs und die
Rechtsgrundlage für die Straßenverkehrs-
ordnung StVO. Auf dieser wiederum ba-
siert die Verwaltungsvorschrift VwV-StVO,
die ihrerseits auf zahlreiche untergeordnete
Richtlinien verweist, darunter die Rilsa.
Die obersten Ziele des Straßenver-
kehrsrechts sind die Sicherheit und die
Flüssigkeit des Verkehrs. Das klingt erst mal
vernünftig, hat aber weitreichende Folgen.
»De facto orientiert sich das Straßenver-
kehrsrecht am Auto«, sagt die Juristin Mi-
riam Dross vom Umweltbundesamt, sie
leitet die Abteilung Nachhaltige Mobilität
in Stadt und Land. Denn Flüssigkeit heißt:
Der Verkehr muss fließen. Und Autos ha-
ben den größten Flächenbedarf. Deshalb
müsse für sie der meiste Platz zur Verfügung
gestellt werden. Und die meiste Zeit. Zehn
Autos brauchen längere Grünphasen als
zehn Radfahrer oder Fußgänger. Vor allem
Paragraf 45 StVO Absatz 9 verhindere die
Verkehrswende, sagt Dross. Da steht: »Beschränkungen
und Verbote des fließenden Verkehrs dürfen nur an-
geordnet werden, wenn auf Grund der besonderen
örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht.«
Pop-up-Fahrradwege, Busspuren und Tempo-30-
Zonen wurden bereits erfolgreich vor Gericht angefoch-
ten, weil sie den Autoverkehr einschränkten. Die Würde
des Autos ist unantastbar – so interpretieren viele Ge-
richte das Straßenverkehrsrecht. Auch Ampelschaltun-
gen richten sich nach den Bedürfnissen der Autofahren-
den und nicht danach, ob Ältere oder Behinderte die
Straße queren müssen, sagt Miriam Dross. Ihre For-
derung: »Paragraf 45 Absatz 9 sollte man ersatzlos
streichen, sonst gibt es keine Verkehrswende.«
Wer Ampelschaltungen zugunsten des Umweltver-
bunds (Rad, Fuß, ÖPNV) ändern will, muss aber ganz
oben ansetzen. Die Ampelregierung im Bund hat sich
das vorgenommen. Im Koalitionsvertrag hat sie verein-
bart, dass StVO und StVG angepasst werden. Und zwar
so, »dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Ver-
kehrs die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der
Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung be-
rücksichtigt werden«. Janna Aljets vom Thinktank
Agora Verkehrswende spricht von einer »historisch ein-
maligen Chance«. Sie sagt: »Der jetzige Rechtsrahmen
hatte einmal die Funktion, den Autoverkehr zu regulieren
und voranzubringen. Freie Fahrt für freie Bürger, das
war das Ideal der autogerechten Stadt. Aber die Zeiten
haben sich geändert.«

In den Hinterzimmern wird nun um Formulierungen
gefeilscht. Die FDP möchte die neuen Ziele nur als
nachrangige Ziele in die StVO aufnehmen. Fließender
Verkehr vor Umweltschutz. SPD und Grüne wünschen
sie sich als gleichberechtigte Ziele. Aljets sagt, Stand
Anfang Juni: »Aus gut informierten Kreisen wissen wir,
dass der erste Vorschlag aus dem Bundesverkehrsmi-
nisterium zu einem neuen StVG unzureichend war und
dem Koalitionsvertrag nicht entsprechen würde.«
Deventer. Die mutmaßlich klügsten Ampeln der Welt
stehen in den Niederlanden. Talking Traffic heißt das
Programm, mit dem die Regierung seit 2018 die große
Vernetzung vorantreibt. Im ganzen Land gibt es 5500
Ampelkreuzungen, von denen bereits rund 1800 ihre
Daten live an eine Plattform der obersten Verkehrsbe-
hörde streamen. Hinzu kommen anonymisierte Stand-
ortdaten von neueren Autos, Lkw und speziellen Apps
für den Radverkehr. Auch Krankenwagen funken ihre
Routen in die Cloud. So entsteht ein digitales Spiegel-
bild des Verkehrsgeschehens in Echtzeit.
Städte können mit Industriepartnern auf die Daten
zugreifen, um ihren Verkehr zu steuern. Am weitesten
fortgeschritten ist Deventer. Alle 52 Ampelkreuzungen
in der Stadt werden von Algorithmen ferngesteuert. Sie
spulen keine 90-Sekunden-Routine ab, sondern rea-
gieren auf die jeweilige Verkehrssituation. Es gibt kein
System. Es herrscht gezähmte Anarchie.
Im Rathaus ist Leon van Nie für die Ampeln zu-
ständig. Seine »Verkehrszentrale« besteht aus nur zwei
Bildschirmen. Er kann von hier aus in alle Kreuzungen
reinzoomen und live beobachten, wie die einzelnen
Spuren ihren scheinbar chaotischen Rot-gelb-grün-
Tanz aufführen. Das Besondere daran
sieht man nicht: Der Algorithmus
wird mit politischen Vorgaben
gefüttert. Die Steuerung funk-
tioniert wie ein Spiel: Fuß-
gänger, Fahrräder, Busse, Lkw,
Autos und Einsatzfahrzeuge
erhalten je nach Kreuzung un-
terschiedliche Prioritätspunkte.
An einem typischen Innenstadt-
knoten bekommen Autos einen
Punkt, ein Fahrrad zwei Punkte,
Fußgänger vier. Je mehr Punkte,
desto wahrscheinlicher schaltet
die jeweilige Spur auf Grün.
Erreichen zum Beispiel ein
Auto, eine Fußgängerin und
ein Radfahrer gleichzeitig die
Kreuzung, bekommt als Erstes
die Fußgängerin grün, dann
das Fahrrad, dann das Auto.
Kommen sie zeitversetzt, er-
47
höht sich die jeweilige Punktzahl, je länger man bei Rot
steht. Ein verspäteter Bus hat eine höhere Punktzahl
(70) als ein pünktlicher (40) oder ein verfrühter (3). An
Ampeln in Gewerbegebieten haben Lastwagen mehr
Gewicht. Ein Krankenwagen hat 4000 Punkte. Er
gewinnt immer. Flowtack heißt das System.
Als sie die Ampeln 2018 vom festen Zyklus auf
Anarchie umschalteten, erzählt Leon van Nie, wollte die
Stadt nur erreichen, dass der Verkehr für alle besser
fließt. Das funktionierte, wie eine Auswertung für drei
Kreuzungen ergab. Die Reisezeit für den motorisierten
Durchgangsverkehr verkürzte sich um drei bis sechs
Prozent, die Wartezeit für Menschen auf dem Rad oder
zu Fuß sank je nach Richtung um 27 bis 40 Prozent, die
Wartezeit für Autos um 18 Prozent. Manche Grün-
phasen waren zu kurz und frustrierten die Autofraktion,
aber nachdem einige Punktwerte von Hand nachjustiert
wurden, war das Problem gelöst.
Der Härtetest kam an einem Sonntag im Jahr
2020, als die benachbarte Autobahn gesperrt wurde, um
eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg zu ent-
schärfen. »Normalerweise hätten wir Wochen im Voraus
Sonderpläne erstellt«, sagt van Nie. Doch an diesem Tag
saß er mit der Polizei vor den Rechnern und überließ
dem Algorithmus das Spiel. »Die Polizei musste nur eine
einzige Kreuzung übernehmen.« Test bestanden. In-
zwischen hat die Stadt entschieden, Effizienzgewinne
nicht mehr den Autos zu schenken, sondern dem ÖPNV
sowie dem Fuß- und Radverkehr.
Lässt sich das Modell auf Deutschland übertragen?
»Natürlich«, sagt Bob Randsdorp von der Unterneh-
mensberatung Royal HaskoningDHV, die Flowtack
programmiert hat. »Die Technik ist politisch neutral.
Man kann den ÖPNV priorisieren, den Radverkehr,
aber auch den motorisierten Verkehr.« Er ist mit deut-
schen Städten im Gespräch, darf aber noch nicht ver-
raten, mit wem. Kann man das System hacken? »Alles,
was digital ist, kann man theoretisch hacken«, sagt
Randsdorp. »Aber wir müssen höchste Sicherheitsstan-
dards garantieren und beobachten die Situation Tag und
Nacht.« Könnten russische Hacker alle Ampeln gleich-
zeitig auf Grün schalten? »Nein. Das können nicht mal
wir als Flowtack-Betreiber.«
Und dann gehen wir raus und fahren mit seinem
Elektroauto durch die Stadt. Hinten sitzt Leon van Nie
und aktiviert eine App, für die nur wenige Personen
autorisiert sind. Er darf sich als Krankenwagen ausge-
ben, um das System zu testen. Wie von Zauberhand
schalten alle Ampeln auf Grün, sobald wir uns nähern.
Wir surfen auf einer grünen Welle durch die Stadt. Leon
van Nie ist der Ampelgott. Grüner geht nicht. 
Max Rauner wurde im Winter beim Über-Rot-Radeln
erwischt, hat aber keinen Bußgeldbescheid bekommen. Seitdem
rätselt er, ob es an seiner Begründung lag (»Mir war so kalt«).
48
 49

»Wie leicht und schön

ist es doch, sich nicht
hassen zu müssen«
Zwei Staaten führen über Generationen Kriege mit
Millionen Toten – und dann geschieht ein Wunder.
Hélène ­Miard-Delacroix erforscht eine Freundschaft
Interview Niels Boeing und Tobias Hürter  Fotos Roderick Aichinger

A
ls »typische Französin« Frau ­Professorin Miard-Delacroix, wann Sie haben dann Germanistik und Ge-
könne sie nicht spre- sind Sie das erste Mal mit Deutschland in schichte studiert.
chen, warnt Hélène­Berührung gekommen? Als ich 1977 mein Abitur gemacht habe,
Miard-Delacroix, als wir Das war in Frankreich. (lacht) Und zwar an prägte die Rote Armee Fraktion die deut-
uns für dieses Gespräch einem Strand in der Bretagne, wo wir Ur- sche Politik. Das war eine extreme Heraus-
verabreden. Dafür stehe laub machten. Nebenan lag eine deutsche forderung für Deutschland. Deshalb wollte
sie zu sehr zwischen der französischen und Familie, ihre Tochter war im selben Alter ich mich unbedingt sowohl mit der Ge-
der deutschen Kultur. Aber gerade deshalb wie ich, neun Jahre. Wir haben angefangen schichte als auch mit der Gegenwart
versteht sie die deutsch-französische Ge- zu spielen, und die Eltern haben angefan- Deutschlands auseinandersetzen.
schichte besonders gut. Die Beziehung gen, miteinander zu reden. So ist der Kon- Sie haben auch in Deutschland studiert?
zwischen den Nationen ist das Forschungs- takt entstanden. Ich war dann einige Male Ja, in Freiburg, aber viele meiner Freun-
gebiet der Historikerin – und ein wichtiges bei der Familie zu Besuch und habe, noch dinnen und Freunde studierten damals in
Thema in ihrer Biografie. Sie ist Professorin bevor ich in der sechsten Klasse Deutsch als München, das war einfach cool. Ich emp-
an der Sorbonne in Paris und arbeitet der- erste Fremdsprache bekam, angefangen, fand das Studentenleben in Deutschland als
zeit als Gastwissenschaftlerin am Institut Deutsch zu sprechen. Ich wollte ja mit den etwas entspannter als in Frankreich. Das
für Zeitgeschichte München. Kindern spielen und lachen können. war 1982. Zu der Zeit gab es die großen
Auf der Theresienwiese in München Ist Ihnen damals etwas Besonderes auf- Demonstrationen gegen die Stationierung
erinnert die 18 Meter hohe Statue der Ba- gefallen, bei dem Sie dachten: Das ist der Mittelstreckenraketen. Das waren
varia an eine kriegerische Vergangenheit. anders als bei uns in Frankreich? Themen, über die Deutsche und Franzosen
König Ludwig I. von Bayern ließ sie im Für mich war die erste Besonderheit eine auch miteinander diskutieren konnten.
Gedenken an die Siege auch deutscher Sol- Erkenntnis, die für die heutige Zeit viel- München galt damals, in den Siebziger-,
daten über Napoleon ­ errichten: In der leicht naiv klingt: Andere Menschen leben Achtzigerjahren, als die heimliche Haupt-
rechten Hand hält die Bavaria ein Schwert. mit einer anderen Sprache und können in stadt der Bundesrepublik. Wie haben Sie
170 Jahre später, nach einem halben Jahr- ihr genauso Mau-Mau spielen, Comics le- das Leben dort wahrgenommen?
hundert deutsch-französischer Freund- sen und streiten. Ich glaube, weil diese Fa- Das Essen war wirklich anders. Nicht so
schaft, wirkt sie aus der Zeit gefallen. Wie es milie ein sehr geschützter Raum war, voller wie heute, wo man überall Pasta, Pizza und
zur deutsch-französischen Freundschaft Liebe und Freude, wurde dieses Erlebnis Döner isst. Die französische Haute Cuisine
kam, das erforscht Hélène M ­ iard-Delacroix. eine Grundlage dafür, wie man ein besseres war noch nicht in Deutschland angekom-
Wir treffen sie in München. Verständnis füreinander entwickeln kann. men. Man hat sich anders gekleidet. Die
50
Die Deutschen brauchten die Franzosen, um zu
verstehen, was es bedeutet, Deutscher zu sein
Geschäfte und das Straßenbild waren an-
ders. Insofern war, glaube ich, der kulturelle
Schock damals größer. Das ist etwas, was die
jüngeren Leute heute vielleicht nicht mehr
nachvollziehen können. Heute sehen Sie in
einer Fußgängerzone in Deutschland, Ita-
lien oder Frankreich die gleichen Geschäfte,
die gleiche Werbung. Mir fiel damals auf,
dass die Menschen ein bisschen anders mit-
einander umgingen als in Frankreich.
Steifer?
Etwas steifer, ja. Damals hat man sich in
Deutschland viel weniger berührt. Heute
umarmen sich auch hier alle.
Charles de Gaulle hat am 22. Januar 1963
nach der Unterzeichnung des Élysée-Ver-
trags Konrad Adenauer demonstrativ um-
armt. Diese Umarmung war für viele
Deutsche ein Kulturschock. Aber allein
schon der Vertrag, der die deutsch-franzö-
sische Freundschaft begründete, war an
sich unerhört, nicht einmal 18 Jahre nach
dem Zweiten Weltkrieg.
Deutsche und Franzosen hatten eine lange,
blutgetränkte Geschichte der Feindschaft
hinter sich. Eine Feindschaft der militäri-
schen Auseinandersetzungen, aber auch
eine Feindschaft in der Vorstellung vom
anderen. Der Franzose wurde als Feindbild
instrumentalisiert, um sich selbst zu defi-
nieren. »Wo jeder Franzmann heißet Feind,
wo jeder Teutsche heißet Freund«, schrieb
Ernst Moritz Arndt 1813 ...
... vor der Völkerschlacht von Leipzig, bei
der Napoleons Armeen entscheidend ge-
schlagen wurden. Arndt ließ das Gedicht
auf Flugblättern an Soldaten verteilen.
Die Deutschen brauchten die Existenz des
bösen Franzosen, um zu verstehen, was es
bedeutet, Deutscher zu sein und nicht nur
Sachse oder Bayer. Umgekehrt brauchte
Frankreich die Deutschen nicht, um sich zu
definieren. Die Existenz der Nation, also
des national organisierten Zusammenle-
bens im französischen Staat, findet seine
Rechtfertigung eher im Inneren und weni-
ger im Äußeren. Trotzdem wurde die Aus-
einandersetzung und vor allem die Konkur-
renz mit dem deutschen Nachbarn ein
Verstärkungselement für den Zusammen-
halt der französischen Nation.
Wann kam der Begriff »Erbfeindschaft«
zum ersten Mal auf?
Das Wort tauchte in der Propaganda im
Rahmen des Deutsch-Französischen Krie-
ges 1870/71 auf.
Auf beiden Seiten?
Auf beiden Seiten. Denn der Kriegsbeginn
1870 ist nicht der Beginn einer Geschichte,
sondern eine scharfe Kurve in einer langen
Entwicklung. Es hatte schon immer Kriege
gegeben zwischen Deutschen und Franzo-
sen, bis dahin waren es eher die Franzosen
gewesen, die sich auf deutschem Ter­ri­to­
rium austobten. Neu war nun die Nationa­
lisierung der Kriegshandlungen, die Mobi-
lisierung der männlichen Bevölkerung, also
ihre Mobilmachung für den Krieg.
Die Mächtigen in beiden Ländern haben
diese Feindschaft also gewissermaßen
konstruiert, um ihre Nationen aufeinan-
derhetzen zu können?
Genau, das kann man belegen. Deutsch-
französische Historikerteams haben in der
Feldpost von Soldaten nach Spuren dieser
Feindschaft gesucht. Es ist auffallend, dass
das Wort »Erbfeind« nicht sehr früh auf-
taucht. Erst im Laufe der Zeit prägte dieser
von der damaligen Presse massiv befeuerte
Diskurs die Erzählung in der Bevölkerung.
Dem Deutsch-Französischen Krieg folg-
ten noch zwei Weltkriege. Drei verheeren-
de Kriege in drei Generationen mit Millio-
nen Toten auf beiden Seiten! Wie konnte
nach dem Zweiten Weltkrieg die Erbfeind-
schaft aus den Köpfen verschwinden?
Es passierte nicht von heute auf morgen,
auch nicht auf einen Schlag, als 1962 in der
Kathedrale von Reims de Gaulle und Ade-
nauer die Versöhnung beschworen. Es gab
bereits unmittelbar nach 1945 eine Bewe-
gung von unten, von Menschen, die gesagt
haben: Es reicht, so kann es nicht weiterge-
hen mit Besatzung, Demütigung, Herab-
würdigung des Nachbarn. Sonst werden wir
uns zerstören!
Der maximale Tiefpunkt war erreicht.
Genau. Man muss allerdings stets auch an
die großen Kräfte denken, die da wirkten:
Europa lag in Schutt und Asche, es musste
wieder aufgebaut werden, der Kalte Krieg
begann. Der Wiederaufbau sollte auch die
Überlegenheit des liberalen Denkens und
des Kapitalismus beweisen im Kampf um
die Deutung der Welt. Die Amerikaner ha-
ben Druck gemacht und den Deutschen
und Franzosen zu verstehen gegeben: Es
wäre gut, wenn ihr euch irgendwie verstän-
digen könnt. Und das Dritte war die Er-
kenntnis: Es ist einfacher, weniger anstren-
gend und billiger, friedlich miteinander zu
leben, als sich zu bekriegen. Das Leben in
Frieden bedeutet ein besseres Leben.
Die Zivilgesellschaft hat früh mit der Ver-
ständigung begonnen.
Ja, zum Beispiel mit den Städtepartner-
schaften. Die erste entstand 1950 zwischen
Montbéliard und Ludwigsburg.
Fünf Jahre nach Kriegsende, unglaublich!
Der Bürgermeister von Montbéliard war
selbst in einem deutschen Konzentrations-
lager gewesen. Statt auf Vergeltung zu sin-
nen, sagte er, nein, wir haben als Menschen
die Möglichkeit, etwas zu ändern. 1963
wurde das Deutsch-Französische Jugend-
werk gegründet. Sein Ziel war, die Bezie-
hungen zu normalisieren, indem Kontakte
von Jugendlichen auf einer alltäglichen
Ebene stattfinden. Denn für die meisten
hatte es bis dahin Kontakte nur durch Krieg
und Besatzung gegeben. Jetzt ging es da-
rum: Wir spielen zusammen Schach oder
Tennis, wir wandern zusammen, wir sind
zusammen kreativ. Dass man einfach
Freund miteinander ist, dass man wieder-
 51

Hélène ­Miard-Delacroix ist Professorin für Geschichte und

Kultur des zeitgenössischen Deutschlands an der Sorbonne
Université. Ihre aktuelle Forschung konzentriert sich auf die
Geschichte der Emotionen in internationalen Beziehungen.
Seit 2020 ist sie Mitglied des Senats der Leibniz-Gemeinschaft.
52
»Es hat mehrere Versuche gegeben, das Modell zu
übertragen, als Methode zur Konfliktlösung«
entdeckt, wie leicht und schön es ist, sich
nicht zu hassen und stattdessen zusammen
etwas zu unternehmen.
Es gibt beeindruckende Bilder vom Be-
such Charles de Gaulles, als der eine
Woche durch Deutschland tourte und
die Menschen ihm zujubelten. Und dann
redet er sogar auf Deutsch!
Ja, und er spricht vom großen deutschen
Volk, das heißt, er zeigt eine Form der An-
erkennung – vielleicht war das der Schlüssel
zur Freundschaft. Denn Freundschaft be-
deutet, dass man gleichwertig ist und auf
Augenhöhe miteinander spricht. Man ist
anders, unterschiedlich, spricht eine andere
Sprache, aber auf Augenhöhe. Deswegen
war es so bedeutend, dass de Gaulle sagte,
es habe keinen Sinn, die Deutschen immer
wieder nach unten zu drücken ...
... so wie es in Deutschland durch den
Versailler Vertrag nach dem Ersten Welt-
krieg empfunden wurde.
De Gaulle gab zu verstehen: Wir sind stark
genug in Frankreich, wir sind erwachsen
genug, um anzuerkennen, dass die Deut-
schen demokratisch geworden sind, dass sie
bescheiden auftreten. Das war bei de Gaulle
eine menschliche Erkenntnis. Man darf
nicht vergessen, dass das christliche Denken
die Kultur unserer Nationen geprägt hat.
Die Versöhnung, das Verzeihen war positiv
bewertet. Wenn man imstande ist, dem
anderen zu vergeben, wird man selbst besser.
Im 19. Jahrhundert beschlossen die Mäch-
tigen, Feindschaft sei gut und den eigenen
Interessen dienlich, jetzt machte man auf
Freundschaft.
Ich glaube, man vergisst heute, wie drama-
tisch diese Jahrzehnte in der Mitte des
20. Jahrhunderts gewesen sind, wie sehr die
Bevölkerungen in Mitleidenschaft gezogen
wurden. Auf der anderen Seite sollte man
nicht alles zu schnell schönreden. Nicht alle
Franzosen, nicht alle französischen Familien
wollten Kontakt haben mit Deutschen.
Und nicht alle Deutschen hatten ein Inte-
resse an Frankreich, es sei denn, sie konnten
in den Süden fahren und das schöne Leben
dort genießen. Der Tourismus war be-
kanntlich in den Sechzigerjahren für West-
deutschland eine Öffnung zur freien Welt,
ein Erlebnis der Freiheit. Wahrscheinlich
hat Frankreich für viele Westdeutsche diese
Rolle gehabt.
Das Fernsehen brachte das andere Land
direkt ins Wohnzimmer. In Deutschland
waren für die Generation X Louis de Funès
oder Brigitte Bardot bekannte Gesichter.
Da haben Sie völlig recht, die Medien haben
eine große Rolle gespielt. Auch wenn das
Klischees verstärkt hat. Meine Mutter
schaute Fernsehen und sagte einmal: »J’ai
vu Tattórte«, und ich dachte, was ist denn
Tattórte?! Das war der Tatort. (lacht) Den
hat sie sich als ältere Dame im Fernsehen
angeschaut und damit irgendwie auch ein
Stück Deutschland aufgesogen.
Was können andere Länder von der
deutsch-französischen Freundschaft lernen?
Es hat mehrere Versuche gegeben, das
Modell zu übertragen, als Methode zur
Konfliktlösung und Befriedung von Gesell-
schaften. Das hat Deutschland mit Polen
und der Tschechischen Republik versucht,
aber das funktioniert im ost-west-europäi-
schen Verhältnis nicht so leicht, vielleicht
weil die gleiche Augenhöhe nicht gegeben
ist. Von Polen aus wirkt die deutsch-pol-
nische Freundschaft noch ein bisschen von
oben herab seitens der Deutschen. Deswe-
gen habe ich betont, wie wichtig es war,
dass Frankreich den Deutschen auf Augen-
höhe begegnet ist.
Und in anderen Teilen der Welt?
Auch in Asien gab es Versuche, dieses
Know-how zu importieren, etwa zwischen
China, Japan, Korea. Allerdings ist dort das
Eingestehen eigener Fehler selbst zum
Zweck der Aussöhnung nicht so positiv
besetzt. Vielleicht spielt die christliche
Vorstellung von der Anerkennung der ei-
genen Schuld eine nicht unerhebliche Rolle
im deutsch-französischen Fall.
Könnte das zwischen der Ukraine und
Russland funktionieren?
Ich glaube, eine der Besonderheiten im
deutsch-französischen Verhältnis ist, dass
man zugleich Nachbar, aber voneinander
getrennt ist; die Sprache ist eine andere, die
Vorgeschichte ist eine andere. Russland
und die Ukraine haben eine gemeinsame
Geschichte. Während die gemeinsame Ge-
schichte der Franzosen und Deutschen eine
von Trennung und Gegensatz ist, war die
Ukraine ein Teil der von Russland geprägten
Sowjetunion. Beide sind viel stärker mitei-
nander verflochten.
Die gegenwärtige Beziehung von Frank-
reich und Deutschland ist geprägt von
Tugenden, die auch zwischen Menschen
wichtig sind: Respekt oder Versöhnlich-
keit. Sollten sich auch Staatslenker diese
Tugenden öfter vor Augen führen?
Die menschlichen Beziehungen können
auf jeden Fall Inspiration sein. Wir alle sind
verantwortlich für das, was aus unserer Be-
ziehung wird.
In den Medien werden Beziehungen zwi-
schen Staaten gerne personalisiert. Da
heißt es dann, die Chemie zwischen Oba-
ma und Merkel habe gestimmt, die zwi-
schen Thatcher und Kohl hingegen nicht.
Es gibt diesen Reflex für internationale Be-
ziehungen, Länder in ihren Regierungs-
chefs verkörpert zu sehen. Aber eigentlich
sind das nur Denkkrücken. Denn dabei
übersieht man die Wirklichkeit dieser Be-
ziehungen, die im Grunde eine Addition
von vielen einzelnen, menschlichen, fami-
liären, freundschaftlichen oder Handelsbe-
ziehungen sind. Aber die Regierenden tra-
gen auch eine besondere Verantwortung
durch ihr Auftreten und ihr Handeln.
Jede Freundschaft hat Phasen. Wir haben
den Eindruck, dass die deutsch-französische
 53

schon mal inniger gewesen ist. Wenn Ma-
cron heute nach Deutschland kommt,
jubeln ihm nicht Zehntausende zu wie
einst de Gaulle.
Weil sich die Beziehung normalisiert hat.
Als de Gaulle nach Ludwigsburg oder nach
Bonn kam, war das noch ein außergewöhn-
liches Ereignis. Wenn ein französischer
Präsident heute nach Deutschland kommt
– na und?! Das liegt zum einen daran, dass
wir uns sehr oft besuchen – zum Glück! –,
zum anderen fehlt heute die unmittelbare
Erinnerung an die einstige Feindschaft.
Fehlt ein bisschen die Leidenschaft?
Vielleicht hat man in der Vergangenheit
auch zu oft die Saiten der Emotion gezupft.
Anstatt sich einfach darüber zu freuen, dass
man mit dem ICE oder TGV ohne Kon-
trolle an der Grenze nach Paris oder an die
französische Atlantikküste fahren kann,
heißt es jetzt, es fehle an Leidenschaft. Da
werden immer wieder Bilder eines Ehepaars
bemüht, und dann ist man nicht weit vom
Bild der Langeweile oder des Fremdgehens.
Aber Sie haben recht. Der Eindruck ist
nicht von der Hand zu weisen: In deutschen
Medien spielt Frankreich – seine Kultur,
seine Politik – nicht mehr eine so große
Rolle wie vor Jahren.
Wenn nicht an Leidenschaft, woran fehlt
es unseren Nationen dann?
Es fehlt Deutschland zurzeit ein bisschen
die Bereitschaft, sich zu engagieren und zu
sehen, dass es im deutschen Interesse ist,
mit den Franzosen und auch den anderen
Europäern weiterzukommen. Man denkt
zu sehr an sich selbst; Entschuldigung, als
enge Freundin von Deutschland darf ich
das sagen: Jeder denkt an sich, nur ich denke
an mich! (lacht)
Woher kommt das?
Dieses An-sich-selbst-Denken scheint mir
in Deutschland ausgeprägter zu sein, weil es
hier diese Wirtschaftskraft gibt. Wenn es
um China geht, ist sofort von unseren Au-
tos, von unserer Industrie die Rede, für die
China wichtig sei. Die Kraft der deutschen
Wirtschaft ist wahrscheinlich auch ihre
Schwäche.
Auf der Weltausstellung 1867 in Paris
wurde neben dem preußischen Pavillon
demonstrativ eine Krupp-Kanone aufge-
baut, die modernste Kanone, die es damals
gab. Das kam in Frankreich nicht gut an.
Schön, ja! (lacht) Aber ich würde es anders
sehen: Die Wirtschaft war nicht nur der
Motor der Modernisierung Deutschlands,
das heißt, der Ankunft Deutschlands in der
Moderne nach dem 19. Jahrhundert. Sie
war nach dem Zweiten Weltkrieg auch ein
Mittel, sich zu entpolitisieren, indem man
sich in die Arbeit stürzte. Aber noch einmal
zu den Medien: Die Kehrseite dieser Nor-
malisierung ist vielleicht ein Mangel an
wirklichem Interesse für den Nachbarn,
und das führt dann dazu, dass man wieder
auf Klischees zurückgreift.
Auf welche denn?
Franzosen würden nicht gern arbeiten, sie
seien aufständisch, sie hätten eine politische
Kultur des Bürgerkrieges. Oder die Rede
von der »Grande Nation« – dieses Wort är-
gert mich! In jedem dritten Artikel von
deutschen Journalisten über Frankreich
kommt es vor. Das ist eine deutsche Erfin-
dung, eine deutsche Formulierung, um die
Haltung Frankreichs in der Welt zu be-
zeichnen. Niemand spricht in Frankreich
von der »Grande Nation«. Es ging in der
Politik um grandeur, um Größe. Um eine
politique de la grandeur. Es bedeutet nicht,
dass man über ganz Europa herrschen will,
was mit dem Bild der »Grande Nation«
aber nahegelegt wird. Niemand in Frank-
reich denkt, wir seien eine große Nation.
Welche Klischees gibt es über die Deutschen?
Das Bild, das jetzt dominiert, ist: Die
Deutschen denken nur an sich, sie sind at-
lantisch und antieuropäisch, und langweilig
sind sie auch. Also genau das Gleiche. Wa-
rum funktionieren diese Klischees? Weil sie
komplexitätsreduzierend wirken. Das Pro-
blem ist, dass sie irgendwann für die Wahr-
heit gehalten und nicht mehr hinterfragt
werden. Ich glaube, wir – Deutsche und
Franzosen – sind ein bisschen verwöhnte
Kinder von Frieden und Wachstum. 
Niels Boeing bewundert den rebellischen Geist der
Franzosen und das Werk Serge Gainsbourgs.
Tobias Hürter staunte, wie stark seine Stadt
München vom Verhältnis zu Frankreich geprägt ist.

Woher
weißt du das?
Reportagen, Recherchehintergrund
Jetzt und Gespräche über Wissenschaft,
anhören! Alltag und Gesellschaft – jetzt 2x im
Monat im ZEIT WISSEN-Podcast.
Illustration: Lea Dohle

www.zeit.de/zw-podcast
54

BIS HIERHIN ...

Die dritte
Energiewende
Deutschland läuft gerade heiß. Das Heizungsgesetz!
Die Wärmepumpe!! Gute Ideen zur Abkühlung kommen aus
der Vergangenheit. Und aus einem Ort namens Butterwiesen

Text Niels Boeing  Infografiken Carsten Raffel


ABER WIE WEITER ?
Links: Erste Energiewende. Wasser- und Windmühlen ersetzen die menschliche Muskelkraft. Später läutete die
zweite Energiewende das fossile Zeitalter ein. Rechts: Wasserstoffproduktion bei Linde, die dritte Energiewende
M
illionen Deutsche zieht es auch dieses Jahr
nach Mallorca. Sie kommen, um Sonne,
Meer und Wein zu genießen. Beim Lan-
deanflug über die Ebene von Sant Jordi
könnten sie indes etwas bewundern, was daheim der-
zeit die Gemüter erhitzt: eine Energiewende. Genauer
gesagt: eine gelungene Energiewende, die sich vor
Jahrhunderten ereignete. Denn hier überragen zahl-
reiche historische Windmühlen die Felder der Ebene
und zeugen von einer Zeit, in der die Europäer eine
neue Energiequelle erschlossen hatten. Zwar war das
Foto: Bridgeman Images
Prinzip der Mühle schon in der Antike bekannt, im
Römischen Reich ebenso wie in Persien und China.
Doch dort wurden sie vor allem von Menschen und
Arbeitstieren angetrieben, die ein waagerecht liegendes
Rad bewegten. Auf Mallorca also: Wind.
55
Erst im Mittelalter wurden Mühlen zur Energiequelle
ersten Ranges. Die entscheidende Verbesserung war das
senkrechte Mühlrad: bei Wassermühlen von Bächen
angetrieben, bei Windmühlen vom Wind. Zigtausende
dieser Kraftmaschinen trieben einen beispiellosen wirt-
schaftlichen Aufschwung an, den einige Historiker als
eine erste industrielle Revolution bezeichnen. Mit den
Mühlen wurde nicht nur Getreide gemahlen, sondern
auch Holz gesägt, der Blasebalg eines Hochofens ange-
trieben oder – wie auf Mallorcas – Wasser gepumpt.
Eine große Wassermühle brachte dieselbe Leistung wie
die Muskeln von 100 Menschen, hat der italienische
Historiker Paolo Malanima vorgerechnet. Aber anders
als Menschen ermüdete sie nicht.
Das vermeintlich »dunkle« Hochmittelalter zwi-
schen 1050 und 1250 war geprägt von einem enormen
56
Erfindergeist, die Wirtschaft wuchs unaufhörlich. Die
europäische Bevölkerung verdoppelte sich fast, von 38
auf knapp 75 Millionen im Jahr 1347. Dann beendete
die Pest diesen langen Aufschwung abrupt. Es dauerte
150 Jahre, bis Europa wieder 75 Millionen Köpfe zähl-
te. Die erste Energiewende – Wind und Wasser statt
Muskeln – setzte sich fort. Eine neue Epoche technischer
Erfindungen begann. Mitte des 18. Jahrhunderts lebten
128 Millionen Menschen in Europa.
Dass dieser Aufschwung nicht zusammenbrach, ist
vor allem Robert Newcomen und James Watt zu ver-
danken. Newcomen konstruierte 1712 die erste funk-
tionierende Dampfmaschine, die aber nur in Bergwer-
ken zum Einsatz kam, James Watt perfektionierte sie
1769 zum Antrieb der beginnenden industriellen Re-
volution. Hätte man den Dampfkessel nur mit Holz
befeuert, wäre Europa sehr bald entwaldet gewesen.
Tatsächlich schrumpften die Wälder bis zum Ende des
18. Jahrhunderts dramatisch – in den deutschen Län-
dern waren nur noch fünf Prozent der Fläche mit Bäu-
men bewachsen, im Vereinigten Königreich sah es nicht
anders aus. Die Kohle änderte alles.
Kohle war eine Energiequelle, die nicht von der
Natur abhängig war. Sie benötigte keine Sonnenenergie,
die den Wind- und Wasserkreislauf antrieb oder Nah-
Anteil erneuerbarer Energie in Deutschland je nach Sektor
50
%
40 Strom Wärme/ Verkehr
Kälte
30
20
10
1990 2000
Am einfachsten lässt sich die Stromproduktion auf Sonne, Wind und Biomasse umstellen
rung für Mensch und Tier wachsen ließ. Sie war gewis-
sermaßen in der Tiefe begrabene und gespeicherte
Sonnenenergie vergangener Erdzeitalter. Das gilt auch
für das Erdöl, das zwar schon seit Jahrtausenden bekannt
war, aber erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
systematisch gefördert wurde. Diese zweite, diesmal
fossile Energiewende legte den Grundstein für die High-
tech-Zivilisation der Gegenwart.
Kohle, Öl und auch Erdgas haben zwei enorme
Vorteile gegenüber den natürlichen Quellen der ersten
Energiewende: Ihre Energiedichte ist sehr hoch, und sie
lassen sich überallhin transportieren. Sie liefern Ener-
gie, wenn kein Bach fließt, kein Wind weht, die Sonne
nicht scheint. Die perfekte Lösung also für die Ma-
schinen des Industriezeitalters. Die industrielle Zivi­
lisation machte sich damit unabhängig von Landschaf-
ten und Jahreszeiten, wie der Ökonom Elmar Altvater
hervorgehoben hat. Das hatte es in der Geschichte
noch nicht gegeben.
Die fossile Energiewende wäre eine Erfolgs­
geschichte gewesen, würde aus den Schloten und Aus-
puffen ihrer Kraftmaschinen nur, sagen wir, Blütenduft
entweichen. Leider entströmt ihnen Kohlendioxid,
CO₂. Das kam zwar auch im 18. Jahrhundert schon in
der Erdatmosphäre vor. Doch seitdem ist seine Konzen-
2010 2020
 57

tration auf das Anderthalbfache gewachsen – und hat Gemeinde errichtete nicht nur Windräder, Solarparks,
über den Treibhauseffekt die globale Erwärmung in Solardächer und Biogasanlagen, sie verlegte auch Rohre
Gang gesetzt. Als die ersten Wissenschaftler vor einem für ein Nah-Wärme-Netz. Die Abwärme der Biogasanla-
halben Jahrhundert vor dem »Klimawandel« warnten, gen heizt nun die Häuser. Fernwärme, die aus fossilen
sprachen sie von einem Ereignis in der Zukunft. Diese Kohle- und Gaskraftwerken kommt, brauchen die
Zukunft ist nun eingetreten. Eine dritte Energiewende Butterwiesener nun nicht mehr. Windräder und Solar-
ist nötig: der Ausstieg aus dem fossilen Zeitalter. zellen erzeugen zweimal so viel Strom, wie der Ort
Die Menschheit muss den Weg in ein neues solares benötigt. Und die Bevölkerung hat auch noch einen
Zeitalter finden, aber mit acht Milliarden Menschen Anteil von 55 Prozent an den »Renergiewerken«.
und der ganzen Maschinerie, die sie derzeit zum Leben Ein weiteres ermutigendes Beispiel: Auch der
braucht. Geht das überhaupt? Landkreis Rhein-Hunsrück, in dem immerhin gut
Die Strahlungsenergie der Sonne, die auf der Tag- 100.000 Menschen leben, hat die Energiewende im
seite der Erde auf den Boden trifft, hat eine Leistung Großen und Ganzen geschafft. Er produziert dreimal so
von mehr als 80 Milliarden Megawatt. Alle Kraftwerke viel Strom aus Erneuerbaren, wie vor Ort benötigt wer-
weltweit kommen auf ganze 0,008 Milliarden Mega- den. Die Anlagen erwirtschaften jährlich einen Gewinn
watt. Erneuerbare Energie ist theoretisch also genug von 44 Millionen Euro für den Landkreis. Etliche Be-
da, denn die Sonne scheint noch für Milliarden Jahre. rufspendler, die im nahe gelegenen Mainz arbeiten,
Wie aber bekommt man sie praktisch in Maschinen, tanken Ökostrom. Und auch hier gibt es Nah-Wärme-
Heizungen und Autos? Netze. Seit 2018 stößt der Land-
Im Prinzip ganz einfach: Ma- kreis netto null CO₂ aus – 1990
schinen und Fahrzeuge müssen mit Der Landkreis Rhein- waren es noch 680.000 Tonnen.
Strom aus erneuerbaren Energien Hunsrück hat die In den erregten Debatten über
angetrieben werden, also Wind, die Energiewende gehen solche
Sonne, Biomasse. Und Heizungen Energiewende schon Erfolgsgeschichten unter. Nun be-
werden ebenfalls direkt mit Strom geschafft. Was lässt steht Deutschland nicht nur aus
angetrieben oder mit Wasserstoff, sich daraus lernen? 13.000 Butterwiesen. Da gibt es
der durch Elektrolyse aus Öko- noch etliche Großstädte sowie
strom und Wasser gewonnen wird, riesige Industrieanlagen, in denen
Abfallprodukt: Sauerstoff. Harmlos. Betrachten wir als beispielsweise Autos oder Chemikalien hergestellt wer-
Beispiel nur Deutschland, eines der größten Industrie- den, viele für den Export. Sie brauchen auf kleinem
länder der Welt. Im Jahr 2021 lag der Anteil erneuerba- Raum viel Energie, und das 24 Stunden am Tag. Wie
rer Energien an der Stromerzeugung hierzulande bei 41 versorgt man die mit grünem Strom?
Prozent, bei Heizungen und Fahrzeugen jedoch deutlich Der Thinktank Agora Energiewende hat im April
niedriger (s. Grafik links). Das hat zwar nach Berech- in einer Studie vorgerechnet, wie das deutsche Energie-
nungen des Umweltbundesamts geholfen, 215 Millio- system bis 2035 klimaneutral Strom erzeugen könnte,
nen Tonnen CO₂ einzusparen. Aber um wirklich klima- auch für Großstädte, Industrieanlagen und Fahrzeuge.
neutral zu werden, müsste Deutschland weitere 746 Die Stromerzeugung müsste hierfür von 509 Milliarden
Millionen Tonnen CO₂ vermeiden, so hoch waren die Kilowattstunden im vergangenen Jahr auf 963 steigen,
Kohlendioxid-Emissionen 2021. davon 88 Prozent aus Erneuerbaren und 7 Prozent aus
Das Problem: Um klimaneutral zu werden, hat Wasserstoff. Allerdings müssten hierfür in der Nordsee
Deutschland nicht viel Zeit. Es hat das Pariser Klima- und an der Küste massiv Windparks gebaut werden, und
abkommen unterzeichnet, in dem sich die Staaten ver- um den Strom zuverlässig zu verteilen, wären 15.000
pflichten, die durchschnittliche Erderwärmung auf 1,5 Kilometer neuer Stromleitungen nötig. Die Fläche aller
Grad Celsius zu begrenzen. Demnach dürfte Deutsch- Windparks an Land entspräche dann dem Anderthalb-
land insgesamt nur noch 3,1 Milliarden Tonnen CO₂ fachen des Ruhrgebiets. Für die Grundlast – also die
ausstoßen – danach muss Schluss sein. Würden die Stromversorgung bei Nacht oder Windflaute – wären
Emissionen auf dem heutigen Niveau stagnieren, wäre noch einige Gaskraftwerke nötig, die irgendwann auf
diese Menge schon 2027 ausgeschöpft. Wasserstoff umgestellt werden, so der Plan.
Würde man die Industrienation Deutschland als Wasserstoff gilt derzeit als Wundermittel für die
Ganzes betrachten, könnte das entmutigend klingen. Energiewende. Allerdings fehlt es bislang an Anlagen,
Hier ist eine gute Nachricht: Etliche Kommunen in um das Gas herzustellen, und am Verteilnetz, um es zu
Deutschland haben die Energiewende bereits vollzogen. den Verbrauchern zu bringen. Auch kann man Wasser-
Zum Beispiel die Gemeinde Butterwiesen in Bayern. stoff nicht einfach wie Öl in Tanks kippen – das leich-
Dort begann man 2012, einen Plan zu schmieden für teste Gas des Universums ist zugleich das flüchtigste.
eine nachhaltige Erzeugung von Wärme und Strom. Die Man muss es unter hohem Druck speichern oder in
58
Zeolithen, Materialien mit mikroskopisch kleinen Po-
ren, einlagern. Technisch funktioniert das, nur ist un-
klar, wie teuer der Aufbau einer Wasserstoff-Infrastruk-
tur wird. Einige Studien zur globalen Energiewende
schlagen vor, billigen Wasserstoff in großen Mengen zu
importieren, etwa aus Saudi-Arabien, das mittels Solar-
energie zu einem der größten und kostengünstigsten
Wasserstoffproduzent der Welt werden könnte.
Bei den meisten dieser Studien fällt auf, dass sie
davon ausgehen, dass sich sonst nichts ändert: nicht die
Menge an produzierten Waren, nicht unser Konsumver-
halten, nicht die Exportorientierung der deutschen In-
dustrie. Es werden einfach Stromtrassen gebaut, ansons-
ten bleibt das Energiesystem weitgehend dasselbe. Man
speist nur grünen statt fossilen Strom ein.
Vielleicht müsste man das Energiesystem an sich
neu denken, kleinteiliger. Die Energietechnische Gesell-
schaft im Verband der Elektrotechnik propagiert solch
einen »zellularen« Ansatz: Das Strom- und Wärmenetz
bestünde dann aus vielen kleinen Zellen, die mittels in-
telligenter Steuerung Überschüsse an andere abgeben
oder von diesen speichern. Zellen könnten größere
Windparks ebenso wie kleine Blockheizkraftwerke im
Keller sein. Eine großflächige Steuerung der Stromver-
teilung entfiele dann. Alle Zellen würden immer auch
Hierfür verbrauchen Deutschlands Haushalte Energie
0,2% 0,8% 1,5%
6,0% 4,3% 3,2% 15,8%
68,2%
Energiesparlampen? Schön und gut. Wer wirklich Energie sparen möchte, muss anders heizen
Stromspeicher enthalten, zum Beispiel die Akkus von
Elektroautos, die gerade nicht fahren.
Diese Struktur wäre der ersten Energiewende nicht
unähnlich. Statt eines riesigen Staudamms für hundert
Dörfer hatten alle Dörfer ihre eigene Mühle. Der Un-
terschied: Ein intelligentes Netz könnte Energie auch
zwischen den Dörfern – den Zellen – hin und her trans-
portieren, falls nötig. Und neue Technologien, die heu-
te als zu kleinteilig gelten, könnten plötzlich nützlich
werden. Wasserstoff könnte mittels künstlicher Foto-
synthese an unzähligen Standorten in kleinen Mengen
sauber produziert werden. Forschende der Schweizer
Forschungsorganisation Empa haben kürzlich gezeigt,
wie Holz mithilfe eines Pilzes zu »Piezoholz« wird: Tritt
man drauf, erzeugt es durch den piezoelektrischen
Effekt einen schwachen Strom. Vielleicht kommt eines
Tages ein Teil des grünen Stroms direkt aus dem Piezo-
holzparkett eines Supermarkts.
Die Energiegeschichte ist voller Erfindungen, die
anfangs als »Speziallösungen« galten. Sicher ist: Die eine
Lösung – als die vor Jahrzehnten etwa die Atomkraft galt
– wird es nicht geben. Das Zeitalter nach der dritten
Energiewende wird ein Ökosystem vieler verschiedener,
geschickt miteinander kombinierter Technologien sein.
Und, ja, auch die Wärmepumpe gehört dazu. 
Raumwärme (Heizung)
Warmwasser
Sonstige Prozesswärme
(z.B. Herd)
Klimakälte (Klimaanlage)
Sonstige Prozesskälte
(z.B. Kühlschrank)
Mechanische Energie
(z.B. Akkuschrauber)
Informations- und
Kommunikationstechnik
Beleuchtung
Bringt Sie auf
gute Gedanken!
ZEIT WISSEN behandelt alle
relevanten Themen unseres
Alltags – charmant, überraschend
und bereichernd. Lassen Sie
sich inspirieren und auf gute
Gedanken bringen.
Lesen Sie jetzt 6 Ausgaben mit
über 7 % Preisvorteil und
sichern Sie sich als Dankeschön
ein Geschenk Ihrer Wahl!

Jetzt
sparen
+ Geschenk
sichern!

10 € Thalia-Gutschein

Quizbox
»Allgemeinwissen«

Jetzt Vorteilspreis sichern:

 www.zeit.de/zw-abo   040/42 23 70 70*
*Bitte folgende Bestellnummer angeben: 2112366 FA/2112367 GA
60
DIE INNEREN
SABOTEURE
Sie greifen etwas Kleines an, um etwas Großem zu schaden. Echte
Saboteure sind im Krieg aktiv, innere Saboteure in jedem von uns.
Für Abhilfe fragen Sie bitte Ihren Psychologen und Militärhistoriker
Text Corinna Hartmann und Sven Stillich   Artwork Francis Bacon, Salvador Dalí, Rembrandt, Tadao Ando, Bruce Nauman
N
iemand hat sie gesehen, als sie vom
Himmel fielen. Schnell verstecken
sie ihre Fallschirme, dann warten die
Saboteure auf den richtigen Zeit-
punkt, im Winter, monatelang.
Endlich machen sie sich auf den
Weg. Sie gleiten auf Skiern dahin, sie tragen schnee-
weiße Overalls, sie haben Waffen dabei und Spreng-
stoff. Schließlich kommt das Ziel in Sicht: eine Fabrik,
in der sich der Krieg entscheiden könnte. Überall Sol-
daten. Mit Gewehren im Anschlag schleichen sich die
Saboteure auf das Gelände. Nur ein dumpfes Geräusch
wird zu hören sein, wenn ihr Sprengstoff detoniert. Als
der Alarm schrillt, sind die Saboteure schon weit weg.
Kein Schuss ist gefallen, aber der Lauf der Geschichte
hat sich durch ihre Tat verändert.
Die Saboteure richten Schaden an, ohne aufzuflie-
gen. Das haben sie mit den verdeckten Akteuren ge-
mein, die in unserem Inneren in geheimer Mission
unterwegs sind und die ebenso strategisch vorgehen. Die
meisten Menschen haben nicht vor, einen Krieg zu ge-
winnen, aber auch sie haben große und kleine Pläne und
Träume, die sie verfolgen – »einmal Venedig zu sehen
oder einen Roman zu schreiben, das wäre schön!« –, und
diese Vorhaben werden von den Widersachern in uns
verhindert. Oft sind es innere Stimmen oder Dogmen,
die zu Saboteuren werden, Komplotte schmieden und
Anschläge verüben, ohne dass wir etwas ahnen.
Das Überraschende: Wir können vom Vorgehen
der echten Saboteure etwas lernen, um die psychischen
Kunstwerk:The Estate of Francis Bacon / VG Bild-Kunst, Bonn 2023 (Detail aus „Drei Studien für ein Selbstporträt“ , 1979, CR 79 – 02)
Widerständler in uns besser zu verstehen. Der Militär-
historiker Markus Pöhlmann weiß dazu einiges Grund-
legendes zu sagen, zum Beispiel: »Sabotage richtet sich
immer gegen Potenziale«, und »Saboteure greifen meist
etwas Kleines an, um etwas Größeres zu schädigen«. Der
Widerstand in Norwegen verhinderte, dass Deutschland
eine Atombombe bauen konnte – mehr Potenzial geht
kaum –, und das Ziel war eine kleine, aber unersetzliche
Fabrik. In Kriegszeiten richtet sich Sabotage oft gegen
Verkehrs- oder Kommunikationsverbindungen. Wer
die richtigen Schienen sprengt, verhindert oder er-
schwert den Transport von Truppen an die Front: ein-
fache Mittel, großer Schaden.
Sabotage greift dort an, wo es besonders wehtut.
Auch innere Saboteure werden oft da aktiv, wo etwas auf
dem Spiel steht, wenn es viel zu gewinnen gibt – zum
Beispiel Erfolg, Freiheit, eine spannende Erfahrung,
den tollsten Menschen – und wenn es viel zu verlieren
gäbe: den guten Ruf, das günstige Selbstbild, einen lang
gehegten Traum. Innere Saboteure wissen, wo die ent-
scheidenden Weichen gestellt werden. Und dann lassen
sie uns die unvernünftigsten Dinge tun, um zu ver-
hindern, dass wir unsere Potenziale ausschöpfen. Wir
würden so gerne etwas tun, erreichen, geschafft haben.
Aber wir verhindern es aktiv. Forschende sprechen dann
von self-handicapping. »Das beobachten wir sehr oft im
Lern- und Leistungskontext«, sagt Malte Schwinger,
Psychologe an der Philipps-Universität Marburg.
»Manche Schüler und Studierende verschaffen sich vor
Prüfungen gezielt ein Handicap und sorgen selbst dafür,
61
62
dass sie scheitern.« Sie lernen zu wenig und versumpfen
in der Nacht davor in der Kneipe und sitzen dann un-
vorbereitet, übernächtigt und verkatert in der entschei-
denden Klausur – tun also alles dafür, dass sie schlecht
abschneiden. Sie spannen sich die Stolperdrähte selbst,
über die sie bereitwillig fallen.
Warum schaden sich die Prüflinge selbst? »Weil sie
Angst haben, bei etwas Wichtigem zu versagen und sich
vor sich selbst und anderen zu blamieren«, sagt Schwinger.
Diese Angst kann innere Kräfte auf den Plan rufen, die
unbemerkt einen Ausweg aus der Situation suchen. »Die
Betreffenden wissen nicht genau, wieso sie sich so ver-
halten«, sagt der Psychologe, aber die Sabotage dient
einem offensichtlichen Zweck: »Misserfolge sind leichter
zu ertragen, wenn sie nichts mit uns selbst zu tun haben.«
Oder umgekehrt gesagt: Sie sind dann besonders
schlimm, wenn wir die Gründe für das Scheitern in uns
und unseren Fähigkeiten suchen müssen. Können wir
aber stattdessen andere Faktoren dafür verantwortlich
machen – zu schwere Prüfungsfragen, eine Magen-
Darm-Grippe oder Bier –, dann mildert das die Be-
drohung für unser Ich. Das Prinzip der Selbstsabotage
lautet in diesem Fall: »Wenn eine Niederlage meinen
Selbstwert ernsthaft bedrohen könnte, dann führe ich
sie erst recht herbei – und schaffe mir eine Erklärung,
die nichts mit mir als Mensch zu tun hat. Ich kann nichts
dafür, mir war schlecht.« Das fragile Selbstbild bleibt
intakt, der geheime Akteur im Inneren hat ganze Arbeit
geleistet und taucht wieder in der Masse der inneren
Stimmen unter, bis er erneut gebraucht wird. Kurz-
fristig ist diese unbewusste Strategie eine Entlastung,
langfristig richtet sie Schaden an.
Selbstwert. Darum geht es meist, also: um die
Bewahrung des Bildes, das man von sich selbst hat. Wer
man ist, wer man sein könnte. Selbstwert ist etwas
Großes und oft etwas Verletzliches. Auf jeden Fall ist er
wert, beschützt zu werden. Auch reale Saboteure werden
zumeist für größere, kollektive Interessen aktiv, die sie
bedroht sehen. Für die eigene Nation. Für die Zukunft.
Für eine politische Idee. Oder gegen die Besatzer.

»Saboteure sprengen einen Zug ja nicht, weil sie der
Lärm stört«, sagt Markus Pöhlmann vom Zentrum für
Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundes-
wehr in Potsdam. Und, ganz wichtig: »Auch etwas nicht
zu tun kann aktive Sabotage sein.« Auch wer ein ent-
scheidendes Signal auf einer Zugstrecke nicht umstellt,
kann eine Schlacht entscheiden. Die Sabotage verhindert,
dass etwas weitergeht.
Manche Menschen sabotieren sich selbst, indem
sie nichts tun. Indem sie entscheidende Chancen ver-
streichen lassen. Weil sie jede Herausforderung meiden
und so ein Leben lang unter ihren Möglichkeiten blei-
ben. Der Teil des inneren Widerstands, der hierfür ver-
antwortlich ist, ist ebenfalls Hüter des Selbstwerts. Er
Innere Sabotage kann auch
heißen: nichts tun. Chancen
verstreichen lassen. Damit
das Ego keine Risse bekommt
will verhindern, dass das fragile Ego Risse bekommen
könnte – etwa durch das Scheitern an einer anspruchs-
vollen Aufgabe oder eine zwischenmenschliche Zurück-
weisung. In wem diese Kraft ungestört wirkt, der be-
wirbt sich eben nicht auf den Job, der wie gerufen
kommt, oder er schlägt die Beförderung aus, auf die er
lange gehofft hat. Er bittet die Person, für die er insgeheim
schwärmt, nie um ein Date. Und wenn sie ihn selbst
danach fragt, sagt er »Nein«.
Foto: Bridgeman Images (Salvador Dlí, Fundació Gala-Salvador Dalí / VG Bild-Kunst, Bonn 2023)
»Auch prokrastinieren kann eine Form des self-
handicapping sein«, sagt Malte Schwinger. »Wer viel zu
spät mit einer Aufgabe beginnt, kann sein Scheitern am
Ende genau darauf schieben.« Manchmal muss dann die
ganze Welt erfahren, wie wenig man sich vorbereitet hat.
Der Mechanismus ist inzwischen bekannt: Wer sich nicht
angestrengt hat, muss sich keiner echten Bewertung
stellen, und wer gar nicht erst anfängt, kann nicht ver-
sagen. Also sagt man sich: »Morgen ist doch früh ge-
nug!« oder »lieber noch drei Folgen der Serie schauen,
statt zu lernen, statt die Wohnung putzen, statt den
ersten Satz des Romans zu schreiben.«
Wobei, etwas aufzuschieben ist nicht immer von
Nachteil: Manchmal erledigt sich ein Problem wirklich
von selbst, wenn man es lange genug ignoriert. Aber
wenn wir eine Sache nicht angehen, die wir doch so
gerne wollen, werden wir zu unserem eigenen Feind.
Entscheidend für eine gelingende Sabotage ist in der
psychischen wie in der physischen Welt der richtige Zeit-
punkt. »Zeit und Raum sind entscheidende Faktoren«,
sagt Militärhistoriker Pöhlmann, »oder anders gesagt: Es
muss schon auch ein Zug fahren auf der Strecke, sonst
bringt das alles nichts.« Saboteure müssen wissen: Ist
63
morgen Vollmond? Wann ist der Wachwechsel? »Des-
wegen gehört zur Sabotage dazu, möglichst viel über
das Ziel in Erfahrung zu bringen, Quellen zu finden,
Informationen zu verknüpfen.« Auch unsere inneren
Saboteure wissen viel über uns. Sie kennen sowohl
unsere Wünsche, Träume und Hoffnungen als auch
unsere tiefsten Ängste. Vor allem die Ängste.
Ein besonders tief zerpflügtes Schlachtfeld ist die
Liebe. In Sekunden geht es hier manchmal um alles, wo
gerade noch Funken flogen, regnet es jetzt schon Asche.
»In Beziehungen kommen Anteile von uns zum Vor-
schein, die uns in unterschiedliche Richtungen ziehen«,
sagt Eva Frank-Noyon. Als Schematherapeutin vertritt
sie eine Richtung der Psychotherapie, die diese Anteile
erkennen und verstehen will. Sind wir ausgeglichen und
zugewandt, ist laut Schematherapie der »gesunde Er-
wachsene« präsent. Wird eine alte Wunde aufgerissen,
kann dieser schnell einem destruktiven Anteil weichen.
Der hat oft auf den Moment gewartet, in dem der
gesunde Anteil geschwächt ist – etwa durch Stress oder
Alkohol. Timing ist alles.
Plötzlich sieht man rot und explodiert. Nur weil
der Partner zu vertieft in sein Buch ist für einen Gute-
nachtkuss, steht plötzlich das Wort »Scheidung« im
Raum. Oder wenn eine neue Freundin sich auf dem
Heimweg eine Pizza geholt und keine zweite mitgebracht
hat – »vielleicht lassen wir es besser ganz«. In solchen
Momenten jagen wir eine Beziehung, die wir uns ei-
gentlich wünschen, selbst in die Luft. Worte werden zu
Bomben. Sie beschädigen die Beziehung dauerhaft oder
beenden sie sogar an Ort und Stelle. Weil wir eine kleine
Achtlosigkeit des Partners oder der Partnerin als Aus-
druck von etwas Größerem lesen: nicht gesehen zu
werden – ausgerechnet von dem Menschen, der uns
doch so nah ist wie kein anderer. Der innere Anteil, der
DIE SERIE IN ZEIT WISSEN
DEINE INNERE STIMME
1. TEIL: WANN MAN AUF SIE HÖREN SOLLTE.
UND WANN NICHT
(nachbestellbar unter zeit.de/zw-archiv)
2. TEIL: INNERE SABOTEURE
Wie wir ihnen das Handwerk legen
(in dieser Ausgabe)
3. TEIL: FAMILIENGEFLÜSTER
Die Stimmen der Ahnen in uns
(erscheint am 29. August)
 64

Fotos: Bridgeman Images, ullstein bild

 65

Nein, da geht es nicht schön zu, nicht friedvoll – auf vielen Bilder des englischen Künstlers Francis Bacon
wird aus dem inneren Kampf mit sich selbst ein Kampf mit der Leinwand, der Farbe, dem Motiv. Als er
1979 sein eigenes Gesicht malt (S. 61), sieht es aus, als würde da ein zweiter Francis sichtbar, seltsam verformt
und feindlich. Ganz ähnlich bei Salvador Dalí (S. 62): Auch er ringt mit dem Unsichtbaren. Und wie er da
hinter seiner Leinwand kauert, das Hemd weit aufgerissen, sieht es aus, als wollte er schier verzweifelt nach
dem greifen, was sich ihm entzieht. Seelenschau, so nennen es manche. Dann Rembrandt (linke Seite):
ein Blick in das Studienzimmer eines Alchemisten, verwundert hebt er den Kopf – denn was leuchtet
ihm da? Ein Geistesblitz? Oder ist es doch nur ein Ablenkungsmanöver, eine Vorspiegelung innerer Ängste
oder Erlösungshoffnungen? Die Kunsthistoriker rätseln bis heute. Die Macht der Meditation jedoch,
der inneren Einkehr, ist längst unbestritten. Und findet in der japanischen Kirche des Lichts des Architekten
Tadao Ando (oben) zu einer modernen Form. Ein Ort, um im klärenden Gespräch mit sich selbst neu
zu bestimmen, wie und warum sich das eigene Ich mit sich selbst verhakt. Und wie sich diese Art
Selbstsabotage lösen lässt, damit das Innere wieder so frei und spielerisch hervorsprudeln kann wie bei
Bruce Nauman (S. 66). Er hat sich 1966/67 selbst porträtiert: als Springbrunnen. Hanno Rauterberg
66
hier sein Unwesen treibt, ist meist ein alter Bekannter
aus der Kindheit. Er will das unerträgliche Gefühl der
Wertlosigkeit abwenden, indem er verhindert, dass es
überhaupt entsteht. Das Prinzip: »Lieber gehe ich jetzt,
bevor es zu spät ist.« Die Sabotage ist perfekt. Und das
klamme Gefühl, das einen überschwemmt, wenn der
Rauch verflogen ist, ist auch kein unbekanntes: wieder
mal ein Potenzial nicht ausgeschöpft, wieder einmal der
Liebe von der Schippe gesprungen.
»Historisch gesehen entsteht die Sabotage als Mittel
der Selbstermächtigung«, sagt Markus Pöhlmann, »und
zwar nicht beim Militär, sondern während der frühen
Arbeitskämpfe«. Ein sabot war ein Holzschuh, den die
Bauern in Frankreich trugen – und diese sabots sollen
sie im 19. Jahrhundert in die neuen Mähmaschinen
geworfen haben, um gegen die industrielle Konkurrenz
zu protestieren. Das Militär muss sich verstärkt mit
Sabotage auseinandersetzen, seit nicht mehr nur Heere
auf Schlachtfeldern kämpfen, sondern Zivilisten Teil
des Kriegs sind, als Opfer und Akteur. Damals wie
heute gelte, so der Historiker: »Durch Sabotage kann
ich zeigen, dass ich eine handelnde Person bin.«
Zu handeln kann auch bedeuten, sich unsichtbar
zu machen. Eine Form der Sabotage in Beziehungen ist
das Anpassen bis zur Unkenntlichkeit. »Strandurlaub oder
Städtetrip?« – »Mir egal.« »Sushi oder Italienisch?« –
»Entscheide du.« Selbst wenn einem ein Wochenende
in Paris gerade viel zu anstrengend ist und man keinen
Fisch mehr sehen kann, wird das Gegenüber ermächtigt,
über einen selbst zu entscheiden. In der Hoffnung, dass
der andere bei einem bleibt, verleugnet man eigene
Bedürfnisse. Das Leben wird ein ständiges Aushalten,
wie unter einer Besatzungsmacht. Doch die Strategie,
dem anderen zu gefallen, schafft die Distanz, die sie ver-
meiden will. Denn das Gegenüber wünscht sich in
Wahrheit oft Klartext. »Auch übertriebene Harmonie-
sucht kann ein Ausdruck der Angst sein, nicht geliebt
zu werden, wie man ist«, sagt Eva Frank-Noyon. Der
innere Saboteur ist hier ein Agent tiefer Ängste, verlassen
zu werden. Sabotage setzt da an, wo es wehtut.

Wer sich in Beziehungen derart klein macht, um mög-
lichst gut anzukommen, in dem regt sich früher oder
später Ärger. Was dann folgen kann, sind verdeckte
Operationen, die sich gegen das nichtsahnende Gegen-
über richten. Es wird getrödelt, gemauert, geschmollt.
Die andere Person stellt sich stumm – schuld ist oft
angeblich die Technik: kein Empfang, Akku leer. Wer
bei einem klärenden Gespräch nicht ans Telefon geht,
betreibt nichts anderes als Sabotage. »Ich kappe die
Leitung«, sagt Militärhistoriker Pöhlmann, »die Sabo-
tage des wichtigen Gesprächs findet also über den An-
griff auf das Telefon statt.«
Noch eines haben innere und reale Saboteure ge-
meinsam: Sie machen es ihren Gegnern so schwer wie
Wer die inneren Saboteure
aufspüren will, sollte von
Geheimdiensten lernen. Es
geht darum, Muster zu finden
möglich, sie zu enttarnen. Idealerweise agieren sie in
einem Umfeld, in dem sie nicht auffallen. »Der beste
Saboteur einer Eisenbahnlinie wäre wohl der Strecken-
wärter«, sagt Markus Pöhlmann, »oder der Waldbesitzer,
dessen Wald direkt an der Strecke liegt«. Und auch um
den inneren Verrätern das Handwerk zu legen, muss
man sie erst einmal aufspüren. »Oft braucht es dafür
einen Hinweis von außen, jemanden, der mich darauf
aufmerksam macht, was ich da eigentlich mache«, sagt
Psychologe Malte Schwinger. Ein Freund, eine Kollegin
oder ein Therapeut können zu wichtigen Verbündeten
werden, wenn es darum geht, den verdeckten Akteuren
auf die Schliche zu kommen.
Einen Teil der Aufklärungsarbeit können wir so-
gar selbst leisten, indem wir interne Ermittlungen an-
stellen – und beginnen, das eigene Verhalten zu proto-
kollieren. Dann notieren wir zum Beispiel über
mehrere Wochen, bei welchen Gelegenheiten wir seltsam
überreagiert, hastig den Rückzug angetreten oder wann
wir zu viel getrunken haben. Wir legen eine kleine Akte
Foto: Whitney Museum/Scala VG Bild-Kunst, Bonn 2023
über uns selbst an. Vielleicht werden dann Muster sicht-
bar, die wir vorher nicht bemerkt haben. So wie einem
Geheimdienst erst durch langfristige Beobachtung auf-
fällt, dass die Lampe im Fenster eines Hauses nicht zu-
fällig jeden Abend zur selben Uhrzeit angeschaltet wird
– dass das Licht also mehr bedeutet, dass das wohl ein
Signal ist –, so können wir mit ein wenig Ausdauer etwas
über uns selbst herausfinden. Und dann mit unseren
Verbündeten eine Theorie über das Motiv entwickeln.
»In der Schematherapie versuchen wir erst einmal
herauszufinden, woher die Person die Gefühle kennt,
die zu scheinbar nicht nachvollziehbaren Taten führen«,
sagt Eva Frank-Noyon. Oft war das, was heute schadet,
67
früher sinnvoll, manchmal sogar überlebenswichtig –
da musste man sich unterordnen, um den Frieden zu
wahren, auf Angriff gehen, um sich zu verteidigen oder
das Risiko meiden, um nicht noch mehr verletzt zu
werden. »Wir verfolgen das Gefühl zu seinem Ursprung
zurück. Oft geht das über innere Bilder, die wieder zu-
rück in die Kindheit führen.« Den inneren Saboteur
sofort auszuschalten, nachdem man seinen Ursprung
erkannt hat, ist allerdings riskant. »Das schädliche Ver-
halten hat ja eine Funktion. Man braucht erst eine bes-
sere Alternative, mit der Angst, die dahintersteckt, um-
zugehen, bevor man es ganz aufgeben kann.«
Manchmal aber ist die Angst, die den Saboteur an-
treibt, berechtigt. Dann zeigt sich in der Akte der Selt-
samkeiten und Missgeschicke ein klares Muster. Ein
Beispiel: Wer sonst immer pünktlich ist, aber seit Antritt
der neuen Arbeitsstelle ständig verschläft oder den Bus
verpasst, könnte darüber nachdenken, ob darin nicht
eine hilfreiche Botschaft steckt. »Wenn self-handicap-
ping neuerdings oder nur in einem ganz bestimmten
Bereich auftritt, kann es auch ein Kompass sein«, sagt
Malte Schwinger. »Womöglich ist das Ziel, das man sich
gesetzt hat, gar nicht das richtige.« Dann wird man in
dem Job nicht glücklich und hat sich das noch nicht
eingestanden. Und der innere Saboteur, der das längst
durchschaut hat, greift zum letzten Mittel: Er stellt sich.
Um Schlimmeres zu verhindern, solange es noch geht:
in der Probezeit. Timing ist alles.
Echte Saboteure werden nur selten zu Berühmt-
heiten, meist bekommen sie nicht einmal einen Dank.
Von den Versiertesten wird die Welt nie erfahren. »Die
Sabotagefälle, die wir kennen, sind meist die, die dumm
gelaufen sind«, sagt Militärhistoriker Pöhlmann, »oder
die, die den Lauf der Geschichte verändert haben.«
Beiden Fällen ist gemein, dass am Ende vor allem die
Sieger die Geschichte schreiben. So wie die Saboteure in
Norwegen, die in der Nacht des 28. Februar 1943 jene
Fabrik zerstörten, in der die Nazis schweres Wasser für
die Entwicklung einer Atombombe herstellen wollten.
Die Legenden, die von den Siegern erzählt werden,
drehen sich um die gescheiterten Pläne der anderen und
um eigenen Ruhm. Wäre es nicht schön, die Geschichte
des eigenen Lebens ähnlich schreiben zu können?
»Weißt du noch, wie ich damals die Prüfung geschafft
habe, weil ich endlich mal gelernt habe?« – »Ich danke
dir, dass du bei mir geblieben bist, als ich überreagiert
habe. Ich hatte nur Angst, dass du gehst. Aber das weißt
du ja.« Schön wäre es, am Ende ein wenig öfter gewonnen
als verloren zu haben. Gegen die inneren Verräter, Über-
läufer und Zukunftsdiebe. 
Dranbleiben und das Ziel im Blick behalten: Sven Stillich hat
diese Recherche zwischen Umzugskisten begonnen und in einer
leeren Wohnung beendet. Corinna Hartmann hat währenddessen
sogar ein Buch fertig geschrieben (»55 Fragen an die Seele«).
68

WAS DAMALS GESCHAH

04
06
Abbildungen (v. o. l.): Getty Images Contour; Bridgeman Images; Mauritius Images; Getty Images; Imago; Sex Pistols; ddp; Getty Images; 

76
Am 4. Juni 1976 gab die britische
Band Sex Pistols ein Konzert,
das Musikgeschichte schrieb.
Die Botschaft: F#%k everybody.
Einige weltberühmte Bands hätte
es ohne diese Nacht nie gegeben.
Die eigene Geschichte der Sex
Pistols endete tragisch

Text Tobias Hürter


E
ine Stadt im Abstieg: Das war
Manchester im Jahr 1976. Die
Textilfabriken, einst der Motor
der britischen Industrie, waren
technisch veraltet und unrentabel. Die Luft
stank vom Rauch aus Schornsteinen und
Kohleöfen. Die Fabrikanten horteten ihre
Gewinne. Viele Arbeiter verloren ihre Jobs
und saßen nun in ihren feuchten, kalten,
ungedämmten und schlecht geheizten
Wohnungen. Manchester war eine Stadt,
um darin wütend zu werden.
Am 4. Juni 1976 begann die Wut zu
klingen. An diesem Abend trat eine wenig
bekannte Rockband namens Sex Pistols in
Manchester auf. Knapp über 40 Personen
verteilten sich auf 150 Klappstühlen der
schwach beleuchteten Lesser Free Trade
Hall. Es pfiff und dröhnte aus den Ver-
stärkern. Der Sänger, der sich Johnny Rotten
nannte, stolperte in zerfetzten Klamotten
auf der Bühne herum und beschimpfte das
Publikum. Der Schlagzeuger prügelte auf
sein Instrument ein, der Gitarrist traf die
wenigen Akkorde nicht immer.
Etwas Außergewöhnliches muss an
diesem Abend vor sich gegangen sein. Nur
was? Musik kann Menschen ohne Worte
verbinden und ihre Stimmung verändern,
das kennt jeder. Doch an diesem Abend ver-
änderte sie Lebensgeschichten, die Musik-
geschichte und die Geschichte Manchesters.
Die 13 Songs, die die Sex Pistols spiel-
ten, verwandelten den Haufen frustrierter
Arbeiterkinder, die sie hörten, in Musiker.
Einer von ihnen, Peter Hook, lieh sich am
nächsten Tag 35 Pfund von seiner Mutter
und kaufte sich einen Bass. Bernard Sumner
kaufte sich eine Gitarre. Gemeinsam gründe-
ten sie eine Band namens Joy Division. Ste-
ven Patrick Morrissey, 17, Sohn eines iri-
schen Einwandererpaars, das sich gerade
scheiden ließ, Bücherwurm, Schlagerfan
und Vegetarier, gründete The Smiths. Dieser
Abend brachte noch mehr Bands hervor, sie
nannten sich zum Beispiel Buzzcocks, Ma-
gazine und The Fall. Manchester wurde
Musikmetropole. Es begann die Trotzphase
der Rockmusik: die Blüte des Punk.
Musikalisch gesehen war das, was die
Sex Pistols vortrugen, keine Revolution. Sie
spielten soliden, konventionellen Rock ’n’
Roll: neben eigenen Kompositionen auch
Songs von The Who und den Small Faces.
Sie fielen nicht durch das Was auf, sondern
durch das Wie. Die hingerotzten Gitarren-
riffs. Die Klamotten wie aus dem Altkleider-
container, zerfetzt und zusammengehalten
von Sicherheitsnadeln. Johnny Rottens irrer,
stechender Blick. Die nicht in Worte oder
Noten zu fassende Weise, in der diese Musik
von Trotz und Lebenslust handelt. Das
spüre ich auch, müssen sich einige der gut
40 Leute auf den Klappstühlen gedacht
haben. Vor allem: Das kann ich auch.
Die Sex Pistols avancierten zu den Stars
des Punk. Die Zeit, in der sie in halb leeren
Sälen spielen mussten, war vorbei. Ein halbes
Jahr nach ihrem Konzert in Manchester
waren sie in einer Talkshow des Londoner
Lokalfernsehsenders Thames Television zu
Gast. Showmaster Bill Grundy provozierte
sie absichtlich und flirtete eine ihrer Grou-
pies an. Die Sex Pistols ließen sich bereit-
willig provozieren und beschimpften
Die 13 Songs, die die
Sex Pistols spielten,
verwandelten einen
Haufen frustrierter
Arbeiterkinder über
Nacht in Musiker
Grundy als »dirty fucker« – unerhört im
Land der stiff upper lip. Am nächsten Tag
berichteten die Zeitungen im ganzen Land
auf den Titelseiten über den Skandal. »The
Filth and The Fury« (»Der Schmutz und die
Wut«) war die Schlagzeile im Daily Mirror.
Sie wurde zum Claim der Band.
Die Sex Pistols hatten ihren Skandal
und die Aufmerksamkeit des ganzen König-
reichs. Auf Druck konservativer Politiker
stornierten Veranstalter Konzerte der Band.
Das britische Schallplatten-Unternehmen
EMI kündigte den nur ein paar Monate und
eine einzige Single alten Plattenvertrag. Die
Sex Pistols unterschrieben einen neuen Ver-
trag mit dem amerikanischen Label A&M –
direkt vor den Toren des Buckingham Palace,
als PR-Aktion für die neue Single God Save
The Queen. Im Refrain beschimpfen sie
Königin Elisabeth II.: »She’s not a human
being« (»Sie ist kein menschliches Wesen«).
In diesem Song singt Rotten auch das »no
future«: den Slogan des Punk.
69
Bassist Glen Matlock flog aus der Band,
weil er sich zu oft die Füße wusch, und Paul
McCartney von den Beatles lobte – diesen
Streber, der nur für Geld sang. Für ihn kam
Sid Vicious, der zwar nicht Bass spielen
konnte, aber krass genug war. In den USA
saß ein Zehnjähriger namens Kurt Cobain
vor dem Fernseher, sah die Sex Pistols und
wollte auch so klingen.
Auf der Party nach der Vertragsunter-
zeichnung in der Londoner Niederlassung
von A&M beschimpfte ein betrunkener
Johnny Rotten die Mitarbeiter des Unter-
nehmens. Gitarrist Steve Jones trieb es mit
einem weiblichen Fan. Bassist Sid Vicious
zertrümmerte eine Toilettenschüssel, zer-
schnitt sich dabei den Fuß und zog eine
Blutspur durch die Räume. Zum silbernen
Thronjubiläum der Königin im Jahr 1977
schipperten die Sex Pistols auf einem ge-
charterten Boot, das ausgerechnet Queen
Elizabeth hieß, auf der Themse zu den Fei-
erlichkeiten und spielten ihr God Save The
Queen – bis die Polizei das Boot aufbrachte
und räumte. Der Aufstieg der Sex Pistols
drohte außer Kontrolle zu geraten wie eine
defekte Rakete nach dem Start.
Die Sex Pistols haben den Punk nicht
erfunden, und schon gar nicht das Wort
»Punk«. Es entstand laut Etymologen im
16. Jahrhundert als Bezeichnung für eine
Prostituierte. Im Lauf der Zeit verfiel es zum
Schimpfwort. Im frühen 20. Jahrhundert
bezeichnete es junge, unerfahrene, als wert-
los geltende Menschen.
Erst in den frühen 1970er-Jahren kam
die Verbindung mit einer Musikrichtung
hinzu. Punk entstand als Gegenkultur zum
eher braven, professionell produzierten
Rock ’n’ Roll der Beatles, Rolling Stones und
Beach Boys, der die Discos, Hitparaden und
Fernsehprogramme dominierte. Amerika-
nische Bands wie MC5 und die Stooges
spielten laute, rohe, aggressive, ungeschlif-
fene Musik. Im Jahr 1971 benutzte der
amerikanische Musikkritiker Dave Marsh
dafür erstmals den Ausdruck »Punk«, als er
in einem Artikel im Magazin Creem ein
Konzert der Band »? and the Mysterians« als
»wegweisende Darbietung von Punkrock«
beschrieb. Der Ausdruck hielt sich. Er wurde
zum Synonym der DIY attitude (»Mach-es-
selbst-Haltung«), der Wut gegen das Esta-
blishment und für den ruppigen Klang, der
den Punkrock auszeichnet.
70
Im Jahr 1975 gründeten der New Yorker
Comiczeichner John Holmstrom und der
Verleger Legs McNeil das Magazin Punk,
mit Ged Dunn als »Punk vom Dienst«
(resident punk). Es war das Fanzine der Sze-
ne, die im East Village um Patti Smith, die
Ramones und Richard Hell spross.
Punk war also längst ein Begriff, als die
Sex Pistols die Bühne betraten. Aber nie-
mand war so sehr Punk wie Johnny Rotten.
Er war so punk, dass er sogar gegen Punk
war. Er lehnt dieses Etikett bis heute ab. Sein
»Fuck everybody, fuck the rules« galt auch den
Punks. Zum Beispiel Joe Strummer, dem
Sänger und Gitarristen von The Clash, die
als Vorband der Sex Pistols berühmt wur-
den – und dann deren Rivalen.
Strummer hatte politische und soziale
Anliegen, er wandte sich gegen Kapitalismus
und Polizeigewalt, sang für sozialen Aus-
gleich und Arbeiterrechte. Lächerlich, fand
Rotten und nannte Strummer einen
Heuchler und »Champagner-Sozialisten«,
der in einer Villa wohne, sich eine Nieten-
jacke anziehe und vom Klassenkampf singe.
Rotten war gegen alles, das Establishment,
Autorität, Herrschaft, Politik schlechthin:
»We hate everything.«
Der eigentliche Gründer der Sex Pistols
spielte selbst nicht mit: Malcolm McLaren,
Künstler und Modedesigner. Gemeinsam
mit der Designerin Vivienne Westwood,
seiner Freundin, betrieb McLaren in den
1970er-Jahren in Chelsea eine Boutique
namens SEX, die Kleidung und Fetischbe-
darf feilbot. Begeistert von einem Abstecher
ins New Yorker East End, wollte er den
Punkrock nach London holen und hob eine
Band aus der Taufe, bemannt mit jungen
Typen, die in seinem Laden herumhingen,
folgerichtig Sex Pistols getauft. Steve Jones,
der im Laden Klamotten geklaut hatte,
wurde Gitarrist. Der erste Sänger Wally
Nightingale war Brillenträger, was nicht
McLarens optischen Vorstellungen ent-
sprach. Er schmiss ihn raus.
Bei der Suche nach einem neuen Sän-
ger kam McLaren auf diesen Jungen, der
sich die Haare grün und orange färbte und
ein löchriges T-Shirt mit dem Aufdruck
»Pink Floyd« trug, über den er mit Filzstift
»I hate« geschrieben hatte: John Lydon, 19,
Sohn eines zerstrittenen irischen Einwan-
dererpaars, das mit vier Söhnen in einer
Zweizimmerwohnung gleich neben einem
Industriegebiet lebte. Da er gelegentlich zur
Jukebox sang, die im Laden stand, wurde
er unversehens zum Frontmann der Sex
Pistols: zu Johnny Rotten.
Vivienne Westwood entwarf Kleidung
im Lumpenlook für die Bandmitglieder.
Der Grafiker Jamie Reid, den Malcolm
McLaren noch von der Kunsthochschule
kannte, schuf die Bildsprache der Sex Pistols,
sozusagen die Corporate Identity. Er schnip-
selte das Logo der Sex Pistols aus Zeitungs-
buchstaben zusammen wie in einem Er-
presserbrief. Er klebte Collagen aus
zerschnittenen Fotos, kreierte zum Beispiel
das berühmte Bild der Königin, deren Lippen
von einer Sicherheitsnadel verschlossen wer-
den. Es war ein Remix der Konsumkultur,
des Status quo, in den die meisten Menschen
sich damals fügten.
All das fügte sich zu dem Gesamtkunst-
werk, das heute Punk genannt wird und das
McLaren in einem Manifest so beschrieb:
»Es sind Dickenssche Strolche, die mit zer-
lumpten Kleidern und pockennarbigen
Gesichtern durch die Straßen des nebligen,
gasbeleuchteten Londons streifen, plün-
dern, Gebäude in Brand stecken, alte Leute
mit Goldketten verprügeln, die Reichen in
Beim Konzert in der den Arsch ficken und überall Chaos an-
Free Trade Hall von richten, wo sie hinkommen. Einige dieser
Lumpenbanden springen inmitten der ver-
Manchester waren kohlten Trümmer auf Tische und spielen
weniger als 50 mit brennenden Fackeln Rock ’n’ Roll zur
Personen im Saal. Der schreienden Freude der rasenden, pissenden
und pogenden Meute. Eine dieser Banden
Wirkung tat das nennt sich selbst die Sex Pistols.« Damit
keinen Abbruch. Mit stellte McLaren den Punk in die Tradition
den Sex Pistols wurde von Charles Dickens, des Dadaismus, der
Situationistischen Internationale, der jahr-
Punk zu gelebter
hundertealten Londoner Kultur der Krawal-
Kunst. Die Musik war le gegen die Obrigkeit. Die Sex Pistols waren
nur Beiwerk. Aber das McLarens Kunstprojekt.
ging nicht lange gut Dieser umfassende ästhetische An-
spruch, der weit über die Musik hinausging,
war die wahre Innovation der Sex Pistols. Sie
waren die erste Band mit einer visuellen
Identität, mit einer eigenen Bildsprache.
Mit den Sex Pistols wurde Punk zu gelebter
Kunst. Die Musik war nur Beiwerk.
Foto: Redferns/Getty Images
Aber das konnte nicht lange gut gehen:
die Kombination aus ästhetischem An-
spruch und totaler Destruktion. Einerseits
McLarens künstlerischer Ehrgeiz, anderer-
seits Rottens Nihilismus. Ihr gelebter Ex-
tremismus war alles, was ihnen wichtig war.

McLarens Kunstprojekt, das sie verkörperten,
ging ihnen am Arsch vorbei.
Zu Beginn des Jahres 1978 drängte
Malcolm McLaren die Band zu einer hastig
organisierten Tournee durch die USA.
McLaren buchte vor allem Hallen in den
Südstaaten der USA, oft in der Provinz,
fernab der Großstädte mit Punkszene. Das
Publikum reagierte feindselig. Die Presse be-
richtete ausführlich über Pannen und miss-
lungene Auftritte. Es gab Streit zwischen
den Bandmitgliedern und mit McLaren.
Die Tour geriet zur Katastrophe.
»Ever get the feeling you’ve been cheated?«
(»Habt ihr manchmal das Gefühl, betrogen
worden zu sein?«), fragte Johnny Rotten
beim letzten Konzert der USA-Tournee im
Januar 1978 in San Francisco, ließ das Mi-
krofon fallen und ging von der Bühne. Die
Frage galt Malcolm McLaren, der die Band
mit seinem rücksichtslosen Management
ruiniert hatte. Die Sex Pistols traten nie
mehr auf. Sid Vicious floh in seinen Drogen-
Das Magazin
für Genießer
Erleben Sie im ZEITmagazin
WOCHENMARKT genussvolle
Momente – mit den einfachen
,
en
n Rezept
aber immer besond ere
th Rae the r,
von Kolumnistin Elisabe
vielfältigen Reise-Tipps und
um
spannenden Geschichten rund
und Gen ieß en.
die Themen Kochen
Hier bestellen:
www.zeit.de/wm-zw
040/42 23 70 70
(Aktionsnr.: 2121986)
konsum. Im Oktober 1978 wurde seine
Freundin Nancy Spungen in einem New
Yorker Hotel erstochen aufgefunden. Vicious
wurde wegen Mordverdacht festgenommen,
kam gegen Kaution frei und starb an einer
Überdosis Heroin, die er sich im selben
Hotel setzte. Nach nicht einmal drei Jahren
war es vorbei mit den Sex Pistols.
Manchester jedoch wurde nach dem
Konzert der Sex Pistols zum Gravitations-
zentrum der Rockmusik. Die einst sieche
Industriestadt erwachte zu neuem Leben,
mit unzähligen Bands, Clubs und Konzert-
hallen, in denen nicht nur Punk erklang,
sondern auch Indie Rock, Psychedelia und
Electro, später Acid House und Techno, aus
deren Mischung wiederum ein charakteris-
tischer Klang entstand, der den Namen
»Madchester« bekam, vertreten durch Bands
wie The Stone Roses, The Charlatans und
New Order, mit klimpernden Gitarren,
tanzbaren Rhythmen und lebensfrohen
Texten. Spaß statt Wut. Die Trotzphase der
Jetzt 25 %
sparen!
2 Ausgaben
für nur 16,50 €
71
Rockmusik ging rasch vorüber. Doch die
Methode, Aufmerksamkeit mit Trotz gegen
die Bigotterie des Establishments zu erregen,
blieb bei späteren Generationen von Musi-
kern erhalten. »Ich gegen alle«, dieses Motto
gehört zum Beispiel zu den Geschäftsmodel-
len des Rappers Eminem und des Gothic-
Rockers Marilyn Manson.
Auch mit den Sex Pistols lässt sich noch
Geld verdienen. Im Oktober 2022 wurden
Plakate, Notizen und andere Memorabilia
der Sex Pistols, inklusive des Manifests von
Malcolm McLaren, bei Sotheby’s in London
versteigert, wo das Establishment, gegen das
die Sex Pistols einst sangen, sein Geld lässt.
Das Auktionshaus erlöste 354.567 britische
Pfund damit. Im Streaming-TV kam eine
Verfilmung der Geschichte der Sex Pistols,
gegen die John Lydon, der sie »respektlos«
fand, klagte – und verlor. In der Free Trade
Hall von Manchester wird heute kein Punk
mehr gespielt. Sie beherbergt ein Hotel einer
amerikanischen Kette. 
72

Räuchern? Ist nicht schwer.

 73

Probieren Sie es mal aus!

Das Feuer hat den Menschen zum Koch gemacht.
Die Nahrung wurde besser verdaulich, der Darm schrumpfte,
das Gehirn wuchs und erfand die Einbauküche.
Leider ist dabei etwas in Vergessenheit geraten: Der Rauch
Text Hella Kemper   Fotos Sebi Berens

E
ine nicht gekannte Gier
schleicht sich an. Ich will
den Fisch. Jetzt. Ich will
sein warmes Fleisch auf der
Zunge spüren, es langsam
kauen und seinen Duft
schmecken, wenn die Aromen meinen
Rachen hinauf in die Nasenhöhle strömen
wie durch einen gut belüfteten Kamin.
Aber bis der Fisch in meinen Mund darf,
muss er noch eine Weile über der Glut
Rauch aufnehmen und sich vollsaugen mit
vielen flüchtigen organischen Verbindun-
gen, die entstehen, wenn Holzspäne sich
unter Hitze zersetzen und einen Rauchge-
schmack ausbilden, der mich auf eine Art
gierig macht, die ich nicht kannte. Ich
möchte die Tür des Räucherschranks öffnen,
um nachzusehen, ob der Fisch endlich fer-
tig ist. Aber Räuchern besteht nicht nur aus
Rauch, sondern vor allem aus Zeit. Viel
Zeit. Drei Stunden, mindestens.
So viel Zeit haben Sie nicht? Das dachte
ich auch. Aber dann stand ich einen Vor-
mittag lang auf einem zugigen Hochplateau
im Schwarzwald. Schon von Weitem, als ich
aus dem Gasthaus Zur Krone trete, sehe ich
dort oben hellen Rauch aufsteigen. Michael
Wickert feuert seine Räucheröfen an. Die
Lachsfilets hat er in den Kalträucherofen
gelegt, ich darf die Teichforellen in den
Ofen hängen, der draußen neben dem
großen Feuertopf steht. Ein unscheinbarer
Stahlschrank mit kurzem Kamin und Ther-
mometer in der Tür, über das jemand mit
weißer Farbe »Heißräucherofen« geschrieben
hat. Ich führe einen handlangen Haken
durch das Maul einer ausgeweideten Forelle,
lege ihn parallel zur Wirbelsäule und drücke
die zwei kleinen Spitzen rechts und links von
ihr ins Fischfleisch. Mit acht Forellen mache
ich das so. »Schöne Fische sind das, kein
Bauchfett, schöne Flossen«, sagt Michael
Wickert. Und dann zeigt mir der Räucher-
meister, wie ich sie in den Ofen hängen soll,
je vier Fische in zwei Reihen.
Räuchermeister ist natürlich kein Be-
ruf. Ein Meister ist Micha, wie ihn alle
nennen, trotzdem – nach 15 Jahren Räucher-
Erfahrung in der Markthalle Neun in Berlin
und in der Uckermark. Berufsfischer und
Fischereiwissenschaftler ist er auch. Vor zwei
Jahren ist er mit seiner Fischräucherei Glut
& Späne in den Schwarzwald gezogen –
dorthin, wo er nach dem Abitur auf einem
Hof ein Praktikum gemacht und das Räu-
chern kennengelernt hat. Angefangen hat
aber alles am Bodensee mit einer Angel, die
er als siebenjähriger Bub vom Patenonkel
geschenkt bekam. Danach hat Micha jede
freie Sekunde auf dem weiten stillen Bo-
densee verbracht, die Angel immer an Bord.
Nach fast drei Stunden nehme ich auf dem
Hochplateau ein goldgelbes Stück Fleisch
von den Gräten. Dass meine Finger grau
von der Asche sind, die sich jetzt mit Fisch-
fett vermengt und als glänzende Schicht auf
meiner Haut verteilt, nehme ich nur bei-
läufig wahr. Fisch und Mund sind das
Zentrum der Welt. Warm fühlt sich das
Fleisch an, und seine rauchige Weichheit
legt sich auf meine Zunge. Endlich.
Aus dem Schwarzwald zurückgekehrt,
versuche ich umzusetzen, was ich bei Micha
gelernt habe. Jeder, der einen Garten hat
und einen Kugelgrill oder eine Feuerschale
mit Deckel kann räuchern. Im Baumarkt
kriegt man Räuchertonnen und Tischräu-
cherkisten. Sogar für den Herd gebe es Räu-
chertöpfe, erklärt mir Thomas Vilgis vom
Max-Planck-Institut für Polymerforschung.
Polymere, genauer: Biopolymere, sind Mo-
lekülketten, die in vielen Lebensmitteln
stecken, und von denen mag Vilgis beson-
ders Möhren und Pastinaken. Als er be-
schreibt, wie er diese in seiner Küche daheim
in Mainz räuchert, gerät der Physiker ins
Schwärmen. Ich lasse mich anstecken.
Auf dem Altonaer Fischmarkt in Ham-
burg kaufe ich früh morgens zwei Doraden
und zwei Forellen, die dem Fischverkäufer
zufolge aus Dänemark kommen. So wie fast
alle Forellen aus einer Zucht. Ich wasche sie
74

Alles für den guten Geschmack:

Getrocknete Buchenscheite
machen die Glut, die Holzspäne
mit Wacholderbeeren den Rauch.
Und in der kalten Salzlake mit
Kräutern entwässern die Fische

Während der Räucherphase über

den mit Kräutern vermischten
Holzspänen färben sich Dorade
und Forelle gelblich, darum
spricht man beim Räuchern auch
gern vom Vergolden

Räuchern ist Slow Food:

Drei Stunden dauert es, bis die
Doraden auf dem Teller liegen.
Aber das Warten lohnt sich –
der Rauchgeschmack katapultiert
einen in neue Geschmackswelten

mit etwas Zitrone ab, um den Schleim zu
entfernen, lege sie in Salzlake (60 Gramm
Salz auf einen Liter Wasser) und bedecke sie
mit Kräutern. Salz entzieht dem Fleisch
durch Osmose Wasser und gleichzeitig
dringt etwas Salz in die Zwischenräume der
Muskelfasern, die beim Wasserentzug ent-
stehen. In der Salzlake läuft dieser Prozess
schneller ab als beim Trockensalzen, weil das
Salz im Wasser schon gelöst ist. Außerdem
lässt sich die gewünschte Salzkonzentration
einfacher einstellen. Geht auch mit Zucker.
Jedenfalls verbringen meine Fische gekühlt
eine Nacht und einen Tag in der Lake.
Für Feuer und Glut braucht man gut
getrocknete Scheite von der Buche, An-
machholz, eventuell etwas Holzkohle,
Wacholderbeeren, frische oder getrocknete
Kräuter, Salbei, Rosmarin, Thymian, alles,
was Garten und Wiesen oder vergessene
Vorratsdosen in der Küche bieten, außer-
dem Späne von Buche, Erle, Fichte und
Kirsche; das müssen nicht unbedingt Späne
von vier Baumarten sein, aber der Rauch
wird dann umso aromatischer.
Das Wichtigste zuerst: ein ordentliches
Feuer. Das muss zu einer kräftigen Glut
herunterbrennen. Das ist nur der Anfang.
Räuchern ist Slow Food und steckt uns wohl
in den Genen. Im alten Griechenland,
schreibt der amerikanische Autor Michael
Pollan in seinem Buch Kochen, gab es für
Koch, Metzger und Priester nur ein einziges
Wort – mageiros. Chemie wird zu Alchemie,
Fisch und Rauch werden zu Gold. Angler,
die am Ufer ihre frisch gefangenen Fische in
kleinen Tonnen räuchern, sprechen deshalb
gern vom Vergolden. Natürlich ist das weder
Magie noch Zauberei, und Räuchern ist
auch nicht schwer. Aber wir haben es ver-
lernt. Wir wissen nicht mehr, wie das geht,
eine Forelle zu fangen, sie zu salzen und zu
garen. Den Lachs, den Schinken, das Wur-
zelgemüse. Wir haben verlernt, unser Essen
über dem Feuer zuzubereiten.
Lebensmittelforscher sagen, auf ein
Jahrhundert abgepackter Lebensmittel folgt
jetzt das Jahrhundert abgepackter Mahlzei-
ten. Nicht nur das Lebensmittel ist dem
Menschen entfremdet, auch seine Zuberei-
tung findet zunehmend im Verborgenen
statt. »Wir entfernen uns immer weiter von
jeder physischen Beteiligung an den Prozes-
sen, durch die die Rohstoffe der Natur in
eine gekochte Mahlzeit verwandelt werden«,
schreibt Pollan. Wenn eine Mahlzeit ver-
zehrfertig aus einer Verpackung kommt,
fällt es schwer zu glauben, dass Essen mit
Pflanzen und Tieren zu tun hat, und mit der
Arbeit unserer Hände. Dabei hängt viel vom
Kochen ab: Die gemeinsame Mahlzeit lehrt
die Kunst der Konversation und die Um-
gangsformen der Zivilisation. Wer zusam-
mensitzt, so Michael Pollan, stellt Augen-
kontakt her, er teilt, kümmert sich um
andere, übt Selbstbeherrschung. So wie ich
in einem kleinen Garten in Hamburg saßen
Menschen schon vor vielen Tausend Jahren
am Feuer und warteten darauf, dass ein Tier
sich zu einer Mahlzeit verwandelt.
Das Kochen als evolutionären Schlüssel
zur Menschwerdung hat der Anthropologe
und Primatenforscher Richard Wrangham
in seinem Buch Feuer fangen beschrieben.
Nicht die Herstellung von Werkzeugen, so
der Harvard-Professor, habe uns vom Affen
abgespalten, sondern die Erfindung des
Feuer macht das ­
Kochen zu einem
machtvollen Akt,
der Rauch zu
einem spirituellen
Kochens. »Wir Menschen sind Geschöpfe
des Feuers«, schreibt er. Wir leben nicht von
dem, was wir essen, sondern von dem, was
wir verdauen. Wrangham geht davon aus,
dass unsere Vorfahren schon vor zwei Mil-
lionen Jahren gekocht haben – damals ver-
änderte sich die Physiologie der Primaten.
Das Feuer machte die Kost leichter ver-
daulich und befreite den Menschen davon,
einen Großteil des Tages kauen zu müssen.
Das Kochen nahm uns einen Teil der Ver-
dauung ab. Die eingesparte Energie kam
dem Gehirn zugute. Es wuchs, der Darm
schrumpfte. Denn Verdauung ist ein inten-
siver Stoffwechselprozess, für den die meisten
Arten ähnlich viel Energie aufwenden wie
für die Fortbewegung. Bei der Verarbeitung
von roher Nahrung muss der Körper be-
sonders viel leisten. Durch das Kochen wird
die Arbeit aus dem Körper ausgelagert. Die
Energie des Feuers bricht komplexe Kohlen-
hydrate auf und macht Proteine leichter ver-
daulich. »Der Mensch ist die einzige Spezies,
die zum Erhalt der eigenen Körperwärme
75
Feuer braucht und ohne gekochte Nahrung
nicht überleben kann«, so Wrangham. Evo-
lutionär im Vorteil waren vor langer Zeit
die Menschen, die die komplexen Aromen
gekochter Nahrung bevorzugten; sie haben
vielfältiger gegessen und daher mehr Nach-
wuchs gezeugt.
Grillen und Räuchern sind die frühesten
Formen des Kochens. Das Feuer macht die
Zubereitung von Nahrung zu einem macht-
vollen Akt, sein Rauch zu einem spirituell
aufgeladenen. Der Mensch sei das einzige
Tier, das Wert darauf lege, dass seine Nah-
rung nicht nur »gut zu essen« sei, also wohl-
schmeckend, ungiftig und nahrhaft, schreibt
der französische Anthropologe Claude Lévi-
Strauss, sondern auch »gut zu denken«. Das
Rauchopfer helfe dem Menschen, sich
beim Töten, Braten und Essen von Tieren
besser zu fühlen.
»Auch die Götter«, so beschreibt es
Pollan, »finden Gefallen am Räuchern. Ihr
Anteil an einem Opfertier ist nicht das
Fleisch, sondern der Rauch. Der Rauch ist
die Idee von Fleisch, die ätherische Essenz
des Tierfleisches. Götter wollen nicht essen,
sie wollen nur Rauch, der als duftende Säule
aufsteigt und eine symbolische Verbindung
zwischen Himmel und Erde herstellt.« Der
moderne Mensch kennt das Rauchopfer
nicht mehr, aber der Akt des Räucherns
könnte ihm helfen, sich wieder mehr als Teil
der Natur zu fühlen. Bei Micha im Schwarz-
wald war das ein bisschen so.
Die ursprüngliche Aufgabe von Rauch,
als es noch keinen Kühlschrank gab und
auch keinen Schornstein, war das Konser-
vieren. Im einzigen Raum einer Behausung
brannte das Feuer, und sein Rauch zog von
der Kochstelle nach oben und entwich über
Öffnungen im Dach. Gewissermaßen im
Vorüberziehen räucherte er Walnüsse und
Käse, Fleisch und Fisch, eben alles, was dort
oben hing, »um vor den Viechern geschützt
zu werden«, sagt Michael Wickert. Vor
Fliegen, Ratten, Mardern und Mäusen.
Eine geniale Idee. Aber ist Rauch nicht
ziemlich ungesund? Kommt darauf an. Die
festen Bestandteile sind Asche und Minera-
lien, die machen nicht viel, sie steigen ein-
fach auf. Rauch setzt sich aus dem zusam-
men, was beim Verbrennen der Zellwände
von Cellulose entsteht. Cellulose ist neben
Hemicellulose und Lignin ein Bestandteil
von Holz – es besteht aus Glucose, also
76
Traubenzucker. Hemicellulose besteht aus
verschiedenen Zuckermolekülen. Beim
Warm- oder Heißräuchern wird die Cellu-
lose aufgespalten in kleinere Zuckermolekü-
le, die in der Hitze karamellisieren und einen
Teil des Rauchgeruchs ausmachen. Lignin
ist der Stoff, der Holz hart macht, und liefert
beim Verglimmen das aromatische Molekül­
gemisch, das als rauchtypisch wahrgenom-
men wird. Ungesund sind nur die schwarzen
Rußteilchen – bestimmte polyzyklische und
auch aromatische Kohlenwasserstoffe und
organische Verbindungen wie Amine, die
bei zu hohen Temperaturen entstehen. Die
Hitze zu beherrschen, das ist die prome-
theische Kunst des Räucherns.
Dann wird Rauch zum Supergewürz.
Neben salzig, sauer, bitter, süß und umami
ist rauchig die sechste Geschmacksrichtung.
Riechen wir etwas Rauchiges, öffnen sich
alle Sinne. Und ein kleiner Garten wird zur
Zauberküche. Ich bin mit meinem Kollegen
Sebi und seiner Freundin Mara zum Räu-
chern verabredet. Als sie eintreffen, wende
ich gerade die Möhren. Ich hatte sie zu-
sammen mit der Roten Bete in Zitrone,
Zucker und Salz eingelegt und zu den Fischen
über die Glut gelegt. Als wir reinbeißen,
katapultiert uns ihr Geschmack in eine
Welt, in der Karamell das Sagen hat. Die
Scheiben von der Roten Bete sind chipsähn-
lich geworden, und der Rauch der Holz-
späne lässt das erdige Gemüse geschmacks-
explodieren. Das ist nicht Rote Bete, das ist
etwas lang Vergessenes. Durch physikalische
und biologische Prozesse verwandeln Feuer
und Rauch organische Materie in einen Zu-
stand, »der sie interessanter, nahrhafter und
schmackhafter macht«, schreibt Pollan.
Als ich die Fische unter fließendem
Wasser wasche, fühlen sie sich lebendig an,
als würden sie ein letztes Mal mit der
Schwanzflosse schlagen. Pollan behauptet,
das ganze Tier mahne uns zur Demut.
Stimmt natürlich, denke ich und setze das
Messer an: vom After zu den Kiemen. Der
Schnitt kostet mich Überwindung: Ich
weide ein Tier aus.
Räuchern besteht aus zwei Phasen. In
der ersten Phase wird das Räuchergut ge-
trocknet. Fisch, Fleisch oder Gemüse trock-
nen beim Heißräuchern bei Temperaturen
bis 60 Grad und bis zu eine Stunde lang. In
dieser Phase verdunstet das Wasser durch die
Wärme der Glut. Dadurch konzentrieren
sich die Aromen. Das Trocknen dient aber
auch der Haltbarkeit von Lebensmitteln:
Um etwas zu konservieren, muss die Zahl
der frei beweglichen Wassermoleküle redu-
ziert werden. Diese bilden die Lebensgrund-
lage für Mikroorganismen, die die Nahrung
verderben können, zum Beispiel Schimmel-
pilze. Wird dem Nahrungsmittel Wasser
entzogen, bleiben nur die gebundenen
Wassermoleküle zurück, und an die kom-
men die pathogenen Keime schlecht ran.
Deshalb also Phase eins, das Trocknen.
Das Holz muss dafür ganz herunter-
gebrannt sein. Weil ich aber ungeduldig
meine ersten Forellen zu früh über das noch
brennende Holz lege, wird ihr Fleisch
matschig. Zu heiß, ein Anfängerfehler.
Die zweite Phase ist das eigentliche
Räuchern. Sie dauert noch mal genauso
lange wie die Trocknungsphase. Das funk-
tioniert im Kugelgrill genauso gut wie im
Räucherofen, Hauptsache man hat einen
Dem Physiker verrate
ich lieber nicht,
dass ich die Forellen
ohne Thermometer
geräuchert habe
geschlossenen Raum, den man belüften
kann. Die Fische müssen – wenn sie nicht
hängen – mit dem geöffneten Bauch nach
oben auf dem Rost liegen. Ich habe sie dafür
zwischen Steine gelegt.
Für den Rauch streue ich Späne ver-
mischt mit Kräutern und Wacholderbeeren
über die Glut. Der Mix darf sich nicht ent-
zünden, sondern nur glimmen und schön
langsam verrauchen. Nur so fügt der Rauch
mit seinen mehr als 200 verschiedenen Sub-
stanzen Schicht für Schicht Aromen hinzu.
Dadurch, dass er die Fasern und Proteine
neu vernetzt, verändert sich auch die Textur
von Forellen und Möhren. Fisch und Ge-
müse werden zarter. Empfindliches wie
Lachs legt man nicht direkt über die Glut,
sondern etwas abseits, oder räuchert es nicht
so heiß, dafür aber länger. So lange, bis das
Fischfleisch wie Gold in der Sonne leuchtet.
Aus chemischer Sicht verändert das
Räuchern Molekularstrukturen. Die im
Fleisch enthaltenen Proteine, Zucker und
Fette werden, sobald sie Feuer und Rauch
ausgesetzt sind, in neue chemische Bestand-
teile verwandelt. »Zarter wird das Fleisch,
wenn sich die über die Totenstarre verhärte-
ten Strukturen durch das Salz etwas lockern«,
sagt der Genussforscher Thomas Vilgis vom
Max-Planck-Institut. »Wärme und Rauch
vernetzen es dann auf molekularer Ebene
neu.« Proteine sind gefaltete Gebilde, die
sich mit zunehmender Temperatur entfalten.
Sie ändern ihre ursprüngliche Gestalt, sie
denaturieren. »Aber sie brechen bei niedri-
gen Temperaturen nicht auseinander, sie
werden nicht gespalten, nur neu gestaltet«,
sagt Vilgis. Der Nährwert bleibt identisch
oder wird sogar höher, weil das Lebensmittel
leichter verdaulich ist. Und schöner. Die
güldene Färbung entsteht am Anfang der
Räucherphase durch Formaldehyd. Es bildet
sich, wenn Holz beim Verbrennen wenig
Sauerstoff bekommt.
Formaldehyd? »Die schöne Farbe
bringt die Erle«, hatte Michael Wickert er-
klärt, als wir vor seinem Räucherofen im
Schwarzwaldwind hockten. Den Erlen-
spänen mischt er Späne von Harthölzern
wie Buche oder Eiche bei, denn die machen
schön viel Rauchgeschmack. Eichenrauch
etwa hat viele Gerbstoffe, die bitter schme-
cken und besonders gut konservieren.
Thomas Vilgis vom MPI steht lieber
am Herd. In seinen Büchern macht er Mut,
in der Küche zu improvisieren. Aber beim
Räuchern erlaubt er keine Lässigkeit. »Ich
räuchere nur unter starker Überwachung im
Topf auf dem Herd«, sagt er streng. »Die
genauen Temperaturen sind wichtig!« Bis
60 Grad ist es Warmräuchern. Bei unter 30
Grad sprechen die Experten von Kalträu-
chern. Das dauert dann manchmal mehrere
Tage. Und das Wurzelgemüse – wie behan-
delt Vilgis Sellerie, Pastinaken und Möhren?
»Ich schneide sie durch und steche
viele Löcher rein und schmiere ordentlich
Butter darauf.« Dann Weichgaren und bei
bis zu 90 Grad heißräuchern. »So entstehen
viele Raucharomen. Da verzichte ich auf
jeden Schwarzwälder Schinken.« Ich auch.
Aber dass ich ohne Thermometer räuchere,
habe ich dem Physiker lieber nicht verraten.
Räuchermeister Micha auch nicht. 
Hella Kemper ließ nach dem Räuchern zweimal
Fischreste draußen liegen – sie verschwanden
spurlos. Nun rätselt sie, ob es eine Katze war,
der Hund des Nachbarn oder der Nachbar selbst.
… ABER UNSER ZUHAUSE
IST GANZ NACH UNSEREM
GESCHMACK.
Mit Sicherheit ein Unikat: Individualisieren Sie Ihr Fertighaus ganz
nach Ihren Vorstellungen und Wünschen. Bei uns genießen Sie
volle Freiheit bei gleichzeitig hoher Planungssicherheit.
Entdecken Sie unsere exklusiven Mehrwerte für Ihr Zuhause –
unsere FingerHaus VorteilsFünf.

www.fingerhaus.de

»Der süße Duft schafft
eine eigene Welt, in der
Träume wahr werden«
Gespräch mit einem Romantiker:
Der Holunder erzählt von seinen Mysterien
S
zene: Schloß Wetterstrahl.
Der Platz, dicht mit Bäumen
bewachsen, am äußeren zer-
fallenen Mauernring der
Burg. Vorn ein Holunder-
strauch, der eine Art von
natürlicher Laube bildet, worunter von
Feldsteinen, mit einer Strohmatte bedeckt, ein
Sitz. An den Zweigen sieht man ein Hemdchen
und ein Paar Strümpfe usw. zum Trocknen
aufgehängt. Käthchen liegt und schläft. Eine
Journalistin tritt auf.
Lieber Holunder, Sie haben mich gebeten,
Foto: Getty Images
Sie in der berühmten Holunderstrauch-
szene zu treffen, aus dem Drama »Das
Käthchen von Heilbronn« von Heinrich
von Kleist. Welche Rolle spielen Sie hier?
Interview Johanna Michaels
Ich fühle mich dieser Szene auf ganz be-
sondere Weise verbunden. Nur weil der
Holunder seine schützenden Äste über
Käthchen streckt, kann sie ihrem angebe-
teten Ritter im Schlaf von ihren Träumen
erzählen, woraufhin er sich schließlich in
sie verliebt. Der süße Duft schafft bei Kleist
unter der Krone des Holunders eine eigene
Welt, in der Träume wahr werden können.
Das gefällt mir.
Vielen Zeitgenossen hat das allerdings
nicht gefallen. Die Kritik an dem Drama
fiel damals scharf aus.
Bei seiner Premiere waren viele überwältigt
vom üppigen Bühnenbild, der romanti-
schen Liebesgeschichte und der munteren
Imagination Kleists, die aus jeder Zeile
sprach. Doch die Gebildeteren im Publikum
79
waren schockiert. Goethe soll seine Kopie
des Texts ins Feuer geworfen und geschwo-
ren haben, das verfluchte Stück niemals in
Weimar aufzuführen.
Was war denn so schlimm daran?
Sie müssen sich die Zeit vor Augen führen.
Wir befinden uns in der Romantik, Künstler
sprengen das alte Korsett der Klassik und
experimentieren mit Poesie, Philosophie
und Pseudowissenschaft. Der Mensch ist
nun ein fühlendes, irrationales Wesen, des-
sen Gedanken nur im Kaleidoskop ver-
schiedener Stilmittel behutsam eingefangen
werden können. Kurz: Es weht ein frischer,
süß duftender Wind durch die Kultur.
Duftend und berauschend wie Holunder.
Diesen Duft sog das gemeine Publikum
gierig auf, während die klassische Elite die
80
Nase rümpfte – zu viele Gefühle, zu viele
Träume, zu viel Fantasie.
Kann es in der Kunst überhaupt zu viel
Fantasie geben?
Wir können uns das aus heutiger Sicht nur
schwer vorstellen, denn die Romantik hat
unsere Kultur nachhaltig geprägt. Wenn
wir heute etwas fantastisch nennen, meinen
wir das als Kompliment. Nicht aber die
Kritiker Anfang des 19. Jahrhunderts. Sie
sahen Kleist als einen Fantasten im ur-
sprünglichen Sinn – als einen, der von Illu-
sionen, unerfüllbaren Wunschbildern und
unwirklichen Gedanken beherrscht ist. Das
war damals kein Kompliment.
Der Holunder ist ein wichtiges Motiv in
dem Drama. Aber warum fühlen Sie sich
so besonders verbunden damit?
Die Holunderstrauchszene teilt in gewissem
Sinne mein Schicksal. Von den einen beju-
belt, von den anderen verachtet – wie an ihr
scheiden sich auch an mir die Geister.
Was meinen Sie damit?
Nun, Sie wissen vielleicht, dass sich viele
Mythen um mich ranken. In den alten Re-
ligionen Nordeuropas sagte man mir nach,
die Heimat guter Geister zu sein. Feen soll-
ten sich zwischen meinen Ästen tummeln,
und es hieß, die Göttin Freya sei in meiner
Krone zu Hause.
Verbindet Sie auch etwas mit Frau Holle?
In dem von den Gebrüdern Grimm über-
lieferten Märchen gilt die Gemahlin Odins,
die den Beinamen Holla trug, als Vorbild.
Man sagt, dass auch ich nach ihr benannt
bin. Die Menschen pflanzten früher in der
Nähe ihrer Häuser oft Holunderbäume
und baten so um den Schutz der großen
Göttin. Mich zu fällen sollte Unglück oder
sogar den Tod bringen.
Woher kam diese Ehrfurcht?
Ich war euch Menschen schon immer eine
nützliche Pflanze. Meinen Blüten und
Beeren sagte man Heilkräfte nach und
setzte sie gegen Husten und Fieber ein. Und
meine Äste eignen sich hervorragend zum
Schnitzen von Flöten, da sich der weiche
Kern gut herauslösen lässt. Ihr wart mir
dankbar, und diese Dankbarkeit füllte sich
über die Jahrhunderte mit Geschichten, die
schließlich im Glauben Wurzeln schlugen.
Wie kam es dann zu dieser Polarisierung?
Als das Christentum in den Norden einzog,
wendete sich für mich das Blatt. Plötzlich
sollte nicht mehr Freya, sondern der Teufel
in meinem Schutz wohnen. Wenn meine
Äste brannten und dabei zischten und
knackten, hieß es, Satan persönlich spucke
auf das Feuer. Es kamen Gerüchte auf, dass
Judas sich nach seinem Verrat an einem
Holunderbaum aufhängte. Manche be-
haupteten sogar, das Kreuz Jesu sei aus
reinem Holunderholz gezimmert gewesen.
Wie können Äste, aus denen man Flöten
schnitzt, einen Mann tragen?
Das geht wohl nur mit viel Fantasie. Ich
vermute, die Christen versuchten mit allen
Mitteln den Glauben an Feen und Göttin-
nen zu vertreiben.
Für die einen Heimat von Göttinnen, für
die anderen Heimat des Teufels. Die
Menschen haben damals ihre hellsten
Träume und dunkelsten Albträume auf
Sie projiziert. Mittlerweile sehen wir Sie
zum Glück etwas nüchterner.
Heutzutage kennt man mich vor allem als
Zutat für Marmelade oder spritzige Som-
merdrinks. Doch ehrlich gesagt vermisse
ich die alten Zeiten.
Sind Sie nicht froh, nicht mehr mitten im
Glaubenskrieg zu stehen? Am Ende sind
Sie doch auch nur ein Baum.
Es stimmt, eigentlich bin ich ein ganz ge-
wöhnlicher Baum. Ich mag nährstoffreichen
Boden und sonnige oder halbschattige »Als das
Plätze. Meine Blüten und Beeren sind zwar
gesund, aber bei einer Bronchitis sollte man Christentum in
besser zum Arzt gehen. Rein rational be-
trachtet ist es unwahrscheinlich, dass eine den Norden
Göttin in meiner Krone wohnt oder dass
der Teufel auf die Flammen spuckt, wenn
ich brenne. Aber wäre es nicht viel aufre-
einzog, wendete
gender, wenn es doch so wäre? Selbst der
Physiker und Nobelpreisträger Niels Bohr
sich für mich das
– die Rationalität in Person – soll ein Huf-
eisen über der Tür gehabt haben. Blatt. Plötzlich
Soweit ich weiß, hatte man ihm versichert,
dass es auch dann Glück bringt, wenn er sollte nicht mehr
nicht daran glaubt.
Wir alle tragen einen Fantasten in uns, der Freya, sondern
von unerfüllbaren Wunschbildern be-
herrscht ist. Schauen Sie sich mal Goethes der Teufel in
Die Leiden des jungen Werther an – mir
kann keiner erzählen, dass sich hinter meinem Schutz
Goethes strenger Fassade nicht auch ein
Schwärmer versteckt hat. Die Romantik
hat uns gelehrt, diesen Schwärmer wertzu-
wohnen«
schätzen. Denn rein rational betrachtet ist
die Welt doch ein schrecklich trister Ort.
Holunder ab. 
 ANZEIGE

holzius Vollholz-
elemente sind
nachweislich
kreislauffähig:
Cradle to Cradle™
Mit ihrem preisgekrönten Vollholzhaus MaxAcht beschert
eine Baugemeinschaft Stuttgart das erste klimaneutrale Wohnhaus. Certified Gold.
Cradle to Cradle® bestätigt die zentralen Werte von holzius: die patentierten, leim- und metallfreien
Vollholzelemente sind nachweislich kreislauffähig und fördern so naturverbundenes Wohnen
und Leben. Bestes Beispiel dafür ist der viergeschossige Wohnbau der Baugemeinschaft MaxAcht.

Alle sprechen von Nachhaltigkeit – liche, sonst übliche Brandschutzmaß-

der Südtiroler Vollholzspezialist
holzius dokumentiert Schwarz auf
Weiß die Kreislauffähigkeit seiner
einstofflichen Wand-, Decken-
und Dachelemente mit Cradle to
Cradle™ Certified Gold.
Der international anerkannte Cradle to
Cradle Certified™ Produktstandard sieht
vor, dass Produktmaterialien und Ver-
arbeitungsprozesse objektiv bewertet
werden: Materialauswahl und Design
werden ganzheitlich hinsichtlich einer
Wiederverwendung der Produkte zum
Ende des Lebenszyklus, auf gesunde
Auswirkungen auf Mensch und Umwelt
und ihrer Energiebilanz bewertet. Ziel ist
Fotos: © holzius GmbH – Jürgen Pollak / Thomas Köhler Fotografie
Herbert
Niederfriniger
holzius Gründer
und Geschäftsführer
Richtigkeit und die Bedeutung unserer
Kernwerte, die wir seit der Unterneh-
mensgründung kommunizieren.«
Eine maßgebliche Referenz für geleb-
te Nachhaltigkeit ist der viergeschossige
Wohnbau der Stuttgarter Baugemein-
schaft MaxAcht. Das lebendige Quartier
beherbergt elf individuelle Wohneinhei-
ten und einen Gemeinschaftsraum. Das
Gebäude sollte wohngesund, behaglich
nahmen ausgeführt werden müssen.«
Diese Form von Nachhaltigkeit be-
deutet, planerische Gedanken rund um
ein Projekt stets zu Ende zu denken –
von der Herstellung über die Nutzungs-
phase bis hin zur Rückführbarkeit in den
Stoffkreislauf. Diese Philosophie zeich-
net jede Umsetzung von holzius aus,
vom individuellen Einfamilienhaus über
kommunale Objekte bis hin zu mehr-
geschossigen Wohnungsbau-Projekten.
Herbert Niederfriniger fasst zusammen:
»Unser Ziel ist es, unsere variantenrei-
che Vollholzbauweise zunehmend in
die Städte zu bringen. Das Potenzial
ist da, denn unser Konzept eignet sich
gleichermaßen für Neubauten wie auch

es, gesunde Produkte in wiederkehren-
de stoffliche Kreisläufe zu bringen, so-
dass alle Rohstoffe »von der Wiege zur
Wiege« zirkulieren.
holzius musste sich zur Erfüllung
dieser hohen Standards nicht neu erfin-
den, sondern vielmehr den von Anfang
an gelebten Prinzipien treu bleiben. Für
Herbert Niederfriniger, Geschäftsführer
von holzius, ist das eine Bestätigung –
sowohl für ihn persönlich, das gesamte
Team als auch die unternehmerischen
Zielsetzungen: »Mit dieser Zertifizierung
belegen wir die Kreislauffähigkeit un-
serer Produkte und unterstreichen die
und CO2 -neutral sein. Vorgaben, die zur Nachverdichtung von Bestands-
durchaus herausfordernd, aber nicht objekten.«
unmöglich umzusetzen waren. Denn
das Holz des Wohngebäudes speichert
so viel CO2, dass es in der Bilanzierung
der CO2 -Emissionen zur Kompensation holzius GmbH, Kiefernhainweg 96
CO2 -intensiver Baustoffe beiträgt. Oliver I-39026 Prad am Stilfserjoch – Südtirol
Hilt, Architekt der Stuttgarter Architek- Tel. +39 0473 618185
turagentur, geht weiter ins Detail: »Das E-Mail: info@holzius.com
Gebäude ist das erste in Stuttgart und www.holzius.com
ganz Baden-Württemberg in der Ge-
bäudeklasse 4 mit erhöhtem Schall- und
Brandschutz, das in den Innenansichten
komplett holzsichtig ist und mit einer
Holzfassade entsteht, ohne dass zusätz-
82
SO ERKENNT MAN QUALITÄT
D
as Konzept »Pflanze im Topf« ist zivi-
lisationsgeschichtlich keine besonders
junge Erfindung. Die Tradition der
Kübelpflanzen stammt aus dem Mit-
telmeerraum, wo tropische und sub-
tropische Pflanzen schon seit der
Antike in großen Terrakottagefäßen gezogen wurden.
Nördlich der Alpen kamen sie erst im 16. Jahrhundert
in Mode, als Buchsbaum, Granatapfel und Zitronen-
baum in königlichen Orangerien und später in gläsernen
Palmenhäusern beheimatet wurden. Heute findet man
sie auf Dachgärten, Balkons und Terrassen oder in
kleineren Gärten mit wenig Platz. Sie sind eine pracht-
volle Alternative zum klassischen Garten, aber allzu oft
halten sie es nicht lang aus und verlieren ihre Schön-
heit, bevor sie endgültig eingehen. Selbst dann, wenn
sie viel Geld gekostet haben!
Um solche Enttäuschungen zu vermeiden, lohnt es
sich, beim Kauf neuer Pflanzen genau hinzusehen. Un-
erlässlich für die Beurteilung der Lebensperspektive ist
der erste Eindruck. Wirkt die Pflanze vital und kräftig?
Reckt sie sich stabil nach oben? Oder lässt sie sich – auch
nur leicht – hängen? Grundsätzlich gilt: Dicke Pflanzen,
also solche mit prallen Blättern, starkem Stamm und
kräftigen Trieben, sind widerstandsfähiger als dünne,
dunkelgrüne robuster als hellgrüne. Diese Faustregel
hilft schon bei der Auswahl der Pflanzenart.
Genauso wichtig wie der erste ist der zweite Blick.
Die Pflanze darf keine, wirklich keine Verletzungen auf-
weisen, zum Beispiel geknickte Stiele, Schnitte oder
Risse. Sie könnten den kurz- bis mittelfristigen Tod der
ansonsten noch prächtig wirkenden Pflanze bedeuten.
Dann sollte man sich die Blätter genauer ansehen. Sind
sie kräftig gespannt oder hängen sie schlapp nach unten?
Sind sie eingeknickt oder vertrocknet? Sind sie klebrig?
Haben sie gar gelbliche oder bräunliche Flecken? Ge-
rade solche Stellen können auf eine schlecht gepflegte
oder sogar kranke Pflanze hindeuten.
Auf der Blattunterseite leben häufig mikroskopisch
kleine Spinnmilben, die so winzig sind, dass man sie
nicht mit bloßem Auge erkennen kann. Bei entspre-
chender Vermehrung können sie die Pflanze aber in die
Knie zwingen und sogar andere anstecken. Im Früh-
stadium lassen sich befallene Blätter, die man an gelb-
lich-bräunlichen Flecken erkennt, noch abschneiden.
Ist aber erst einmal die ganze Pflanze befallen, hilft nur
noch Chemie – wenn überhaupt. Sichtbare Tiere oder
deren Spuren, wie Kot oder Spinnweben, müssen da-
gegen nicht unbedingt ein Zeichen für eine Krankheit
sein. Aber selbst wenn eine Pflanze gesund und unver-
letzt aussieht, muss sie keine gute Qualität haben.
Inzwischen werden Topfpflanzen industriell pro-
duziert, (mit chemischer Hilfe) in kurzer Zeit großgezo-
gen und oft weit transportiert, was ihnen meistens nicht
guttut. Fast 400 Millionen Pflanzen wurden im ver-
gangenen Jahr nach Deutschland importiert. Sie haben
eine lange Reise hinter sich, ehe sie in den Verkauf ge-
hen. Und das bedeutet: Stress – von dem sie sich im
schlechteren Fall nicht mehr erholen.
Der Fachhandel achtet eher darauf, dass die Belas-
tung der Pflanzen in einem erträglichen Rahmen bleibt,
während Supermärkte oder Bauhäuser Pflanzen eher wie

FOLGE 4: PFLANZEN
Mit Pflanzen in Kübeln oder Töpfen lassen sich Balkon und Dachterrasse in ein
pflegeleichtes Sommerparadies verwandeln. Doch wie erkennt man beim Kauf,
ob Lavendel, Zitronenbäumchen und Lupinen ein langes Leben beschert ist?
Dinge und nicht wie Lebewesen behandeln. Doch
woran kann man erkennen, dass eine Pflanze keine
leichte Jugend hatte? Meistens hilft der Topf-Test.
Dafür zieht man die Pflanze mit ihrer Erde vor-
sichtig ein kleines Stück aus ihrem Topf. Bröckelt dabei
viel Erde ab, ist das ein Hinweis darauf, dass die Pflanze
zu schnell großgezogen wurde und sich nicht genügend
verwurzeln konnte. Eigentlich hätte sie mehr Anzucht-
zeit gebraucht. Besser ist es, wenn die Erde im Topf von
einem gleichmäßig feinen Wurzelgeflecht durchzogen
ist. Zu viele und zu dicke Wurzeln sind aber auch nicht
gut. Dann hat die Pflanze womöglich zu lange gestan-
den und vielleicht sogar Schäden davongetragen. Wenn
man jetzt schnell umtopft, kann man sie noch retten.
Wichtig ist vor allem, dass die Wurzeln einen guten
Eindruck machen. Aber was bedeutet das konkret?
Die Wurzeln müssen spitz und fest sein. Sind sie
bräunlich oder matschig: Finger weg. Dann haben sie
zu lange im Wasser gestanden und fangen schon an zu
faulen. Das macht sich möglicherweise durch den
Geruch bemerkbar. Die Nase ist ohnehin eine gute Ent-
scheidungshilfe. Es lohnt sich, zu schnuppern! Frische
Erde riecht nämlich gut und nach sauberer Luft – auf
keinen Fall aber faulig. Sie sollte außerdem dunkel sein,
feucht (aber nicht nass), und es sollte keine weiße
Schicht darauf erkennbar sein (das ist Schimmel!).
Als Gesundheitsanzeiger dienen neben den Wur-
zeln auch die Triebe, also das, was oben rauskommt. Hat
die Pflanze seitlich am Stängel Triebe, die nachwachsen?
Und was ist mit den Blüten? Bilden sie genügend
Nachwuchs aus? Blühpflanzen sollten beim Kauf viele
83
Knospen haben. Die Knospen sollten aber noch nicht
alle voll aufgeblüht sein. Blüht die Pflanze in voller Pracht,
hat sie womöglich ihre beste Zeit schon hinter sich.
Wer im Sommer Blumen, Kräuter und Stauden in
ihren Töpfen regelmäßig gießt und düngt und außer-
dem verwelkte Blüten abzupft und trockene Blätter ent-
fernt, wird mit vitalen Pflanzen beschenkt. Wird es sehr
heiß, danken es selbst Hitze gewöhnter Wein, Oleander
und Lavendel, wenn man ihnen eine Verschnaufpause
im Schatten verschafft. Ein einfacher Sonnenschirm
kann auch Rittersporn und Lupinen das Leben retten. 
Grüner Daumen
nach oben beim Kauf von
Topfgewächsen
Kräftige Pflanzen sind
widerständiger als dünne,
dunkelgrüne robuster als helle,
spitze und feste Wurzeln
gesünder als braune und
matschige. Und vergessen Sie
nicht, an der Erde zu riechen!
Text Ulf Schönert  Illustration Oriana Fenwick
84

DIE ZUMUTUNG
Manches Wissen wächst in verdammt hohen Gebieten. Trotzdem sollte man sich hin und wieder dorthin aufmachen,
auch wenn es richtig anstrengend wird. Willkommen auf dem Pfad des Farbensehens

FARBEN
Frühere Kulturen hatten kein Wort für Blau
und bezeichneten Gesichter als grün.
Hat sich die Farbwahrnehmung im Laufe
der Jahrhunderte etwa verschoben?

Text Tobias Hürter

 85

Basislager
Gehen Sie erst los, wenn Sie
die folgenden Grundlagen in Ihren
Rucksack gepackt haben

M
enschen erleben Farben, bevor sie ge-
boren werden. Das Tageslicht dringt
durch die Bauchdecke der Mutter bis in
die Gebärmutter. Es erreicht den Em-
bryo in abgedunkeltem Orange, Rot, Violett, bis zu
Blau und warmem Grau. Er erfährt, dass Dunkelheit
mit Ruhe verbunden ist, Helligkeit mit Aktivität.
Nach der Geburt müssen wir das Farbensehen
nicht mühsam lernen wie Sprechen. Schon vier Mo-
nate alte Babys können in Versuchen Rot, Grün, Blau,
Gelb und Violett unterscheiden, das schließen For-
schende aus den Augenbewegungen. Farbensehen
scheint uns Menschen wie von selbst zuzufliegen. Wir
können Millionen von Farbnuancen unterscheiden.
Auch physikalisch erscheinen Farben auf den
ersten Blick wenig rätselhaft. Sichtbares Licht ist ein
Abschnitt des elektromagnetischen Spektrums. Es er-
streckt sich vom langwelligen Rot über Orange, Gelb,
Grün, Blau bis Violett: die Regenbogenfarben. Farben
wären demnach unterschiedliche Wellenlängen des
Lichts, das auf die Netzhaut trifft.
Aber so einfach ist es nicht. Das erkannte schon
Isaac Newton, als er im 18. Jahrhundert Sonnen-
strahlen mit einem Prisma auffächerte. »Die Strahlen
sind genau genommen nicht gefärbt«, schrieb er. »In
ihnen liegt nur eine gewisse Kraft und Neigung, eine
Empfindung dieser oder jener Farbe hervorzurufen.«
Damit war Newton auf der richtigen Spur. Er
verstand Farben nicht als Eigenschaften des ins Auge
treffenden Lichts, sondern als Eigenschaften der
Abbildungen: Bridgeman Images; Margarete Jahrmann; Martin Jepp
schaftler Stefan Glasauer, der an der Brandenburgi-
schen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
die menschliche Wahrnehmung erforscht. »Reflek-
tanz« heißt diese Eigenschaft: die Neigung eines
Gegenstands, Licht zu reflektieren.
Wenn wir einen Apfel betrachten, dann ist dessen
Farbe ein Fingerzeig auf seine Beschaffenheit. Wir
können an ihr erkennen, ob der Apfel reif ist. An der
Farbe von Beeren, ob sie giftig sind. Am Hautton eines
Menschen, wie es ihm geht. Das geschieht schnell und
unbewusst: »Der Apfel sieht noch nicht reif aus.«
Bei der Wahrnehmung von Farben ist das Licht
also nur der Überträger. Wahrgenommen werden die
Eigenschaften von Gegenständen. Aber die Schätzung
der Farbe eines Gegenstands ist eine Gleichung mit
mehreren Unbekannten. Dazu gehören die Lichtver-
hältnisse. Wir müssen sie richtig einschätzen, um die
Farbe richtig zu sehen. Der Apfel soll im Abendlicht
dieselbe Farbe haben wie am Mittag.
Diese Schätzung geschieht aufgrund von Erfah-
rung und Vorwissen – und kann schiefgehen. Das
zeigte sich im Jahr 2015, als im Internet das Foto eines
Hochzeitskleids viral ging. Betrachter von #TheDress
stritten leidenschaftlich darüber, welche Farbe das
Kleid hatte. Manche sahen ein weißgoldenes Kleid,
andere ein schwarzblaues. Das Foto wurde in den
sozialen Netzwerken zigmillionenfach verbreitet. Wie
war es möglich, dass Menschen im selben Foto völlig
unterschiedliche Farben sahen? Weil sie die Lichtver-
hältnisse, unter denen das Foto entstand, unbewusst

Gegenstände, die das Licht reflektieren. So versteht verschieden einschätzten. Jene, die von einer eher
die Wissenschaft Farben bis heute. »Farbwahrneh- gelblichen Beleuchtung ausgingen, sahen Blau-
mung ist der Versuch, eine physikalische Eigenschaft schwarz. Jene, die von bläulicher Beleuchtung aus-
eines Gegenstands zu schätzen«, sagt der Neurowissen- gingen, sahen eine weißgoldene Farbe.

Unsere Bergführer

William Gladstone fiel auf, wie Stefan Glasauer erforscht die Axel Buether erforscht die
seltsam Homer über Farben menschliche Wahrnehmung an Wirkung von Farben auf das
spricht. Später war er 12 Jahre der Technischen Universität menschliche Verhalten, Erleben
lang britischer Premierminister Cottbus-Senftenberg und Wohlbefinden
86
Erster Anstieg
Los geht’s! Auf leichten Anhöhen
begegnen Sie Erkenntnissen, die Sie
ins Schwitzen bringen können
B
unt sieht die Welt hübscher aus. Aber das
allein kann nicht der Grund sein, warum
das menschliche Gehirn so viele Res-
sourcen auf das Farbensehen verwendet.
Schätzungsweise zwei Drittel des Gehirns sind an der
Verarbeitung von Farbreizen beteiligt. Farbinforma-
tionen fließen bis in archaische Gehirnregionen wie
den Thalamus, der sie mit anderen Sinnesinforma-
tionen abgleicht: Geschmack, Gehör, Temperatur,
Tastsinn. Der Thalamus entscheidet, was davon ins
Bewusstsein dringt, und kann, wenn es eilt, schnell
reagieren und zum Beispiel eine Schnellbremsung
vor einer roten Ampel einleiten.
Wenn es weniger dringend ist, verbindet der vi-
suelle Kortex den Farbreiz mit seinem Kontext. Das
Gedächtnis sucht nach Zusammenhängen mit Ver-
gangenem – so wie es Marcel Proust in seinem Roman
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit beschreibt, des-
sen Erzähler vom Anblick roter Blüten am Ufer eines
Flusses zum Gedanken an eine Frau geführt wird:
»Nicht weit davon hingen an niederen Mauern Trau-
ben von violetten und rötlichen Blüten herab. Und da
der Traum von einer Frau, die mich lieben würde, in
meinen Gedanken immer eine Rolle spielte, so war in
jenen Sommern dieser Traum von der Kühle fließen-
den Wassers durchtränkt; und an was für eine Frau
auch immer ich dachte, auf alle Fälle war sie von
Trauben violetter und rötlicher Blüten wie von Farben
umrahmt, durch die sich ihre eigenen hoben.«
Farben sind nicht nur ein natürliches Ornament,
sie haben wichtige biologische Funktionen. Im Lauf
der Evolution hat sich unter Lebewesen eine Sprache
der Farbe entwickelt. »Ich bin giftig«, sagen Beeren mit
ihrer Farbe. »Ich steche«, sagt das Gelb-Schwarz der
Bienen. »Ich bin paarungsbereit«, sagen Paviane mit
ihrem roten Po. »Bestäube mich«, sagen Blüten. Es ist
ein uraltes Spiel von Sehen und Gesehenwerden. Seit
3,5 Milliarden Jahren haben Cyanobakterien, die zu
den ältesten Lebensformen zählen, einen lichtemp-
findlichen Fleck aus dem grünen Farbstoff Chloro-
phyll, mit dem sie sich zur Sonne orientieren, um
Energie zu tanken. Später lernten Blütenpflanzen, die
zu ihrer Ausbreitung auf Tiere angewiesen sind, mit
ihnen über Farben zu kommunizieren – und die Tiere
entwickelten einen immer feineren Farbsinn. Es gibt
Blüten in Millionen Farbtönen.
Diese Evolutionsgeschichte spielt immer mit, wenn
Menschen Farben sehen. Wenn sie Früchte daraufhin
beurteilen, ob sie reif sind oder verdorben, wie nahr-
haft sie sind, wie sie schmecken. Wenn es bei der
Partnerwahl auch auf weiße Zähne, gesundes Haar,
gesunde Hautfarbe und rote Wangen ankommt.
Solche Farbsignale werden oft unbewusst wahrge-
nommen. Von der Kraft der Farben leben Kosmetik-
industrie und Bekleidungsindustrie: vom Wunsch,
attraktiv und gesund auszusehen.
Menschen lernen früh, Farben mit Emotionen zu
verbinden. Das lebendige Grün des Frühlings. War-
nendes Blutrot. Die Farben, die Embryos im Mutter-
leib erleben, sind beliebte Wohnfarben. Sie vermitteln
Behaglichkeit und Geborgenheit. Es spräche manches
dafür, Kinderzimmer in diesen Farben einzurichten
statt in dem derzeit beliebten Babybeige.
Wie wichtig Farben für das Wohlbefinden sind,
zeigte sich in einer Studie, die der Farbpsychologe und
Architekt Axel Buether in den Jahren 2017 bis 2019
am Universitätsklinikum Wuppertal durchführte. Un-
ter seiner wissenschaftlichen Begleitung wurde die In-
tensivstation renoviert, mit besonderem Augenmerk
auf Farben und Beleuchtung, nicht nur die Patienten-
zimmer, sondern auch die Räume für das Personal.
Manche Wände bekamen den Grünton eines Buchen-
walds im Frühling, manche das Rosarot einer Morgen-
dämmerung. Räume, in denen aufmerksam gearbeitet
wird, werden eher bläulich kühl beleuchtet. Andere
Räume haben eine wärmere, beruhigende Beleuch-
tung. Durch die Farbgestaltung stieg nicht nur das
Wohlbefinden und sank die Angst der Patienten, auch
der Gesundheitszustand verbesserte sich. Das Personal
hatte weniger Krankheitstage. Der Verbrauch an Neu-
roleptika zur Behandlung von Wahnvorstellungen und
Halluzinationen sank um 30 Prozent.
Axel Buether entwickelte die Farbgestaltung in
Zusammenarbeit mit dem medizinischen Personal. Er
fragte die Belegschaft, welche Farben in ihrem Emp-
finden für Ruhe, Sicherheit, Freiheitsgefühl stehen. Es
gibt dabei kein einfaches Rezept. Je nach Prägung und
Kultur kann eine Farbe ganz unterschiedliche Emo-
tionen wecken. Ein Bergbewohner mag ein Grau mit
der Farbe der Felsen seiner Heimat verbinden, eine
Küstenbewohnerin das gleiche Grau mit den Wolken
eines heraufziehenden Sturms.

Am Steilhang
Atmen Sie tief durch: Es ist alles
ganz anders, als Sie dachten –
aber Sie schaffen das
E
twas Seltsames fiel dem britischen Hobby-
philologen William Gladstone auf, als er in
den 1850er-Jahren die Epen des Dichters
Homer studierte. Die Ilias und die Odyssee
sind bei all ihrer bildhaften Sprache erstaunlich farb-
los. Homer besingt Wälder als »dicht«, »dunkel« und
»schattig«, aber nicht als »grün«. Bei ihm stehen Wie-
sen voller Frühlingsblumen. Welche Farben haben
sie? Dazu schweigt Homer. Immer wieder dichtet er
vom »weindunklen« Meer. Meinte er das Meer im
Morgen- oder Abendrot? Oder war der Wein seiner-
zeit etwa blau? Manchmal nennt der Dichter das Meer
auch »veilchenartig« – und Eisen ebenso. Die Wolle
eines Widders nennt er »veilchendunkel«. Grün sind
nicht Bäume oder Gras, sondern Gesichter von Men-
schen, die sich fürchten, auch Honig und die Keule
des Zyklopen. Gladstone zählte nach und stellte fest:
Homer verwendete kaum Farbbegriffe. 170-mal
Schwarz, 100-mal Weiß, 13-mal Rot, 10-mal Gelb,
6-mal Violett, andere Farben noch seltener. Kein ein-
ziges Mal fällt das Wort für Blau.
Nach längerem Grübeln kam Gladstone zu dem
Schluss, Homer müsse farbenblind gewesen sein. Und
nicht nur er, alle alten Griechen. Sie mussten die Welt
nur hell-dunkel gesehen haben, mit wenigen Farb-
tupfern. Erst im Laufe der Jahrhunderte nach Homer
hätten die Menschen durch fleißiges Üben die Fähig-
keit des Farbensehens ausgebildet.
Die Evolutionstheorie Charles Darwins hatte sich
noch nicht herumgesprochen. Dennoch glaubte schon
damals kaum jemand Gladstones These von den
farbenblinden Griechen. Seine Entdeckung jedoch
beschäftigt Psychologen, Linguisten und Philosophen
bis heute. Wie hängen Wahrnehmung und Sprache
zusammen? Kann es sein, dass Menschen anderer
Kulturen oder Zeiten die Welt ganz anders sehen?
Ein Jahrzehnt nach Gladstone vertiefte sich der
Philosoph und Sprachforscher Lazarus Geiger in das
Rätsel. Er untersuchte andere alte Texte auf ihre Far-
bensprache: das Alte und das Neue Testament, den
Koran, antike indische Texte, vedische Hymnen, islän-
dische Sagen, chinesische Schriften. Er fand vor allem –
Lücken, kaum Farben, und wenn doch, dann wurden
sie seltsam verwendet. Der Prophet Jeremia spricht von
Gesichtern, die vor Entsetzen »grün« werden. Tauben
haben Schwingen mit »grünem Gold«. Für Blau gibt es
87
im biblischen Hebräisch gar kein Wort, dafür »rote«
Pferde und Kühe. Die vedischen Hymnen schildern
ausgiebig den Himmel, das tägliche Farbenspiel von
Sonne und Morgenröte, Wolken und Blitze. Nur sagen
sie kein einziges Mal, dass der Himmel blau ist. Geiger
war irritiert. Überall dasselbe Phänomen wie bei Homer
und den alten Griechen. Die können doch nicht alle
farbenblind gewesen sein?
Im September 1867 hielt Lazarus Geiger in Frank-
furt am Main einen Vortrag: »Ueber den Farbensinn
der Urzeit und seine Entwicklung«. Hier stellte er eine
neue Hypothese vor: Ja, die Entwicklung der Farben-
sprache ist ein Evolutionsprozess, sagte Geiger. Aber sie
ist keine biologische Evolution, sondern eine Evolution
des Denkens. Eine kulturelle Evolution. Geiger er-
kannte eine universelle Reihenfolge, in der Kulturen
ihre Farbbegriffe entwickeln. Einfache Sprachen unter-
scheiden nur dunkel und hell. Dann entwickeln sie
zuerst einen Farbbegriff für Rot. Dann Gelb, dann
Grün. Zum Schluss Blau.
Im 20. Jahrhundert überprüften Linguisten und
Anthropologen die Hypothese mehrmals und bestä-
tigten sie. In den verschiedensten Kulturen und Welt-
gegenden stoßen sie auf diese Reihenfolge. Zuerst hell
und dunkel. Dann die »warmen« Farben Rot und Gelb.
Dann die »kalten« Farben Grün und Blau.
Viele Linguisten sind überzeugt, dass alle Men-
schen zu allen Zeiten und in allen Kulturen physiolo-
gisch gleiche Farbwahrnehmungen hatten. Aber sie
reden unterschiedlich über diese Wahrnehmungen. Die
Farbe Blau war in der Antike nicht so wichtig. In der
Natur ist Blau rar. Der Himmel und das Meer, ja, die
nennen wir heute »blau«, aber vielleicht sind sie seltener
wirklich blau, als wir glauben. Dagegen können wir
heute im Gegensatz zu den Kulturen der Antike blaue
Farbstoffe in verschiedensten Varianten produzieren:
Dunkelblau, Hellblau, Azurblau, Aquamarinblau, Cy-
anblau. Das deutsche Wort »blau« hat erst spät die
Bedeutung bekommen, die es heute hat. Es entstammt
dem lateinischen »flavus« für goldgelb oder blond.
Die alten Ägypter, im Unterschied zu Griechen,
hatten einen Blau-Spleen. Sie entwickelten einen blau-
en Farbstoff, das vermutlich erste künstlich hergestellte
Pigment, und hatten einen Begriff für Blau: »künstli-
ches Lapislazuli«. Die Welt, in der Menschen leben,
bestimmt ihre Farbensprache.
88

Auf zum Gipfel

Jetzt wird es zugig: Diese Theorie
müssen Sie meistern, um auf
der Höhe der Zeit anzukommen

D
ie physiologische Grundausstattung zum haben zwar drei Typen von Farbrezeptoren, aber an-
Farbensehen unterscheidet sich kaum dere als Menschen. Sie sehen UV-Licht, sind aber
von Mensch zu Mensch. Auf der mensch- blind für Rot. Richtig bunt ist die Welt für Fangschre-
lichen Netzhaut sitzen zwei Klassen von ckenkrebse, die auf dem Boden tropischer Meere
Lichtrezeptoren: Stäbchen und Zapfen. Die Stäbchen leben. Sie haben zwölf Typen von Farbrezeptoren in
sind sehr lichtempfindlich, können aber keine Farben ihren Stielaugen. Mit ihnen können sie viel mehr Farb-
unterscheiden. Deshalb »sind nachts alle Katzen töne unterscheiden als wir Menschen, sie sehen auch
grau«. Für Farben sind die Zapfen zuständig. Von UV-Licht und kommunizieren mit Farben. Je nach
ihnen gibt es drei Typen, die für verschiedene Berei- Stimmung können sie die Körperfarbe wechseln, sich
che des Lichtspektrums besonders empfindlich sind, sogar mit bunten Mustern überziehen.
nämlich für Langwellen (L), Mittel- (M) und Kurz- Die Fotorezeptoren auf der Netzhaut reagieren
wellen (K). Früher wurden sie als Rot-, Grün- und mechanisch und vorhersagbar auf einfallendes Licht.
Blauzapfen bezeichnet, aber das stimmt nicht ganz. Doch zwischen dem auslösenden Lichtreiz und dem,
Dafür liegen die Empfindlichkeitsmaxima der L- und was ein Mensch bewusst an Farbe wahrnimmt, liegt
M-Zapfen zu nah beieinander. Aber zum Glück für ein langer Verarbeitungsprozess. Das zeigt sich schon
die Hersteller elektronischer Kameras und Bildschirme darin, dass Menschen die Farben nicht in der Ord-
haben wir nur drei Zapfentypen. So nung einer linearen Liste wie im
können sie ihre Aufnahmen aus sichtbaren Spektrum wahrnehmen,
nur drei Wellenlängen zusammen- Manche Menschen sondern in einem in sich geschlos-
mischen, die wir als Rot, Grün sehen mehr Farben senen Farbkreis. Auf Violett, auf
und Blau (RGB) empfinden: Die das im elektromagnetischen Spek-
Dinge sehen im Fernsehen oder als der Durchschnitt, trum das unsichtbare Ultraviolett
auf dem Handydisplay ähnlich aus andere haben Lücken folgt, folgt in diesem Kreis wieder
wie in echt. im Farbempfinden Rot. Diesem Übergang entspricht
Hätten Menschen ein anderes nichts in der physikalischen Wirk-
zusammengesetztes Ensemble von lichkeit: Gemessen an der Wellen-
Rezeptoren auf der Netzhaut, könnten sie die Welt in länge, liegt zwischen Rot und Violett kein fließender
anderen Farben sehen. Es gibt eine seltene Form der Übergang, sondern ein weiter Sprung.
Farbenblindheit namens Stäbchen-Monochromasie, Auf dem Weg vom Lichtreiz zum bewussten
bei der die Zapfen auf der Netzhaut ganz fehlen. Erleben einer Farbe gibt es noch ein tieferes Rätsel.
Betroffene sehen die Welt farblos und unscharf. Der Philosophen nennen es das Rätsel der »Qualia«. Der
Psychiater Oliver Sacks beschrieb diese Krankheit in objektive Reiz führt zu einem subjektiven Erleben.
seinem Roman Die Insel der Farbenblinden. Aus einem »Was« wird ein »Wie«. Es »fühlt sich auf
Manchen Menschen fehlt nur ein Typ von Zapfen. eine bestimmte Weise an«, die Farbe Blau zu sehen,
Sie heißen Dichromaten und sind oft schlechter als schrieb der Philosoph Thomas Nagel. Man stelle sich
normalsichtige Trichromaten darin, Rot und Grün zu eine hervorragende Sinnesphysiologin vor, die genau
trennen, sie sehen aber Gelb und Blau normal. Ande- erforscht, wie Farbreize in den Augen und im Gehirn
re haben mehr als drei Typen von Farbrezeptoren auf verarbeitet werden, aber von Geburt an nur in einem
der Netzhaut, zum Beispiel Zapfen, die für gelbes oder schwarz-weißen Labor lebt. Trotz all ihrer Forschung
orangenes Licht empfindlich sind. Tetrachromasie kann sie nicht wissen, wie es ist, Rot zu sehen – dazu
heißt dieses Phänomen. Es beschert manchen, aber müsste sie es selbst erleben, nicht nur wissenschaftlich
nicht allen Betroffenen eine reichere Farbwahrneh- verstehen. Laut Nagel und anderen sind solche sub-
mung im Vergleich zum Durchschnitt. jektiven Erlebnisqualitäten der Schlüssel zum Ver-
Bei Tieren ist die Vielfalt der Farbensichtigkeit ständnis von Bewusstsein. Wenn sie recht haben,
noch größer. Manchen Hai-Arten fehlen die Zapfen werden wir Menschen nie verstehen können, wie es
auf der Netzhaut, sie sind Monochromaten. Bienen ist, ein Fangschreckenkrebs zu sein. 
IHR SCHRITT IN DIE AUTARKIE – QR-Code scannen und
Pult 30 entdecken!

ARCHITEKTUR NEU GEDACHT

Mit dem neuen Musterhaus in Simmern beweisen wir einmal mehr, dass individuelle Architektur und Nachhaltigkeit Hand in Hand gehen
können. Denn das Einfamilienhaus, das auf dem Pult 30 basiert, begeistert unter anderem mit seiner außergewöhnlichen Fassadengestaltung,
seinem offenen, lichtdurchfluteten Wohnkonzept sowie seinem enorm niedrigen Wärmebedarf, mit dem es den Eigentümern möglich wird,
nahezu unabhängig von gängigen Stromversorgern zu bleiben. So ist es beim Pult 30 beispielsweise möglich, die Haustechnik um ein eigenes
Hauskraftwerk von E3/DC mit Photovoltaikanlage und Speicher zu erweitern. Gemeinsam mit den ressourcenschonenden Verbrauchsstellen,
einer durchdachten Heiz- und Lüftungstechnik sowie der hohen Eigennutzung der selbsterzeugten Energie kann so ein besonders hohes Maß
an Autarkie angestrebt werden. Hier trifft zukunftsweisende Technik auf modernen Wohnkomfort am Puls der Zeit!

Weitere Designhäuser unter www.okal.de

 Schmilz!
Es tropft, ist süß und der Inbegriff heißer
Sommertage. Wie Gefrorenes an einem
Holzstäbchen es bis in unser popkulturelles
Gedächtnis schaffte und warum wir alle mehr
Eis-am-Stiel-Momente im Leben brauchen

Text Paula Schweers  Fotos Max Siedentopf

92
93
 Die Fotoreihe »Pleasure Portraits«
des deutsch-namibischen Fotografen
Max Siedentopf ist eine Ode an das Eis.
Süßspeisen sind ein Lieblingsthema des
Künstlers: Seine Bildstrecke »Let Them Eat
Cake« zeigt Torten, die mit Beleidigungen
aus Zuckerguss verziert sind. Auch die
»Pleasure Portraits« haben eine ironische
Komponente: So bunt und verspielt ihr
Make-up ist, so ausdruckslos schauen die
Porträtierten ins Leere.
96
97
EINFACH ZUM DAHINSCHMELZEN
Text Paula Schweers
E
s sind die Bausteine eines Som-
mers: viel Zeit, Sonne im Ge-
sicht, ein Eis in der Hand. Die
Glasur knackt beim Reinbeißen.
Puh, ist das süß! Cremiger Schmelz breitet
sich im Mund aus. Plötzlich ist man wieder
neun Jahre alt und fühlt sich auf Super-
marktparkplätze und Freibadwiesen zu-
rückversetzt. Das Eis schmeckt nicht nur
nach Schokolade, sondern auch nach Som-
merferien und Tagen voller Müßiggang.
Nach dem Genuss bleibt nur der abge-
lutschte Holzstiel übrig, den man etwas
ratlos in der Hand hält.
Längst wird dieser kleine Glücksmo-
ment für den Massenkonsum produziert:
Um die acht Liter Speiseeis isst eine Person
in Deutschland durchschnittlich im Jahr.
Bis zu 30.000 Eis am Stiel laufen in den
Produktionsanlagen großer deutscher Eis-
hersteller pro Stunde übers Band. Vom
Kaktuseis mit grün-rot-gelben Frucht-
schichten und einem Knuspermantel, der
beim Lutschen auf der Zunge bitzelt, über
das Solero mit Orangenglasur und Vanille-
kern bis zum Flutschfinger in Signalfarben
– die Klassiker werden so geliebt, dass die
Nerven der Menschen blank liegen, wenn
sie aus dem Handel verschwinden oder gar
eine Rezeptur geändert wird.
Als Langnese das Nogger Choc 2001
vom Markt nahm, formierte sich auf Studi­
VZ eine Protestgruppe mit 16.000 Fans –
die wütenden »Nogger Choc Vermisser«
brachten erstmals mithilfe einer Online-
Petition ein abgesetztes Eis zurück in die
Kiosk-Kühltruhen. Auch das Dolomiti, ein
Wassereis in den italienischen National-
farben mit drei Zacken, die an Berggipfel
erinnern, hat eingeschworene Liebhaber. Als
es 1994 nach sieben Jahren Produktions-
pause zurückkehrte und statt nach dem
traditionellen Dreiklang aus Zitrone, Him-
beere und Waldmeister plötzlich nach Erd-
und Stachelbeer-Aroma schmeckte, rea-
gierte die Kundschaft verstimmt: Viele
Menschen bemängelten, dass die Neuauf-
lage wirke, als hätte die eigene Mutter sie
selbst im Gefrierfach hergestellt.
Die Idee zu Gefrorenem am Holz-
stäbchen stammt übrigens von einem Kind:
An einem kalten Wintertag im Jahr 1905
vergaß ein Junge namens Frank W. Epper-
son beim Spielen auf der Veranda seiner
Eltern in San Francisco ein Glas mit Limo-
nade aus Brausepulver und Wasser, die er
sich mit einem Holzstäbchen zusammenge-

rührt hatte. Als er sich am nächsten Morgen
wieder daran erinnerte, war das klebrige
Gemisch um den Stiel festgefroren.
So erzählte es zumindest Epperson, in­
zwischen ein eher erfolgloser Limonaden­
händler, als er seine Zufallsentdeckung 1923
unter dem Namen Epsicle patentieren ließ
– ein Kunstwort, zusammengesetzt aus dem
englischen icicle, Eiszapfen, und seinem
Nachnamen. Er beschrieb die Leckerei als
»gefrorenes Konfekt von attraktivem Aus­
sehen, das bequem ohne Verunreinigung
durch Kontakt mit der Hand und die Not­
wendigkeit eines Tellers, Löffels, einer Gabel
oder eines anderen Hilfsmittels verzehrt
werden kann«. Zwei Jahre später verkaufte
er aus Geldnot die Idee mit dem veränderten
Namen Popsicle an den großen Nahrungs­
mittelhersteller Joe Lowe Corporation.
Ebenfalls im Jahr 1923 reklamierte
auch der Süßwarenhändler Harry B. Burt
aus Ohio die Idee für sich und meldete ein
Patent für Vanilleeis mit Schokoladenüber­
zug am Stiel, in Deutschland später »Rahm­
eis­
lut­
scher« genannt, unter dem Namen
Good Humor Bar an. Ein turbulenter
Rechtsstreit um die Urheberschaft vom
ersten Eis am Stiel entbrannte, an dessen
Ende eine außergerichtliche Einigung ver­
einbart wurde – die Produzenten teilten den
neuen Markt ab 1926 unter sich auf.
Das Besondere an der Erfindung der
beiden Männer: Sie machte Eis, das bis
dahin ein Luxusgut war, billig und mobil.
Diese Entwicklung war lange nicht abzu­
sehen, Gefrorenes galt als Delikatesse der
Reichen und Mächtigen. In China soll es
bereits vor rund 3000 Jahren groß angelegte
Eiskeller gegeben haben, in denen die Ober­
schicht Eis zum Verzehr lagerte. Alexander
der Große ließ seinen Offizieren vor schweren
Schlachten gesüßten Schnee servieren, der
mit Wein, Milch oder Honig verfeinert
wurde, um sie bei Laune zu halten.
Der römische Kaiser Nero ließ sich gar
Gipfelschnee und Gletschereis aus den
Albaner Bergen und den entfernt liegenden
Alpen heranschaffen. Wem das Gefrorene
unterwegs schmolz, dem drohte ein letzter
Besuch in der gefürchteten Löwenarena des
Kaisers. Nero ließ das Eis in holzverkleideten
Erdgruben einlagern und vor dem Genuss
mit Baumharz würzen. Außerdem kühlte er
seinen Wein und das Badewasser damit –
dekadenter geht es kaum.
Um 1530 machte ein Zuckerbäcker aus der
sizilianischen Stadt Catania eine wichtige
Entdeckung: Er bemerkte, dass sich Wasser
abkühlt, wenn er darin Salpeter auflöst.
Eine Methode der künstlichen Kälteerzeu­
gung, die der venezianische Weltreisende
Marco Polo bereits im 13. Jahrhundert
nach seiner Rückkehr von Reisen durch
China beschrieben hatte.
Der Zuckerbäcker nutzte Roheis und
Salpetersalze, um – in einer Metallschüssel
und unter ständigem Rühren – eine Creme
aus Ei und Sahne zu kühlen. Ein Vorläufer
des heutigen Milchspeiseeises. Nun konnte
Eis weitgehend unabhängig von der Jahres­
zeit und den Temperaturen hergestellt
werden. Ein Italiener namens Couteaux ent­
Eis am Stiel ist
Herzenssache.
Wird eine Rezeptur
geändert, liegen die
Nerven blank
wickelte im Jahr 1660 eine erste Variante der
Eismaschine. Von nun an schabte man aus
einer Büchse, die sich drehte, das gelato.
Dennoch: Speiseeis blieb zunächst ein
rares und teures Vergnügen, das in Eiscafés
gereicht wurde, in denen Wohlhabende und
Intellektuelle ein und aus gingen. Philoso­
phen und Schriftsteller wie Jean-Jacques
Rousseau und Voltaire oder der französi­
sche Feldherr Napoleon Bonaparte waren
Stammkunden. Erst die Eröffnung von
Eisfabriken in den USA Mitte des 19. Jahr­
hunderts machte den Genuss etwas er­
schwinglicher. Kühlschränke für zu Hause,
die in den 1930er-Jahren billiger und ver­
breiteter wurden, taten ihr Übriges.
Während die Amerikaner längst ver­
rückt nach Eiscreme waren, lief der Verkauf
in Deutschland in der Zwischenkriegszeit
zögerlich an. Dies lag an hygienischen
Bedenken, da es für die Produktion und
den Verkauf von Eiscreme bis 1933 keine
nationale gesetzliche Regelung gab. Eis wurde
oftmals in Wohnungen oder Hinterhöfen
hergestellt und ohne ausreichende Kühlung
verkauft. In der Bevölkerung kursierten zu­
dem Vorurteile gegenüber den Straßenver­
käufern der kalten Spezialität, die zum
Großteil italienische Wanderarbeiter waren.
99
Ihre Eiswagen wurden in den 1920er-Jahren
neben den Kinos gar für die »Verwahrlosung
der Jugend« verantwortlich gemacht, da
hier neben Eis oftmals auch Zigaretten und
Alkohol angeboten wurden.
Ab 1933 führten die neuen Vorschrif­
ten für den Eisverkauf zur Eröffnung vieler
»Gelaterias«, in denen Eis unter hygieni­
scheren Bedingungen hergestellt wurde –
eine Entwicklung, die der Ausbruch des
Zweiten Weltkriegs unterbrach. Viele italie­
nische Eismacher verließen Deutschland
und kehrten erst nach Kriegsende zurück.
Die Eis-am-Stiel-Ära begann dann so rich­
tig mit dem Aufschwung der 1950er-Jahre.
Nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren
blühte das Straßengeschäft. Große Konzerne
wie Langnese oder Schöller bauten ihren
Vertrieb in Deutschland aus.
Seitdem lassen sich Kindheiten entlang
von Eissorten erzählen: Die Sechzigerjahre
schmeckten nach Italien-Sehnsucht und
Badeurlaub. Nach Capri und Split, nach Eis,
das schmelzend vom Stiel auf den Strand
fällt. In den Achtzigern, Ära der Leggings
und Schulterpolster, entstanden schräge
Kombinationen wie das spiralförmige
Twister mit Ananas-, Limetten- und Erd­
beergeschmack oder das knallrote Bum
Bum (mit Kaugummistiel!), das nach Ten­
nisidol Boris Becker und seinem Wimble­
don-Sieg benannt wurde. Mit der umstrit­
tenen Filmreihe Eis am Stiel (1978), die
romantische Verwicklungen von Jugendli­
chen im Sommerurlaub darstellt, hielt der
unsexy klingende Rahmeislutscher endgül­
tig Einzug in die Popkultur. Magnum, das
selbst ernannte »erste Eis für Erwachsene«,
warb bald mit halb nackten Models und
erotisierte das Knacken der Schokoglasur.
Seit gut drei Jahren steigt die Nach­
frage nach veganen Varianten wie dem Him­
beer-Schokoladeneis Magnum Raspberry
Swirl auf Basis von Erbsenprotein. Davor
waren es Superfood-Aromen wie Matcha
und Avocado. Vielleicht werden wir in zehn
Jahren an Eiskreationen aus Insektenmilch
zurückdenken. Bei allen Innovationen muss
das Beste vom Eis am Stiel aber bleiben:
seine Flüchtigkeit. Die bemerkt man gleich,
wenn man die Packung aufreißt und die
Finger von der tropfenden Kostbarkeit
kleben. Dann gilt: lieber schnell essen! Ir­
gendwann ist schließlich jeder Moment
vorbei – und ist er auch noch so schön.   
100

WO WOLLEN SIE
DENN HIN?
Dieser ZEIT WISSEN-Reiseführer
bringt Sie zu den aufregendsten Zielen
von Fantasie und Wissenschaft.
Brechen Sie mit uns auf, Sie werden
als ein anderer zurückkehren

 Empfehlungen für Bücher, Filme und Digitales

BÜCHER
»Take your picture here!« Das
Geschäft mit dem Kulturerbe
Wie schön könnte der Louvre sein oder die
vom Dschungel überwachsene Tempelstadt
Angkor, die Kraterinsel Santorin, die Seren-
geti – wenn da nicht ständig all diese Tou-
risten im Weg stünden. Touristen, das sind
immer die anderen, das sind die, die alles
verderben. Diese Klage ist so alt wie die
Reiselust der Neuzeit, seit das Bürgertum
zu Goethes Zeiten Italien als Sehnsuchts-
land entdeckte. Neu sind heute nur die
Massen. Der Massentourismus aber wird
nach Kräften gefördert, denn, wie der italie-
nische Journalist Marco d’Eramo schreibt,
der Tourismus ist gemessen am Umsatz
längst zum größten Industriezweig der Erde
geworden. Versuche, besondere Orte als
Kulturerbe zu bewahren, bewirken das Ge-
genteil: Das Etikett zieht Menschen an wie
das Licht die Motten. Dass dabei etwas be-
wahrt wird, ist ein Missverständnis. 1978
erklärte der damalige französische Kultur-
minister unverblümt: »Das Kulturerbe ist
ein fossiler Reichtum, der wie Erdöl zu
handhaben und auszubeuten ist.« So ist es
gekommen. Und alle machen in diesem
Spiel mit. Die touristischen Stätten machen
ihre Sehenswürdigkeiten konsumierbar,
und die Touristen klappern wie auf einer
Schnitzeljagd die für sie markierten Sehens-
würdigkeiten ab. Take your picture here. Und
wenn es zu eng wird, werden Orte erfinde-
risch. Die chinesische Bergstadt Lijiang, ein
Weltkulturerbe, wurde 1996 von einem
Erdbeben zerstört. Nach dem Wiederauf-
bau war die Altstadt auf wundersame Weise
größer geworden. Marco d’Eramos Besich-
tigung des touristischen Zeitalters gehört
zum Klügsten, was über das Phänomen
Tourismus geschrieben wurde. Unschuldig
ist dabei niemand: Denn die Touristen, das
sind wir alle, wenn wir reisen.
Marco d’Eramo: Die Welt im Selfie, Sachbuch,
2018, Suhrkamp, 362 S.
Jede Reise ist eine zu sich selbst
Seit der Mensch sich vor ein paar Hundert-
tausend Jahren in Afrika auf den Weg ge-
macht hat, hat er nicht mehr aufgehört zu
reisen. Ständig sind wir unterwegs und auf
der Suche nach einem anderen Ort, an dem
es besser oder schöner sein könnte. Der Li-
teraturwissenschaftler Rainer Wieland hat
eine großartige Auswahl literarischer Be-
richte von Reisen in alle Welt versammelt.
Sie reichen von den antiken Seefahrern bis
zu Bruce Chatwin, und eins haben sie mit
Sicherheit gemein: Je größer das Abenteuer,
desto strahlender geht der Held, der es be-
steht, aus ihm hervor. Rainer Wieland: Buch
des Reisens, 2015, Propyläen, 492 S.
Reisen als Lebenskunst
Ständig bekommen wir Tipps, wohin wir
reisen sollen. Kaum jemand fragt, warum.
Wie kann das Reisen uns zu glücklicheren
Menschen machen? Diese Frage diskutiert
Alain de Botton, der britische Richard David
Precht, mit freundlicher Unterstützung von
van Gogh, Baudelaire, von Humboldt und
anderen Stars. Alain de Botton: The Art of
Travel, Sachbuch, 2003, Penguin, 272 S.
Bis ans Ende Europas
Patrick Leigh Fermor war 18, als er im De-
zember 1933 aufbrach und zu Fuß Europa
durchquerte. Das Tagebuch, das er auf der
Wanderung führte, ging im Zweiten Welt-
krieg verloren, und so schrieb er diese Trilo-
gie allein aus der Erinnerung. Patrick Leigh
Fermor: Die Zeit der Gaben, Zwischen Wäl-
dern und Wasser, Die unterbrochene Reise,
seit 1977, Dörlemann und Fischer TB.
Eine Expedition für das Urmeter
Die Französische Revolution hat nicht nur
den König gestürzt, sondern auch den Meter
als Längenmaß erfunden. Der Historiker
Ken Alder rekonstruiert die abenteuerliche
Expedition zweier Forscher, die zur Berech-
nung des Urmeters die Distanz zwischen
Dünkirchen und Barcelona vermessen.
Ken Alder: Das Maß der Welt, Sachbuch,
2003, C. Bertelsmann, 544 S.

Zu den Sternen! An den Strand! Das Ziel mag nah sein oder fern – immer lassen wir etwas zurück
Ohne Wege wären wir verloren
Robert Moor ist ein leidenschaftlicher
Wanderer, und irgendwo auf dem legendä-
Abbildungen: Suhrkamp Verlag; Paramount Pictures; Suhrkamp Verlag; Reprodukt Verlag; Illustrationen: Christoph Lehner
ren Appalachian Trail erkannte er, dass die
Entscheidung für einen Pfad mehr ist, als
nur einem Weg zu folgen. Sie offenbart,
warum der Mensch wandert. Robert Moor:
Wo wir gehen, Sachbuch, 2020, Insel, 412 S.
Auf alle, die sich begegnen
und nie wiedersehen
In Ich bleibe wird oft seitenlang kein Wort
gesprochen. Das ist ungewöhnlich für einen
Comic, aber was soll man auch sagen, wenn
am ersten Tag des Strandurlaubs der Mensch
stirbt, mit dem man gekommen ist. Außer-
dem ist ja dennoch alles in Bewegung. Ein
Buch, das vom Reisen erzählt, vom Trauern
und Ankommen. Lewis Trondheim: Ich bleibe,
Graphic Novel, 2023, Avant Verlag, 128 S.
Sonnenstaat mit Schattenseiten
Die aus Valencia stammende Zeichnerin
Ana Penyas zeigt, wie der Massentourismus
in Spanien seit der Franco-Zeit immer weiter
um sich greift, wie die Pools mehr werden
und das Wasser knapper – in Buntstift-
zeichnungen, die oftmals wirken wie Ur-
laubspostkarten. Ausgezeichnet mit dem
höchsten spanischen Comic-Preis Premio
Nacional del Cómic. Ana Penyas: Sonnen-
seiten, Graphic Novel, 2022, Bahoe, 144 S.
»Wir sind
alle Touristen
für irgendwen
anders«
Fabienne, Hauptfigur der
Graphic Novel »Ich bleibe«
Durch Deutschland
Mit den Augen des vielleicht meistgereisten
Deutschen sehen wir die Heimat neu und
hören den Jazz wie zum ersten Mal. Roger
Willemsen ist wochenlang mit dem Zug
durchs Land gefahren und beschreibt die
Schönheit der Tristesse. Roger Willemsen:
Deutschlandreise, 2002, Fischer, 208 S.
Um die Welt
In Hamburg ging Felicitas Hoppe an Bord
eines Containerschiffes und reiste nach New
York, Australien und Asien. Nach vier Mo-
naten kam sie wieder an Land – mit einem
Klabautermann an der Hand. Felicitas Hop-
pe: Pigafetta, Roman, 1999, Fischer, 160 S.
Durch die Zeit
Die Ziele dieses fantastischen Reiseführers
liegen in der Vergangenheit: Kurztripp zur
Weltausstellung 1855, Urlaub in die letzte
Eiszeit. Mit Verhaltenstipps und Zeitreisen-
Physik. Kathrin Passig, Aleks Scholz: Hand-
buch für Zeitreisende, Sachbuch, 2020, 336 S.
Auf den Berg
Weil er nichts mehr fürchtete als den Frieden
der Trägheit, bestieg Petrarca 1336 in der
Provence den Mont Ventoux und erfand
das Naturerleben als literarische Gattung.
Francesco Petrarca: Die Besteigung des Mont
Ventoux, 1336, Reclam, 64 S.
101
Hisst das Großsegel!
Von England auf die Galapagosinseln, von
der Bibel zur Evolutionstheorie: Die Schiffs-
reise des jungen Charles Darwin ist ein
Weltkulturerbe und zu oft reduziert auf
formelhaft abstraktes Wissen; Abstammung,
natürliche Selektion, vielleicht noch Finken-
schnäbel. Aber Farben, Formen, Tiere und
Landschaften? Die machen diese gezeichnete
Fassung der legendären Erkenntnisreise
lebendig. Fabien Grolleau / Jérémie Royer:
Charles Darwin und die Reise auf der HMS
Beagle, Graphic Novel, 2019, Knesebeck, 176 S.
FILME & SERIEN
Am Ende ist alles gut,
und die Ferien sind vorbei
Er ist Vater von drei Mädchen, sie hat zwei
Söhne, beide sind alleinerziehend und
können sich nicht ausstehen, finden sich
aber – warum, ist kompliziert – plötzlich in
Südafrika in einem Hotel wieder und müssen
sich die Zimmer teilen. Komödie mit Adam
Sandler und Drew Barrymore, die mehr über
Urlaub erzählt als manche Dokumentation.
Urlaubsreif, Spielfilm, 2014, 115 Min.
Wir verlassen die Erde
Der beste Scifi-Film über interstellares Rei­
sen: Interstellar, Spielfilm, 2014, 169 Min.
102
Mit dem Auto
Der Spielfilm Stau von 1979 will etwas: Die
Satire will zeigen, wie eine festgefahrene
Gesellschaft langsam in ihre Teile zerbricht.
Soll heißen: Der Stau, das sind wir alle. Bei
uns auf der Autobahn steht halt nur nicht
Marcello Mastroianni auf der Nebenspur.
Stau, Spielfilm, 113 Min.
Mit dem Zug
Die Erde ist ein Eisplanet. Nur einige Tausend
Menschen leben noch. Sie rasen in einem
ewig langen Zug um die Welt, in dem ein
strenges Klassensystem herrscht. Bis die Un-
terdrückten aufbegehren. Und die Frage auf-
kommt: Was passiert, wenn wir anhalten?
Snowpiercer, Spielfilm, 2013, 126 Min.
Mit dem Flugzeug
Der Unternehmensberater Ryan Bingham
(George Clooney) jettet durch die USA,
um in Konzernen Leute zu entlassen. Sein
Traum: als Vielflieger die seltene Zehn-Mil-
lionen-Meilen-Marke zu erreichen. Dann
soll er den Job plötzlich vom Schreibtisch
aus erledigen – und stellt fest, dass er lange
schon den Boden unter den Füßen verloren
hat. Up in the Air, Spielfilm, 2009, 110 Min.
Mit dem Dampfer
Ein Schiff, ein Berg, eins muss über den an-
deren. Fitzcarraldo reist zu den Außenposten
des Wahnsinns. Spielfilm, 1982, 158 Min.
Top 5 Roadmovies
Tanken Sie voll, und geben Sie Gas: 1. Easy
Rider, 2. Paris, Texas, 3. Mad Max: Fury
Road, 4. Blues Brothers, 5. Rainman
Wetten, wir sind an Weihnachten
wieder zurück in London?
Bei 31 Stunden, 27 Minuten liegt der Re-
kord für die schnellste Erdumrundung –
und auch ansonsten ist einiges passiert, seit
Jules Vernes Roman In 80 Tagen um die Welt
vor 150 Jahren erschienen ist. Diese interna-
tionale TV-Serie modernisiert die Geschich-
te, es dreht sich viel um E­man­zi­pa­tion und
Rassismus. Sehenswert. Auch wegen der
tollen Schauspielerin Leonie Benesch. In 80
Tagen um die Welt, 8 Episoden, 2021
DIGITALES
Einsteigen, bitte!
Von der A 1 bis zur A 115: Bei jeder Witte-
rung sind wir im Fernbus Simulator unter-
wegs. Hinter uns die Fahrgäste, vor uns das
Cockpit, dazwischen wir: ein Mensch, der
während der Fahrt bitte nicht angesprochen
werden will. Aerosoft Fernbus Simulator,
Videospiel, seit 2016, div. Plattformen
Vor dem Ende der Welt
Eine junge Frau verlässt zum ersten Mal ihr
Dorf, um die Welt draußen einzufangen.
»Season« und »Up in the Air« erzählen von der Reise zu uns selbst
Denn so, wie die ist, wird sie nicht bleiben.
Sie hat ein Skizzenbuch dabei, eine Kamera
und einen Rekorder, um Geräusche aufzu-
nehmen. Season ist ein Videospiel auf der
Jagd nach Erinnerungen und Erklärungen.
»Aufzeichnen, wie es war, als wir am Leben
waren«, darum geht es. Unterwegs ist die
Frau mit dem Fahrrad. Man sieht den Wind
und den Regen, man spürt den Untergrund
durch das Vibrieren des Controllers – und
weiß und fühlt dabei: Es ist gut, der Welt
nahe zu kommen. Season: Ein Brief an die
Zukunft, Videospiel, 2023, div. Plattformen
Urlaub mit Erweiterung
In der Videospielreihe Die Sims spielt man
mit einem digitalen Puppenhaus. Dazu gibt
es Erweiterungen, mit denen die Sims zum
Beispiel das Haus verlassen und in den Ur-
laub fahren können. Die heißen dann Ab
ins Schneeparadies oder Dschungelabenteuer
oder Inselleben. Wie auch immer man dazu
steht: Die Reihe hat sich mehrere Hundert
Millionen Mal verkauft – das heißt: Hier
werden Sehnsüchte sichtbar. Die Sims, Video-
spielreihe, seit 2000, div. Plattformen
Wo geht es lang?
Ein Lkw-Fahrer fragt an einer Tankstelle
nach dem Weg, dann beginnt ein irrer
Roadtrip. Wie ein David-Lynch-Film zu­
einem Samuel-Beckett-Buch. Kentucky Route
Zero, Videospiel, seit 2013, div. Plattformen
Abbildungen: Scavengers Production; Mauritius Images; Prisma by Dukas
 103
DIE
GLORREICHEN
Erzähl mir von der Welt Wie weit man kommt

Wer viel reist, hat viel zu erzählen. Gut,
wenn der Reisejournalist Erik Lorenz dabei
zuhört und daraus einen Podcast macht,
mit inzwischen mehr als 300 Folgen. Auf
der Gästeliste stehen Forscherinnen, Promi-
nente, Autoren, Sportler, Aktivistinnen,
unter anderen Canan Topçu, Peter Wohl-
leben, Jane Goodall, Antje Boetius, Boris
Herrmann. Weltwach, Podcast, weltwach.de
Abgedrehte Orte
Die Bloggerin Andrea David mag Kino und
Reisen und besucht seit fast 20 Jahren Orte,
an denen Filme gedreht wurden – von den
italienischen Abruzzen (Der Name der Rose)
bis zur Zugspitze (Big Game mit Samuel L.
Jackson). Wir können ihr mit den Augen
nachreisen auf Facebook, Instagram und
der reichhaltigen Website filmtourismus.de.
Pfade der Erkenntnis
In der Outdoor-App Komoot stellt ZEIT
WISSEN mehr als 40 lehrreiche Wanderun-
gen vor. Ein Teil davon stammt aus der Serie
»Pfade der Erkenntnis«, für die wir mit
Fachleuten auf den Spuren von Geologie,
Kultur- und Menschheitsgeschichte durch
Deutschland gewandert sind. Die Komoot-
Kollektionen sowie alternativ GPS-Tracks
sind verlinkt unter www.zeit.de/zeit-wissen/­
2017/03/erkenntnispfade oder unter
komoot.de/user/zeitwissen/collections
Die interaktive Karte Chronotrains EU zeigt
für jeden Punkt in Europa, wie weit man
von dort aus in fünf Stunden mit dem Zug
reisen kann. Zum Beispiel von Berlin bis
Prag oder von Zagreb bis Graz. Schönes
Futter für die Fantasie. chronotrains.com/de
Wie geheim das ist
The Secret Door ist eine Tür zu besonderen
Orten auf Google Street View. Per Zufall
öffnen sich faszinierende, schräge Ansichten,
von trashigen Geschäften über Freizeitparks
und Restaurants bis hin zu Wüsten- und
Unterwasserlandschaften. Die virtuelle Tour
beginnt hier: t1p.de/geheimtuer
Wie das Leben so spielt
Kulturgeschichte im Zeitraffer: Dieses Video
zeichnet für zwei Jahrtausende die Lebens-
wege von 150.000 Persönlichkeiten vor allem
in Europa und den USA nach: Wo sind sie
geboren, wo gestorben? cultsci.net
Wie viele das sind
Wer kein Kapitän ist oder noch nie auf der
Live-Website Marinetraffic war, wird viel-
leicht überrascht sein, wie viele Container-
schiffe, Tanker oder Kreuzfahrer in diesem
Moment über die Weltmeere reisen oder in
Häfen liegen. Wer Kapitän sein möchte,
kann sich das hier vorstellen. marinetraffic.
com, auch als App für iOS und Android
7
Reisen ist nicht alles: Weitere ­
lesenswerte Neuerscheinungen
Simone Böcker stillt mit Rewilding die
Sehnsucht des modernen Menschen
nach Ursprünglichkeit. Aufbau, 237 S.
In Geist und Müll berichtet Guillaume
Paoli »von Denkweisen in post­
normalen Zeiten« – in denen es für ­
alles zu spät scheint, es zum Besseren
zu wenden. Matthes & Seitz, 268 S.
Für Andreas Tjernshaugen ist
Das verborgene Leben der Füchse
der Versuch, sich an etwas Verlorenes
aus der Kindheit zu erinnern – als er
noch viel Zeit damit verbrachte, wilde
Tiere zu beobachten. Insel, 213 S.
Der französische Anthropologe ­
Philippe Descola zeigt in Die Formen
des Sichtbaren, was Kunst offenbaren
kann, wenn man die eigene Denk­
tradition vergisst. Suhrkamp, 783 S.

In T. C. Boyles Blue Skies wurstelt sich

eine Familie durch den Klimawandel.
Der Sohn klimabewusst, die Tochter
klimaegal. Oje! Hanser, 400 S.

»Ich war bis über Knoten dienen seit Jahrtausenden als

beide Ohren in Werkzeug, Symbol, Ornament, Zierde.

Tarzan verknallt – Michael Karg hat ihre Kulturgeschichte

aufgeschrieben. zu Klampen, 296 S.
und neidisch, dass
»Auf Lieferwegen um die Welt« reist
er die falsche Jane das einzigartige Bildererklärbuch
geheiratet hatte. Wo kommen unsere Sachen her? der
Illustratorin Julia Dürr – und das ist
So begann alles« nicht nur was für Kinder. Beltz, 40 S.

Jane Goodall erzählt im Podcast »Weltwach« von ihrer Liebe zu den Tieren
104

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

JETZT SIND SIE DRAN!
Am Anfang jeder Ausgabe von ZEIT WISSEN
­stellen wir drei Fragen. Am Ende des Heftes
wünschen wir uns jetzt von Ihnen eine Frage.
Welche kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie die
Wachstation am Strand auf dem Bild rechts­
betrachten? Schreiben Sie uns bitte bis zum 20. Juli
2023. Die beste eingesandte Frage beantworten wir
in der nächsten Ausgabe. Gewinnen können Sie den
aktuellen ZEIT-Bildband »Hotels zum Verlieben«.

Die Redaktion erreichen Sie unter:

redaktion@zeit-wissen.de

Recherchequellen: Podcast:
Unter zeit.de/serie/quellennachweis-zeit-wissen Unser ZEIT WISSEN-­Podcast »Woher weißt
finden Sie zu ­zahlreichen Artikeln dieser Ausgabe Du das?« erscheint alle zwei Wochen: Spannende
die Studien und Bücher, die unsere Autoren und Themen mit Hintergrund­infos, Interviews
Autorinnen zurate gezogen haben. und Reportagen. Zu hören ist er unter
Social Media: Folgen Sie uns auf Instagram unter zeit.de/zeitwissen-podcast sowie auf Spotify und
@zeitwissen und auf facebook.com/zeitwissen. allen anderen großen Podcast-Plattformen.

Das nächste ZEIT Wissen erscheint am 29. August 2023

IMPRESSUM

Herausgeber Andreas Sentker  Chefredakteur Andreas Lebert  Art-Direktion Wiebke Hansen  Redaktion Hella Kemper, Dr. Max Rauner, Katrin Zeug 
Bildredaktion Sebi Berens  Layout Christoph Lehner  Autoren Niels Boeing, Sven Stillich  Mitarbeiter dieser Ausgabe  Lea Erdmann, Lisa Feldmann,
Corinna Hartmann, Tobias Hürter, Kim de l’Horizon, Dr. Susanne Mayer, Johanna Michaels, Hanno Rauterberg, Stefan Schmitt, Ulf Schönert, Paula Schweers 
Online-Redaktion Jochen Wegner (verantw.)  Korrektorat Thomas Worthmann (verantw.), Oliver Voß (stellv.)  Geschäftsführung Dr. Rainer Esser 
Verlagsleitung Magazine Sandra Kreft, Malte Winter (stellv.)  Magazine Management Fanny Märcz  Verlagsleitung Marketing und Vertrieb Nils von der Kall 
Leitung Unternehmens­kommunikation und Veranstaltungen Silvie Rundel  Anzeigen ZEIT Media, www.media.de  Herstellung und Schlussgrafik
Foto: Tommy Kwak

Torsten Bastian (verantw.), Patrick Baden, Stefanie Fricke, Oliver Nagel  Repro Mohn Media Mohndruck GmbH  Druck Firmengruppe APPL, appl Druck,
Wemding  Anzeigenpreise ZEIT Wissen-Preisliste Nr. 19 vom 1. Januar 2023  Abonnement Jahresabonnement (6 Hefte) 47,40 Euro, Lieferung frei Haus,
Auslandsabonnementpreise auf Anfrage; Abonnentenservice: Telefon 040/42 23 70 70, Fax 040/42 23 70 90, E-Mail abo@zeit.de, www.zeit.de/zw-abo 
Anschrift ZEIT Wissen, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg, Telefon 040/32 80-0 
Diese Ausgabe enthält in einer Teilauflage eine Publikation des Unternehmens Mey & Edlich GmbH, 04227 Leipzig
 DIE BESTE FRAGE AM SCHLUSS 105

Vielen Dank für Ihre zahlreichen Einsendungen

zu diesem Bild im vorigen Heft.
Gewonnen hat die Frage von Karin Tschackert

Text Paula Schweers  Foto Pavlo Fyshar

WAS WÜRDE MIT UNSERER SELBSTWAHRNEHMUNG PASSIEREN,

WENN ES KEINE SPIEGEL GÄBE?

W
as haben der berühmte
Berliner Technoclub Berg-
hain und ein mittelalterli-
ches Kloster gemeinsam?
Beide verbannten die Spiegel – für ein paar
Stunden rauschhafte Selbstvergessenheit
beim Tanzen oder die Abkehr von irdischer
Eitelkeit. Spiegel gelten seit der Antike als
mächtige Werkzeuge der Selbsterkenntnis.
Stücke aus Bronze oder Silber wurden po-
liert, um schemenhaft das eigene Gesicht
darauf zu erkennen – und die Seele. Wenn
früher jemand starb, wurden häufig die
Spiegel im Haus verhängt, damit die Seele
des Verstorbenen ungehindert in eine andere
»Welt« gehen konnte. Ein Aberglaube.
Doch eine Welt ohne Spiegel wäre eine
Welt, in der uns vieles verborgen bliebe.
Nicht nur, ob die Frisur sitzt oder die Falten
tiefer werden. Auch wie wir wirken, was wir
ausstrahlen und ob es mit dem überein-
stimmt, wie wir sein wollen. Wir kennen alle
das Phänomen, dass uns die Nase zu groß
erscheint oder der Bauch zu dick – insbeson-
dere dann, wenn es uns nicht gut geht:
Wenn der Partner einen gerade verlassen hat
oder wir Streit mit der besten Freundin haben,
habe das Einfluss auf unser mentales Körper-
bild, schreibt die Psychologin Lara Maister
in Psychological Science. Wie wir uns selbst
sehen, hängt stark mit unserem Selbstwert-
gefühl zusammen. Menschen mit Essstörun-
gen nehmen ihren Körper oft als verzerrt,
unförmig und voller Makel wahr.
An schlechten Tagen meiden wir lieber
den Blick in den Spiegel. Dabei brauchen
wir die Selbstbetrachtung sogar für unsere
Persönlichkeitsentwicklung. Kleinkinder
nehmen ihr Spiegelbild zunächst noch als
eine andere Person wahr. Erst ab einem Alter
von etwa anderthalb Jahren erkennen Kinder
freudig, dass sie es selbst sind, den sie da im
Spiegel sehen. Für diese Phase hat der Psycho-
analytiker Jacques Lacan bereits in den
1930er-Jahren den bis heute bedeutenden
Begriff des Spiegelstadiums geprägt. Damit
beschreibt Lacan, wie sich das Kind im
Spiegel, aber auch in den Reaktionen seiner
Bezugspersonen erkennen lernt. Das geht
aber nicht ohne die sogenannten Spiegel-
neuronen, die der Neurophysiologe­
Giacomo Rizzolatti 1998 in der Großhirn-
rinde von Rhesusaffen entdeckte.
Spiegel­neuronen sind Nervenzellen im
menschlichen Gehirn, die sowohl beim­
Erleben eines Gefühls als auch beim Beob-
achten von Gefühlen anderer Menschen
aktiv sind. Für Rizzolatti stellen sie die bio-
logische Basis der Empathie dar.
»I’ll be your mirror. Reflect what you are,
in case you don’t know«, singt die Musikerin
Nico der Band The Velvet Underground.
Denn selbst wenn wir alle Spiegel verhängen
würden, kämen wir nicht von ihnen los: Wir
brauchen eine spiegelnde Umwelt, um zu
uns selbst zu finden. 
106
VON DIR LERNEN
S
eit ein paar Jahren finden Bio-
logen immer mehr über die
Langhälse in der afrikanischen
Savanne heraus, auch über die
hoch entwickelte Form ihrer Herdenstruk-
tur. Ein ziemlich sicheres Anzeichen für
eine sozial komplexe Gemeinschaft ist,
wenn die Weibchen lange über ihr gebärfä-
higes Alter hinaus leben (wie
der Mensch). Dadurch gibt es
unter Giraffen, wie eine Studie
im Etosha-Nationalpark in Na-
mibia gezeigt hat, neben Paar-
bindungen auch Beziehungen
zwischen den Generationen,
Freundschaften sowie Einzel-
gänger, die eher lose mit der
Herde verbunden sind. Eine
Fission-Fusion-Society nennen
das die Biologen, also eine Aus-
einander-und-wieder-zusam-
men-Gesellschaft: Mal sind die
Tiere in einer Herde unterwegs,
dann lösen sich Gruppen oder
einzelne Tiere ab und finden zu
späteren Zeiten in neuen Kon-
stellationen zusammen. Diese
dynamische soziale Struktur ist für den Über-
lebenserfolg einer Herde wichtig. Warum?
Der US-amerikanische Psychologe
Salomon Asch hat in den 1950er-Jahren
eine Reihe von Studien veröffentlicht, die
den Konformitätsdruck in Menschengrup-
pen zeigt: Der Einzelne passt sein Urteil dem
des Kollektivs an. Er verlässt sich gern auf
die Gruppe. Und die Leistung einer Gruppe
ist tatsächlich meistens besser als die durch-
schnittliche Einzelleistung. Deshalb neigt
der Mensch dazu, Teamwork zu überschät-
zen. Was er dabei übersieht: Die Gruppe
erreicht fast nie die Leistung des besten
Gruppenmitglieds. Das behindert In­no­va­
tion, also die Fähigkeit, für ein Problem
Was tun,
wenn
dringend
neue Ideen
neue Lösungen zu finden. »Die Gruppe hat
gebraucht am Ende oft eine dümmere Idee als jeder
Einzelne im Team«, sagt der Psychologe
werden? Florian Becker von der Technischen Hoch-
schule Rosenheim. Der Einzelne fühlt sich
oft nicht verantwortlich für die kollektive
Entscheidung und bleibt passiv. »Gruppen
reagieren etwa so schwerfällig wie Öltanker«,
sagt Becker. Getroffene Ent-
scheidungen werden nicht so
leicht revidiert, Lösungen um-
ständlich im Kollektiv gefunden.
Die offene Herdenstruktur
der Giraffen lässt Einzelnen da-
gegen mehr Spielraum – was zu
mehr Innovationen führt. Das
hat ein Team um die Verhaltens-
forscherin Federica Amici von
der Universität Leipzig heraus-
gefunden. Ihr Team hat mehr als
100 Huftiere aus 13 Arten un-
tersucht, die in europäischen
Zoos leben, darunter sechs
Rothschild-Giraffen.
Zunächst beobachteten sie,
wie stark die Tiere jeweils sozial
in die Herde integriert waren.
Der Mensch Dann stellten die Forschenden verschlossene
Eimer im Gehege auf, die das Lieblingsfutter
hat damit Probleme. der Giraffen enthielten. Am erfolgreichsten
Die Giraffe gelangten diejenigen Giraffen an die Nah-
nicht rung, die als weniger gut in die Herde in-
tegriert galten. Sie entwickelten bessere
Strategien, um die Eimer zu öffnen.
Der Grund: Wer es gewohnt ist, auf
sich gestellt zu handeln, verlässt sich nicht
auf die Gruppe. Einzelgänger nehmen die
Foto: Gerard Lacz/Imago
Sache selbst in die Hand und agieren dabei
sehr erfinderisch – sie müssen es ja allein
schaffen. Von der Giraffe lernen heißt also:
Erfolg hat nicht, wer im Team beliebt ist
oder viele Freunde hat. Die besten Ideen
Text Hella Kemper entstehen im Alleingang.
ANZEIGE

JETZT ch
ha
ltigkeit.zei
t.d

e
-n
ANMELDEN!

mut-zur
28. 09. 2023
14 UHR
ALTE MÜNZE
BERLIN
Gemeinsam mit Ihnen und unseren Expert*innen
diskutieren wir die drängenden Fragen zur
Klimaherausforderung. Mit dabei sind u.a.
Andreas Sentker, Petra Pinzler, Luke Kemp,
Sara Weber und Özden Terli!

3-Grad+ ?
!!!
Spielen wir das
Climate Endgame?
Die Wahrheit über Wie verhindern wir,
die 3-Grad- dass kontroverse
Erderwärmung! Debatten zum Klima-
wandel den wissen-
schaftlichen Konsens

? überlagern?

§
Welche Innovationen,
Strategien und
Lösungen gibt es in Wie können
Wissenschaft, Politik Unternehmen ihre
und Wirtschaft, um Verantwortung
dieses Drei-Grad- wahrnehmen und
Szenario noch abzu- nachhaltig
wenden? wirtschaften?

Diskussionen Workshops Netzwerken

INITIATIVPARTNER
 vr.de/mitglied

i c h h e i ßt ,
e n s c h af t l
Ge n o s s e n t s e i n .
t ra n s p a r
offe n u n d
Wir sind die Banken mit der genossenschaftlichen Idee.

Als Wertegemeinschaft handeln wir partnerschaftlich,

transparent und verantwortungsvoll. Bei uns kann man
nicht nur Kundin oder Kunde, sondern auch Mitglied sein.
Das stärkt uns als Bank für die Region und bietet weitere
Vorteile. Welche, erfahren Sie hier: vr.de/mitglied