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Barnes, Mark - Kampf Der Großen Häuser 02 - Das Schwarze Herz
Barnes, Mark - Kampf Der Großen Häuser 02 - Das Schwarze Herz
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe Dezember 2014
Copyright © der Originalausgabe 2013 by Mark Barnes
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe by Blanvalet
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlaggestaltung: © Isabelle Hirtz, Inkcraft
Umschlagillustration: © Melanie Miklitza, Inkcraft
Redaktion: Catherine Beck
HK · Herstellung: sam
Satz: Mediengestaltung Vornehm GmbH, München
ISBN: 978-3-641-14488-3
www.blanvalet.de
Das Buch
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Tag unbekannt
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»Anj?«
Indris fühlte, wie sich seine Brust
zusammenzog, und alles Blut schien aus
seinem Gesicht zu weichen. Plötzlich war sein
Mund trocken. Er wollte sprechen, aber in dem
Chaos seines panischen, freudigen, verwirrten,
verletzten und verblüfften Geists bildeten sich
keine Worte.
»Ich bin es.« Sie streckte vorsichtig die Hand
aus, um seine Wange zu berühren.
Er zuckte unwillkürlich zurück und bemerkte
den verletzten Ausdruck in ihren Saphiraugen,
in denen das Weiße nicht zu sehen war.
»Ich bin es wirklich, Indris.«
»Aber … wie ist das möglich?« Eine Hexe flog
heulend über ihre Köpfe hinweg. Ein langer
Kometenschweif zog sich hinter ihrer
fratzenhaften Erscheinung her, dann landete
sie mit dem Gesicht voran ganz in der Nähe
und blieb reglos liegen.
»Das ist eine sehr lange Geschichte, und ich
bezweifle, dass ich die Zeit habe, sie dir jetzt
und hier zu erzählen. Aber ich habe dich
vermisst, mein Held«, sagte Anj atemlos, und
ihr Blick wanderte zwischen seinen Augen und
Gestaltwandlerin hin und her, als könnte das
Schwert jeden Moment von selbst aus seiner
Umhüllung fahren und sie schlagen.
Indris streckte die Hand aus, um den Schmutz
auf Anjs Wange wegzuwischen. Dann bemerkte
er, dass er stattdessen mit dem Daumen ihre
Lippen, dann die Konturen ihres Kiefers
entlangfuhr. Und doch war da etwas Seltsames,
ein Gefühl von atmosphärischer Aufladung.
Bildete er sich das nur ein, oder fühlte sich seine
Haut leicht ölig an, wenn sie ihm so nahe war?
Er starrte sie an, versuchte, hinter den leicht
verschwommenen Umriss ihres Gesichts zu
sehen, um ihre Disentropische Färbung zu
ergründen. Gestaltwandlerin jammerte
verunsichert und sandte Sorgenschauer durch
Indris’ Geist.
Die Zeit hatte sie verändert. Es war jetzt mehr
als sieben Jahre her … Sie war schon immer
schlank gewesen, doch nun war sie dünn wie
ein Bambusrohr. Ihr Haar in all seiner Pracht
erinnerte ihn noch immer an einen Sturm,
doch es wirkte noch wilder als in seiner
Erinnerung. Er bemerkte eine Narbe im Winkel
eines ihrer glänzenden Saphiraugen, eine
blasse Linie, die sich bis zu ihrem Haaransatz
und ihr langes, spitz zulaufendes Ohr
entlangzog. Sie trug eine Rüstung der Sēq, aber
sein Blick blieb für einen Moment auf ihrem
Schwert haften: Es war wie eine Waffe der
Seethe geformt, schmal und gerade, in einer
jadefarbenen Serill-Hülle. Sein Knauf war
ungewöhnlich: ein Oktopus aus Onyx, dessen
Tentakel sich um das obere Ende des Hefts
wanden. Indris verspürte ein Frösteln, als er die
Waffe ansah. Als dürfte er seinen Augen nicht
trauen.
Sie blickte ihn erwartungsvoll an, dann
runzelte sie besorgt die Stirn. Indris zwang sich
zu einem Lächeln und nahm sie in die Arme,
wo sie sich entspannte. Anj roch nach Leder
und dem schwachen Holzkohleduft von
kürzlich eingesetztem Ahm.
»Ich habe nach dir gesucht …«
»Und ich nach dir«, schnitt sie ihm das Wort
ab, ließ ihn jedoch nicht los. Anj lehnte sich ein
wenig zurück, um ihm in die Augen sehen zu
können. »Aber das ist jetzt nicht wichtig. Wir
sind hier, zusammen.«
Zusammen. Anj. Mari. Mari, deren Duft er
noch immer riechen konnte, wenn er die
Augen schloss. Aloe und Honig, nicht der
Geruch nach verbrannter Disentropie. Die
gleiche Mari, mit der er den ganzen Tag lang
seine Freunde verteidigt und Vahineh
beschützt hatte. Aber … das hier war Anj.
»Es wird Zeit!«, brüllte ein Sēqmeister. »Ritter
nach vorn, flankiert eure Meister.
Bibliothekare, bleibt hinten und konzentriert
euch auf eure Schutzzauber! Erlaubt euch keine
Fehler! Jetzt geht!«
Rund um sie stürzten sich die Sēq, die als
Reserve gewartet hatten, in den Kampf.
»Anj …« Ich glaube, ich habe mich in eine andere
verliebt.
Aber sie legte ihm den Finger auf die Lippen.
»Wir werden später genug Zeit haben, um zu
reden. Jetzt wartet Arbeit auf uns.«
Indris sah, wie Feuer hinter seiner lange
vermissten Frau aufloderte. Ein Hexer in der
Erscheinung eines brennenden Kadavers griff
sie an. Das Ahmsah sagte ihm, dass die
Erscheinung eine Illusion war, und zeigte ihm
die Gestalt des beleibten Hexers, die sich
darunter verbarg. Indris schleuderte einen
schnellen Abwehrzauber in Richtung des
Hexers und stürzte vor. Er packte den Mann an
Handgelenk und Oberarm, wirbelte herum
und schleuderte ihn mit dem Kopf voran in
eine Steinmauer. Die Erscheinung erzitterte
leicht, dann verschwand sie ganz, als der Hexer
bewusstlos zu Boden sank.
»Danke, mein Mann«, grinste sie. Und damit
wandte sie sich ab und warf sich wieder in die
Schlacht. Das Knarzen und Klirren von Leder
und Metall ertönte, als sich eine dunkle Gestalt
mit lautem Donnerschlag vom Himmel zu ihm
herabstürzte. Die gesamte Gestalt wurde von
Blitzen umzuckt. Dann stand Indris der
Sturmbringerin gegenüber, deren Miene schon
Warnung genug war.
»Du kannst später Fragen stellen und dumm
durch die Gegend starren, Junge!« Die
Sturmbringerin umklammerte ihren von Blitzen
erhellten Speer mit den Händen, die in
Panzerhandschuhen steckten. Lichtblitze
umflackerten den Speer und tanzten an ihrem
schuppenbewehrten Handschuh hinauf. Ihre
Rüstung war verbeult, und einige der Schuppen
waren beinahe geschmolzen, andere rauchten
im aufblitzenden Licht der Schlacht. Sie holte
aus und warf ihren Schleuderblitz auf einen
riesigen gehäuteten Wolf mit feuerspeienden
Augen. Die Erscheinung schrie kurz und sehr
unwölfisch auf, dann stürzte sie als alter Mann
in roter Robe zu Boden. Eine Seite seines Kopfs
war versengt und schwelte. Der Schleuderblitz
flog zurück in die Hände der Sturmbringerin.
»Ich weiß nicht, wie oder warum, aber sie ist
hier.« Die Sturmbringerin spuckte in den
Staub, dann warf sie einen finsteren Blick zu
Anj hinüber, die gemeinsam mit anderen Sēq
gegen die Hexen kämpfte. Die Luft roch nach
verbrannter Erde. Der Kampflärm war so
gewaltig, dass er auf Indris’ Haut vibrierte. »Es
lässt sich nicht leugnen, dass wir ihre Hilfe gut
brauchen können … und dass sie es war, die
uns gewarnt hat, was hier passieren würde.«
»Woher hat sie es gewusst?«
»Das werden wir sie fragen – unter anderem.
Aber sie hat recht: Wenn wir nicht überleben,
ist das irrelevant. Und ich habe da noch ein
paar faruqe Fragen, die ich diesem kleinen
Sherde von Zadjinn stellen werde. Der
hinterhältige Mistkerl ist hier plötzlich in aller
verfluchter Seelenruhe mit deinem Frauchen
im Schlepptau aufgetaucht.«
Zadjinn? Anj? Was, im Namen der Vorfahren,
ging hier vor sich?
Die von den kämpfenden Ilhennim
aufgewandten Energien zerrissen die Nacht.
Indris setzte sein Ahmsah ein. Das Mahsojhin
und seine Umgebung war von schwarzen
Sternen gesprenkelt, Löcher im Ahm, die das
Licht verschlangen. Es war bereits so viel
Energie in der Umgebung verbraucht worden,
dass nur noch wenig übrig war.
Ein Mechanismus, der sich an einem Portal
befand, das sich wohl zur ehemaligen
Herzenshalle öffnete, zog riesige Mengen an
Energie ab. Mit seinem arkanen Blick konnte er
erkennen, dass das Ding – was immer es war –
wie die wirbelnden Zylinder eines komplexen
Schließmechanismus wirkte, durchsetzt von
rotierenden Zahnrädern und leuchtenden
Bildzeichen. Sie alle kreisten um einen
schattenhaften Strudel. Die Apparatur versorgte
den Spalt mit Energie, aus dem die Hexen in die
Welt strömten. Es zog aber auch Unmengen
Energie an und befreite noch mehr Hexen, die
sogar noch mehr Disentropie anzogen. Wenn es
genug Energie abziehen konnte, würde das
arkane Siegel, das die Sēq Jahrhunderte zuvor
angebracht hatten, von selbst zerbröckeln. Das
verbrauchte Ahm trieb bereits wie Vulkanasche
durch die Luft und wirbelte um Geysire in einer
abstoßend gelbgrünen Farbe, die nur teilweise
zu sehen oder zu fühlen war. Gleichzeitig
strömte mehr und mehr verdorbene Energie aus
der Ödnis in die Welt. Er fühlte, wie die
Strömungen des Ahm an ihm zerrten, um sich
mit der Energie zu versorgen, die sein Körper
produzierte. Mit irritiertem Stirnrunzeln
verhärtete Indris seine Disentropische Färbung
und verwandelte sie in einen unerbittlichen
Felsen in der Strömung.
»Ihr setzt zu viel Energie ein!«, schrie Indris
über den Lärm hinweg. »Ihr werdet genauso
viel von Euren Leuten umbringen wie Gegner,
wenn Ihr damit weitermacht.«
»Welche Wahl habe ich denn?«, brüllte die
Sturmbringerin zurück. »Sollen wir sie ziehen
lassen, um dann später gegen sie zu kämpfen,
wenn sie noch stärker geworden sind? Hast du
gewusst, dass sich in der Stadt irgendein
Bastard herumtreibt, der Elementardämonen
freisetzt? Wir mussten ein paar von ihnen
töten. Es waren ekelhafte und schwachsinnige
Dinger, die durch die lange Gefangenschaft in
den Wahnsinn getrieben worden waren. Im
Namen jedes bösartigen Ahnen, der jemals
gestorben ist …«
Indris erinnerte sich an das Maladhi-sûk und
die Überreste alter Rätselboxen. »Das war Nix
von den Maladhi. Er hat gebrauchte
Dilemmaboxen gesammelt, und jetzt weiß ich
auch, warum. Er hat mit ihnen geübt.«
»Und du hast keinen Anlass gesehen, mir das
zu sagen?« Blitze flammten entlang ihres
Speers auf. Sie waren so grell, dass Indris die
Augen zusammenkneifen musste.
Gestaltwandlerin knurrte die andere Waffe an,
die zur Antwort knisterte und dröhnte. Indris
öffnete den Mund, um zu antworten, doch
Sturmbringerin schüttelte nur langsam den
Kopf. Er verstand die Warnung.
»Wo du nun schon hier bist …«, begann sie.
»Ihr habt mich hierhergezerrt, und …«
»… kannst du dich genauso gut nützlich
machen, Junge.« Sie trat zur Seite und rief
erneut Blitze herab, die sie in sprühendes Licht
tauchten, bevor sie sie auf ihre Gegner
schleuderte.
Indris warf einen kritischen Blick auf die
Schlacht. Die Sēq waren zahlenmäßig
unterlegen, aber nicht, was ihre Macht betraf.
Die Hexen klammerten sich standhaft an ihre
Individualität und kämpften nur selten in
Gruppen; eigentlich überhaupt nur dann, wenn
sie von den Verherrlichten Namen der Sēq
überwältigt zu werden drohten.
Die Gelehrten kämpften mit all ihren Kräften.
Indris bemerkte auf einmal, dass er
unwillkürlich ein paar Schritte nach vorn
getreten war, die Hand um Gestaltwandlerins
Griff geklammert. Hastig hielt er inne. Da
waren Stimmen in seinem Kopf, glitschige
Worte, die sich durch seinen Geist schlängelten
und ihn drängten, seine Zurückhaltung
aufzugeben. Es war ein Sirenengesang, der
schmeichelte und verführte und die Freude der
Vereinigung mit der Seele der Welt versprach.
Das Gefühl von majestätischer Macht in seinen
Gliedern. Sein Geist verwandelte sich in ein
Leuchtfeuer, das heiß genug brannte, um mit
der Sonne zu konkurrieren und Berge mit
einem einzigen Gedanken zu Schlacke zu
schmelzen. Er konzentrierte sich, um Inseln in
den Ozeanen zu schaffen und Grenzen zum
Meer zu errichten durch die Berührung
seines …
Indris taumelte, und seine Hände fuhren zu
seinem Kopf. Gestaltwandlerin ließ Energie in
ihn strömen und entzündete die Potenziale in
seinem Geist, so suchterzeugend wie schwarze
Lotussamen. Er sammelte sich hinter seiner
Inneren Feste und fühlte, wie sich der Schlag
seiner Herzen verlangsamte und die
Versuchung verblasste.
»Hör auf damit«, sagte er gereizt zu
Gestaltwandlerin, die noch immer versuchte,
ihn mit sauberer, warmer Energie zu füllen.
Diese Energie konnte Feuer entfachen, die
ganze Welten zu zerstören vermochte. In
seinen Träumen hatte er es gesehen. Als er
beinahe Erwacht war, hatte er es gefühlt, und
nun fürchtete er es mehr denn je.
Wieder streiften Wortfragmente singend über
die äußeren Schichten seines Geists und
versuchten ihn zu überreden, seine
Selbstkontrolle aufzugeben. Indris schüttelte
den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen,
dann verstärkte er seinen Geist mit
zusätzlichen Barrieren und Scheinpfaden, um
jeden zu verwirren, der einzudringen
versuchte. Aber irgendetwas mit sehr düsteren
Zielen drängte die Mystiker dazu, sich völlig zu
verausgaben. Es geschah überall um ihn herum:
Sowohl die Gelehrten als auch die Hexen
setzten noch mehr von ihren Lebensenergien
ein, um ihre tödlichen Gesänge anzustimmen.
Ein Sēqritter neben ihm hielt plötzlich mitten
im Gesang inne. Das Feuer unter der Haut des
Ritters flackerte schwach und erlosch, als er
bewusstlos in den Schmutz sank. Ein Hexer
näherte sich Indris. Seine Gibbonerscheinung
mit dem Geierkopf flackerte und erlosch dann,
um einen jungen blonden Mann mit verwirrter
Miene zu enthüllen. Er sah auf die Sense in
seinen Händen hinab, als würde er sich fragen,
was sie dort machte. Ein Sēqritter köpfte ihn,
trat ein paar Schritte zurück und übergab sich
dann. Eine Hexe in der Gestalt eines Skorpions
stach mit Scheren und Schwanz auf einen Sēq
ein. Indris zog seine Sturmpistole und erschoss
die Hexe. Er musste die blutige Masse des
Gelehrten nicht näher untersuchen, um zu
wissen, dass auch er tot war.
Aber es hörte nicht auf, selbst als die Mystiker
vom Himmel zu fallen begannen wie
Funkenhagel. Einige taumelten, als wären sie
betrunken. Andere Mystiker wirkten gealtert.
Ein paar humpelten, andere starrten mit
weißem, blindem Blick um sich. Die
Bewusstlosen wurden von Krämpfen
geschüttelt, während Geistesstürme sie
erfassten.
Indris machte einigen in der Nähe stehenden
Sēqrittern ein Zeichen, zu ihm zu kommen. Sie
atmeten schwer und waren voller Schweiß und
Blut, aber nicht ernsthaft verwundet. Er machte
eine Geste mit den Armen, um die vielen
unterschiedlichen Kämpfe zu erfassen, die in,
um und über dem Mahsojhin stattfanden. »Seid
vorsichtig! Irgendetwas will uns dazu bringen,
zu viel Energie einzusetzen. Erinnert euch an
euer körperliches Training und setzt das zuerst
ein. Und jetzt kommt mit. Wir werden den Riss
wieder schließen!«
Mit Gestaltwandlerin in einer Hand und der
Sturmpistole in der anderen machten sich
Indris und seine kleine Gruppe Ritter auf den
Weg zu der gähnenden Türöffnung der
Herzenshalle. Eine ganze Reihe von Hexen in
ihren unterschiedlichen Erscheinungen
bewachte den Riss und half ihren Brüdern, als
diese ohne jede Orientierung heraustraten.
Aber diejenigen Hexen, die versuchten, Indris
und seine Sēq aufzuhalten, taumelten bereits,
weil sie sich verausgabt hatten. Im Gegensatz
zu Indris, der sein Bestes versuchte, um
niemanden zu töten, hatten die Sēq in seiner
Begleitung keine derartigen Bedenken. Einer
der Sēqritter setzte das Ahmsah ein, um eine
knisternde Wolke aus Fraktalen in Richtung
der Hexen zu schicken. Dann tat er es erneut,
und dann wieder, obwohl Indris ihm zubrüllte,
er solle aufhören. Die Augen des Ritters
leuchteten fiebrig, und seine Lippen waren zu
einem idiotischen Grinsen verzerrt; offenbar
hatte er einen Ahm-Schlag erlitten. Als der
Ritter immer weiter versuchte, noch mehr von
seiner vitalen Energie einzusetzen, schlüpfte
Indris hinter ihn. Er nahm den Ritter in den
Würgegriff. Dessen Widerstand war so
schwach wie der eines Kindes. Als der Mann
das Bewusstsein verlor, ließ Indris ihn
vorsichtig zu Boden gleiten. Selbst hinter den
Mauern seiner Inneren Feste war die
Versuchung, all seine mystischen Energien
freizusetzen, beinahe überwältigend.
Anj tauchte inmitten des Massakers auf und
ergriff seinen Arm. »Nicht! Es sind zu viele,
selbst für dich.«
»Aber nicht für uns.« Er zuckte zusammen,
als er bemerkte, wie leicht ihm die Worte über
die Lippen gekommen waren. Als wären sie
nie getrennt gewesen. Alte Scherze und Zitate
wurden dahin zurückgedrängt, wohin sie
gehörten. In eine Welt, in der Anj kein Rätsel
aus Fleisch und Blut war, umgeben von
schmerzhaften Fragen und schrecklichen
Vermutungen. Aber es wäre so leicht zu
vergessen …
»Es ist zu gefährlich für uns alle, mein
wunderschöner Ehemann.« Sie zog an seinem
Arm, während Gestaltwandlerin gleichzeitig
versuchte, ihn wieder in die Richtung zu
zerren, in die er sich ursprünglich gewandt
hatte. »Wir brauchen dich im Kampf.«
»Aber was ist, wenn ich hier etwas tun kann,
das die Sache viel schneller und mit weniger
Verlusten beendet?«
»Kämpf mit mir zusammen, so wie früher.«
»Es geht weniger um die Leben, die wir
nehmen, sondern mehr um die, die wir retten.«
Anj lächelte traurig, als sie ihm einen Schlag
auf die Wange verabreichte, der zu fest war,
um spielerisch gemeint zu sein. Aus dem
Augenwinkel sah es aus, als würden sich die
Tentakel des Tintenfischs auf dem Knauf ihres
Schwerts im Dämmerlicht unauffällig
krümmen. »Mach, was du willst, ich jedenfalls
habe noch anderes zu tun. Sieh zu, dass du mit
heiler Haut hier herauskommst, mein
Ehemann.«
Du auch, meine Frau, hätte er beinahe gesagt,
doch die Worte wurden durch ein kurzes
Kopfnicken ersetzt, dann wandte er sich
unbeholfen ab. Seine Gedanken wanderten zu
Mari, die mittlerweile weit weg sein sollte von
Avānweh. Zu den Freunden, die bei ihr waren,
wo auch er gern gewesen wäre.
Indris schüttelte diese Gedanken ab und
bewegte sich vorwärts. Dann betraten er und
seine Sēq die Herzenshalle. Druck baute sich in
seinem Kopf auf, wurde zu einem
zielgerichteten Schmerz auf einer Blase, die
hinter seiner Stirn anschwoll. Worte sickerten
in sein Gehirn, das Murmeln der Gedanken um
ihn herum, das sich in den ohrenbetäubenden
Lärm der Schlacht mischte. Es war, als könnte
er all die Ängste und das Bedauern fühlen,
Zorn und Hass und Leid derjenigen, die ihn
umgaben. Gestaltwandlerin schnurrte beinahe,
als könnte auch sie das Ansteigen der Macht in
Indris fühlen, die er nicht zu kontrollieren
imstande war. Und irgendwie war sie erfreut
darüber.
Die Erscheinungen der Hexen waren so gut
wie verschwunden. Verwirrt und erschöpft
starrten sie Indris noch für einen Moment an,
dann schienen sie durch etwas versteinert zu
werden, das nur sie hören oder sehen konnten.
Indris stürzte mitten durch sie hindurch,
während die Ritter sie in einen Kampf
verwickelten. Mit einem Seufzer der
Erleichterung blieb er neben einer kunstvollen
Apparatur stehen, einem Gestell in Form einer
Stufenpyramide mit vielen Linsen, Rädern, die
sich bewegten, und einem reglosen Pendel. Es
war nicht so groß, wie er erwartet hätte – es
reichte ihm bis zur Hüfte, und das auch nur
wegen des Dreifußes, auf dem es stand. Aus
der Entfernung hatte es größer gewirkt, da es
von einer Korona aus Energie umgeben war.
Hier, in unmittelbarer Nähe, fühlte Indris ein
Ziehen an seiner Disentropischen Färbung, als
würde der Mechanismus versuchen, seine
Energie abzuschöpfen. Er untersuchte das
Artefakt, um herauszufinden, wie er es
deaktivieren könnte, fand jedoch nichts.
Eine Hexe in roter Robe schritt durch einen
Falz in der Luft. Indris schlug ihr mit seiner
Sturmpistole gegen die Schläfe, und sie fiel
bewusstlos zu Boden.
Bedrängt von dem Gefühl, beobachtet zu
werden, wandte sich Indris um und erblickte
Anj, die nicht weit entfernt von ihm kämpfte.
Sie schlug links und rechts Hexen zu Boden
und trieb die anderen Sēq an. Ihr Blick ruhte
auf ihm, dann auf der Apparatur. Warnend
schüttelte sie den Kopf.
Da er keine bessere Idee hatte und unter
Zeitdruck stand, wandte sich Indris um und
kickte den Mechanismus um.
Der Lichtstrahl, der die Wolken über ihnen
durchbohrt hatte, verschwand. Der flatternde
Riss zwischen Hier, Jetzt und Dann
verschwand. Das war einfacher als erwartet.
Er nahm den Mechanismus auf und bewegte
sich auf den Ausgang zu. Außerhalb der
Herzenshalle, auf der anderen Seite des
Forums, sah er Femensetri und einige der
Verherrlichten Namen. Sie hatten sich auf
einem baufälligen Aussichtsturm postiert, der
aussah, als wäre er ebenso sehr aus Humus und
Rost wie aus Marmor und Eisen. Er sammelte
seine Sēqritter auf dem Weg nach draußen
wieder ein; zwei von ihnen mussten von ihren
Freunden getragen werden.
Ohne zu überlegen, streckte Indris die Hand
aus und hob den Sēq auf, den er bewusstlos
gemacht hatte. Seine Kameraden sahen ihn mit
verblüfftem, vom Ahm berauschten Blick an,
sagten jedoch nichts.
Die übrigen Sēq waren rund um den alten
Aussichtsturm versammelt, dessen
Grünspankuppel stark beschädigt war. Der
Stein war in sich zusammengebrochen, und die
Eisenbeschläge, die als Stütze dienen sollten,
waren verrostet. Der Boden um den Turm war
mit umgestürzten Säulen übersät, mit
herabgefallenen Steinen und Toten. Die Luft
stank nach Blut, verbrannter Haut und
versengten Haaren, vermischt mit dem Geruch
nach verrottenden Blumen und Mulch. Einige
der Verherrlichten Namen blieben. Andere
waren losgezogen, um der Stadt zu helfen.
Erbärmlich wenige Sēqmeister und Ritter
blieben, und sie waren hohläugig und
schweratmig wie altersschwache Blasebälge.
Die meisten waren zu erschöpft, um zu
kämpfen. Der Himmel war leer, bis auf die
besonders mächtigen Hexen und Gelehrten,
und selbst diese schwebten langsam zu Boden.
Die meisten Leute um Indris sahen aus, als
wären sie kurz vor dem Zusammenbruch, weil
sie sich vollständig verausgabt hatten. Das Ahm
im Mahsojhin war beinahe verbraucht – nur ein
unbeständiges Plätschern aus lauer Energie
berührte seine Disentropische Färbung.
Indris setzte den Mechanismus vorsichtig zu
Boden, doch im selben Moment nahm er aus
dem Augenwinkel hektische Bewegung wahr.
Es war Anj, die kämpfte wie ein Derwisch. Ihr
Schwert leuchtete grüner als Hexenfeuer,
während es summte und schnitt. Als sie
zuschlug, erloschen die Erscheinungen der
Hexen wie Kerzenflammen.
Ein stark gebauter junger Mann in zerrissener
roter Robe schlug Anj mit seiner schweren
Keule auf die Schulter. Indris hörte das
Knacken, als die Waffe auftraf. Er sah den
Schmerz in Anjs Gesicht, zielte mit der Pistole
und schoss.
Nichts. Er hatte keine Munition mehr.
Ohne nachzudenken, rannte er vorwärts, weg
von dem Aussichtsturm und zu seiner Frau. Als
Anj wieder auf die Füße kam, hob der Hexer die
Keule erneut. Ihr Schwert war ein pfeifender,
funkelnder Bogen in den Schatten. Eine zweite
Hexe kam näher. Dann eine dritte, vierte,
fünfte. Anj parierte auf einem Knie und schlug
dann zu. Ihr linker Arm war fest gegen die
kaputte Rüstung an ihrer Brust gepresst.
Indris schlitzte eine der Hexen von der
Schulter bis zur Hüfte auf. Dann drehte er sich
auf einem Fuß und schlug erneut zu,
durchschnitt die Kehle einer anderen. Als er
sich wieder umgewandt hatte, holte Anj gerade
zum Schlag gegen den letzten Hexer aus, der
zu Boden sackte.
Indris bot Anj seine Schulter an, damit sie sich
darauf stützen konnte. Sie küsste ihn, berührte
mit ihren Lippen federleicht die Stelle, wo sein
Ohrläppchen auf den Kiefer traf.
»Du bist so gut zu mir«, murmelte sie. Ihre
Stimme war benommen vor Schmerz, aber sie
trug ihr eigenes Gewicht und stützte sich nur
auf ihn, wenn es über Unebenheiten ging. Das
Amenesqa mit dem beunruhigenden
Oktopusknauf hielt sie mit einer Hand
umklammert, mit der anderen hielt sie Indris’.
Indris blickte hinab auf die Hand und sah auf
die vertraute Geste, während widerstreitende
Gefühle in seiner Brust kämpften.
Die erschöpften Hexen und die Sēq starrten
sich über das Schlachtfeld hinweg an, unfähig
weiterzukämpfen. Jede Fraktion hatte schwere
Verluste erlitten, und die Überlebenden
lehnten sich auf ihre Waffen oder stützten sich
gegenseitig. Es kostete Indris viel zu wenig
Zeit, die überlebenden Gelehrten zu zählen.
»Das war wie in der ersten Nacht der
Gelehrtenkriege«, sagte Femensetri, als sie
neben Indris trat. Ihre Stimme war sogar noch
rauer als ihr gewohntes Krächzen. »Wir haben
so lange gegeneinander gekämpft, bis wir
kaum noch stehen konnten. Wir hatten fast
keine Energie mehr übrig.«
»Und warum wurde es dann noch
schlimmer?«, fragte Indris ruhig.
Femensetri kratzte ein wenig getrocknetes
Blut von ihrem Schleuderblitz. Sie inspizierte
ihren Finger aus unterschiedlichen
Blickwinkeln, als könnten die rostfarbenen
Flocken ihr irgendeinen Aufschluss über die
Mysterien des Lebens geben. Mit einem
Grunzen schnippte sie sie in die Brise.
»Warum wurde es dann noch schlimmer?«,
sann sie abwesend. Als sie schließlich wieder
sprach, schwang in ihrer Stimme etwas mit, das
sich beinahe wie Scham anhörte. »Wir wollten
beide an die Macht und die Krone in unseren
gierigen Händen halten. Darum. Es ist
erstaunlich, was alles passieren kann, wenn
Macht der Lohn ist.«
»Dann hat sich offenbar nicht viel verändert.«
Indris hatte sich auf eine Couch gefläzt, und
Gestaltwandlerin schnurrte beinahe in seinem
Schoß. Die Kammern des Suretkonzils in
Avānweh waren so ziemlich der letzte Ort, an
dem er sein wollte, aber er hatte kaum eine
Wahl gehabt. Die Verherrlichten Namen hatten
die Apparatur, die sie den Emphismechanismus
nannten, an sich genommen und ihn und Anj
hierhergebracht.
Hoch aufragende, natürliche Kalksteinsäulen
umgaben den Raum, in die die ernsten
Gesichter der Sēqmeister und Magnaten der
Vergangenheit gemeißelt waren. Femensetris
Ebenbild musste ebenfalls darunter sein; es war
in der Zeit des Erwachten Imperiums gestaltet
worden. Ilhen-Lampen erleuchteten die
einzelnen Säulen, helle Strahlen aus Elfenbein,
die sich in der zerklüfteten Dunkelheit der
Höhlendecke verloren. Die Wände waren ein
Wechselspiel aus rauem Stein und glatt
polierten Flächen, ein Mosaik aus Natur
gegenüber Kunsthandwerk. Der Raum war in
ein jadefarbenes Licht getaucht, das sich auf
den leuchtenden und unterschiedlich
gestalteten Biegungen der Stäbe
widerspiegelte, die die Meister in Händen
hielten.
Anj stand in der Mitte an einem steinernen
Tisch, der die Kammer beherrschte. Sie zuckte
zusammen, als sie das Gewicht verlagerte; ihre
Schulter war gerade verheilt, aber immer noch
empfindlich. Die Meister saßen in ihren
hochlehnigen Stühlen an der Wölbung des
Tischs, der wie ein Gelehrtenstab geschwungen
war. Die hochrangigen Sēqritter und
Inquisitoren dagegen – diejenigen, die in der
Lage waren teilzunehmen – saßen entlang der
geraden Tischkante. Sie hatten einen Stuhl für
Indris hinzugestellt, den er jedoch höflich
abgelehnt hatte.
Zadjinn lächelte Indris förmlich an und nickte
zum Gruß mit dem Kopf. Als sein Blick auf Anj
fiel, lag keinerlei Überraschung oder Abscheu
darin wie bei den anderen. Nein, Zadjinn hatte
erwartet, Anj hier zu sehen.
»Ich habe den Orden nicht verlassen, Sahai
Femensetri.«
»Ich bin nicht mehr deine Lehrerin,
Mädchen!« Femensetri blickte Anj über ihre
langen und schmutzigen, ineinander
verschränkten Finger hinweg an. »Du wirst
mich ebenso anreden wie jeden anderen der
anwesenden Meister auch und nicht davon
ausgehen, dass da irgendeine Art von
Zuneigung ist, die ich gewiss nicht fühle.«
»Wie Ihr wünscht.« Höflich neigte Anj den
Kopf. »Ich habe den Orden nicht verlassen, Jhah
Femensetri. Ich wurde von einer Sekte
innerhalb der Sēq mit einer Mission betraut; sie
verstanden mein Verlangen, meinen Ehemann
zurückzubringen, nachdem er vom Orden
aufgegeben worden war.«
»Pass auf, was du sagst, Mädchen«, sagte Er-
Der-Sieht. Seine Augen waren so klar wie
erleuchtetes Glas. Die flinken Finger des
Mannes spielten mit dem grau gewordenen
Saum des Taloubs, den er um den Kopf
geschlungen trug. »Und denk daran, dass du
für die Konsequenzen sowohl deiner Worte als
auch deiner Handlungen verantwortlich bist.
Falschheit werden wir nicht tolerieren.«
Zwei der Inquisitoren legten ihre Hände mit
kalten Mienen auf ihre Dauls, als wäre Anj
nichts weiter als eine Rätselbox, die es zu
öffnen galt.
»Dessen bin ich mir bewusst«, sagte Anj fest,
»aber das ändert nichts an meiner Erklärung,
warum ich getan habe, was ich tat. Ich wurde
losgeschickt, um Indris’ Pfad zu folgen. Zufällig
stimmten diese Befehle sehr mit meinen
eigenen Bedürfnissen überein. Auf keinen Fall
hätte ich das abgelehnt, und diejenigen, die an
mich herangetreten waren, wussten das sehr
wohl.«
Indris beugte sich vor, beinahe zur selben Zeit
wie Femensetri. Er konnte Femensetris Stimme
in seinem Kopf so deutlich hören, als würde sie
tatsächlich laut sprechen. Ihre innere Stimme
entsprach ihrer Miene, und Indris hatte das
Gefühl, er sollte seiner Sahai Abbitte leisten. Du
hast es nicht gewusst! All die Jahre hast du Anj
gegrollt, und dabei war sie die ganze Zeit über treu
geblieben. Auch Zadjinn verriet sich. Er lehnte
sich in seinem Stuhl zurück, und seine Miene
war zu ruhig, um natürlich zu sein. Da war
nicht die Spur von Überraschung. Du dagegen
hast es nur zu gut gewusst.
»Klär uns bitte auf, Anj-el-din shel Näsarat«,
sagte Aumh mit einer Stimme, die so zart war
wie ihr Körper – ein krasser Widerspruch zu
ihrem Geist und ihrer Stärke. Ein winziger
blauer Schmetterling ruhte auf einer der
Blumen, die im grünbraunen Haar der
Y’arrow-Frau wuchsen. Indris verzog das
Gesicht, als er Anjs vollen Namen hörte und
wieder Schuldgefühle in sich aufsteigen spürte,
weil er die Suche nach ihr aufgegeben hatte.
Zwei Jahre lang hatte er nach seiner vermissten
Frau gesucht, nachdem er mehr als fünf von zu
Hause weg gewesen war. Jedermann hatte ihm
versichert, dass sie tot oder so weit
fortgegangen war, dass sie ziemlich sicher nicht
zurückkehren würde. Selbst diejenigen, die die
Wahrheit gekannt hatten und sie ihm hätten
verraten können …
»Wer waren diese mysteriösen Gönner, die
eine so elegante Methode gefunden haben, um
zur rechten Zeit sowohl deinen Interessen als
auch denen deines Mannes und des
Gelehrtenordens der Sēq zu dienen?«
Anj schwieg für ein paar Sekunden, bevor sie
laut und fest sagte: »Ich bin nicht in der Lage,
Euch diese Frage zu beantworten, Jhah.«
»Du bist nicht in der Lage, oder du willst
nicht?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Ja, das tut es!«, brüllte Femensetri.
Lichtblitze knisterten zwischen ihren Fingern,
und ihr Seelenstein leuchtete in zornigem
Schwarz. Indris fuhr leicht zusammen. »Das ist
kein verfluchtes Spiel, Mädchen, und du
solltest nicht so selbstzufrieden sein! Da ist
etwas … Seltsames an dir. Irgendetwas stimmt
nicht mit dir, mit der ganzen Sache. Ganz egal,
wie deine Befehle lauteten, du hast eine
Geschichte zu erzählen, und wir wollen sie
hören. Dann werden wir sehen, was du
wirklich nicht kannst und was du nicht willst.«
Anjs Gesicht verzerrte sich zu einem
Zähnefletschen, das sie rasch wieder
unterdrückte. Femensetri und der Wassertänzer
sahen sie mit erhobenen Augenbrauen an, und
Er-Der-Sieht klopfte sich mit dem Zeigefinger
gegen das Kinn.
»Soso«, murmelte er, »Teile deiner Maske
fallen ab, und was ich darunter sehe, ist dunkel
und kalt. Es gehört zu etwas, das sich im
tiefsten Winkel der Welt zusammengerollt hat
und das wir mit einem Bann belegt haben. Der
Zweck, mein Kind, heiligt nicht immer die
Mittel.«
»Ich habe getan, was …«, setzte Anj an,
wurde jedoch von Zadjinn unterbrochen. Dem
Erebus.
»Es gibt keinen Grund zur Furcht, Anj-el-
din«, erklärte Zadjinn höflich. »Wenn du getan
hast, was man von dir verlangt hat.«
»Oh, das habe ich, Jhah.«
Indris versuchte, sich zu entspannen, und ließ
die Blase, die in seinem Geist anschwoll,
platzen. Stimmen schlugen an sein Bewusstsein
wie träge kleine Wellen, durchsetzt mit dem
Treibgut und Ballast von Gedanken. Er
versuchte sie aufzusammeln, aber sie wirkten
und klangen so ähnlich; es war unmöglich
festzustellen, wo ihre Reise jeweils begonnen
hatte.
Er ließ zu, dass die gesprochenen Worte im
Raum davontrieben, konzentrierte sich auf
seine Atmung und eliminierte nach und nach
die Geräusche. Erst die Stimmen, dann den
gleichförmigen Laut des Wassers, das an den
Kalksteinsäulen heruntertröpfelte. Das
Knarzen, wenn sich Leute in ihren Stühlen
bewegten. Das schwache Knistern der Luft,
wenn es mit dem Hexenfeuer auf den
Gelehrtenstäben in Berührung kam.
Gestaltwandlerins zufriedenes Schnurren. Das
Schlagen seiner eigenen Herzen und dann,
schließlich, das Geräusch seines eigenen Atems,
bis nur noch der Klang der Stimmen in seinem
Kopf übrig war.
Indris öffnete die Augen wieder und blickte
zu Femensetri. Eine der Stimmen in seinem
Geist wurde klarer, ihre Gestalt, das Gewicht,
Textur und Klangfarbe ausgeprägter.
Femensetri starrte ihn an. Wenn er sich nicht
täuschte, lag da ein zufriedener Ausdruck in
ihren opalfarbenen Augen. Weiß sie, dass ich das
tun kann? Hat sie darauf gewartet? Wenige
Augenblicke später verblasste ihre Stimme in
seinem Kopf zu Nichts. Er öffnete seinen Geist
noch weiter, um die anderen am Tisch zu
hören. Als er das tat, stürzten die Stimmen des
gesamten Amer-Mahjin auf ihn ein. Er biss die
Zähne zusammen, um ein Stöhnen zu
unterdrücken. Es war, als würde man
versuchen, gleichzeitig allen Sängern in einem
gigantischen Chor zu lauschen, die alle
unterschiedliche Lieder in unterschiedlichen
Geschwindigkeiten und Tonarten sangen.
Indris konzentrierte sich auf die Leute, die er
sehen konnte, und engte seine Suche ein, bis er
jede Stimme an ihrer einzigartigen
Klangfärbung zu erkennen vermochte. Es war
nicht leicht, aber schließlich stellte er fest, dass
er jeder Stimme ein Gesicht zuordnen
konnte …
Bis er zu Anj kam.
Ihr Geist war hinter einer komplexen Barriere
verborgen, die Indris verwirrte. Es war ein
Durcheinander aus ineinander verschlungenen,
sich windenden Gedanken. Sie waren kühl und
glatt und bewegten sich unentwegt,
schlitterten, verwandelten sich. Aber da war
etwas, ein Flackern in den Tiefen ihres Geists,
das beinahe ebenso schnell wieder
verschwunden war, wie es gekommen war.
Sie wurde geschickt, um mich zu suchen!
Als wüsste sie, dass man ihre Gedanken
gehört hatte, enthüllte Anj in diesem Moment
ihre Absichten.
»Ich wurde von den Dhar Gsenni geschickt,
um Indris zu suchen. Sie hatten erfahren, dass
Sedefke über die Jahrhunderte hinweg
Anweisungen für Indris hinterlassen hat, zu
den Graten zu reisen.« Sie sah Zadjinn an, der
in seinem Stuhl saß und ein Gesicht machte, als
wäre er verraten worden. Der Blick, den Anj
ihm zuwarf, enthielt keinerlei Sympathie.
»Und es waren auch die Dhar Gsenni, die mich
gebeten haben, ihm zu folgen. Die Dhar Gsenni
wollten außerdem, dass ich die Geheimnisse
aufspüre, die Sedefke verborgen hatte, sie
untersuche und ihnen heimlich übermittle.
Und ebendiese Sekte weiß, dass Indris Spuren
des Gründers gefunden hat.«
»Er hat was?« Femensetri starrte Indris an, der
entsetzt zurückstarrte. Sie wandte ihre
Aufmerksamkeit wieder Anj zu. »Woher
konntest du das wissen?«
»Weil Indris es mir gesagt hat, als ich ihn auf
den Graten gefunden habe. Warum, glaubt ihr,
ist er überhaupt nach Sorochel gegangen? Er
wollte die Suche fortsetzen. Es scheint, dass der
Gründer letzten Endes doch noch am Leben
ist.«
»Aber warum bist du nicht zu … uns
zurückgekommen?« Zadjinns Stimme klang
betrübt, doch seine Miene wirkte unnahbar.
»Wir dachten, du hättest den Orden verraten.
Wir haben Ritter ausgesandt, Inquisitoren,
sogar einen Scharfrichter, um dich
aufzuspüren.«
»Ich weiß. Sie waren nicht sonderlich gut.«
Indris fröstelte, als er hörte, wie sie so
leichthin einige der fähigsten Jäger und Mörder
abtat, die die Sēq hervorzubringen imstande
waren. Sie hat einen Scharfrichter der Sēq getötet?
Süßer Näsarat! Andererseits, sie war eine der
Acht.
»Warum bist du dann zurückgekehrt, Kind?«,
fragte Er-Der-Sieht mit scharfem Blick.
»Weil meine Aufgabe erledigt ist.« Anj
wandte sich mit einem warmen Lächeln Indris
zu, und die Tränen verwandelten ihre großen
Augen in leuchtende Saphire. »Mein Mann ist
zurückgekehrt, und er trägt die Geheimnisse
Sedefkes in seinem Kopf eingesperrt, die er so
dringend vor euch allen verbergen wollte.«
Kapitel 26
Föderation
Föderation
Föderation
Föderation
Die Sēq
Ahwe Avān. Magnat der Sēq. Einer der Größten
unter den Sēq, und einer der ersten Schüler
Sedefkes. Half dabei, die Gelehrtenorden zu
gründen
Aumh Y’arrow-ti-yi. Sēqmeister und Mitglied
des Suret
Femensetri Avān. Sēqmeister und
Gelehrtenmarschall von Shrīan. Einst Indris’
Lehrerin. Auch bekannt als die Sturmbringerin.
Mitglied des Suret. Half dabei, die
Gelehrtenorden zu gründen
Er-Der-Sieht Avān. Sēqmeister und Mitglied
des Suret. Ein Stammesangehöriger der Orjini
Kemenchromis Avān. Sēqmeister-Magnat und
Erzgelehrter. Geschichtenmeister und Rajir der
Schattenherrscherin. Oberhaupt des Suret. Half
dabei, die Gelehrtenorden zu gründen
Madiset Avān. Sēqlehrer und einer von Indris’
Lehrern in Amarqa-im-Schnee
Sedefke Avān. Gründer des Gelehrtenordens
der Sēq, der den Prozess der Seelenverbindung
mit dem Bewusstsein Īas entdeckte, auch als das
Erwachen bekannt
Taqrit Avān. Sēqinquisitor und einer der Acht.
Kindheitsfreund von Indris und Anj-el-din
Yattoweh Avān. Einst Sedefkes erster und
größter Schüler. Half, die unterschiedlichen
Gelehrtenorden zu gründen
Zadjinn Avān. Sēqmeister und Mitglied des
Hohen Hauses Erebus. Mitglied des Suret
Andere
Delfyne Avān. Dichtermeister der Wehklage,
auch bekannt als die Erebon-sûk oder die
Hengstschule in Zam’Haja. Ältere Schwester
von Maroc
Kembe Tau-se. Patriarch der Tau-se Stämme
und Protektor von Taumarqan
Navaar Avān/Mensch. Palatin von Oragon
Tyen-to-wo Der Lachende Windgeist der Seethe
GLOSSAR