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Schloß Eerde, 1949

Als ich 14 Jahre alt war, im Jahr 1949, überlegten meine El-
tern, mich auf ein Internat zu schicken. In Holland sind Inter-
nate, auch heute noch, im Gegensatz zu Deutschland und
England eine Seltenheit. Holland kennt die pädagogische Tra-
dition von Landschulheim und College nicht. Mein vorgesehe-
ner Eintritt in ein Internat wurde denn auch in meinem dama-
ligen Umkreis als ungewöhnlich betrachtet. Aber für mich als
junges Mädchen war es anders. Mir war eines Tages durch
Zufall eine Broschüre einer internationalen Quäkerschule in
die Hände geraten, und die Bilder einer Schule in ländlicher
Umgebung, die neben den normalen Fächern wie Latein und
Mathematik Töpfern, Weben und Sport im Angebot hatte, be-
geisterte mich sofort. Mein Wunsch, dorthin zu gehen, wurde
so stark, dass meine Eltern ihn erfüllten. Ich verlangte nach
mehr Unabhängigkeit und Distanz zum Familienleben.
Die Lehre der Quäker, einer protestantischen Sekte, sagte
meinen Eltern zu, weil diese ihren Glauben ohne Rituale,
Hierarchie und Dogmen praktiziert. Bald nachdem die Ent-
scheidung, mich dorthin zu schicken, gefallen war, fuhr ich in
Begleitung meines Vaters zur Schule, um sie mit eigenen Au-

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gen zu sehen und zu begutachten. Die Schule war auf
Schloss Eerde in der Nähe des Dorfes Ommen, im Osten des
Landes, untergebracht. Als wir von der Provinzialstraße in die
lange Eichenallee einbogen, die zur Schule führte, tauchte an
ihrem Ende, wie durch ein Fernrohr gesehen, ein Märchen-
schloss auf. Zwar hatte es keine spitzen Türme und Zinnen,
aber dennoch war es, für holländische Begriffe wenigstens,
ein Schloss. Als wir näher kamen, sahen wir ein stattliches
hohes Herrenhaus mit vielen Fenstern, umgeben von zwei
breiten Gräben. Eine Backsteinmauer, überwuchert von vio-
letten Blümchen, schützte am inneren Rand des ersten Gra-
bens die Schlossgärten vor den Augen der Außenwelt.
Schloss und Gärten lagen eingebettet in eine Landschaft von
offenen Feldern und ausgedehnten Wäldern. Abgesehen von
Vogelgezwitscher hörte man nichts, und kein Mensch war zu
sehen. Zwei Brücken führten über die Gräben zum Hauptein-
gang. Vor dem Schloss, bevor man den inneren Graben über-
querte, erstreckten sich links und rechts vom Rondell, wie
Flügel, niedrige mit Efeu bewachsene Gebäude. Ursprünglich
waren sie Ställe und Wirtschaftsgebäude gewesen. Jetzt ent-
hielt das linke Gebäude Schlaf- und Wohnzimmer der Schüler
und das rechte Turnhalle und Werkstätten. Von der inneren
und letzten Brücke führte eine Freitreppe zum Hauptportal.
Mein Vater und ich liefen die Freitreppe hoch und fanden
die große Eingangstür offen. Zögernd betraten wir die Ein-
gangshalle. Sie war überraschend hell. Ihre Wände waren
schneeweiß wie der Fußboden, der mit weißen Marmorplatten
bedeckt war. Von der hohen Decke schwebte an einer Mes-
singkette eine große Lampe. Sie war kunstvoll geformt aus in
Metall gefassten Glasscheiben. An der Innenwand der Halle
überraschte uns eine breite hängende Treppe, die sich ohne
Stützen an der Wand entlang zum ersten Stock hinaufwand.
Vorsichtig betraten wir sie. Die Stufen knarrten unter unseren
Schritten, und wir wollten uns schon umdrehen, als von oben
eine freundliche Stimme uns zurief, hinaufzukommen. Oben
angekommen begrüßte uns der Direktor herzlich. Nach einem
kurzen Gespräch und einem Rundgang durch die verschiede-
nen Gebäude und an den Sportfeldern und Werkstätten ent-
lang wurde mein Eintritt in die Schule mit einer Tasse Tee im
Zimmer des Direktors besiegelt. Am 1. September 1949 soll-
te das neue Schuljahr anfangen.

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Die Geschichte der Schule, die 1934 gegründet worden war,
kannte ich damals nicht, und über die teilweise sehr dramati-
schen Geschehnisse der ersten neun Jahre ihrer Existenz
wurde so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, wie über vieles
andere aus dieser Periode, nicht gesprochen. Erst viel später
sollte ich diesen Geschehnissen nachgehen und mit Hilfe an-
derer darüber publizieren.
Die Quäkerschule Eerde bezog ihr erzieherisches Pro-
gramm aus einer Mischung von deutscher Reformpädagogik
und den Erziehungsidealen der Quäkerlehre. Das Programm
war aufgebaut aus Elementen der Demokratie, des klassi-
schen Wissens sowie Sport, Musik, Kunst und Handwerk. Die
Quäkerpädagogik vertritt, genau wie die Reformpädagogik,
die Ansicht, dass neben den intellektuellen Fähigkeiten eines
Kindes auch die praktischen entwickelt werden sollten. Wie
wichtig die Jahre auf der Internationalen Quäkerschule, denn
sie war ausdrücklich als „international“ gegründet worden, für
meine Zukunft werden sollten, ahnte ich bei meinem Eintritt
nicht. Ich fing damals unbekümmert und begeistert das Le-
ben in der vollständig neuen Umgebung an. Schon bald liebte
ich die Schule und Bewohner. Den vielseitigen Unterricht und
den täglichen Umgang mit Altersgenossen und Dozenten aus
verschiedenen Ländern empfand ich als sehr anregend.
Es war in diesem ungewöhnlichen Ambiente, dass meine
erste Begegnung mit W. stattfand, und zwar rein visuell und
aus der Ferne. Ich war damals kaum sechs Monate in der
Schule.
Die Schule hatte im Lauf ihrer kurzen Existenz eine vielsei-
tige musikalische Tradition aufgebaut, die, von den letzten
Kriegsjahren unterbrochen, bald nach dem Krieg wieder auf-
genommen wurde. Für April 1950 war die Aufführung einer
Kantate von Johann Sebastian Bach vorgesehen, bei der die
Mitwirkenden in historischen Kostümen auftraten. Es war die
erste größere musikalische Darbietung, die ich miterleben
sollte, allerdings nur als Zuschauerin. An den vielen, die in
den kommenden Jahren folgen würden, nahm ich fast immer
als Sängerin teil.
Das Schloss verfügte über einen kleinen Festsaal, der mit
prächtigen Brokatvorhängen, Gobelins, Leuchtern und kost-
baren alten Spiegeln ausstaffiert war. Hier sollte die Erstauf-
führung der Bachkantate stattfinden. An diesem wichtigen

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Johann Sebastian Bach: „Der Bilderkauf“ (Bauernkantate)
Aufführung in Eerde (1950)

Tag war der Festsaal vollgedrängt mit Eltern, Schülern und


Dozenten, und inmitten dieser Festlichkeit sah ich W. zum
ersten Mal. Er saß in der vordersten Reihe, wo sonst Vor-
standsmitglieder und Eltern saßen. Ich sah einen älteren
Mann, umgeben, wie es schien, von seiner eigenen Gesell-
schaft. In der Menge der Anwesenden fiel er durch seine un-
gewöhnliche Erscheinung auf: ein mittelgroßer Mann mit lan-
gen grau melierten Haaren, einer großen Nase und einem
schmalen Mund, gekleidet in einen Samtrock. Seine elegan-
ten Hände stützte er auf einen schwarzen Spazierstock mit
Silberknauf. Neben ihm saß eine jüngere, gleich ungewöhnli-
che Dame mit langen blonden Haaren und gleich auffallender,
weil langer Nase. Das seltsame Paar wurde links und rechts
eingerahmt von hübschen jungen Männern, fast alle dunklen
Aussehens. Eine unsichtbare Wand schien diese kleine Schar
von dem Rest des Publikums, der hinter ihr Platz genommen
hatte, zu trennen.
Es war ein leicht verwirrender Eindruck. Ich wusste nicht:
Waren die Ahnen des Schlossherrn, die über den Türen in ih-
ren barocken Rahmen prunkten, plötzlich aus den Gemälden

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hinuntergestiegen oder die Ausführenden der Bachkantate,
die in Kostümen des 18. Jahrhunderts auftraten, versehent-
lich in die erste Reihe geraten? Die kleine Gruppe in der ers-
ten Reihe strahlte etwas Unzeitgemäßes und Befremdendes
aus.
Es wunderte mich denn auch nicht, nach dem Konzert von
meinen Mitschülern zu erfahren, dass der seltsame Herr ein
Nachfahre von Goethe oder Mozart sei und die Dame eine ös-
terreichische Prinzessin. Und die jungen Männer? Das wusste
man nicht. Da die besonderen Gäste gleich nach dem Konzert
wie Schnee vor der Sonne verschwunden waren, interessier-
ten mich bald wieder mehr meine Schulkameraden und ihr
Treiben. Erst viel später wurde mir deutlich, dass ich bei die-
ser Gelegenheit Wolfgang Frommel und Gisèle van Water-
schoot van der Gracht mit einigen der damaligen „Freunde“
gesehen hatte. Die schönen dunklen jungen Männer waren
ehemalige Schüler der Schule.

Einige Jahre vergingen. Ich war dabei, meine Schulzeit mit


einem Englischen Abitur abzuschließen. Es war Sommer. Ich
war dem Nachkommen Goethes selten oder nie mehr begeg-
net. Ich erinnere mich auf jeden Fall nicht daran. Wohl geriet
ich, ohne es zu ahnen, manchmal indirekt in seine Nähe.
Denn ich war dank einer guten Altstimme dem Musiklehrer
der Schule, Billy Hilsley, aufgefallen. Hilsley hatte mich in sei-
nen Sängerkreis aufgenommen. Ich gehörte dem Großen wie
dem Kleinen Chor der Schule an. Als Mitglied dieser Chöre
durfte ich bald in Motetten oder Kantaten von Bach mitsin-
gen. Und in den vier Jahren meines Schulaufenthaltes sogar
Soli singen, etwa in der Krönungsmesse von Mozart, einer
Oper von Benjamin Britten und vielen anderen musikalischen
Produktionen. Diese musikalische Teilnahme gehört zu den
aufregendsten Erfahrungen meiner Schulzeit.
Bald stellte sich heraus, dass ich durch meine Zugehörig-
keit zu diesem Musikkreis plötzlich zu einem Kreis von Auser-
wählten gehörte. Das war eine große Ehre, wie aus den Reak-
tionen meiner Mitschüler und -schülerinnen zu entnehmen
war. Eine gewisse Irritation machte sich bemerkbar: Die
einen beneideten mich, die anderen fanden mich plötzlich ar-
rogant und lächerlich. Das Letztere gefiel mir gar nicht. Denn
dass ich ausgewählt worden war, in den verschiedenen Auf-

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führungen mitzusingen aufgrund meiner musikalischen Mög-
lichkeiten, bedeutete für mich nichts anderes als der Um-
stand, dass ein guter Hockeyspieler aufgrund seiner Leistun-
gen in das Hockeyteam der Schule aufgenommen worden
wäre. Dass aber zwischen Hockeyteam und Sängerkreis ge-
wisse Unterschiede existierten, sollte ich bald herausfinden.
Denn mehrere meiner besten Schulfreunde gehörten bald
ebenfalls den Chorkreisen an. Und in der gleichen Periode fin-
gen unsere kindlichen Vorlieben an, sich zu ernsteren, per-
sönlichen Emotionen zu entwickeln. Wir waren uns dessen ei-
gentlich kaum bewusst. Aber dem charmanten und sehr be-
gabten Musiklehrer, der, wie ich inzwischen erfahren hatte,
ein enger Freund des mir weiterhin unbekannten Enkel Goe-
thes war, entging das nicht. Alsbald geschahen in unserer
Sängergruppe seltsame Dinge. Es schien so, als ob manchmal
eine unsichtbare Grenze uns Jugendliche aufteilen wollte, als
ob die einst so heitere, unbeschwerte Zusammengehörigkeit,
die dank der musikalischen Erfahrungen uns zusammenge-
fügt hatte, brüchig zu werden drohte. Ein Teil der Sänger, vor
allem die Jungens, schien in irgendetwas Geheimes einge-
weiht zu sein, in etwas, das dem anderen Teil nicht zugäng-
lich war. Was es war, konnte niemand sagen, aber die Tren-
nung war spürbar, manchmal sogar schmerzlich spürbar. Und
plötzlich ließen mich einige meiner Freunde zwischen Unter-
richtsstunden, Sport, Hausaufgaben, Musikproben und ande-
ren Tätigkeiten, die unsere Schultage füllten, heimlich wis-
sen, dass sie diesem Mozart- oder Goethe-Enkel inzwischen
öfters begegnet seien. Sie teilten mir das in einem beinah
ängstlichen verschwörerischen Ton mit: „Wir kennen diesen
Mann schon ein bisschen besser als du…“. Sie erzählten mir
aber nie, woher und seit wann. Das war verwunderlich.
Mich beunruhigte inzwischen auch, dass manchmal ein
kaum sichtbares Zeichen, ein Kopfnicken, des Musiklehrers
einem der mitsingenden Knaben galt. Diese Zeichen bezogen
sich aber weder auf eine falsche Note noch auf einen beson-
ders schönen Einsatz. Was hatte dieses heimliche Zuwinken
zu bedeuten? Mein kindliches Vertrauen geriet ins Wanken.
Auch schienen plötzlich einige meiner Freunde sich nicht
mehr sicher zu sein, ob sie mit mir auf einem Schulfest tan-
zen, plaudern oder sich zu einem unschuldigen Stelldichein
im Wald treffen sollten. Zwar gehören solche Unsicherheiten

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zu den alltäglichen Erfahrungen aller Jugendlichen aller Zei-
ten, aber ich hatte oft das Gefühl, eine unsichtbare Hand len-
ke oder verhindere unser Zusammensein. So als ob wir nicht
mehr Herr unseres Selbst wären.
Mit der Zeit erfuhr ich, dass diese Unsicherheit nicht nur in
der Nähe des Musiklehrers eintrat, sondern auch in der Nähe
dieses geheimnisvollen Mannes, von dem meine Mitschüler
sprachen. Und ich bemerkte, dass dies zusammenhing mit
der Zugehörigkeit zu einem geheimnisvollen Kreis. Was für
ein Kreis das war? Auch dieses Geheimnis sollte sich erst
schrittweise aufklären, und zwar eigentlich erst ein paar Jah-
re später, als ich selber in diesen Kreis hineingeraten war und
am lebendigen Leib erfuhr, dass mein Leben nun, von un-
sichtbaren Fäden gezogen, darin mitkreiste. So wie ich erst
allmählich lernte, dass in W.’s Nähe „Freund“ und auch
„Freundin“ etwas ganz anderes bedeutete als das, was ich
bisher darunter verstanden hatte. Dieser neue Freundschafts-
begriff wurde mir langsam aber sicher beigebracht. Er tröp-
felte in mich hinein wie ein süßes Gift, das in feierlicher Stun-
de aus einem goldenen Kännchen mir wie Honigtropfen in die
Seele getröpfelt wurde.
Diese unbekannte Art von Freundschaft und Zugehörigkeit
zu einem Kreis, so erklärten mir einige meiner Freunde, hatte
mit Auswahl und Einweihung zu tun. Es handelte sich um eine
Einweihung in eine geheimnisvolle dichterische Welt, die nur
wenigen vergönnt war. Man wurde auserwählt, um zu dieser
Welt zugelassen zu werden. Eine Welt, die mittels geheimnis-
voller Rituale und Gesetze ihre Auserkorenen vor uner-
wünschten Verlockungen von „draußen“ zu schützen versuch-
te. Ganz so, wie das in Klostergemeinschaften, ritterlichen
Runden und Geheimbünden seit Jahrhunderten üblich war. Es
waren Prinzipien, die W. sein ganzes Leben lang vertrat. Aber
das wusste ich damals noch nicht.
Auch kannte ich die Lehre einer Freundschaft, die geprägt
vom pädagogischen Eros leicht in die Nähe der Homosexuali-
tät gerät, noch nicht. So geläufig dieser Begriff heute ist, so
seltsam und unaussprechbar war er in jener Zeit. Als in jenen
Jahren auf der Schule Unruhe entstand wegen Anzeichen die-
ser angeblich unaussprechbaren „Freundschaft“ und ich dar-
auf von meinem Vater, der inzwischen dem Vorstand der
Schule angehörte, angesprochen wurde, weil angeblich einige

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meiner Freunde in die Nähe dieser gefährlichen Liebe geraten
waren, hatte ich keine Ahnung, um was es sich handelte. Ich
schüttelte seine lästigen Fragen ab. Nicht nur, weil ich wirk-
lich keine Ahnung von diesen erotischen Gefahren hatte, son-
dern ich gehörte auch einer Generation an, die gerade die Be-
schränkungen des Zweiten Weltkrieges hinter sich gebracht
hatte und auf der Suche war nach einem heiteren Leben ohne
irgendwelche Beschränkungen oder Vermutungen welcher Art
auch immer. Ich genoss die schöne Umgebung des Schlosses,
liebte die Freiheit, die zum Leben in fortschrittlichen Land-
schulheimen gehört, war empfänglich für künstlerische Dinge,
das hatte ich von zu Hause mitbekommen, und verliebte
mich, wie jedes andere Mädchen meines Alters auch, in hüb-
sche Jungens.

Im Sommer 1953, am 8. Juli, geschah etwas, das die Situati-


on, in der ich mich eigentlich ahnungslos befand, für einen
kurzen Augenblick erhellte. W. war nach Ommen gekommen,
dem Dorf in der Nähe der Schule, um bei Selina, der Witwe
eines Bankiers, seinen Geburtstag zu feiern. Selina bewohnte
eine sehr elegante, mit Stroh gedeckte, weiße Villa. Diese lag
auf halber Strecke zwischen Schule und Dorf auf einem Hügel
und hieß Bargsigt. Das Haus war von einem weitläufigen,
sehr schönen Garten umgeben. Ich war damals Selina, die
Frau Pierson hieß, kurz zuvor begegnet und sollte sie später
näher kennenlernen. Selina hatte jahrelang, nach dem Tod
ihres Mannes, sehr zurückgezogen gelebt, bis Freunde von
W., die Lehrer am Landschulheim waren, sie kennengelernt
hatten. Selina hatte W., dem Freund der neu gewonnenen
Freunde, ihr Haus als Sommerbleibe angeboten. Und W. hatte
das Angebot sofort angenommen und war mit seinen damali-
gen „Nächsten“ bei ihr eingezogen. So wurde mir mitgeteilt.
Wer diese „Nächsten“ waren, wusste ich jedoch nicht. W.
wollte dort seinen Geburtstag feiern.
Zu diesem Geburtstagsfest am 8. Juli waren meine Chor-
freunde und auch ich eingeladen worden. Ich radelte später
als die anderen zu dem einsam gelegenen Haus, weil ich in
der Schule noch etwas hatte fertigstellen müssen. Zu meiner
Überraschung wurde ich von W. in eigener Person im Torein-
gang des Hauses erwartet. Als ich ihm so plötzlich, völlig un-
erwartet gegenüberstand, war ich gleichzeitig erschrocken

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und befremdet. Er empfing mich aber sehr herzlich, umarmte
mich innig und küsste mich auf den Mund. Dann entführte er
mich in den Garten. Auf den Stufen eines dort befindlichen
Gartenpavillons hielt er mir eine kleine Rede. Ich verstand
kaum was von dem, was er sagte, weil ich damals erst wenig
Deutsch konnte und er kein Holländisch sprach.
In der Ferne hörte ich Stimmen, die aus dem weißen Haus
kamen. Es lag wenig entfernt mit offenen Fenstern im war-
men Abendlicht. Auch im Garten streifte ein goldenes Licht
über die Blumen und Sträucher. Und ebenso streiften aus
seltsamer Ferne W.’s Worte mein Ohr. Ich hörte Wörter, die
Gefahr andeuteten. So ungefähr klangen sie wenigstens. Ich
sei gefährdet oder aber: Ich sei gefährlich. Einige seiner Wor-
te blieben wie Stechmücken an einem märchenhaften Som-
merabend um mich herum summen. Ihr Summen störte die
abendliche Friedlichkeit.
Weder sprachlich noch sonst konnte ich mit W.’s Worten et-
was anfangen. Seine Mitteilung zum Schluss, dass ich eigent-
lich auf seinem Geburtstagsfest nicht willkommen sei, kam
letztendlich nicht unerwartet. Und seine Aufforderung, zum
Schloss zurückzukehren, klang so, als wolle er mich vor et-
was beschützen.
Im späten Licht fuhr ich den langen Weg durch den Wald
zurück zum Schloss. Eigentlich war ich erleichtert, denn ich
hatte das Gefühl, etwas Fremdem und Unheimlichem ent-
kommen zu sein. Hatte ich dieses Gefühl, weil ich noch nicht
zu seinen „Auserwählten“ gehörte? Sein Kuss auf meinen
Mund unter der Toreinfahrt, als ich eintraf, hatte mir nicht ge-
schmeckt und der beim Abschied auch nicht. Später sollte ich
erfahren, dass mich das Schicksal, ein von W. gern benutztes
Wort, nicht gehen lassen wollte und dass ich für mehrere Jah-
re in seine nächste Nähe geraten würde. Allen Warnungen,
auch seinen, zum Trotz.
Bald nach jenem Geburtstagsfest war ich fertig mit der
Schule. Aber bevor es so weit war und ich die Schule
endgültig verließ, traf ich noch einmal im Schloss die Dame,
die ich damals im Festsaal an W.’s Seite gesehen hatte. Ich
weiß nicht mehr aus welchem Anlass, aber bevor ich mich
versah, saß ich allein mit Gisèle, der „österreichischen Prin-
zessin“, im Wohnzimmer des Musiklehrers. Dieses Wohnzim-
mer lag ziemlich versteckt, hinter mehreren alten Türen, un-

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ten im Schloss. In Schülerkreisen war es ein von Sagen um-
wobener Raum. Es hieß, es würden dort wilde Orgien gefeiert
mit Wein, Kerzen und Knaben.
Ich kannte das Zimmer nur von den vielen Musikproben,
die ich dort allein oder in kleiner Besetzung für die Konzerte
erlebt hatte. An die gewölbte Decke des Zimmers warf das
Wasser der Gracht wie immer seine welligen Spiegelungen.
Gisèle und ich waren allein in diesem Raum. Ich war ziemlich
gehemmt und unsicher, weil ich sie nicht kannte, geschweige
denn je gesprochen hatte. In braunen Samt gekleidet sah sie
aus wie eine wirkliche Prinzessin. Unser Zusammensein hatte
nichts mit Musik zu tun, und es wurde weder Wein getrunken
noch brannten Kerzen.
Gisèle berichtete von einer Reise zu den Kathedralen Nord-
frankreichs, die sie gerade gemacht hatte. Sie erzählte mir
von den wunderbaren Glasfenstern, die sie gesehen hatte.
Nachdem sie lange gesprochen hatte, fragte sie mich auf ein-
mal: „Aber was machst du eigentlich?“ Worauf ich antworte-
te: „Ich webe.“ Weben gehörte zum Unterrichtsprogramm der
Schule und war mein Lieblingsfach. Und darauf sie: „Wenn du
mal etwas Schönes gemacht hast, kannst du mich in Amster-
dam besuchen und es mir zeigen.“ Dann wurde sie abgeholt
und verschwand genau so plötzlich, wie sie erschienen war,
und ich stand allein auf dem Rondell vorm Schloss.

Bald darauf verließ ich die Schule und wurde Lehrling in einer
Textilwerkstatt in der Nähe von Den Haag. Ich lernte dort
nicht nur zu Weben, sondern auch Knüpfen, Textildruck und
Gobelin. Die Aufforderung Gisèles hatte ich nicht vergessen,
und als ich zwei Jahre später meinte, etwas Schönes gemacht
zu haben, beschloss ich, sie zu besuchen. Es war nichts Ge-
webtes, was ich ihr zeigen wollte, sondern Entwürfe für Stoff-
druck. Mit einer Rolle dieser Entwürfe unterm Arm suchte ich
ihr Haus in Amsterdam und fand es. So gelangte ich zum ers-
ten Mal in die Herengracht 401.
Ich wurde von einer netten Frau, die, wie sich herausstell-
te, Gisèles Haushälterin war, in Gisèles Atelier, gleich unterm
Dach, geführt. Gisèle war gerade beim Malen. Sie stand mit
Pinseln in der Hand an ihrer Staffelei und malte ein Porträt ei-
nes alten Herrn mit weißem Bart und großem Hut. Er hieß:
mijnheer Belleman. Gisèle wollte nicht gestört werden bei ih-

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rer Arbeit und sagte: “Später“. Aber als ich mich umdrehte,
um zu gehen, rief sie mir nach: „Kannst du eigentlich
kochen?“ Wenige Minuten später war ich als Köchin, eigent-
lich als Haushälterin, angestellt worden. Sonst hatte Gisèle
leider keine Zeit, meine Entwürfe anzuschauen, weswegen ich
gekommen war. Sie würde das morgen tun.

Herengracht 401, Amsterdam

Ich stieg die Treppen hinunter und fand zwei Etagen tiefer
in der kleinen Küche an der Rückseite des Hauses die nette
Haushälterin wieder. Sie war sehr erleichtert, als sie erfuhr,
dass ich sie für zwei Wochen vertreten würde. Denn nun
konnte sie in Ferien gehen. Dass ich noch nie gekocht hatte,

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spielte keine Rolle. Als ich wenig später nach Hause fuhr und
meiner Mutter erzählte, ich hätte einen Ferienjob in Amster-
dam angenommen, war sie gar nicht begeistert. Aber ich
packte ein paar Kleider in eine Tasche und zog nach Amster-
dam.
Gleich am nächsten Abend beim Essen lernte ich mehrere
Bewohner des Hauses kennen. Sie waren von ihrer Arbeit
nach Hause gekommen. Zwei sehr nette junge Männer, Peter
und Manuel Goldschmidt, und eine junge Frau, Kathi Gelpke.
Die dunklen jungen Männer erkannte ich wieder, weil ich sie
bei der Aufführung der Bachkantate gesehen hatte, den drit-
ten aber, der blond war, hatte ich noch nie gesehen. Er hieß
Simon und war zu Gast wie ich. Kathi war Schweizerin. Sie
wohnte um die Ecke. Alle waren älter als ich. Die Hausherrin
Gisèle fehlte bei meinem ersten Abendessen in ihrem Haus.
Sie war anderswo eingeladen. Ich brauchte an diesem ersten
Abend noch nicht zu kochen, denn Fietje, die Haushälterin,
war noch da, um mich einzuarbeiten.
Nach dem Essen wurde ich gefragt, ob ich auch stopfen
und nähen konnte. Ich bejahte das. Und bald saß ich in ei-
nem größeren Zimmer mit Fenstern auf die Gracht. Die drei
jungen Männer und die junge Frau scharten sich um mich. Es
wurde ein sehr lustiger Abend! Es war Sommer, und die Fens-
ter standen offen. Die Hausbewohner erzählten von ihren Ta-
geserlebnissen, während ich ihre Wäsche ausbesserte. Sie
brachten mir in den nächsten Tagen immer mehr Hemden
und Strümpfe. Anscheinend hatte sich niemand in letzter Zeit
um ihre Wäsche gekümmert. Es wurde viel gelacht, geraucht
und ab und zu auch ein oude klare, ein Genever, getrunken.
Ich fühlte mich ein bisschen wie Schneewittchen zwischen
den Zwergen. Nach diesen heiteren Abenden ging ich sehr
zufrieden ins Bett. Mir war ein kleines Zimmer, ein Stockwerk
tiefer, als Gästezimmer angewiesen worden.
Im Lauf der nächsten Tage erschienen immer mehr Gäste
zum Essen. Meine Kochkünste musste ich blitzschnell entwi-
ckeln. Aber alle schienen zufrieden, und neben meinen Koch-
künsten entwickelten sich allabendlich meine Stopf- und Näh-
künste. Das ruhige Zusammenleben in der kleinen Gemein-
schaft gefiel mir, bis sich auf einmal eine fieberhafte Aufre-
gung verbreitete. Da alle immer nur Deutsch sprachen, ent-
ging mir zunächst der Anlass. Aber dann erzählte mir Peter

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mit seiner dunklen ruhigen Stimme, der meine Verwunderung
gesehen hatte, dass an dem Abend „der“ W. von einer langen
Reise zurückkommen würde. Denn auch er, der W., wohnte in
diesem Haus und zwar in dem Zimmer, wo wir allabendlich
gesessen hatten. Da mir ziemlich unklar geblieben war, wer
wo wohnte und wer nicht, wunderte ich mich nicht. Das Haus
war voller Winkel und Ecken und kleiner dreieckiger Zimmer-
chen. Das Treppenhaus verband die vielen Räume auf mehre-
ren Stockwerken.

W. um 1950 in seinem Zimmer

Die Aufgeregtheit über W.’s Anwesenheit sollte sich auch


nach einigen Tagen nicht legen. Vorm Abendessen wurde
plötzlich ein langes Gebet gesprochen, die Sitzordnung auf
den schmalen Bänken in der Küche, links und rechts vom
Tisch, änderte sich, und die Erzählstunden nach dem Abend-
essen hörten auf. Jetzt wurden ernste Sachen vorgelesen,
oder W. erzählte von seiner Reise und seinen Begegnungen.
Freilich ging es auch jetzt noch heiter zu, aber mir entging
vieles von den Sachen, über die geredet wurde, weil nur
Deutsch gesprochen wurde. Auch von denen, die Holländer
waren, und von den Deutschen, die meine Sprache gut spra-

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chen. Alle redeten auf einmal nur noch Deutsch. Es war be-
fremdlich, mitten in Amsterdam eine für holländische Ohren
wegen der nahen Vergangenheit unangenehme Sprache um
sich herum zu hören.
In den Tagen von W.’s Anwesenheit, die nur von kurzer
Dauer sein sollte, wurde es nachts plötzlich unruhig: Treppen
knarrten, Türen gingen auf und zu, Fußtritte glitten durch die
schmalen Korridore. In dem kleinen Zimmer, in dem ich vor-
her so ruhig geschlafen hatte, ging plötzlich nachts die Tür
auf und ein nackter, in Seiden gehüllter Körper glitt in mein
Bett. Das gefiel mir nicht. Ich wehrte mich. So etwas war mir
nicht einmal im Landschulheim passiert. Das Haus und seine
Bewohner wurden mir auf einmal unheimlich.
Dann fand ich eines Morgens neben meinem Bett auf dem
Nachtschränkchen einen großen Zettel mit einer merkwürdi-
gen Schrift darauf: „Süsse träume dem Kind“. War ich das
Kind? War es ein Scherz? Die Unheimlichkeit des Hauses, die
ungewisse Zahl der Bewohner, die Unübersichtlichkeit der
Verhältnisse erregten gleichzeitig Furcht und Neugierde. Mein
naiver Schneewittchentraum war durch diese Erfahrungen
ausgeträumt. Beunruhigt sollte ich wenig später das Haus an
der Gracht verlassen.
Aber noch war es nicht so weit, denn bevor W. wieder ab-
reisen sollte, wurde noch ein wichtiger Gast erwartet. Eines
Morgens nach dem Frühstück rief Gisèle mich zu sich ins Ate-
lier. Sie stand wie immer vor ihrer Staffelei, als ich herein-
kam. Sie sagte mir, ich solle für heute ein sehr festliches
Abendessen zubereiten, denn es komme ein wichtiger Profes-
sor aus Amerika und er werde mitessen. Auf meine Frage,
was ich denn kochen sollte, sagte sie nur: „Mache ein Roast-
beef mit Cumberlandsauce.“ „Und sonst?“ „Das weiß ich
nicht“, antwortete sie, „aber dort auf dem Sofa liegt ein
Kochbuch und darin kannst du nachschauen.“ Ich wusste da-
mals noch nicht, dass Giselè nie kochte und auch nicht ko-
chen konnte. Ich fragte sie beim Weggehen, wie viele Perso-
nen kommen würden? Da sagte sie: Das kannst du besser W.
fragen.
Ich nahm das dicke Kochbuch mit in die Küche und setzte
mich hin, um das Rezept der mir völlig unbekannten Sauce zu
suchen. Ich fand es, und die Zutaten waren höchst unge-
wöhnlich. Man brauchte Cranberrygelee, gelben Englischen

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1956

Senf, Portwein und kleine Zwiebelchen. Im Küchenschrank


war nichts von alledem zu finden. Ich rannte also zur Kathi,
Peters Freundin, um die Ecke und zeigte ihr die Liste. Worauf
sie sagte: „Ich bringe dich in den Feinkostladen an der Prin-
sengracht, der wird alles haben.“ Und das war tatsächlich so.
Beim Fleischer kauften wir ein gutes Stück Fleisch, beim Ge-
müsehändler Kartoffeln, Karotten, Erbsen und Salat und beim
Blumenhändler an der Ecke frische Blumen. Einen großen
Strauß. Denn ich hatte wenig Ahnung vom Zubereiten eines
Diners – und das sollte es eigentlich werden für diesen sehr
bedeutenden Professor aus den USA –, aber dass Blumen auf
einen festlich gedeckten Tisch gehörten, das wusste ich.
Als wir mit den Einkäufen nach Hause kamen, war W.
schon auf, was sehr ungewöhnlich war. Er war damit beschäf-
tigt, sein Zimmer aufzuräumen. Denn in seinem Zimmer, ne-
ben der Küche, sollte das Essen stattfinden. Wir zeigten ihm
stolz unsere Einkäufe, und er nickte zufrieden. Ich fragte ihn,
ob er wüsste, wie viele Gäste kommen würden. Er wusste das
ebenso wenig wie Gisèle, fügte dann aber hinzu: „Rechne mal
mit acht bis zehn Personen.“ Ich konnte es nicht lassen, ihn
zu fragen, wer Wichtiges denn nun eigentlich zum Essen

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kommen würde. Denn jeder, den ich an jenem Morgen im
Haus getroffen hatte, schien ungewöhnlich aufgeregt. W.
schaute mir tief in die Augen und sagte: „Der große Ernst.“
Mehr nicht. Gleich ging das Aufräumen und Möbelschieben
weiter.
Ich verschwand in der Küche und machte mich an die Vor-
bereitungen. Was das wohl heißen sollte: „Der große Ernst
kommt.“ Ich stellte mir einen großen ernsten Mann vor. Einen
großen ernsten Professor.
Ab und zu kam einer der Bewohner in der Küche vorbei,
um etwas zu essen oder zu plaudern. Das Haus hatte sich
nach W.’s Kommen mit immer mehr jungen Männern gefüllt.
Und jeder hatte offenbar irgendwo eine Schlafstelle gefunden.
Denn zum Frühstück erschienen jedes Mal, statt anfangs zwei
oder drei, inzwischen fünf bis sechs Personen.
Am Ende des Nachmittags war das Abendessen fast fertig
und ein langer Tisch im Nebenzimmer gedeckt. Von allen Eta-
gen waren Stühle herbeigeholt worden, und als ich sie zum
letzten Mal zählte, waren es 12! Auf dem Tisch stand mein
üppiger Blumenstrauß. Aus der Küche waren sowohl der Tisch
als auch die Bänke verschwunden. Kurz vorm Essen kam Pe-
ter herein. Er brummte zufrieden vor sich hin, als er die vie-
len Schüsseln sah, die ich bald mit Speisen füllen sollte. Er
hob die Deckel von den Töpfen, sog die verschiedenen Düfte
ein und sagte dann auf einmal: Gibt es eigentlich irgendwo
auch Reis oder Kartoffeln? Ich hatte beides vergessen. Mir
sank das Herz in die Schuhe. Aber Peter sagte ganz ruhig:
Weißt du was, ich mache schnell frische Bratkartoffeln. Wäh-
rend ich rasend schnell die Kartoffeln schälte und in Scheiben
schnitt, goss Peter Öl in eine Bratpfanne und zauberte die
herrlichsten Bratkartoffeln. Das Essen war komplett.
Inzwischen war Gisèle noch einmal schnell vorbeigehuscht
und hatte alles kontrolliert. Hier hatte sie einen Stuhl ver-
rückt, dort einen Teller verschoben und zum Schluss mit einer
großen Schere meinen Blumenstrauß auf Maß geschnitten.
Sie war entsetzt gewesen über die Blüten, die sich in die
Weingläser und über die Teller neigten.
Gegen sechs hörte ich auf der Treppe mehrere Personen
hinaufkommen. Die Küchentür war fest zu. Vom Nebenzim-
mer klangen Stimmen, und dort wurden Stühle geschoben.
Nach kurzer Unruhe wurde es still.

24
Und dann auf ein Zeichen durfte ich hineinkommen. Ich
trug in meinen Händen eine Schüssel mit Suppe, denn die
hatte ich auch gemacht. Ich trat in den Raum und sah am
Haupt des Tisches einen eleganten, gar nicht großen Herrn
sitzen. Sein Gesicht schien aus Holz geschnitten. Auffallend
waren seine fast völlig zugekniffenen Augen, die trotzdem zu
blinzeln schienen. Um seinen Mund lag ein amüsiertes Lä-
cheln. Links und rechts von ihm saßen abgesehen von Gisèle
und W. alle jungen Menschen, die ich im Lauf meines Aufent-
haltes kennengelernt hatte: Peter, Manuel, Claus, Simon, Cle-
mens und Reinout waren da. Auch Kathi. Ich trug ganz vor-
sichtig die Suppenschüssel zur Gisèle. Und setzte mich dann
auf das leer gebliebene Stühlchen an der äußersten Ecke des
Tisches. Ganz nahe der Tür zur Küche.
Jahre später erfuhr ich, dass ich nicht nur ein „histori-
sches“ Essen gekocht, sondern auch daran teilgenommen
hatte. Ernst Morwitz, einer der allernächsten Freunde des
Dichters Stefan George, hatte das Haus an der Gracht mit
seinem Besuch beehrt.
Es wurde ein heiterer Abend, an dem viel gelacht und ge-
gessen wurde. In der tischlosen Küche stapelten sich auf dem
Fußboden die schmutzigen Teller. Und ich stand nach dem Es-
sen noch lange in der Küche am schmalen Spülstein und
spülte. Ab und zu kam jemand herein, um mir zu helfen. Kurz
nur, denn der Große Ernst, der eben viel kleiner war, als ich
gedacht hatte, blieb lange an dem Abend. Der Besuch sollte
der erste in einer Reihe alljährlicher Besuche werden. Nur
kam der E.M. (so wurde er auch genannt) nie mehr zum Es-
sen, sondern zog in Zukunft ausgedehnte Teegesellschaften
vor.
In einem der darauf folgenden Winter, den „der Große
Ernst“ in Europa und auch in Amsterdam verbrachte, wurde
ich zu mehreren Abendessen eingeladen. Allerdings nicht von
ihm, sondern von seiner Reisebegleiterin Olga Marx-Perl-
zweig, die mit ihm das gesamte Werk Stefan Georges ins
Englische übertrug. Ich hatte mich mit dieser sehr herzlichen
jüdischen Dame angefreundet. Diese Abendessen fanden in
einem der ungemütlichsten Restaurants von Amsterdam in
der Nähe des Leidseplein statt. Wir aßen dort bei Neonlicht an
mit Kunststoff bedeckten kleinen Tischen das allereinfachste
Süppchen oder sonstige Tagesgericht. Aber diese Essen wa-

25
ren oft lustig und gar nicht feierlich. „Der große Ernst“ amü-
sierte sich gern schmunzelnd über das Leben, so wie es war.
Auch über große Dichter konnte er spöttische Bemerkungen
machen, so etwa über Jean Paul, den er einen „Zettelkasten-
dichter“ nannte. An dem Abend des Festessens ahnte ich na-
türlich noch nicht, was für eine Ehre mir in Zukunft zufallen
würde. Denn ein Abendessen in seiner Gesellschaft war für
viele ein äußerst begehrenswertes Geschehen.
Nach einer Woche kehrte die Ruhe wieder ein. „Der“ W. reiste
mit einigen seiner „Freunde“ ab. Zurück blieben Peter, Kathi
und Gisèle. Letztere malte tagein tagaus unterm Dach. Wir sa-
ßen nun abends wieder friedlich plaudernd in der Küche oder
im großen Zimmer daneben. Dann reisten auch Peter und Ka-
thi gen Süden, und Gisèle fing an, ihre Koffer zu packen.
Als das Haus leer war, fuhr auch ich ab, zu meiner Mutter
nach Haarlem. Einige Tage später fing meine Arbeit in der
Textilwerkstatt wieder an. In meiner Freizeit webte ich nach
einem Entwurf von Simon meinen ersten größeren Wandtep-
pich auf einem kleinen Webstuhl in meinem Zimmer in Haar-
lem. Simon und ich hatten im Stedelijk Museum in Amster-
dam eine Ausstellung von Wandteppichen von Jean Lurcat be-
sucht. Ich hatte die Gobelins kritisiert. Ich fand sie zu glatt
und fantasielos ausgeführt. Worauf Simon meinte: „Mache du
erstmal etwas Besseres.“ Ich bat ihn, einen Entwurf zu ma-
chen. Was er auch tat, allerdings nur in schwarzweiß, denn
Simon war Grafiker. Ich führte Die Ziege im Mondlicht, so
hieß der Entwurf, in Farben aus, und wir schenkten den Tep-
pich W. Er hing noch lang nach seinem Tod in seinem Zimmer.
Giselè war begeistert von dem Teppich und bald fest ent-
schlossen, eines Tages auch einen Teppich zu entwerfen.
Mehr als ein Jahr später mietete ich ein Zimmer in Amster-
dam. Meine Lehre in der Nähe von Den Haag war beendet,
und ich wollte meine Ausbildung mit einer Prüfung an der
Kunstgewerbeschule in Amsterdam abschließen. Für die
Kunstgewerbeschule hatte ich ein Stipendium bekommen und
der Unterricht hatte schon angefangen, als eines Tages Gisèle
mich unerwartet anrief, ich solle sofort zu ihr kommen. Ich
war erstaunt und radelte zu ihrem Haus. Ich stieg die vielen
Treppen hinauf zu ihrem Atelier. Gisèle war ganz aufgeregt,
denn sie hatte den Auftrag bekommen, einen Wandteppich zu
entwerfen für die Lounge des Ozeandampfers De Statendam

26
der Holland-Amerikalinie. Und diesen Teppich, 2,40 x 4,50
Meter groß, sollte ich ausführen. Und zwar in Amsterdam, wo
es noch keine Weberei gab. Auf mein betretenes Stammeln,
ich könne das gar nicht, denn ich hätte weder einen Web-
stuhl, der breit genug sei, noch ein Atelier, antwortete sie un-
geduldig: „Dann besorgst du dir das doch einfach!“
Es ging wie beim Kochen! Ich sagte „Ja“. Vor allem, nach-
dem mir Peter mit seiner dunklen Stimme ins Ohr geflüstert
hatte: „Ich kann dir doch dabei helfen.“
So fing ich kurz nach meinem 21. Geburtstag meine eigene
Weberei an. Sie bekam den Namen: de Uil (die Eule). Zu die-
sem Namen kam es am Küchentisch in Gisèles Haus beim
Abendessen. Es war Claus Bock, der die Göttin Athena als
meine zukünftige Schutzherrin vorschlug. Die Rückseite einer
Athenamünze aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. wurde mein
Markenzeichen. In alle Teppiche, die von 1956 bis in die
1980er Jahre die Weberei verließen, wurde neben dem Jah-
resdatum eine kleine Eule eingewebt.

Mit Gisèle in der Weberei (1960)

Eine Werkstatt hatte ich an der Prinsengracht 401 gefun-


den. Ein altes Gartenhaus in einem verwilderten Garten. Ein

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Hausarzt, der von meiner Suche nach einer Räumlichkeit ge-
hört hatte, hatte mich wissen lassen, dass ich vorbeikommen
sollte. Als ich ihn aufsuchte und in seinem Garten das Garten-
haus sah, wusste ich sofort, dass das der richtige Raum sein
würde. Das Gartenhaus hatte hohe Fenster, war zum Teil mit
Efeu bedeckt, und es ließ sich dort ein Webstuhl von zweiein-
halb Meter bequem unterbringen. Es hatte auch einen
Schornstein, so konnte ich einen Ofen hereinstellen. Als ich
das Angebot freudig angenommen hatte, wurde ich zu einer
Tasse Tee eingeladen. Der Arzt und seine Frau waren sehr
gastlich und freundlich.
Zu meinem Staunen hörte ich bei dieser Gelegenheit, dass
der Arzt das Haus an der Herengracht 401, wo Gisèle wohnte,
kannte, weil er kurz davor dort zur Hilfe gerufen worden war.
Einer der jungen Bewohner hatte einen Selbstmordversuch
unternommen. Der Arzt hatte ihn gerettet. Ich fragte ganz
erschrocken, ob der Arzt wisse, wie der junge Mann hieß und
warum er das getan habe. Den Namen wollte er mir nicht sa-
gen, wohl aber den Grund des Selbstmordversuchs nennen:
Dieser Junge hatte ein Mädchen in Basel geliebt. Er hatte es
dort bei einem Aufenthalt kennengelernt. Aber auf einmal
hatte er die Beziehung abgebrochen und war nach Amster-
dam abgefahren. Das Mädchen war ihm verzweifelt nachge-
reist. Da ihre Eltern das ärztliche Ehepaar kannten, hatte es
bei ihm gewohnt. Der Zutritt zu dem Haus an der Heren-
gracht, wo ihr Geliebter sich befand, sei ihr verwehrt worden.
Und noch schlimmer sei gewesen, dass die Geliebten sich
auch außerhalb des Hauses nicht hätten treffen dürfen. We-
der im Haus des Arztes noch anderswo. Daraufhin sei dieses
Unglück geschehen. Ich war zutiefst betroffen.
Als ich später am Tag das Haus an der Herengracht betrat,
fragte ich verschiedene Bewohner nach diesem Geschehen.
Keiner gab mir Antwort. Sie schienen taub für meine beunru-
higten Fragen. Obwohl sie sonst doch so freundlich, ja, sogar
aufmerksam sein konnten. Irgendjemand brummte nur, der
Arzt habe wohl ein anderes Haus gemeint, er habe ja schließ-
lich eine riesige Praxis! Bald hatte ich keine Zeit mehr, über
diese Geschichte nachzudenken. Denn alles drehte sich um
die zukünftige Arbeit. Die Vorbereitungen für den ersten,
großen Auftrag forderten meine Aufmerksamkeit, die Suche
nach geeigneten Mitarbeitern begann. Ein Vorschuss der

28
Schifffahrtsgesellschaft ermöglichte mir, einen zweieinhalb
Meter breiten Webstuhl zu bestellen.
Die intensive Zusammenarbeit mit Gisèle führte mich nun
des Öfteren in ihr Haus und in W.’s Nähe. Ich wurde regelmä-
ßig zum Abendessen eingeladen. Und zu dem abendlichen
Zusammensein. Und dort zog mich W. langsam in seinen
Bann. Wodurch, kann man fragen? Waren es seine plötzlichen
intensiven Blicke, die meinen begegneten? War es der heimli-
che Kuss auf meine Stirn, war es das Raunen seiner Stimme,
der Arm, den er um meine Schultern legte? Das tat sonst nie-
mand in seiner Gesellschaft. Alle diese Annäherungen schie-
nen nur ihm vorbehalten. Aber warum? Weil er ein Dichter,
ein Künstler war? Was trieb doch dieser ungewöhnliche
Mensch? War er wirklich ein Dichter, ein Künstler? Er war
doch ganz anders als die Künstler, mit denen ich inzwischen
dank meiner Arbeit zu tun hatte.
Amsterdam war Ende der 50er Jahre eine ausgesprochene
Künstlerstadt. Es wimmelte nur so von ungewöhnlichen Men-
schen, die alle in unbegrenzter Freiheit ihr Leben führten. Ich
fing gerade an, dieses Leben in Kneipen und auf Festen ein
wenig kennenzulernen. Es war eine schillernde farbige Welt!
Sie war so ganz anders als die, aus der ich kam. Ich nahm
nicht ohne Bangen an ihr teil. Unsicher, ob ich sie wirklich be-
treten oder Abstand wahren sollte.
W. gehörte nicht dazu. Seine Welt schien viel ernster und
in gewisser Weise geordneter. Es herrschte kein künstleri-
sches Chaos von Schöpfertum und Emotionen. Das heißt, so
schien es. Und so vertraute ich mich allmählich zögernd der
Welt des Grachtenhauses an und blieb der anderen vorerst
fern. In diesen Anfängen schien das ein guter Entschluss.
Wie sehr ich in W.’s Bann geriet, zeigt unser Briefwechsel.
So schrieb W. an mich am 2. Mai 1956, kaum vier Monate
nach Eröffnung der Weberei:
„Meine Schwarze Peregrina, …Ich bin stolz und froh dass
du alles so gut machst und die andern teuren Wesen ganz in
dein Leben hinein nimmst. Aus deinen wenigen Andeutungen
sehe ich schon wie richtig euere Verbundenheit wächst und
wenn du von der verborgenen Kernkraft deines Wesens
sprichst: so habe ich mir das immer vorgestellt und ich habe
das Gefühl, ein mit Liselotte gezeugter Traum nähere sich
jetzt seiner Verwirklichung…“

29
Und einige Zeilen aus einem Brief von mir an ihn vom 3.
Oktober des folgenden Jahres: „Hab’ innigen Dank für den
Brief und die Karte. Deine Worte tropften wie süsses Gift in
mein, manchmal vor lauter Verlangen, wundes Herz. Du sollst
dich über mich keine Sorgen machen, denn in gewissen Au-
genblicken tut es wohl solche Schmerzen statt zu lindern zu
pflegen, dann realisiert man dass das ganze Leben im Grunde
nur Liebe ist. Nicht dass wir jemals daran zweifeln, man weiss
nur manchmal nicht ob das Leben die Liebe liebt oder die Lie-
be das Leben. Heute morgen, als ich auf den Markt ging, lieb-
te ich das Leben.. Einmal ist es der süsse Früchteverkäufer,
ein dunkler Junge, der nicht rechnen konnte. Ich hatte einen
Korb voll bei ihm gekauft teils aus überschwänglicher Liebe
für die ganze Mädchenschar, die heute zu mir kommen wird,
teils weil ich ihn so nett fand. Er weigerte sich einfach mir die
7 verschiedenen Sachen zu berechnen und wo er auch anfing
er kam nie weiter als 2 Dinge bis ich ihm zur Hilfe kam und er
sichtbar dankbar mir einen Abschiedsgruss zurief. Auch die
Blumen auf dem Markt verführten mich mit süssem Duft und
Farben und meine Arme sehnten sich so sehr nach schwerer
Last, so dass ich viele mitnahm ohne jede Überlegung für
wen und was…
Gestern auf meiner Gracht liefen zwei kleine Buben, viel-
leicht waren es auch Engel. Klein, mager aber von solcher
Zierlichkeit. Sie liefen umarmt und strahlend so verwundert
über ihre Zugehörigkeit. Ab und zu hielten sie an, dann beug-
ten sich ihre blonden Köpfchen und wechselten sie flüsternd
ein paar scheinbar süsse Worte, denn nach jedem Anhalten
gingen sie strahlend weiter.. Adieu süsser Merlin, dem Kinde
und dir alles Gute. Immer deine P.“
Diese wenigen Zeilen enthalten alles, was unsere Bezie-
hung ausmachte. Sie zeigen, wie ich innerhalb kürzester Zeit
in seine Welt, in seine Sprache und in seine Vorstellungen
eingetaucht war. Und er hatte mich inzwischen auch ein we-
nig ’eingeweiht’, und zwar nicht in irgendwelche erotischen
Wunderwelten, sondern in ein kurzfristiges Märchen.

Aber wer war ich eigentlich, als ich W. kennenlernte? War ich
wirklich ein so unbeschriebenes Blatt, auf das man den Na-
men einer beliebigen Märchenfigur stempeln konnte? Oder
war ich, wie jeder junge Mensch in dem Alter, auf der Suche

30
nach Abenteuern? Oder hatte ich etwa, wie die letzte
„Kriegsgeneration“ von W.’s Freunden, mein Land und sogar
in gewisser Weise meine Identität eingebüßt, weil ich zu einer
unerwünschten Minderheit gehörte? Denn die jungen Leute,
die ich bei meinem ersten Besuch in dem Haus an der Gracht
kennengelernt hatte, Manuel und Peter Goldschmidt, Claus
Bock und Clemens Brühl, hatten aus rassistischen Gründen
Deutschland verlassen müssen, um dann an einer Amster-
damer Gracht ein neues, geheimes Vaterland zu finden. Eine
Heimat, die aus Dichtung und fernen Wunschbildern von
Staat, Reich, Freundschaft und Schönheit bestand, wo Krieg
und Diskriminierung fern gehalten wurden. Brauchte auch ich
so etwas?
Mein junges Leben war, vor der Begegnung mit W., gar
nicht so ‚unbeschrieben’. Im Gegenteil, Krieg und Familien-
umstände, wie die Scheidung meiner Eltern, hatten stets für
Unruhe und Spannung gesorgt. Aber trotzdem war ich an-
scheinend auf der Suche nach neuen, fremden Welten. Denn
sonst wäre ich nie dem Zauber eines viel älteren und mir to-
tal unbekannten Menschen erlegen, der mich so heftig faszi-
nierte, dass ich mich in gleich mehrere Märchenfiguren um-
gestalten ließ!
Auf einmal war ich nicht mehr nur die Joke mit dem langen
Namen, die eine Weberei führte. Nein, ich war die Peregrina,
und auserkoren, einen Traum von W. und einem jungen Mäd-
chen, Liselotte, zu verwirklichen. Ich wusste inzwischen, wer
diese Liselotte war. Sie war, zehn Jahre früher als ich, als
Schülerin des Landschulheims nach Ommen gekommen. Und
zwar kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges. Sie war aus
Nazideutschland als jüdisches Mädchen, wie viele andere
Schüler in dieser Zeit auch, geflohen. Der Ausbruch des Krie-
ges hatte sie in Ommen überrascht und daran gehindert, ih-
rer Mutter nach Palästina zu folgen. Sie hatte W., wie auch
ich, an der Quäkerschule Eerde kennengelernt.
Liselotte konnte dank ihrer Bekanntschaft mit W. und Wolf-
gang Cordan, einem anderen emigrierten Dichter, rechtzeitig
untertauchen. Die Zeit des Untertauchens hatte sie im Som-
mer 1942 mit einigen anderen Freunden der beiden deut-
schen Dichter, im sogenannten Polderhof, einem Ferienhaus
bei Bergen an der Nordseeküste, angefangen. Als das Leben
dort zu gefährlich geworden war, wurde die Wohngemein-

31
schaft aufgelöst. Liselotte ging nach Hilversum, in der Nähe
von Utrecht. Eine holländische Familie nahm sie auf. Liselotte
hatte in den Jahren des Krieges, ab und zu von ihrer Unter-
tauchadresse aus, ihre früheren Schicksalsgenossen, die ja
auch ihre alten Schulkameraden waren, in dem Haus an der
Gracht besucht.
Liselotte überlebte den Krieg. Aber während eines Besuchs
bei W., der sich im Sommer, direkt nach Kriegsende, in Ber-
gen aufhielt, war sie am 7. August 1945 in der Nordsee er-
trunken. W. war mit ihr schwimmen gegangen und allein und
unversehrt zum Strand zurückgekehrt. Der 7. August 1945
sei ein stürmischer Tag gewesen.
Im Gedenkbuch, das 1945 erschien, wird ihrer durch Text
und Gedichte gedacht. Und sie wird dort als einer der drei
Ecksteine dargestellt, auf denen das Castrum-Peregrini-Ge-
bäude, W.’s Traumgebilde einer Freundesgesellschaft, ruhen
sollte. Die beiden anderen wichtigen Persönlichkeiten sind
Percy Gothein und Vincent Weyand.
Percy Gothein, ein deutscher Humanist, ehemaliger Freund
Stefan Georges, war W.’s ältester Freund aus dem George-
Kreis gewesen. In den Jahren der Naziherrschaft war Got-
heins Leben in Deutschland eher aus persönlichen als aus po-
litischen Gründen nicht mehr sicher. Er lebte nach 1937, wie
W., meistens im Ausland, etwa in Italien. 1944 reiste er nach
Amsterdam, um die Untertauchgemeinschaft in Gisèles Haus
zu besuchen. Aber Gotheins als zu aufdringlich empfundene
erotischen Vorlieben brachten die Bewohner in Bedrängnis;
mit Simon van Keulen reiste er nach Ommen. Dort wurden
sie im Juli 1944 verhaftet. Vincent Weyands Festnahme folgte
ein paar Tage später. Vincent war der Sohn einer Künstlerfa-
milie aus Bergen. Er lebte schon länger in einem Nebenge-
bäude der Quäkerschule, um dem Arbeitseinsatz in Deutsch-
land zu entgehen.
W. hatte 1939, schon bald nach seiner Übersiedlung nach
Bergen in Holland, eine Gruppe junger holländischer Freunde
um sich gesammelt. Vincent Weyand, Chris Dekker und Jaap
(Reinout) van Rossum Du Chattel gehörten zu diesem Kreis.
Nachdem alle drei, Gothein, van Keulen und Weyand, im Ge-
fangenenlager Erika verhört worden waren, wurden Gothein
und Weyand über das Durchgangslager Westerbork in ver-
schiedene Konzentrationslager verbracht. Beide überlebten

32
nicht. Van Keulen kam ins Lager Amersfoort. Auf einem
Transport zu einem anderen Lager wusste er sich durch einen
Sprung aus dem Zug vor weiterer Verfolgung zu retten.
Aus W.’s Zeilen an mich von 1956 wird deutlich, dass er
meinte, meine Weberei solle ein Teil des Castrum-Peregrini-
Gebildes werden. Oder deutlicher formuliert: Mir wurde die
Stelle zugewiesen, die ich in seinem Kreis einnehmen sollte.
W. hatte mir die Aufgabe zugedacht, neben dem Freundes-
und Männerkreis einen Mädchenkreis zu gestalten. Im Namen
Liselottes. Ich sollte eigentlich den Wunsch eines Menschen
erfüllen, dessen junges Leben ein so tragisches Ende gefun-
den hatte. Nichts lag mir ferner als das!
Liselottes Schicksal berührte mich in seiner Tragik: Sie
überlebt den Krieg unter lebensgefährlichen Umständen, um
dann, kaum befreit, beim Schwimmen im Meer den Tod zu
finden. Ich war auch mit ihrem Aussehen vertraut, denn es
gab ein sehr schönes Bild von ihr. Geneigten Hauptes schaut
sie lächelnd hinunter. Vor etwa zehn Jahren war es in Ommen
aufgenommen worden. Sie war damals genauso alt wie ich
inzwischen war. Ich kannte das lächelnde Mädchengesicht un-
ter dunklen gelockten Haaren, und weil ich ihre Geschichte
kannte, pilgerte ich an einem sommerlichen Tag im Jahr 1956
mit meinen damaligen Webgefährtinnen zum Friedhof in Ber-
gen, um ihr Grab zu besuchen. Anschließend picknickten wir
mit Wein und Brötchen in den Dünen. Und W. hatte mir ihre
Totenmaske anvertraut und ich hatte sie einige Zeit in mei-
nem Zimmer aufbewahrt, aber diese Maske war mir fremd
und unheimlich. Außerdem brauchte ich für die Gründung
meiner Werkstatt keine Ahnen, weil mich das Weben an sich
faszinierte und mich der Umgang mit Material, Farben und
den Entwürfen der Künstler begeisterte.
Mein neuer Name Peregrina, den W. mir gegeben hatte,
spielte auf meine Zugehörigkeit zur Pilgergemeinschaft auf
der Herengracht an. Aber auch auf das geheimnisvolle Mäd-
chen in Eduard Mörikes Peregrina-Zyklus:

Ach, ihre hohe Stirn


war gesenkt, denn sie liebte mich;
Aber sie zog mit Schweigen
Fort in die graue
Welt hinaus.

33
So endet Mörikes Liebeszyklus. War das vielleicht ein Blick in
die Zukunft?
Die Welt, die ich durch die Augen von Peregrina erlebte,
war eine ganz andere als die, worin ich wirklich lebte und ar-
beitete. Oder war Amsterdam in jener Zeit so romantisch, wie
ich es in dem Brief beschrieben habe? Wurde das Obst auf
dem Markt von carravagesken Obstverkäufern verkauft? Lie-
fen lauter hübsche engelgleiche Knaben die Grachten entlang,
wo sich heute eine unordentliche Schar von Touristen, Rad-
fahrern und hupenden Autos bewegt? Und für welche Mäd-
chenschar kaufte ich ein? Hatten meine Mitarbeiterinnen aus
der Weberei plötzlich auch teil am geheimen Kreis? Waren sie
in eine Schar lieblicher Biedermeiergestalten verwandelt, de-
ren bunten Reigen ich anführte? Und wer war das Kind, mit
dem W. augenscheinlich zusammen war, das ich am Ende des
Briefes erwähne? Ich war, ohne es zu ahnen, inzwischen auch
in W.’s grandioses Verwandlungsspiel geraten. Wechselte
ohne Schwierigkeiten Gestalt, je nach Laune und Lust.
W. benutzte nicht nur als Autor, je nach Inhalt, verschiede-
ne Namen. Er liebte es, auch im täglichen Leben als verschie-
dene Persönlichkeiten aufzutreten. Was seine Kleidung deut-
lich verriet. Mal lief er im arabischen Djellabah herum, mal im
langen samtenen oder seidenen Morgenrock, mal vertrat er
im strengen Samtrock mit hochgeschlossenem Kragen seinen
Herrn und Meister. Seinem Gegenüber wurden ebenfalls ver-
schiedene Rollen zugeteilt. Er war wie ein Theaterregisseur,
der seinen Schauspielern jeweils verschiedene Kostüme über-
zog. Mal war er der Hatem, der seiner „süssen Suleika“ liebli-
che Zeilen schrieb, mal Merlin, der seiner „bezaubernden“ Vi-
viane oder Peregrina von unterm Schleedornbusch weise Er-
mahnungen zuflüsterte, unter den er übrigens gedachte,
wenn älter, sich zurückzuziehen. Fast nie war er der, der er
wirklich war, und ebenso wenig war ich das in diesem Zusam-
menhang. Ich habe ihn in diesen Zeiten nie meinen wirkli-
chen Namen, schlicht und einfach Joke, aussprechen hören,
sondern immer nur die anderen Namen, die mit „unserer“ Be-
ziehung zu tun hatten. Das Spiel mit der Identität war kein
leichtes Spiel. Es verwirrte. Und ich war immer froh, wenn ich
zu Hause oder in der Weberei mit meinem eigentlichen Na-
men gerufen wurde.
W. selber hatte sich inzwischen in den Zauberer Merlin ver-

34
wandelt. Ich war, ohne es zu bemerken, mitten in seinem
Zauberkreis.

Aber bald entsprach meine Weberei W.’s Wunschbild nicht


mehr. Denn meine Mitarbeiterinnen hatten gewechselt. Die
anfänglichen drei aus W.’s Freundeskreis waren gegangen.
Eine hatte geheiratet, und die beiden anderen hatten ange-
fangen zu studieren. Meine neuen Weberinnen waren sehr
holländisch, verstanden überhaupt nicht, warum ich so viel
mit Deutschen umging. Weben hatte für sie, und im Grunde
auch für mich, nichts mit Dichten zu tun. Die nüchterne Schar
meiner Kolleginnen hielt mich denn auch in den Jahren, die
kommen sollten, im Lot.
Ich hatte auch schon eine Übernahme der Werkstatt von
Gisèles Seite abgeschlagen. Ihr Vorschlag geschah aus ganz
anderen Gründen als der von W. Sie hatte eines Tages von
mir verlangt, als immer mehr Aufträge von anderen Künstlern
kamen, die Weberei solle ausschließlich ihre Entwürfe ausfüh-
ren. Ich hatte aber ihre Forderung nachdrücklich abgelehnt,
denn ich wollte unabhängig bleiben. Und gerade die Aufträge
von mehreren anderen Künstlern garantierten meine Unab-
hängigkeit. Und die wollte ich unter keinen Umständen aufge-
ben. Aus diesem Grund wohnte ich während dieser Periode
immer außerhalb der Pilgerburg.
Die Weberei bot mir, wie schon gesagt, in diesen verzau-
berten Zeiten Halt und hielt mich am Leben. Zum einen, weil
ich viel Geld verdiente, und zum anderen, weil ich zu einer
tüchtigen Geschäftsfrau wurde, trotz meines jungen Alters.
1958 bezog ich mit mehreren Webstühlen und Spinnrädern
ein geräumiges Atelier mit Färberei und Büro an der Lijn-
baansgracht 320, das Chris Dekker vermietete. Die Räume
wurden nach Plänen von Peter Goldschmidt umgebaut. Dieser
entwarf auch einen fünf Meter langen Webstuhl, auf dem ich
Wandteppiche monumentalen Ausmaßen ausführen konnte.
Der Umzug war nötig geworden, weil die Aufträge sich ver-
mehrt hatten. Ich arbeitete inzwischen ständig mit vier bis
fünf Mitarbeiterinnen und betreute in den Abendstunden etli-
che Lehrlinge. Die Zusammenarbeit nicht nur mit Gisèle, son-
dern auch mit anderen Künstlern war ungeheuer anregend,
und die Teppiche, die immer häufiger von den Webstühlen
rollten, waren ein Erfolg. Zur Kunstgewerbeschule war ich

35
nicht zurückgekehrt, und mein Stipendium hatte ich inzwi-
schen zurückgegeben.

In meinen freien Stunden las ich viel: Hölderlins Dichtung,


Goethe und Schiller, Keats und Shelley, und Platons Dialoge.
Abgesehen von Hölderlin waren mir diese Texte auch schon
aus dem Bücherschrank meines Vaters und aus dem Land-
schulheim bekannt. Und ich lernte die Gedichte des Dichters
kennen, die für W. so wichtig waren. Stefan George war sein
Herr und Meister in jeder Hinsicht. Ich lernte, dass diese Ge-
dichte nicht nur dazu da sind, auswendig gelernt zu werden,
sondern auch, dass das, was sie mitteilen, dein Leben be-
stimmen sollte. Dass Leben und Lieben im Sinn dieser Ge-
dichte das einzig Wahre seien. Wer mich das lehrte? Ein paar
Freundinnen und eine Lehrerin vom Landschulheim, die, frü-
her als ich, W. näher kennengelernt hatten und seine Bot-
schaft – denn sie kam von ihm – weiterreichten. Mit ganz
ernster Miene. Mir wurde bedeutet, dass nun auch ich auser-
wählt sei, diese Botschaft zu vermitteln. Ja, dass es sogar so
sei, dass man eigentlich nicht mit Menschen zusammenarbei-
ten oder -leben könne, die diese Dichtung nicht auch kenn-
ten. Das Letztere hatte sich in meinem Fall bereits als un-
möglich erwiesen.
Obwohl ich die Dichtung Georges gut kennenlernte, und
obwohl mir manches Gedicht gefiel, blieb sie mir innerlich
fremd. Aber der Kreis von Menschen, in den ich hineingeraten
war und aus dem inzwischen zum Teil meine Freunde stamm-
ten, wurde deutlich von ihr geprägt. Es war eine wundersame
und erregende Welt, in die ich hineingeraten war. Sie war an-
ders als jene, worin ich durch Arbeit und Familie verankert
war. Diese neue und andere Welt kannte nicht nur ihre eige-
nen Prinzipien der Auswahl, sondern huldigte auch einem ei-
genen Kalender. Die Höhepunkte des dichterischen Jahres
waren das Herbst- und das Frühlingsfest. Sie fanden jedes
Jahr zu Ostern und Allerseelen statt. Sie waren ausschließlich
für die männlichen Mitglieder des Kreises gedacht.
Auch bei diesen Festen waren die Dichtung Georges und
die von ihm geprägten Traditionen Ausgangspunkt. Die Dich-
tung Georges und die zu ihr gehörige Weise des Vortrags sind
geeignet, ein Zusammensein rituell einzurahmen. Der „Meis-
ter“ selber hatte die getragene Art des Vorlesens eingeführt.

36
Der oft programmatische Inhalt seiner Gedichte, streng
rhythmisiert in dieser Lesart vorgetragen, konnte eine über-
persönliche Zusammengehörigkeit aufrufen. So ähnlich wie es
die Wiederholung heiliger Texte welchen Glaubens auch im-
mer bewirken kann. Das Individuum löst sich im allgemeinen
Klang und Rhythmus auf. Die Feste dienten dazu, Georges
Werk und die Erinnerung an die Toten, wie Percy Gothein und
Vincent Weyand, wachzuhalten. Zu diesen Ereignissen, die in
jenen Jahren in Holland, in Amsterdam und Bergen aan Zee,
stattfanden, reisten die Auserwählten aus verschiedenen Län-
dern an. Nach jedem Fest pflegte W. stolz die Zahl der Gäste
aus London, München, Hamburg und Heidelberg zu erwäh-
nen. Es handelte sich um mindestens 30-40 „Freunde“, die
zweimal jährlich die kurze oder lange Reise per Zug, Flugzeug
oder Auto machten, um dieses eine Wochenende, oder besser
gesagt die eine Nacht von Samstag auf Sonntag, in den mit
vielen Kerzen geschmückten Räumen, selbst geschmückt mit
Efeukranz, zu feiern.
Als nicht Teilnehmende bekam ich vor allem die freudige
Aufregung vor dem Fest und die gleich freudige Erschöpfung
am nächsten Tag mit. Die erprobte, fast mystische Wirkung
der Georgeschen Sprache zog eine feste Mauer um den Kreis
der Teilnehmer. W. war der unbestrittene Zeremonienmeister
der Männerfeste: ‚der trunkne Herr des Herbstes’, der den
Eingeweihten ‚diese frucht und schale wein’ wie im Stern des
Bundes reichte. W. konnte als Hohepriester der Dichtung und
als Magier bei solchen Gelegenheiten ungeahnte Bereiche
aufschließen. Das ahnte man, wenn nach diesen Nächten die
Festteilnehmer überhellen Blickes wiederauftauchten. Ein
winziger Schimmer dieser dionysischen Welt schien manch-
mal kurz aufzuleuchten, wenn zu einem festlichen Essen in
Gisèles Küche W. mit dunkler, getragener Stimme Verse aus
Hölderlins „Brot und Wein“ als Tischgebet sprach:

Brot ist der Erde Frucht, doch ist’s vom Lichte gesegnet,
Und vom donnernden Gott kommet die Freude des Weins,
Darum denken wir auch dabei der Himmlischen, die sonst
Da gewesen und die kehren in richtiger Zeit.

Hölderlins Worte rief Dionysos herbei und nicht den lieben


Gott des Vaterunser.

37
Es ist nicht verwunderlich, dass nach W.’s Tod im Jahre
1986 langsam, aber sicher der Kreis auseinanderbrach. Es
fehlte die magische Mitte. W.’s Freundeskreis, seine Ritterrun-
de auf persönlicher Zuneigung und Magie gegründet, zeigte
sich trotz aller Rituale und Feste auf Dauer nicht lebensfähig.
Auch für uns „Mädchen“ fand ab und zu ein Fest statt. Die
Mädchenfeste waren schlicht und einfach. Sie fanden seltener
statt und bestanden aus einer feierlichen Lesung eines der
Bücher oder Zyklen der Dichtung Georges und einem festli-
chen Mahl. Jannie Buri, Lehrerin an der Quäkerschule und mit
W. befreundet, war bei diesen Gelegenheiten unser voorgan-
ger. In ihren schönen mit Kunst geschmückten Räumen am
Amsterdamer Oosterpark kamen wir zu einer ‚Lesung’ zusam-
men und freuten uns in kleinem Kreis am Zusammensein,
das keine Nacht, sondern nur wenige Stunden dauerte.
Trotz dieses Zaubers, den ich am Rand – denn alles Weibli-
che wurde dem Georgeschen Weltbild entsprechend nur am
Rand geduldet – erfuhr, und trotz allen Staunen über die
mystische Wirkung der Dichtung, kamen mir doch immer
wieder Zweifel und Fragen. Zu deutlich zeichneten sich im
täglich gelebten Leben Widersprüche ab. Vielleicht oder gera-
de auch durch die so deutlich gezogenen Grenzen. Ich re-
spektierte sie, und sie beschützten mich. Dazu kam, dass die
zwar damals unbenennbare, aber doch deutlich spürbare
gleichgeschlechtliche Liebe, wie sie im Stern des Bundes be-
sungen wird, mir nicht zusagte. Und Dichtung blieb für mich
eine freie Kunst ohne politische, erotische oder andere Ziele.
Was Dichtung für mich bedeutet, ist vielleicht leichter zu
erklären an einigen, für mich wichtigen Eindrücken aus mei-
ner Jugend. Zwar hatte ich nach den einfachen Reimen und
Liedchen der Kindheit, die man spielend aufnimmt, sowohl im
Gymnasium als auch im Landschulheim Dichtung in mehreren
Sprachen kennengelernt, aber meine erste überwältigende
Begegnung mit ihr war eine englischsprachige Aufführung von
Shakespeares Kaufmann von Venedig gewesen. 1950, ich
war gerade 15 Jahre alt, sah und hörte ich das Stück aufge-
führt vom Young Vic, einer Theatergruppe von jungen Schau-
spielern aus London in Almelo. Dort erfuhr ich zum ersten Mal
intensiv, dass rhythmisch aneinandergereihte Worte, fast tän-
zelnd leicht, einen dramatischen Vorgang zum Leben bringen
und dass menschliche Emotionen in allen Tonarten durch

38
Worte lebendig werden können und auch, dass Gefühle nach
deren Umsetzung in Worte nachvollziehbar werden. Ich er-
fuhr, dass Dichtung als Medium in der Lage war, menschliche
Gefühle heraufzubeschwören. Diese erste Begegnung mit
Shakespeares Dichtung war ähnlich heftig gewesen wie die
mit der Malerei der italienischen Renaissance im Kunstge-
schichteunterricht.
Dagegen sprachen die Bilder der Georgeschen Dichtung
mich weniger an. Der Engel im Teppich des Lebens berührte
nicht wirklich meine Seele wie Portia im Kaufmann von Vene-
dig. Das Panorama der Dichtkunst, so wie es mir in den frü-
hen Jahren dargeboten wurde, war so weit und die Verfüh-
rung so allseitig, dass die Beschränkung auf nur einen Dichter
mir nicht sinnvoll erschien. Ich suchte damals Gestalten und
Worte, die mich weiterführen würden auf den Weg zu der
mitgeborenen Identität, und diesen Weg fand ich ich in der
Georgeschen Dichtung nicht. Auch fand ich in ihr nicht die
vertrauten Wesenszüge aus der Landschaft meiner Kindheit
wieder.
Ich hatte mein kleines Vaterland durch den Krieg gerade
kennen und lieben gelernt und die Geschehnisse des Zweiten
Weltkrieges, die Besatzung durch die Deutschen und die Be-
freiung von ihnen durch die Alliierten intensiv erlebt. Das
Kriegsgeschehen hatte mich als Kind davon überzeugt, dass
ich zwar Einwohnerin eines kleinen Landes war, aber eines
Landes, worauf ich stolz sein konnte. Die Helden meiner
Kindheit waren Freiheitskämpfer und eine vollbusige Königin.
Sie hatte uns, ihr Volk, regelmäßig vom fernen London aus,
dank eines geheimen Senders, kräftig zu mutigem Wider-
stand aufgerufen. Und sogar als Kind konnte man diesen Wi-
derstand leisten, zum Beispiel dadurch, dass man die verbo-
tene Farbe Orange, die Farbe des Königshauses, trug. Ich
schmückte meine Zöpfe mit orangefarbigen Bändern oder
versteckte Fotos vom Königshaus unter der Matratze meines
Bettes. Wahre Heldentaten waren das!
Zu meinen Helden gehörte auch ein junger englischer Pilot,
der an einem strahlenden Frühlingstag an einem Fallschirm in
den Wiesen hinter unserm Haus, aus einem abstürzenden
brennenden Flugzeug, schwer verwundet gelandet war. Wir
Kinder hatten seinen Absturz aus der oberen Luke einer
Scheune beobachtet, und waren sofort herunter auf die Stra-

39
ße gelaufen. Denn wir wollten den heruntergefallenen Engel,
als der er uns erschien, unbedingt aus der Nähe betrachten.
Eine Nähe, die den Soldaten der Wehrmacht nicht genehm
war. Sie versuchten uns mit drohenden Gebärden davon zu
jagen. Aber wir ließen uns, so klein wir waren, nicht ver-
scheuchen. Bald wurde der Pilot auf einem flachen Handkar-
ren auf Stroh gebettet durch die Dorfstraße in die Schule, die
als Lazarett diente, gefahren. Sehr jung war er, und ich wer-
de nie den fast schon gebrochenen Blick aus seinem knaben-
haften Gesicht vergessen, der auch uns Kinder, in der schwei-
genden Menge, verzweifelt streifte.
Zu den Bildern und Geschichten meiner Kindheit gehörten
auch die der beiden Familien, aus denen ich stammte. Sie ka-
men zum Teil aus der, vor allem intellektuell, unruhigen Fami-
lie meines Vaters, einer Verwandtschaft voller aufsässiger
Pfarrer, Tabakmagnaten, Weltreisender, und ebenso aus der
meiner Mutter. Letztere strahlte die gemütliche Ruhe einer
angesehenen, wohlsituierten ländlichen Großfamilie aus. Sie
hatte Generationen lang eines der schönsten Dörfer in der
Rheinaue mit Bürgermeistern und sonstigen Honoratioren
versehen. Diese waren die Figuren, die meine Kindheit zier-
ten. Träume von einem neuen Staat oder sogar Reich, von
Auserwähltheit zum höheren Leben, so wie sie in der George-
schen Dichtung besungen wurden, kamen in meinem jugend-
lichen Denken nicht vor. Die Jahre auf dem Landschulheim,
auf der Quäkerschule, hatten meine Ursprünge bestätigt. Die
Ausübung der Demokratie, so wie diese den Quäkern in ihrem
Erziehungsprogramm vorschwebte, schloss nahtlos an das
an, was ich zu Hause gelernt hatte. Ich kam aus toleranten,
undogmatischen Kreisen und hatte schon früh gelernt, mit
verschiedenen Rassen und Ständen zu leben. Meine Erzie-
hung zur Humanität war besiegelt worden von der Tatsache,
dass meine Mutter, als ich 14 war, einen siebenjährigen, jüdi-
schen Jungen, der Auschwitz überlebt hatte, in unsere Familie
aufnahm. Das Leben mit ihm hatte mich vertraut gemacht
mit der allerdunkelsten Periode des Zweiten Weltkrieges und
der Menschheit überhaupt.
Als ich W. begegnete und in den Jahren, die ich in seiner
Nähe verbrachte, blieb all dies, was ich in mir trug, gegen-
wärtig und wurde in keiner Weise ausgelöscht oder ersetzt.
Für andere junge Menschen, die in seine Nähe gerieten, war

40
das oft anders. Die Folge aber dieser eigenen „Last“ war, dass
ich, trotz aller Hingezogenheit zu ihm, langsam, aber sicher
in einen emotionalen Zwiespalt geriet. Die beiden Welten wa-
ren kaum zu vereinen: Einerseits war da mein Dasein drau-
ßen als junge, moderne, unabhängige Frau, verankert in der
eigenen Herkunft, und andrerseits meine Hingezogenheit in
Richtung „hoger honing“, wie es in dem Gedicht „Het lied der
dwaze bijen“ von Martinus Nijhoff heißt:

Een geur van hoger honing


Verbitterde de bloemen,
Een geur van hoger honing
Verdreef ons uit de woning.
……..
Ried ons, ach roekelozen,
De tuinen op te geven,
Riep ons, ach roekelozen
Naar raadselige rozen.

Dieses „Lied der törichten Bienen“ erzählt von ihrem Flug in


den Tod. Der Duft eines höheren Honigs hat sie zum Verlas-
sen ihrer Wohnungen und zum Flug zu rätselhaften Rosen
verführt. Manchmal wollte es mir scheinen, als ob ein Teil
meines Selbst zwischen diese rätselhaften Rosen geraten
wäre.
W. jedoch merkte nichts von meinen Zweifeln und blieb,
wie immer, seinen Träumen treu, wie ein Brief vom 8. März
1960 zeigt:
„Es ist mir selbst kaum fasslich · aber das Wunder unserer
Freundschaft hat sich in all den Jahren nicht um einen Hauch
gemindert · Immer von neuem umweht er mein Leben wie
ein Traumlicht, dessen Existenz man im Tagesleben nie für
möglich gehalten hätte.
Obwohl du selbst kaum zu sehen bist liebe ich die kleine
Farben Photographie eures Ateliers ganz besonders: da ist so
ein merlinisches Licht, ein sanfter inniger Glanz wie auf den
Bildern von Vermeer. Die erste Farbphotographie die mir
wirklich gefällt. Wenn ich sie lange betrachte so ist mir ich
sähe in einen Kristall und eine lange versunkene, inbrünstig
ersehnte Vision erschiene plötzlich vor dem erregt gebannten
Auge ..“

41
In diesen Jahren wurde ich in die kleine Gruppe einverleibt,
die ihn auf seine Fahrten begleiten durfte. Wie alles in W.’s
Nähe wechselten nicht nur die Ziele der Reisen, sondern auch
die Reisegefährten dauernd. Man fuhr von Amsterdam im
Schlafwagen nach Rom mit zwei seiner „Nächsten“ um dann
am Pantheon in Rom ihn selber zu treffen in Begleitung sei-
nes letzten „Klenen“. Nach ein paar Tagen blieben dann der
„Klene“ und ich überraschenderweise in Rom zurück und W.
fuhr mit den beiden Freunden, mit denen ich heruntergefah-
ren war, nach Griechenland. Keine Strecke war zu lang, keine
Reise zu weit. Jener „Klene“ – Hartwig Cordt – und ich kann-
ten uns schon, aber diese Tage zu zweit in Rom – es waren,
glaube ich, nur fünf – gehören zu den schönsten, die ich dort
verbracht habe. Fast ohne Geld, ohne Führer, steiften wir
nach eigenem Kompass durch die Stadt und erlebten Wunder
nach Wunder. Abends teilten wir einen Teller Pasta und tran-
ken ein Glas Wein. Nach dieser Mahlzeit ließen wir uns auf
den Stufen des Trevi-Brunnens nieder – sie waren damals
noch leer – und rätselten über das Leben und über den Mann,
der uns zusammengeführt hatte und auch schon wieder ver-
schwunden war. Ich war in Rom geblieben, um auf Gisèle zu
warten. Sie wollte mit mir und einer anderen Weberin Pom-
peji und Paestum besuchen. Hartwig sollte bald nach Hause
zurückkehren, weil die Schulferien vorüber waren.
So fuhr ich verschiedene Male in den Süden. Italien faszi-
nierte mich, seitdem ich 1955 die Alpen zum ersten Mal auf
dem Weg nach Aquilea überquert hatte. 1960 fuhr ich mit W.
bis nach Sizilien. Das war damals noch recht ungewöhnlich.
Übrigens war W. eigentlich auf der Suche nach dem sagen-
haften Sibari, in der Antike eine reiche und lebensfrohe Stadt,
die, wie sich herausstellte, schon längst nicht mehr existierte,
und deshalb wurde Sizilien das Ziel. Auch diese Reise fingen
wir zu dritt an. Der Dritte im Bunde zog es aber vor, an der
kalabrischen Küste in einem kleinen Familienhotel zurückzu-
bleiben. Auf dem Rückweg von Sizilien trafen wir dann im
gleichen Familienhotel wieder zwei andere Freunde, die mit
W. weiterreisten. Während ich alleine von Bari nach Amster-
dam zurückkehrte. W. schien immer Zeit und Geld zu haben.
Und als er es eines Tages nicht hatte, nämlich auf der Rück-
reise von Sizilien, und uns das Aussteigen am nächsten Bahn-
hof drohte, weil wir keine gültigen Fahrkarten vorweisen

42
konnten, zog W. durch den endlosen Zug, bis er eine ihm völ-
lig unbekannte Schweizer Dame fand, die ihm das Geld für
diese Fahrt lieh. Ob er es je zurückzahlte, weiß ich nicht.
Jede Reise mit W., mit oder ohne Geld, war ein Abenteuer.
Und zwar nicht nur wegen der wechselnden Gesellschaft, son-
dern auch, weil das Ziel eigentlich nie eindeutig war, auf je-
den Fall mir nicht. Wir fuhren zum Beispiel nach Bamberg,
um eine Dame zu besuchen, die mir mitten im Sommer einen
herrlich farbigen bleischweren Hirtenmantel aus Usbekistan
schenkte, den ich die ganze Reise in der Sommerhitze mit mir
schleppte, oder zu einem befreundeten Arzt im Neckartal, wo
wir auf der Wiese Erdbeerkuchen aßen, lange Spaziergänge
machten und bei Mondschein einer Herde Wildschweine be-
gegneten. Es war erschreckend, sich in der Dunkelheit mitten
in einer grollenden Herde zu befinden.
Man erlebte oft in W.’s Gesellschaft Gefährliches und Un-
heimliches. Die Entführung in einer offenen Kutsche in Paler-
mo gehört zu den unheimlichen Reiseerfahrungen. Der junge
Kutscher hatte mir, angeregt von W., die Zügel zum Lenken
überreicht. Und ich hatte mich neben ihn auf den Bock ge-
setzt. W. lehnte sich, hinter uns, nicht ohne Stolz, behaglich
zurück auf dem mit schäbigem rotem Samt bedeckten Sitz.
Solange wir durch die Straßen von Palermo fuhren, genoss er
sichtlich die Fahrt und den Zuspruch der Spaziergänger, die
der sonderlichen Gesellschaft zuklatschten. Aber es wurde
ihm unheimlich, als wir in einen dunklen Park gerieten. Bald
drängten sich düstere Gestalten an die Kutsche heran. Wollte
man uns ausrauben? Glücklicherweise hatte ich noch immer
die Zügel in der Hand, und es gelang mir in fliegender Fahrt,
die Kutsche aus dem dunklen Park zu lenken. Ein Lichtstreifen
half mir, den Weg hinaus zu finden. Dass sich genau an der
Stelle, wo wir hinausgeschossen kamen, eine Polizeistreife
befand, war ein zusätzliches Glück. Ich wurde von der Polizei
auf den Sitz neben W. verwiesen und der hübsche Knabe be-
kam als Strafe die Aufgabe, uns kostenlos in das Hotel, wo
wir wohnten, zurückzubringen. Dort angekommen, stiegen
wir erleichtert aus.
Wenn ich an diese Kutschenfahrt zurückdenke, erscheint
sie mir wie ein selbst gebastelter Traum von W.: Er fährt in
südlicher Landschaft durch einen üppigen Palmenwald in ei-
ner offenen Kutsche, gelenkt von einem Caravaggio-Knaben

43
und einer chinesischen Prinzessin. Denn neben Peregrina und
Suleika oder Viviane, wie W. mich auch nannte, war auch die-
se Figur dem märchenhaften Harem zugefügt worden. Nur
war diese letzte Gestalt die am wenigsten märchenhafte von
allen, denn sie hatte mehr mit der Wirklichkeit zu tun als die
anderen. Auf jeden Fall der chinesische Teil. Durch meine
Adern strömt tatsächlich asiatisches Blut dank einer chinesi-
schen Urgroßmutter, einer Frau, die allerdings niemals eine
Prinzessin gewesen war. Aber so sahen W.’s Träume aus, sie
hatten nichts oder wenig mit der Wirklichkeit zu tun, wie der
Inhalt seiner und meiner Briefe zeigt. Und in seiner Gegen-
wart oder an ihn denkend verlor man oft vorübergehend die
Wirklichkeit aus den Augen.
Bei dieser Sizilienreise waren das Verlangen nach Schön-
heit und die Sucht nach Abenteuer aufs Engste miteinander
verbunden. In W.s Begleitung erlebte man stets eine Mi-
schung aus höchster Kultur: Man schaute sich den Tempel
von Segesta und den Dom von Palermo an und genoss da-
nach eben eine abenteuerliche Kutschenfahrt. Man erfuhr am
eigenen Leib, dass W. gern reiste wie ein Enkel Goethes, aber
dann auch wiederum nicht. Das Reisen musste aufregend
sein und nicht ruhig von Poststation zur Poststation führen,
sondern ab und zu an Skylla und Charybdis vorbei, zu einer
Odyssee werden im möglichst fremden Land.
Zurück in Amsterdam, erzählte ich meinen Mitarbeiterin-
nen ganz ungewöhnliche Reisegeschichten. Nicht die ganze
Wahrheit allerdings, denn ich wollte nicht verraten, mit wem
ich gereist war. Sie hätten mich ausgelacht. Kannten sie mich
doch als freie, lebenslustige Kollegin. Waren wir nicht dau-
ernd auf Ausstellungseröffnungen und Künstlerfesten eingela-
den, und waren wir dort nicht, dank unseres jungen Alters,
gern gesehene und umworbene Gäste? Dass ausgerechnet
ich mit einem so alten Mann eine so weite Reise gemacht
hatte, wäre ihnen unbegreiflich gewesen!
Dazu kam, dass ich das andere Leben nicht mit ihnen tei-
len wollte. Es wäre ihnen zu fremd gewesen. Und ebenso we-
nig wollte ich erzählen, dass ich, trotz der wilden Abenteuer,
mich auch des Öfteren unglücklich und unsicher gefühlt hat-
te. Zum Beispiel, als W. mich in Kalabrien, 1960 noch leer
und fast unbewohnt an der Küste, einigen wilden Fischerkna-
ben übergeben hatte, die mich wie einen Spielball im Meer

44
einander zugeworfen hatten. Oder als wir in Palermo in eine
kleine mit Soldaten vollgedrängte Kneipe geraten waren und
W. die Soldaten aufgefordert hatte, mit mir zu tanzen. Was
am Anfang ganz lustig schien, wurde eine wilde Orgie, wor-
aus ich mich als einziges weibliches Wesen kaum befreien
konnte. Ahnungslos war ich in einen Wirbel von jungen,
schwitzenden Soldatenleibern geraten. Damals war ein Mäd-
chen, das von einem älteren Mann, der ihr Vater hätte sein
können, freigegeben wurde, Freiwild in Süditalien.
In diesen Situationen war W. der stolze und amüsierte Zu-
schauer gewesen, und er war mir nicht zu Hilfe gekommen,
auch als ich ihn drum gebeten hatte. Sein Amüsement hatte
schwerer gewogen als meine Sicherheit. Am Ende dieser ge-
meinsamen Reise waren die Grenzen meiner emotionalen
Spannkraft auf einmal erschreckend deutlich geworden. In
Lecce knallte der Bogen meiner angespannten Nerven ausein-
ander. Es kam zu einem lauten und heftigen Krach.
Lecce ist eine berückend schöne Stadt voller barocker Archi-
tektur. Wir saßen morgens auf einer Terrasse auf dem zentra-
len Platz und sprachen über die gemeinsam verbrachte Zeit,
als mir plötzlich entfuhr, dass ich manches auch gar nicht
schön gefunden hätte. Was denn das gewesen sei, fragte W.
Und da brachen aus mir Vorwürfe hervor, die ich bis dann nicht
zu äußern gewagt hatte. Wie unheimlich mir die Kutschenfahrt
gewesen sei, wie erniedrigend ich es empfunden hätte, als
Spielzeug den italienischen Fischerknaben ausgeliefert gewe-
sen zu sein. Und wie unverständlich mir seine Freude über-
haupt am Spiel mit meiner Person als Einsatz gewesen sei, wie
rücksichtslos er mit mir umgegangen sei. W. konnte nicht an-
ders als meine Vorwürfe bestreiten, aber sie trafen ihn hart.
So hart, dass er mich schlug.
An diesem Morgen in Lecce trafen W.’s Erwartungen und An-
sprüche und mein eigenes Ich hart aufeinander. Ich wollte Her-
rin meiner Selbst und meines Lebens bleiben.
Lecce ist mir deshalb so unvergesslich, weil ich nach dieser
heftigen Auseinandersetzung den Rest des Tages, bis abends
spät, allein durch die Stadt streifte. Ich suchte in den barocken
Kirchen mit ihren goldenen Altären Trost und Linderung für
meinen Schrecken nach seinem Ausbruch. Das Ende dieser
Reise hinterließ einen tiefen Riss in unserer Beziehung. Und die
darauf folgenden Jahre brachten die Distanz, die ich so drin-
gend brauchte.

45
Es gab in dieser Periode freilich auch andere, ruhigere Reisen.
Eine Reise nach Deutschland zum Beispiel, wo wir eine Witwe
in Lohr besuchten. Die Enge des grauen Hauses in dem pro-
vinziellen Städtchen steht mir noch vor Augen. Die be-
drückende Traurigkeit und das Bild überm Sofa mit dem im
Krieg gefallenen Ehemann. Auf dem Kopf eine aggressive Mi-
litärmütze mit schwarzer glänzender Kappe, ein großes me-
tallenes Kreuz auf der schmalen Brust. Ich kannte die deut-
sche Geschichte damals noch nicht wie heute. Die graue, tris-
te Verlassenheit in dem Haus ist mir aber unvergesslich. Die
Witwe war die Mutter eines neuen „Klenen“, eines möglich
neuen Kreismitgliedes, den W. irgendwo aufgelesen hatte.
Und nun brachte er der Mutter einen Beruhigungsbesuch. Ich
fungierte dabei als Beruhigungsmittel. Der „Klene“, dieser Ri-
chard, war etwas jünger als ich, und wir mochten einander
gleich gern. Genauso wie Hartwig und ich uns gern mochten.
Ebenfalls ein „Klener“. Irgendein seltsames Gefühl der Zu-
sammengehörigkeit verband uns jüngeren „Nächsten“. Wir
wussten uns im gleichen Bann der schillernden Persönlichkeit
W.’s und teilten Furcht und Verehrung. W. war sich dessen be-
wusst.
Ich erinnere mich auch an Reisen nach Heidelberg, wo ein
Großteil von W.’s Freunden, Verwandten und Bekannten
wohnte. Inzwischen hatte ich, nicht durch Erklärung, sondern
durch Erfahrung gelernt, dass diese Reisen von W. zu Freun-
den und Bekannten eigentlich immer einem bestimmten
Zweck dienten. Mal galt es, Manuskripte und Nachlässe für
das Castrum Peregrini, die Amsterdamer Zeitschrift, mal Geld
für seinen eigenen Unterhalt zu sammeln, mal einem Freund,
der in Schwierigkeiten geraten war, zu helfen, oder ein ande-
res Mal jemanden, der vom rechten Weg der Freundschaft
abgekommen war, wieder an sich zu binden. Letzteres ge-
schah öfter als ich anfänglich erwartet hatte.
Auf diesen Besuchsreisen war W. ein gefeierter und gern
gesehener Gast. Es entstand überall, wohin er kam, eine
freudige und zugleich gespannte Unruhe, so wie ich sie das
erste Mal im Amsterdamer Haus erlebt hatte. Wen würde er
besuchen, und mit wem würde er kommen? Ich erinnere
mich gerade in Heidelberg an heitere Abende mit den dorti-
gen Freunden, die nicht zum allerengsten Freundeskreis ge-
hörten, aber vielleicht eben dadurch und weil sie zu dem

46
Nachwuchs der renommierten Universitätsklinik gehörten und
erfolgreiche junge Ärzte waren, gern einen ungewöhnlichen
Gast empfingen. Man trank gute Weine an warmen Sommer-
abenden auf luftigen Terrassen und Balkons. Man sprach über
Politik, gemeinsame Bekannte, gute Weinjahre, Kinder und
Karrieren.
Reisen war eine von W.’s Hauptbeschäftigungen. Unruhe
trieb ihn herum. Und auch die Aufregung von Abschied und
Wiederkehr. „Partir est toujours un peu mourir“, sagte er mir
eines Tages, als ich ihm beim Kofferpacken half. Auch seine
ewige Suche nach neuen jungen Menschen für seinen Kreis
hielt ihn in Bewegung. Es ging ihm dabei nicht nur darum,
Mitglieder eines von seinem Meister vorgeträumten Staates
zu finden, sondern auch um noch etwas anderes. Auch wenn
die Dichterworte versuchten, sein Anliegen zu verdecken –
das unersättliche erotische Verlangen nach dem Nächsten,
dem Du, war nicht zu verheimlichen. Eine sinnliche Ästhetik
trieb W. um, denn das Geliebte musste auch schön sein.
Schönheit sollte mehr als intellektuelle Gaben die sinnlichen
Emotionen reizen.
Das Du als Anrede des Nächsten ist eine wunderbare Erfin-
dung des deutschen Geistes sowie der Sprache. Es deutet et-
was sehr Intimes und Nahes an und ist im Grunde zwar über-
setzbar in andere Sprachen, aber in einer anderen Sprache
nie mit der gleichen Intimität wie in der deutschen zu gebrau-
chen. „Du, du, du“ konnte W. einem ins Ohr flüstern.
In den vielen Briefen von W. an mich spielt das Du, die Lie-
be, die Nähe eine wichtige Rolle. Die Briefe, sowohl seine wie
meine, liegen als Teil seines Nachlasses im Archiv des Litera-
rischen Museum in Den Haag. Er schrieb sie mir von seinen
vielen Reisen. Denn das Briefeschreiben gehörte zum Reisen.
Keine Reise ohne unendlich viele schriftliche Zeugnisse. Und
so fielen viele dicht beschriebene Blätter, stets sorgsam in ge-
fütterte Kuverts gesteckt und versehen mit meinem langen
Nachnamen und meiner Adresse, als Zeichen seines Geden-
kens in meinen Briefkasten.
Dem Du begegnete er in unendlich vielen Formen. Denn
wie er selber öfters betonte, war er in vieler Hinsicht liebesfä-
hig, ein Liebender im wörtlichsten Sinne des Wortes. Er kön-
ne ein Tier, eine schöne Blume, eine kleine graue Maus, aber
auch einen schönen Knaben oder eine alte Dame, in gleicher

47
Weise heftig lieben. Und er liebte sie auch alle. Er konnte wo-
chenlang heimlich die kleinen grauen Mäuse in der Küche des
Amsterdamer Hauses füttern und über seinen Morgenrock
krabbeln lassen, eine alte Dame durch seine liebevolle Auf-
merksamkeit verjüngen, und junge Menschen, Mädchen wie
Jungen, verzaubern durch seine verspielten Liebeleien.
Vor allem bei Letzteren, den jungen Menschen, erinnerte
er mich oft an den gut gelaunten Sänger in Goethes Gedicht
„Der Rattenfänger“, wo es heißt:

..mitunter auch ein Kinderfänger,


Der selbst die wildesten bezwingt,
Wenn er die goldnen Märchen singt.
Und wären Knaben noch so trutzig,
Und wären Mädchen noch so stutzig,
In meine Saiten greif ich ein,
Sie müssen alle hinterdrein.

Aber neben dieser verspielten Seite seines Wesens gab es


allerdings auch eine andere, beunruhigende. Die nichts mit
kleinen Mäusen und alten Damen zu tun hatte, sondern eher
mit „trutzigen Knaben“ und „stutzigen Mädchen“. Und ich bin
nicht die Einzige, die diese dunkle Seite seines Wesens ken-
nenlernte. Auf der Sizilienreise hatte ich ja schon ein wenig
von dieser Schattenseite aufgefangen. Diese Seite in Worte
zu fassen bedeutet tief in die untersten Schichten des eige-
nen Wesens einzudringen um die damaligen Erfahrungen ans
Licht zu bringen und zu befragen, ob man W. eine Sucht nach
erotischen Wagnissen und Herausforderungen zuschreiben
kann. Oder ob man ihm einen Hang nach unüberlegten, ge-
wagten Abenteuern nachsagen soll. Eine Leidenschaft für
Abenteuer, deren Folgen er oft nicht übersah? Weil er seine
Liebeskräfte, ob sie erzieherischer oder welcher Art auch im-
mer waren, überschätzt hatte? Kann man ihm die Macht, die
er über Jung und Alt hatte, vorwerfen? Weil sie irreführend
sein konnte und nicht immer dauerhaft war? Brachten seine
Zaubertricks seine Nächsten in Gefahr? Dass in seiner Nähe
manch einer den Mut verlor und sogar sein Leben aufs Spiel
setzte, ist ihm das zuzuschreiben? Es ist eine Frage, die ei-
gentlich nicht zu beantworten ist, und dennoch über seinem
Leben schwebt wie eine dunkle Wolke.

48
Seine Faszination für südliche Wesen, die ich schon in Italien
erlebt hatte, gipfelte in seiner Liebe zu einem marokkani-
schen Hirtenknaben. Er hatte Achmed auf einer seiner ma-
rokkanischen Reisen kennengelernt. Und Achmed sollte nach
Amsterdam kommen und zum chevalier erzogen werden,
zum Mitglied der Freundesrunde. Ein tollkühnes und absolut
unmögliches Experiment, wie sich bald herausstellte. Achmed
war ein höchst witziger, intelligenter Berberjunge, der sich
bald köstlich in Amsterdam amüsierte – sich zwar auch um
die Dichtkunst ernsthaft bemühte, aber sich meistens unter
schallendem Gelächter davonmachte. Achmed war kein Jun-
ge, der sich fangen ließ. Wie alt Achmed war, hat niemand je
herausgefunden, dass er, als er nach Amsterdam kam, keine
zwölf Jahre, sondern älter war, war von Anfang an deutlich.
Achmed wurde auf W.’s Wunsch aus Marokko geholt und
auf die Herengracht gebracht. Ein junger Arabist, das ehema-
lige „Kind“ aus meinem Brief von 1957, leistete W. diesen
Freundesdienst. Aber was als eine Tausendundeine-Nacht-
Geschichte in der Kasbah von Marrakesch angefangen hatte,
wurde bald zu einem Albtraum in Amsterdam. Zwar hatten es
Achmed die ritterlichen Gepflogenheiten seines älteren Freun-
des W. angetan und liebte er es, mit dem Efeukranz auf dem
schwarzen Lockenkopf von der erleuchteten Freundesrunde
angebetet zu werden – Gisèle hat ihn so, wie viele andere
schöne junge Freunde auch, gemalt –, aber Achmed wollte
von Anfang an mehr! Er wollte reich und berühmt werden.
Bald stellte sich heraus, dass Achmed nicht nur in Amster-
dam verehrt wurde, sondern auch in London. Eines Tages
fuhr an der Herengracht ein weißer Jaguar vor, und hinaus-
stieg Gavin Maxwell, nicht nur Mitglied des House of Lords,
sondern auch berühmter Schriftsteller. Auf die erstaunte Fra-
ge von Gisèle, denn er hatte bei ihr geklingelt, was er in ih-
rem Hause suchte, war die Antwort: „Einen jungen Marokka-
ner, der mir eine Karte geschrieben hat mit den Worten: Ret-
te mich, je suis comme une fleure fanéé.“ Diese Karte zog er
aus seiner Brusttasche als Beweis. Als echter Edelmann habe
er darauf sofort reagiert und sich in Harwich mit seinem Se-
kretär eingeschifft.
Auf dem Weg nach Amsterdam war er in Den Haag beim
Außenminister vorbeigefahren, der am nächsten Tag bei
Gisèle anrief, um sich nach dem Los des kleinen Marokkaners

49
zu erkundigen. Ich war zufällig bei Gisèle an dem Abend, als
diese außergewöhnlichen Gäste eintrafen.
Nach diesem Besuch ging ein langes Tauziehen los, woraus
Achmed schließlich als Sieger hervorging. Er kehrte reich be-
schenkt nach Marokko zurück und wurde ein gutbezahlter
Reiseführer, wie wir später erfuhren. Denn neben materiellen
Gütern hatte er von seinem Aufenthalt in Europa auch
Sprachkenntnisse mit nach Hause gebracht. Wiederum sorgte
ein junger Freund W.’s für die Rückreise Achmeds.
Die Geschichte von Achmed ist bezeichnend für die Reich-
weite von W.’s Abenteuer- und Liebeslust. Sie reichte von Mö-
rikes romantischer Peregrina bis zum Schenken aus dem
Westöstlichen Diwan. Aber im Falle Achmeds, eigentlich wie
bei den sizilianischen Abenteuern, hatte W. die Situation un-
terschätzt. Hier wie dort hatte er den Blick von der eigentli-
chen Gefahr abgewandt. W. zog sich in solchen Augenblicken
gerne von der Bühne zurück, die er selbst errichtet hatte. Als
die Scherben des nordafrikanischen pädagogisch-erotischen
Abenteuers vor seinen Füßen lagen, war er seltsam oft abwe-
send.
Den Bühnenknechten, zu denen ich gehörte, wurde es
überlassen, die endlosen Telegramme aus Marokko und Eng-
land, Polizeiuntersuchungen und Beschwerden aller Art abzu-
wenden. Was auch gelang. Gottseidank war Achmed ein star-
ker Junge, der trotz den Konflikten mit der Polizei in Deutsch-
land und Holland, trotz Perioden des Untertauchens in Eng-
land (er war illegal in Europa) heil nach Marokko zurückkehr-
te. Und dort sein Leben aufbaute. Nicht jedem aus dem
Freundeskreis gelang das nach solchen Abenteuern.

In den letzten Jahren meines damaligen Lebens in Amster-


dam wurde das Haus der Bankierswitwe Selina Pierson in
Ommen für mich zu einer Oase. Ich verbrachte dort viele Wo-
chenenden. Dass W. dort ebenfalls oft verblieb, war übrigens
nicht der Grund, warum auch ich gern dorthin fuhr. Es war
Selina, die mich nach Ommen zog. Am Freitagabend, direkt
nach der Arbeit, stieg ich ins Auto, um hinzufahren. Es war
eine Fahrt von über zwei Stunden. Da Selina die wunderbare
Gewohnheit hatte, ihren Tag erst am Nachmittag anzufangen,
kam man immer, auch spät abends, noch zur rechten Stunde
bei ihr an. Wunderbar war es, durch die Gartentür, sozusagen

50
hintenherum, das große Wohnzimmer, das sich über die gan-
ze Breite des Hauses erstreckte, zu betreten. Und Selinas Be-
grüßung „Ben je daar, kind?“ zu hören und dann, näher ge-
kommen, sie zu umarmen.

Selina Pierson (1960)

Selina war eine königliche Erscheinung, die dich im langen


dunklen Kleid und im Lehnstuhl zurückgelehnt empfing, um

51
alsbald ihre Begrüßung mit einem Zulächeln zu bestätigen,
wobei sie ihr schönes, altes Gesicht unterm hochgekämmten
weißen Haar dir zuwandte und ihre unruhig flackernden Au-
gen deinen Blick suchten, um dir lächelnd zu zeigen, dass du
willkommen warst. Selten traf ich Selina allein an. Oft war sie
umgeben von ihren jeweiligen Gästen. Meistens waren es
meine eigenen Freunde aus den Amsterdamer Castrumkrei-
sen, aber es konnten auch ihre Verwandten oder befreundete
Dichter sein, wie Jacques Bloem und Clara Eggink. Selinas
großzügige Gastfreundschaft, die sie aus ihrer kolonialen Ju-
gend mitgebracht hatte, kannte, wie die Gisèles, kaum Gren-
zen. Selina empfing jeden mit gleicher Höflichkeit und freund-
lichem Interesse, obwohl sie damals schon weit in den Siebzi-
gern war. Auch sie hatte, wie Gisèle, ein offenes Ohr für alles,
was uns junge Menschen beschäftigte. Aber Selina hatte ein
ganz anderes Leben geführt als Gisèle. Selina hatte sich ne-
ben den gesellschaftlichen Aktivitäten oft für längere Perioden
in meditativer Absonderung zurückgezogen und sich aus-
schließlich der Literatur und Philosophie gewidmet. Selina
vertrat innere Ruhe und Weisheit. Nach einer arbeitsintensi-
ven Woche bedeuteten die Wochenenden bei ihr in dem ele-
ganten, gepflegten Haus in ländlicher Umgebung eine wahre
Erholung.
Wenn ich abends spät bei ihr ankam, rüstete man sich
meistens schon für eine lange Nacht am offenen Kamin. Eine
Nacht, in der vorgelesen wurde. Selten waren es George-
gedichte oder schwer verständliche Kreisliteratur, hauptsäch-
lich aber holländische und englische Dichtung. Man las Roland
Holst, Bloem, Yeats, neugriechische Lyrik, Aufsätze von Wal-
ter Pater usw. Oder Selinas eigene Gedichte und Prosa. Denn
Selina dichtete oder schrieb immer trotz ihres Augenleidens
und ihres fortgeschrittenen Alters.
Seit W. im Sommer 1953 Selina kennengelernt hatte, war
er oft bei ihr zu Gast. Und er brachte viele seiner Freunde zu
ihr. Selina hat das Treiben des Freundeskreises lächelnd aus
der Ferne betrachtet, so wie ihr Gedicht besagt:

Een stormwind bruist en alle klokken luiden


Een suizen vult het huis de deuren opengaan..
Of ’t regent dat het giet… de zon is opgegaan!
Een geur hangt in de tuin van duizenderlei kruiden.

52
Een stroom van jeugd komt door de poorten aan
Het zwijgend huis loopt vol met lachende geluiden;
Want alle raadseln zal de Meester duiden….
En dichters lopen dichtend af en aan
En donkre lokken zwieren onder ’t gaan
En schilders schildren. teeknen waar zij staan
En stemmen lezen helder · zacht en luide
En niemand vraagt: Wat heeft dit te beduiden?
Want als een lopend vuur is het gegaan:
‘De grieksche Pan kwam uit het zuiden
Zoëven · hier · met Wolfgang Frommel aan!’

Die Tage in Selinas Gesellschaft waren zeitlos. Und der


„Sturmwind“, der W. in ihr Haus brachte und den sie in ihrem
Gedicht beschreibt, kam in ihrer Gegenwart zum Schweigen.
Ich fühlte mich in ihrer Nähe durch äußere und innere Ver-
wandtschaft geborgen. Ich erfuhr eine Geborgenheit, die ich
in W.’s Nähe nie erfahren hatte. Im Gegenteil.
Mit Selina konnte ich auch freimütig über meine Sorgen
sprechen, über die bevorstehende Trennung von Amsterdam
und die Schmerzen, die diese mit sich bringen würde. Selina
wusste jedes Mal, meine innere Unruhe zu besänftigen und
meine Wahl für mein eigenes, ungeteiltes Leben zu bestäti-
gen. Selina wusste wirklich alles von der Liebe und dem Le-
ben. Als sie den Menschen verlor, den sie am meisten geliebt
hatte, schrieb sie:

I will go naked for thee · my love ·


And none will see my nakedness.
For the rags I wear for thee · my love ·
Will cover it. And none will see
The rags · my love · for they are hid
Beneath the folds of purple and gold
I wear for thee and the world to behold.

1962 schenkte Selina mir ihr kleines Buch Verzen von S.,
das in kleiner Auflage in der Castrum Peregrini Presse er-
schienen war, und sie schrieb hinein: „voor Joke, in liefdevolle
vriendschap“. Das Letzte, die liebevolle Freundschaft, war ei-
gentlich das, was ich suchte. In Selinas Anwesenheit bekam
der W.’sche Freundeskreis sanftere Konturen, legten sich die

53
Aufregung und die seelischen Spannungen. Letztere wusste
Selina durch eine leise Handbewegung vom Tisch zu fegen,
indem sie Leben und Lieben in größere Bezüge setzte und das
allzu Persönliche in seine Grenzen verwies.

Als ich mich im Lauf der Zeit von W. entfernte, mich auf-
machte, andere zu lieben und ihnen nahe zu sein, wurde mir
das von W. nicht in Dank abgenommen. Seine Briefe kamen
immer noch, die Anreden blieben auch die gleichen, aber der
Ton änderte sich. Er wurde vorwurfsvoll und bedrückend.
Aus London zum Beispiel, wo er verblieb, um den Nachlass
von Friedrich Gundolf auszuwerten, kamen traurige Zeilen.
Das Schreiben über Gundolf wollte nicht gelingen. Aus Spani-
en trafen auch viele düstere Zeilen ein. Sie rieselten in mein
farbiges, arbeitsintensives Leben in der Weberei hinein wie
dunkle Zeichen einer weit entfernten Küste.
So gern W. Briefe schrieb, so ungern Artikel oder sonstige
Texte für die Zeitschrift Castrum Peregrini. W. war überzeugt,
ohne ein „geliebtes Gegenüber“ zum Schreiben, mit Ausnah-
me von Gedichten, sowieso nicht imstande zu sein. Eine Zeit
lang erfüllte ich diese Funktion der abwartenden Zuhörerin
durch nächtliche Anwesenheit. Denn eine andere Bedingung
für seine schriftstellerische Tätigkeit war, dass sie nachts,
„wenn alles still war“, geschehen sollte. Nur dann konnte er
die Worte finden, die er für seine Texte brauchte. In diesem
Rahmen tippte ich die mühsam zustande gekommenen Zeilen
der Vorworte zu dem Gedenkheft für Berthold Valentin. Und
ebenso das Vorwort zu: Kurt Breysig, Begegnungen mit Ste-
fan George. Auch die Übersetzung eines Artikels über die hol-
ländische Dichterbewegung der Achtziger von C.M. Hoorweg
diktierte er mir.
Diese Nächte hatten ihren eigenen Zauber und Preis. Die
eindringliche Stille der Nachtzeit wirkte fast wie eine Droge.
Aber ich wurde auch sehr oft von einer tödlichen Müdigkeit
überfallen. Zu früh nach W.’s Meinung. Wenn auch der Kaffee
nicht mehr wirkte, den er eigenhändig in der kleinen Küche
auf dem Treppenabsatz kochte, dann kam aus dem Gift-
schränkchen, so nannten wir das hohe, schmale Holzschränk-
chen, das in seinem Zimmer stand, eine kleine Pille. Pervitin.
Nahm ich das ein, dann kehrte meine Aufnahmefähigkeit wie-
der und blieb ich bis zum Morgengrauen hinter der Schreib-

54
maschine wach. Aus diesem Schränkchen übrigens holte W.
für jeden, der an irgend etwas litt, das entsprechende Mittel.
Die Zeitschrift Castrum Peregrini und die Arbeit für sie war
in den Nachkriegsjahren zu dem geistigen und praktischen
Bindemittel des Amsterdamer Kreises geworden. Der Verlag
gleichen Namens war von drei, eigentlich von vier jungen hol-
ländischen Dichtern, die studierten oder sogar noch in die
Schule gingen und miteinander befreundet waren, gegründet
worden. Angeregt zu diesen verlegerischen Aktivitäten hatten
sie ihre Vorgänger aus dem 19. Jahrhundert, die Tachtiger
(Achtziger), ebenfalls eine Gruppe junger Dichter, darunter
Willem Kloos, dessen Sonette zu den schönsten Gedichten in
holländischer Sprache gehören, und Albert Verwey. Diese hat-
ten mit Gleichgesinnten 1885 die Zeitschrift De nieuwe Gids
ins Leben gerufen, worin sie nicht nur ihre Gedichte, sondern
auch ihre Ansichten über Politik, Gesellschaft, Wissenschaft
und Kunst publizierten. Freundschaft und ein leidenschaftli-
ches Interesse an ihrer geistigen Umwelt hatten die jungen
Dichter zusammengebracht. Es war Verwey, der seinen Ge-
dichtzyklus, der von seiner Freundschaft mit Willem Kloos
handelte, mit dem Titel „Van de liefde die vriendschap heet“
versehen hatte. Und diese Liebe, die Freundschaft heißt, hat-
te die jungen Holländer zu ihrer Unternehmung motiviert.
In den ersten Jahren seines Daseins gab der Verlag Ca-
strum Peregrini nur eigene dichterische Produkte heraus. Be-
reits 1945 war unter diesem Namen ein Gedenkbuch für die
umgekommenen Freunde Percy Gothein, Vincent Weyand und
Lieselotte erschienen. In den Jahren danach waren einzelne
Ausgaben herausgekommen, manchmal in holländischer
Sprache.
Ab 1951 gab der Verlag die Zeitschrift gleichen Namens
heraus. Von 1951 bis 1959 war Gabriel Zeylmans van Emmi-
choven, der jüngste der Amsterdamer Dichtergruppe, der
erste Herausgeber. Jährlich erschienen fünf Hefte. Sie be-
schäftigten sich fast ausschließlich, bis zur Einstellung im Jahr
2008, mit Themen direkt oder indirekt aus der Welt Stefan
Georges. Das Layout wurde von dem holländischen Typogra-
fen Piet Cossee, einem guten Freund von Manuel Gold-
schmidt, versorgt, und die einzelnen Ausgaben wurden im
Lauf der Zeit immer wieder mit Preisen für Buchgestaltung
bedacht.

55
Der Verlag, von holländischen Dichtern aus jugendlicher
Begeisterung angefangen, wurde Sprachrohr eines deutschen
Dichters und seines Nachlebens. Zwar war Stefan George ein
Zeitgenosse und sogar Freund ihrer großen Vorbilder, vor al-
lem von Albert Verwey, gewesen, aber die Zeitschrift Castrum
Peregrini erfüllte bald literarisch eine andere Funktion als sich
die jungen Begründer des Verlages anfänglich vorgestellt hat-
ten.
Damals kümmerten mich diese Hintergründe wenig. Was
mich wohl störte, war eine gewisse Unklarheit im Verhältnis
von holländischer und deutscher literarischer Vergangenheit.
Mich störte das Fehlen des historischen Bewusstseins, wenn
gewisse Begebnisse undeutlich oder unrichtig wiedergegeben
wurden. Eine Tatsache übrigens, in der das Castrum Peregrini
hartnäckig eine Tradition aufrechterhielt.
W. betonte gern die geistigen Gemeinsamkeiten unserer
beiden Länder, aber gerade im Politischen, auch im Fall des
Ersten Weltkrieges, ahnte ich, dass das nicht stimmte. Und
dass zum Beispiel der Anlass zur Entzweiung zwischen Albert
Verwey und Stefan George auf genau diesen Unterschieden
beruhte. Georges Gedicht an Verwey aus dem Neuen Reich
besagt eigentlich alles:

Du allein VAN BUITEN


Musstest richtig deuten
Wie der Ewigen Reiche
Bild nur hier nicht bleiche.
Forsche weit und breit:
Lauschen andre ringe
Deiner hohen dinge?
Drum wird auch dein hassen
Fliehen und verpassen
Kurz sein wie ein bruderstreit.

Nach Georges Auffassung sollte Verwey, als Außenstehender


(van buiten = von außen), Verständnis haben für die Idee der
von deutscher Geschichte und Sehnsucht geprägten „Ewigen
Reiche“. Aber gerade Albert Verwey fiel das schwer. Als Hol-
länder kam er aus einer republikanischen Tradition, die seit
Jahrhunderten stolz war auf die schwer erkämpfte Unabhän-
gigkeit von einem Kaiserreich. Und daher konnte das politi-

56
sche Missverständnis zwischen den beiden Dichtern nicht kurz
wie ein Bruderstreit dauern. Der Unterschied im politischen
Denken war zu groß. Aber George wollte diesen Unter-
schied, neben anderen Meinungsverschiedenheiten, nicht se-
hen.
Ich spürte, dass diese politischen Unterschiede mehr zu
bedeuten hatten als die in Castrumkreisen gängige Meinung.
Später, aus der Distanz, wurde meine Intuition durch mehr
Wissen bestätigt. Damals irritierten mich diese geistigen Un-
stimmigkeiten nicht so sehr. Ich arbeitete gern in meiner
Freizeit am Castrum mit. Nicht nur, indem ich die nächtlichen
Diktate von W. aufnahm, sondern auch, weil ich mich mit Ma-
nuel Goldschmidt angefreundet hatte. Wir teilten unsere Sor-
gen: Er meine, die die Weberei betrafen, und ich seine wegen
der Zeitschrift.
Manuel war 1937 elfjährig nach Holland gekommen und
auf der gleichen Schule wie ich gelandet. Aber im Gegensatz
zu mir kam er nicht freiwillig. Manuel hatte aus rassistischen
Gründen seine Heimat, Nazideutschland, verlassen müssen.
Seine Mutter hatte ihn wie seinen älteren Bruder Peter aufs
Quäkerinternat in dem, wie sie glaubte, sicheren Holland ge-
bracht. Auch Manuel war W. auf der Schule begegnet. Bald
nach dem Krieg zog er mit Peter in Gisèles Haus ein und ver-
ließ es erst 2009. Bevor er ab 1956 schrittweise die Leitung
von Verlag und Stiftung Castrum Peregrini übernahm, arbei-
tete er bei seinem Bruder in dessen Architektenbüro an der
Leliegracht.
Manuel wurde in der Nachkriegszeit W.’s „Allernächster“
und blieb das bis zu W.’s Tod. W. selber sah ihn gerne als sei-
nen Johannes. Es war eine Rolle, die Manuel nicht immer ge-
nehm war, weil sie im Widerspruch zu seinem Wesen stand.
Dennoch füllte er sie seinem älteren Freund zuliebe sein Le-
ben lang mit endloser Geduld aus. Es war keine leichte Auf-
gabe, und wenn ihm, vor allem im zunehmenden Alter, diese
dienstbare Funktion zu viel wurde, konnte er schroff und
emotional unsachlich aus unverkennbar innerer Distanz gera-
de den Menschen, die er liebte, entgegentreten. Aber Manuel
ist es zu verdanken, dass der Traum vom ‚schönen Leben’,
den sowohl W. wie Gisèle hegten, Form gewann, denn er hat
Verlag und Stiftung Castrum Peregrini fast fünfzig Jahre, von
1956 bis 2002, mit höchstem Einsatz Form gegeben und sie

57
geführt. Daneben war Manuel für mich ein treuer und liebe-
voller Freund. Eine Zeit lang kam es sogar zu einem streng
geheimen Liebesbund zwischen W., Manuel und mir. Wie im-
mer wusste W. in seiner grenzenlosen Fantasie dieses Ver-
hältnis sofort mit einem Zauberspruch in die Welt des
Westöstlichen Diwans zu versetzen. Mancher Brief von Hatem
(W.) ist in dieser Periode an Saki (Manuel) oder Suleika (an
mich) oder an beide gerichtet.
Aber trotz all dieser Zaubereien zog es mich doch langsam,
aber sicher in die Freiheit und in die Ferne. W. sah dies mit
Argwohn und auch mit Ärger. Auf einer unserer ersten Reisen
durch Deutschland hatte er mich, bei einer Flasche Bocksbeu-
tel, die wir irgendwo in der Altstadt von Würzburg tranken,
plötzlich gefragt: „Und wenn du jetzt aus all meinen Freunden
einen wählen dürftest, wer würde das dann sein?“ Und ich
hatte, ohne nachzudenken, geantwortet: „Dein Patensohn
Luitpold, der Kunstgeschichte studiert.“ W. wurde wütend und
fragte entrüstet: „Woher kennst du ihn?“ Und ich antwortete
erschrocken: „Ich bin ihm in Venedig begegnet.“ Die Tatsa-
che, dass ich mit einem seiner Freunde und dazu noch sei-
nem Patensohn in Kontakt gekommen war, ohne dass er da-
von benachrichtigt worden war, gefiel ihm überhaupt nicht! Er
duldete in seiner Umgebung keine Bekanntschaften, ge-
schweige denn Beziehungen, von denen er nichts wusste.
Dass ich seinem Patensohn 1955 nur ein einziges Mal am
Fuß der Rialtobrücke in Venedig, dank gemeinsamer Bekann-
ter, gegenübergestanden hatte und ihn überhaupt nicht wirk-
lich kannte, konnte ich ihm nicht mehr erzählen. Ein Sturm
von Ermahnungen und Ärger ergoss sich über mein Haupt.
Ich war entsetzt und für immer gewarnt. Bedeutete etwa die
Freundschaft mit W., dass ich meine Freiheit verloren hatte?
Mit der Zeit hatte sich im Haus an der Herengracht auch
einiges geändert. Ich war nicht die Einzige, die Entfernung
anstrebte. Kathi Gelpke und Peter Goldschmidt hatten 1956
geheiratet. Peter Goldschmidt, der Architekt war, hatte ein
schönes Haus außerhalb von Amsterdam gebaut, und sie wa-
ren dorthin gezogen. Simon van Keulen und auch Reinout van
Rossum du Chattel hatten ebenfalls geheiratet und waren von
dannen gezogen. Die Zeitschrift Castrum Peregrini war ge-
wachsen und stand, dank finanzieller Zuschüsse aus Bonn,
unter anderem von Inter Nationes, auf sicherem Boden. Ma-

58
nuel Goldschmidt hatte sich zu einem tüchtigen und zielstrebi-
gen Herausgeber entwickelt.
1959 heiratete Gisèle Arnold d’Ailly, Jurist und Bankier, der
von 1946 bis 1956 Bürgermeister von Amsterdam gewesen
war. Das Haus an der Gracht wurde mit Peter Goldschmidts
Hilfe gründlich umgebaut und neu aufgeteilt. Ein Aufzug wurde
eingebaut. Damit änderte sich auch das Leben im Haus. Die
Offenheit, die ich am Anfang angetroffen hatte, verschwand in
gewisser Weise. Die übrig gebliebenen Bewohner zogen sich
jeweils auf ihre Etagen zurück. Gisèle und D’Ailly bewohnten
von nun an die oberen zwei Stockwerke des Hauses. W. und
Manuel teilten sich die dritte Etage. Was übrig blieb vom ur-
sprünglichen Zusammenleben, waren das gemeinsame Essen
von Bewohnern und Gästen in der neuen Küche im zweiten
Stock und die Weihnachtsfeste und Vorleseabende.
Die neue Aufteilung der Wohnfläche bestätigte die Unabhän-
gigkeit, die Gisèle von den Castrumkreisen wahrte. Sie hat von
Anfang an diese Eigenständigkeit, auch auf kleinstem Raum
(ursprünglich nur auf einer Etage!) aufrechterhalten und ihr
privates, persönliches Leben unabhängig von den Mitbewoh-
nern gelebt.
Aber die Gastfreundschaft, die Gisèle 1942 W. und seinen
zwei Schützlingen, Buri und Claus Bock, die als jüdische
Flüchtlinge aus Deutschland Lehrer respektive Schüler in Eerde
waren, so großzügig angeboten hatte, blieb die Grundlage des
Zusammenlebens. Nur wandelte sich dieses Zusammenleben
lautlos in eine zeitlose Wohngemeinschaft. W. blieb von 1942
bis zu seinem Tod 1986, 44 Jahre später, Gisèles Gast im wört-
lichsten Sinn. Nachdem Gisèle im Lauf der Zeit immer mehr
Etagen des Hauses dazugewann und schließlich das ganze
Haus ihr Eigen nannte, breitete sich die Castrum-Gemeinschaft
in immer wechselnder Besatzung auf die dazugekommenen
Stockwerke aus. An dieser Stelle sei hinzugefügt, dass Gisèle
ursprünglich die Kosten der Gastfreundschaft fast ausschließ-
lich allein durch den Ertrag ihrer künstlerischen Arbeit bestritt.
Ihr beträchtlicher Reichtum ergab sich erst ab 1980 durch Erb-
schaft, die den Ankauf der Nachbarhäuser in der Beulingstraat
ermöglichte.

1958 wurde auf W.’s Anregung die Stiftung Castrum Peregrini


ins Leben gerufen. In den Anfangsjahren unterstützte Chris
Dekker die Stiftung finanziell. Aber schließlich waren es Selina

59
Pierson, die 1965 starb, und später Gisèle, die ihr ganzes Hab
und Gut einbrachten. Es ist eine Ironie des Schicksals zu nen-
nen, dass ausgerechnet zwei sehr unabhängige Frauen die fi-
nanzielle Basis für die Stiftung Castrum Peregrini und für die
Bewohner der Herengracht legten. Umso mehr, als in der aus-
erlesenen Schar der Pilger, in Anlehnung an das „meister-
liche“ Vorbild, Frauen eine untergeordnete und eigentlich kei-
ne teilnehmende Rolle zugedacht war. Nie habe ich beide
Frauen, weder Gisèle noch Selina, sich über ihre Existenz am
Rand beklagen hören. Ihr eigenes persönliches Leben war
nicht auf Auswahl oder Zugehörigkeit angewiesen.
Mir fiel die Ehre zu, auf einer klapprigen Schreibmaschine
einige Kopien der ersten Stiftungsurkunde zu verfertigen. An-
fang der achtziger Jahre, noch zu W.’s Lebzeiten, wurden die
Grundsätze der Stiftung neu formuliert. Die Änderungen zo-
gen als juristische Konstruktion den letzten Strich unter die
Trennung von Schenker und Stiftung. Als Schutzherrin
schwebt Gisèle seitdem über ihrem einstmals eigenen Besitz.
Als ich Gisèle 1954 das erste Mal besuchte, waren die im
Krieg entstandenen Lebensbedingungen noch intakt und von
keinen Stiftungssatzungen festgeschrieben. Freiheit und Un-
abhängigkeit waren auf allen Stockwerken spürbar. Gisèle
fand ich immer unterm Dach, in ihrem Atelier, in ihrem per-
sönlichen Bereich. Dort arbeitete sie an ihren Aufträgen, dort
entstanden die Entwürfe für Glasfenster und Wandteppiche,
dort malte sie. Wenn sie in Amsterdam war, nahm sie teil an
den Mahlzeiten und Leseabenden, letztere fanden oft in ihrem
Atelier unterm Dach und später, nach dem großen Umbau,
auch manchmal in ihrem Wohnzimmer im 4. Stock statt.
Die Zusammenarbeit mit Gisèle hieß für mich in vieler Hin-
sicht, von ihr zu lernen. Nicht zuletzt als junge Frau. Ihre in-
nere Unabhängigkeit, trotz menschlicher Verbundenheit, be-
eindruckte mich. Sie zeigte mir in diesen Jahren, wo ihre
Prioritäten lagen, nämlich an erster Stelle bei ihrer Kunst und
bei ihrem persönlichen Leben. Sie genoss die Anwesenheit ih-
rer Hausgenossen und Freunde aus diesen Kreisen, vor allem
derjenigen, die wie sie der bildenden Kunst zugetan waren,
aber daneben war sie mit vielen anderen Menschen aus ganz
anderen Kreisen befreundet. Gisèle war in intellektuellem
Sinn, dank ihres kosmopolitischen Hintergrunds, unabhängig.
Sie beherrschte Englisch, Französisch, Niederländisch und

60
Deutsch als wäre es ihre Muttersprache. Sie war in den USA,
in Österreich, London oder Paris ebenso zu Hause wie jeder
andere Mensch in seinem Heimatdorf. Und bis ins höchste Al-
ter, bleibt sie, trotz allem, was sich unter ihren Füßen auf den
tieferen Etagen abspielt, die unbestrittene Herrin ihres Le-
bens.
Ich habe mich oft gefragt, weshalb sie, trotz aller inneren
Unabhängigkeit, das Zusammenleben mit „ihren Freunden“
nie aufgab. Zwar zog sie es vor, nach dem Tod ihres Mannes
1967 lange Perioden auf der Insel Paros oder in London zu
verbringen, aber sie kehrte immer wieder zurück nach Ams-
terdam. Ein Grund dafür war sicher das in den Kriegsjahren
gemeinsam Erlebte. Und sicher trug auch dazu bei, dass W.
das Image des gemeinsamen Überlebens in Freundschaft sein
Leben lang in Ehren hielt und pflegte. Obwohl er und sie je-
weils in sehr verschiedenen Welten lebten. Dessen waren sie
sich bewusst, und sie respektierten gegenseitig ihre verschie-
denen Interessen.
Gisèle schöpfte ihre Lebensfreude aus dem katholischen
barocken Österreich, dem Land ihrer Mutter. Während W. auf
den unteren Stockwerken seinen Lebensinhalt aus seinem
protestantischen Erbe und der strengen Dichtkunst bezog.
Was beide verband, war die Liebeskraft und die Anteilnahme
am Leben junger Menschen. Beide förderten deren Begabun-
gen soweit möglich. Beide verlangten aber auch ein gewisses
Maß an Unterordnung. Wobei Gisèle immer Respekt und Ver-
ständnis für den Jüngeren im Auge behielt, während W.’s For-
derungen und Erwartungen dazu neigten, die Möglichkeiten
des zumeist um viele Jahre Jüngeren zu überfordern. W. hielt
außerdem die Hingabe an seine Person und seine Welt aus-
nahmslos für selbstverständlich.
Meine Zusammenarbeit mit Gisèle ging 1960 vorläufig zu
Ende. In jenem Jahr führte ich noch fünf große Teppiche nach
ihren Entwürfen aus. Eine Serie von vier Teppichen, Die Me-
tamorphosen, war bestimmt für die Lounge des letzten
großen Ozeandampfers der Holland-Amerikalijn, De Rotter-
dam, der in Holland gebaut worden war. Der fünfte Teppich
(3,20 x 4,80 m), ein farbiger und dekorativer Entwurf voller
Früchte, aber ohne Titel, verschwand in der Empfangshalle
einer Konservenfabrik. Nach 1960 kehrte Gisèle mehr und
mehr zu ihrer Malerei zurück, und es begann für sie eine Zeit

61
der großen Reisen, die sie mit ihrem Mann Arnold d’Ailly un-
ternahm. Sie besuchten Sizilien, Tunis, mehrere Male die Tür-
kei und immer wieder Griechenland. Zwar fiel noch immer
durch die Fenster ihres hohen Hauses von allen Seiten das
Licht hinein und verlieh den Räumen ihren eigentümlichen
Zauber, zwar wurde es weiterhin von besonderen Menschen
bewohnt, aber ihre häufige und lange Abwesenheit brachte
im Haus eine spürbar Leere.

1964 verkaufte ich die Weberei und zog mit W.’s Patensohn
nach Rom. Das sollte aber nicht bedeuten, dass W. aus mei-
nem Leben verschwand. Durch meine Heirat war W. mein On-
kel geworden. Von nun an sollte ich ihn des Öfteren als Gast
in meinem Haus empfangen und ihn in seiner Heidelberger
Familie erleben, in einer Rolle, die ich bisher noch nicht ge-
kannt hatte.
Zwei Monate vor meiner Hochzeit, am 16. Februar 1964,
hatte W. den einzigen seiner vielen Briefe an mich persönlich
geschrieben:
„Meine liebe Joke:….. ich denke sehr oft an dich und hoffe
dass du in guter innerer und äusserer verfassung bist. Ich
habe dir ja schon in A[msterdam] gesagt dass es für dich
wichtig ist dich in dir zu sammeln und deine ganze seelischen
und leiblichen Liebeskräfte auf den L. zu konzentrieren, damit
der Schritt über die Schwelle wirklich einen Akt von initiatori-
scher kraft wird. Und du aus deinem vollen Bewusstsein und
mit ganzer Bereitschaft in die andere Riege trittst. Es ist ein
Akt neuer Einweihung, den man nur einmal im leben erfährt,
wenn man in der richtigen Verfassung ist – ein Akt, dessen
positive Strahlung kommenden Seelen, neuen Verleiblichun-
gen die wohltätige Sphäre schafft in der sie sich zu entfalten
vermögen….“
Auch wenn W. mir früher einmal erzählt hatte, dass er am
liebsten in einem Biedermeierhaus mit einer eigenen Familie
gelebt hätte, hatte ich diesem Wunsch nie geglaubt und ihn
als frühen Jugendwunsch von der Hand gewiesen. Deshalb
war dieser lange, formelle Ehe-Brief mit seiner Anrede an
meine eigentliche Person mir unheimlich. Denn ich wusste zu
gut aus eigener Erfahrung, dass W. die Familie als Lebens-
muster innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nicht schätzte.
Sie war für seine Begriffe zu eng, zu fantasielos. Und zu oft

62
hatte er sich in meiner Gegenwart negativ über seine Freunde
ausgelassen, die ihn wegen Frau und Ehe verlassen hatten.
Ich hatte bittere Vorwürfe über sie in Schweigen angehört. Zu
oft hatte er auch behauptet, die Ehe mache seine Freunde
untreu. Sie seien zu sehr von familiären Angelegenheiten in
Beschlag genommen und für die „Freunde“ und seinen Traum
einer Freundeswelt verloren gegangen.
Sollte all das nun in meinem Fall plötzlich anders sein? Der
Inhalt des Briefes war mir peinlich. Aber er verdarb in keiner
Weise meine Hochzeit, die am 4. April 1964 stattfand. Wir
wurden von Arnold d’Ailly, der, obwohl er nicht mehr Bürger-
meister von Amsterdam war, noch die Befugnis hatte, stan-
desamtlich zu trauen, im Amsterdamer Rathaus ehelich ver-
bunden. Gisèle und Manuel waren meine Trauzeugen. Der Ab-
schied von Amsterdam fiel mir jetzt nicht mehr schwer. Ich
hatte intensive Jahre in der Weberei und an der Herengracht
401 hinter mir, und ich freute mich auf das Zusammensein
mit dem Menschen, den ich liebte.
Zum abendlichen Fest in Gisèles Haus kamen viele unserer
nächsten Freunde, Freundinnen, meine Weberinnen und Ver-
wandte. Wie eine plötzliche Erscheinung tauchte Wendelin
Ludwig auf dem Fest auf. Er war damals achtzehn Jahre alt
und betrat fast tänzelnd den Raum. Über seinem dunklen Lo-
ckenkopf balancierte er ein Buch. Es war ein in dunkelblaues
Leder gebundener Band, in den er als Hochzeitsgeschenk vie-
le seiner bis dahin entstandenen Gedichte geschrieben hatte.
Wendelin war Dichter, schon lang bevor er von anderen Dich-
tern gehört hatte. Er kam aus den anthroposophischen Krei-
sen meines Schwiegervaters.
In unseren Bonner Jahren (1967-1980) besuchte Wendelin
uns oft. Eine Zeit lang studierte er Englisch an der gleichen
Universität, an der Luitpold Kunstgeschichte lehrte. Aber das
Studieren lag ihm nicht. Es war ihm zu langweilig und zu re-
guliert. Wendelin war ein liebenswerter und ungewöhnlicher
Mensch. Er hatte die seltsame Gewohnheit, abwechselnd an-
und abwesend zu sein. Wobei seine Abwesenheit ihn doch in
magischer Nähe hielt. Er konnte ausführlich witzig und erregt
von seinen Studenten- und sonstigen Abenteuern berichten
und dann plötzlich in schweigender Stille untertauchen. Um
kurz darauf wieder da zu sein. Eine geheimnisvolle andere
Welt schien ihn, immer wieder, an sich zu ziehen. Was für

63
eine Welt das war, hat nie jemand erfahren. Seine Präsenz im
Kreis der „Freunde“ war immer wieder von langen Perioden
der Abwesenheit unterbrochen. Wendelin war ein zu freier
Vogel, um sich von irgendwelchen Regeln und Ritualen fan-
gen zu lassen. Wie manch anderer Altersgenosse auch, der
nur vorübergehend in den goldenen Käfig der Freundschaft
schlüpfte, um dann wieder die Freiheit aufzusuchen.
Letzteres geschah oft unter peinlichen und emotional
schwer zu ertragenden Umständen, wie ich aus eigener Er-
fahrung weiß. W. war nicht geneigt und womöglich auch nicht
in der Lage, diese Prozesse der Ablösung oder Befreiung zu
erleichtern. Im Gegenteil. Man vergisst nur allzu leicht, dass
der Freundeskreis um W. herum, abgesehen von den treuen
„Staatsstützen“, variabel war. Die Strecken der Zugehörigkei-
ten konnten lang oder kurz sein. So auch die von Wendelin.
Im September 1979 übermittelte W. mir die Nachricht von
Wendelins Tod durch Selbstmord. Ich zwar traurig, aber nicht
erstaunt. Es war, als ob er die Worte aus seinem Gedicht
„Stabhochspringer“ in die Tat umgesetzt hätte:

Das silber sticht auf im roten sand


Stürzt in die flimmernde höhe
Es steigt der leib –
Beine ragen ins blau –
Er löst sich vom blitzenden klirren
Fällt aus steilem bogen
Ein getroffener vogel.

Wendelin war in einem Parkhaus in Stuttgart wie „ein getrof-


fener Vogel“ über das Geländer „aus steilem bogen“ in die
Tiefe gestürzt. Manchmal treffen die Worte eines unbekann-
ten Dichters mehr ins Herz als die eines überaus bekannten.

In meinem neuen Leben tauchte W. nun immer wieder als


Gast auf. Er wohnte oft bei uns. Ob in Rom oder Bonn. Er
kam immer angereist, allein oder begleitet von einem seiner
Nächsten. W. war aus finanziellen Gründen sein ganzes Leben
angewiesen auf die Gastfreundschaft. Aber diese genoss er
auch. Er reiste wie ein römischer Konsul durch seine damals
ausgedehnte Freundesprovinz, nicht zuletzt um eine gewisse
Kontrolle zu behalten über seine „Untertanen“. Er betrachtete

64
die jeweilige Bleibe auch als Ausfallbasis für seine jeweiligen
politischen und menschlichen Aktionen. Aus unserer Bonner
Wohnung organisierte er viele seiner Verabredungen mit
Freunden wie Carlo Schmid, mit dem Leiter von Inter Natio-
nes oder mit einem seiner vielen Bekannten in der damaligen
politischen Hauptstadt. Auch bezog er gern mit Freunden un-
sere römische Wohnung.
Die ihm eigene Unruhe brachte er stets mit. Das Telefon
war stundenlang blockiert, die Tagesordnung geriet durchein-
ander. Oft war es schwer, seine Anwesenheit mit allem ande-
ren, das auch da war wie Kinder, Studenten und andere Gäs-
te, in Einklang zu bringen. Aber sein Leben passte nur recht
und schlecht in unser Leben, das nach anderen Prioritäten,
nach Schul- und Vorlesungszeiten geregelt war.
In Amsterdam lief das Leben auf der Herengracht weiter.
1965 schrieb W. nach Rom: „Kaum in der Heegra (Heren-
gracht 401) eingetroffen war abends dann das grosse Eröff-
nungstreffen des Germanistenkongresses in der Kongresshal-
le. Eine Menge von Bekannten kreuzten auf und es zeigte sich
gleich wie gut es war, dass wir in unserer ‚Stadt‘ hier in Er-
scheinung traten und am nächsten Abend wurde auf einem
Eröffnungsempfang im Rijksmuseum der Castrum-Vorstand
von Ministeriums- und Stadtrepräsentanten mit Handschlag
begrüßt. Anschließend besuchten C[laus Bock] und ich eine
Nozemkneipe in der Spiegelstraat – das Amsterdamerischste
was man sich nur vorstellen kann. Und dann am letzten
Abend: .. war der grosse Empfang der Deutschen Botschaft
im Hiltonhotel vor dem Gobelin deines Ateliers: ‚die dreimali-
ge Befreiung Hollands’ wie mir Manuel erklärte und ich dann
weiter erzählte, da alle es für eine Apotheose Napoleons I.
hielten, – dessen Hütchen als schwarzer Blickfang im Zen-
trum steht. Und diese Thematik für eine Freundin des CP
durchaus angemessen schien!“ Bei den drei Befreiungen von
Holland nach einem Entwurf des niederländischen Malers Lex
Horn, der zur Künstlergruppe der „Monumentalen“ gehörte,
handelt es sich um die von den Spaniern 1648, von den Fran-
zosen 1813 und zum Schluss von den Deutschen 1945.
In dieser Phase meines Lebens traf ich W. öfters beim Fa-
miliensommerfest in Heidelberg. Alljährlich wurden Ende Juli
oder Anfang August die Geburtstage meiner Schwiegereltern
Gerhard und Trude Frommel in ihrem schönen Jugendstilhaus

65
am Werderplatz gefeiert. Dazu waren nicht nur die nächsten
Familienmitglieder, Kinder und Enkel eingeladen, sondern
auch Gerhards engste Freunde. Sie waren aus ganz anderem
Stoff als die seines älteren Bruders W. Hans Christian, der Di-
plomat, Lothar, der Musikhistoriker, der große Melchior, Arzt –
diesmal wurde das Wort „groß” altersmäßig benutzt, um den
kleinen Melchior, Sohn von Gerhard und Gertrud, von dem äl-
teren Freund seines Vaters zu unterscheiden –, der Musikpäd-
agoge und –historiker Peter Cahn, Wendelin Ludwig und an-
dere. Fast alle von Gerhards Freunden waren auch seine
Schüler gewesen.

Heidelberg, Werderplatz 10

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Es war immer eine lebendige Gesellschaft, die sich dort zu-
sammenfand, und mit an den langen Esstisch im geräumigen
Wohnzimmer mit Blick auf den kleinen Park setzten sich auch
die Enkel und Enkelinnen. Zwar am Fußende des Tisches,
aber sie waren dabei und staunten oft über das, was am an-
deren Ende passierte. Dort wurde nicht nur gegessen, son-
dern auch über alle Fragen der damaligen Weltgeschichte
heftig diskutiert. Über französische Literatur ebenso wie über
Musik, die Zwölftöner, die Schriften von Rudolf Steiner oder
Politik. Am späten Nachmittag hörten wir in Gerhards Zim-
mer, das durch eine Schiebetür mit dem Wohnzimmer ver-
bunden war, Musik. Je nachdem, womit er gerade beschäftigt
war, spielte er gern seine letzten Kompositionen vor oder an-
dere Musik.

Familie Frommel ohne W. (1979)

Und immer gab es bei diesen Festen, die ein ganzes Wo-
chenende dauerten, das Kasperlspiel! Sehr zur Freude der
anwesenden Enkel, nicht immer zur Freude der Erwachsenen.
Das Kasperl war eine alte Familientradition. Die Zahl der Pup-

67
pen hatte sich im Lauf der Jahrzehnte ausgedehnt, denn fast
jedes Familienmitglied war durch eine Kasperlpuppe vertre-
ten. Das Kasperlspiel war ein beliebtes Mittel, dank lustiger,
fast immer von meiner Schwiegermutter verfasster Texte, die
Familienmitglieder kritisch unter die Kasperllupe zu nehmen.
Diese Kritik war nicht immer willkommen, aber da sie witzig
verpackt war, löste der Ärger, den sie manchmal auslöste,
sich eigentlich immer in Gelächter auf.
W. spielte in diesem familiären Zusammenhang, als älterer
Bruder des Hausherrn, eine ganz andere Rolle als sonst. In
der manchmal gefürchteten Kasperlsprache hätte man viel-
leicht gesagt: Er spielte hier die zweite Geige. In dieser fami-
liären Umgebung fiel er nicht auf. Sprachlich und äußerlich
nicht. In Heidelberg war er aufgewachsen, und er schien hier
mehr am Platz als irgendwo sonst auf der Welt. Der Kreis um
ihn kannte ihn schon lange oder sogar von Kindesbeinen an.
W. war hier der, der er ursprünglich gewesen war. Ohne die
Metamorphosen, die ihm das spätere Leben und das Exil auf-
gezwungen hatten. Diese Sommerfeste, wo Alt und Jung sich
aneinander freuten, waren heiter.

Hier möchte ich einen kurzen Blick auf den politischen Werde-
gang der drei Frommelbrüder W., Gerhard und Joachim ein-
flechten. Die Lebensläufe dieser Brüder waren sehr verschie-
den. Sie waren, liebevoll von den Eltern Otto und Helene
Frommel betreut, in der damals vaterlandsliebenden Umwelt
des Heidelberger Bürgertums aufgewachsen. In den dreißiger
Jahren aber trennten sich ihre Wege. Wenigstens was die Po-
litik anging. Die beiden jüngsten wurden Parteimitglieder.
Joachim, der als Student Mitglied einer Heidelberger Bur-
schenschaft gewesen war, entschied sich dafür, seinem „Va-
terland in der Armee zu dienen“. In den frühen 1950er Jahren
kam er bei einem Autounfall ums Leben. Gerhard versuchte,
wie er mir 1985 bei seinem letzten Besuch in Rom erzählte,
sein Leben in Einklang zu bringen mit der herrschenden poli-
tischen Gesinnung, schon allein wegen seiner Familie. Er wur-
de Professor an verschiedenen Musikhochschulen und nach
dem Krieg Mitglied des Rundfunkrats Stuttgart.
W. war ins Exil gegangen. Nach dem Krieg und innerhalb
der Familie und in Deutschland überhaupt war er der gefeier-
te Menschenretter und Widerstandskämpfer. Dass W. Men-

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schen gerettet hatte, stand außer Zweifel. Seine Auflehnung
gegen den Nationalsozialismus war eindeutig gewesen, seine
Beteiligung am Widerstand etwas weniger. Eine Tatsache, die
nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass er als Deut-
scher im Krieg bereits dadurch sein Leben riskiert hatte, dass
er mit seinen jüdischen Freunden Buri und Claus Bock das Ver-
steck an der Herengracht 401 teilte. Dennoch war es schwie-
rig, seine politische Gesinnung zu verstehen. Sein eigenes Be-
nehmen widersprach der von ihm vertretenen Eindeutigkeit.
Vielleicht illustriert dies eine Begebenheit, die ich in Frankfurt
erlebte.
Ich war von Rom aus zur Buchmesse gereist, um am Stand
des Castrum Hilfe auszuhelfen. Es wird im Oktober 1964 oder
‘65 gewesen sein. Untergebracht war ich bei einer mit W. be-
freundeten Familie in der gleichen Stadt. W. verbrachte jedes
Jahr, wenn er zur Buchmesse ging, die Tage bei dieser Familie.
Der Herr des Hauses war ein schlanker, hochgewachsener gut-
aussehender Mann, ungefähr gleichaltrig mit W., seine Frau
war so alt wie ich, also bedeutend jünger. Abends, nach einem
langen Tag am CP-Stand, saßen wir im gepflegten Salon unse-
rer Gastgeber beisammen und tranken einen guten deutschen
Wein. Ein alter Freund von W., Hans Epstein, war mitgekom-
men. Aus rassistischen Gründen hatte dieser, wie viele von W.’s
Freunden ebenfalls ein ehemaliger Schüler der Quäkerschule
Eerde, Deutschland verlassen müssen. Noch vor Kriegsbeginn
war er in die USA entkommen. In der amerikanischen Armee
hatte er gegen seine ehemalige Heimat gekämpft. Nach dem
Krieg beendete er sein Studium an der Universität Harvard,
und nach einer kurzen Karriere in Washington war er nach
Frankfurt gegangen, um seinem alten Vaterland beim Aufbau
Hilfe zu leisten. Der Gastgeber, der als Architekt den Flughafen
Tempelhof mitgebaut hatte, kannte die Geschichte seines Gas-
tes nicht. Im Lauf des Abends kam das Gespräch auf den
Krieg. Der Gastgeber fragte in leicht herrischem Ton seinen
Gast, wo er denn im Zweiten Weltkrieg gekämpft habe. Worauf
dieser ruhig antwortete: „Auf der anderen Seite.“ Darauf der
Gastgeber: „Dann waren Sie also ein Landesverräter!“ Zuerst
fiel eine eisige Stille, und dann folgte ein Ausbruch von Wut,
Hass und Verzweiflung bei Epstein. Nach einer heftigen Diskus-
sion verließ er das Haus.
Politische Zusammenstöße dieser Art gab es öfters in W.’s
Nähe. Das hatte mit seiner Persönlichkeit zu tun. Denn im poli-

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tischen wie im persönlichen Leben liebte er Verwandlungs-
spiele. Einerseits war er 1933 der Initiator der Serie von Mit-
ternachtsendungen im Frankfurter Rundfunk gewesen, bei
der Texte jüdischer Intellektueller wie Ernst Kantorowicz vor-
getragen wurden, aber offiziell hat er sich nie abgewandt von
dem Staat, der die Rassengesetze eingeführt hatte. Er be-
hielt, auch nach dem Krieg, die deutsche Staatsangehörig-
keit. Er versteckte jüdische Flüchtlinge und empfing im Ver-
steck Offiziere der Wehrmacht. In W.’s Leben galten nur seine
Grenzen, andere ignorierte er. Ohne dass er dies wahrnahm,
trafen in seiner Person die extremen Widersprüche seiner Ge-
neration aufeinander.
Für mich als junger und politisch unerfahrener Mensch war
es unbegreiflich, dass W. in Bonn in den 1970er Jahren Bezie-
hungen zu noch immer national-konservativ denkenden Men-
schen pflegte. Mir fehlte die historische Einsicht, die mir ein
Auge für solche Grenzverlegungen verschafft hätte. Aber die
verschiedenen Ansichten hinsichtlich der Politik, die sich bei
W. kurzfristig abwechselten, gaben öfters Anlass zu unerfreu-
lichen Auseinandersetzungen. Mein Interesse und meine Be-
geisterung für die Veränderungen in Asien, vor allem in China
– die hauptsächlich mit Neugierde auf einen Teil meiner Her-
kunft zusammenhingen –, versuchte er mir aufs Heftigste
auszureden. Alles, was links und modernistisch war, schien in
seinen Augen vom Teufel selbst erfunden. Seine Angst davor
war mir völlig fremd.

Im Lauf der Jahre verschwand W. mehr und mehr aus mei-


nem Leben. Ich war oft weit weg und lebte in einem völlig
anderen Zusammenhang. Aus dieser Welt bewahre ich ein
friedliches, schattenhaftes Bild von W.’s letztem Besuch in
Italien.
1982 wohnte er im Haus von Freunden am Braccianer See
nördlich von Rom. Dort besuchten wir ihn mit beiden Kindern,
die 4 und 12 Jahre alt waren, und dem Au-pair-Mädchen. Am
Abend luden wir ihn und seine Freunde in ein einfaches
Fischrestaurant am Ufer des Sees zum Abendessen ein. Es
war ein wunderbarer Sommerabend. Der See reichte wie ein
Spiegel von Ufer zu Ufer. Es muss im September gewesen
sein, es war nicht mehr allzu heiß. Nach einem einfachen,
sehr leckeren Mahl unterm Strohdach wurde es still um den

70
Tisch. W. war schon krank, sehr zerstreut, zerbrechlich fast.
Doch auf einmal klang in die Stille hinein seine Stimme. Sie
war schwächer geworden: „Soll ich den Kindern mal etwas
erzählen?“, fragte er. Worauf wir zustimmend nickten. Er
drehte sich den Kindern zu. Diese setzten sich zu seinen Fü-
ßen auf die Wiese, und W. fing an, eine lange Geschichte zu
erzählen. Wovon sie handelte, weiß ich nicht mehr. Aber ich
sehe die kleine Gruppe vor mir: Der alte vornüber gebeugte
Mann mit seinen langen weißen Haaren im sommerlich wei-
ßen Anzug, die Hände auf dem Spazierstock mit Silberknauf
gestützt, erzählt leise eine Geschichte. Und um ihn herum
diese kleine Schar von horchenden Kindern. Sie hörten atem-
los zu. Ein fast lautloses Schattenspiel vor dem hellroten, vio-
lettfarbenen Abendhimmel über dem regungslosen See. Als
die Geschichte zu Ende war, war die Sonne untergegangen.
Unterm Strohdach beleuchtete eine ärmliche kleine elektri-
sche Birne die Tischgesellschaft. Es war Zeit, nach Hause zu
gehen.
Im Sommer 1984 besuchte ich W. in Amsterdam. Sein
Bruder Gerhard war gestorben. Wir fuhren zu W., der nicht
mehr zur Beerdigung hatte kommen können, um ihm diese
Nachricht zu überbringen. W. war ein alter und kranker Mann
geworden, der in seinem Zimmer an der Gracht, von Pflegern
umringt, dem Ende seines Lebens entgegendämmerte. Als
Luitpold ihm erzählte, sein Bruder Gerhard sei gestorben, war
er ganz erstaunt. Heidelberg klang ihm bekannt in den Oh-
ren, aber der Tod seines Bruders sagte ihm gar nichts. Für
uns war das eine unwirkliche Erfahrung. Kannten wir doch die
innige persönliche Verwobenheit beider Brüder, trotz allen
Differenzen.
Kurz bevor wir Amsterdam verließen, ging ich noch einmal
zu W., um mich von ihm zu verabschieden. Ich fand ihn in
seinem Korbstuhl am Fenster. Wir waren allein im Raum und
plauderten ein bisschen hin und her, bis er aus dem Stapel
Zeitungen, der neben ihm auf dem Eichenholztisch lag, einen
Spiegel zog. Er schaute amüsiert das Bild auf dem Umschlag
an und lächelte in sich hinein. Dann drehte er es um, damit
ich es sehen konnte. Es zeigte eine vollbusige junge Frau. Ich
guckte ihn erstaunt an. Und dann sagte er: „Das habe ich ei-
gentlich am allerliebsten gemocht.“ Mir blieb die Spucke weg,
so erstaunt war ich. Es war das letzte Mal, dass W. mich in

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die Irre führte mit einem seiner Zaubertricks. Versuchte er,
mich noch einmal abzulenken von der Wirklichkeit? Orakelte
er noch ein letztes Mal wie der Zauberer Merlin oder witzelte
er wie der spitzfindige Hatem? Ich werde es nie wissen. Auch
dieses Rätsel, es ist nur eines von vielen, die ich in seiner
Nähe erlebte, wird ungelöst bleiben.

Als im Dezember 1986 die Nachricht von W.’s Tod in Rom ein-
traf, flogen wir sofort nach Amsterdam. Unsere älteste Toch-
ter Helena, sechzehn Jahre alt, begleitete uns. Luitpold nahm
in den Tagen vor der Beerdigung an der Totenwache teil. W.
lag in seinem Zimmer aufgebahrt. Es war jener Raum, in dem
ich dreißig Jahren zuvor bei meinem ersten längeren Besuch
auf der Herengracht nach dem Essen Strümpfe gestopft und
Knöpfe angenäht hatte. Es war auch das Zimmer, in dem ich
in der Nacht Diktate aufgenommen hatte und dem „großen
Ernst“ mehrere Male begegnet war.
An einem eiskalten, grauen Dezembertag fuhren wir zum
Friedhof in Spaarnwoude, einem kleinen Ort zwischen Ams-
terdam und Haarlem, um W. zu begraben. Als die Freunde
den Sarg auf dem schmalen Weg in der weiten Polderland-
schaft in die Kirche trugen, blähte der kalte und nasse Wind
ihre Mäntel und verwirrte ihre langen Haare. Das dramatische
Bild schien einer Novelle von Theodor Storm entnommen zu
sein und nicht in Holland, sondern in Norddeutschland zu
spielen. Statt schwarzer kreischender Krähen wirbelten
schreiende Möwen durch die Luft! W. hatte sie so gern aus
dem Fenster seines Zimmers in fliegender Fahrt mit Brocken
Brots gefüttert. Und nun gaben sie ihm das letzte Geleit.
Die kleine Kirche war vollgedrängt, als Buri, einer seiner
ältesten Freunde, ein Abschiedswort sprach. Dann wurde der
Sarg wieder aufgehoben und in der feuchten holländischen
Erde versenkt. Kein Schleedornbusch bog sich über das offe-
ne Grab, aber viele rote Rosen fielen auf den Sarg.
Am Tag nach der Beerdigung flogen wir nach Rom zurück.
Zurück ins eigene Leben. Auf dem Rückflug sagte Helena,
dass ihr die Pfleger, die Studenten, die W. im letzten Jahr ver-
sorgt hatten, besser gefallen hätten als seine „Freunde“. He-
lena war von frühester Jugend an mit diesen „Freunden“ ver-
traut, da sie sich alle in unserem Haus aufgehalten hatten.
Die Pfleger kannte sie nur aus den letzten Tagen. Bei der

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Aussegnung hatte sie sich in der kleinen Kirche zu ihnen ge-
sellt. Nicht zu uns, ihren Eltern. Ob das eine Tat des leisen
Widerstands gegen die Zugehörigkeit ihrer Eltern zu diesem
anderen Kreis der „Auserwählten“ war, kann ich nicht sagen.
Eher glaube ich, dass sie beeindruckt von der Jugendlichkeit
und der Fürsorge dieser kleinen Gruppe war. Sie wusste, dass
diese dem alten Mann, ihrem Großonkel, das Ende seines Le-
bens erleichtert hatte.

Am Ende der Niederschrift meiner Entfernten Erinnerungen


fiel mir eine Zeile von Stefan George ein. Die Zeile hieß: „Be-
weinet nicht zu sehr was ihr ihm liehet“. Sie stammt aus ei-
nem Gedicht im Teppich des Lebens. Als ich es jetzt nach vie-
len Jahren wieder las, war ich schockiert. Der Anfangssatz
„Wir die als fürsten wählen und verschmähn“ verbaute mir
durch seine Überheblichkeit auf Anhieb den Zugang zu dem
Text. Aber nach einiger Zeit wurde ich neugierig auf das, was
kommen würde nach einem so heldenhaften Aufruf. Auch be-
schäftigte mich die Frage, warum ausgerechnet immer wieder
diese Zeile in mir auftauchte, obwohl ich doch seit Jahren kei-
ne Gedichte von George mehr angeschaut hatte. Um Antwort
auf meine Fragen zu bekommen, überwand ich meinen Ärger
und beschloss, das Gedicht näher zu betrachten.
Nach einiger Zeit kam ich zu folgender Deutung: In diesem
Gedicht drückt der Dichter seine Verzweiflung aus. Der Dich-
ter und seine kleine Schar der Auserwählten trauern „mit au-
gen weit von wilden feuern hohl“ um all ihre Götter, die
„schatten und schaum“ geworden sind. Sogar die Liebe ist ih-
nen abhanden gekommen, obwohl sie sich „der liebe treuste
priester“ wähnen. Aber der Dichter spendet seinen Nächsten
Trost: Wenn ihr alles verloren habt und an diesem Verlust zu-
grunde zu gehen droht, dann kenne ich, Stefan George, euer
Herr und Meister, den Spruch, der heilt. Er heißt: Trauert
nicht zu sehr um das, was ihr euren Göttern und dem Traum
einer neuen Welt „geliehen“ habt, denn der Gegenstand eurer
Anbetung, der euch zugleich Angst und Verehrung einflößte,
wird dank eurer Anbetung und eurem Glauben überleben.
Ist es so, dass durch Anbetung der Traum überlebt? Nein,
das glaube ich nicht. War nicht von Anfang an deutlich, von
meinen ersten jugendlichen Schritten durch die Wälder in
Eerde, dass ich auf unsicherem Boden ging? Und gehört es

73
nicht zur frühen Jugend, schlafwandelnd einem Traum zu fol-
gen und am Ende aufzuwachen? Und ist es nicht vielmehr so,
dass mich, wie in dem Gedicht der törichten Bienen von
Nijhoff, ein Duft von höherem Honig verführt und mich zu
rätselhaften Rosen gebracht hat? Diese Rosen, die mich durch
ihre Farbigkeit und ihren Duft eine Zeit lang verzauberten und
dann doch welkten und wie Schnee zwischen die Körbe fielen.
Zum Schluss bringe ich diese zwei Gedichte. Das erste von
George aus dem Teppich des Lebens; das zweite von Marti-
nus Nijhoff: „Het lied der dwaze bijen“. Beide Gedichte be-
richten Ähnliches. Sie erzählen von Träumen. Während ein
Dichter rückblickend seinen Traum vernichtet sieht, richtet
der andere seinen Blick auf den Traum, der vor seinen Augen
vergeht. Stefan George sieht „schatten nur und schaum“, Nij-
hoff einen Schwarm toter Bienen, der wie Schnee hinunter-
wirbelt.

Wir die als fürsten wählen und verschmähn


Und welten heben aus den alten angeln
Wir sollen siech und todesmüde spähn
Und denken dass des höchsten wir ermangeln –

Dass wir der liebe treuste priester wol


Sie suchen müssen in verhülltem jammern
Die augen weit von wilden feuern hohl –
Und wenn wir endlich unser gut umklammern

Dass es gekrönt verehrt genossen kaum


Den sinnen wieder flüchtet fahl und mürbe..
All unsre götter schatten nur und schaum!
„Ich weiss dass euer herz verblutend stürbe

Wenn ich den spruch nicht kennte der es stillt:


Da jedes bild vor dem ihr fleht und fliehet
Durch euch so gross ist und durch euch so gilt..
Beweinet nicht zu sehr was ihr ihm liehet“

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Het lied der dwaze bijen Das Lied der törichten Bienen

Een geur van hoger honing Ein Duft vom höheren Honig
verbitterde de bloemen Erbitterte die Blumen
een geur van hoger honing Ein Duft vom höheren Honig
verdreef ons uit de woning. Trieb uns aus unserer Wohnung

Die geur en een zacht zoemen Jener Duft und ein leises Summen
In het azuur bevrozen Im azurnen Himmel erfroren
Die geur en een zacht zoemen Jener Duft und ein leises Summen
Een steeds herhaald niet- Ein stets wiederholtes Nicht-
noemen nennen

Ried ons, ach roekelozen Riet uns, ach Leichtsinnige


De tuinen op te geven Die Gärten zu verlassen
Riep ons, ach roekelozen Rief uns, ach Leichtsinnige
Naar raadselige rozen. Nach rätselhaften Rosen

Ver van ons volk en leven Weit weg von Volk und Leben
Zijn wij naar avonturen Sind wir zu Abenteuern
Ver van ons volk en leven Weit weg von Volk und Leben
Jubelend voortgedreven. Jubelnd aufgebrochen.

Niemand kan van nature Niemand kann von sich aus


Zijn hartstocht onderbreken Die Leidenschaft zerbrechen
Niemand kan van nature Niemand kann von sich aus
In lijve den dood verduren. Den Tod am eignen Leib ertragen.

Steeds heviger bezweken, Immer heftiger erlagen wir,


Steeds helderder doorschenen Stets heftiger erleuchtet,
Steeds heviger bezweken Immer heftiger erlagen wir
Naar het ontwijkend teken, Dem entschwindenden Zeichen,

Stegen wij en verdwenen, Stiegen wir auf und verschwanden


Ontvoerd, ontlijfd, ontzworven, Entflammt, entleibt, verirrt
ontstegen wij en verdwenen Stiegen wir auf und verschwanden
als glinsteringen henen. Wie ein Flimmern von dannen.

Het sneeuwt, wij zijn gestorven, Es schneit, wir sind gestorben


Wij dwarrelen naar beneden. Wir wirbeln hinunter
Het sneeuwt, wij zijn gestorven, Es schneit, wir sind gestorben
Het sneeuwt tussen de korven. Es schneit zwischen den Körben.

(frei übersetzt von J.H.vR.)

75
76
Nachwort

Michael Philipp

Die vorliegenden Aufzeichnungen unterscheiden sich in man-


cherlei Hinsicht von der Memoirenliteratur, wie sie – um eine
am Horizont des Textes stehende Bezugsgröße zu nennen –
für den Kreis um Stefan George typisch sind. Jene autobio-
graphischen Dokumente sind überwiegend affirmativ, und das
gilt mit wenigen Ausnahmen auch für Erinnerungen an Wolf-
gang Frommel. Sie folgen überwiegend einem Modell, das
Konversions- oder Bekehrungsberichte auszeichnet: Nach ei-
ner Phase – meist jugendlichen – dumpfen Umherirrens oder
Schweifens in falschen Fahrwassern erfolgt die langsam rei-
fende oder plötzlich eintretende Erkenntnis des rechten We-
ges. Der entscheidende Moment wird gern mit dem dante-
schen „incipit vita nova“ besiegelt; sowohl Wolfgang Frommel
als auch Percy Gothein bedienten sich in ihren autobiographi-
schen Schilderungen über die Begegnung mit Stefan George
dieser Formel. Danach sind die Koordinaten des weiteren Le-
bens bestimmt. Für Zweifel ist kein Platz mehr; dieser richtet
sich in solchen Erzählungen ohnehin zumeist nicht auf die Sa-
che, sondern auf die eigene Person, nämlich ob man selbst
würdig genug sei und den Ansprüchen genügen könne.
Diesem Typus autobiographischen Erzählens folgt Joke Ha-
verkorn van Rijsewijk ebensowenig wie einer anderen, selte-
ner anzutreffenden Form: der Renegatenliteratur, jenem Mo-
dell, bei dem ein ehemaliger Angehöriger einer Partei, Religi-
ons- oder sonstigen Überzeugungsgemeinschaft seine Ab-
wendung von früheren Ansichten verarbeitet und oftmals mit
gewitzer Überheblichkeit seinen vermeintlichen Erkenntnisge-
winn gegen seine Jahre im Elfenbeinturm und die dort Ver-
bliebenen ausspielt. Lang unterdrückte Zweifel und die lang
ertragenen, unvermeidlichen Zumutungen bei der Teilhabe an
einem Glaubenskollektiv zeitigen ihre Folgen bei der Abrech-
nung mit einer vormals als richtig befundenen Sache.
Von beiden Modellen der Organisation von Lebenserfah-
rung unterscheiden sich die Entfernten Erinnerungen. Die Di-
stanz, die sich bereits im Titel ausdrückt und die nicht nur
den zeitlichen Abstand des Schreibens von der erzählten Zeit
bezeichnet, bestimmt die Darstellung. Ihr strukturierendes

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Merkmal ist die Ambivalenz, wie sie in dem mehrmals ver-
wendeten Bild vom „süssen Gift“ zum Ausdruck kommt: die
Vermischung von wohltuender Verlockung einerseits und dro-
hender Fremdbestimmung andererseits, das Nebeneinander
von Verführung und Bedrohung, von Verzauberung und Über-
wältigung. Dabei folgen die zwiespältigen Empfindungen kei-
neswegs einer nachträglichen Rationalisierung der Autorin,
findet sich der Begriff doch bereits in ihrem im Text zitierten
Brief an Frommel vom Oktober 1957.
Die Gegenwärtigkeit einer als unheimlich empfundenen Kraft
prägt die Schilderung und beginnt bereits mit dem frühesten
Erspüren ihrer Wirkung auf einige der Mitschüler, hinter deren
Benehmen eine andere Welt aufscheint – eine Erfahrung von
Differenz, die das Ende der Kindheit markiert. Diese andere
Welt mit ihrer forcierten Außeralltäglichkeit, inszeniert und
bestimmt von der charismatischen Persönlichkeit Wolfgang
Frommels, übte eine magische Faszination aus, der sich die
Autorin für Jahre nicht entziehen konnte – obschon sie in
zwei wesentlichen Momenten dem Weltbild Frommels nicht
entsprach. Zum einen richtete sich sein unermüdlicher Eros in
erster Linie auf junge Männer, zum anderen mussten diese –
wie Frommel und zumeist unter seiner Anleitung – in der
Dichtung Georges ihre Orientierung gefunden haben. Eine
solche, häufig bezeugte Wirkung des deutschen Dichters war
keineswegs durch eine niederländische Identität ausgeschlos-
sen, wie die zahlreichen erwähnten jungen Holländer im Ams-
terdamer Freundeskreis bezeugen.
Wenn sich Wunschbild und Wirklichkeit nicht decken, er-
folgt im Allgemeinen eine Trennung der Lebenssphären. Aber
auch, wenn alle Voraussetzungen stimmen, ist pädagogischen
Freundschaften per se eine begrenzte Dauer beschieden. In
glücklichen Fällen werden sie in einem neuen Modus fortge-
führt. Im hier geschilderten Fall ist „die andre riege“, in die
Frommel mit einem Wort aus dem Stern des Bundes die Au-
torin in den Stand der Ehe verabschiedet, allerdings eine un-
gewöhnliche Variante, zeigt sie den Charismatiker doch in ei-
nem familiären Umfeld. Das bürgerliche Ambiente konterka-
riert die in anderen Berichten über Frommel herausgestellte
Besonderheit seiner Erscheinung, seine als mitreißend be-
schriebene Ausstrahlung, die Menschen begeisterte und stei-
gerte.

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Zum Untypischen der Entfernten Erinnerungen gehört auch
ihr Fazit. Gewiss, der Text endet mit zwei Gedichten, von de-
nen eines von George stammt. Aber sie werden nicht etwa
angeführt, um zum Abschluss noch einmal den Traum und
Zauber der Jugend zu beschwören, sondern im Gegenteil, um
die Vorstellung einer von Freundschaft bestimmten Gemein-
schaft als ein Konstrukt zu kennzeichnen, das nicht realisier-
bar sei. Und mehr noch: Nicht erst die spätere Ernüchterung
durch Alltagsnotwendigkeiten hat die Utopie desavouiert, be-
reits die Erfahrung jener Freundschaft und ihre Voraussetzun-
gen waren für die Autorin nicht mit der beschworenen und er-
sehnten Traumwelt in Einklang zu bringen.
In den Entfernten Erinnerungen überwiegen die Unverein-
barkeiten und Widersprüche die Momente glückhafter Berei-
cherung. Mit lakonischem Pragmatismus, der ohne jede Em-
pörung daherkommt, wird dem Traum vom Schönen Leben
eine Absage erteilt. Diese unsentimentale Konsequenz, die
niederzuschreiben auch ein Ausdruck von Stärke der Autorin
ist, steht im Widerspruch zu zahlreichen Aufzeichnungen An-
derer über ihre Begegnungen mit Wolfgang Frommel. Aber
dieser Gegensatz stellt nicht die Authentizität des Textes in
Frage, als konkurrierende Erinnerung hat er seinen legitimen
Platz in der Memoirenliteratur.

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