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1. Einleitung
Moralische Realisten behaupten, dass moralische Urteile wahrheitsfähige
Propositionen ausdrücken, dass moralische Prädikate reale Eigenschaften
bezeichnen und dass es moralische Tatsachen gibt, deren Bestehen unab-
hängig von jeglichen Gründen des Fürwahrhaltens ist. Ein moralisches Ur-
teil sei dann wahr, wenn es den moralischen Tatsachen gerecht wird. Nach
Anhängern des moralischen Realismus muss in der Geschichte der Philoso-
phie nicht lange gesucht werden. Platon, Aristoteles, Samuel Clarke, Ri-
chard Price, John Stuart Mill, Henry Sidgwick, G.E. Moore, H.A. Prichard,
W.D. Ross, C.D. Broad, Max Scheler und Nicolai Hartmann vertraten rea-
listische Positionen. Der Realismus ist eine etablierte Position in Grundla-
genfragen der Moral. Von den dreißiger Jahren bis zu den siebziger Jahren
des zwanzigsten Jahrhunderts fand er zwar nur vereinzelte neue Mitstreiter.
Einerseits hatte Moores Vorwurf eines „naturalistischen Fehlschlusses“
den Optimismus hinsichtlich der Aussichten einer naturalistischen und rea-
listischen Metatheorie der Ethik nachhaltig erschüttert.1 Andererseits ließ
vielen ihre Verpflichtung auf eine naturalistische Position in der Metaphy-
sik und Erkenntnistheorie die metaphysischen und epistemologischen The-
sen der rationalen Intuitionisten extravagant und inakzeptabel erscheinen.2
Der dominante Einfluss des logischen Positivismus bereitete ein günstiges
Umfeld für nonkognitivistische Theorien, und für einige Jahrzehnte be-
hauptete sich der Nonkognitivismus als vorherrschende Position in der Me-
taethik.3 Doch in den letzten dreißig Jahren hat der moralische Realismus
wieder zahlreiche neue Fürsprecher gewonnen.
1
Vgl. G. E. Moore (1903/1993: Kapitel 1).
2
Vgl. hier für eine Stimme unter vielen John L. Mackie (1977: Kapitel 1).
3
Haben Nonkognitivisten Recht, so sind moralische Urteile nicht wahrheitsfähig; sie
sind kein Ausdruck kognitiver psychischer Zustände, sondern Ausdruck von non-
kognitiven Einstellungen wie Wünschen, Präferenzen, vorschreibenden Haltungen
oder Ausdruck der Akzeptanz von Normen. Klassische nonkognitivistische Kon-
zeptionen bieten A.J. Ayer (1936/1946: Kapitel 6), Charles L. Stevenson (1944)
und Richard M. Hare (1952); nonkognitivistische Ideen finden sich ebenfalls bei
300 Tatjana Tarkian
Diese sind sich in der Einschätzung einig, dass eine realistische Position
den Oberflächenphänomenen des moralischen Diskurses und der Phänome-
nologie der moralischen Erfahrung weit besser Rechnung trage als jede
nonkognitivistische Position. Nonkognitivistische Theorien seien in einem
unangebrachten Maße revisionär gegenüber unseren Alltagsüberzeugungen
hinsichtlich der Charakteristik und der Funktion des moralischen Diskur-
ses. Zudem seien sie mit einem schwierigen semantischen Problem behaf-
tet, dem sich mit der Verteidigung einer wahrheitskonditionalen Semantik
für moralische Urteile leicht aus dem Weg gehen lässt.4 Der moralische
Realismus expliziere die „natürliche“ Position hinsichtlich der In-
terpretation des moralischen Diskurses. Daher habe der Nonkognitivist die
Beweislast in der Debatte zu schultern, nicht der Realist.
Geht es um die Beurteilung der Defizite des Nonkognitivismus, so
herrscht unter Realisten weitreichende Übereinstimmung. Dennoch teilen
sich die zeitgenössischen moralischen Realisten in zwei ganz unterschiedli-
che Lager. Diese sind nicht nur durch Differenzen in metaphysischen und
erkenntnistheoretischen Fragen, sondern auch durch die Anknüpfung an
jeweils andere philosophische Traditionen, Grundüberzeugungen und Ori-
entierungspunkte gekennzeichnet. Das eine ist das naturalistische, das an-
dere das nonnaturalistische Lager. Inspiriert durch jüngere Debatten in der
Sprachphilosophie, der Philosophie des Geistes sowie der Erkenntnis- und
Wissenschaftstheorie, stellen die aktuellen Entwürfe moralischer Realisten
beider Lager potente und detaillierte Weiterentwicklungen des realistischen
Programms dar, die vielen der klassischen Einwände gegen realistische Po-
sitionen nicht ausgesetzt sind. So hat sich mit guten Gründen die Einsicht
durchgesetzt, dass Moores Argumentation gegen den ethischen Naturalis-
mus eine Vielzahl von Schlupflöchern offen lässt. Naturalisten machen
sich diese auf verschiedene Weise zunutze. Die zeitgenössischen Nonnatu-
ralisten dagegen verabschieden einige der Thesen, mit denen ihre Vorgän-
ger, die britischen rationalen Intuitionisten, zu Widerspruch einluden. So
verzichten sie auf das Postulat eines speziellen intellektuellen moralischen
Rudolf Carnap (1931, 1935), Hans Reichenbach (1951) und Victor Kraft (1937).
Die prominentesten zeitgenössischen Nonkognitivisten sind Allan Gibbard (1990)
und Simon Blackburn (1984, 1993).
4
Gemeint ist hier das „Frege-Geach-Problem“, zu dessen Lösung Nonkognitivisten
einige Vorschläge vorgelegt haben, die hier nicht diskutiert werden können. Vgl.
für die Präsentation des Problems Peter T. Geach (1965) und John R. Searle (1962).
Moralischer Realismus: Varianten und Probleme 301
abhängig sind. Ist der moralische Realismus korrekt, so ist ein moralisches
Urteil dann wahr, wenn es entsprechende moralische Tatsachen korrekt
beschreibt. Realistische Positionen sind dadurch charakterisiert, dass sie
eine strikte begriffliche Trennung zwischen Wahrheit und Behauptbarkeit
selbst unter idealen epistemischen Bedingungen treffen. Wahrheit werde
durch keine Form des Fürwahrhaltens konstituiert. Realisten vertreten
somit einen nicht-epistemischen Wahrheitsbegriff. Wahrheit bestehe in ei-
ner Übereinstimmung mit den Tatsachen. Der Realist hält es entsprechend
für begrifflich möglich, dass ein moralisches Urteil falsch ist, obwohl wir
alle gute epistemische Gründe haben, es für wahr zu halten. Die Wahrheit
moralischer Urteile sei potentiell erkenntnistranszendent; sie zu treffen, ist
aber das Ziel unserer epistemischen Bemühungen. Moralische Realisten
haben dabei eine grundsätzlich nichtskeptische Haltung. Sie meinen, dass
es gute Gründe gibt zu glauben, dass wir um die Wahrheit zumindest
einiger moralischer Urteile wissen. Moralische Sensibilität und Einsicht,
Überlegung und Argumentation stelle gewöhnlich eine verlässliche
Methode dar, zu moralischem Wissen zu gelangen.
Für die Zwecke dieses Beitrags ist der Begriff des moralischen Realis-
mus nun fast genügend expliziert.6 Nur zwei Bemerkungen sind noch ange-
bracht.
Die Behauptung, es gebe objektive moralische Eigenschaften und Tatsa-
chen, die unabhängig von epistemischen Zuständen von Erkenntnissubjek-
ten sind, bildet den metaphysischen Kern des moralischen Realismus7. Dar-
über hinaus ist der moralische Realismus erstens als metaphysisch neutrale
Doktrin zu verstehen. Als was für Tatsachen der Realist moralische Tatsa-
chen versteht: ob er sie für natürliche Tatsachen, für supernatürliche Tatsa-
chen oder für Tatsachen sui generis hält, bleibt offen. Der moralische Rea-
lismus ist mit verschiedenen metaphysischen Konzeptionen moralischer
Tatsachen kompatibel.
Zweitens zwingt die These von der metaphysischen Objektivität morali-
scher Tatsachen den moralischen Realisten nicht, moralische Tatsachen als
Bestandteile der vom Bewusstsein unabhängigen Wirklichkeit zu begrei-
fen. Der Realist ist nicht genötigt zu behaupten, dass moralische Eigen-
6
Vgl. zur Charakterisierung des moralischen Realismus auch die Ausführungen von
Christoph Halbig in diesem Band.
7
Irrealisten bestreiten die Korrektheit dieser metaphysischen These. Sie behaupten,
es gebe keine derartigen Eigenschaften und Tatsachen.
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8
Vgl. Jean E. Hampton (1998: 34-43).
9
Vgl. in diesem Sinne auch George E. Moore (1903/1993: 92).
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10
Zu den rationalen Intuitionisten zählen neben G.E. Moore (1903/1993) auch W.D.
Ross (1930) und H.A. Prichard (1949).
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13
Anhänger des reduktiven ethischen Naturalismus sind beispielsweise Peter Railton
(1986, 1986a, 1989, 1993), David Lewis (1989) sowie Bruce W. Brower (1993).
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14
David Brink verteidigt den nonreduktiven ethischen Naturalismus (1989: Kapitel 6
und 7, vgl. insbes. 156-167, 172-180, 193-197). Weitere nonreduktive ethische Na-
turalisten sind Richard Boyd (1988) und Nicholas Sturgeon (1984).
15
Vgl. David Brink (1989: 158).
16
G.E. Moore (1942: 588).
310 Tatjana Tarkian
17
Supervenienz ist hier, wo es um die metaphysische Natur moralischer Eigenschaf-
ten geht, im Sinne einer Konstitutions- oder Determinationsbeziehung zu verstehen,
die zwischen Eigenschaften oder Tatsachen eines Typs und Eigenschaften oder Tat-
sachen eines anderes Typs besteht. Eigenschaften des Typs B (superveniente Eigen-
schaften) supervenieren über Eigenschaften des Typs A (den subvenienten Eigen-
schaften oder Basis-Eigenschaften), wenn zwei Dinge sich nicht hinsichtlich ihrer
B-Eigenschaften unterscheiden können, ohne sich auch in ihren A-Eigenschaften zu
unterscheiden.
Neben der Rede von Supervenienz in metaphysischen Zusammenhängen hat sich
der Ausdruck ‚Supervenienz‘ anknüpfend an Hare (1952) auch in einem außermeta-
physischen Sinne als Bezeichnung für eine Bedingung für den korrekten Gebrauch
moralischer Ausdrücke etabliert. Als normative Bedingung lässt sich Supervenienz
wie folgt charakterisieren: Zeichnen wir eine Handlung H1 mit dem moralischen
Prädikat ‚M’ aus, so sind wir verpflichtet, eine andere Handlung H2, die sich von H1
in ihren nichtmoralischen Eigenschaften nicht unterscheidet, ebenfalls mit dem mo-
ralischen Prädikat ‚M’ auszuzeichnen. (Dies gilt natürlich nicht nur für Handlungen,
sondern für beliebige Gegenstände moralischer Beurteilung.) Zur korrekten An-
wendung des moralischen Vokabulars gehört es, dass wir bereit sein müssen, mora-
lische Urteile zu universalisieren. Nur philosophische Sektierer kommen in die Ver-
suchung, die Adäquatheit einer solchen Konsistenzbedingung für den Gebrauch mo-
ralischer Ausdrücke zu bestreiten.
18
Wegen ihres Bekenntnisses zum metaphysischen Naturalismus sind nonreduktive
ethische Naturalisten gefordert, supervenienten moralischen Eigenschaften einen
Platz in der naturalistischen Metaphysik zu sichern. Einige metaphysische Natura-
listen vertreten die Ansicht, dass supervenienten Eigenschaften ganz im allgemei-
nen – also nicht nur in der moralischen Metaphysik, sondern in allen Zusam-
menhängen – keine genuine Rolle in der Erklärung von Phänomenen zukommt, da
die jeweiligen subvenienten Eigenschaften bereits die eigentliche explanatorische
Arbeit verrichteten. Für Eigenschaften, die keine explanatorische Rolle spielen, also
Moralischer Realismus: Varianten und Probleme 311
aus Erklärungen von Phänomenen ohne Verluste eliminiert werden können, sehen
Naturalisten aber in einer angemessenen Beschreibung der Realität keinen Platz.
Gegen den Einwand der explanatorischen Impotenz supervenienter Eigenschaften
behaupten nonreduktive ethische Naturalisten, dass superveniente Eigenschaften,
auch moralische Eigenschaften, sehr wohl in der besten Erklärung bestimmter Phä-
nomene unverzichtbar seien.
19
David Brink scheint dies zu verkennen (2001: 156-157).
312 Tatjana Tarkian
20
Moderate analytische Naturalisten behaupten nicht, dass moralische Prädikate das-
selbe bedeuten wie bestimmte natürliche Prädikate, sondern ungefähr dasselbe. Die
Analyse beansprucht dann nicht, alle Bedeutungskomponenten widerzuspiegeln,
aber immerhin zentrale. Frank Jackson verteidigt den analytischen ethischen Natu-
ralismus (1998: Kapitel 5 und insbes. Kapitel 6). Für eine andere Variante des
analytischen ethischen Naturalismus vgl. David Lewis (1989).
21
Vgl. Saul A. Kripke (1972/1980) und Hilary Putnam (1975: insbes. 223-235).
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22
Vgl. Saul A. Kripke (1972/1980: 91).
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23
Vgl. David O. Brink (1989: 165-166).
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24
Vgl. Richard N. Boyd (1988: insbes. 195-199), Bruce W. Brower (1993) und David
O. Brink (1989). Brink schreibt: „The naturalist’s identity or constitution claims can
be construed as expressing synthetic moral necessities“ (1989: 166). Brink ist non-
reduktiver ethischer Naturalist; Brower verteidigt einen reduktiven Naturalismus.
25
Auch Putnam signalisierte schon früh die Bereitschaft, die kausale Theorie der Re-
ferenz auf moralische Ausdrücke auszudehnen (1975a: 290). Vgl. auch Putnam
(1981: 206-208).
318 Tatjana Tarkian
26
So bekennt Richard Boyd: „I doubt that there are any significant ‚conceptual truths‘
at all“ (1988: 196). Vgl. auch Bruce W. Brower (1993: 221).
27
Vgl. Terence Horgan und Mark Timmons (1991), die Boyds (1988: 195-199) kau-
sale Theorie der Referenz für moralische Ausdrücke kritisieren. Vgl. auch Terence
Horgan und Mark Timmons (1992).
Moralischer Realismus: Varianten und Probleme 319
Einwand scheint angesichts von Boyds Variante der kausalen Theorie der
Referenz überzeugend zu sein. Ob damit der synthetische ethische
Naturalismus hinfällig wird, muss hier offen bleiben. Die semantischen
Grundlagen des synthetischen Naturalismus erfordern weitere
Ausarbeitung, und vielleicht lässt sich eine Variante einer Theorie der
direkten Referenz zu seiner Unterstützung entwickeln, die gegen den
geschilderten Einwand immun ist.28
28
David Brink (2001) entwickelt einen Vorschlag in dieser Richtung, der sich von
Boyds knappen Ausführungen zu einer kausalen Theorie der Referenz für morali-
sche Ausdrücke signifikant unterscheidet.
320 Tatjana Tarkian
29
Die negative Antwort, die Nonkognitivisten auf die komparative Frage geben, sollte
nicht vorschnell als Abwertung des Ethischen interpretiert werden. Sie ist kein
Werturteil.
30
Vgl. Nicholas L. Sturgeon (1984, 1986, 1986 a), David O. Brink (1989: 182-197)
und Geoffrey Sayre-McCord (1988).
31
Vgl. für diesen Einwand Gilbert Harman (1977: Kapitel 1, und 1986).
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34
Vgl. Jonathan Dancy (1998: 536).
35
David Hume, A Treatise of Human Nature, III,i,1 (468-69).
Moralischer Realismus: Varianten und Probleme 323
36
John McDowell (1985/1998:133-134).
324 Tatjana Tarkian
37
Vgl. John McDowell (1985/1998: 136).
38
Vgl. Mark Platts (1988: 283).
Moralischer Realismus: Varianten und Probleme 325
39
Darauf weist auch Robert L. Arrington hin (1989: 131-132).
40
Vgl. John McDowell (1978/1998: 85).
41
Vgl. Jonathan Dancy (1993: Kapitel 7, insbes. 112-115).
326 Tatjana Tarkian
5. Probleme
Die Oberflächengrammatik der moralischen Sprache und die Praxis der
moralischen Argumentation bieten gute Gründe dafür, moralischen Urtei-
len ausschließlich propositionalen Gehalt zuzusprechen. Was wir tun,
wenn wir moralisch argumentieren, lässt sich am natürlichsten durch die
Annahme deuten, dass wir moralische Behauptungen vorbringen, die Be-
hauptungen anderer zurückweisen und unsere Sichtweisen durch Gründe
zu stützen suchen, die wir wiederum als Behauptungen vortragen. Der mo-
ralische Diskurs unterliegt argumentationstheoretischen Gesetzen. Wir wi-
dersprechen anderen, wenn sie Urteile äußern, die inkonsistent sind, wir
ziehen Schlüsse aus moralischen Urteilen sowie aus der Kombination mo-
ralischer und nichtmoralischer Urteile und versuchen, unsere Urteile als
konsistentes System von Sätzen zu organisieren. Es liegt nahe, solche Satz-
systeme als Ausdruck von Überzeugungssystemen und moralische Urteile
als wahrheitsfähige Urteile zu interpretieren. Ich teile daher die Sicht, dass
die Beweislast in der Debatte auf der Seite der Nonkognitivisten liegt.
Realistische Grundlagentheorien des Moralischen können unserer Vor-
stellung Rechnung tragen, dass es richtige und falsche moralische
Überzeugungen gibt und man sich in moralischen Fragen irren kann. Auch
lässt das realistische Paradigma genügend Spielraum, um vielen Bedenken
überzeugend entgegenzutreten: Realisten sind nicht auf einen unhaltbaren
Platonismus, einen problematischen epistemologischen Fundamentalismus
und einen (zumindest aus der Sicht vieler) kritikwürdigen Wertobjektivis-
mus festgelegt; auch dürfen sie die semantische Autonomie der
moralischen Sprache verteidigen. Dennoch scheint der moralische
Realismus problematisch. Dabei lassen sich gegen naturalistische und
nonnaturalistische Ansätze unterschiedliche Einwände erheben.42
Es ist plausibel anzunehmen, dass moralische Urteile kraft ihrer Bedeu-
tung normative Urteile sind: Urteile, mit denen wir ausdrücken, dass wir
auf bestimmte Weise handeln sollten, oder Urteile, mit denen wir ausdrü-
cken, dass bestimmte Gegenstände Wertschätzung verdienen oder dass es
gerechtfertigt ist, in bestimmten Situationen bestimmte moralische Gefühle
zu haben. Die These vom normativen Gehalt moralischer Urteile lässt sich
nun offenbar nicht mit der naturalistischen Behauptung vereinbaren, dass
42
Allgemeine Einwände gegen den metaphysischen Realismus und die realistische
Konzeption von Wahrheit sollen hier ausgeklammert werden.
Moralischer Realismus: Varianten und Probleme 327
43
Vgl. Richard Boyd (1988) und David Brink (1989: Kapitel 3). Peter Schaber be-
schränkt den normativen Externalismus auf Wertaussagen (vgl. 1997: 183-186).
328 Tatjana Tarkian
44
Vgl. hierzu kritisch Christine Korsgaard (1997) und Jean Hampton (1998).
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45
John McDowell (1985/1998: 143).
46
Vgl. David Wiggins (1987/1998: 187).
330 Tatjana Tarkian
Denn verdient ein Gegenstand seine Wertschätzung, so heißt dies, dass wir
ihn wertschätzen sollten, ungeachtet unserer tatsächlichen Reaktionen. Es
handelt sich bei den fraglichen Bikonditionalen daher nicht um echte
dispositionale Analysen, und damit bricht die Analogie zwischen Wertei-
genschaften und sekundären Qualitäten zusammen.47 Die Distanz zwischen
der normativen Dignität von Werteigenschaften und subjektiven Reaktio-
nen urteilender Personen, die McDowell und Wiggins wichtig ist, legt es
nahe, diese Eigenschaften als primäre Qualitäten zu verstehen, denen ein
normatives Potential immanent ist. Die Reaktionen tugendhafter Personen
„folgen“ der normativen Autorität dieser Eigenschaften; sie sind nicht ge-
eignet, die Natur dieser Eigenschaften auf unabhängige Weise zu erhellen.
Doch das Postulat primärer Qualitäten, denen eine autoritative Kraft inne-
wohnt, ist kaum akzeptabel.
Schließlich ist zu fragen, was überhaupt für eine realistische Konzeption
von praktischen Gründen und Gründen zur Wertschätzung spricht.
McDowell bezeichnet die Fähigkeit der tugendhaften Person, Situationen
in einem normativen Licht zu sehen, als perzeptives Vermögen. Das
richtige Erfassen von Sachverhalten liefere Gründe zum Handeln.48 Dancy
nennt praktische Gründe objektive Sachverhalte (things that are the case,
features of a situation)49. Doch was es heißt, Situationen in einem
normativen Licht zu sehen, lässt sich auch unter Verzicht auf das Postulat
realistisch verstandener Gründe klären. Moralische Sensibilität ist, so
denke ich, nicht als ein Vermögen der Perzeption moralischer Eigen-
schaften angemessen charakterisiert, sondern eher als die Bereitschaft,
seine Vorstellungskraft über den Horizont der jeweils eigenen Belange
hinaus auszudehnen sowie offen für die Ansprüche anderer und ihre
kritischen Einwände gegen die eigene Sichtweise zu sein. Nötig dafür ist
ein gesundes Maß an Selbstreflexion und die Fähigkeit zur angemessenen
Würdigung nichtmoralischer Tatsachen. Normative Gründe sollten besser
als ein Produkt von Überlegungen verstanden werden, die sich gegen
kritische Einwände behaupten können, und nicht als dem moralischen
Erkenntnisprozess vorgeordnete Sachverhalte, die es angemessen zu
erfassen gilt. Die Fähigkeit, Gründe zu sehen, ist eine produktive Leistung
vernünftiger Subjekte, keine perzeptive Fähigkeit.
47
Vgl. dazu auch Crispin Wright (1988: 22-24).
48
Vgl. John McDowell (1978/1998: 86).
Moralischer Realismus: Varianten und Probleme 331
Literatur
Arrington, Robert L. (1989). Rationalism, Realism, and Relativism: Per-
spectives in Contemporary Moral Epistemology. Ithaca, London: Cor-
nell University Press.
49
Vgl. Jonathan Dancy (2000).
332 Tatjana Tarkian
Horgan, Terence and Mark Timmons (1991). „New Wave Moral Realism
Meets Moral Twin Earth“. In: Journal of Philosophical Research 16.
447-465.
Horgan, Terence and Mark Timmons (1992). „Troubles for New Wave
Moral Semantics: The ‘Open Question Argument’ Revived“. In: Phi-
losophical Papers 21. 153-175.
Platts, Mark (1988). „Moral Reality“. In: Essays on Moral Realism. Hg.
Geoffrey Sayre-McCord. Ithaca, London: Cornell University Press.
282-300.
Railton, Peter (1986). „Moral Realism“. In: Philosophical Review 95. 163-
207.
Railton, Peter (1986 a). „Facts and Values“. In: Philosophical Topics 14.
5-31.
Railton, Peter (1989). „Naturalism and Prescriptivity“. In: Social Philoso-
phy and Policy 7. 151-174.
Railton, Peter (1993). „What the Non-Cognitivist Helps Us to See the
Naturalist Must Help Us to Explain“. In: Reality, Representation and
Projection. Hg. John Haldane, Crispin Wright. New York, Oxford:
Oxford University Press. 279-300.
Moralischer Realismus: Varianten und Probleme 335
Ross, W.D. (1930). The Right and the Good. Oxford: Clarendon Press.
Searle, John R. (1962). „Meaning and Speech Acts“. In: Philosophical Re-
view 71. 423-432.