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Geister-

Geister-Scheidung
(Zeugnis über die geistliche Begleitung
während des Nürnberger Prozesses)

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Geister-
Geister-Scheidung
(Zeugnis über die geistliche Begleitung
während des Nürnberger Prozesses)

Im August 1943 trat ich in den aktiven Mi-


litärdienst ein und wurde, nachdem ich in
Harvard den Kursus für Feldgeistliche be-
endet hatte, dem „98. allgemeinen Lazarett“
zugeteilt. Vom März 1944 an waren wir 14
Monate in England und pflegten dort die
Kranken und Verwundeten vor und nach
dem „D-day-Schicksalstag“. Im Juni 1945
brachen wir von England auf, um über
Frankreich nach Deutschland zu fahren; die
Fahrt dauerte einen Monat. Am 15. Juli
kamen wir in München an, wo das 98. La-
zarett noch in vollem Betrieb war. Es war
mir eine Freude, die Kranken zu besuchen.
Am 12. November 1945 wurde ich nach
Nürnberg abkommandiert und der „6580.
inneren Sicherheitsabteilung“ zugewiesen,
wo ich der geistliche Berater der dort inhaf-
tierten hohen Nazis sein sollte, die vor Ge-

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richt gestellt werden sollten. Der Geistliche
Carl Eggers wartete schon darauf, mir die
Arbeit zu übergeben. Er stellte mich den
hohen Naziführern in ihren Zellen vor.
Wie konnte ich diesen Männern
gegenübertreten, die der Welt so viel Her-
zeleid bereitet hatten, die Führer in einem
Weltkrieg gewesen waren, der Millionen
Menschen das Leben gekostet hatte?
Schließlich waren ja auch unsere
beiden Jungen in diesem Kampf zusammen
mit Millionen junger Männer unseres Lan-
des. Wie sollte ich an diesen Gefangenen
arbeiten, ohne das Wirken des Wortes Got-
tes in ihren Herzen zu hindern? Wie würden
sie sich verhalten? - Mein Kollege schlug
vor, mit unseren Besuchen bei dem Anfüh-
rer der Gruppe zu beginnen. Er führte mich
zu Görings Zelle. Es war schwierig für
mich, mit diesen Männern in deutscher
Sprache zu sprechen, da ich seit meiner
Kindheit nicht mehr deutsch gesprochen
hatte. Bei unserem Eintritt sprang Göring
auf und schlug die Hacken zusammen. Ich
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reichte ihm die Hand. Nachdem ich bei al-
len anderen eingeführt worden war, hatten
wir ein reichliches Tagewerk hinter uns.
Es war vor Beginn der Gerichtssit-
zung am 20. November. In jener Nacht
musste ich Jesum um eine besondere Aus-
rüstung anflehen, ohne die ich meine Auf-
gabe nicht erfüllen konnte. Von dem Au-
genblick an beschloss ich, wohl die Sünden
zu hassen, aber die Sünder zu lieben. Ich
musste daran denken, dass auch Gott die
Sünder liebt. Diese Männer sollten erfah-
ren, wie der Heiland auf Erden segensreich
gewirkt, wie er gelitten hatte und auch für
sie am Kreuz gestorben ist.
Es waren einundzwanzig Angeklag-
te. Sechs von ihnen gehörten der katholi-
schen Kirche an, während fünfzehn dem
protestantischen Glauben lutherischer Prä-
gung zuneigten. Sieben von den fünfzehn
Protestanten waren Abendmahlgäste der
lutherischen Kirche. Streicher, Jodl, Heß
und Rosenberg besuchten nie die Gottes-
dienste, obgleich sie behaupteten, an einen
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Gott zu glauben. Kaplan O'Connor, New
York, war der katholische Priester für die
Männer, die diese Kirche vorzogen. Eine
kleine, aus zwei Zellen bestehende Kapelle
im zweiten Stockwerk wurde für die Got-
tesdienste eingerichtet. Ein ehemaliger
Oberstleutnant der SS war Organist. Da er
beiden Geistlichen diente, hatte er reichlich
zu tun. Gegen Ende meines Aufenthaltes
erneuerte er sein Gelübde mit der protestan-
tischen Kirche und feierte Abendmahl. Die
schlichte Botschaft vom Kreuz hatte sein
Herz umgewandelt. Frank Seyß-Inquart,
Kaltenbrunner und von Papen besuchten
den katholischen Gottesdienst, Keitel, Rib-
bentrop, Raeder, Dönitz, Neurath, Speer,
Schacht, Frick, Funk, Fritzsche, Schirach,
Sauckel und Göring kamen zu meinen Got-
tesdiensten. Folgende feierten während ih-
res Aufenthaltes im Gefängnis das Abend-
mahl: Keitel, Ribbentrop, Sauckel, Raeder,
Speer, Fritzsche und Schirach. Unser prote-
stantischer Gottesdienst bestand aus drei
Chorälen, Schriftvorlesung, Predigt, Gebet
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und Segen. Die Männer waren wirklich
andächtig und verursachten niemals die
geringste Störung.
Die Geistlichen besuchen die Gefangenen
Es muss festgestellt werden, dass von kei-
nem der Angeklagten gefordert wurde, die
Besuche der Geistlichen zu empfangen. Wir
fragten gewöhnlich an, ob sie unseren Be-
such wünschten. Oft fanden wir in unserem
Büro Zettel vor, die die Wachtposten dort-
hin gebracht hatten, dass gewisse Männer
uns bei unserem Besuchsgang durch das
Gefängnis sprechen wollten.
Vor der Zelle jedes Gefangenen
stand Tag und Nacht ununterbrochen ein
Wachtposten. Durch die Türe wurde Licht
auf den Gefangenen gerichtet, damit sie
ihre Dokumente vorbereitcn und lesen
konnten. Wächter und Gefangene durften
laut strengem Befehl der kommandierenden
Offiziere nicht miteinander sprechen. - Die
Gefangenen waren täglich, außer Sonn-
abend, eine Zeitlang im Hof. Nach Rück-
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kehr in ihre Zeilen und nach dem Abendes-
sen wurden sie gewöhnlich von den Geistli-
chen besucht, bis die Lichter abgeblendet
wurden. Während die Gefangenen schlie-
fen, blieb das Licht auf sie gerichtet. Wenn
ein Gefangener sich vom Licht weg zur
Wand wenden wollte, pflegte die Wache
ihn zu wecken und umzudrehen, damit man
sein Gesicht sehen konnte.
Abendmahlsfeier
Mein erster Abendmahlsgast war der Ar-
beitsminister Sauckel. Wie alle anderen war
er immer sehr höflich zu mir. Sauckel hatte
elf Kinder, von denen zehn lebten. Ein
Sohn war im Krieg gefallen. Er erzählte mir
zuerst viel Freundliches von seiner treuen
Frau und der Liebe seiner Kinder, und dann
besprachen wir seine geistlichen Anliegen.
Meist lasen wir zusammen die Bibel und
sprachen ein kurzes Gebet. Dabei knieten
wir zusammen an seinem Bett, so wollte er
es haben. Oft schloss er das Gebet mit den
Worten des Zöllners: „Gott, sei mir Sünder
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gnädig!“ Ich hatte allen Grund zu glauben,
dass er es ernst meinte.
Die nächsten, die um das Abend-
mahl baten, waren Fritzsche, Schirach und
Speer. Es rührte mich tief, als ich die drei
breitschultrigen Männer vor dem Altar
knien sah, um das Abendmahl zu empfan-
gen. Ich bin gewiss, dass Gott durch das
Wort, das ihnen gelesen und gepredigt wor-
den ist, ihre Herzen umgewandelt hat und
dass sie, wie jeder reuige Sünder, bereit
waren, Gottes Vergebung um Christi willen
zu erbitten. - Ein weiterer Abendmahlsgast
war Raeder, der ehemalige Oberbefehlsha-
ber der Flotte. Er forschte eifrig in der
Schrift und hatte gewöhnlich Fragen daraus
für mich bereit, wenn ich in seine Zelle
kam. Im voraus las er die Schriftabschnitte
für den nächsten Sonntag und betrachtete
gewisse Gedanken daraus. - Der Oberbe-
fehlshaber der Wehrmacht, Keitel, war im-
mer andächtig, wenn ich ihn besuchte. Ich
fand, dass er ein tiefgegründeter Christ war,
der selbst Andachten hielt. Er war so dank-
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bar dafür, dass jemand in unserem Heer
oder in unserem Volk religiöse Betreuung
für nötig gefunden und den Gefangenen
einen Geistlichen zugewiesen hatte. Einmal
bat er mich, den Christen in Amerika zu
danken, dass sie ihnen einen Seelsorger
geschickt hatten. Nachdem er sich gründ-
lich über das Abendmahl unterrichtet hatte,
bat er darum, ob er es unter meiner Leitung
mitfeiern dürfe. Er wählte mit feinem Ver-
ständnis Bibelstellen, Choräle und Gebete
aus und las sie laut vor. Er schämte sich
auch nicht, an seinem Bett kniend, mir sei-
ne Sünden zu beichten. Mit tränenerstickter
Stimme sagte er: „Sie haben mir mehr, ge-
holfen als Sie ahnen. Möchte Christus,
mein Heiland, mir auf dem ganzen Weg
beistehen. Ich werde Ihn brauchen!“
Kann ein Mann gleichzeitig Christ und
Vaterlandsfreund sein?
Ribbentrop stand mir sehr freundlich ge-
genüber, solange ich das Thema Christen-
tum und Kirche nicht berührte. In demsel-
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ben Augenblick, in dem ich darauf zu spre-
chen kam, fand ich ihn recht gleichgültig
gegen wahre Religion und die Grundlehren
christlichen Glaubens und Gottesdienstes.
Im Laufe der täglichen Besuche jedoch fing
er an, Fragen zu stellen. Die eine, die ihm
am wichtigsten vorkam und ihn am meisten
beunruhigte, war die: „Kann ein Mann
gleichzeitig Christ und Vaterlandsfreund
sein?“ Meine übliche Antwort auf diese
Frage war etwa folgende: „Natürlich kön-
nen Sie Vaterlandsfreund und Christ sein,
vorausgesetzt, Sie handeln entsprechend
Römer 13 und Sie geraten nicht mit Apo-
stelgeschichte 5, 29 in Widerspruch. Die
erste Stelle gibt an, was Sie Ihrer Regierung
schuldig sind und wie Sie als Christ treu
sein müssen. Die zweite betont die Anwen-
dung auf die christliche Vaterlandsliebe und
sagt, dass man Gott mehr gehorchen muss
als den Menschen.“ Nach einigen Monaten
begann Ribbentrop in der Schrift zu for-
schen und die Bedeutung christlichen Le-
bens zu erfassen.
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Die Kirche in Deutschland
Erlauben Sie mir einige Beobachtungen zu
erwähnen, die ich betreffs der Kirche in
Deutschland gemacht habe. Es ist sehr
schwierig, die Probleme, die sich verhäng-
nisvoll in einer vom Staat unterstützten
Kirche erheben, wirklich zu erkennen. Die
Führer des Reiches behaupteten, sie hätten
keine unkirchlichen Menschen in ihrem
Volk. Gewöhnlich vollziehen die Geistli-
chen Taufe und Konfirmation an allen Kin-
dern ihrer Gemeinde. Die Gebäude wurden
vom Staat oder mit staatlicher Beihilfe er-
richtet. Die Moegledorfer Kirche in meiner
Nachbarschaft, in einem Vorort von Nürn-
berg, gab zum Beispiel eine Mitgliederzahl
von 16 000 Seelen an. Wenn sie einen Kir-
chenbesuch von 150 bis 200 in einem Got-
tesdienst hatte, so galt das als guter Besuch.
Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass
Tausende die Feier ihrer Konfirmation er-
lebt haben, ohne den Herrr Jesu als ihren
Heiland zu finden.
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In Erwartung des Urteils
Gegen Ende der Untersuchung kamen die
acht Richter mehrere Wochen hindurch in
geheimen Sitzungen zusammen. Während
dieser Sitzungen durften die Angeklagten
nichts anderes tun, als ihren täglichen Aus-
gang machen und jeden Abend nach dem
Essen einen Gottesdienst besuchen. Die
genannten Dreizehn vereinigten sich täglich
mit mir in diesen Andachten, und immer
war Göring unter ihnen. Es war beglückend
zu sehen, wie der Heilige Geist an einigen
dieser Männer arbeitete. - Die Familien
durften ihre Angehörigen besuchen, bevor
das Schlussurteil gesprochen wurde. Es war
wirklich schwer, diese ersten Besuche mit-
zuerleben. Es war so angeordnet, dass keine
Möglichkeit bestand, irgend etwas einzu-
schmuggeln. Während dieser Besuche ge-
wannen wir die Kinder sehr lieb. Es war
mein Vorrecht und meine Freude, einigen
von ihnen vom Heiland zu erzählen. Viele
von ihnen kannten dieselben Abendgebete,
die ich als Kind bei meiner Mutter gelernt
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hatte. Das Herz war uns schwer, als wir uns
am Schluss der Besuche von diesen Famili-
en verabschieden mussten.

Das Urteil und das letzte Wort


Alle Lampen und Scheinwerfer brannten im
überfüllten Verhandlungssaal des Nürnber-
ger Justizpalastes, als Lord Lawrence im
Gerichtssaal erschien, um allen Angeklag-
ten die „große Chance des letzten Wortes“
zu geben. Zum letzten Male durften alle
Angeklagten von der Anklagebank aus der
Reihe nach vor der Öffentlichkeit ihr
Schlusswort sprechen. Ein weißbehand-
schuhter Militärpolizist reichte zu dem
Zweck den einzelnen das Mikrophon.
Zuerst sprach Göring. Aber es war
nicht mehr der selbstbewusste, zynische
Göring von einst. - Sodann nahm Speer das
Wort. Er sprach voller Verantwortungsbe-
wusstsein, jedoch nicht über sein eigenes
Schicksal. - Funk und Sauckel redeten
sichtlich bewegt; agressiv redete Schacht. -
Frank sprach leidenschaftlich von Gott und
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Schuld, genau so leidenschaftlich wie einst
auf den Parteitagen. Er bekannte im
Schlusswort:
„Wir haben am Anfang unseres We-
ges nicht geahnt, dass die Abwendung von
Gott solche verderblichen, tödlichen Folgen
haben könnte, und dass wir gezwungener-
maßen immer tiefer in Schuld verstrickt
werden könnten. Wir haben es damals nicht
wissen können, dass so viel Treue und Op-
fersinn des deutschen Volkes von uns
schlecht verwaltet werden könnten; so sind
wir in der Abwendung von Gott zuschanden
geworden und mussten untergehen. Es wa-
ren nicht technische Mängel und unglückli-
che Umstände allein, wodurch wir den
Krieg verloren haben - es war auch nicht
Unglück und Verrat: Gott vor allem hat das
Urteil über Hitler gesprochen und vollzo-
gen, über ihn und das System, dem wir in
gottferner Geisteshaltung dienten. Darum
möge unser Volk von dem Wege zurückge-
rufen werden, auf den Hitler und wir mit
ihm es geführt haben. Ich bitte unser Volk,
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dass es nicht verharrt in dieser Entwicklung
und nicht weiterschreitet in dieser Rich-
tung, auch nicht einen Schritt. Denn Hitlers
Weg war der vermessene Weg ohne Gott,
der Weg der Abwendung von Christus und
in allem letzten Endes der Weg der politi-
schen Torheit, der Weg des Verderbens und
des Todes.“
Keitel bekannte sich schuldig und
schloss mit den Worten: „Ich habe geirrt
und war nicht imstande zu verhindern, was
hätte verhindert werden müssen. Das ist
meine Schuld.“
So kamen sämtliche einundzwanzig
Angeklagten zu Wort. Dann wurden die
Akten geschlossen. Das letze Wort war
gefallen. Jeder Angeklagte wurde wieder in
seinen Gewahrsam zurückgebracht.
Die folgenden Angeklagten wurden
zum Tode verurteilt: Göring, Ribbentrop,
Keitel, Kaltenbrunner, Sauckel, Rosenberg,
Frank, Frick, Streicher und Seyß-Inquart;
folgende erhielten lebenslängliche Haft:
Heß, Funk, Raeder. Schirach und Speer
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wurden zu zwanzig Jahren, Neurath zu
fünfzehn und Dönitz zu zehn Jahren Ge-
fängnis verurteilt. Von Papen, Schacht und
Fritzsche wurden vom Militärgericht frei-
gesprochen. Die Gefangenen nahmen ihr
Urteil wie Soldaten auf, und, soweit ich
sehen konnte, zuckte keiner zusammen, als
er seinen Richterspruch vernahm. Dieser
Tag wurde in den Akten des Gerichts als
„Urteilstag“ bezeichnet: 1. Oktober 1946.
Die Geistlichen widmeten den größten Teil
ihrer Zeit den Besuchen der Männer, die
zum Tode verurteilt waren.
Jeder dieser todgeweihten Männer
glaubte bestimmt, dass die Hinrichtung am
Mittwoch, dem 16. Oktober stattfinden
würde, und jeder wollte wissen, zu welcher
Tageszeit sie in die Ewigkeit eingehen
müssten. Nun war noch eine überraschende
Anordnung getroffen; mit Erlaubnis des
Großen Kontrollrates der vier Mächte soll-
ten die Verurteilten, wenn sie es wünschten,
noch einmal Gelegenheit haben, mit ihren
Frauen zu sprechen. Das waren bittere
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Stunden für die Verurteilten und ihre An-
gehörigen, aber auch für uns Seelsorger.
Ich hörte, wie Ribbentrop seine Frau ernst-
lich bat, dass seine Kinder in der Kirche
bleiben und in der Zucht und Vermahnung
zum Herrn erzogen werden sollten. Diese
Feststellung ist mir besonders bemerkens-
wert, weil sie von Ribbentrop stammt und
wir am Anfang unserer Arbeit entdeckt hat-
ten, dass die ganze Familie sich von der
Kirche zurückgezogen hatte. Während Rib-
bentrops Haft leiteten wir alles für die Tau-
fe seiner drei Kinder ein. - Frau Sauckel
versprach ihrem Mann, dass ihre zehn Kin-
der bei dem gekreuzigten Jesus bleiben
sollten. - Göring fragte seine Frau, was sei-
ne Edda über die ganze Lage gesagt habe.
Sie erwiderte, Edda habe gesagt, sie wolle
ihren Vati im Himmel wiedersehen. In die-
sem Augenblick stand Göring auf und
wandte sich zum Gehen und zum ersten
Mal sah ich Tränen über seine Wangen lau-
fen. Als ich ihn ein wenig später in seiner
Zelle aufsuchte, sagte er, er sei schon ge-
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storben, als er seine Frau eben verlassen
hätte. Von jenem Tag an waren wir fast Tag
und Nacht bei den Verurteilten. Einige von
ihnen baten mich vier- bis fünfmal am Tag,
zu ihnen hereinzukommen. Ribbentrop las
fast die ganze Zeit in der Bibel. Keitel zeig-
te besonderes Interesse für gewisse Bibel-
stellen und Choräle, die von der Liebe Got-
tes durch das versöhnende Blut Christi
sprachen. Sauckel war sehr aufgeregt. Er
war so abgespannt, dass ich fürchtete, er
würde dem Druck nicht standhalten. Er
betete oft laut und schloss unsere Andach-
ten immer: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“
Diese drei feierten mit mir das Abendmahl
in ihren Zellen. Gott hatte während der gan-
zen Zeit ihre Herzen gewandelt, und jetzt,
da sie alles Irdische, ja selbst ihr Leben
verlieren sollten, konnten sie das Verspre-
chen annehmen, dass Gott reuigen Sündern
durch Jesu Opfertod vergeben hatte, und
glauben, dass Jesu ihre sündenbelasteten
Seelen von ihrer Schuld befreien würde.
Görings Selbstmord
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Am 16. Oktober herrschte große Aufre-
gung. Die Geistlichen gingen von Zelle zu
Zelle und blieben bei jedem Verurteilten
einige Augenblicke, um zu hören, wie jeder
sein Herz von seiner Last zu befreien such-
te, weil er wusste, dass er bald zur Ewigkeit
eingehen würde. An jenem Abend um
20.30 Uhr hatte ich eine lange Unterredung
mit Göring. Ich versuchte ihn bei dem
Thema ewiger Werte festzuhalten und ihm
zu zeigen, wie ein Mensch sich zum Ster-
ben bereitmachen kann, bereit, seinem Gott
zu begegnen. Im Laufe der Unterredung
fand ich, dass Göring über die biblische
Darstellung der Erschaffung des Menschen
spottete. Er machte über die Lehre von der
wörtlichen Eingebung der Schrift spöttische
Bemerkungen und weigerte sich, die große
Grundlehre des Evangeliums, dass Jesus für
jeden Sünder gestorben ist, anzunehmen. Es
war eine offene Ablehnung der Macht des
Kreuzes und der Bedeutung des unschuldi-
gen Blutes, das am Kreuz zur Erlösung der
Sünder vergossen wurde. Er sagte, er glau-
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be, dass mit dem Tode alles aus sei. Da bat
ich ihn, daran zu denken, was seine kleine
Tochter gesagt hatte, sie wolle ihren Vater
im Himmel wiedersehen; aber er antwortete
uns: „Sie glaubt an ihren Heiland, aber ich
muss es darauf ankommen lassen.“ Weiter
sagte er nichts mehr, und ich verließ ihn
zum letzten Male. Etwa um 22.35 erschien
eine Wache im Wachtlokal und erklärte mit
erregter Stimme, dass Göring einen Anfall
habe. Er lag auf dem Boden. Ich sprach mit
ihm, aber obgleich sein Puls noch zu schla-
gen schien, gab er keine Antwort. Eine
kleine leere Patrone lag auf seiner Brust. So
starb er.

Tod
Um Mitternacht wurde den Verurteilten
noch einmal der Anklage- und Richter-
spruch verlesen. Eine letzte Mahlzeit wurde
ihnen angeboten. Nur wenige aßen. Da Gö-
ring sich das Leben genommen hatte, war
Ribbentrop der erste, der den Weg zum
Galgen antrat. Ehe er seine Zelle verließ,
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verbrachte ich einige Minuten mit ihm in
Gebet und Fürbitte und hörte ihn sagen,
dass er sein ganzes Vertrauen auf das Blut
des Lammes setze, das die Sünden der Welt
hinwegnimmt. Noch in seiner Zelle bat er
Gott, Erbarmen mit seiner Seele zu haben.
Dann ertönte das Signal, und er musste den
Korridor entlang zum Hinrichtungsraum
gehen. Er ging zwischen zwei Wachen; die
Geistlichen schritten unmittelbar vor ihm,
an der Spitze der diensttuende Offizier. Wir
gingen durch die Tür in den Hof und traten
mit dem Gefangenen in den Hinrichtungs-
raum. Seine Hände waren gefesselt. Er
wurde sogleich zu dem ersten Galgen ge-
führt, wo er am Fuß der dreizehn Stufen
stehenblieb. Auf Verlangen des diensttuen-
den Offiziers nannte er seinen Namen und
wurde auf den Galgen geführt, wo er auf
die Falltür trat, den kaltblütigen Zuschauern
gegenüber, die sich als Zeugen der Hinrich-
tung versammelt hatten. Ein Wächter band
ihm die Füße, während ein Offizier ihn
fragte, ob er noch ein letztes Wort sagen
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wolle, worauf er sich an mich wegen eines
letzten Gebetes wandte. Im Augenblick, als
das Amen gesagt war, zog man ihm die
schwarze Kapuze über das Gesicht, der
große Knoten von dreizehn Stricken wurde
hinter seinem Kopf zusammengezogen, und
dann fiel er durch die Falltür. Die Geistli-
chen gingen zurück zum Gefängniskorridor
und warteten dort auf das Signal für den
zweiten Verurteilten. Das war Keitel, der
Oberbefehlshaber der Wehrmacht.
In seiner Zelle hielten wir eine kurze
Andacht mit Gebet, ehe wir den letzten
Gang mit ihm antraten. Als wir in den Hin-
richtungsraum kamen, schickte Keitel
schnell einen Blick zum ersten Galgen.
Dieser Blick sagte mir, dass er wusste, dort
hing sein Freund Ribbentrop. Wir stiegen
die Stufen zum zweiten Galgen hinan, Kei-
tel sprach ein Schlusswort, dem mein letz-
tes Gebet folgte. Er antwortete mit der Fest-
stellung: Ich danke Ihnen von ganzem Her-
zen.

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Der katholische Geistliche begleitete den
nächsten Verurteilten zum Galgen, während
ich nahe dabeistand, nahe der Türe. Die
zwei Geistlichen machten zehnmal den
Weg und machten so die letzte Meile mit
jedem Gefangenen.
Als das Zeichen ertönte, dass Sauk-
kel hereingebracht werden sollte, fühlte ich,
wie mein Herzschlag aussetzte. Dieser Ver-
urteilte war am Tage zuvor und besonders
am Abend recht aufgeregt gewesen, und es
war offensichtlich, dass es ihm schwer wur-
de, sich zu beherrschen. Während er auf der
Falltüre stand, sagte er etwas von seinen
zehn Kindern und ihrer Mutter. Das er-
schütterte mich sehr, und für einen Augen-
blick konnte ich nicht weiter. Schließlich
war es mir doch noch möglich, das Schluss-
gebet zu sprechen, wonach er schnell zur
Ewigkeit einging.
Während ich in Fricks Zelle eine
kurze Andacht hielt und Zeichen von Er-
schöpfungen merken ließ, versicherte mir
Frick, dass er in unserem schlichten Gottes-
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dienst seinen Heiland gefunden habe. Er
sagte, er glaube, dass Jesu Blut seine Sün-
den hinweggewaschen habe. Als er auf der
Falltüre stand, hatte er wenig zu sagen, und
wir beschlossen sein Leben mit einem kur-
zen Gebet für seine Seele.
Der letzte meiner Gruppe war Ro-
senberg, der konsequent alle geistliche Be-
einflussung abgelehnt hatte. Er wollte kein
Schlusswort sprechen, und als ich ihn bat,
ein letztes Gebet zu sprechen, lächelte er
und sagte: „Nein, danke.“ Er lebte ohne
einen Heiland, und so starb er auch.
Ich möchte noch Streicher erwäh-
nen. Er weigerte sich zunächst, seinen Na-
men zu nennen, und als er die dreizehn Stu-
fen hinaufging, grüßte er: „Heil Hitler!“
Obgleich er dem katholischen Geistlichen
erlaubte, ihn zur Falltür zu begleiten, wies
er doch jeden geistlichen Trost zurück. Er
glitt durch die Falltür, indem er seiner Frau
rief.

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Es war jetzt etwas nach drei Uhr morgens.
Die Geistlichen gingen in getrennte Zellen
zu persönlichem Gebet und privater An-
dacht. Dann warteten wir mehrere Stunden,
ehe wir zum Gebet in den Hinrichtungs-
raum zurückkehrten.
Jetzt ist alles vorüber: Anklage, Pro-
zess und Hinrichtung. Die einzelnen stehen
nun vor dem Tribunal des Weltenrichters,
dem Ursprung aller Gerechtigkeit. Wie wird
es ihnen ergehen?
Uns allen sei dies daher eine beson-
dere Warnung, in guten und gesunden Ta-
gen den ewigen Gott mit Gleichgültigkeit
und Geringschätzung abzutun! Das rächt
sich schwer! Für jeden von uns naht früher
oder später auch die „letzte Stunde“, in der
er mit einem mehr oder weniger schuldbe-
ladenen Gewissen vor den ewigen Richter
treten muss. Und dann? -
Diese peinigende Ungewissheit hat
schon manchem verzweiflungsvolle Stun-
den bereitet.

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Demgegenüber aber sei betont, dass es
möglich ist, mit einem wunderbaren, tiefen
Gottesfrieden durchs Leben zu gehen und
selbst im Sterben zu wissen: Mir ist Erbar-
mung widerfahren! Es geht jetzt heim, zur
ewigen Heimat! Das ist Seligkeit.
(Gekürzt und frei übersetzt aus dem Englischen aus
„Der Armee- und Flottengeistliche“.)

*
Welch ein furchtbares Gottesgericht bricht
doch über Menschen, ja über die ganze
Welt herein, die die ungezählten Gottesrufe
abgewiesen hat und abweist. Unsere Zeit
lebt von den göttlicher Gerichtsvorboten.
Wir sollten gemerkt haben, dass nicht Reli-
gion Opium ist, sondern die moderne Auf-
klärung, die über diesen unentrinnbaren
Tatbestand der Gerichte Gottes hinweg-
täuscht und den modernen Menschen ver-
hindert, sich klar mit dem auseinanderzu-
setzen, was für ihn einmal das Allergewis-
seste ist: das Gericht Gottes (Hebräer 9, 27).

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Wie stehst du zu dem Erlöser,
Jesus Christus?
Wir können den vorstehenden Bericht nur
mit tiefer innerer Bewegung lesen, und wir
veröffentlichen ihn nur, weil er auch uns
heute noch etwas zu sagen hat. Auch wenn
wir eine andere Vergangenheit als diese
Männer haben, brauchen wir Vergebung.
Angesichts der Ewigkeit bleibt uns nichts
als das Vertrauen auf Gottes Barmherzig-
keit. Wir wollen mit dem lebendigen Gott
in Ordnung kommen, solange das noch
möglich ist. Gott schenkt seine Gnade allen
Menschen, die Jesus Christus als ihren Ret-
ter annehmen, sofern sie sich unter die
Hand Gottes beugen und ihre Sündenschuld
zugeben und um Jesu willen die Versöh-
nung annehmen.
Auf Golgatha standen einst drei Kreuze: das
Kreuz Christi und die Kreuze zweier Ver-
brecher. Das Kreuz der Mitte verkündet den
Sieg der Liebe. Das Kreuz zur Linken ver-
kündet den Sieg der Sünde und das Kreuz
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zur Rechten den Sieg der Gnade. Der eine
der Mörder, der seine Sünde in letzter
Stunde bereute und um Vergebung bat, er-
hielt sofort die Zusage der Begnadigung
und des Eingangs zum ewigen Leben, wäh-
rend der andere ungerettet in die Ewigkeit
ging. Auch für uns ist Rettung oder Verder-
ben einzig von unserer Stellung zu Jesus
Christus abhängig. Nach Gottes Urteil ist
unser aller Leben unzulänglich vor dem
heiligen Gott.
„Es ist hier kein Unterschied: Sie sind
allzumal Sünder und mangeln des Ruh-
mes, den sie bei Gott haben sollten.“
(nach Römer 3,22-23)

Darum sind wir alle aufgerufen, Christus zu


unserer Versöhnung mit Gott anzunehmen.
Verbreitung christlicher Schriften, Biel 8 (Schweiz)

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