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I.

In Rumänien

Kindheit und Armut

Am 24. März 1909 wurde ich in Bukarest, Rumänien, geboren. Mein Vater starb als ich 9 Jahre
alt war. In unserer Familie war das Geld immer knapp, und oft genug auch das Brot. Ein
Bekannter wollte mir einmal einen Anzug schenken, doch als wir in den Laden kamen und der
Kaufmann seine Ware brachte, sagte er: "Das ist viel zu schön für einen solchen Jungen." Ich
kann mich immer noch an seine Stimme erinnern.
Meine Schulausbildung war recht mangelhaft, doch wir hatten viele Bücher zu Hause. Noch ehe
ich zehn Jahre alt war, hatte ich sie alle gelesen und wurde genau so ein großer Zweifler wie
Voltaire, den ich verehrte. Da es in meiner Familie keinerlei religiöse Unterweisung gab, wurde
ich durch das Lesen atheistischer Bücher und die ständige Armut schon mit vierzehn Jahren zu
einem verhärteten Gottesleugner. Ich hasste geradezu jede Vorstellung von Religion.

Dennoch zog mich ständig etwas unerklärliches in die Kirchen. Es fiel mir schwer, an einer
vorbeizukommen und nicht hineinzugehen. Jedoch verstand ich dann nie, was in diesen Kirchen
vor sich ging. Ich lauschte den Predigten, aber sie drangen nicht zu meinem Herzen. Von Gott
hatte ich keinerlei Vorstellung, aber ich hätte zu gerne gewußt, ob irgendwo im Zentrum dieses
Weltalls ein liebendes Herz existierte. Ich hatte nur wenig Freude in meiner Kindheit und Jugend
erfahren. Deshalb sehnte ich mich danach, daß irgendwo ein liebendes Herz auch für mich
schlagen möchte.Ich war ein Atheist, aber der Atheismus gab meinem Herzen keinen Frieden.

Als ich erwachsen war, trat ich ins Geschäftsleben in Bukarest ein. Meine Sache machte ich gut.
Noch keine fünfundzwanzig Jahre alt, hatte ich bereits eine Menge Geld zur Verfügung. Ich gab
es in prunkvollen Bars aus und für die Mädchen von Klein-Paris, wie man die Hauptstadt nannte.
Nach den Folgen fragte ich nicht, solange nur mein Hunger nach immer neuen Reizen gestillt
wurde. Das war ein Leben, um das mich viele beneideten. Doch mir selbst brachte es nur
Herzeleid. Ich wußte, daß ich in mir etwas achtlos zerstörte, was gut war und für andere genützt
werden sollte.

Auch nach meiner Heirat jagte ich weiter nach Vergnügungen, log, betrog und tat anderen
Menschen weh. Da mein Körper durch die Entbehrungen der Kindheit geschwächt war, führte
dieses ausschweifende Leben dazu, daß ich mit siebenundzwanzig Jahren an einer Tuberkulose
erkrankte. Zu jener Zeit war die Tb noch eine fast unheilbare Krankheit, und eine Zeitlang sah es
so aus, als würde ich sterben. Ich hatte Angst.

In einem Sanatorium auf dem Land kam ich zum ersten Mal in meinem Leben zur Ruhe. Ich lag
da, schaute in die Baumkronen und dachte über die Vergangenheit nach. Sie tauchte in meinem
Gedächtnis wie Szenen aus einem grausigen Schauspiel auf. Meine Mutter und meine Frau
weinten um mich, und viele schuldlose Mädchen hatten ebenfalls geweint. Ich hatte verführt,
verleumdet, gespottet und geprahlt, nur um Eindruck zu schinden. Da lag ich nun, und die Tränen
kamen mir.

In diesem Sanatorium betete ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gebet eines Atheisten.
Ich sagte etwa: "O Gott, ich weiß, daß es dich nicht gibt. Falls es dich doch gibt, so ist es deine
Sache, dich mir zu offenbaren. Es ist nicht meine Pflicht, nach dir zu suchen.“

Nach einigen Monaten ging es mir etwas besser und ich siedelte in ein Bergdorf über, um mich
weiter zu erholen.

Ein Deutscher zeigt einem Juden den Weg zu Christus


Man schrieb das Jahr 1937. Hitler war an der Macht. In einem kleinen Bergdorf in Siebenbürgen
betete der betagte Zimmermann Christian Wölfkes täglich folgendes Gebet: „Oh Herr, laß mich
nicht eher sterben, bis ich einen Juden zu Christus geführt habe, weil Jesus vom jüdischen Volk
kam. Aber ich bin arm, alt und krank. In meinem Dorf sind keine. Bringe du einen Juden in mein
Dorf, und ich will mein Bestes tun, um ihn zu Christus zu führen.“

Der erste Jude, der in jenem Frühling in das Dorf kam, war ich selbst. Nachdem Wölfkes sich mit
mir angefreundet hatte, gab er mir eines Tages eine Bibel. Ich hatte schon vorher die Bibel
gelesen, aber sie hatte nie Eindruck auf mich gemacht. Aber die Bibel, die ich jetzt in der Hand
hielt, war von anderer Art. Erst später entdeckte ich ihr Geheimnis. Wölfkes und seine Frau
verbrachten Stunden damit, für meine Bekehrung zu beten. So war diese Bibel eigentlich nicht in
Buchstaben, sondern in Flammenzeichen der Liebe geschrieben. Ich konnte sie nur mit Mühe
lesen. Die Tränen begannen jedesmal zu fließen, wenn ich mein schlechtes Leben mit dem
Leben Jesu verglich, meine Unreinheit mit seiner Reinheit, meinen Haß mit seiner Liebe.

Wölfkes ließ die Bibel und seine Gebete in meinem Herzen wirken. Er sprach kaum mit mir.
Instinktiv wußte er, was so viele ausgebildete Missionare nicht wissen, daß die wirksamste
missionarische Methode in der Zurückgezogenheit, dem Schweigen und dem konzentrierten
Gebet liegt, um der Seele, die man gewinnen will, Frieden zu geben. Man soll zufrieden sein, daß
man ein Samenkorn ausgestreut hat. Dieses wird mit der Zeit Wurzeln schlagen und wachsen.

Eine lange Zeit verging, bis der alte Mann mich eines Abends besuchte. Er redete in einfachen
Worten mit mir, Worten, die von Herzen kamen, über Dinge, die ein Jude hätte wissen müssen:
über die Erfüllung der messianischen Verheißungen in Jesus; von Jesu sanfter Aufforderung, mit
der er sein Volk rief; von der Liebe, die Gott immer noch zu den Juden hat um ihrer Vorväter
willen, die Träger des Glaubens waren.

Gott öffnete mein Herz, so daß ich imstande war dem Evangelium zu glauben. So gab dieser
bescheidene Zimmermann den ersten Anstoß zu meiner Bekehrung. Später trat auch meine Frau
dem Glauben bei. Sie führte andere Seelen mit sich, die wiederum andere brachten, und so ging
es weiter, bis in Bukarest eine judenchristliche Gemeinde gebildet wurde, die viele Jahre kräftig
gedieh.

In diesen ersten Tagen meines Glaubens kam mir plötzlich ein Erlebnis aus meiner Kindheit ins
Gedächtnis. Ich hatte es völlig vergessen, aber in meinem Unterbewußtsein war es doch fest
verankert. Es war meine allererste Begegnung mit Jesus.

Meine erste Begegnung mit Jesus

Da ich von nichtpraktizierenden jüdischen Eltern aufgezogen wurde, hörte ich in meiner Kindheit
weder ein schlechtes noch ein gutes Wort über Jesus. Er war mir gänzlich unbekannt.

Eines Tages, als ich mit einem anderen Burschen auf dem Weg nach Hause war, blieb er vor
einer Kirche stehen und sagte: „Warte einen Moment auf mich. Mein Vater hat mich gebeten,
dem Priester etwas zu sagen." Ich sagte: „Ich gehe mit Dir hinein.“ Und so überschritt ich zum
ersten Mal die Schwelle einer Kirche. Ich war tief beeindruckt. Zuerst sah ich das Bild eines
Mannes, der gekreuzigt worden war. Ich hatte keine Ahnung, wer dieser Mann war, aber er
mußte schlecht gewesen sein, sonst hätte man ihm dies nicht angetan. Als Kind wurde ich oft
geprügelt, und wahrscheinlich verdiente ich es auch. Aber dieser Mann, der überall blutete und
mit Nägeln an ein Kreuz befestigt war, - warum?
Ich sah auch das Bild einer wunderschönen jungen Frau, die mich mit großer Liebe ansah. Einen
solchen Ausdruck war ich nicht gewöhnt. Vielmehr wurde ich ja verachtet, weil ich ein jüdischer
Junge war, dazu noch ärmlich gekleidet, dünn, zart und klein. Ich war ungeliebt. Aber diese Frau
liebte mich. Von diesem Augenblick an liebte ich sie auch. - Ich frage mich heute noch, warum
manche Christen niemals mit Liebe an Maria denken. Die Bibel sagt: „Alle Generationen werden
sie Gesegnete nennen". Warum tun wir es nicht?

Die Vernunft sagt mir, daß ich nicht wirklich den Gekreuzigten oder die Jungfrau sah, sondern nur
eine Darstellung. Zu dieser Zeit hatte ich den Eindruck, wirkliche Personen zu sehen. Es war
eines von mehreren existentiellen Erlebnissen meines Lebens. Ich war damals 8 - 9 Jahre alt.

Der andere Junge sprach mit dem Priester, der dann zu mir herüberkam und mir den Kopf
streichelte. Seine Berührung tat mir wohl, denn ich war ein ungestreicheltes Kind. Dann fragte er
mich: „Was kann ich für dich tun, kleiner Mann?" Ich war verlegen, weil ich dachte, daß es mir
vielleicht nicht erlaubt sei, an diesem fremden Ort zu sein. Ich antwortete: „Nichts“. Er sagte: „Das
kann nicht sein. Ich gehöre zu Jesus, der uns gelehrt hat, niemanden an uns vorbeigehen zu
lassen, ohne ihm etwas Gutes zu tun. Es ist Sommer und draußen ist es heiß. Ich werde dir
einen Becher kalten Wassers bringen.“
Jesus - was für ein merkwürdiges Wesen! Wahrscheinlich hatten alle anderen Menschen, die ich
bis dahin getroffen hatte, seine Lehren nicht gekannt. Sie gaben mir kein Spielzeug, keine
Schokolade. (Wenn andere Kinder Schokolade aßen, leckte ich das Papier ab, in dem sie
eingepackt war). Jetzt verwandelte Jesus das Wasser, das ich erhielt, in „Wein“. Ich war
überwältigt.
Wie ich viel später heraus fand, war es eine orthodoxe Kirche, und der Name des Priesters war
Cavane.

Isaak Feinstein

Ein anderer Mann, der für mich eine besondere Rolle spielte, war Isaak Feinstein. Er verkörperte
einen der größten Siege, den die Gnade Jesu im jüdischen Volk errang.

Zur Zeit seiner Bekehrung war er ein kleinerer Geschäftsmann. Eines Abends hörte er in einer
christlichen Versammlung die Botschaft Jesu. Er glaubte sofort. Als er heimkam, rannte er in das
Schlafzimmer seiner Eltern, weckte sie und rief: „Ich habe den Messias gefunden!“

Von jenem Abend an schwankte er nie mehr in seinem Glauben, obwohl er auf großen
Widerstand seitens seiner Familie stieß. Sein Vater, ein frommer Jude, versuchte ihn zu
überreden, Jesus zu verleugnen. Als das erfolglos blieb, veranlaßte er, daß die Zeremonie
ausgeführt würde, die von den Rabbinern in solchen Fällen vorgeschrieben ist. Er erklärte, sein
Sohn sei tot, führte eine symbolische Beerdigung mit einem Sarg durch, in den man den Zweig
eines Baumes gelegt hatte, zerriß seine Kleidung und weinte mit seiner Familie sieben Tage lang
um den Sohn.
Isaak aber ließ sich in Polen als Missionar ausbilden, trat der Norwegischen Israelmission in
Galatz bei, predigte im ganzen Land und veröffentlichte unzählige Schriften. So wurde er eine
bekannte Persönlichkeit unter den Jüngern Jesu, eine Säule im Tempel Gottes.
Als der Krieg ausbrach, war er gerade siebenunddreißig Jahre alt und Pastor einer von ihm in
Jassy gebildeten jüdisch-christlichen Gemeinde. Von dort aus verbreiteten sich seine guten Taten
über das ganze Land.

Jom-Kippur 1937

1937, am Nachmittag vor Jom-Kippur, dem großen jüdischen Tag der Reue und des Fastens,
war ich in Feinsteins Büro. Meine Seele wurde zutiefst gequält. Doch Feinstein sagte mit seinem
unnachahmlichen Lächeln: „Lassen Sie sich nicht von dem leiten, was Sie sehen. Die Juden, die
vor zweitausend Jahren lebten, erkannten in Jesus nichts, was ihn ehrenwert erscheinen ließ,
obwohl er die Verkörperung Gottes war. Wenn ein Mensch nicht wiedergeboren wird, kann er das
Reich Gottes nicht erkennen.“

Schließlich überredete Feinstein mich noch, ihn zu einer Versammlung zu begleiten, die für
Juden abgehalten wurde. Dort wurde ich während der Gebetszeit unwillkürlich vom Geist Gottes
erleuchtet. Verwundert hörte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben in einer öffentlichen
Versammlung laut beten. Ich vernahm meine Worte, aber es schienen nicht die Worte zu sein,
die ich formuliert hatte. Sie kamen aus der Tiefe meiner Seele, zu der mein Ich gewöhnlich
keinen Zugang finden kann. Ich betete jiddisch, die jahrhundertealte Sprache meines leidenden
Volkes, eine Sprache, die ich sonst nie sprach. Dies zeigte mir, daß sich tief in meinem Innern
etwas gerührt hatte.

Diesen Vorabend des Jom-Kippur 1937, des großen Versöhnungstages, betrachte ich als den
Tag meiner Wiedergeburt.

Mission unter Juden

In dem im Jahre 1881 gegründeten Königreich Rumänien lebten in der ersten Hälfte unseres
Jahrhunderts ungefähr sechshunderttausend Juden, hauptsächlich in den größeren Städten.

Bis 1919 durften sie kein Land besitzen, und in den Waffenstillstandsverhandlungen am Ende
des 1. Weltkrieges, im Vertrag von Trianon, waren es die Deutschen, die darauf bestanden, daß
in Rumänien auch der jüdischen Minderheit die Bürgerrechte und die völlige Gleichberechtigung
gewährt würden. Eine Missionsarbeit unter Juden gab es schon seit 1891. Besonders die
norwegische Israelmission war eine anerkannte Arbeit, mit Schwerpunkten in Galatz und Jassy,
wo es viele arme Juden gab.

1893 kam der deutsche Pfarrer Otto von Harling nach Galatz, einer Stadt mit über
hunderttausend Einwohnern. Von Harling gründete dort eine Schule für jüdische Mädchen, da es
damals in Rumänien mit Schulen schlecht bestellt war. Es dauerte nicht lange, bis die Schule
einen guten Ruf hatte. Die Schülerinnen lernten auch Deutsch, eine Sprache, die damals unter
den etwas gebildeteren Juden viel gebraucht wurde.

Jeden Sonntagnachmittag hielt von Harling einen Gottesdienst in der Schule für die Schülerinnen
und andere Gäste. Die Arbeit erweiterte sich ständig, und Lehrer und Krankenschwestern aus
Norwegen waren die tragenden Säulen. Aus der kleinen Schule wurde in den folgenden vierzig
Jahren eine im ganzen Lande bekannte Missionsstation mit dem Namen "Eben-Ezer". Die Arbeit
erforderte nun einen vollamtlichen Seelsorger, den man bei dem Missionsvorstand in Norwegen
beantragte. Doch kein norwegischer Theologe war zu finden. So wurde auf Empfehlung des
englischen Pastors Adeney in Bukarest der junge Judenchrist Isaak Feinstein aus Bukarest
angestellt. Er hatte zuerst eine Missionsschule in Warschau und später für ein halbes Jahr in
Leipzig das bekannte "Institutum Judaicum Delitzschianum" besucht, wo Missionar von Harling
einen starken Eindruck auf ihn machte.

Feinsteins Frau Lydia war geborene Schweizerin und Lehrerin an einer der englischen
Missionsschulen in Bukarest gewesen. 1930 kamen beide nach Galatz und arbeiteten in "Eben-
Ezer".

Magne Solheim

Im Jahre 1937 bekam Isaak Feinstein Hilfe in dem norwegischen Missionar Pastor Magne
Solheim, der wiederum von Richard Wurmbrand tatkräftig unterstützt wurde. Pastor Solheim
nannte Wurmbrand oft ‘Sturmbrand’ und beide arbeiteten, obwohl sie in ihrer Art
grundverschieden waren, bis zum Jahre 1948 zusammen. Pastor Solheim schildert in seinem
Buch Im Schatten von Hakenkreuz, Hammer und Sichel - Judenmissionar in Rumänien von 1937
– 1948 Richard Wurmbrand als einen in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Menschen.

"Im Februar 1939 war ich Taufpate für Wurmbrands Sohn Mihai. Als ich zur Taufe nach Bukarest
kam, stand Richard Wurmbrand auf dem Bahnhof. Er ging auf dem Bahnsteig ungeduldig auf und
ab. Sein ganzes Gesicht strahlte, und er schlenkerte mit den Armen. Man konnte deutlich
erkennen, daß er etwas Erfreuliches auf dem Herzen hatte. Ich war kaum aus dem Zug
ausgestiegen, als er anfing, von einem Mädchen aus der Schweiz zu erzählen, von dem er
unendlich viel Gutes zu berichten wußte. Ein besseres Mädchen könnte ich nicht finden, - worin
er, wie so oft, recht behielt . . .

Am 26. Juni 1939 wurden Cilgia Gees und ich getraut. Als ich Cilgia heiratete, bekam ich eine
unschätzbare Hilfe bei der Arbeit. Sie stammte aus der Schweiz und war einige Monate nach mir
als Sprachlehrerin für Englisch, Französisch und Deutsch an eine der englischen
Missionsschulen in Bukarest gekommen.
Er, Richard, ist einfach der begabteste Mann, den ich je getroffen habe, in Wahrheit ein Genie. Er
wuchs ja in großer Armut auf und erhielt nur wenig Ausbildung. Während vieler Jahre arbeitete er
als Büroangestellter, doch es war unglaublich, wieviel er las und studierte. Nur wenige wußten
über den Marxismus soviel wie er, da er ja selbst einmal ein überzeugter Kommunist gewesen
war. Nachdem er dann 1937 in Siebenbürgen eine Christusbegegnung hatte, widmete er sich mit
großem Eifer und Gründlichkeit dem neuen Glauben. Seine erste seelsorgerliche Hilfe erhielten
er und seine Frau von dem Missionar Feinstein und den englischen Pfarrern Ellison und Adeney,
die auch die beiden im März 1938 tauften. Nach einiger Zeit wurde Wurmbrand als Mitarbeiter
der englischen Mission "Church Mission to the Jews" in Bukarest angestellt.
Als 1941 die Engländer das Land verließen, verblieben er und seine Frau allein mit der ganzen
Arbeit.

Es war ganz unglaublich, wieviel Bibelkenntnis und Theologie Wurmbrand sich in wenigen Jahren
angeeignet hatte. Er hatte eine Bibel, in der nach jedem bedruckten Blatt ein weißes,
unbedrucktes folgte, und bald waren die weißen Blätter seiner Bibel alle vollgeschrieben. Er
lernte Griechisch, - Hebräisch konnte er ja schon von früher-, so daß er die Bibel in den
Ursprachen lesen konnte. In der englischen Mission war eine große Bibliothek mit guten
theologischen Büchern. Diese Bücher waren für ihn von großer Hilfe, und er brauchte nicht lange,
um ein Buch zu lesen. Wenn er zu Bett ging, nahm er gleich mehrere Bücher mit, und am
nächsten Morgen hatte man den Eindruck, daß er sie alle durchgeblättert und dabei die
Quintessenz erfaßt hatte. Seine bevorzugte Lektüre war Luther. Niemand konnte ja so wie Luther
zu einem Gewissen reden, das sich von Sünden beladen fühlte. Wurmbrand sprach Rumänisch,
Deutsch, Französisch, Russisch, Ungarisch, Englisch und Jiddisch, und mit unglaublicher
Geschwindigkeit konnte er das, was er wollte, in der einen oder anderen Sprache auf der
Schreibmaschine tippen.
Er konnte sich schlagartig für eine Sache begeistern, und wenn er zum Beispiel mit russischen
Christen in der Roten Armee in Kontakt kam, und hörte dann, was sie über ihr Land erzählten,
dann schmiedete er sofort Pläne, um dort irgendwie helfen zu können. Oft waren solche
Überlegungen einfach unrealistisch, aber dank seiner ruhigen und begabten Frau Sabina war er
auch schnell wieder „zur Vernunft gebracht“.
Eines Tages kam Frau Wurmbrand nach Galatz mit der Bitte ihres Mannes, wir müßten
unbedingt nach Bukarest übersiedeln, denn Bukarest war nach dem Krieg mit über 100 000
Juden zu einem der größten Judenzentren Europas geworden. Ich erzählte ihr offen von den
Zweifeln, die ich bezüglich einer harmonischen Zusammenarbeit hatte. Einige Tage später erhielt
ich einen Brief von Wurmbrand. Er schrieb, wenn wir in einer Zeit wie dieser nicht
zusammenarbeiten könnten, in der wir ja sehen müßten, wo eigentlich strategisch gesehen unser
Arbeitsfeld lag, dann sollten wir beide aufhören das Evangelium zu verkündigen und lieber
Schuster werden.
Er versprach, falls wir nach Bukarest kämen, werde er alles in seiner Macht Stehende tun, um
wirklich mit mir zusammenzuarbeiten, und in allen Zweifelsfällen sollte meine Meinung gelten. Nie
hat es uns leid getan, daß Cilgia und ich uns überzeugen ließen, und noch heute gibt es Leute,
die davon sprechen, was für eine harmonische Zusammenarbeit wir in Bukarest hatten.“
– Soweit Pfr. Magne Solheim -

Auf der Suche nach des Vaters Haus

Es wurde mir schnell bewußt, daß die Lehre Jesu nicht klar und deutlich auf eine Seite
geschrieben werden kann, die schon mit anderen Buchstaben beschrieben ist. Ein völliger Bruch
mit dem Vergangenen ist notwendig, sowie ein vollkommener Neubeginn, dessen Voraussetzung
eine dauernde und kompromisslose Überwachung der eigenen Gedanken ist.

Mich selbst verwunderte diese Veränderung am meisten, war ich doch einst ein kämpferischer
Atheist gewesen, der tatkräftig anarchistische Unruhen unterstützt hatte. Mein Wille war nicht frei,
als diese Veränderung vor sich ging. Ich war gezwungen, mich zu bekennen. Alles geschieht mit
der Gnade Gottes. So, wie es in der Natur einen biologischen Zeitplan gibt, der den Ablauf
bestimmt, wann ein junger Vogel dem Ei entschlüpft, sich den Zugvögeln anschließt und zu
einem festgelegten Zeitpunkt zurückkehrt, ebenso wie es eine biologische Uhr im physischen
Leben des Menschen gibt, existiert, so glaube ich, auch ein geistlicher Zeitplan. Für jeden von
Gott Auserwählten gibt es eine besondere, vorherbestimmte Stunde, in der er den Sohn Gottes
erkennt, der schon immer in ihm weilte, der aber geduldig auf den Augenblick wartete, da Er sich
offenbaren soll. In dieser besonderen Stunde vereinen sich innere und äußere Faktoren, die vor
langer Zeit vorbereitet worden sind, um diese Wiedergeburt zu veranlassen.

Ich hatte mich entschlossen, Jesus in Treue zu dienen. Der Mensch aber, der diese
Entscheidung getroffen hat, muß erst das wahre Gesicht Jesu unter den unzähligen
Fälschungen, die sich im Laufe der Zeit angehäuft haben, finden.Bevor ich nun meinen Weg als
Christ begann, versuchte ich mich, über die unterschiedlichen Konfessionen so gut wie möglich
zu informieren. Aber es war nicht leicht, irgendeine Wahl zu treffen. Die Kirchengeschichte ist voll
von geistigen Auseinandersetzungen und Streben nach Ruhm und Reichtümern. Das Wort
Gottes wurde benutzt, um vergängliche politische Interessen zu fördern und um die Wahrheit mit
Missetaten zu ersticken. Und bis heute haben einige Glaubensrichtungen die Parole, die Hitler
einst so formulierte: ‘Wo wir sind, ist für andere kein Platz’.

Nach langem Umherirren hatte ich endlich gefunden, was ich suchte:
Mein Bekenntnis ist die Liebe.
Meine Brüder und Schwestern sind all jene, die einander lieben - ganz gleich welcher Konfession
sie angehören.
Mein Herr ist Jesus, denn er ist die Verkörperung der Liebe. "Die Liebe ist von Gott" und "wer
liebhat, der ist von Gott geboren" (1. Joh. 4,7)."So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung"
(Römer 13,10). "Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem: Liebe deinen Nächsten
wie dich selbst" (Gal. 5,14). Ebenso Matthäus 22,37-40.
So hatten wir es erst lernen müssen, das Wichtigste in der Lehre der Bibel - die Liebe - vom
Unwichtigeren zu unterscheiden.

Die meisten christlichen Juden, die später unsere Bukarester Gemeinde ausmachten, nahmen
dieselbe überkonfessionelle Haltung an, obwohl unsere Kirche nominell lutherisch war.

Isaak Feinsteins Ende

Dann kam die Nazizeit. Wir hatten viel zu leiden. Meine Frau und ich wurden mehrmals verhaftet,
geschlagen und vor Nazirichter gezerrt. Feinstein stattete uns in Bukarest einen kurzen Besuch
ab. In Jassy war die Atmosphäre vom Antisemitismus angesteckt und von einem drohenden
Pogrom überschattet. Ich machte den Vorschlag, er solle nicht nach Jassy zurückkehren, wo der
Tod auf ihn lauere.

Feinstein antwortete: "Es ist die Pflicht des Hirten, zusammen mit seiner Herde zu sterben. Ich
weiß, daß sie mich töten werden, aber ich kann meine Brüder nicht im Stich lassen. Ich werde
nach Jassy zurückfahren."

Am 28. Juni 1941, ein paar Tage nach seiner Rückkehr, brach der Pogrom aus. Die Zahl der
getöteten Juden betrug elftausend. Tausende wurden in verschlossenen Viehtransportern
zusammengepfercht und unter der sengenden Sonne abtransportiert - ohne einen Tropfen
Wasser -, so daß die meisten erstickten. Unter ihnen war auch Feinstein. Die wenigen
Überlebenden wurden in einem Konzentrationslager interniert. Einige von ihnen berichteten, wie
sich Feinstein, als er erkannte, daß der Tod unmittelbar bevorstand, an einen unweit von ihm
stehenden Rabbiner wandte und zu ihm sagte: "Es ist Zeit für uns, die Psalmen zu singen!" Er
starb, während der Rabbiner laut die Psalmen sprach. Bis zuletzt erklärte Feinstein, was diese
Psalmen über Jesus prophezeiten. Als er erstickte, ruhte sein Kopf auf der Schulter des
Rabbiners. Der Rabbiner selbst starb nur wenige Minuten später.

Nicht ein einziges Mitglied der jüdisch-christlichen Gemeinde in Jassy überlebte. Nur ein paar
Mädchen kamen mit dem Leben davon.

Unser Dienst am Jüdischen Volk

Die Juden litten während des Krieges so sehr, daß, wären wir nur unserem Gefühl gefolgt, wir
nichts anderes getan hätten, als sie zu umarmen und zu trösten. Und wann immer Gelegenheit
war, etlichen zur Flucht zu verhelfen, taten wir es. Aber damit konnten wir uns nicht zufrieden
geben. Der Prophet Jeremia lebte zur Zeit der heftigsten babylonischen Angriffe, die den Beginn
der Zerstörung des jüdischen Staates kennzeichneten; er machte damals den Juden Vorwürfe
wegen ihrer Sünden. Jesus, der von manchen als ein neuer Jeremia bezeichnet wurde, warf den
Juden ebenfalls ihr sündhaftes Leben vor, als sie unter der ungerechten Herrschaft der Römer
litten. Sowohl Jeremia als auch Jesus wurden von ihren Zeitgenossen für Verräter ihres Volkes
gehalten. Wir befanden uns in der gleichen Lage wie die Propheten in den alten Zeiten:
Verzweiflung, grausame Unterwerfung und furchtbare Leiden hatten die Herzen der Juden zu
Stein werden lassen. Unaufhörlich stieg ihr Schrei empor: "Gott soll ein anderes Volk wählen. Wir
sind es müde, sein Volk zu sein!"
Andererseits aber war die kleine Gruppe christlicher Juden von der Wahrheit des Ausspruches
Jesu überzeugt, daß das Heil von den Juden kommen muß, und daß die Juden eine Aufgabe zu
erfüllen haben und verpflichtet sind, sie zu erfüllen . . .

Unser Gedankengang war einfach: Bereits vor viertausend Jahren erhielten die Juden die Zehn
Gebote, die moralische Grundlage. Ihnen wurde offenbart, daß Gott der Eine Gott ist und daß
Gott von den Menschen eine Bruderschaft freier Männer und Frauen verlangt - eine von Liebe
und Wahrheit geleitete Gemeinschaft. Er versprach ihnen auch einen Messias, der schließlich ein
solches Königreich errichten würde. Die Juden waren das von Gott erwählte Volk, das allen
Völkern diese Offenbarung überbringen sollte. Gott rüstete sie mit den Eigenschaften aus, die sie
brauchten, um ihre Mission ausführen zu können.

Doch fast zweitausend Jahre nach Mose hatte die Welt noch immer nichts von dieser
Offenbarung gehört. Julius Cäsar schrieb in seinem Werk 'De Bello Gallico', daß die Gallier, die
Vorfahren der heutigen Franzosen, noch immer aus den Schädeln ihrer besiegten Feinde Wein
trinken würden. Zu jener Zeit waren auch die Teutonen und Slawen noch wilde
Völkerschaften . . .
Und doch erlebten wir immer wieder das göttliche Wunder - selbst als die antisemitische Tyrannei
ihren Höhepunkt hatte - daß etliche den Glauben an Christus empfingen. Dem äußeren Anschein
nach waren sie erniedrigte und in tiefes Elend gestoßene Menschen, und doch hatten sie die
große Mission der Juden erkannt. Sie hatten Jesus als den König ihres Volkes akzeptiert, dessen
Aufgabe es war, das Licht Gottes in die Welt zu tragen. Voller Freude bekannten diese Juden
sich nun zu ihrem neuen Glauben - gemeinsam mit ihren Brüdern: Rumänen, Ungarn und
Deutschen, die zusammen mit ihnen das geistliche Israel bildeten.

Die Bekehrten kamen nicht aus den gefeierten Kreisen des Judaismus. Aber auch Jesus
sammelte Seine Apostel nicht unter den Höchsten des Landes. Maria Magdalena war eine
Prostituierte. Auch wir hatten Frauen dieser Art. Matthäus und Zachäus hatten Geld veruntreut
und Saulus von Tarsus hatte einem Mord untätig beigewohnt. Und die meisten Apostel waren
ungebildete Handwerker. Im allgemeinen führten wir mit den Menschen keine langen Gespräche,
sondern verkündeten die Wahrheit, anstatt darüber lange zu diskutieren. Wir offenbarten eine
Wahrheit, die jeder von uns im Grunde unwissentlich in sich trägt, weil die menschliche Seele von
Natur aus christlich ist. Deshalb appellierten wir an das Gewissen und nicht an den Verstand,
denn die Geburt der tiefsten Überzeugungen eines Menschen ist nicht das Ergebnis eines
Gedankenganges. Sondern jenseits der Welt der Erscheinungen, die wir mit unseren Sinnen
wahrnehmen, liegt die wirkliche, unsichtbare und wesentliche Welt, das Unterbewußtsein. Dort
wirkt das Göttliche, und was in unserer Natur zu sehen ist, wird davon regiert.

Ich bin davon überzeugt, daß mein persönliches Leben und das aller seiner Kinder von Gott
geplant worden ist und zwar bis in das kleinste Detail. Es dient Gottes Zweck und ich darf
zuversichtlich sein, selbst wenn ich nichts verstehe. Wer von Anfang an dazu ausersehen war,
erlöst zu werden, der kam zu uns. Das jüdische Volk ist nicht das einzige auserwählte Volk. Gott
hat vielen Völkern besondere Berufungen zuteil werden lassen.

Das römische Volk war auserwählt, der ganzen Welt die Rechtsprechung zu schenken. Wo
immer in der Welt Gerechtigkeit regiert, steht das römische Recht an erster Stelle. Wo das
römische Recht nicht existiert, erhebt die Ungerechtigkeit ihr Haupt.

Den Griechen war es vorbehalten, der Welt die Philosophie zu schenken. Man sagt, seit dem Tod
der großen griechischen Denker habe es in der Philosophie keine neuen Ideen mehr gegeben,
sondern die Menschen hätten statt dessen nur immer wieder die Weisheit der alten Griechen
wiedergekäut.

Den Deutschen und den Italienern verdankt die Welt großartige Musik;
die Deutschen und die Angelsachsen haben für uns die moderne Technik geschaffen.

Die Schweizer sind von Gott dazu auserwählt worden, der Welt zu zeigen, wie verschiedene
Nationen, die sich in anderen Teilen der Welt als Feinde gegenüberstehen, harmonisch
zusammenleben können.

Die Briten waren ausersehen, die großen missionarischen Vorhaben in die Tat umzusetzen und
alle Nationen mit der Bibel vertraut zu machen.

Jedes Volk hat die Pflicht, seine besondere Aufgabe zu erkennen.

Die Juden lehnten ihren Messias ab und tun es auch heute noch, obwohl die Geschichte den
Beweis erbracht hat, daß ER derjenige war, der die den Juden anvertraute Aufgabe bis zur
Vollkommenheit erfüllt hat: der Welt ein Licht zu sein.

Den Prophezeiungen Jesu zufolge ist der Weinberg einem anderen Volk übergeben worden.

Menschen aller Nationen, die in die Fußstapfen Abrahams, Isaaks, Jakobs, Mose, der Propheten
und Jesu treten, bilden zusammen das geistliche Israel.
Sie haben unser vernachlässigtes Erbe übernommen und verbreiten nun in der ganzen Welt das
Licht.
Aber auch aus dem jüdischen Volk gibt es in dieser auserwählten Schar, diesem königlichen
Priestertum und in dieser internationalen Bruderschaft der Liebe etliche Anhänger Jesu.

Doch die Beiseitesetzung des jüdischen Volkes ist zeitlich begrenzt.

Paulus sagt es so:


"Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Das sei ferne! Blindheit ist Israel zum Teil widerfahren, bis
daß die Fülle der Heiden eingegangen ist, und dann wird das ganze Israel gerettet werden. Und
wenn schon ihr Fall der Welt Reichtum geworden ist, wieviel mehr wird es Reichtum sein, wenn
Israel in seiner ganzen Fülle gewonnen wird." Römer 11.

Und da Jesus selbst von einem Abschluß des Irrweges seines Volkes spricht, - 'Jerusalem wird
zertreten von den Heiden, bis der Heiden Zeit erfüllt ist' Lukas 21,24 - , wußten wir, daß es
unsere vorrangige Aufgabe war, unseren jüdischen Volksgenossen den Nachhauseweg zum
Vaterherzen Gottes zu zeigen.
Den Weg in den Neuen Bund, von Jesus selbst für sein Volk gestiftet, zu den Verheißungen der
Väter und der Zukunft des messianischen Friedensreiches für Israel und anschließend alle
Völker.
Und so jung ich noch im Glauben war, so stand dies doch klar vor meinem Herzensauge: Unsere
Missionsarbeit unter den Juden hatte zum Ziel, Israel für Gott zu erobern. Davor dürfen wir nicht
erschrecken, denn ER ist doch auf unserer Seite. Und Jesus selbst sagte: "Fürchte dich nicht, du
kleine Herde! Denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben" Lukas 12,32.

Und so sehe ich jetzt schon Jerusalem als die Hauptstadt der christlichen Welt.

Ich sehe den Triumph des Friedens, der Liebe, der Gerechtigkeit und des gegenseitigen
Verständnisses.

Ich sehe ein Königreich, in das Jesus zurückgekehrt ist, um die Herrschaft anzutreten. Und ich
sehe ein irdisches Dasein, das bewußt als Vorbereitungsstufe zum ewigen Leben benutzt wird.

Ich sehe Juden auf christlichen Kanzeln, wie sie den Völkern der Erde den vollkommenen Weg
zur Erlösung zeigen. Der Glaube sieht all diese Dinge, und so wird es auch sein.

In den Wirren des Krieges

Als die deutsche Armee Rumänien besetzte, hielten wir es für unsere Pflicht, aus Liebe zu
unseren Feinden eine Sonderausgabe des Johannes-Evangeliums drucken zu lassen und sie
kostenlos an deutsche Soldaten zu verteilen. Bei dieser Aktion auf den Straßen gestanden die
Soldaten unseren Brüdern, daß sie auf alles mögliche in Rumänien vorbereitet worden seien, nur
nicht darauf, von Juden das Wort Gottes geschenkt zu bekommen.

Als Bukarest bombardiert wurde, fing ich an, systematisch in Luftschutzkellern zu predigen:
dadurch erreichte ich Juden und Rumänen gleichzeitig mit dem Wort Gottes. Während der ersten
russischen Luftangriffe befand ich mich mit sechs anderen Brüdern in Haft. Wir wurden gerade
vernommen, als die Sirene ertönte. Bewaffnete Wächter brachten uns in den Luftschutzraum, wo
sich auch Richter, Rechtsanwälte und andere Leute einfanden. Als die ersten Bomben fielen,
machte ich den Vorschlag, "Wir wollen alle niederknien und ich werde ein Gebet sprechen".
Sie knieten alle nieder, auch die Offiziere und Wächter. Sie bekreuzigten sich und ich betete laut.
Dann predigte ich über die Notwendigkeit, auf die Begegnung mit Gott vorbereitet zu sein.
Ehrfürchtig hörten alle zu. Als jedoch die Entwarnung ertönte, packten uns die Wachen beim
Kragen und führten uns zurück in den Gerichtsaal. Und wieder stand ich vor dem Richter, der
noch vor einer Viertelstunde auf mein Geheiß niedergekniet war.

Nach unserer Freilassung rannten wir jedesmal, wenn wir Fliegeralarm hörten, so schnell wir
konnten in einen großen Luftschutzkeller und predigten dort. Einmal lief ich mit Schwester Olga in
den Schutzraum eines großen Wohnblocks. Obwohl es verboten war, sich nach dem Alarm noch
auf der Straße aufzuhalten, verspürte ich plötzlich einen Drang, das Gebäude zu verlassen und
einen anderen Schutzkeller aufzusuchen. Das Haus, das wir verlassen hatten, wurde von
Bomben zerstört, und begrub unter seinen Trümmern sehr viele Menschen . . .

Außerdem waren wir ständig mit Dingen beschäftigt, auf denen nach dem Gesetz die Todesstrafe
stand. So halfen wir beispielsweise zahlreichen Juden aus Ungarn, die Grenze illegal zu
überschreiten oder retteten Kinder aus Ghettos.

Mein Dienst an den Russen

Weil ich es tief bereute, daß ich ein Atheist gewesen war, wünschte ich nichts sehnlicher vom
ersten Tag meiner Hinkehr zu Gott, als den Russen ein Zeuge Jesu zu sein. Die Russen sind
heute ein Volk, dessen Menschen von Kindheit an im Atheismus erzogen werden. Mein Wunsch,
gerade Russen für das Evangelium zu gewinnen, ist erfüllt worden. Schon zur Zeit der
nationalsozialistischen Besatzung, als Tausende russischer Kriegsgefangener im Lande waren,
hatten wir eine geheime missionarische Arbeit unter ihnen. Es war eine bewegende,
erschütternde Arbeit. Ich brauchte selber nicht nach Rußland zu gehen, denn seit dem 23.
August 1944 waren über eine Million russischer Truppen in Rumänien eingerückt . . .

Der Krieg war zu Ende, aber ein neues Drama bahnte sich an. Unser Land wurde ausgeraubt.
Über die Hälfte der Handelsflotte, der Güterwagen und Kraftfahrzeuge, der landwirtschaftlichen
Erzeugnisse, des Viehbestandes und unserer Ölvorkommen wurden nach Rußland
abtransportiert. Die einstige Kornkammer Europas wurde so zum Hungergebiet.

Gleichzeitig kehrte eine Reihe von Kommunisten aus dem Moskauer Exil zurück und nahm
Einfluß auf die politische Entwicklung. Armee und Polizei wurden entwaffnet, und König Michael
entmachtet. So kamen die Kommunisten an die Macht, entsprechend der Abmachung der
"Großen Drei" auf der Moskauer Konferenz vom Oktober 1944.
Nachdem die Kommunisten einmal an die Macht gekommen waren, gebrauchten sie meisterhaft
das Mittel der Täuschung gegenüber den Kirchen. Denn die Sprache der Liebe und die Sprache
der Verführung klingen gleich. Derjenige, der ein Mädchen zur Frau nehmen will, und derjenige
der es nur für eine Nacht begehrt, beteuern beide: "Ich liebe dich".

Jesus mahnt uns in seinem Wort, die Sprache der Verführung von der Sprache der Liebe zu
unterscheiden und einen Unterschied zu machen, zwischen Wölfen in Schafskleidern und echten
Schafen. Als die Kommunisten die Macht innehatten, wußten Tausende von Priestern, Pfarrern
und Predigern die beiden Sprachen nicht zu unterscheiden. Während dieser gewaltigen
Umwälzungen vom Faschismus zum Kommunismus ging unsere Arbeit der Seelengewinnung
ungebrochen weiter. Nach außen hin hatte ich ja eine angesehene soziale Stellung. Ich war
Pastor der Norwegischen Lutherischen Mission, und arbeitete gleichzeitig im rumänischen
Ausschuß des Weltkirchenrates. Diese beiden Ämter gaben mir einen sehr guten Stand
gegenüber den Behörden, die von unserer Untergrundarbeit nichts wußten. Diese umfaßte zwei
Arbeitsgebiete.
Das erste war die getarnte Arbeit unter den russischen Soldaten.
Das zweite Gebiet bildete unser verborgener Dienst an den unterdrückten Völkern Rumäniens.

Da ich gut russisch spreche, war es für mich ein leichtes, mit den Soldaten ins Gespräch zu
kommen. Viele junge Christen, die ebenfalls russisch sprachen, halfen mir. Heimlich druckten wir
das Evangelium und so wurden innerhalb von drei Jahren mehr als hunderttausend Bücher in
Cafés, Bars, Bahnhöfen und überall, wo Russen zu finden waren, verteilt. Etliche unserer Helfer
wurden verhaftet, doch keiner hat mich verraten. Die Zahl der Bekehrten war erstaunlich. Auch
ihre Natürlichkeit versetzte uns in Staunen.
Was die Religion anbetrifft, sind die Russen völlig unwissend. Doch es war, als hätten sie tief in
ihrem Herzen schon lange nach Wahrheit gesucht, und nun nahmen sie diese mit Begeisterung
auf. Meistens waren es junge Bauern, die auf dem Land gesät, geerntet und gearbeitet hatten.
Das Wissen darum, daß irgend jemand den Lauf der Natur lenkt, lag ihnen im Blut. Doch man
hatte sie atheistisch erzogen, und sie glaubten Atheisten zu sein, genauso wie viele Menschen
meinen sie seien Christen und sind es nicht.

Auch unter den rumänischen Kommunisten arbeiteten wir. Jedes Buch mußte durch die
kommunistische Zensur. Wir brachten Bücher heraus, welche ein Bild von Karl Marx auf der
Titelseite hatten. Dadurch dachte der Prüfer, es handele sich um kommunistische Literatur und
drückte seinen Stempel darauf. Gelegentlich ließ ein Zensor auch einmal einen Titel für eine
Flasche Brandy durchgehen. Da der Parteiausweis den Unterschied zwischen Sattsein und
Hungern ausmachen konnte, wuchs die Zahl der rumänischen Kommunisten rapide von einigen
Tausenden auf Millionen.
Sehr bald schon ließen auch bei uns die Kommunisten die Maske fallen. Am Anfang hatten sie
noch Methoden angewandt, um die Kirchenführer auf ihre Seite zu ziehen. Dann aber begann der
offene Terror. Tausende wurden verhaftet und enteignet.
Unter den neuen Bedingungen Christus zu predigen, war nicht leicht. Wir versammelten uns im
geheimen und bereiteten dort die Arbeit in der Öffentlichkeit vor. So verteilten wir unsere als
Parteilektüre getarnten Broschüren auch bei kommunistischen Großveranstaltungen. Bis der
Leser ab Seite zehn merkte, daß die Schrift statt von Karl Marx von Jesus Christus spricht, waren
wir wieder im Untergrund . . .

Bald nahm die Bekämpfung der Religion brutale Formen an. Das gesamte kirchliche Vermögen
wurde verstaatlicht und ein kommunistisches Religionsministerium kontrollierte die gesamte
Pfarrerschaft. Wer sich widersetzte wurde verhaftet. Die Gefängnisse waren mit Priestern gefüllt,
und Greuelgeschichten von ihrer Behandlung verbreiteten sich im ganzen Lande. So unterwarfen
sich die kleineren Konfessionen der Regierung und harrten auf ihr Schicksal.

Sie brauchten nicht lange zu warten, denn schon bald wurde im Parlamentsgebäude in Bukarest
ein "Religionskongress" einberufen. Dort waren viertausend Priester, Pastoren und Prediger aller
Religionsgemeinschaften versammelt. Diese wählten Josef Stalin, einen Massenmörder, zum
Ehrenpräsidenten. Und einer nach dem anderen, ob Bischof oder Pfarrer, erhob sich in unserem
Parlament und erklärte öffentlich, daß der Kommunismus und das Christentum in ihren
Grundlagen gleich seien und friedlich nebeneinander bestehen könnten. Ein Geistlicher nach
dem anderen fand preisende Worte für den Kommunismus und versicherte der neuen Regierung
die treue Mitarbeit der Kirche.

Meine Frau und ich waren auf diesem Kongress anwesend. Sie saß neben mir und sagte zu mir:
"Richard, steh' auf und wasche diese Schande vom Antlitz Christi."
Ich sagte zu meiner Frau: "Wenn ich das tue, verlierst du deinen Mann." Sie erwiderte: "Ich
möchte keinen Feigling zum Mann haben."
Da stand ich auf und sprach zu diesem Kongress, und ich pries nicht die Mörder der Christen,
sondern Christus und Gott und sagte, daß wir zuallererst Ihm unsere Treue schulden. Alle Reden
wurden auf diesem Kongress durch Rundfunk übertragen, und das ganze Land konnte die
Botschaft von Jesus Christus hören.
Später mußte ich dafür bezahlen, aber das war es wert gewesen.

Im Gefängnis

Bis zum 29. Februar 1948 war ich in zwei Funktionen tätig: in einer der Öffentlichkeit sichtbaren
und einer im Untergrund verborgenen. An jenem Sonntag wurde ich auf meinem Weg zur Kirche
von der Straße weg gewaltsam von der Geheimpolizei entführt. Ein geschlossener Wagen der
Geheimpolizei hielt unmittelbar vor mir an, vier Männer sprangen heraus und stießen mich in den
Wagen hinein. Ich blieb jahrelang verschwunden. Über acht Jahre wußte niemand, ob ich noch
am Leben oder schon tot war. Meine Frau wurde von Geheimpolizisten, die sich als entlassene
Mitgefangene ausgaben, teilnehmend aufgesucht. Sie erzählten ihr, sie wären bei meiner
Beerdigung dabei gewesen. Ihr brach das Herz. Tausende kamen zu jener Zeit ins Gefängnis.
Nicht nur Geistliche wurden in den Kerker geworfen, auch ganz einfache Bauern, junge Burschen
und Mädchen, die für ihren Glauben eintraten.
Unsagbare Folterungen

Die Folterungen waren oft sehr hart. Ich möchte lieber nicht zuviel darüber sprechen. Immer,
wenn ich es tue, kann ich nachts nicht schlafen. Es setzt mir zu sehr zu.
Ein Pfarrer mit Namen Florescu wurde mit glühenden Schürhaken und mit Messern gefoltert. Er
wurde arg zusammengehauen. Dann wurden ausgehungerte Ratten durch ein Rohr in seine Zelle
hineingetrieben. Er konnte nicht schlafen, sondern hatte nur damit zu tun, sich die ganze Zeit
über zu verteidigen. Wenn er nur einen Augenblick ausruhte, griffen ihn die Ratten sofort wieder
an. Die Kommunisten wollten ihn zwingen, seine Glaubensbrüder zu verraten. Aber er blieb
standhaft.
Schließlich brachten sie seinen vierzehn Jahre alten Sohn herbei und begannen, den Sohn vor
den Augen des Vaters zu peitschen, und drohten, ihn so lange zu schlagen, bis der Pfarrer
aussagen würde, was sie von ihm hören wollten. Der arme Mann war halb von Sinnen. Er hielt
aus, solange seine Kraft reichte. Als er es nicht mehr ertragen konnte, rief er seinem Sohn zu:
"Alexander, ich muß jetzt aussagen. Ich kann nicht länger ertragen, wie sie dich schlagen."
Der Junge antwortete: "Vater, tu mir das nicht an, daß ich einen Verräter zum Vater habe. Bleibe
standhaft gegen sie! Wenn sie mich töten, werde ich sterben mit den Worten 'Jesus und mein
Vaterland '."
Voller Wut fielen die Kommunisten über das Kind her und schlugen es zu Tode, - die
Zellenwände waren übersät mit Blutspritzern. Noch im Sterben pries er seinen Gott. Unser
Bruder Florescu aber war nach diesem Erleben nicht mehr derselbe wie vorher.

Andere wurden in Kühlfächer von Eisschränken gesteckt. Ich selber wurde in eine solche Eiszelle
gesteckt, mit kaum Bekleidung auf dem Leibe. Gefängnisärzte überwachten uns durch eine
Öffnung bis sie die ersten Symptome tödlicher Starre bemerkten, gaben dann ein Warnzeichen,
worauf Wachen herbeieilten, um uns in Empfang zu nehmen und wieder aufzuwärmen.

Auftauen, dann abkühlen bis ein, zwei Minuten vor Eintreten des Erfrierungstodes, und wiederum
auftauen. Manchmal kann ich es selbst heute nicht ertragen, einen Kühlschrank zu öffnen.

Wir Christen wurden auch in Holzverschläge gesteckt, die kaum größer waren als wir selber.
Dutzende spitzer Nägel waren in die Seitenwände getrieben und ragten mit ihren scharfkantigen
Enden in den Verschlag hinein. Wir mußten in diesen Verschlägen Stunden um Stunden stehen.
Schwankten wir vor Ermüdung, bohrten sich die Nägel in unsere Körper.

Ich habe vor dem Unterausschuss für Innere Sicherheit des amerikanischen Senats meine
Aussagen gemacht. Dort habe ich über solche furchtbaren Dinge berichtet, wie Christen vier
Tage und Nächte lang an Kreuze gefesselt waren. Die Kreuze wurden auf den Boden gelegt, und
Hunderte von Häftlingen mußten nun ihre leibliche Notdurft über den Gesichtern und Leibern der
Gekreuzigten verrichten. Das hat sich in dem rumänischen Gefängnis von Pitesti ereignet.

Das hier Geschilderte ist nur ein kleiner Ausschnitt von dem, was sich an manchen Sonntagen
dort zugetragen hat. Es geschahen auch Dinge, für die sich einfach keine Worte finden. Sie sind
zu grauenhaft und zu obszön um niedergeschrieben zu werden. Aber eure Brüder in Christus
haben sie durchlebt und müssen sie noch heute durchstehen.
Die Folterungen hielten in ihrer Brutalität ohne Unterbrechung an. Wenn ich zuweilen das
Bewußtsein verlor, um den Peinigern noch irgendwelche Hoffnung auf Geständnisse zu machen,
wurde ich gewöhnlich wieder in meine Zelle zurückverfrachtet. Dort lag ich dann halb tot und
sammelte wieder etwas Kräfte, damit sie mich von neuem bearbeiten konnten. In diesem
Stadium der Folter starben viele.
Aber irgendwie kehrten meine Kräfte immer wieder zurück. Im Laufe der Jahre brachen sie mir in
verschiedenen Gefängnissen vier Rückenwirbel und mehrere Knochen im Körper. An zwölf
Stellen brannten und kerbten sie mir tiefe Wundmale ein.

Ärzte in Oslo, die all das gesehen haben und dazu die Vernarbungen von einer
Lungentuberkulose, die ich in jener Zeit durchgemacht habe, erklärten, es sei ein reines Wunder,
daß ich überhaupt noch am Leben sei. Nach dem Stand der Wissenschaft hätte ich schon einige
Jahre tot sein müssen. Ich selber weiß nur zu gut, daß es ein Wunder ist. Gott ist ein Gott der
Wunder.
Ich glaube, Gott hat dieses Wunder getan, damit ihr meine Stimme hinausschreien hört für die
unterdrückte Kirche hinter dem Eisernen Vorhang und hinter dem Bambusvorhang und in vielen
islamischen Ländern.

Kurze Freiheit

Das Jahr 1956 kam heran. Achteinhalb Jahre hatte ich im Gefängnis zugebracht. Ich war brutal
niedergeschlagen und verspottet worden, vor Hunger fast umgekommen und bis zum Erbrechen
verhört worden. Keines von denen hatte das Ergebnis gezeitigt, auf das meine Zwingherren aus
waren. So ließen sie mich schließlich frei, zumal bei ihnen ständig Proteste wegen meiner
Inhaftierung eingingen. Unauffällig kehrte ich in meine Arbeit zurück. Meine Familie stand hinter
mir. Nun bezeugte ich wiederum das Evangelium vor verborgenen Kreisen von Gläubigen, wobei
ich wie ein Geist unter dem Geleit von Freunden zu ihnen kam und wieder verschwand.

Die drei Jahre verhältnismäßiger Freiheit nutzte ich, um ein ganzes Netz von Evangelisten für die
Untergrundarbeit auszubilden. Schließlich entdeckte die Geheimpolizei dann doch meine
Aktivitäten und am 15. Januar 1959 wurde ich erneut verhaftet.

Meine zweite Inhaftierung war in mehrfacher Hinsicht schlimmer. Ich wußte zu genau, was
meiner wartete. Mein körperlicher Zustand verschlechterte sich daher mit einem Schlage. Es war
mir streng verboten, den anderen Häftlingen Gottes Wort zu sagen. Es war ein ungeschriebenes
Gesetz, daß derjenige, der dabei ertappt wurde, eine schwere Prügelstrafe erhielt. Der folgende
Fall ereignete sich öfter: Ein Glaubensbruder war gerade dabei den anderen Gefangenen zu
predigen, als die Wächter plötzlich hereinstürzten und ihn mitten im Satz überraschten. Sie
zerrten ihn den langen Gang entlang zum "Prügelzimmer". Nach schier endlosen Schlägen
schleiften sie ihn zurück - blutüberströmt und zerschunden - und warfen ihn auf den
Gefängnisboden. Langsam richtete er seine zerschlagenen Glieder auf, ordnete seine Kleider
und sagte: "Nun, Brüder, wo war ich stehengeblieben, als ich unterbrochen wurde?" Das waren
wunderbare Erlebnisse.

Manchmal waren die Prediger einfache Laien. Schlichte Leute, aber erfüllt vom Heiligen Geist,
die das Wort mit Vollmacht verkündigten. Ihr ganzes Herz lag in ihren Worten, denn unter
solchen Strafandrohungen zu predigen war keine Kleinigkeit.

Gherla

Während meines dritten Jahres in Gherla wurde unser Leben etwas erträglicher. Wir konnten
freier reden und bekamen einige Bissen mehr zu essen. Daraus entnahmen wir, daß die
Verhältnisse in der Außenwelt wieder eine Wandlung durchmachten. Jedoch wußten wir weder,
in welcher Richtung diese Wandlung verlief, noch war es uns bewußt, daß die schwersten
Prüfungen uns immer noch bevorstanden.

Wir hatten jetzt einen neuen Kommandanten, einen Schinder mit Namen Alexandrescu. Bis vor
kurzem noch ließ man uns hungern, wir wurden geschlagen und beschimpft, aber kein Mensch
fragte nach dem, was wir dachten. "Erfindet in euren Zellen nur so viele Regierungen, wie ihr
wollt, ihr Banditen, unsere ist in Bukarest," pflegte der Kommandant zu sagen.
Doch seit einiger Zeit waren im Gefängnis Elektriker am Werk. In vielen Zellen wurden an den
Wänden Lautsprecher angebracht. Wir sollten also Rundfunk bekommen. Ein Häftling meinte:
"Es wird sich kaum um leichte Musik handeln."

Gleichzeitig begann man mit einer Reihe von Schulungsvorträgen. Uns kamen sie geradezu
albern vor. Einmal erklärte ein junger Politoffizier, daß eine Sonnenfinsternis bevorstünde. Aber
es gäbe keinen Grund zur Unruhe, da die sozialistische Wissenschaft uns ja vom Aberglauben
befreit hätte. Das Ereignis sollte am 15. Februar stattfinden, und da es die Pflicht der
Volksrepublik sei, unseren Horizont zu erweitern, dürften wir den Vorgang vom Hof aus
beobachten. Häftling Weingärtner hob die Hand: "Bitte, und wenn es draußen regnet, können wir
dann die Sonnenfinsternis in der Halle haben?" "Nein", sagte der Redner ernsthaft, und begann
mit seinen Erläuterungen von vorne.
Diese Schulungen dauerten stundenlang. Die gleichen Gedanken wurden immer wieder
eingebläut. Wenn der Tag zu Ende war, überließ man uns erschöpft und mißgelaunt unseren
eigenen Streitgesprächen.

Im Laufe der weiteren Vorträge machte ich folgende Feststellung: Wenn sie auch dem Inhalt
nach kindisch waren, so steckte doch ein raffinierter Plan dahinter. Die Redner verließen
allmählich das Thema der Politik und appellierten direkt an die vergnügungssüchtige,
verantwortungslose Seite in uns allen. Sie hielten uns vor Augen, wieviel wir im Leben
versäumen. Sie redeten über Essen, Trinken, Sex, - alles Themen, mit denen die Redner besser
vertraut waren als mit der marxistischen Dialektik.
Am Ende jeder Schulung wurde zur Diskussion ermuntert. Einmal sagte der Redner, nach dem
Tode bliebe vom Körper nur noch eine Handvoll chemischer Stoffe übrig. Ich fragte ihn: "Wenn es
sich so verhält, warum haben dann einige Kommunisten für ihre Idee ihr Leben gelassen? Wenn
ein Christ sich selbst opfert, mag dies weise erscheinen. Wenn man die vergänglichen Dinge
aufgibt, um eine Ewigkeit zu gewinnen, so ist es, als wenn man 50 Dollar investiert, um 50
Millionen Gewinn zu machen. Aber weshalb sollte ein Kommunist sein Leben opfern, - es sei
denn, auch er kann etwas für sich persönlich gewinnen?"

Der Politoffizier konnte darauf keine Antwort finden. Deshalb wies ich ihn darauf hin, die Antwort
sei schon von Augustinus gegeben worden, als er sagte: Die Seele ist von Natur aus christlich.
"Der Atheismus ist nur eine Maske für Ihre wahren Empfindungen. In der Tiefe Ihres Herzens,
welche nur erreicht wird, wenn man meditiert oder betet, glauben auch Sie, daß es einen Lohn
gibt, wenn man für eine Idee lebt. Tief in Ihrem Herzen glauben auch Sie an Gott."

"Wir wollen sehen, was Lenin dazu sagt", meinte der Redner, und las aus einem kleinen,
abgegriffenen Büchlein vor, aus dem er schon oft seine Inspirationen geschöpft hatte: "Selbst das
Liebäugeln mit der Idee eines Gottes ist eine Verseuchung der abscheulichsten Art. Alle
Unflätigkeiten, Gewaltakte und Seuchen sind bei weitem weniger gefährlich . . ." Er grinste.
"Noch eine Frage?"

"Haben Sie ein Kind," fragte ich. "Ich habe eine Tochter, die bei den jungen Pionieren ist."
"Würden Sie es denn vorziehen, daß sie von einer schrecklichen Krankheit befallen wird, als daß
sie an ihren Schöpfer gläubig wird? Das ist doch, was Lenin sagt, daß Krebs besser ist als der
christliche Glaube."

Der Politoffizier ließ mich aufstehen und schlug mir ins Gesicht. In diesem Ansturm der
Umschulung erschien eine Ohrfeige nur ein geringer Preis dafür, daß man seine
Glaubensüberzeugung offen bekennen durfte. Es war jedoch offensichtlich, daß uns noch mehr
bevorstand.
Wir hatten das Gefühl, ständig bespitzelt zu werden und wunderten uns über die stummen
Lautsprecher. Die Vorträge zeigten uns auch, daß in der politischen Haltung der Regierung unter
Gheorghiu-Dej eine Veränderung im Gange war. Eine Annäherung an den Westen, aus
wirtschaftlichen Interessen, erforderte eine neue, "demokratische" Fassade, in die das Heer der
politischen Gefangenen nicht passte. Vor einer Massenentlassung mußte jedoch unsere
"konterrevolutionäre" Denkweise mittels einer Gehirnwäsche geändert werden.

Unter den Häftlingen in Gherla herrschte jedoch Ungewissheit darüber, was bei einer
Gehirnwäsche eigentlich vor sich ginge.
Radu Ghinda, ein bekannter Autor und christlicher Schriftsteller, der seit kurzem in unserer Zelle
war, faßte unsere Empfindungen in Worte zusammen. "Wenn sie mich in 15 Jahren nicht
geändert haben, wie wollen sie es jetzt noch fertig bringen."
In diesen Tagen kamen viele neue Gefangene. Unter ihnen war der Dichter und Professor für
Theologie, Nichifor Daianu. Er kam vom Gefängnis Aiud, um bei uns seine 25 Jahre weiter
abzusitzen. Daianu hatte in Aiud schwer gelitten. Doch seine Gabe, religiöse Gedichte zu
schreiben, war ihm geblieben. So ermunterten Freunde aus der nazistischen Ära ihn, einige von
den Versen, die er in Aiud gedichtet hatte, vorzutragen. Es waren Gesänge des Schmerzes und
der Reue, schöner als alles, was er je gedichtet hatte. Seinen Antisemitismus jedoch hatte er, wie
auch sein Freund Ghinda, aus jener Zeit noch beibehalten. Der Antisemitismus hat ein sehr
zähes Leben, und die beiden waren ihm zum Opfer gefallen.

Als wir an einem Abend die Theorien über die Gehirnwäsche besprachen, spottete Ghinda
darüber: "Unsinn! Pawlow hatte den Unfug mit den bedingten Reflexen der Hunde in die Welt
gesetzt, und die Kommunisten in Korea griffen einige seiner Ideen auf, um amerikanischen
Kriegsgefangenen zu suggerieren, auf ihre Seite überzuwechseln. Aber solche Methoden
funktionieren nicht bei Menschen mit Bildung und Intelligenz. Wir sind keine Amis."

Pastor Weingärtner allerdings war anderer Meinung. "Es handelt sich um einen Stufenplan. Als
nächstes kommen die öffentlichen Schuldbekenntnisse. So haben es unsere Herren von Peking
gelernt. Unter Mao müssen die Chinesen in ihren Fabriken, Büros und auf den Straßen
Schulungen beiwohnen. Danach zwingt man sie zu einer öffentlichen Selbstanklage, ein Komplott
gegen das Proletariat geschmiedet zu haben. Wer nichts bekennt, wird als hartnäckiger
Konterrevolutionär eingekerkert. Wer etwas bekennt, bekommt dafür eine Gefängnisstrafe. Und
so versuchen die Menschen gleichzeitig zu gestehen und doch nicht zu gestehen. Einer zeigt den
anderen an, alles Vertrauen zwischen Freunden und innerhalb von Familien ist zerstört. Sie
fangen jetzt an, mit uns auf die gleiche Weise zu verfahren."

Inzwischen hatten auch die Lautsprecher ihr Schweigen gebrochen. Doch anstatt Musik kamen
Parolen: Kommunismus ist gut, Kommunismus ist gut, Kommunismus ist gut. Dies ging so die
ganze Nacht.
Tagsüber gab es dann die "Kampfversammlungen", wie wir die Vorträge nun nannten. Unser
nächster politischer Redner erzählte uns von dem neuen, wunderbaren Rumänien, das unter
dem Sechzehnjahresplan von Gheorghiu-Dej erblühte und von dem Paradies, das diejenigen
bereits genossen, welche die Partei für würdig befunden hatte. Er beschrieb uns die Vorrechte,
die getreuen Arbeitern gewährt wurden: Gutes Essen, Ströme von Wein, herrlichen Urlaub am
Schwarzen Meer, wo es von Mädchen in Bikinis nur so wimmelt . . .
In seine Augen kam ein Glanz, seine Stimme wurde belegt, als er mit hämischem Grinsen anfing,
uns Brust, Leib und Oberschenkel zu beschreiben. In seine anstößige Rede mischte er die
Freuden bei, die Wein und Reisen gewährten. Nie habe ich auf Gesichtern von Menschen
derartige gierige Wollust gesehen wie damals bei der Mehrzahl von denen, die in der großen
Halle um mich herum saßen. Ihre Menschenwürde war durch das zügellose Gerede eines
Mannes wie weggeblasen. Die nackte Begierde, die ein Teil unseres Lebenswillens ist, war auf
raffinierte Weise wiedererweckt worden.

Die nächsten Vorträge waren geprägt von Appellen an unseren Selbstbehauptungstrieb.


"Sie haben nur ein Leben, es geht schnell vorüber, wieviel bleibt Ihnen noch übrig? Machen Sie
mit uns gemeinsame Sache."

Nach diesem Appell an das 'Ego' kam der Aufruf an das 'Super-Ego', unser Gewissen, unsere
sozialen Werte und ethischen Maßstäbe. Die Redner sagten, unser Patriotismus sei falsch
gewesen und unsere Ideale ein Betrug. An deren Stelle versuchten sie nun, die kommunistische
Ideologie zu setzen.

Während der Stunden, in denen wir keine Schulung hatten, bläute uns das Tonband ein, daß der
Kommunismus 'gut' sei. Die Häftlinge stritten sich und wir alle waren mit den Nerven völlig am
Ende.
Daianu, der Dichter, war der Erste, der zusammenbrach. Am Ende eines Vortrages sprang er auf
und begann über seine Verbrechen gegen den Staat zu faseln.
"Jetzt verstehe ich, jetzt verstehe ich alles, ich habe mein Leben für einen Irrtum weggeworfen!"
Er gab seinen Eltern, die Großgrundbesitzer waren, die Schuld dafür, daß sie ihn auf die falsche
Bahn gebracht hatten.
Keiner hatte ihn aufgefordert die Religion anzugreifen, aber er verleugnete seinen Glauben, die
Religion und die Sakramente. Er tobte gegen den "Aberglauben" und lästerte Gott. Es nahm kein
Ende.

Dann stand Radu Ghinda auf und fuhr in der gleichen Tonart fort: "Ich bin ein Dummkopf
gewesen“, sagte er. "Ich habe mich von den kapitalistischen und christlichen Lügen irreführen
lassen. Nie wieder will ich meinen Fuß in eine Kirche setzen, es sei denn, um hineinzuspucken!"

Als Ghinda sich hinsetzte, rief ein zittriger, alter Mann: "Ihr alle kennt mich, - ich bin General
Silveanu von der Königlichen Armee. Ich sage mich los von meinem Dienstgrad und meiner
Regierungstreue . . . Ich habe den Ausbeutern gedient, ich habe mein Vaterland entehrt . . ."

Dem General folgte ein ehemaliger Polizeichef.

Einer nach dem anderen standen die Männer auf und plapperten ihre "Geständnisse" wie
Papageien nach.
Dies waren die ersten Früchte von Monaten des planmäßigen Aushungerns, Erniedrigungen,
Mißhandlungen und des Ausgesetztseins der Massensuggestion.

Die ersten, die nachgaben, waren Menschen, deren Leben durch persönliche Schuld bereits
zerstört war. Bald wurden die "bekehrten" Häftlinge eingesetzt, selbst Umschulungsvorträge zu
halten. Sie taten es mit Leidenschaft in dem Glauben, daß ihre Freilassung von ihren
Anstrengungen abhängig war.
Archimandrit Miron meinte: "Seltsam, daß Menschen, die früher über den christlichen Glauben
schrieben, so schnell zu Verrätern wurden."

Vielleicht lag die Antwort darin, daß Daianu und Ghinda in ihrer Dichtung Christus nur für seine
Gaben - Friede, Liebe, Erlösung - priesen.
Ein wahrer Jünger jedoch trachtet nicht nach Gaben, sondern nach Jesus selbst. Sie waren keine
Jünger Jesu, sondern seine Kunden.

1963 wurde ich wieder sehr krank und ins Gefängniskrankenhaus verlegt. Kaum eine Woche war
ich dort, als alle Patienten den Befehl bekamen aufzustehen. Wir halfen uns gegenseitig, in den
großen Hof hinauszukommen, wo man das ganze Gefängnis versammelt hatte. Stehend wohnten
wir einem Schauspiel bei, das von dazu bestimmten Häftlingen vorgeführt wurde. Es war eine
einzige Verspottung des christlichen Glaubens. Am Ende des Spieles erhob Kommandant
Alexandrescu seine rauhe Stimme, und fragte nach unserer Stellungnahme.
Daianu machte den Anfang. Ghinda folgte ihm. Ein Mann nach dem anderen stand auf und
wiederholte die Schlagworte gegen die Religion.

Als der Kommandant mich aufrief, kamen mir die Worte meiner Frau ins Gedächtnis, die sie mir
vor vielen Jahren auf dem Religionskongress sagte:
"Geh und wasche diese Schande vom Antlitz Christi !" Dadurch, daß ich schon in sehr vielen
Zellen gewesen war, war ich in Gherla gut bekannt.

Hunderte von Augen waren auf mich gerichtet. Sie alle schienen nur eine Frage zu stellen: "Wird
auch er ein Loblied auf den Kommunismus anstimmen ?"

Major Alexandrescu rief: "Los ! Reden Sie schon !" Er wußte, wenn ein Hartnäckiger
zusammenbrach, - und das war nach seiner Meinung nur eine Frage der Zeit, - dann war dies der
Beweis für seine erfolgreiche Umschulung.

Ich begann vorsichtig: "Es ist Sonntagmorgen, und unsere Frauen, Mütter und Kinder beten für
uns, in der Kirche oder zu Hause. Wir hätten auch gerne für sie gebetet, aber stattdessen mußten
wir uns dieses Schauspiel ansehen."
Tränen kamen den Häftlingen in die Augen, als ich von ihren Familien sprach. Ich fuhr fort:
"Viele haben hier gegen Jesus gesprochen. Aber was habt ihr eigentlich gegen ihn?
Ihr sprecht vom Proletariat, aber war Jesus nicht ein Zimmermann? Ihr sagt, wer nicht arbeitet
soll auch nicht essen. Aber das hat der Apostel Paulus schon vor langer Zeit in seinem Brief an
die Thessalonischer gesagt. Ihr seid gegen die Reichen, aber Jesus hat die Wechsler mit der
Peitsche aus dem Tempel herausgejagt. Ihr wollt den Kommunismus, aber vergeßt nicht, daß die
ersten Christen in einer Gemeinschaft lebten und alles, was sie besaßen, miteinander teilten. Ihr
möchtet die Armen erheben, aber das Magnifikat - der Lobgesang der Jungfrau Maria - sagt
bereits, daß Gott die Armen über die Reichen erheben wird. Alles, was an dem Kommunismus
gut ist, kommt von den Christen."
Major Alexandrescu rutschte auf seinem Stuhl hin und her, aber er unterbrach mich nicht. Als ich
sah, daß die Häftlinge innerlich bewegt waren, vergaß ich, wo ich mich befand, und begann frei
über Jesus, und das was er für uns getan hat, zu predigen. Ich sagte:
"Habt ihr schon jemals von einer Ausbildung ohne Prüfungen gehört? Oder von einer Fabrik, wo
die Erzeugnisse nicht genau auf ihre Qualität hin geprüft werden? Genauso werden wir alle
geprüft, gerichtet von uns selbst, von unseren Mitmenschen und von Gott."

Ich sah den Kommandanten an und sagte: "Auch Sie werden gerichtet, Major Alexandrescu." Er
ließ es wieder durchgehen, und ich sprach weiter davon, daß Jesus Liebe lehrt und das ewige
Leben gibt. Als ich mit meiner Rede zu Ende war, brachen die Häftlinge in Beifallsrufe aus. Auf
meinen Platz zurückgekehrt, flüsterte mein Nachbar: "Haben Sie den Beifall gehört?"
Ich antwortete: "Das galt nicht mir, sondern dem, was sie in ihrem eigenen Herzen entdeckt
haben."

Wir waren wenige, die sich offen gegen die Gehirnwäsche stellten, aber wir hatten doch viele
Gleichgesinnte, wenn ihnen auch der Mut oder die Fähigkeit fehlten, sich selbst zur Wehr zu
setzen. Es war auch nicht so einfach. Als Ergebnis meiner Ansprache verlor ich meinen Platz im
Krankenhaus und wurde in die Priesterzelle zurückgeschickt.

Nach einigen Wochen wurden Daianu und Radu Ghinda vorzeitig entlassen. Das war ein
mächtiger Schlag gegen unsere Widerstandskraft. Sie waren die ersten, die unter dem neuen
System befreit wurden, aber auch, was wir nicht ahnen konnten, die letzten.
Leutnant Konya, einer der Politoffiziere, war verantwortlich für die Erfolge bei den
Gesinnungsänderungen. Über mich schien er keine guten Spitzelinformationen bekommen zu
haben. Eines Tages kam er zu mir, um mir zwei Neuigkeiten mitzuteilen.
Erstens sagte er mir, daß meine Frau im Gefängnis sei, und zwar schon seit längerer Zeit.
Zweitens sollte ich um zehn Uhr abends ausgepeitscht werden für meine wiederholte
Widerspenstigkeit, die in meiner Rede nach dem 'Schauspiel' ihren Höhepunkt erreicht hätte.

Die Nachricht über Sabine war für mich ein schwerer Schlag. Mein Schmerz darüber kam noch
zu der Angst vor der bevorstehenden Auspeitschung. Uns allen graute es immer vor der
Wartezeit. Niemand kam an diesem Abend, um mich zu holen. Sechs Tage lang wurde die
Spannung aufrecht erhalten. Dann führte man mich zu dem Raum am Ende des Korridors. Jeder
Schlag brannte wie Feuer. Als es vorbei war, schrie Leutnant Konya, der das ganze
beaufsichtigte: "Gib ihm noch ein paar Hiebe!"
Dann brauchte ich zu lange, um auf die Beine zu kommen. "Noch zehn!" sagte Konya. Ich wurde
zurück in die Zelle geschleppt, wo die Lautsprecher plärrten: Christentum ist dumm, Christentum
ist dumm, Christentum ist dumm. Gib auf, gib auf, gib auf . . . Christentum ist dumm . . .

Manchmal wurden die Schläge in der Zelle vorgenommen. "Hosen herunter, es gibt Schläge!" Wir
ließen die Hosen herunter. "Auf den Rücken legen und die Beine hoch!" Wir drehten uns auf den
Rücken.
Manchmal sagte ein Priester: "Ich rufe doch 'unseren Vater' an, aber welcher Vater, welcher Gott
ist es, der mich in dieser Weise meinen Feinden ausliefert?" Aber wir baten ihn eindringlich: "Gib
nicht nach. Bete weiter. Sei hartnäckig, durch Widerstand wirst du deinen Glauben erneuern."
Und er konnte unseren Worten Gehör schenken, weil wir seine Leiden teilten.

Eines Abends befahl mir Leutnant Konya, meine Sachen zu packen. Da die Behandlung bei mir
nicht angeschlagen hatte, dachte man, daß ein kleiner Aufenthalt in der "Sonderabteilung" mir
vielleicht 'guttun’ würde. Es gab viele Gerüchte über diese Abteilung des Gefängnisses. Nur
wenige kehrten von dort zurück. Entweder starben sie, oder sie erlagen der Gehirnwäsche und
kamen woanders hin. Ich befand mich nun allein in der Zelle mit weißgekachelten Wänden. Die
Decke reflektierte grelles weißes Licht. Es war Hochsommer, aber die Zentralheizung, die sonst
nirgends in Gherla funktionierte, lief auf Hochtouren. Konya hatte mich mit Handschellen
zurückgelassen, so daß ich nur entweder auf dem Rücken oder auf der Seite liegen konnte. Ich
tropfte vor Schweiß und hatte starke Magenschmerzen. Die Lautsprecher in diesem Raum hatten
eine neue Botschaft zu verkünden:
Niemand glaubt jetzt mehr an Christus, niemand glaubt jetzt mehr an Christus, niemand glaubt
jetzt mehr an Christus. Keiner geht mehr in die Kirche, keiner geht mehr in die Kirche, keiner geht
mehr in die Kirche. Gib auf, gib auf, gib auf. Keiner glaubt jetzt mehr an Christus . . .

Am nächsten Morgen erschien Konya und hieß mich ihm den Korridor entlang zu folgen. Eine
neue Zelle und frische Kleidung warteten auf mich. Es gab ein überzogenes Bett und einen Tisch
mit einer Vase mit Blumen. Das war zuviel für mich. Ich setzte mich hin und fing an zu weinen.
Als Konya gegangen war faßte ich mich wieder. Ich sah mir die Zeitung an, die auf dem Tisch
lag. Darin suchte ich nach der Nachricht, daß die 6. Kriegsflotte der US-Streitkräfte ins Schwarze
Meer eingelaufen war, um freie Wahlen in besetzten Ländern zu fordern. Dieses Gerücht ging
gerade in Gherla um. Doch stattdessen fand ich einen kurzen Artikel über Fidel Castro, der in
Kuba die Macht an sich gerissen hatte und Amerika direkt vor seiner eigenen Tür Schwierigkeiten
machte.
Der erste, der mich aufsuchte, war Kommandant Alexandrescu. Er sagte, meine neue Umgebung
sei eine Kostprobe von dem angenehmen Leben, das mir offen stünde. Er begann, den
christlichen Glauben anzugreifen. Christus sei nur eine Erfindung der Apostel gewesen, um die
Sklaven mit der Hoffnung auf die Freiheit im Paradies irrezuführen.
Ich griff nach der Zeitung und reichte sie ihm. "Sie trägt das Datum vom Juli 1963, das bedeutet
1963 Jahre seit der Geburt von jemand, der - wie Sie eben gesagt haben - nie gelebt hat. Sie
glauben nicht an Christus, akzeptieren ihn aber als den Gründer unserer Zivilisation."

Alexandrescu zuckte mit den Schultern. "Diese Zeitrechnung ist einfach eine Sitte, ohne
Bedeutung." "Aber wenn Jesus niemals auf die Welt gekommen ist, wie ist diese Sitte
entstanden?" fragte ich. "Einige Lügner haben es in die Welt gesetzt." Ich sagte: "Wir müssen die
Existenz Christi als eine historische Tatsache anerkennen, wenn sogar im Talmud von den
Pharisäern, seinen schlimmsten Feinden, über ihn berichtet wird. Dort werden die Namen seiner
Mutter und einiger seiner Apostel erwähnt, und dort wird berichtet, daß Christus Wunder gewirkt
hat, die sie allerdings der Kraft der Schwarzen Magie zurechnen.
Und viele heidnische Schreiber bestätigen ihn ebenfalls. Nur die Kommunisten leugnen diese
klare, geschichtliche Tatsache, und zwar deshalb, weil sie ihnen nicht in ihre Theorie paßt."

Alexandrescu führte die Auseinandersetzung nicht weiter. Stattdessen schickte er mir ein Buch
"Das Handbuch des Atheisten", ein aus dem Russischen übersetztes Nachschlagwerk. Es fing an
mit dem Entstehen der Religion, behandelte die großen Weltreligionen und besonders das
Christentum. Alles wurde als Schwindel hingestellt. Die Wissenschaft hatte das bewiesen, und
deswegen habe die Kirche immer die Wissenschaft verfolgt.
Ein ganzes Kapitel schilderte die Kirche als ein Werkzeug des Kapitalismus durch alle
Jahrhunderte. Die Ermahnung Christi, unsere Feinde zu lieben, bedeute nichts anderes als sich
unter den Ausbeuter zu beugen. Darüber schlief ich ein.

Während der nächsten Wochen lebte ich in ständigem Wechsel zwischen Versprechungen und
Drohungen, zwischen meinem blumengeschmückten Privatzimmer und der Zelle mit blendend
grellem Licht und Lautsprechern, zwischen guten Mahlzeiten und dem Hunger, zwischen dem
Argumentieren und der brutalen Bestrafung.

Mein Gethsemane

Dort befand ich mich, als Wächter kamen, um mich abzuholen. Mit angelegten Handschellen und
verbundenen Augen führten sie mich ab. Es war wie ein Gang zur Hinrichtung. In einem abseits
gelegenen Teil des Gefängnisses, der die Zentralverwaltung sein mußte, wurde ich vor einen
Mann in einer Generalsuniform geführt.
Es war Negrea, der stellvertretende Innenminister. Der Politoffizier und einige Funktionäre aus
Bukarest saßen neben ihm. Negrea sagte höflich: "Ich habe gerade Ihren Fall studiert, Herr
Wurmbrand. Ich halte nichts von Ihren Ansichten, aber ein Mann, der so fest bleibt, der gefällt
mir. Wir Kommunisten sind auch hartnäckig. Ich glaube, es ist jetzt an der Zeit, daß wir uns auf
halbem Wege entgegenkommen. Wenn Sie bereit sind, das was Sie erlitten haben zu vergessen,
werden wir das was Sie gegen uns unternommen haben aus dem Gedächtnis streichen. Wir
wenden einfach das Blatt um und werden Freunde anstatt Feinde."

Er hatte eine offene Akte vor sich liegen. "Ich habe sogar Ihre Predigten gelesen. Sie erklären die
Bibel auf eine sehr schöne Art. Aber Sie müssen bedenken, daß wir in einem Zeitalter der
Wissenschaft leben." "Was wird jetzt kommen?" fragte ich mich, als Negrea anfing, mir einen
parteiwissenschaftlichen Vortrag zu halten. Hätte ein bedeutender Staatsmann lediglich zu
diesem Zweck eine 320 km weite Reise unternommen? Wie die Donau nach vielen Schlingen
und Kurven schließlich doch das Meer erreicht, so kam auch seine Rede zum entscheidenden
Punkt.
"Wir brauchen solche Männer wie Sie! Wenn Sie bereit sind, uns in unserem Kampf gegen den
Aberglauben zu unterstützen, können Sie sofort ein neues Leben beginnen. Sie werden eine
hochbezahlte Stellung bekommen, und Ihre Familie wird mit Ihnen in Wohlstand und Sicherheit
vereint sein. Ich sagte nichts. Negrea war wohl überzeugt, daß ich sein Angebot annehmen
würde. Er lehnte sich über den Schreibtisch: "Herr Wurmbrand, womit Sie uns helfen können ist
dies: Sie haben doch für den Weltkirchenrat gearbeitet. Sie sind im Ausland weithin bekannt - wir
bekommen immer noch viele Anfragen über Sie. Wenn Sie Bischof werden, können Sie unseren
anderen Verbündeten aus dem Weltkirchenrat helfen, ein Bollwerk für uns zu bauen, nicht für den
Atheismus, sondern für den Sozialismus und für den Frieden.
Sie erkennen doch sicher den weltumfassenden, menschlichen Idealismus an, der hinter unseren
Friedenskampagnen und unseren Bemühungen um den Atomwaffensperrvertrag steht. Sie
werden natürlich dabei in der Lage sein, Gott nach Herzenslust anzubeten. In diesen Bereich
werden wir uns nicht einmischen. Der gegenwärtige lutherische Bischof von Rumänien ist alt. Sie
würden also der zukünftige Bischof und von Anfang an das eigentliche Oberhaupt Ihrer Kirche in
Rumänien sein.
Und denken Sie daran, der Kommunismus hat ein Drittel der Welt erobert. Da muß die Kirche
sehen, daß sie mit uns handelseinig wird. Wenn nun ein Mann wie Sie Bischof werden würde, so
könnten Sie ohne weiteres Ihren Glauben beibehalten und dennoch unserer Regierung treu sein.
Denn Sie wissen ja, daß Sie der Obrigkeit untertan sein sollen, weil sie von Gott eingesetzt ist.
Und warum sollten Sie es mit unserer Regierung nicht auch so halten?"

Ich bat mir Bedenkzeit. Negrea war einverstanden. "Wir werden uns noch einmal treffen, bevor
ich wieder nach Bukarest fahre, um Ihre Entlassungspapiere in Ordnung zu bringen", sagte er.

Man führte mich wieder in eine Isolierzelle. Dort lag ich viele Stunden und dachte nach. Ich wußte
natürlich, daß meine Antwort "Nein" heißt. Andererseits wußte ich, daß die offizielle Kirche in
einem kommunistischen Land nur bestehen kann, wenn sie in einem gewissen Maß zu
Zugeständnissen bereit ist. Außerdem ist es so, daß eine Untergrundkirche für ihre Arbeit eine
Deckorganisation braucht. Wenn diese fehlt, haben Millionen von Menschen keinen Raum, wo
sie ihre Gottesdienste halten können, keinen Pfarrer, der ihnen die Predigt hält, niemand, der sie
tauft, traut und ihre Toten beerdigt. Und ich brauchte doch nur gelegentlich einige Worte zu
Gunsten der Kollektivierung und des sogenannten 'Kampfes für den Frieden' zu sagen.
Außerdem hatte ich meine Frau und meinen Sohn schon jahrelang nicht gesehen. Ich wußte
nicht, ob sie überhaupt noch am Leben waren.
Ich brauchte Kraft von oben, um Nein zu sagen. Denn das bedeutete 11 weitere Jahre im
Gefängnis, verbunden mit der Aufopferung meiner Familie und dem fast sicheren Tod unter
entsetzlichen Umständen.
Aber in diesem Augenblick war mir das Antlitz Gottes verhüllt, und mein Glaube verließ mich. Mit
meinem geistigen Auge sah ich die riesenhafte Gestalt des Kommunismus, die schon einen so
großen Teil der Welt im Griff hatte und auch den Rest zu schlucken drohte. Ich wurde innerlich
erdrückt von der Todesgefahr, von der Aussicht, immer und immer wieder geschlagen zu werden.
Meine Seele glich einem Schiff, das von einer Seite auf die andere geschleudert wurde, ein
Spielball eines gewaltigen Sturmes. Während dieser Stunden habe ich den Kelch Christi
getrunken. Es war mein Gethsemane.
Und wie Jesus warf ich mich mit dem Gesicht auf die Erde, betete in gebrochenen Schreien und
bat Gott, mir zu helfen, diese entsetzliche Versuchung zu überwinden.
Nach dem Gebet wurde ich etwas ruhiger. Ich fing an, mir die einfachsten Fragen des Glaubens
zu wiederholen: Ist der Weg der Liebe besser als der Weg des Hasses? Hat Christus mich von
den Bürden der Sünde und des Zweifels befreit? Ist er der Erlöser? Schließlich fiel es mir nicht
mehr schwer, diese Fragen mit einem Ja zu beantworten.
Nachdem ich das getan hatte, war mir, als ob eine zentnerschwere Last von meiner Seele
genommen wurde. Dann betete ich wieder und fühlte danach, wie der Friede in meine Seele
zurückkehrte.

Am nächsten Tag wurde ich wieder gerufen. Ich sagte ihnen: "Ich halte mich nicht für würdig,
Bischof zu werden. Sogar der Stand eines einfachen Christen war eine Überforderung für mich.
Die ersten Christen gingen in den Tod mit den Worten: 'Christianus sum!' - Ich bin ein Christ - und
ich habe dies nicht getan. Stattdessen habe ich Ihr schmachvolles Angebot in Erwägung
gezogen. Aber ich kann es nicht annehmen"
"Wir werden einen anderen finden, der es tun wird," drohte Negrea.
Bis zuletzt höflich, schloß er seine Aktentasche, stand auf und ging zum Fenster hinüber. Dort
stand er und schaute hinaus, während die Wächter mir Handschellen anlegten und mich
hinausführten.

Lange Zeit blieb ich in der 'Sonderabteilung', wie lange kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Im
Laufe der Zeit schmolzen gewisse Abschnitte meines Gefängnisdaseins zu einem einzigen
ungeheuren Tag zusammen. Die Gehirnwäsche nahm an Intensität zu, änderte aber nur wenig
an den Methoden. Aus den Lautsprechern tönte es wieder und wieder: Christentum ist tot,
Christentum ist tot, Christentum ist tot.

Auf einen Tag kann ich mich deutlich besinnen. Man hatte uns Postkarten gegeben, mit denen
wir unsere Familien einladen und sie bitten sollten, uns Pakete zu bringen. Als der genannte Tag
kam, wurde ich rasiert, gewaschen und bekam ein sauberes Oberhemd. Stunden vergingen. Ich
saß in der Zelle und starrte die weißglitzernden Kacheln an, aber niemand kam. Ich konnte
damals nicht wissen, daß meine Postkarte niemals abgeschickt worden war. Den gleichen Trick
spielten sie auch mit anderen hartnäckigen Häftlingen. Der Lautsprecher sagte: Jetzt hat dich
niemand mehr lieb, jetzt hat dich niemand mehr lieb, jetzt hat dich niemand mehr lieb.

Ich fing an zu weinen.

Weiter tönte es: Man will nichts mehr von dir wissen, man will nichts mehr von dir wissen . . .
Ich konnte diese Worte nicht mehr ertragen und konnte ihnen doch nicht entfliehen. Der nächste
Tag brachte wieder eine der brutalen 'Kampfversammlungen' mit sich. Viele andere Frauen seien
gekommen, sagte der Redner, nur wir seien die Dummen, man hätte uns abgeschrieben. Unsere
Frauen lägen jetzt mit anderen Männern im Bett - jetzt in diesem Augenblick. Mit aller
Unanständigkeit, die ihm zu Gebote stand, schilderte er uns, was zwischen ihnen vorging. Und
wo seien unsere Kinder? Auf der Straße, jedes einzelne von ihnen ein Atheist. Sie hätten keinen
Wunsch, ihre Väter wiederzusehen. Wie dumm wir doch seien!
In der Sonderabteilung hörte ich tagaus, tagein den Lautsprecher: Christentum ist tot,
Christentum ist tot, Christentum ist tot.

Und mit der Zeit fing ich an zu glauben, was man uns in all den Monaten eingeredet hatte. Das
Christentum war tot. Die Bibel sagt einen großen Abfall vom Glauben voraus. Ich glaubte, diese
Zeit sei gekommen. Da dachte ich an Maria Magdalena, und vielleicht gerade dieser Gedanke
rettete mich vor dem seelentötenden Gift des letzten und schwersten Stadiums der
Gehirnwäsche. Ich erinnerte mich, wie sie Jesus treu war, selbst als er am Kreuz ausrief:
"Mein Gott, warum hast du mich verlassen?"
Und als sein Leichnam im Grabe lag, stand sie weinend in der Nähe und wartete, bis er
auferstanden war. Wenn ich auch schließlich glaubte, daß das Christentum tot sei, dachte ich,
will ich trotzdem daran festhalten und an seinem Grabe weinen und warten bis er aufersteht . . .
Im Juni 1964 versammelte man alle Häftlinge in der Haupthalle. Der Kommandant, von seinen
Offizieren begleitet, trat ein, und wir stellten uns auf ein neues Stadium der
'Kampfversammlungen' ein. Stattdessen gab Major Alexandrescu bekannt, daß unter der von der
Regierung erlassenen, allgemeinen Amnestie sämtliche politischen Häftlinge freigelassen werden
sollten. Ich konnte es nicht glauben. Doch diesmal handelte es sich nicht um einen neuen Trick,
wie wir zuerst vermuteten. Im Sommer dieses Jahres wurden viele Tausende von Häftlingen
freigelassen. Das hatten wir einem sogenannten Tauwetter zwischen Ost und West zu verdanken
und ebenfalls - wie ich später erfuhr - einer Sinnesänderung unseres Ministerpräsidenten
Gheorghiu-Dej. Dieser kehrte zu dem Glauben zurück, in dem seine Mutter ihn erzogen hatte,
und dem sie selbst ihr ganzes Leben lang treu geblieben war. Dej kam zum Glauben durch ein
Dienstmädchen in seinem Haus und durch deren Onkel, einem gutherzigen alten Mann, der oft
mit ihm über die Bibel sprach. Der Glaube an Christus, obwohl er ihn nicht öffentlich bekannte,
gab ihm die Kraft, seinen sowjetischen Gebietern Widerstand zu leisten. Er knüpfte neue
Beziehungen mit dem Westen an, und gab damit anderen unterdrückten Ländern ein Beispiel.
Unglücklicherweise starb er einige Monate später. Man sagt, daß sein Tod von sowjetischen
Agenten beschleunigt worden war.

Ich gehörte zu einer der letzten Gruppen von etwa 100 Männern, die in einer großen Halle
versammelt wurden. Wir waren fast die letzten Häftlinge, die noch in Gherla waren. Eine
ungewohnte Stille herrschte in den Korridoren. Uns wurden die Haare geschnitten, und wir
bekamen getragene, aber saubere Kleidung. Ich verließ das Gefängnis in den Kleidern eines
anderen Mannes.
Auf den Straßen von Gherla kam ich mir wie geblendet vor. Wagen rasten vorbei, und etwas
ängstlich machte ich mich auf den Weg. Mit dem Bus fuhr ich in die nahegelegene Stadt Cluj, wo
ich Freunde hatte. Von dort rief ich einen unserer Nachbarn in Bukarest an. Die Stimme, die
antwortete, gehörte Sabine.
"Hier ist Richard", sagte ich, "ich dachte, du wärest im Gefängnis".
Ich hörte ein Gewirr von Geräuschen. Mihai nahm den Hörer auf.
"Mutter ist ohnmächtig geworden, bleibe am Apparat!"
Es gab noch mehr eigenartige Laute. Dann sagte Mihai: "Sie kommt wieder zu sich, wir dachten,
daß du tot seiest!"

Ich nahm einen Zug nach Bukarest. Als ich aus dem Zug ausstieg, sah es so aus, als ob alle
Leute aus unserer Kirche mir entgegenliefen um mich zu begrüßen. Und dann umarmte ich
meine Frau und meinen Sohn. An diesem Abend erzählte mir Sabine, daß man ihr schon vor
Jahren eine Mitteilung von meinem Tod gemacht hatte. Sie weigerte sich, es zu glauben, selbst
wenn Fremde, die sich für ehemalige Häftlinge ausgaben, sie besuchten und behaupteten, bei
meiner Beerdigung dabei gewesen zu sein. "Ich will auf ihn warten", hatte sie gesagt. Jahre
vergingen, ohne ein einziges Lebenszeichen von mir, bis mein Telefonanruf kam. Für sie war es,
als sei ich von den Toten auferstanden.

An einem Sonntag, Monate nach meiner Entlassung, machte ich mit einer Gruppe Schulkinder
eine kleine Wanderung. Anfangs folgte uns die Geheimpolizei auf den Fersen. Aber als sie
sahen, daß wir in den Zoo gingen, ließen sie uns zufrieden. Ich führte die Kinder zu einem
Löwenkäfig und versammelte sie alle um mich herum, so daß ich leise zu ihnen sprechen konnte:
"Eure Vorväter im Glauben an Christus wurden solchen wilden Tieren vorgeworfen. Sie gingen
mit Freuden in den Tod, weil sie an Jesus glaubten. Die Zeit kann kommen, wo auch ihr ins
Gefängnis gehen und leiden müßt, weil ihr Christen seid. Ihr müßt euch jetzt entscheiden, ob ihr
bereit seid, diesem Tag zu begegnen." Mit Tränen in den Augen sagte einer nach dem anderen:
"Ja". Ich stellte ihnen keine weiteren Fragen.
Dies war der letzte Konfirmandenunterricht, den ich hielt, bevor ich meine Heimat verließ.

In Washington befindet sich eine große, kupferne Gedenktafel, in der die Verfassung der
Vereinigten Staaten kunstvoll eingraviert ist. Tritt man jedoch einige Meter zurück, so daß der
Blickwinkel sich ändert, wird das Gesicht von George Washington aus dem Text sichtbar. So soll
es auch mit all den berichteten Erfahrungen, die meine Glaubensbrüder und ich in den
Gefängnissen gemacht haben, sein:
Alleine Jesus Christus soll sichtbar werden, der uns im Glauben erhielt und die Kraft zum
Überwinden verlieh.

II. IM WESTEN

Christen aus dem Westen besuchen Osteuropa

Im Juni 1964 wurde ich aufgrund einer Generalamnestie aus der Haft entlassen, nachdem ich
vierzehn Jahre von meinem Urteil, das auf 25 Jahre lautete, abgesessen hatte. Ich war somit
innerhalb der weiter gefaßten Grenzen eines Gefängnisses, welches die kommunistische Welt
genannt wird, frei . . .

An einem Nachmittag ging ich zur deutschsprachigen Baptistenkirche Bukarests. Der englische
Pfarrer Stuart Harris, der Leiter der Europäischen Christlichen Mission und späterer Leiter der
Internationalen Christlichen Mission für die kommunistische Welt, war dort. Er hatte Bruder John
Moseley bei sich, der damals für die US-Mission für Europas Millionen tätig war. Sie hatten beide
schon von mir gehört. Sie hatten mich zwar gesucht, aber nicht gewagt, sich bei jemandem nach
mir zu erkundigen.

Nach dem Gottesdienst stellte ich mich ihnen auf Englisch vor. Als ich mich umdrehte, sah ich,
daß wir von Spitzeln umgeben waren, aber zum Glück konnte keiner von ihnen Englisch. Ich lud
Stuart Harris und John Moseley zu mir nach Hause ein. Ich konnte ihnen meine Adresse nicht
direkt sagen, da die Spitzel dies verstanden hätten. Daher zählte ich die Buchstaben, die den
Straßennamen bildeten, in gewissen Abständen nacheinander auf.

Am Abend kamen sie zu der Dachkammer, in der wir damals wohnten. Am nächsten Tag trafen
wir uns wieder. Ich berichtete ihnen, was mit Christen in kommunistischen Ländern geschah. Der
Traum, etwas zu tun, um verfolgten Heiligen zu helfen, war nun nicht mehr der Traum eines
Menschen, es war jetzt ein geteilter Traum . . .

Am 6. Dezember 1965 konnten meine Frau Sabina, mein Sohn Mihai und ich Rumänien
verlassen. Ein Lösegeld in Höhe von 10 000 Dollar war von der norwegischen Israelmission, der
judenchristlichen Allianz und meiner Familie für uns gezahlt worden.
Kommunistische Länder betreiben Sklavenhandel. Sie verkaufen ihre Bürger wie Vieh. Eine
langjährige Freundin von uns, Frau Anutza Moise, hatte das Geschäft mit den rumänischen
Behörden für uns abgewickelt.

Im schönen Norwegen

Wir fuhren zunächst nach Italien, von wo aus ich mit dem Lutherischen Weltbund, dessen
Hauptquartier in Genf war, Kontakt aufnehmen konnte. Anschließend reisten wir für einige Tage
nach Paris.

Von dort aus fuhr das Wurmbrand-Trio nach Norwegen. Ich wußte noch nicht, daß vor unserer
Ankunft bereits Telegramme eingegangen waren, in denen jedermann gewarnt wurde, mich
predigen zu lassen. Die Absicht war gut: Der Lutherische Weltbund fürchtete, daß meine Reden
gegen den Kommunismus die Lage für die Zurückgebliebenen erschweren und jegliche
Möglichkeit vereiteln würden, zukünftig andere freizukaufen.

Diese Befürchtungen erwiesen sich jedoch als unerheblich. Alle bestätigten, daß in Rumänien
niemand aufgrund meiner Predigten und der Veröffentlichung meiner Bücher leiden mußte,
sondern daß im Gegenteil die rumänischen Kommunisten zum ersten Mal das Drucken von
Bibeln erlaubten.

Noch heute, allerdings weniger als damals, träume ich fast jede Nacht, daß ich im Gefängnis sei.
Die Welt der Gefängnisse mit ihren Helden - denen, die gebrochen worden sind, denen, die
singend in den Tod gehen, und denen, die Spitzel geworden sind - erscheint mir in der Nacht. Sie
alle erwarten von mir, daß ich ihnen helfe.

Gegen fünf Uhr früh, wenn alle anderen noch schlafen, wache ich mit meinen Brüdern und
Schwestern auf, die vom Gong aus dem Schlaf gerissen werden - dem Signal, daß die Sklaven
an die Arbeit gehen müssen, die Tausenden von Gefangenen vom Chinesischen Ozean bis zur
Ostsee und der Donau.

Gefangenenträume sind schön. Die ganze Nacht ist man bei seinen Lieben; man ißt reichlich;
man freut sich, daß man in der Bibel lesen und in die Kirche gehen kann. Da aber schlägt der
Hammer auf die Querstange. Die Sklaven erwachen: blasse, schmutzige "Skelette" mit dunklen
Augenschatten und hohlen Wangen. Sie haben Angst, sich wegen ihrer Häßlichkeit anzusehen,
sie werden arbeiten müssen, hungrig und gepeinigt, manchmal bis zu den Knien im Schnee, ein
anderes Mal in sengender Hitze.

Ich bin bei ihnen.

Ich bin auch bei den Christen, die in psychiatrische Kliniken eingeliefert wurden. Die Tatsache,
daß gesunde Menschen beten, wird als ein Symptom für Geistesgestörtheit angesehen; sie
werden gebunden, geknebelt, mit Füßen getreten und mit Elektroschocks traktiert, was sie zum
Wahnsinn treiben wird.

Die Schönheit der Untergrundheiligen erstrahlt vor diesem düsteren Hintergrund. Aufgrund eines
"Versehens" war die amerikanische Kirche in Oslo vom Lutherischen Weltbund nicht vor mir
gewarnt worden. Dies war die erste Kirche, in die ich ging. Am Weihnachtstag 1965 berichtete
man ihrem Pfarrer, Myrus Knutson, daß eine merkwürdige Gestalt die Sonntagsschule der Kinder
besucht habe. Es sei ein armselig gekleideter Mann mit verstörtem Blick gewesen,
wahrscheinlich ein aus dem Gefängnis oder einer psychiatrischen Klinik Entflohener. Außerdem
habe er geweint, als er die Geschichte von Jesus hörte, die den Kindern erzählt wurde. Wer hat
je von einem Menschen gehört, der in einer achtbaren Kirche über die Kreuzigung Christi weinte?

Pfarrer Knutson ließ mich in sein Büro rufen und bat mich, ihm meine Geschichte zu erzählen. Er
zeigte sogleich Interesse und ging am darauffolgenden Tag zum Hauptsitz der Norwegischen
Israelmission, um sich zu erkundigen, ob die Geschichte, die von diesem Wurmbrand erzählt
wurde, auch wahr sei. Sie wurde bestätigt. Er stellte mir die erste Kanzel einer Kirche in der
freien Welt zur Verfügung, und ich predigte dort jeden Sonntag. Ich predigte auch in der
amerikanischen Militärkapelle, in der Oberst Cassius Sturdy als Pfarrer tätig war.

Diejenigen, die meine ersten Predigten gehört hatten, wurden sich bewußt, daß sich etwas
Neues ereignete, oder vielmehr etwas Kostbares aus der Vergangenheit wieder auflebte.

Der heilige Paulus war nach Thessaloniki gereist um zu predigen. Das Wesentliche seiner
Predigten war, daß "Christus leiden mußte" (Apg. 17,3). Seine Zuhörer erklärten zu Recht, dies
bedeute, "die Welt umzukehren".

Die Juden erwarteten, daß der Messias das beste Geschöpf, ein Bote vom Himmel sein würde,
der der Gerechtigkeit auf Erden zum Sieg verhelfen würde, indem Er so etwas wie die UNO, den
Weltkirchenrat oder Vatikan in Idealformat gründe, bestehend aus all denen, die an das soziale
Evangelium glauben, im langsamen Vormarsch des Humanismus!

Lange vor Bonhoeffer glaubten die Juden, daß die Menschheit jene geistliche Reife erlangt habe,
daß sie ein so herrliches Geschöpf mit Sicherheit in die Arme schließen würde.
„Nein“, sagte Paulus, „die leibhaftige Liebe und Wahrheit mußte sterben. Und wie Er werden
auch alle, die Ihm nachfolgen, Verfolgung leiden müssen.“ Ich legte dar, daß die Verfolgung
bereits in einem Drittel der Erde auftrete, und daß die übrige Welt ebenfalls bedroht sei.

Die Aussicht sei düster. Die Kirche müsse auch leiden. „Und ihm ward gegeben, zu streiten wider
die Heiligen und sie zu überwinden“ (Offb. 13,7).
Die einzige Hoffnung ist, an Christi Erfahrung teilzuhaben, der nach dem Tod „von den Toten
auferstanden ist“.

Die Gemeinde, in der ich predigte, war Predigten gewohnt, bei denen sie am Ende des
Gottesdienstes sagen konnte: „Sie gefiel mir sehr gut.“ Während meiner Predigt litt die Gemeinde
und war zu Tränen gerührt.

Da ich von Christi neuen Leiden in Seinem mystischen Leib, der Kirche, sprach, mußte ich auch
diejenigen mit Namen nennen, die ihn leiden ließen. Ich nannte eine politische Macht. Damit
wurde das erste Gerücht in die Welt gesetzt, das sich unaufhaltsam verbreiten sollte:
„Wurmbrand predigt Politik.“

Über diese Frage ist seit damals in Zusammenhang mit meinem Namen oft diskutiert worden. Die
Bibel enthält Bücher, die rein politisch sind, beispielsweise Obadja und Esther. Im Buch Esther
wird Gott nicht einmal erwähnt. Wahres Predigen umfaßt alle Lebensbereiche. Politik in Predigten
auszuklammern, ist falsch.

Alles in allem wurde ich außerordentlich gut aufgenommen.

Die erste Mission wird gegründet

Jill Holby, eine Engländerin, war Mitglied der amerikanischen Kirche in Oslo. Sie machte mich mit
der Familie eines Lektors, Vermund Skard, bekannt und arrangierte eine Einladung bei ihm und
anderen Leuten; einer von ihnen war Overbye, ein Journalist im Ruhestand. Sie legten
gemeinsam Hand an, setzten sich mit dem Bischof von Tromsø, Monrad Norderval, einem
berühmten Autor, telefonisch in Verbindung und erklärten ihm: „Richard Wurmbrand aus
Rumänien ist hier bei uns. Die norwegischen Kirchen stehen ihm nicht offen. Den Pfarrern hat
man gesagt, er könne möglicherweise die Welt auf den Kopf stellen.“
Nordervals Antwort lautete: „Schicken Sie ihn her!“ Daraufhin fuhren wir zum Polarkreis hinauf.

Die Kathedrale von Tromsø war die erste lutherische Kirche in Norwegen, in der ich predigte,
gefolgt von "Philadelphia", der großen Kathedrale der norwegischen Pfingstler.

Der Bann war gebrochen, und die meisten anderen lutherischen Kirchen öffneten ihre Portale.
Die norwegische Mission hinter dem Eisernen Vorhang wurde ins Leben gerufen.

Die Presse wurde in unsere Sache eingeschaltet. Die Interviews waren sensationell. Im Laufe der
Zeit gab es kaum eine Zeitung, die nicht Bilder und Artikel über die Grausamkeiten
veröffentlichte, die im kommunistischen Lager an Christen begangen werden.

Man lud mich ein, vor dem NATO-Personal zu sprechen. Die NATO besteht nicht zum Zwecke
der Evangeliumsverkündigung. Tatsächlich hat sie keine Ideologie, wohingegen die
kommunistischen Offiziellen, die den Warschauer Pakt unterzeichneten, eine bis ins Detail
festgelegte Doktrin besitzen, die sie der ganzen Welt aufzwingen wollen. Ich berichtete dem
NATO-Personal vom Kommunismus in Rumänien, über die Verfolgung und die
Untergrundkirche . . .

NATO-Offiziere führten eine Spendenaktion durch, um meiner Frau und mir eine Reise in die
Vereinigten Staaten zu ermöglichen.
Wie ich bekannt wurde

Bei meinen Vorträgen in den Vereinigten Staaten bestand ich immer wieder darauf, daß die
Kirche einen Sonderetat schaffen sollte, um den Familien christlicher Märtyrer zu helfen, und daß
sie das Evangelium hinter dem Eisernen Vorhang verkündigen sollte. In diesem Sinne schrieb ich
viele Briefe an Persönlichkeiten des christlichen Lebens. Ich hörte damit auf, als das Oberhaupt
einer Konfession mir seine Schlußfolgerung mitteilte, zu der es gekommen sei. Meine Vernunft
sei getrübt und mein Verstand verwirrt. Zweifellos hatte dieser Mann mit seiner Diagnose recht.
Niemand, der viele Jahre in nationalsozialistischen und kommunistischen Gefängnissen
verbracht hat und gefoltert wurde, kann geistig völlig gesund sein. Das zeigte sich bei einer
wissenschaftlichen Untersuchung der Opfer von Auschwitz.
Aber die Tatsache, daß mein Verstand getrübt sein mag, kann diejenigen, deren Verstand noch
intakt ist, nicht von der Verpflichtung entbinden, ihren verfolgten Glaubensbrüdern zu helfen.
Diese Leute benutzten jedoch meine "Geisteskrankheit" als Entschuldigung dafür, daß sie selbst
nichts taten.
Dennoch hat Gott geheimnisvolle Wege, Sein Ziel zu erreichen. Wenn es Sein Wille war, daß es
unsere Mission geben sollte, wurde Er auch die Möglichkeit dazu geben.

Zu dieser Zeit war ich in Philadelphia. In der ganzen Stadt kündigten Plakate eine Antivietnam-
Demonstration an. Ich war neugierig. Da ich nur schlecht Englisch konnte, stand ich in der Nähe
der Rednertribüne, um jedes Wort mitzubekommen. Ein Pfarrer hielt eine hitzige Rede. Er sprach
für den Frieden. Ich stimmte ihm zu. Als er aber anfing, den Kommunismus zu loben, konnte ich
nicht länger tatenlos zuhören.

Ich sprang auf die Tribüne, ergriff das Mikrophon und fragte: "Was wissen Sie über den
Kommunismus?
Ich habe ein Doktorat im Kommunismus. Ich kann Ihnen das Diplom zeigen." Ich zog mich bis zur
Taille aus und zeigte die Narben an meinem Körper. „Das sind die Male kommunistischer
Folterungen.“
Der Pfarrer fragte, warum ich gefoltert worden sei. „Angenommen, ich war ein Mörder", sagte ich,
"wurde Oswald, der das Attentat auf Präsident Kennedy verübt hat, gefoltert? Soll man Mörder
foltern?“
Leute aus dem Publikum riefen: „Nein, natürlich nicht." Ich wandte mich weiter an sie. "Mir wurde
nie ein Mord zur Last gelegt. Ich wurde gefoltert, weil ich Christ bin. Ich bin Geistlicher wie er,
aber er ist ein Judas. Anstatt Christus und die Märtyrer zu preisen, preist er die Mörder." Viele
pfiffen den Pfarrer daraufhin aus und manche riefen „Judas“. Sodann schnitt jemand das
Mikrophonkabel durch und die Kundgebung wurde abgebrochen.

Polizisten umringten mich und führten mich ab. Ich hatte zwei illegale Handlungen begangen: ich
hatte mich an einem öffentlichen Ort entkleidet und eine ordentliche Versammlung gestört.
Sobald wir jedoch um die Ecke gebogen und außer Sichtweite waren, gaben mir die Polizisten
die Hand und gratulierten mir.

Am darauffolgenden Tag erschien mein Bild auf der Titelseite sämtlichen Zeitungen. Ein Foto
zeigte mich von Polizisten umringt mit der Bildunterschrift: „Wäre Kennedy so bewacht worden,
wäre er nicht ermordet worden.“
Als die Nachricht dessen, was sich in Philadelphia zugetragen hatte, in Washington eintraf, wurde
ich aufgefordert, vor einem Unterausschuß des US-Senats auszusagen. Ich dachte, der
Ausschuß würde sich aus ein paar Senatoren zusammensetzen. Zu meiner Überraschung war
der Saal jedoch voll von zahllosen Fernsehkameras und Vertretern von Nachrichtenagenturen
der ganzen Welt: UPI, Associated Press, Reuter usw. Über Nacht wurde ich in der ganzen Welt
bekannt. Ich bekam viele Einladungen zu predigen und Vorlesungen zu halten. Das Protokoll
meiner Aussagen (Blut und Tränen) wurde ein Bestseller der regierungseigenen Druckerei und
wurde in viele Sprachen übersetzt.
Die mir infolge dieser Ereignisse zuteil gewordene Publizität führte mich weiter auf dem Weg zur
Gründung einer internationalen Mission für die kommunistische Welt, von der ich im Gefängnis
geträumt hatte.

Meine Begegnung mit Deutschland

Ich kenne nur Deutschland. BRD und DDR habe ich nicht gekannt. Mein Vater stammte aus dem
deutschsprachigen Gebiet Bukowina im Norden Rumäniens. Deutsch war meine Muttersprache.
In unserem Hause sprach man Deutsch und ich besuchte eine deutsche Schule. Mein Vater hatte
sich im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger für die österreichische Armee gemeldet.

Eines Tages bestimmten die Nazis, daß wir nicht mehr Deutsche seien. Ich nahm dies nicht
ernst. Damals bestimmten die "deutschen Christen" auch, daß Jesus kein Jude gewesen sei.
Kann ein Diktator oder eine Gruppe von irregeführten Menschen jemandes Nationalität ändern?

Ich bin Jude. Ich liebe das jüdische Volk und Israel. Ich bin deutsch erzogen worden und liebe
das deutsche Volk.

Ein Deutscher, der Zimmermann Christian Wölfkes, brachte mich während der Hitlerzeit zu
Christus. Deutsche Gläubige waren uns auch in den Zeiten der größten Judenverfolgung treu.

Als meine Frau und ich während der Hitlerzeit in Bukarest vor einem Kriegsgericht standen, war
der deutsche Baptistenpastor Johannes Fleischer als Zeuge geladen. Er grüßte mit dem
deutschen Gruß, verteidigte aber die verhafteten Juden mit Wärme. Er erreichte unsere
Freilassung.

Nach dem Einmarsch der Sowjetarmee in Rumänien kam es anders: Die Deutschen waren
vogelfrei. Damals versteckten wir gefährdete Deutsche in unserem Haus. Darunter die Halbjüdin
Martha Scheel und ihre Geschwister. Sie leitet heute ein christliches Kinderheim in Pascani in
Rumänien und übersetzt christliche Bücher aus der deutschen in die rumänische Sprache.

Weder unsere deutschen Brüder noch wir kannten Haß. Gott ist Liebe. Wir sind Seine Kinder.
Gott hat alle Menschen geschaffen. Wo bleibt da noch Platz für Judenhaß und Deutschenhaß?

Es gab den schrecklichen "Holocaust". Auch viele Mitglieder meiner Familie wurden getötet. Aber
auch bei grausamen Verbrechen ist es nicht christlich, den anderen zu beschuldigen, sondern
sich zu fragen: Wie kam es dazu? Was ist meine Schuld?

Bevor es das deutsche Volk gab, hatten die Juden bereits die Zehn Gebote und die Propheten.
Der Messias kam zu ihnen. Sie waren berufen, das Licht der Welt zu sein.

Sie kamen in viele Länder, auch nach Deutschland. Sie trieben hier Handel und wirkten mit in
Literatur, Kunst und Politik. Nur eines taten sie nicht: sie erfüllten nicht die Rolle eines
auserwählten Volkes. Sie waren selbst ohne den Heiland und betrachteten es nicht als ihre
Aufgabe, die Völker zur ewigen Wahrheit zu führen. Sie haben ihre Rolle als Lehrer der Nationen
nicht erfüllt.

Viele Völker, auch Deutsche, waren ihnen gegenüber sehr grausam. Ungezogene Schüler sind
manchmal sehr grausam zu ihren Lehrern. Dies ist zu verurteilen. Trifft aber den Lehrer, der
seine Pflicht nicht erfüllte, keine Schuld?

Die Welt mag denken, wie sie will. Meine Rolle als Kind Gottes besteht nicht darin, Menschen zu
verurteilen, sondern ihnen zu helfen.

Sollen die Nachkommen der niedergemetzelten Indianer und versklavten Schwarzen die Weißen
für immer als ihre Feinde betrachten? Sollen die Armenier die Türken ewig hassen, weil vor 70
Jahren 1,5 Millionen Armenier getötet wurden? Sollen Russen, Rumänen und Ungarn alle Juden
hassen, weil Juden eine große Rolle bei der Errichtung roter Diktaturen und deren Geheimpolizei
spielten?

Mir waren solche Gefühle fremd. Gott soll richten. Ich liebe die Deutschen wie alle anderen
Menschen.

Es tut mir leid, daß ich nicht nach Deutschland kommen konnte, sondern nur zu einem
Überbleibsel dessen, was einmal Deutschland war und wieder Deutschland sein sollte. Ich
wußte, daß hier viel Judenblut vergossen worden war. Ich erinnerte mich auch an das viele
unschuldige deutsche Blut, vergossen von Russen und Polen, sowie an die geschändeten
deutschen Mädchen.

Mein Buch Gefoltert für Christus erschien. Niemand kannte mich oder dieses Buch. Gott sei
Dank, daß das Außenamt der evangelischen Kirche jedoch ein Rundschreiben an alle Pfarrer
sandte, man solle vor Wurmbrand und seinem Buch warnen. In diesem Brief und in anderen
Äußerungen dieser Kirche wurde gesagt, daß alle meine Greuelgeschichten über die Leiden der
Christen im Osten übertrieben seien. Eine Untergrundkirche gäbe es gar nicht; alles sei bloß
erfunden.

Daraufhin wetterten eifrige Pfarrer von der Kanzel gegen mein Buch. Dies machte aus meinem
Buch einen Bestseller. Andere Bücher folgten. Mit der Zeit kamen die Aussiedler aus dem Osten
nach Deutschland und bestätigten meine Berichte. Es folgte Solschenizyn. Was man meine
„Erfindungen“ genannt hatte, wurde jetzt als unbestreitbare Wahrheit anerkannt.

Aber auch die sicherste Wahrheit leuchtet nicht allen ein.

In Marburg versuchten linksgerichtete Jugendliche der Philips-Universität einen unserer Vorträge


gewaltsam zu verhindern. Es gab ein Handgemenge. Die Jugendlichen schrien zwei Stunden
lang. Ich sprach trotzdem unter dem Schutz der Polizei. . .

Es gab viel Kampf in Deutschland, aber auch viel Freude.

Neue Versuchungen im Westen

Ich hatte während meiner 14 Jahre im Gefängnis kein Geld gehabt. Jetzt kam mir das minimale
Gehalt, das ich bezog und das geringer war als das eines amerikanischen Straßenkehrers,
enorm vor. Mit einem Auto fahren zu können - obwohl ich bis dahin nicht einmal ein Fahrrad
besessen hatte -, war eine ungeheure Belastung. Geldliebe schien sich in mir zu entwickeln.

In jenen vierzehn Jahren hatte ich kaum einmal eine Frau gesehen. Jetzt umgaben mich Frauen
und Mädchen, viele voller Zuneigung und Bewunderung. Ich war ein Gefangener gewesen, den
jeder, wenn er wollte, schlagen und anspucken konnte. Jetzt las ich Artikel, in denen es hieß, ich
sei "der dramatischste Prediger" oder "seit Jesus hat niemand mit soviel Liebe gepredigt". Ich
wußte, daß solches Lob ebenso falsch war wie der unberechtigte Hohn während meiner Haft. Es
gefiel mir jedoch, und ich geriet in Versuchungen, die ich im Gefängnis ganz vergessen hatte.

In Kolosser 2,13 lesen wir: "Er hat uns vergeben alle Sünden." Obwohl ich in vielerlei Hinsicht in
diesen vergangenen Jahren gesündigt habe, vertraue ich auf Christi Vergebung und auf die
Vergebung derer, gegen die ich gesündigt habe.

Ich war in einen Kampf mit einem gerissenen und verabscheuungswürdigen Feind verstrickt, und
ich bin ständig der Versuchung ausgesetzt, wie der Feind zu werden, den ich bekämpfe. Feinde
werden uns nach ihrem Bild umformen, wenn wir zurückschlagen und ihre eigenen Methoden
anwenden.

Ich hatte Schwierigkeiten mich wieder ans Familienleben zu gewöhnen. Meine Frau hatte sich an
die Unabhängigkeit gewöhnt, während ich, der ich mich im Gefängnis Befehlen beugen mußte,
ohne den geringsten Einwand zu erheben, ein starkes Verlangen nach Selbstbehauptung
entwickelt hatte.

Mein Sohn Mihai war mir fremd geworden. Er war der Sohn seiner Mutter, und ich war nur noch
eine vage Erinnerung. Er hatte seinen Glauben von mir bekommen, aber er hatte auch darunter
gelitten, meinen Namen zu tragen. Seine Gefühle waren daher zwiespältig, und er begann sich
zu fragen: Wäre es von meinem Vater nicht klüger gewesen, die Kirche zu verlassen und zu
fliehen, als seinen Sohn soviel Mühsal auszusetzen?

Nun wurde er, je bekannter mein Name in der Welt wurde, mehr und mehr als "Wurmbrands
Sohn" bekannt. Er war jedoch zweifellos eine unabhängige Persönlichkeit. Er erwarb schnell drei
akademische Diplome, während er gleichzeitig für unsere Mission tätig war. Er schrieb ein Buch
und entwickelte erstaunliche Fähigkeiten auf dem Gebiet der Verwaltung, die er für unsere
Organisation einsetzte. Es lag ihm fern, ein zweiter Richard Wurmbrand zu sein.

Es war verwirrend, sich an den ungeheuren Unterschied zwischen Menschen im Gefängnis und
einer einfachen brüderlichen Beziehung zu Menschen zu gewöhnen, die in einer mir völlig
fremden Welt aufgewachsen waren. Es kam zu unnötigen persönlichen Konflikten. Meine Familie
und einige Freunde litten am meisten darunter, aber sie waren auch diejenigen, die mir in dieser
schweren Zeit am meisten halfen. Ich entschuldige mich an dieser Stelle demütig für all die
Leiden, die sie meinetwegen erdulden mußten.

Berühmt zu werden stellte sich als eine schmerzliche Last heraus. Ich kam mir ständig wie ein
Dieb vor. Ich predigte und schrieb über die edelsten Geschöpfe der Menschheit, Glaubenshelden
und Heilige, die gestorben sind oder noch in kommunistischen Gefängnissen schmachten. Meine
Zuhörer projizierten diese Schönheit, von der ich sprach, auf mich und umgaben mich mit dem
Heiligenschein, der die Märtyrer umgibt.

"Du sollst nicht stehlen" (3. Mose, 19,11) bedeutet auch, nicht durch irgendeine Art von
Repräsentation, Publizität oder Schmeichelei, oder indem man andere dazu verleitet, eine
bessere Meinung von sich selbst oder seiner Handlungsweise zu haben, als man es verdient. Wir
müssen die Anerkennung unserer Mitmenschen verdienen - nicht stehlen. Sie zu stehlen, war
Absaloms Sünde gewesen.

Es war jedoch im Interesse der Mission, meinen Namen publik zu machen; vor allem in den
Vereinigten Staaten, wo im allgemeinen hochentwickelte Werbetechniken angewandt werden, um
die Leiter religiöser Organisationen in den Brennpunkt des öffentlichen Lebens zu rücken.

Keine Werbung zu machen, würde bedeuten, daß kein Geld einginge und kein Geld bedeutete
keine Unterstützung für christliche Märtyrer und ihre Familien. Ich verabscheute diese Werbung,
aber wir mußten von ihr Gebrauch machen. Es war schmerzlich für mich, mein Foto in
Zeitschriften, auf Plakaten oder im Fernsehen zu sehen mit jeder anderen Schlagzeile als „ein
elender Sünder, allein durch Gottes Gnade gerettet“.

Unser Jubiläum

Das Siegel, das die Welt ihren Auserwählten auf die Stirn drückt, sind Erfolg und Beliebtheit.
Dieses Siegel ist für die Kinder Gottes nicht von großem Wert.

Während der langen Nacht, durch die die Menschheit geht, waren auch Hitler und Stalin beliebt.
Desgleichen viele falsche religiöse Führer, die die von Christus eingesetzte Kirche verachten und
Anhänger durch Lüge gewinnen. Was wirklich zählt, ist Sieg in der Wahrheit.

Fünfzehn Jahre sind seit der Gründung unserer internationalen Mission vergangen. Wir haben
damit begonnen, eine äußerst unbeliebte Sache zur Sprache zu bringen. Es aber zu wagen, für
die Wahrheit einzutreten, wenn sie unbeliebt ist, ist das Siegel Gottes. Wir wußten, daß sich die
Leute wenig um Märtyrer kümmern die in fernen Ländern um Christi willen sterben. Was kümmert
sie eine Milliarde Seelen unter kommunistischer oder islamischer Herrschaft, die gewaltsam von
Christus, der einzigen Quelle des Heils, ferngehalten werden. Wer weint bei dem Gedanken, daß
diese Seelen der ewigen Verdammnis anheimfallen können? Die Menschen sind selten von
Tragödien ergriffen, die am anderen Ende der Welt geschehen.

Jede Woche sterben rund eine Million Menschen, ohne von Christus zu wissen. Die
Weltbevölkerung nimmt jährlich um 47 Millionen Menschen zu. Angesichts dieser Situation lassen
die Anstrengungen der Weltkirche nach, obwohl wir das Gebot des Herrn „Gehet und lehret alle
Völker“ (Matth. 28,19) kennen.

Liebe muß, wie das Licht, immer in Bewegung sein; der Mensch muß sie üben, weggeben. Wenn
sich Licht nicht mit Höchstgeschwindigkeit bewegt, ist es nicht Licht. Ein Christentum, das nicht
sein Äußerstes tut, um die Welt für Christus zu gewinnen, ist kein Christentum. Was ist ein
selbstsüchtiger GIaube wert, der mir versichert, daß ich in den Himmel komme, mich aber nicht
antreibt, das Heil anderer zu suchen?

Wir sagten der Welt, daß das Evangelium in kommunistischen Ländern verkündet werden müsse,
und begannen sogleich damit. Wir erzählten auch die Geschichte der Heiligen, die von den
Kommunisten verfolgt werden, und begannen den Familien von Gefangenen zu helfen. Wir
staunten selbst über unseren Erfolg. Wir hatten das nicht erwartet.

Vor der Gründung unserer Mission sagten Antikommunisten: "Der einzige gute Kommunist ist ein
toter Kommunist." Wir sagen: "Jeder bekehrte Kommunist ist ein Heiliger."

Unsere Mission widersprach Kommunisten und Antikommunisten in gleicher Weise.


Logischerweise hätte sie keinen Erfolg haben dürfen. Sie hatte jedoch Erfolg. Ihre Existenz und
ihre rasche Ausbreitung sind ein Wunder Gottes.

Das Wunder ist um so erstaunlicher, wenn man bedenkt, wie viele ernsthafte christliche Kreise
uns entgegentraten. Sie meinten, daß man in kommunistischen Ländern nicht ohne Tricks
arbeiten könne und daß es besser sei, ein Drittel der Welt nicht zu evangelisieren, als zu lügen.

Wir werden mit denen, die eine solche Ansicht vertreten, nicht streiten. Unsere Antwort ist: Wir
haben einen anderen Engel gesehen als sie. Dieser andere Engel hat uns das Siegel Gottes
aufgedeckt, auf dem geschrieben steht: "Rettet etliche auf alle Weise" (1. Kor. 9,22), mit
gewöhnlichen oder außergewöhnlichen Mitteln.

III. Die Rückkehr nach Rumänien

Rückkehr im Triumph

Die Kameradschaft von Brüdern und Schwestern aller Nationen und Glaubensbekenntnisse
schätze ich sehr, aber dennoch habe ich mich im Herzen stets nach meinem rumänischen
Vaterland, dem Land, in dem ich zweimal geboren wurde, gesehnt.

Patriotismus ist heute nicht besonders in Mode. Jesus lehrte uns, selbst unsere Feinde zu lieben.
Wie könnte einer dies tun wenn er nicht sein eigenes Heimatland zuerst liebt? Und so war, wo
immer ich auch hinreiste, das Herz das in meiner Brust schlug, das blutende Herz meines Landes
und der unterdrückten rumänischen Kirche.

Es schien, als gäbe es keine Hoffnung, sie jemals wiederzusehen, außer im Himmel, wo die
große Wiedervereinigung stattfinden wird. Ohne Hoffnungen auf dieser Erde, hofften meine Frau
und ich der Hoffnungslosigkeit zum Trotz und sahen unsere Hoffnungen erfüllt. Innerhalb weniger
Tage stürzte Gott die blutige Diktatur Ceausescus. Endlich konnte ich in meine geliebte Heimat
zurückkehren.

Meine Frau Sabina und ich bestiegen das Flugzeug in Zürich. Wir waren nicht sicher, ob uns die
Einreise erlaubt würde. Wenige Tage vor unserer Abreise hatten der rumänische König Michael I.
und Königin Anna versucht zurückzukehren. Obwohl sie von den Rumänen sehr geliebt sind,
verweigerten ihnen die Roten die Einreise.

Die neue Staatsmacht Rumäniens, der Iliescu als Präsident voransteht, besteht nach wie vor
nahezu vollständig aus Kommunisten - "Reform-Kommunisten“ gewiß, aber immer noch
Kommunisten. Ein gezähmter Wolf ist immer noch ein Wolf.

Etwa zwei Stunden später hörten wir die beinahe unglaublichen Worte: "Bitte schließen Sie Ihre
Sicherheitsgurte und bereiten Sie sich auf die Landung in Bukarest vor". - Endlich waren wir in
Rumänien. Meine Gefühle übermannten mich. Ich küßte die Erde.

Eine Trauer nur - kein Heiliger zu sein

Ganze 25 Jahre waren vergangen, seit wir Rumänien verlassen hatten. Eine Stimme lästerte in
unsere Ohren: "Warum nicht die Hoffnung aufgeben? Vielleicht wird sich niemand mehr an Euch
erinnern“.

Wir hätten kaum jemals die Menschenmenge vorausahnen können, die sich aus vielen Städten
nah und fern versammelt hatten, um uns willkommen zu heißen! Unsere Freude und unser
Erstaunen kannten keine Grenzen.

Die erste Person, die ich sah, war mein ehemaliger Zellengenosse Nicolaie Moldowanu von der
Armee des Herrn, einer rumänischen Version der Heilsarmee, aber ohne Uniformen und
Musikkapellen. Wir waren in derselben Zelle, in dem jahrhundertealten Gefängnis von Gherla
gewesen.

Die Zustände dort waren sehr hart. Von Zeit zu Zeit schrien die Wärter: "Jeder legt sich auf den
Bauch!" Es war Winter. Wir hatten keine Pullover, geschweige denn Mäntel. Der Boden war aus
kaltem Beton ohne auch nur ein bißchen Stroh zum Wärmen. Wir durften keinen Laut von uns
geben.

Gefangene verfluchten die Brutalität der Wärter. Nicht aber Moldowanu. Er glaubte, daß es
besser war, Gott zu loben, als die Kommunisten zu verfluchen. Als es uns endlich erlaubt wurde,
aufzustehen, sagte er mit einem wunderschönen Lächeln auf seinen Lippen: "Laßt uns die
Umgebung vergessen. Ich singe Euch ein Lied vor, das ich eben komponiert habe, als ich auf
meinem Bauch lag." Es war eine Hymne voller Freude, Hoffnung und Lobpreisung. Sie wird nun
in vielen Ländern gesungen.

Ich erinnere mich dabei an den orthodoxen Priester Ghiusch, mit dem ich zusammen im Jilava-
Gefängnis in der Nähe von Bukarest war. Das gesamte Gefängnis ist unterirdisch, ohne ein
Gebäude, durch welches es von außen identifiziert werden könnte. Kühe grasen über den
unterirdischen Zellen.

Ich war damals im achten Jahr meiner Gefangenschaft und hatte mich an alles gewöhnt. Aber
eines Tages wurde eine ganze Gruppe von Neuen, alle orthodoxe Priester, hereingebracht. Von
Zeit zu Zeit riefen die Wärter: "Alle Priester auf den Korridor!" und verprügelten diese.

Ich setzte mich in die Nähe des Priesters Ghiusch, den ich in der Freiheit gekannt hatte. Meine
Absicht war, ihm Trost zu spenden. Ich fragte: "Bist Du traurig?" Er hob den Blick wunderschöner
Augen zu mir und antwortete: "Ich kenne nur eine Trauer, die, kein Heiliger zu sein."

Moldowanu war dieselbe Art Mann. Was für eine Ehre war es für mich, seinen Bruderkuß zu
empfangen. Ich fühlte mich nicht einmal würdig, seine Schuhbänder zu lösen.

Eine Heldin des Glaubens

Nachdem ich in Bukarest gewesen war, reiste ich von Stadt zu Stadt. Überall konnten wir das
Elend des Sozialismus sehen. Dort wo es einst Autos und Lastwagen gegeben hatte, wird mit
Fuhrwerken gefahren. Es gibt keine Waren in den Schaufenstern. Die Menschen stehen
stundenlang Schlange für Tomaten, Kohl und Milch. Viele Artikel sind rationiert. Einer Person
wird für je zwei Monate ein Kilogramm Fleisch zugeteilt. Die Straßen und Häuser sind schlecht
beleuchtet.

In jeder Stadt habe ich die kleinen und großen Helden des Glaubens getroffen. Daneben
Feiglinge und unverhohlene Verräter.

Eine Heldin, die mit uns an einige Orte reiste, war Dr. Margareta Pescaru.

Im Jahr 1950 lag ich todkrank im Gefängnisspital von Tirgul Ocna. Die Kommunisten hatten von
dem von ihnen gehaßten Kapitalismus die Vorstellung geerbt, daß jedes Gefängnis eine
Krankenstation und einen Arzt haben müsse. Jedoch sagte man den Ärzten: "Sie müssen an
diesen Gefangenen Veterinärmedizin praktizieren. Lassen Sie ihnen jene Medikamente und jene
Fürsorge zukommen, die Sie Ochsen oder Pferden geben würden, damit sie ihre Sklavenarbeit
erfüllen können. Wenn sie nicht mehr arbeiten können, lassen Sie sie sterben."

In solchen Gefängnissen erlebten wir zwei Arten von Ärzten. Einige von ihnen, darunter auch
junge weibliche Ärzte, waren bei den Folterungen anwesend und machten Witze mit den
Rohlingen. Von Zeit zu Zeit fühlte der Arzt einem dann den Puls und sagte: "Laßt ihn jetzt für eine
Weile in Ruhe". Nachdem er oder sie sich eine zeitlang mit dem Polizeioffizier amüsiert hatten,
erklärten sie: "Jetzt könnt Ihr wieder anfangen, aber paßt auf, ihn nicht in der Herzregion zu
prügeln. Er könnte sonst zu früh sterben und Ihr würdet aus ihm keine Informationen mehr
herausbekommen". Dies war die eine Art Ärzte, wenn man sie überhaupt so bezeichnen kann.

Dann gab es die anderen, die ihre erste Pflicht, Leben zu retten, ernst nahmen. Die
hervorragendste unter ihnen war Margareta Pescaru. Als Christin schmuggelte sie Medikamente
in das Gefängnis ein. Ärzte, ebenso wie andere Personen, wurden bei Betreten des
Gefängnisses "gefilzt". Dennoch gelang es ihr immer und immer wieder. Auf diese Weise wurden
viele Leben, einschließlich meines eigenen, gerettet.

Wenn ein Arzt beim Schmuggeln erwischt wurde, wurde er schwer verprügelt und anschließend
selbst zu einer Gefängnisstrafe von mehreren Jahren verurteilt. Das Risiko war beträchtlich. Dr.
Pescaru stellte den Kontakt zu meiner Familie und meinen Freunden her. Sie versorgten mich,
und durch mich auch andere, mit Streptomycin, der Wundermedizin gegen die Tuberkulose, die
im Gefängnis verbreitet war.

Kollaborateure der Kommunisten

Ich traf die Anführer verschiedenster Bekenntnisse. Einige von ihnen waren Kollaborateure der
Kommunisten gewesen. Von schrecklichen Schuldgefühlen erfüllt, wagten sie nicht ihre Augen zu
heben. Sie zitterten aus Furcht davor, daß die Archive der Geheimpolizei und des
Kultusministeriums geöffnet werden würden, und daß so die Öffentlichkeit alle Einzelheiten ihrer
Taten erfahren würde.

Einige von ihnen waren ältere Männer. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der
Kommunismus in Rumänien seit 45 Jahren regiert hatte, fragten sie sich vermutlich, was sie in
einem solchen Alter noch tun sollten, wenn sie ihrer Stellung und wahrscheinlich auch ihrer
Pension beraubt wären.

Ich versuchte ihr Gewissen zu erleichtern, indem ich ihnen als erstes erzählte, daß es eine
legitime Maßnahme der Kollaboration gegeben habe.

Nicht daß es richtig wäre, sich atheistischen Diktatoren zu unterwerfen, weil Paulus in Römer 13
sagte: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit
ohne von Gott." Ein Regime, das Gott haßt, ist nicht von Gott. Römer 13 erläutert in Vers 3 und 4,
was ein Christ unter dieser „Obrigkeit“ versteht, der er Gehorsam schuldig ist. Nur der verdient
diese Bezeichnung, der als Diener Gottes diejenigen lobt, die Gutes tun, über diejenigen ihren
Zorn ausgießen, die Böses tun. Tut ein Herrscher das Gegenteil, bestraft er das Gute und
belohnt das Böse, dann können wir ihn nicht länger als von Gott betrachten.

Wenn es dies wäre, wäre Gott wie der jüdische König Saul, der einen Feind, einen Amalekiter
bat, ihn zu töten (2. Samuel 1). Gott würde damit einer Art Selbstmord das Wort reden.

Ich glaube mit Augustinus, daß „ohne Gerechtigkeit Staaten nichts anderes sind als
Räuberbanden“. Unsere Pflicht ist es, sie wie alle andere Banden zu bekämpfen und dabei zu
versuchen, die Seelen der einzelnen Dazugehörigen zu retten. Warum schrieb dann Paulus nicht
wie Augustinus? Ich glaube, daß es weise ist, an Tyrannen, unter deren Joch man zu leben
gezwungen ist, solange man sie nicht stürzen kann, einige freundliche Worte zu richten. Der
Prophet Daniel sagt dem König Nebukadnezar, der der Hitler seiner Tage war, einige sehr
schöne Dinge. Das diplomatische Gespräch gehört zum Arsenal der Christen. Als er den Traum
des Königs kommentierte, der nur wenig vorher drei Freunde Daniels ins Feuer hatte werfen
lassen: „Herr König, möge der Traum jene treffen, die Euch hassen und seine Auslegung Eure
Feinde!“ (Daniel 4,16).
Im Herzen mag Daniel gedacht haben: „Alle Strafen von Gott, oh König, sind nur gerecht und ich
hoffe, daß Gott seine Meinung nicht ändern wird.“

Die Verräter

Es gab nicht nur Kollaborateure. Andere waren schlicht und einfach Verräter, die das Leben von
Unschuldigen für Geld verkauften, obwohl sie selber, genauso wie Judas, nie mehr als einen
Hungerlohn bekamen. Doch dann erinnerte ich mich, daß Jesus mit Judas an einem Tisch saß,
selbst nachdem er ihn verraten hatte. All die vielen Worte der Liebe, die Jesus zu den Jüngern
beim letzten Abendmahl sprach, schlossen auch ihn ein.

Jesus sagte: "Euer Herz erschrecke nicht! Glaubet an Gott, und glaubet an mich!" Dies war für
Judas gedacht, dem auch versichert wurde, daß es im Hause Gottes viele Wohnungen gebe,
auch Platz für einen Jünger, der bereits den Preis des Verrates in seiner Tasche trug, wenn er
nur bereut.

Als Judas die Soldaten führte, um Jesus zu verhaften und ihm einen verräterischen Kuß gab, rief
ihn Jesus selbst dann einen „Freund“, denn Seine Freundschaft ist für immer.

Bedauernswerterweise hat aber nicht einer der Verräter seine Schuld zugegeben, außer vielleicht
im privaten Gespräch mit Gott. Ich habe auch niemals von jemand anderem gehört, daß ein
Verräter bekehrt worden sei. Herzen werden hart.

Die große Tragödie ist, daß Verräter nicht nur aus den Reihen der schlechtesten Christen,
sondern manchmal auch aus denen der besten rekrutiert wurden, sogar aus jenen, die geradezu
Helden des Glaubens gewesen waren, und die jahrelang Folter und Gefängnis erlitten hatten.

Im lateinischen gibt es ein Sprichwort: De hic historia silet - Hierzu schweigt die Geschichte. Nicht
alles muß erzählt werden. Einige Dinge sind zu traurig.
Ein zentraler Ort in meinem Leben

Ich fand mich wieder in der Oltenistraße, wo meine Kirche gewesen war. In derselben Straße
waren auch eine orthodoxe Kirche und eine Synagoge gewesen. Ceausescu benötigte solche
Gebäude nicht. Alle wurden niedergerissen.

Was für Erinnerungen hatte ich an diesen Ort! Hier hatte ich unter vielen Tränen mein erstes
öffentliches Reuegebet gesprochen. Der Gottesdienst war von dem anglikanischen Pastor
Adeney, von der Mission für die Juden, gefeiert worden. Er hatte sein Leben den Juden gewidmet
und hatte etwa 40 Jahre gepredigt, ohne erkennbare Früchte gewinnen zu können. Aber er gab
seine Mission nicht auf.

Bald wurde es klar, daß er nicht umsonst gearbeitet hatte. Er hatte Isaac Feinstein zu Christus
geführt, der später ein bekannter judenchristlicher Prediger wurde und den Märtyrertod starb. Ein
anderer war Ascher Pitaru, der später mit mir zusammen in kommunistischen Gefängnissen war.
Alle nannten ihn in gleicher Weise "Herr 1. Korinther 13", weil dieses Kapitel, ein Hohelied der
göttlichen Liebe, sein Hauptthema war, egal mit wem er sprach, selbst mit den Wärtern, die ihn
respektvoll behandelten.

Als Pitaru vor Gericht stand, war ein christlicher Freund und Mithäftling von ihm Hauptzeuge der
Anklage gegen ihn. Er sprach niemals anders, als mit Liebe von diesem Mann. Niemals erwähnte
er seine Sünde.

Diese und viele andere waren die Früchte von Adeneys Diensten.Der Hauptprediger war Pastor
Ellison, der auch jüdischer Abstammung war.

Olteni war der Ort meiner Bekehrung und später meines Pastorates. Die Kirche wurde von allen
"Die Kirche der Liebe" genannt, weil, obwohl nominell lutherisch, sie der einzige
interkonfessionelle Ort in Rumänien war.
Gläubige aller Richtungen, Orthodoxe, Katholiken, Baptisten, Mitglieder der Pfingstbewegung,
Nazarener, Adventisten - wen man auch nennt - alle fühlten sich in diesem Nest zuhause.

Wenn jemand, der an die Kindertaufe glaubte, sein Kind brachte, freuten wir uns alle mit ihm.
Wenn ein anderer die Taufe als Erwachsener empfangen wollte, waren jene, die Kinder tauften,
anwesend, um mitzufeiern. Mein Kollege, Pastor Solheim, predigte seinen Glauben, daß wir in
der heiligen Kommunion mit dem Brot und dem Wein das wirkliche Fleisch und Blut Christi
empfangen. Ich sagte, daß ich an eine symbolische Gegenwart glaube. Niemand stritt darüber.
Jesus hatte gesagt "Nehmet, eßt, trinkt!", er hatte nicht gesagt "Zankt Euch darüber, welche
Interpretation die richtige ist!" Die Kommunion ist was sie ist, und nicht was wir darüber denken.

In dieser Kirche sorgten wir gut für die Armen und halfen ebenso vielen anderen Kirchen. Es war
von hier aus, daß wir die erste geheime Mission zu der sowjetischen Armee begannen, die in
unser Land eingefallen war. Neue Testamente und Evangelienbücher wurden für sie gedruckt.

Noch aus einem anderen Grund hat die Olteni-Kirche einen besonderen Platz in meinem Herzen:
hier trafen wir heimlich auf dem Dachboden, der meine Pfarrerwohnung war, Rev. Stuart Harris
und seinen Freund, Pastor Moseley aus den USA. Sie waren die ersten ausländischen Besucher,
die sich nicht durch die offiziellen Führer der Kirche zum Narren halten ließen.

Zähle Deine Sekunden

Einer der rührendsten Ereignisse während dieses Besuches in Rumänien war die Begegnung mit
Brüdern und Schwestern die sagten, daß sie mich schon vor dreißig, vierzig oder sogar fünfzig
Jahren hatten predigen hören.
Ich glaube, daß das Hören einer Predigt ein existenzielles Ereignis sein soll, etwas, welches das
Leben verändert. In einer Predigt soll der Prediger nicht nur über Christus sprechen, sondern ihn
verkörpern. Ein Schauspieler spricht nicht über Faust oder Romeo; er ist die Person, wenn er auf
der Bühne ist. Während des Schauspiels im Theater wird sein persönliches Leben vollständig
beiseite gelegt. Er spricht genau so, wie Romeo sprechen würde wenn er Julia begegnet. Ebenso
der Pastor. Nicht nur durch seine Worte, sondern auch durch seine Gesten, durch den Ausdruck
in seinem Gesicht, durch seinen Blick, den Klang seiner Stimme und durch das Licht seines
Geistes, das durch ihn hindurch scheint, muß er den Eindruck vermitteln: „Ich bin heute Jesus
begegnet. Er spricht zu mir.“

Jemand erinnerte mich an eine dreißig Jahre alte Predigt über Psalm 90,12. Wiederum hatte ich
mit einer Geschichte begonnen, denn an Predigten ohne Illustrationen erinnert man sich nicht:
Ein Mann mußte spät in der Nacht zu einem weit entfernten Dorf gehen. Die Reise war eintönig,
besonders da es dunkel war und er die Straße kaum sehen konnte. Auf einmal stolperte er über
etwas auf seinem Weg. Er griff nach unten und hob einen kleinen Sack voller Steinchen auf. Um
sich abzulenken, warf er von Zeit zu Zeit eines in den Fluß, der neben der Straße, auf der er
wanderte, floß. Plitsch... Plitsch... Das Geräusch des Platschens war sein harmloses Vergnügen.
Als er sein Ziel erreichte, waren nur noch zwei Steinchen übrig. Im beleuchteten Haus sah er,
daß es Diamanten waren. Er hatte ein Vermögen verschleudert.

Unsere Tage bestehen aus Sekunden. Es sind zweiunddreißig Millionen Sekunden in einem
Jahr. Ein Mensch, der dreißig Jahre gelebt hat, ist für eine Milliarde Sekunden
verantwortlich.Jede Sekunde ist uns von Gott gegeben, um sie in seinem Dienst zu verwenden.
Wenn wir dies nicht tun, kehrt die Sekunde traurig zu Gott zurück und berichtet, daß wir sein
kostbares Geschenk mißachtet haben.

Dann erzählte ich von einem General der ehemaligen königlichen Armee, mit dem ich zusammen
im Gefängnis gewesen war. Er war todkrank. Wenn ich zu ihm von Gott sprach, zeigte er kein
Interesse. Aber dann kam seine letzte Stunde, und er bat um einen Priester.

Es waren genügend Priester in diesem Gefängnis, aber es brauchte Zeit, um einen von einer
anderen Zelle herzuholen. Als er kam, konnte der General nicht mehr sprechen und die Beichte
ablegen. Der Priester gab ihm die Kommunion, aber er konnte die Hostie nicht schlucken. Er
starb, ohne Beichte und Kommunion. Er erkannte den Wert des Schatzes erst, als die letzten
Diamanten im Sack verblieben waren.

Ich sprach davon, wie gut Jesus seine Sekunden genutzt hatte, selbst als er gekreuzigt wurde:
Verzeihung für seine Kreuziger, Erlösung für einen Räuber, gute Worte an seine heilige Mutter
und einen geliebten Schüler, die Versicherung, daß alle Dinge, die für unser Heil benötigt
werden, erfüllt sind, und ein vertrauensvolles Gebet an Gott. Selbst unter diesen schrecklichen
Umständen waren die Augenblicke nicht verloren.„Nütze Deine Zeit gut. Zeit ist das kostbarste
Gut. Verlorenes Geld kannst Du wiedererlangen, nicht aber verlorene Zeit. Nütze Deine Zeit im
Dienste des Herrn.“

Du empfingst einen Engel

Ich war im christlichen Heim eines Paares, das ich etwa vierzig Jahre vorher getraut hatte. Sie
erinnerten mich an das, was ich bei ihrer Hochzeit gepredigt hatte.

Ich hatte ihnen erzählt, daß ich am Abend zuvor, mich fragend, was ich ihnen bei der Feier sagen
sollte, nicht schlafen konnte. Meine Frau schlief bereits. Ich hatte erhebliche Schwierigkeiten,
einen passenden Text für die Gelegenheit zu finden. Nur ein Bibelvers kam mir immer wieder in
den Sinn: „Gastfreundlich zu sein vergesset nicht, denn dadurch haben etliche ohne ihr Wissen
Engel beherbergt“ (Hebräer 13,2). Wie konnte man daraus eine Hochzeitspredigt machen?
Ich versuchte herauszufinden, wer von den vielen, die in unserem Heim beherbergt wurden, ein
Engel war. Einige erwiesen sich später als nette Menschen, andere als Teufel, aber Engel?
Niemand fiel in diese Kategorie.Während ich darüber nachdachte, blickte ich zu meinere
schlafenden Frau hinüber und sagte mir: „Das ist ein Engel, der von mir ohne es zu wissen
unterhalten wird.“

Dies wurde zum Text meiner Hochzeitspredigt. „Du, der Bräutigam, empfänst jetzt einen Engel.
Meistens werden Engel nicht berücksichtigt. In Sodom wurden Engel schlecht behandelt. Gib Du
Deiner Braut die Ehre, die einem Engel gebührt.“

Vierzig Jahre sind vergangen. Er nennt sie heute noch immer nicht bei ihrem Namen, sondern
„Engel“.

Den Feind lieben

Jeder Ort, den ich in Rumänien betrat, beschwor in mir neue Erinnerungen herauf.

In Bukarest predigte ich in der Dragosvoda-Brüdergemeinde. Dieses Gebäude war zuvor von
meiner Kirche bei ihrem Wandern von einem Ort zum anderen unter den verschiedenen
Diktaturen verwendet worden.

Es war unmittelbar nach der Invasion Rumäniens durch sowjetische Truppen gegen Ende des
Zweiten Weltkrieges. Ganze Einheiten der Deutschen Armee, die unser Land besetzt hatte,
wurden gefangen genommen. Sie hatten keine Illusionen. Ihr Los würde Sklaverei in Sibirien
sein. Für viele würde es den Tod bedeuten. Während eine große Gruppe deutscher
Kriegsgefangener in ihre Baracken geführt wurden, gelang es zwei Offizieren, der Bewachung zu
entfliehen. Noch in ihren Nazi-Uniformen durchwanderten sie zitternd die Straßen von Bukarest.
Ihr einziges Schutzschild war die Nacht. Wir waren immer noch im Krieg und die Straßen waren
nur spärlich beleuchtet.

Plötzlich erblickten sie einen Strahl der Hoffnung: ein Schild mit der Aufschrift „Lutherische
Kapelle“. Sie wußten, daß die Lutherischen Rumäniens deutscher Abstammung waren. Hier
würde jemand helfen. Was für eine Enttäuschung erwartete sie, als sie hörten, daß wir jüdisch
waren! Juden hatten sogar mehr Grund die deutschen Soldaten zu hassen als die sowjetischen.
Ich beruhigte ihre Befürchtungen. „Wir sind Juden, aber auch Christen und haben unter der
deutschen Besatzung gelitten. Aber Ihr persönlich mögt vielleicht nicht schuldig sein. Auf jeden
Fall sind wir nicht Eure Richter und geben niemand in die Hand seiner Feinde. Sie sind bei uns
willkommen. Wir werden Ihnen Zivilkleider geben, damit Sie versuchen können, Ihren Weg
zurück nach Deutschland zu finden.“

Damals war ein Dekret erlassen worden, das unter Andohung des Todes verbot, einen deutschen
Soldaten zu verstecken.

Mit der Zeit entwickelte sich dies zu einer systematischen Arbeit, für Hilfe an verfolgten
Deutschen, genauso wie wir während des Krieges unseren Einfluß verwendet hatten, um
verfolgten Juden zu helfen.

Die Gläubigen in der Brüderbewegung, wo ich nun gebeten wurde zu predigen, wußten all dies.
Sie wußten, was ich meinte, wenn ich davon sprach, jenen zu vergeben, die einen mißhandelt
haben, selbst den Gott hassenden Kommunisten.

So reiste ich von einem Ort zum anderen. In Bukarest und dann in verschiedenen Städten und
Dörfern erlebte ich die Vergangenheit wieder.

Orte wiederbesuchend, wo ich gesündigt habe


Ich sah nicht nur Orte angenehmer oder heiliger Erinnerung, sondern auch Orte, wo ich
gesündigt hatte.

Ich sah nochmals die Häuser, in denen meine Familie gelebt hatte, als ich sehr jung war. Ich war
gegenüber einer Mutter, die sich selbst für ihre Waisenkinder aufgeopfert hatte, schlecht
gewesen.

Es gab in Bukarest einen Stadtteil, der - ich weiß nicht warum - den Namen "Das Steinkreuz"
trug. Es war das Zentrum der Prostitution. "Freunde" führten mich dahin, als ich zwölf Jahre alt
war. Kein Christ stand vor dem verrufenen Hause, um Jugendliche davor zu warnen, nicht
einzutreten.

Ich sah Spielhöllen, die ich besucht, Orte, wo ich mit anderen Gott geschmäht hatte, und auch
Orte, wo ich selbst als Christ versagt hatte.

Ich beichtete Gott diese Sünden und glaube, daß Christus alles vergeben hat. Paulus schrieb,
daß er vorwärts drängte und die Dinge vergaß, die hinter ihm waren. Aber er konnte nicht seine
gesamte Vergangenheit vergessen. Er erzählt uns davon.

Hier dachte ich auch an alle Verfehlungen und alle schweren Sünden, die ich während des
Vierteljahrhunderts im Ausland begangen hatte.

Ich war glücklich, daß „es einen Brunnen gibt, der gefüllt ist mit dem Blut aus den Adern
Emanuels", und daß ein großes Wunder stattfindet, wenn man sich in diesem Brunnen reinigt.
Nicht nur werden Sünden, sondern sogar Verbrechen vergeben. Sie werden weiß wie Schnee.
Sie werden verwandelt zu sichtbaren Zeichen von Reinheit.

Was mit ihnen geschieht, ist jenseits des Beschreibbaren. Jesus wurde für uns zur Sünde. Wie
ein Töpfer eine luxuriöse Vase aus dem machen kann, was Ton gewesen war, so tut es Jesus
mit sündigem Leben.

Dennoch müssen wir, wie der Ton oder Metalle, die verfeinert werden sollen, erst durch das
Feuer des Leidens hindurch. Dieser Reinigungsvorgang dauert, bis alle Unreinheit verschwunden
ist, was in unserem Fall bedeutet, bis alles Klagen, alle Rebellion, alle Belästigung Gottes mit der
Frage "Warum?", alle Selbstsucht, jeder Stolz und alles nicht bereit sein zu vergeben,
verschwunden sind.

Ein kleines Mädchen beobachtete einen Goldschmied, der das kostbare Metall zur Reinigung in
einem Gefäß hielt. Immer wieder nahm er den Kohlengrus heraus, und das Metall glänzte immer
und immer schöner. Das Mädchen fragte: "Wie lange geht das noch weiter?" Er antwortete: "Hab
Geduld." Der Goldschmied mußte die Worte noch oft wiederholen, während er auf den Moment
wartete, der „der Silberblick“ genannt wird. Der Moment, da er sein Ebenbild im Metall
erblickte.Und so arbeitet der himmlische Goldschmied. Ein Sünder, der seine Reinigung erlebt
hat, hat eine Schönheit wie nie zuvor, eine Schönheit von Christus selbst.

Warum so viel Leiden?

Es gibt einen Schmerz, der alle anderen Schmerzen, die Rumänen und Bewohner anderer
Länder erdulden müssen, übersteigt, und das ist, nicht zu wissen, warum es diesen Schmerz
gibt? Dieser Gedanke lähmt den Geist.

Es wird angenommen, daß in der UdSSR ca. fünfzig Millionen Unschuldige getötet wurden und
noch einmal fünfzig Millionen in China. Niemand weiß genau, wie viele es in Rumänien und in
anderen Ländern waren.
Eine Person war dafür im Gefängnis, daß er ein Jude war, der andere, weil er ein Antisemit war.
Pastoren wurden für die Verbreitung religiöser Propaganda inhaftiert, atheistische Vortragende
dafür, daß sie in ihrer antireligiösen Propaganda nicht wirkungsvoll genug waren.
Antikommunisten litten neben überzeugten Kommunisten, die mit ihrer Partei wegen der
Interpretation irgendeines Grundsatzes der marxistischen Lehre angeeckt waren.

Kommunisten haben früher ganze Familien verurteilt, wenn ein Familienmitglied eine Verfehlung
begangen hatte. Ich erinnere mich an einen Vater, der zusammen mit seinen vier Söhnen in
meiner Zelle war. Seine Frau und seine Töchter waren in anderen Gefängnissen.

Hungrige, verprügelte Gefangene verzichteten auf die wenigen Stunden Schlaf die ihnen
zugestanden wurden, um endlos Fragen wie "Warum ist dies alles über uns und die Welt
gekommen?", "Gibt es einen Gott?", "Wo ist Gott bei all diesem Geschehen? Er soll allmächtig
und alliebend sein. Er hätte verhindern können, daß diese Dinge geschehen, oder ihnen
zumindest ein Ende setzen. Warum tut er es nicht?" zu diskutieren. Ich habe niemals auch nur
einen Leidenden getroffen, der mit der Erklärung zufrieden war, daß alles Böse - Auschwitz, der
Gulag, Pitesti und so weiter - letzten Endes der Tatsache zuzuschreiben ist, daß Adam und Eva
die verbotene Frucht aßen: Ihre Sünde wurde von ihren Nachfahren in allen Generationen geerbt.
Sie ist sogar in die Natur übergegangen. Lämmer werden von Wölfen gefressen, kleine Fische
von großen Fischen, und Kinder werden vor ihren EItern von kommunistischen Folterern bis aufs
Blut geprügelt, damit diese gestehen. Dies alles, weil vor vielen tausend Jahren dies eine Paar
etwas Obst gegessen hat. Die Erbsünde ist an allem schuld.

Es mag an der sündigen Natur liegen, die wir als die Nachfahren Adams geerbt haben, daß wir
diese Erklärung nicht verstehen können. Tatsache ist aber, daß auch die Bibelfestesten nur
vorgeben, sie anzunehmen.

Andere Erklärungen, die ich in diesen Marathon-Diskussionen hörte, und die über Jahre hinweg
endlos wiederholt wurden, waren etwa: "Es gibt keinen Gott und daher keinen Sinn." „Es ist die
Strafe für unsere eigenen persönlichen Sünden." "Das Leiden ist nicht wirklich, es ist maya. Es
gehört zu einer Welt der Täuschung." Keine der Antworten war befriedigend. Gläubige, die Gott
persönlich kennen, sollten ihm vertrauen, ohne zu fragen. Wir sind immer noch klein und haben
keinen Verstand, der die allerletzten Antworten verstehen kann.

Das jüdische Volk, das allgemein als sehr intelligent angesehen wird, hatte den
fleischgewordenen Jesus in seiner Mitte. Er sprach zu ihnen in einfacher Sprache, aber sie
konnten ihn selbst dann nicht verstehen, wenn er in sehr einfachen Gleichnissen sprach. Auch
die Jünger verstanden ihn nur teilweise.

Aber sie glaubten an den unbegreiflichen Jesus. Das ist Glaube. Er ersetzt die Vernunft, die nur
einen unendlich kleinen Bereich der Dinge in diesem riesigen Universum erfassen kann. Wir
wissen noch immer nicht, was ein Atom ist. Alle paar Jahre wechselt das Bild des Atoms, das uns
die Wissenschaft zur Verfügung stellt. Wie können wir dann Gott verstehen?

Eines Tages "werde ich erkennen, gleich wie ich erkannt bin" (1. Korinther 13,12).Von allen
Erklärungen, die als Antwort zur Frage "Warum so viel Leiden?" gegeben werden, ist die
zwingendste einfach: "Wir wissen es nicht." Eines Tages wird Gott alles in allem sein, was
bedeutet, daß er alles in Richard Wurmbrand sein wird. Es wird keinen geben, der fragt, keinen
der gefragt wird, und keine Frage. Wir werden ein Geist sein.

Jesus sagte: "Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie ich
überwunden habe und mich gesetzt mit meinem Vater auf seinen Thron", (Offenbarung 3:2 1).

Irgendwo gibt es einen Thron, von welchem aus die Welten geschaffen und regiert werden.
Heute muß ich all das geduldig lernen, was ich im Moment der Inthronisierung benötigen werde.
Die Kenntnis des Leidens ist ein Teil des Lehrplanes. Jesus selbst wurde durch Leiden
vollkommen. Wenn wir am Ende Jesus begegnen, werden wir erkennen, daß unsere Leiden im
Vergleich zu dem, was wir erlangt haben, unbedeutend waren. Narben werden eine Zierde sein.
Die Verwundeten werden um das, was sie verloren haben, bereichert werden. Die, die getötet
wurden, werden überschäumendes Leben haben.

Christen stehen nicht dem Problem des Bösen gegenüber, sondern seiner Herausforderung.
Probleme bedrücken einen, Herausforderungen hingegen spornen zu richtigen Taten an.

David war unser Vorbild. Er schrieb in Psalm 9 über den tragischen Tod eines seiner Söhne.
Aber er beklagt sich nicht über Gott und sein eigenes Schicksal. Er sagt das, was er bei der
Geburt eines Sohnes gesagt hätte: "Ich werde Dich loben, o Herr, mit meinem ganzen Herzen."

Das Ehepaar Wurmbrand, mit dem meine Familie seit 1973 eng befreundet war, lebte bis an ihr
Lebensende am südlichen Ende des Grossraumes Los Angeles.Bei einem Aufenthalt in Los
Angeles im Dezember 1995 traf meine Familie das Ehepaar Wurmbrand ein letztes mal in ihrem
Heim in Palos Verdes.
Am 11. August 2000 verstarb Sabine Wurmbrand. Ehemann Richard folgte ihr am 17. Februar
2001 in die himmlische Heimat.
Einige Vorträge von Pfr. Wurmbrand finden Sie in meiner Webpage

www.horst-koch.de unter AUDIO und VIDEO

Kontakt: info@horst-koch.de

Artikel von Pfr. Wurmbrand auf meiner Internetseite www.horst-koch.de

1. Karl Marx und Satan


2. Marx and Satan (englisch)
3. Prophezeiungen über das jüdische Volk
4. Das Grab Lenins
5. Was Christen glauben
6. What Christians believe (englisch)
7. Lo que creen los Cristianos (spanisch)
8. Atheismus – Ein Weg?

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JOHANNES SEITZ

(1839-1922)

Der Mann, über dessen Leben und Wirken hier berichtet wird, war ein Original. Das heißt aber, er
war einmalig und kann nicht kopiert werden. Durch Berufung und be sondere Führung durfte
Johannes Seitz Gottes besonderes Werkzeug sein, vielen Menschen nicht nur in ihren Seelen-,
son dern auch in ihren Leibesnöten zu helfen.

Darüber hinaus war ihm sogar Macht ge geben, solchen, die vom Teufel übel ge plagt waren, den
Besessenen, den Weg in die Freiheit der Kinder Gottes zu bahnen.

Was es heißt, ausgerüstet zu werden mit der Kraft aus der Höhe, ohne dem Schwarm geist zu
verfallen, dafür ist uns „Vater Seitz", der glaubensmächtige Beter, der etwas von den
Geisteskräften der Apostel besaß, ein leuchtendes Beispiel. Es werden auch die Grenzen
aufgezeigt, die ihn von der damals aufkommenden Pfingstbewegung trennen, die er entschieden
bekämpfte.

Mögen auch durch dieses Lebensbild weite Kreise der Christenheit es noch mehr er kennen, daß
der Herr, dem alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden, seine Herrlichkeit auch in
unseren Tagen offen baren kann und will!

INHALTSVERZEICHNIS

Inneres Werden und Wachsen


Der besondere Dienstauftrag
Das Glaubensgebet und seine Auswirkungen
Es geschieht etwas
Im Kampf gegen die Pfingstbewegung
Friedevoller Heimgang

Vorwort

Es scheint mir notwendig, dieses Büchlein mit einem kurzen Vorwort einzuleiten. Durch Berufung
und besondere Führung durfte Johannes Seitz Gottes beson deres Werkzeug sein, vielen
Menschen nicht nur in ihren Seelen-, sondern auch in ihren Leibesnöten zu helfen. Darüber
hinaus war ihm sogar Macht gegeben, solchen, die vom Teufel übel geplagt waren, den Be-
sessenen, den Weg in die Freiheit der Kinder Gottes und zum Frieden des Herzens zu bahnen.

Der Mann, über dessen Leben und Wirken hier be richtet wird, war ein Original. Das heißt, er war
einmalig und kann nicht kopiert werden. Mancherlei, was auf den nachstehenden Blättern zur
Sprache kommt, wird allerdings nur verstanden werden, wenn Gott dem Leser das hierzu
notwendige Verständnis hat schenken können. „Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom
Geiste Gottes; es ist ihm eine Torheit, und kann es nicht erkennen; denn es muß geistlich
beurteilt werden" (1. Kor. 2,14). Es war mir bei der Abfassung dieses kleinen Lebensbildes ein
Herzensanliegen, daß wir in weiten Kreisen der Christenheit es noch mehr erkennen möchten,
daß der Herr, dem alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist, seine Herrlichkeit auch in
unseren Tagen offenbaren kann und will. Der Schlüssel dazu ist das anhaltende, ernste, gläu
bige Gebet derer, die sich ihrem Herrn nach Leib, Seele und Geist hingegeben haben. Was es
heißt, ausgerüstet zu werden mit der Kraft aus der Höhe, ohne dem Schwarmgeist zu verfallen,
dafür ist uns der glaubensmächtige Beter, der etwas von den Geistes kräften der Apostel besaß,
ein wirkliches Beispiel. Es werden auch die Grenzen aufgezeigt, die ihn von der damals
aufkommenden Pfingstbewegung trennen, die er entschieden bekämpfte.

Königsfeld (Schwarzwald) Johannes Weber

Inneres Werden und Wachsen

Der große, ewige Gott hat die mannigfachsten Mittel und Wege, seine Leute zu formen und zu
gestalten, wenn er sie zu einem besonderen Dienst in dieser Welt der Sünde und des Todes
berufen hat. Gottes Vorbereitungsarbeit, .die das von ihm ausersehene Werkzeug zur Lösung der
mancherlei gestellten Aufgaben tüchtig machen soll, setzt oft schon sehr früh war es auch bei
Johannes Seitz. In seiner Kindheit und Jugend durfte er den einzigartigen Geistesfrühling
erleben, der sich durch das Wunderbare Wirken des Pfarrers Johann Christoph Blumhardt von
Möttlingen her Bahn brach. Von dieser Zeit einer außerordentlichen Gnadenheimsuchung des
lebendigen Gottes können wir uns nur sehr schwer eine richtige Vorstellung machen. Die
herrlichen Gottestaten, die durch Blumhardt an Kranken und Besessenen geschahen, machten
den Namen Jesu überaus groß und herrlich. Was müssen das für geistesmächtige Predigten
gewesen sein, die der Christuszeuge in der Möttlinger Kirche hielt, wenn große Schären
heilsbedürftiger Men schen von vielen Dörfern des Schwarzwaldes stun denweit zum
Sonntagsgottesdienst pilgerten! Durch Ungezählte, die die umwandelnde Kraft des tes Gottes
und des Heiligen Geistes an ihren Herzen erfahren hatten, konnte sich der Feuerherd geist lichen
Lebens über das Württemberger Land und seine Grenzen hinaus ausbreiten.

Auch der Vater unseres Johannes Seit, den man allenthalben als Witzbold und Spötter kannte
fand den Weg nach Möttlingen und wurde gleich durch die erste Predigt, die er hörte, so
gründlich in die Buße hineingetrieben, daß er daheim den Seinigen erklärte: „Wir sind alle auf
dem Weg zur Hölle, wir alle müssen Buße tun, alles muß anders wer den, wenn wir nicht alle
miteinander in die Hölle fahren, sondern in den Himmel kommen wollen." Johannes Seitz
erblickte am 11. Februar 1839 in Neuweiler, nicht weit von Bad Wildbad, das Licht der Welt. Sein
Elternhaus wurde, nachdem der Vater und später auch seine Mutter eine gründliche Bekehrung
erlebt hatten, zu einer Hütte Gottes bei den Menschen. Auch hier geschahen Zeichen und
Wunder. Die ganze Familie stand unter dem heil samen Einfluß von Möttlingen. Der heranwach
sende Johannes bezeugt aus jener Zeit: „Die Pre digtweise des Pfarrers Blumhardt ist mir unver
geßlich geblieben, namentlich, wenn es wie ein Alarmruf von seiner Kanzel erscholl, indem er alle
aufforderte zum Gebet und Flehen, daß wir wieder apostolische Zeiten bekämen und apostoli
sches Leben und apostolische Geisteskräfte und Taten, und wenn man andrerseits sehen durfte,
daß Gott darauf antwortete."

Aber auch die tiefgehenden Wirkungen der be sonderen Gottesoffenbarungen, die jener Zeit
durch die Jungfer Dorothea Trudel in Männedorf ge schenkt wurden, schlugen ihre Wellen bis in
die stillen Schwarzwalddörfer und lösten ungeahnte Segnungen aus. Man gab der Jungfer Trude]
das Zeugnis, daß in damaliger Zeit wohl niemand so tief in das apostolische Geistesleben
eingedrungen sei wie sie, die ungefähr 40 000 Kranken und Gebundenen Kräfte der oberen Welt
hat vermitteln dürfen. Johannes Seitz wurde ganz besonders tief beeindruckt von der gründlichen
Bekehrung und der wunderbaren Heilung vom Lippenkrebs, die einer seiner früheren
Schulkameraden namens Kel ler erlebte. Dieser hochbegabte, aber wilde, aus gelassene
Weltmensch fand den Weg nach Männe dorf. Die Leute sagten: „Was will dieses leichtsinnige
Lumpenmänndle bei der heiligen Trudel? Da muß man sich ja bekehren! Aber das Lumpen
männdle bekehrt sich doch nicht!" Es dauerte aber nicht lange, da schrieb dieser junge Mann
einen Brief voll glühender Heilandsliebe an seine Mut ter. Und nach einiger Zeit kam er in sein
Heimat dorf als neuer Mensch und vom Lippenkrebs ge heilt zurück. Später war Seitz mit ihm auf
der Mis sionsschule. Keller half übrigens nach Jahren die schöne deutsche Kolonie Haifa am
Fuße des Kar mels gründen. Längere Zeit war er als deutscher Konsul dort tätig. Bei der
Entstehung der Karmelmission durfte er auch, wie wir noch hören werden, in ganz besonderer
Weise mitwirken.

Wie tiefgehend die Einflüsse waren, die von Blumhardt und der Jungfer Trudel in jener von Gott
begnadeten Zeit ausgingen, bezeugt Johannes Seitz noch in seinem hohen Alter. In einer mitge
schriebenen Andacht, die mir zur Verfügung ge stellt wurde, führt Vater Seitz folgendes aus: „Ich
blicke auf die Zeit vor vierzig, fünfzig, sechzig Jah ren mit der größten Freude zurück, ja mit
heiliger Wonne und Freude muß ich alles dessen gedenken, weil in diesen Zeiten wieder an
einigen Orten Süd deutschlands und der Schweiz das Christentum zu solcher Herrlichkeit und
Siegesmacht durchgebro chen war, daß es, wenn auch nur für kurze Zeit, an die Macht des
ersten Christentums nahe angrenzte. Bei Pfarrer Blumhardt in Möttlingen durfte man eine
Zeitlang eine fast apostolische Wundermacht sehen. In Männedorf bei der Jungfrau Trudel wa
ren fast dieselben Siegeskräfte wie in der apostolischen Zeit erwacht. Auch ihre Lehrschülerin,
Fräulein von Seckendorff, hatte an die apostolische Zeit erinnernde Geisteskräfte. Auf ihr Gebet
hin sind ebenfalls viele wunderbare Heilungen gesche hen, so wurden u.a. zwei Blindgeborene
durch sie geheilt. Durch diese Leute, Blumhardt, Trudel, Seckendorff, aber auch Otto
Stockmayer, hat sich das Trachten nach der Heiligung und den Gaben und Kräften der
apostolischen Zeit in immer weitere Kreise verbreitet. Ich habe mit verschiedenen Brüdern über
jene hinter uns liegende Zeit gespro chen, die ebenso erfüllt waren wie ich über die herrliche und
geistesmächtige Bewegung und über die großen Hoffnungen, die man von dieser gro ßen
Bewegung sich machte und machen durfte. Aber auch auf andere Länder der evangelischen Chri
stenheit ist die Geistesbewegung, die von Blum hardt und Jungfrau Trudel ausging, übergesprun-
gen. Man erlaube mir, hierüber einen selbsterleb ten Beweis mitzuteilen. Es mögen etwa 35
Jahre her sein, daß Bruder Blaich und ich zu einer inter nationalen Konferenz nach London
geschickt wur den, die fünf Tage währte. Zu dieser Konferenz strömten aus allen Ländern der
evangelischen Christenheit Knechte und Mägde, Kinder Gottes her bei. Hauptzweck dieser
Konferenz war, zu beten und miteinander zu beraten, wie man in die Heili gung und in die Gaben
und Kräfte der apostolischen Zeit eindringen könne. Man teilte sich auch die Erfahrungen mit, die
man bei diesem Trachten bereits gemacht hatte. Die Schweden und Norwe ger berichteten, wie
seit 10 Jahren vieles an Zei chen und Wundern und Heilungen aller Art ge schehen sei, was
durch die Apostel geschehen. Elias Schrenk berichtete, daß in England an über hundert Plätzen
Kranke geheilt würden durchs Gebet. Ganz ähnliches wurde aus Amerika, Indien, Kalifornien und
anderen Ländern der evangelischen Christen heit berichtet. Aber nun kommt das, was mich aufs
tiefste bewegte und mir unvergeßlich bleiben wird.

Der Präsident und Leiter dieser Konferenz, Dr. Boardman, erklärte vor dieser großen Konferenz,
daß diese Bewegung, die ihre Wellenschläge in die ganze evangelische Christenheit
hinausgeworfen hatte, ausgegangen sei von den beiden weltbekann ten Persönlichkeiten Pfarrer
Blumhardt und Jungfrau Trudel. Ich war ganz überwältigt vor Stau nen, daß durch zwei Leute wie
Blumhardt und Trudel eine solche Bewegung nicht allein über Deutschland, sondern über die
ganze evangelische Christenheit sich durchsetzen konnte. Aber ich ging auch der Frage auf den
Grund: Worin besteht das Geheimnis dieser großen Kraftwirkung, die durch zwei deutsche
Geschwister ausgegangen ist? Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort: Blumhardt sowohl wie
die Jungfrau Trudel waren in ihrem Gebetsleben ganze Nachfolger des Herrn Jesu und der
ersten Jünger."

Es bedarf keiner Frage, daß dies herrliche geist liche Klima, in dem der junge Seitz aufwachsen
durfte, wesentlich zu seiner inneren Reife und Ge sundung beigetragen hat und ihn prägen half,
so daß er ein Künder apostolischer Geisteskräfte wer den konnte. Alles Wachstum, auch das
innere, ist aber bestimmten Gesetzen unterworfen und bedarf einer gewissen Zeit. Bis Gott
seinen Knecht dahin gebracht hatte, wohin er ihn haben wollte, bedurfte es noch mancher
Erziehungswege. Er schreibt dar über: „Jawohl, die großen und vielen Offenbarun gen, Gnaden-
und Machterweisungen Gottes wur den für mein jugendliches Gemüt immer überwältigender, so
daß ich bis aufs Innerste hingerissen und entschlossen war, mit allem, was ich hatte, mich
diesem Gott hinzugeben. Aber bei all diesen über wältigenden Gnadenoffenbarungen mußte ich
auch eine Kehrseite meines Innern kennenlernen. Ich mußte recht erfahren, daß ich ein Herz
hatte, das trotz aller Wunder der Güte Gottes immerdar den Irrweg wollte. Mein Inneres war noch
einige Jahre ein Kampfplatz, auf welchem Gott und die Welt in heftigen Kämpfen lagen."

Gott selbst aber, der sich Johannes Seitz zur Aus führung seiner Pläne ausersehen hatte,
brachte ihn dann dahin, daß er ihm gelobte: „Ich will mit allem, was nur Sünde und unheilig ist,
gänzlich brechen. Du sollst mit mir machen, was du willst. Ich will ein willenloses Werkzeug für
dich sein, das du drehen, wenden und gebrauchen kannst, wie du nur willst." Allerlei
Gnadengerichte, zuletzt noch ein besonders schweres Leiden, das über ihn hereinbrach, waren
der Anlaß zu dieser völligen Hingabe an den Herrn.

Lassen wir Seitz selbst erzählen: „Mein linker Arm und die linke Hand waren längere Zeit so sehr
angeschwollen, daß ich große Schmerzen hatte. Da kam der Knochenfraß dazu. Die Hand
eiterte, und Eiter floß aus mehreren Öffnungen. Dann eiterten sogar ganze Knochensplitter aus
der Hand heraus. Die Ärzte waren der Meinung, die Hand sei nicht mehr zu retten, der Arm
müsse abgenom men werden. Dann werde wenigstens mein Leben erhalten. Das sagte auch
unser Oberamtsarzt, und er soll gescholten haben, daß man mir den Arm noch nicht
abgenommen habe. In welcher Angst und Trübsal ich schwebte, darüber will ich schwei gen.
Aber ich wußte ganz genau, weshalb mich Gott in diese Angst und Trübsal hatte kommen lassen.
Ich erkannte, daß mich Gott vor das Ent weder - Oder gestellt hatte, daß ich mich entwe der
ganz, vom Scheitel his zur Fußsohle, mit jeder Faser, mit jedem Blutstropfen dem Herrn auslie
fern solle oder untergehen müsse. Es war im Früh jahr, wo mein Vater und meine Geschwister
fast immer auf dem Felde arbeiteten. Wenn ich dann so allein zu Hause war, da weinte und
schrie ich in meiner Angst zu Gott um Erbarmen. Ich schrie: Lieber Gott, wenn du mich vor dem
Schicksal be wahrst, mein Leben lang als ein Krüppel in der Welt herumlaufen zu müssen, so soll
mein Leben mit allem, was ich bin und habe, nur dir gehören, nur für dich da sein. Über dies
angstvolle Geschrei meiner Seele erbarmte sich Gott und erhörte mich."

In einem Traum wurde dem ringenden Beter ge zeigt, daß er im Walde stand und mit geheilter
Hand wieder wie früher die stolzen Schwarzwald tannen fällen konnte. Darüber war er namenlos
vergnügt und dankbar. Dieser Traum erfüllte sich ein halbes Jahr später wirklich. Der Arm war
ganz gesund. Die Knochen, von denen Splitter heraus geeitert waren, fanden völlige Heilung.

Der besondere Dienstauftrag

Es ist immer eine wunderbare Sache, wenn der Herr seine Hand auf einen Menschen legt und
ihn in seine Nachfolge ruft. Bei. diesem Wunder, das sich in den mannigfachsten Formen begibt,
geht es jedem einzelnen, der gerufen ist, so daß er seines Heiles gewiß wird und in tiefer Demut
und gro ßer Dankbarkeit mit Paul Gerhardt rühmen lernt:

„Du bist mein, ich bin dein,'


niemand kann uns scheiden.
Ich bin dein, weil du dein Leben
und dein Blut, mir zugut, in den Tod gegeben.
Du bist mein, weil ich dich fasse
und dich nicht, o mein Licht, aus dem Herzen lasse."

Solch ein Gerufener sinkt wie Thomas seinem Heiland zu Füßen mit dem beglückenden Bekennt
nis: „Mein Herr und mein Gott!"

Abgesehen davon, daß diese heilsgewissen, heils freudigen Menschen dann alle ohne
Ausnahme ihre missionarischen Aufgaben zu lösen haben, gefällt es Gott wohl, immer wieder
Männer und Frauen in seinen ganz besonderen Dienst zu berufen. Und das bedeutet dann
allerdings eine ganz große Gnade, die nicht 'so ohne weiteres jedem wider fährt. Dabei geht es
oft seltsam und sehr sonderbar zu. Das wird ja schon deutlich in den man cherlei
Berufungsgeschichten, die uns in der Hei ligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments
erzählt werden. Rang und gesellschaftliche Stel lung schalten hier aus. Natürlich werden auch sol
che zu auserwählten Rüstzeugen bestimmt, die durch ihre besondere Erziehung und
wissenschaftliche Ausbildung, wie etwa ein Mose oder ein Paulus, um nur zwei zu nennen, über
eine hervorragende Bildung und ein reiches menschliches Wissen ver fügen. Aber nicht wenige,
auf die es Gott abgese hen hatte, wollte und konnte er brauchen, obwohl sie ganz bescheidenen
Verhältnissen entstammten. Denken wir z. B. an Elia und manche andere! Wenn Gott seine
Werkzeuge braucht, sind sie mit einem Male da. Wie helle Sterne tauchen sie in der Nacht der
Gottentfremdung plötzlich auf.

Auch die Art und Weise, wie Johannes Seitz sei nen Dienstauftrag erhält, ist keineswegs
alltäglich, sondern recht absonderlich. - Da sitzt ein junger Mann an einem Sonntagnachmittag in
der Gemein schaftsstunde, die in einem überfüllten Raum statt findet. Er hat sich mit einigen
Kameraden ganz hinten ins letzte Eckchen gedrückt.

Bruder Martin Blaich, der von Zeit zu Zeit nach Zwerenberg kommt, um das Wort des Lebens
auszuteilen, erhebt sich von seinem Platz. Jeder denkt, daß die Versammlung beginnen soll.
Doch der Prediger sieht über die vielen Besucher, die zum großen Teil auch aus den
umliegenden Schwarzwalddör fern gekommen waren, hinweg bis in die hinterste Ecke, in der der
junge Seitz sitzt, und fragt laut und vernehmlich, daß es jeder hören kann: „Jo hannes, was
schaffst du?" Dieser sieht sich nach rechts und links um, um festzustellen, an wen wohl die Frage
gerichtet sein könnte. Er denkt gar nicht daran, daß sie ihm gilt. Blaich aber sagt: „Dich,
Johannes Seitz, dich meine ich!" Der Zweiundzwan zigjährige antwortet: „Stoppeln sammeln zum
Zie gelbrennen." Schallendes Gelächter allenthalben. Der Bote Gottes aber entgegnet: „Als die
Kinder Israel die Stoppeln sammeln mußten zum Ziegel brennen, da hatte Mose schon den
Befehl in der Tasche: ,Laß mein Volk, daß es mir diene!` Es steht der letzte große Kampf bevor,
und dafür ist eine Offiziersschule eröffnet worden; in diese Offi ziersschule sollst du
aufgenommen werden." Gemeint war ein Missionsseminar der Tempelgesell schaft, der damals
einige Gemeinschaften ange hörten. Auch die Zwerenberger Arbeit gehörte dazu. Dieses
Missionsseminar sollte dazu erweitert werden, um in vierwöchigen und dreimonatigen Kursen
bildungsfähige junge Männer als Ge meinschaftsleiter zu schulen. Man dachte darüber hinaus
aber auch noch an die Ausbildung von Reisepredigern und Evangelisten, die einige Jahre dauern
sollte. –

In einer nachfolgenden Aussprache unter vier Augen eröffnete Prediger Blaich seinem Auserko
renen, daß man ihn für diese Wirksamkeit in Aus sicht genommen habe. Doch der junge Mann
sträubte sich mit Händen und Füßen dagegen, in diese Missionsschule einzutreten. Auf die
mancherlei Gründe seiner ablehnenden Haltung wollen wir hier nicht eingehen.

Wie sein jüngerer Bruder vom Herrn auserse hen wurde, dieses Widerstreben zu überwinden,
darüber hören wir Johannes Seitz selbst: „Er sagte mir unter anderem: ,Ich beobachte dich schon
seit acht Tagen. Ich kann dir sagen, es ist der Teufel, der alles aufbietet, um dich nicht in die
Missions schule zu lassen, und er weiß genau, warum. Er gaukelt dir immer vor, du habest zu
wenig Bega bung. Hardegg schrieb aber in unserm Blatt (Har degg war einer der Leiter dieser
Tempelgesell schaft), die Schwarzwälder seien, wie alle Ge birgsvölker, gemütvoll und begabt
zugleich. Du warst aber doch der Leithammel von uns allen und hast schon eine Anzahl
mitgerissen. Und nun denkt der Teufel: wenn der in die Missionsschule kommt, dann wird er mir
noch viele herausreißen. Nun sei nicht so dumm und höre nicht länger auf ihn! Geh hinauf, pack
deine Kiste und reise morgen mit Blaich fort!`“ Diesen Rat hat dann Johannes Seitz tatsächlich
befolgt. Er erzählt aus jenen entscheidungsvollen Tagen weiter: „Freilich trug dazu ein Traum bei,
durch den mein Trotz und meine Angst vor der Missionsschule ganz gebro chen wurden. Ich sah
in der Nacht nach diesem Gespräch eine so wunderbar herrliche Sonne, daß ich von ihr ganz
überwältigt und angezogen wurde. Es war, als ob ich Flügel bekommen hätte und ihr
entgegenfliegen würde. Ich sagte: Nur fort, fort, das ist ja die ewige Gnadensonne, und da flog
ich immer mehr dieser Gnadensonne entgegen. Als ich erwachte, hatte ich Freudigkeit, in die
Missions schule einzutreten."

Vier Jahre sollte Seitz im Missionsseminar auf dem Kirschenhardthof bei Ludwigsburg zubringen.
Doch wurde er so geführt, daß seine Ausbildung nur zweieinhalb Jahre dauerte. Es trug sich näm
lich folgendes zu. Auch heute noch herrscht, ebenso wie damals, in den Predigerschulen die
Gepflogen heit, die Schüler gelegentlich, besonders aber an den Sonntagen, mit älteren Brüdern
zu entsenden, damit sie in gottesdienstlichen Versammlungen Zeugnis für den Herrn ablegen
und zum Predigt dienst geschult werden. So mußte auch Seitz mit einem älteren Bruder in die
Murrhardter Gegend, um in seinem Bezirk Versammlungen zu halten. Diesen Dienst segnete der
Herr so reichlich, daß eine Erweckung, zumal unter der Jugend, entstand. Aber auch Bauern und
Gutsbesitzer bekehrten sich. Daraufhin verfassten die verantwortlichen Brüder jener christlichen
Kreise eine Bittschrift an das Missionskomitee der Tempelgesellschaft, Johannes Seitz als
Evangelist in jene Gegend zu entsenden. Diesem Wunsch wunde entsprochen und Seitz sein
Arbeitsgebiet dort zugewiesen. Die Bedenken des jungen 25-jährigen Evangelisten, seine
Ausbildung abzubrechen, konnten zerstreut werden.

Es ist außerordentlich wichtig, sich seiner wirk lichen Berufung in des Meisters Dienst gewiß zu
sein. Wenn besondere Nöte und Schwierigkeiten auftreten, die nicht selten große Anfechtungen
und Seelenkämpfe auslösen, weiß man sich vom Herrn selbst auf sein Arbeitsfeld gestellt, und
man ver mag dann in ruhiger Sicherheit und Unerschrockenheit alles zu überwinden, was sich
einem ent gegenstellt. Weil der Leiter der Tempelgesell schaft, Christoph Hoffmann, der Sohn
des bekann ten Gründers der Brüdergemeinden Wilhelmsdorf und Korntal, sich mehr und mehr
als Rationalist entwickelte, mußte sich Johannes Seitz nach großen Seelen- und Gebetskämpfen
von der Tempelgesellschaft tren nen. Nach einer Vorlage, die Hoffmann einbrachte, sollten sogar
Taufe und Heiliges Abendmahl ab geschafft werden. Dieses Ansinnen gab insonder heit den
Ausschlag, daß sich Johannes Seitz und mit ihm Martin Blaich von der Tempelgesellschaft los
sagten. Nach den außerordentlich schweren Kämp fen, die mit dieser Lösung verbunden waren,
hören wir ihn zu Bruder Blaich sagen: „Wenn man bei einer Gesellschaft solch furchtbare
Bannbullen er fahren muß (Hoffmann hatte gegen die Brüder einen Bannstrahl erlassen), weil
man sich die hei ligsten, von Christus selbst eingesetzten Dinge, wie Taufe und Abendmahl, nicht
nehmen lassen will, so ist das keine Freiheit des Geistes mehr, sondern päpstliche Sklaverei. Ich
habe in meiner Heimat, im schönen Schwarzwald, für meinen Leib die schöne, freie Tannenluft
eingeatmet und für mei nen Geist die herrliche Möttlinger Luft bei Leu ten wie Blumhardt und der
Trudel, und da soll ich alter Knabe jetzt so moderige, stinkende Papstluft einatmen? Bruder
Blaich, das tu ich nicht! Das Lied hat man uns nicht gesungen, als wir zur Tem pelgesellschaft
kamen, daß Hoffmann Taufe und Abendmahl noch abschaffen will und diejenigen, die nicht damit
einig sind, mit solchen Bannstrah len bedient."

Die Zukunft hat dann bewiesen, daß der Herr seine Knechte durch die Trennung von der Tempel
gesellschaft den rechten Weg geführt hat; denn eine weitere Missionstätigkeit wurde durch sie in
Deutschland völlig unmöglich und daher aufgege ben. Die Brüder Blaich und Seitz aber fanden
ein weites, reiches und fruchtbares Arbeitsfeld auf einer anderen Grundlage. Es kamen Rufe aus
Schle sien, Posen und Brandenburg mit Vorschlägen, daß man sich zu einem selbständigen
Verband zusammenzuschließen beabsichtige. Dieser Verband aber werde dann die Brüder
Blaich und Seitz als seine eigenen Evangelisten anstellen. Man er kannte in dem allen des Herrn
besondere Füh rung. So wurden im Juli 1878 zu Lissa in der damaligen Provinz Posen die
Satzungen dieses Vereins, des „Evangelischen Reichsbruderbundes", entworfen und genehmigt.
Die Leitung legte man in die Hände eines Brüderrates. Für diese wunderbare Wen dung der
ganzen Angelegenheit waren Blaich und Seitz ihrem Gott von Herzen dankbar. Aber nicht nur in
Posen, Brandenburg und Schlesien, sondern auch in Sachsen und im württembergischen
Schwarz wald trennte sich eine Anzahl von Kreisen von der Tempelgesellschaft und schloß sich
dem Brüderbund an. Das neue Arbeitsfeld wuchs allerdings weit über diese Gebiete hinaus. Man
fand auch Ein gang in Pommern und Westpreußen, ja, Seitz wurde nach Königsberg, Tilsit und
Memel gerufen. Über all, wo er diente, schenkte Gott eine große geistliche Bewegung. Die
Geschwister in Ostpreußen baten deshalb den Brüderrat des Brüderbundes, Seitz ständig in
Ostpreußen zu belassen. Ihrem Wunsch wurde nach reiflicher Überlegung gern entsprochen.

Da Seitz eine ganze Reihe von Jahren seinen Dienst innerhalb des Brüderbundes getan hat, inter
essiert es uns, etwas über die Richtlinien dieses Gemeinschaftsverbandes zu erfahren. In den
Sat zungen war folgendes festgelegt: „Unser Bund nennt sich ’Evangelischer’ Reichsbrüderbund,
weil wir an das Evangelium glauben und überzeugt sind, daß die Menschheit nur durch das
Erlösungs werk Jesu Christi befreit werden kann, welches Christus durch sein vollgültiges
Versöhnungsopfer, sein heiliges Leben, Leiden und Sterben, Aufer stehen, Himmelfahrt und die
Ausgießung des Hei ligen Geistes den Menschen nahegebracht hat. Er nennt sich
Reichs-Brüderbund, weil wir an die baldige Wiederkunft Christi zur Aufrichtung sei nes
Königreiches glauben und an die Vollendung seines Werkes, so wie es die Propheten geschaut
und er selbst und seine Apostel es verkündigt haben."

Aus dem Reichsbrüderbund ist übrigens auch die bekannte Karmelmission entstanden. Das Inter
esse für das Heilige Land war ja bei vielen Mit gliedern, die früher zur Tempelgesellschaft gehört
hatten, schon lange wach. Keller, der Schulfreund von Johannes Seitz, war inzwischen deutscher
Konsul in Haifa. Er wünschte enge Verbindungen zum Brüderbund und war maßgeblich daran
beteiligt, daß die ge plante Karmelmission Wirklichkeit wurde. Anlässlich einer Palästinareise, zu
der gläubige Christen Martin Blaich ermuntert hatten, sandte dieser an alle Mitglieder des
Reichsbrüderbundes von Haifa aus einen Aufruf, indem er zur Gründung einer Missionsstation
auf dem Karmel aufforderte, um dort einen wichtigen Missionsposten zu schaffen. „In der heißen
Sommerszeit ist es für viele Per sonen dieses Landes und auch in Ägypten nicht nur ein
Bedürfnis, sondern sogar eine Notwendig keit, eine Luftveränderung vorzunehmen und die
Bergluft aufzusuchen." „Es würde einem großen Bedürfnis entsprochen, wenn hier mitten im
Lande eine Zufluchtsstätte für leidende und geschwächte Personen geschaffen werden könnte.
Keine Gegend wäre so geeignet dazu wie der Karmel." „Das Wichtigste aber, was ich dabei ins
Auge fasse, wäre die Mission unter den Orientalen." „Wir dürften bloß dafür sorgen, daß die
geeigneten Leute hinkämen und das Haus zugleich eine geist liche Zufluchtsstätte würde wie
Heinrichsbad und Bad Boll. Wäre es nicht an der Zeit, daß wieder etwas jenem Altar
Entsprechendes auf dem Berge Karmel gebaut würde wie zur Zeit Elias und den Morgenländern
gezeigt würde, welches der rechte Gott sei?" - Das sind so einige Sätze, die wir aus dem Aufruf
wiedergeben. Wieviel Schwierigkei ten jedoch überwunden werden mußten, bis das gesteckte
Ziel erreicht war, darüber wird im fol genden Kapitel noch einiges mitgeteilt.

Zu dem besonderen Dienstauftrag, den Gott sei nem Mitarbeiter gab, gehörte es auch, daß
Johan nes Seitz über zwanzig Jahre in den christlichen Erholungsheimen Preußisch-Bahnau in
Ostpreußen, Lim bach in Sachsen und Teichwolframsdorf bei Wer dau in Sachsen einen
unschätzbaren Dienst tun durfte. Vater Seitz hat während dieser Tätigkeit, ganz besonders in
Teichwolframsdorf, Ungezählten an Leib, Seele und Geist durch die ihm darge reichten Kräfte
aus der oberen Welt helfen dür fen. Darüber werden die folgenden Abschnitte noch manches zu
sagen haben.

Der Herr führte seinem Knecht, obwohl er be reits das 50. Lebensjahr vollendet hatte, auf ein
zigartige Weise auch noch, eine Lebensgefährtin zu. Ihm wurde bei den in den Heimen zu lösen
den Aufgaben in seiner Frau eine wertvolle Ergänzung geschenkt. Er selbst sagt darüber fol
gendes:

„Meine Frau hat in ihrer Art geradesoviel in unseren Erholungsheimen geleistet wie ich in der
meinigen. Sie war sowohl auf dem wirtschaftlichen als auch auf dem geistlichen Gebiet mir eine
wirk liche Gehilfin. Ich muß das Zeugnis aussprechen, daß vieles in unseren Erholungsheimen
nicht zu stande gekommen wäre, wenn ich sie nicht an meiner Seite gehabt hätte."

Das Glaubensgebet und seine Auswirkungen

Johannes Seitz hat in reiferen Jahren einmal ein sehr wertvolles Wort gesprochen. Es lautet: „Wir
sind dazu da, Gott zu verherrlichen durch Glauben und Vertrauen, und man ehrt Gott um so
mehr, je Größeres man ihm zutraut. Aber es gibt auch nichts, wofür er uns wiederum so ehrt wie
für unseren Glauben." Solch ein Zeugnis ist natürlich aus mancherlei Glaubensanfechtungen und
Glaubenserfahrungen herausgeboren und zeigt die weitere innere Entwicklung auf, die der
Knecht Got tes durchschreiten mußte. Darüber äußert er selbst: „Welche Fülle von
Gebetserhörungen und Wun der über Wunder, die mich oft so gewaltig aufge rüttelt und aufs
mächtigste auf mich eingewirkt haben! Und was hatte Gott trotzdem für Kämpfe und für Mühe mit
mir, bis er alles Widerstreben und auch die Charakterlosigkeit des eigenen Her zens gebrochen
und besiegt und ganz von mir Besitz genommen hatte! Auch muß ich heute rück blickend sehen,
wie schwerfällig ich gewesen bin, bis es Gott gelang, den Glauben und den Glau bensgeist in mir
zu wecken, in dem ich doch auf gewachsen war, und den ich doch beständig einatmen durfte. Ich
war schon Evangelist auf meiner ersten Station, als das erste Mal bei Krankheiten dieser
Glaubensgeist auch bei mir durchbrach, in dem ich aufgewachsen war." –

Was zielbewusstes, anhaltendes Glaubensgebet auszurichten vermag, das wußte Johannes


Seitz schon, ehe er selbst der große Beter wurde, zu dem Gott sich in so außerordentlicher
Weise be kennen konnte. Der junge, werdende Mensch hatte ja einen überzeugenden
Anschauungsunterricht, was Gebets- und Glaubenssiege anbelangt, in der Möttlinger Bewegung,
im Blick auf Männedorf, aber auch in seinem Elternhaus gehabt. Nicht zu letzt durfte er damals
selbst schon mancherlei denk würdige Gebetserhörungen erfahren. Das alles brachte ihn
zwangsläufig dahin, je länger desto mehr seinem Herrn das Größte zuzutrauen, wenn es um die
Belange seines Reiches oder die Nöte derer ging, die durchgreifende Hilfe suchten. Ohne
ernstes, anhaltendes Gebet können wir uns Johan nes Seitz nun gar nicht mehr denken. Er
betete ohne Unterlass.

G. F. Nagel sagt in seinem Gedenkwort zum Heimgang von Vater Seitz - so nannte man ihn in
späteren Jahren -, daß dieser bei einer Unterredung gelegentlich geäußert habe: „Die frucht
barsten Zeiten in meinem Leben waren die, in denen ich beharrlich betete. Gott tat große Dinge,
wenn wir im Gebetskampf verharrten. Es sagte ein Mitarbeiter von jener Zeit: ’Wenn das so
weitergeht, dann kann bald keine Satansmacht und auch keine Krankheit dem mehr
widerstehen.’" Seitz hätte dann aber hinzugefügt: „Aber das ist in meinem Leben nicht immer so
gewesen. Beson ders im Alter war das nicht immer so." Übrigens sei hier vermerkt, daß es von
der großen Demut dieses Mannes zeugt, daß er selbst lange Zeit im mer wieder mit ganzer
Entschiedenheit die An rede „Vater Seitz" ablehnte. Er wollte nur der „Bruder Seitz" sein, aber
weil er ein wirklicher Vater in Christo war gemäß dem Pauluswort: „Ihr habt viele Zuchtmeister,
aber wenig Väter in Christo", so wurde er eben doch der Vater Seitz. Über das Gebet und seine
Auswirkungen sei nach stehend noch mancherlei mitgeteilt, das uns zum Ansporn und zur
Glaubensstärkung dienen kann.

Als der junge Prediger Seitz in geistlich toter Gegend sein Arbeitsfeld hatte, nahm er es nicht als
eine gegebene Tatsache hin, daß die ihn um gebenden Menschen ohne Lebensverbindung mit
Christus waren. Das läßt ihn nicht zur Ruhe kom men. Er glaubt an eine Erweckung. Deshalb
hören wir ihn sagen: „Die Wortverkündigung muß in der Kraft des Geistes geschehen, wenn in
solch versunkenen Gegenden die Macht des Todes ge brochen werden und das Reich Gottes
durchbre chen soll. Ich war gezwungen, ein anhaltendes Ge betsleben zu führen und in ein
Heiligungsleben einzudringen . . . Gott ermutigte mich in die sem Gebetsleben und in dem
Trachten nach Hei ligung und nach mehr Kräften von oben durch schöne, oft herrliche
Gebetssiege und Er weckungen, daß sich allmählich in diesen Gegen den neues Leben
ausbreitete und sich ein schönes, geordnetes Gemeinschaftsleben bildete." Wie kann doch eine
solche innere Haltung in unserer schlaf fen, glaubenslosen Zeit vielen Verkündigern des
Evangeliums Vorbild sein! Es bedarf keiner Frage, daß es ganz anders in vielen Gemeinden und
Gemeinschaften aussehen könnte, wenn mehr Gebets- und Glaubensgeist gefunden würde bei
denen, die Verantwortung haben. Wir sollten darunter leiden, wenn in unseren Tagen so wenig
Durch greifendes an Taten Gottes geschieht.

Als Seitz nach Stuttgart auf ein neues Arbeits feld versetzt war, machte es ihm wieder außer
ordentlich zu schaffen, daß er, der schon mancher lei Frucht hatte ernten dürfen, längere Zeit in
seiner Missionsarbeit keinen Erfolg sah. Finstere Mächte wollten ihn zu Boden drücken und lahm
legen. Aber er sagte sich: „Eins hast du noch nicht getan, daß dieser Zustand eine Änderung
erfährt, anhaltend gebetet hast du noch nicht. Das kannst du noch leisten, du kannst anhaltend
beten!"

Und nun lassen wir ihn weiter berichten: „Ich fing nun an, wirklich anhaltend zu beten. Wie lange
ich in diesem anhaltenden Gebet ringend stehen mußte, weiß ich nicht mehr genau. Es mögen
zwei bis drei Jahre gewesen sein. Aber ich rang so mit Gott, daß ich sagte: ,Wenn du an den
Polen des Weltalls wärest, so will ich so in das Weltall hineinschreien, daß du dich erbarmen und
mir helfen mußt. Und wenn dir mein Beten und Schreien nicht entleidet, dann entleidet's mir auch
nicht. Und wenn du mich noch länger nicht hören wolltest, so werde ich noch lange nicht
aufhören, bis du mich hörst. Öfter ging ich in die Berge oberhalb Stuttgarts hinauf, so in den
Bopserwald, wo ich halbe Tage lang mit Gott rang. Als ich auch einmal wieder in einem der
Wälder bei Stuttgart dalag im Gebet und Ringen mit Gott, da kam so etwas Gewaltiges über
mich, von dem ich fühlte, jetzt hat Gott mein Geschrei erhört. Es war gerade, als wenn der Arm
Gottes ausgestreckt wäre und hätte alle diese Finsternis mächte zerschellt. Ich fühlte mich auf
einmal ganz befreit. Aber noch mehr: Ich hatte etwas bekommen, um das ich weniger gebetet
hatte. Ich fühlte mich mit einer solchen Kraft von oben erfüllt, daß es mir immer gewisser wurde,
es war eine neue Kraftausrüstung mit dem Geiste Gottes. Es war mir so gewiß, daß ich jetzt
wieder erfolgreich sein werde in meiner Mission, so daß ich am anderen Tag zu einem vertrauten
Freund triumphierend sagte: ,Jetzt kann ich wieder Lücken brechen in Satans Reich, ich habe
Pulver gekriegt vom Him mel.` Und es war keine Täuschung, ich hatte jetzt wieder eine solche
Kraft, für den Herrn zu wirken. Damals habe ich auch erfahren, wie leicht es ist, die Menschen zu
erschüttern und zu bekehren, wenn eine göttliche Kraft da ist. So konnte ich z.B. in dieser Kraft in
einer der reichsten Gegenden Würt tembergs (durch Gottes Gnade) eine große Erweckung
zustandebringen, so daß wir unsere Konfe renzen im Sommer immer im Freien halten muß ten.
Kein Raum war groß genug. Auch an Kran ken geschahen herrliche Wunder. Verschiedene
wurden sogar, wenn sie schon im Rachen des To des lagen, durch das Gebet herausgerissen."

Wir wollen die Ausdrucksformen in diesem Be kenntnis nicht als überspannt ansehen. Daß Seitz
kein Schwärmer war, sondern nur ganz real in biblischer Weise mit den Kräften der oberen Welt
rechnete und sie in Anspruch nahm, wird ja ohne weiteres deutlich aus dem vorletzten Kapitel
dieses Lebensbildes. Aber stellen wir noch einmal fest, daß das wirklich zutrifft auf Leben und
Wirken dieses einzigartigen Mannes, was einer seiner Freunde an seinem Sarge bekannte:
„Johannes Seitz sehnte sich danach, daß der Herr in seiner Gemeinde in viel größerer und
ausgedehnterer Weise Geisteskräfte offenbaren und wirksam wer den lassen möchte." Weil das
so war, deshalb be kannte sich der lebendige Christus in seiner Gnade dazu und schenkte es
seinem Zeugen, daß die Bot schaft, die er verkündigte, beglaubigt und bekräf tigt wurde durch
mitfolgende Zeichen und Wunder. „Es gab an vielen Plätzen, wo wir Eingang fanden, sichtbare
Gebetserhörungen und Gebets siege, mitunter an Wunder grenzende Heilungen und Befreiungen
bei Besessenen und Kranken aller Art. Durch diese Erfahrungen und besonders durch die klaren,
unzweideutigen Aussprüche der Heili gen Schrift wurden wir mit vielen anderen Got teskindern
immer mehr davon überzeugt, daß solche Verheißungsworte wie: ,Wer an mich glaubt, der wird
dieselben Werke tun, die ich tue, und wird noch größere tun, denn ich getan habe` für alle Zeiten
und auch für unsere Zeit noch in voller Kraft stehen, und daß unser Heiland den Befehl, den er
seinen Jüngern gab: ,Machet die Kranken gesund und treibet die Teufel aus . . . .` niemals
zurückgenommen hat und wir uns deshalb mit der ganzen Gemeinde Gottes darüber zu beugen
haben, daß dieser Befehl jahrhundertelang durch die Sünden, Untreue und Kraftlosigkeit seiner
Ge meinde vernachlässigt wurde oder nicht mehr ver wirklicht werden konnte." So berichtet und
bezeugt Johannes Seitz im Blick auf jene Zeit, da er als Bote des Evangeliums durch die Lande
zog.

Als er später im Auftrag des Evangelischen Reichsbrüderbundes in Ostpreußen in großem Segen


arbeiten durfte und sich daraus die Not wendigkeit ergab, daß weitere Mitarbeiter für das Feld,
das weiß zur Ernte war, gefunden würden, war es diesmal das besondere Gebetsanliegen von
Bruder Seitz, daß der Herr mehr Arbeiter in seine Ernte senden möchte. Auf dies Gebet hin
schenkte Gott auch weitere Brüder, die zum Dienst bereit waren. Seitz sagte von jener Zeit: „Wir
hatten deren aber immer noch zu wenig für die vielen Arbeitsfelder, und immer wieder suchten
andere Gesellschaften sich in unsere Arbeit hineinzudrän gen, wodurch viel Spaltung und
Zerrissenheit angerichtet wurde. Das trieb mich einmal dazu, daß ich fast die ganze Nacht mit
Gott rang, er solle uns doch auch einmal eine namhafte Summe Gel des geben, daß wir noch
mehr Evangelisten anstellen könnten. Am Tage darauf kamen zwei Eheleute und sagten mir, es
sei ihnen klargewor den, sie sollten uns jedes Jahr 10 000 Mark geben, damit wir Evangelisten
anstellen könnten. Da habe ich geweint vor Freude und Dank über diese schnelle
Gebetserhörung, die mich doch noch über raschte, obwohl ich sehr ernstlich mit Gott gerungen
hatte. Dadurch konnten wir seitdem nicht weniger als 14 Evangelisten anstellen, die mei stens im
Johanneum in Barmen ausgebildet waren."

G. F. Nagel, der bekannte christliche Schrift steller, äußerte sich nach dem Heimgang des Va ters
Seitz wie folgt: „Wenn wir die Bedeutung, die Johannes Seitz für die Gemeinde Gottes in der
Gegenwart hatte, klar in ein Wort zusammenfas sen wollen, so müssen wir sagen: er war ein
Mann des Glaubens und des Gebets. Sobald wir beides im Schriftsinn fassen, gehört es ja
unzertrennlich zusammen. Und beides fand sich auch bei Seitz lehrhaft und praktisch klar geeint:
Er war ein Mann des Glaubensgebets. Was es ist um das Glaubens gebet, das hat Seitz der
Gemeinde wieder klar und fruchtbar gezeigt. Das ist es, was er als Vermächt nis hinterlassen hat.
Aus der Kraft sieghaften Glaubensgebets quollen seine Erfolge."
Mir persönlich ist der große Beter Seitz schon vor einer Reihe von Jahren ein leuchtendes Vor
bild gewesen, das sich an die Glaubenszeugen von Hebr.11 anreiht, als ich die Berichte über die
Ent stehung der Karmelmission las und von den damit verbundenen Gebetskämpfen und
wunderbaren Gebetserhörungen vernahm. Auf das ernstliche, anhaltende Rufen seines Knechtes
und aller derer, die sich mit ihm verbunden hatten, konnte ein herrlicher Sieg gegen den
jahrelangen Wider stand des katholischen Karmelklosters errungen werden, das das Werk der
Karmelmission, von dem so viel Segen ausgehen sollte, hindern wollte. Der allmächtige Gott
brauchte bei diesem Eingrei fen sogar den damaligen Reichskanzler Fürst Bis marck und den
Papst in Rom als seine Werk zeuge. Seitz selbst bekennt: „Wir durften wieder einmal sehen, was
Gott auf das Gebet von ein paar armen Schluckern tut, wenn sie ein radikales Selbstgericht
eingehen und alles bis aufs gründ lichste hinwegräumen, was irgendein noch so fei ner Bann sein
könnte. Er hat auf unsere Gebete hin drei große Mächte in Bewegung gesetzt, um uns den Sieg
zu verleihen: die deutsche, die tür kische und die Papstmacht selbst."

Einer Andacht: „Was uns not tut" über Luk. 11, 1-3, die Vater Seitz in hohem Alter in Teich
wolframsdorf gehalten hat, und die damals nach geschrieben und mir jetzt zur Verfügung gestellt
worden ist, wollen wir noch einige Ausführungen entnehmen: „Wie der Herr selbst allezeit betete
und seine Jünger ermahnte, allezeit zu beten und nicht laß zu Werden, und diese der Ermahnung
so wohl als dem Vorbild ihres Meisters folgten, so gleicht auch Pfarrer Blumhardts und Jungfer
Tru dels Geistesleben dem des Herrn und seiner Jün ger. Fräulein von Seckendorff erzählt, daß
sie nach Männedorf kam, um zu den Füßen der Jung fer Trudel zu lernen. Da sagte diese ihr
schon nach wenigen Tagen: ,Fräulein von Seckendorff, ich muß Ihnen doch auch sagen, warum
aus Ihnen nichts geworden ist: Sie führen noch ein Schlaraf fenleben.’ Auf die Frage, worin ihr
Schlaraffen leben bestehe, bekam sie zur Antwort, ihr Gei stesleben sei noch ein
Schlaraffenleben, sie bete nicht allezeit, der Herr Jesus und die Apostel hät ten allezeit gebetet,
und sie hätten auch ermahnt, allezeit zu beten. Fräulein von Seckendorff äußerte, da habe sie
gesehen, woher die große Geistesmacht der Trudel komme, die aus jedem ihrer Worte sprach. -
Aber Blumhardt und Trudel hatten auch ihr Innenleben bis in die Gedanken- und Phantasiewelt
von allem befreien und reinigen lassen, was das Gebet schwächt und unerhörlich macht. Aber
noch mehr als das: Beide, Blumhardt und Trudel, haben auch ihre Häuser und alles, was sie
herbeiziehen konnten, zu Gebetsgemein den umgewandelt und in denselben Gebetsgeist mit
hineingezogen. Wie die Trudel ihr ganzes Haus in eine Gebetsgemeinde umgewandelt hat, so
hat Pfarrer Blumhardt seine beiden Kirchgemeinden zu einer großen Gebetsgemeinde umge
wandelt, die wie ein Herz und eine Seele mit Blumhardt im Geist des Gebets verbunden war,
deren Sinn und Gewissen durch eine bis auf den Grund gehende Bußbewegung vereinigt
gewesen ist. Es waren in den beiden Kirchgemeinden Mött lingen und Haugstedt nur noch acht
Erwachsene, die ihren Sinn und ihr Gewissen durch Bekennt nis ihrer Sünde nicht gereinigt
hatten. Wenn solche, die alle groben und feinen Bande wegge räumt hatten, vereint um eine
Sache, um eine Be freiung eines Besessenen oder unheilbar Kranken beteten, da mußte es
biegen oder brechen, da hat sich Jesus als der Siegesheld offenbart, der alle seine Feinde
besiegt. Ich schließe mit der Frage: Gibt es einen anderen Weg auch für unsere Ge-
meinschaftsbewegung, wenn sie wieder zu einer neuen Siegeskraft erwachen soll, als daß sie
wieder dieselben Wege geht, welche ihr Gott durch Leute wie Blumhardt, Trudel und Stockmayer
gewiesen hat? Es wäre aber grundverkehrt, wenn jemand denken sollte, er müsse darauf warten,
bis andere oder gar die ganze Gemeinschaft voran gehe. Blumhardt und Trudel haben auch nicht
auf andere gewartet." Soweit Seitz, der es jedenfalls tiefinnerlich erfaßt hatte, daß in der
Urchristen heit das ernste Glaubensgebet eine zentrale Stel lung einnahm. Er durfte in diesem
Stück in seinem Leben und Wirken den Aposteln ähnlich werden. O daß wir wieder ernstlicher
und anhaltender beten lernten! Und daß wir mehr Glauben hätten! Wir würden die Wunder Gottes
auf mancherlei Weise erleben. Der Gott unserer Väter ist noch derselbe.

Es geschieht etwas
In den vorigen Kapiteln ist schon mancherlei von Heilungswendern an Kranken und Besessenen
erwähnt worden, auch daß Vater Seitz in dieser Hinsicht von Gott als besonderes Werkzeug ge
braucht werden konnte. - Es ist ja in der gläu bigen Gemeinde immer wieder die Frage aufge
worfen worden, ob wir in unserer Zeit eine Er neuerung der apostolischen Wunderkräfte erwar
ten dürfen, oder ob die Wunderzeichen, die in der Apostelgeschichte erwähnt werden, nur Beglau
bigungszeichen für die Apostel gewesen sind. Zu gegeben wird weithin, daß der Herr auch heute
noch auf das Gebet des Glaubens hin unseren Kranken Heilung schenkt, soweit es sein Wille ist,
und auch dem wird in weiten christlichen Kreisen nicht widersprochen, daß Gott zu
verschiedenen Zeiten einzelne Persönlichkeiten gegeben hat, die gewisse Heilungskräfte zu
eigen hatten; doch seien diese Kräfte den Aposteln gegenüber begrenzt gewesen. Es gab und
gibt aber auch Stimmen, die die Erneuerung der apostolischen Wunder kräfte verneinen. So sagt
Pastor E., der ein Amt innerhalb der deutschen Gemeinschaftsbewegung hatte, in einer Schrift,
die vor etwa drei Jahr zehnten erschien unter dem Titel: „Haben wir eine Erneuerung der
apostolischen Wunderkräfte zu erwarten?": „Die eigentlichen großen Wunderzei chen sind das
besondere Vorrecht der Apostel ge wesen. Darum ist für jeden nachdenkenden Chri sten der
Schluß nachweisbar, daß die Markus 16 angeführte Verheißung nicht so zu verstehen ist, als ob
der Herr dieselbe allen Gläubigen aller Zeiten zugesagt habe, sondern sie gilt in der Hauptsache
nur den auserwählten Aposteln, zu nächst den elf Aposteln, die damals um den Herrn
versammelt waren und den Auftrag erhielten: ,Gehet hin in alle Welt und predigt das Evange lium
aller Kreatur!` und hernach auch dem großen Heidenapostel Paulus . . . ." Diese Ausführungen
sind, wie in der genannten Abhandlung wieder holt zum Ausdruck kommt, seinerzeit allerdings
gegen die unnüchterne, schwarmgeistige Pfingstbe wegung gerichtet, die in gläubigen Kreisen
immer noch viel Not bereitete. Aber selbst wenn das be dacht werden muß, konnte ich schon
damals, als diese Schrift erschien, ihr in manchen Formulierun gen nicht zustimmen. Natürlich
bleibt bestehen, daß wir die Geistesgaben nicht in apostolischer Fülle haben. Und da kann und
darf auch nichts erzwungen werden. So tritt z.B. die apostolische Gabe des Gesundmachens fast
ganz zurück, aber Gott antwortet seinen Kindern tatsächlich in vielen Fällen, wenn unter
Glaubensgebet einem Kranken die Hände aufgelegt werden. Es ge schieht da mancherlei in der
Verborgenheit, und es könnte noch viel mehr geschehen, wenn man sich dem Herrn mehr zur
Verfügung stellte und sich von ihm zubereiten ließe, indem man auf seine Verheißungen und
Bedingungen einginge. Was diese Handauflegung unter Glaubensgebet angeht, so gilt die
Zusage des Herrn tatsächlich allen, die da glauben. Es werden ungeahnte Segnungen für Leib,
Seele und Geist dadurch ausgelöst. Darüber hinaus schenkt der Herr immer wieder einzelnen
auch die besondere Gabe des Glaubens und stellt solche Werkzeuge für besondere Dienste
heraus.

Elias Schrenk sagte übrigens zu dieser Frage der Gabe des Gesundmachens und der
Handauflegung unter Glaubensgebet auf der Gnadauer Konferenz 1910 in seinem Vortrag „Das
Bedürfnis der Ge meinde Gottes nach einer größeren Ausrüstung mit Geisteskraft und die
Bedingung für eine schriftgemäße Befriedigung derselben", daß er die Heilung durch den
Glauben sehr vermisse, und daß unterschieden werden müsse zwischen der apostolischen Gabe
der Heilung, die wir nicht mehr hätten, und der Krankenheilung durch das Glaubensgebet unter
Handauflegung. Es heisst dort: „Bei der Unmündigkeit der Gemeinde heute ist es gut, daß wir an
diese zweite Form der Kran kenheilung gebunden sind, denn bei dieser bleibt man abhängig vom
Herrn." „Der Grund des zutage tretenden Mangels liegt in uns. Darum haben wir Buße zu tun."

Auch er läßt also Mark. 16 und Jak. 5 für die ganze Gemeinde gelten. In meinem Büchlein: „Elias
Schrenk - Der Bahnbrecher der Evangelisa tion in Deutschland“ ist schon mancherlei über
Handauflegung unter Glau bensgebet gesagt; doch scheint es mir äußerst wichtig, weil Johannes
Seitz die Praxis der Handauf legung sehr viel geübt hat, hier noch einem Bei trag von Elias
Schrenk Raum zu geben. Am 12. Juni 1908 fand ein Gemeinschaftstag des Gnadauer
Verbandes statt, auf dem Evangelist Zimmermann, Korntal, Elias Schrenk bat, etwas über
Handauflegung zu sagen. Elias Schrenk machte daraufhin folgende Ausfüh rungen: „Ich rede
nicht gern darüber, durchaus nicht gern. Das ist meine Privatsache. Gott hat mich so geführt, daß
ich ohne menschliche Hilfe durch seinen Geist zur Heilsgewißheit kam, zur Versiegelung meines
Gnadenstandes. Dann, in völliger Arbeitsunfähigkeit, als ein gebrochener Mann, habe ich durch
Handauflegung geistleib liche Kraftmitteilung bekommen, buchstäblich geist leibliche Mitteilung
nach dem Wort des Herrn: Kraft aus der Höhe. Man muß unter Kraft aus der Höhe nicht
verstehen, daß wir nur kräftig predigen können, o nein, es ist viel mehr. Ich habe damals nur
dreimal Handauflegung gehabt, und dann war ich ganz und vollständig ein anderer Mensch. Und
dann habe auch ich Kranken die Hände aufgelegt. Aber mein Beruf ist die Predigt und nicht die
Krankenheilung. Die Zeit kam, wo ich einsah, ich dürfe nicht so viel Zeit auf Handauflegung
verwenden, und als ich dann in Deutschland Evange list wurde, trat Handauflegung von selbst
zurück. Nur in Württemberg habe ich noch viel Handauf legung. Das Handauflegen ist kein
Kinderspiel. Wir können durch Handauflegung krank werden, wir können unter den Einfluß eines
fremden Gei stes kommen. Ich warne vor leichtfertigem Hand auflegen. Wir lesen im Evangelium:
’Es ging Kraft von ihm aus.’ Wir geben Kraft aus, wir geben auch physische Kraft aus." Auf eine
weitere Frage teilte Schrenk noch mit, daß die Handauflegung bald mit, bald ohne Öl geschehe.
Das Öl werde außer Jak. 5, 14 auch Mark. 6, 13 genannt, sei also wich tig. Es sei stets Sinnbild
des Geistes, so liege darin ein Wink, daß vor allem um geistlichen Segen ge beten werden
müsse.

Vater Seitz hatte auf Grund seiner besonderen Führung während seiner ausgesprochenen
Evange listentätigkeit schon manchen Kranken dienen dür fen; aber als er dann in Pr.Bahnau in
Ostpreußen und später in Limbach in Sachsen, besonders aber in Teichwolframsdorf Hausvater
in christlichen Erholungsheimen war, wurde er zwangsläufig in den besonderen Dienst an
Kranken, Leidenden, Angefochtenen und Besessenen hineingedrängt. Man ches hat der Herr an
diesen Elenden durch Gebet und Seelenpflege des Vaters Seitz tun können. Er äußert einmal:
„So sehr es mir widerstrebt, selbst davon zu erzählen, was Gott alles an den verschiedensten
Arten von Gemütskranken und geistig und leiblich Kranken getan hat, so darf ich das doch
wiederum auch nicht ganz verschweigen; denn der Herr hat in Tausenden solcher Fälle so
Großes getan, daß der Name des Herrn Jesu da durch verherrlicht wurde und man sehen durfte,
wie sich das Wort bewahrheitete: Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in
Ewigkeit!"

Vater Seitz legte allerdings Wert darauf, wenn Kranke ihn um Hilfe angingen, daß diese, wenn er
ihnen mit Gebet und Handauflegung dienen solle, ihre sündige Vergangenheit mit Gott in Ord
nung brachten. In einem seiner „Seelsorgerlichen Briefe" lesen wir: „Ich wußte, daß über alles,
über das man sich nicht beugt, nicht gründlich Buße tut, der Teufel ein Recht und eine Macht an
uns behält; ebenso wußte ich, daß der Teufel alle Rechte und alle Macht an diejenigen verliert,
die sich über alles beugen, wo sie jemand etwas zuleide getan haben, sich auch im Staube
beugen, wo sie Schrift widriges getan. Im Tal der Demut liegt des Hei ligen Geistes Gabe.“

In einem anderen Brief: „Gott würde unser Gebet, er würde auch das Ge bet seiner Tante (es
handelt sich um den kranken Neffen dieser Tante) nicht hören, er würde unser aller Gebet nicht
hören, wenn er nicht ganz los wird von dieser Sünde. Gott heilt nie Kranke, daß sie weiter
sündigen können, sondern ich habe bei Unzähligen die Erfahrung gemacht, daß Gott sie nicht
geheilt hat, weil sie sich nicht von ihrer Sünde lossagten und reinigen ließen. Aber bei wie vielen
ist es gegangen wie bei jenem adligen Fräulein, das hier war, ein sehr edles Fräulein aus dem
hohen bayerischen Adel! Ihr Ohr war taub geworden, das andere fing an, taub zu werden. Da
beichtete sie mir, daß sie nicht glauben könne, daß sie geheilt werde, weil sie noch einen Bann
auf sich liegen hätte. Als sie aber jenen Bann von sich getan hatte - es war eine Lieblingssünde,
mit der sie nicht gebrochen hatte und sich einbildete, sie könne nicht brechen mit ihr - , als sie
jetzt ganz brach mit ihr, da wurde sie ganz geheilt auf dem einen Ohr, und das andere Ohr wurde
auch bes ser." Wieder in einem anderen seelsorgerlichen Brief heißt es: „Ich weiß von Kranken,
die keine gesunde Stunde mehr hatten und sind doch ganz geheilt worden., aber nur unter der
Bedingung blieben sie geheilt, daß sie beständig waten, in der Gegenwart Gottes zu bleiben."

Eingeweihte wissen, daß es Vater Seitz auch von Gott gegeben war, sich insonderheit der
Besesse nen anzunehmen. Er hat in dieser Beziehung ganz besonders ein Rüstzeug in des
Herrn Hand sein dürfen. Hier sei einiges Grundsätzliche über Besessenheit und ihre Heilung
gesagt, während wir im vorletzten Kapitel dieser Broschüre noch etliche Bei spiele bringen
werden. In dem Buch „Die Zungen bewegung in Deutschland" von Stiftsprediger Paul Fleisch
(Wallmann, 1914), das sehr aufschlußreich ist im Blick auf die Auseinandersetzung der deut
schen Gemeinschaftsbewegung mit der Pfingst bewegung nach deren Auftreten in den Jahren
1907-1909, wird gesagt: „Entsprechender Aber glaube (!) zeigte sich aber in weitesten Kreisen
(der Gemeinschaftsbewegung, die die Pfingst bewegung ablehnte), vor allem auch unter den
Reichsbrüdern. Das Tollste leistete darin der Be richt über eine ’Entlarvung’, an der auch Seitz
und Ströter beteiligt waren." Auf diesen Bericht wer den wir später noch zu sprechen kommen.
Hier sei nur gesagt, daß es keineswegs Aberglaube ist, wenn man nicht nur im Blick auf Jesu
Erdenwandel nach den Berichten der Evangelien von Beses senen und deren Heilung spricht,
sondern das heute noch ebenso bezeugt. Sehr aufschlußreich war mir übrigens in dieser
Beziehung das, was Dr. med. Lechler in seinem Büchlein „Der Dämon im Menschen" über die
Dämonen sagt, die auch heute noch von einem Menschen Besitz ergreifen, aber auch, was er als
Nervenarzt aus Kenntnis der Dinge heraus von der Befreiung Besessener zu berichten weiß.
Lechler bestätigt hier die Auffassung von Blumhardt, Johannes Seitz, Elias Schrenk und an
deren, wenn er schreibt: „Wenn der Teufel ein Anrecht an den Menschen erlangt hat, kann dieser
so sehr unter seinen Einfluß kommen, daß Satan das große Heer der ihm hörigen Dämonen
benützt, damit sie von dem Menschen Besitz ergreifen und ihn auf diese Weise ganz für Satan
gewinnen. Die Dämonen sind teils frühere Engel, die mitsamt ihrem Herrn, dem Satan, von Gott
abgefallen sind, teils Geister unselig verstorbener Menschen, die in ihrer Friedelosigkeit danach
trachten, einen Men schenleib als Wohnung zu bekommen, um sich über die Tatsache ihrer
Verlorenheit hinwegtäuschen zu können und Ruhe zu finden, wie auch, um den Men schen zur
Sünde zu verführen... Ist denn auch noch in heutiger Zeit das Vorhandensein der Besessen heit
anzunehmen? Daß es zu Jesu Zeiten Besessene gab, darüber besteht für den Bibelgläubigen
kein Zweifel. Nicht nur in den Evangelien, sondern auch in der Apostelgeschichte haben wir
zuverlässige Berichte über Besessene. Warum sollte die Besessenheit, die zu Jesu Zeiten so
überaus verbreitet war, in der Gegenwart nicht mehr vorkommen? Jesus vertrat jedenfalls die
Auffassung, daß auch nach seinem Erdenwandel die Besessenheit eine Tatsache sein werde.
Darauf deutet sein Wort hin, das er kurz vor seiner Himmelfahrt sprach: ,Die Zeichen, die denen
zuteil werden, die da glauben, sind die: In meinem Namen werde sie Teufel austreiben.` Es wäre
aber durchaus verkehrt, woll ten wir die Besessenheit als einen veralteten, bib lischen Begriff
oder als eine theologische Erfindung ansehen. Die Besessenheit ist vielmehr eine furcht bare
Wirklichkeit (Luk. 22, 3)." – Soweit Dr. Lechler.

In dem Kapitel „Die Befreiung" hören wir dann auch etwas darüber, wie Besessene auch heute
noch von ihrer Gebundenheit frei werden können.

Und nun wenden wir uns wieder Vater Seitz zu. In seinen seelsorgerlichen Briefen und in seinem
Buch „Erinnerungen und Erfahrungen" weiß er uns aus seinem langjährigen Dienst an
Besessenen mancherlei mitzuteilen. Einiges sei hier wiedergegeben. Allerdings warnt er in seiner
nüchternen Art auch davor, nicht alles, was den Anschein hat, gleich für Besessenheit zu halten:
„Besessenheit im biblischen Sinn darf man nur da konstatieren, wo eine fremde Persönlichkeit
oder mehrere Persönlichkeiten in einem Menschen Besitz genommen haben, entweder Satans
Engel oder zum Teufel gewordene Menschen. Es gibt viele Kinder Gottes, die gleich von
Besessenheit reden, obwohl keine Besessenheit im biblischen Sinne vorliegt, aber deshalb
können die Leute in einem so schrecklichen Zustande sein, als wenn sie besessen wären. Oft ist
alles zerrüttet und verwüstet durch ein ungöttliches Leben, so daß die Menschen, ohne gerade
vorm Teufel gebunden zu sein, doch unter der Macht des Teufels stehen. Sie haben ein Leben
ganz außer Gott gelebt; da hat der Feind alle Gebiete ihres Lebens in Beschlaggenommen und
so in der Ge walt, daß es fast schlimmer ist, als wenn sie förm lich besessen wären."

Nach dieser Feststellung in seinen seelsorger lichen Briefen wollen wir nun aus der Fülle von
Beispielen einige bringen, über die Heilung von wirklich Besessenen, denen Seitz hat helfen kön
nen.
„Weil es an apostolischen Kräften fehlt, gibt es in unserer Zeit nur ein Mittel, durch das auch viele
wieder aus den ärgsten Satansbanden frei werden: das ist das anhaltende Gebet. Manche hatten
sich so tief in die Gewalt Satans hineinbegeben, daß wir oft einen Aufruhr und die Wut der Hölle
er regten . . . Bisweilen mußten wir auch beobach ten, was der Herr seinen Jüngern sagte, als
sie einen Dämon nicht austreiben konnten: ,Diese Art fährt nicht aus denn durch Beten und
Fasten.’ Aber ebenso nötig ist es, was wir auch erfahren mußten, daß beide, die beten und die,
für die man betet, von allem Bann, auch vom feinen und allerfein sten, gelöst werden . . . Auf
unser Gebet hin wurde uns dann manches Strafbare, das uns bis her unbewußt geblieben war,
aufgedeckt und mußte erst hinweggeräumt werden. Wenn das geschehen war, wurden oft die
mächtigsten Satansketten gesprengt."

Seitz erzählt von einem jungen Mann, der ihn seinerzeit in Ostpreußen aufsuchte und ihm viele
schauerliche Greuel bekannte. Eines Nachts seien satanische Mächte in ihn gefahren. Aber dann
habe er noch mehr gesündigt, um Gott und dem Teufel Trotz zu bieten. Aber seine Qual habe
sich von Tag zu Tag vergrößert. Zweimal habe er mit einem geladenen Gewehr vor einem
Tümpel gestanden, um sich da hineinzuschießen. In diesem furchtbaren Zustand kam er zu
Seitz. Lassen wir Vater Seitz wörtlich berichten:

„Sowohl meine Frau und ich haben uns vergeblich um ihn bemüht. Der junge Mann blieb in
seiner Verzweiflungsnacht. Da sagte ich zu meiner Frau: ,Wenn der von uns fort muß, ohne daß
ihm geholfen wird, dann nimmt er sich sicher das Leben. Denn er ist wirk lich vom Feind übel
geplagt, und seine Qualen sind groß. Wir müssen wieder darangehen, hier anhaltend zu beten.'
Wir beteten anhaltend, stun denlang bei Tag und meine Frau und ihre Freun din bis tief in die
Nacht hinein. Wie wir das eine Zeitlang getan hatten, da gab's ihm eines Abends von innen
heraus so furchtbare Bruststöße, daß er so zu schreien anfing, daß die ganze Nachbarschaft
zusammenlief und sich vor das Haus stellte, und ich fürchtete, man schicke uns die Polizei auf
den Hals. Da schleuderte es ihn im Zimmer umher, daß die Stühle umfielen. Das veranlaßte uns,
daß wir an dem Abend das Beten einstellten; denn jedesmal, wenn wir mit Beten aufhörten,
hörte auch sein Geschrei auf . . . Als wir später wie der mit Beten anfingen und kaum eine Weile
gebetet hatten, mußten wir wieder dasselbe Geschrei und Gepolter wie am Abend vorher hören.
Aber jetzt dachte ich: Komme ich um, so komme ich um. Wir hörten nicht auf zu beten, selbst auf
die Ge fahr hin, daß die Polizei käme. So beteten wir bis Mitternacht fort. Auf einmal hörte das
Geschrei ganz auf, aber dafür fing eine Art sehr lauten Redens an. Da schlich ich mich an seine
Tür hin auf, um zu horchen. Ich hörte, daß es Geschrei zu Gott aus tiefster Seele war. Er
schrie: ,Ach lieber Gott, ich habe es doch zu schrecklich getrieben, wie es kein Rindvieh treibt!
Aber du hast dich jetzt doch über mich erbarmt, du hast mich doch jetzt von den Teufeln
freigemacht.` - So war es ein abwechselndes Schreien und Danken zu Gott, daß er ihn
freigemacht habe. Da ging ich in sein Zim mer hinein und bat ihn, er solle doch, wenn er bete,
aus Rücksicht auf die Nachbarn nicht so laut schreien, und das tat er dann auch und betete noch
längere Zeit fort. Am nächsten Morgen kam er freudestrahlend und sagte, daß er jetzt frei sei. Ein
junger Mann, der bei ihm in seinem Zimmer war, erzählte uns, daß, bevor er frei geworden sei,
Dämonen aus ihm herausgeredet hätten, die sag ten: ,Wir müssen gehen, dies ewige Beten kann
keiner aushalten!` Das zeigt uns etwas davon, daß anhaltendes Gebet wirklich eine Macht ist."

Viele Freunde von Vater Seitz standen unter dem Ein druck, und einer von ihnen hat es an
seinem Sarge dann bezeugt: „Er war einer von denen, der bis in die Hölle hineingebetet hat, so
daß Men schen, die besessen waren, ihr entrissen wurden."

Hören wir Seitz noch einmal in seinen seelsor gerlichen Briefen: „Ich habe verschiedene
Besessene in meinem Heim gehabt, die durch die Pfingst bewegung besessen waren. Da sagte
ein Teufel aus einem Beses senen heraus: ,Wenn ich noch lange im Feuer sein werde, so werde
ich mich noch über meine Ge schicklichkeit freuen, mit der ich mich in Gott, in Christus, in den
Heiligen Geist verlarven konnte. Ich konnte alles nachmachen, was der Heilige Geist tut: Ich
konnte weissagen, ich konnte in Zungen reden, ich konnte beten wie der Heilige Geist.’ - Vor fünf
oder sechs Jahren kam eine hochgebildete Dame aus Berlin hierher und suchte Rettung. Sie war
von Dämonen gepackt. Die Dämonengeister hatten sie ganz gefangengenommen, und jetzt war
sie in einer ganz verzweifelten Lage. Gläubige Christen hatten ihr den Rat gegeben, sie solle zu
Samuel Zeller nach Männedorf gehen. Sie ging hin, und es hatte heiße Gebetskämpfe gekostet,
bis sie frei wurde. Aber es stellte sich heraus, daß sie noch nicht ganz frei war. Deshalb war sie
jetzt nach Teichwolframsdorf gekommen. Nun wurde sie ganz frei. Sie sagte dann zu mir: ,Wie
bin ich so dankbar, daß ich wieder allein bin; jetzt habe ich keine Geister und Dämonen mehr um
mich.` "

Wir wollen dieses denkwürdige Kapitel mit einem feinen Bekenntnis von Vater Seitz schließen,
das wir in seinen „Seelsorgerlichen Briefen" lesen. Wir drucken den ganzen Brief am besten ab:

„Sehr geehrte Frau Sch.! Der Inhalt Ihres Brie fes hat mich nach einer Seite außerordentlich
erschreckt für Sie. Sie schreiben fünf-, sechsmal: Sie können helfen, Sie haben geholfen, immer
steht es da: Sie können helfen, als wenn das die Gottheit wäre, die helfen könnte. So etwas
duldet Gott nicht: Wenn ich das glauben würde, das: ,Sie können helfen`, so würde ich mich
versündigen. Ich habe in meinem Leben noch keinem Menschen geholfen. Nur die Zauberer und
Quacksalber, Streicher und Blaser sagen, daß sie helfen könnten. Niemals wird ein Knecht
Gottes das von sich sagen, daß er hel fen könne. Ich wenigstens habe in meinem ganzen Leben
noch niemals einem Menschen geholfen. Wo geholfen wurde, hat das nur Gott getan, nicht ich.
Sie dürfen aber nicht Worte gebrauchen, die der reinste Götzendienst sind. Sonst kann Gott sich
nie über Sie erbarmen, er kann Ihnen dann nicht hel fen. Weil denn kein Mensch uns helfen
kann, rufe man Gott um Hilfe an! Sie meinen es vielleicht nicht so, aber ein Greuel ist es
dennoch, wenn Sie so auf Menschen sehen. Wir haben oft auch erfahren müssen, daß wir
solchen, die auf uns gesehen haben und nicht von Gott in erster Linie Hilfe erwarteten, nicht
haben helfen können. Gott will seine Ehre keinem andern lassen und seinen Ruhm den Göt zen.
Ohne daß Sie es wissen, nehmen Sie Gott die Ehre und geben sie den Menschen. Es ist
durchaus nicht so, daß Gott allen helfen könnte, die hier waren. Wir haben auch darunter zu
leiden, wenn Gott etwas tut auf unser Gebet und auf unsere Seelenpflege hin, besonders wenn
er etwas Großes tut, daß ein ganz übertriebenes Geschrei entstand.

Man nimmt an, hier sei alles voll Wundertäter, und wir könnten allen so helfen. Ich weiß auch bei
keinem im voraus, ob ihm geholfen wird oder nicht, weil ich nicht weiß, ob er auf die Wahrheit ein
geht. Aber das kann ich sagen, daß solche, die schriftgemäße Buße tun und mit ihrem Bann ans
Licht gehen, mit allen Sünden brechen und sich Gott ganz hingeben mit Seele, Leib und Geist,
wie es Römer 12,1-2 heißt, daß da der Herr schon vie len geholfen hat. Man kann auch nicht
sagen, daß von denen, die wahre Buße getan haben, die sich dem Herrn ganz hingegeben
haben, alle geheilt wurden. Aber das kann man sagen, daß sie alle einen Nutzen hatten. Waren
es solche, denen der Herr die Krankheit nicht nahm, so hat Gott ihnen so viel Kraft in ihrer
Krankheit gegeben, daß sie mehr leisten konnten als ein Herkules. Blieben sie auf dem Bett, so
ist es vorgekommen, daß solch ein geistliches Leben von ihrem Krankenbett ausging, daß ganze
Gemeinschaften dadurch entstanden."

Diesen grundsätzlichen Ausführungen sei noch hinzugefügt, was Otto Stockmayer, der aufs
engste mit Johannes Seitz verbunden war, und auf den Vater Seitz sich immer wieder beruft,
sagt: „Im Jahre 1867 ging ich als Schwerleidender nach Männedorf. Dorothea Trudel lebte nicht
mehr. Aber ihr Schüler und Nachfolger Zeller wurde ein Werkzeug in der Hand Gottes zum Dienst
an mir. Nach einiger Zeit, als ich wieder krank wurde, und das schlimmer noch als vorher, ging
ich abermals nach Männedorf, erfuhr aber diesmal keine Besserung, so wenig wie in Cannstatt
bei Fräulein von Seckendorff. Da führte mich der Herr in Gnaden zu einem Mann Gottes
(vielleicht war es Vater Seitz, Der Verf.), -der Prophetendienste an mir tat, indem er den Finger
auf die Stelle meines inneren Lebens legte, wo ich der Hilfe bedurfte und mir den Punkt zeigte,
wo ich von der geraden Linie abgewichen war, indem ich eigenwillig meinen Posten aufgege ben
hatte. Ich beugte mich unter das Wort und ge horchte, nachdem mir der Bruder die Hand auf
gelegt hatte. Der Schmerz in meinem Kopf hatte noch nicht im geringsten nachgelassen, aber er
schickte mich, wie ich war, auf meinen Posten in die Schweiz, damit ich Gott dort weiter diene.
Ich handelte nach dem mir gewordenen Licht, indem ich in eine innigere Vertrauensstellung zu
Gott trat, als ich sie bis dahin gekannt hatte. Und von da an durfte ich die Kraft Gottes auch dem
Leibe nach erfahren. Nachdem ich mich eine Zeitlang darin geübt hatte, mich nicht irremachen
oder schrecken zu lassen, wenn der Schmerz wiederkam, schwand er endlich ganz - eine
Erfahrung, die mich tiefer denn je vor Gott in den Staub beugte. Danach gingen mir die Augen für
die Schriftstelle Matth. 8,16-17 auf. Diese öffnet uns den Blick für ein weit höheres Heilungswerk,
als wir es durch den treusten Dienst eines Mitbruders oder einer Mitschwester erleben können.
Nie helfen uns un sere Brüder und Schwestern wirksamer, als wenn sie in der Liebe Jesu, ehe
sie von leiblicher Hei lung mit uns reden, den Finger auf den schwachen Punkt, den wunden oder
kranken Fleck legen, der ihnen in unserm Dienst für den Herrn oder in unserem geistlichen
Lebest entgegentritt. Herrschte in bezug auf geistliches Leben und geistliche Dinge mehr
Erkenntnis, und folgte man dem Lamme treuer nach, so wäre die Frage der körperlichen Heilung
bald geregelt. Wir leiden alle unter dem gegenwärtigen niedrigen Niveau geistlichen Le bens."

Bei der Beschäftigung mit dem Leben und Wir ken von Vater Seitz wird ohne weiteres deutlich,
daß, obwohl sehr viele durch sein Glaubensgebet Heilung ihrer körperlichen Gebrechen und
Befrei ung von bösen Geistern finden durften, ihm das nie die Hauptsache war. Es ging ihm in
erster Linie darum, daß Menschen zum kindlichen, leben digen Glauben an ihren Herrn und
Erlöser und dadurch zur Vergebung ihrer Sünden kamen. Chri stus sollte in einem Menschen
Gestalt gewinnen. Es ging ihm wirklich um Jesus, nicht zuerst um die geistlichen Gaben. Mit
diesen war er allerdings, wie wir schon sahen, auch beschenkt. Pfarrer Eich ler bezeugt am
Sarge von Vater Seitz: „Ich bekenne offen und dankbar, daß ich das Kostbarste, was ich von der
biblischen Heiligung besitze, dem teu ren Heimgegangenen verdanke. Auf dem ihm von Gott
anvertrauten Gebiet war er ein Großer im Reich Gottes. Gott hatte seinem Knecht zwei
Gnadengaben gegeben, die er nach dem Maße seines Glaubens ausübte. Es war die
Gnadengabe des Glaubens, einer besonderen Glaubenskraft, son derlich für die Kranken und
Hartgebundenen. Die zweite Gnadengabe war die der praktischen Weis heitsrede für die
Rechtfertigung und Heiligung."

Daß es Johannes Seitz ernst nahm mit einem Heiligungsleben der Kinder Gottes, besonders
auch in seinem persönlichen Leben, haben wir schon wiederholt festgestellt. Das Wort des
Apostel Pau lus: „Jaget nach der Heiligung, ohne welche nie mand den Herrn sehen wird!" war
für ihn richtung gebend. Und es war ihm deshalb in seiner Wort verkündigung und Seelsorge ein
großes Anliegen, das Heiligungsleben der Gotteskinder zu fördern. In dieser Beziehung sollte er
uns heute richtung gebend sein. Wir haben uns wirklich ganz ernstlich zu fragen, woran es liegen
mag, daß soviel Welt förmigkeit und Weltseligkeit in den Reihen derer zu finden ist, die Kinder
Gottes sind, weil sie auf dem Gnadenboden der Rechtfertigung des Sünders allein durch den
Glauben an Christus und seine vollbrachte Heilandstat stehen. Die Mahnung des Apostels: „Habt
nicht lieb die Welt, noch was in der Welt ist! So jemand die Welt lieb hat, in dem ist nicht die
Liebe des Vaters" (1. Joh. 2,15) scheint für sie aber außer Kurs gesetzt. Gedankenwelt und
Herzen werden sehr stark in Anspruch genommen durch das, was zweifelhafte Illustrierte
Zeitungen und Kinostücke an Augenlust, Fleischeslust und hoffärtigem Leben zu bieten haben.
Es gehört mit zu den Vernebelungskünsten Satans und seiner Helfershelfer, weite Kreise der
Jüngerschaft Jesu auf diese Weise unter seine Herrschaft zu bekom men. Der Fürst der
Finsternis hat es gar nicht nötig, immer umherzugehen „wie ein brüllender Löwe, um zu suchen,
wen er verschlingen könnte". Er kommt auch auf andere Weise zum Ziel. Die Auswirkungen
bleiben natürlich nicht aus und offen baren sich in unerlöstem Wesen derer, die als des Herrn
Eigentum in Wort und Werk und Wesen ihren Herrn verherrlichen sollten. Es war von jeher das
Anliegen des Pietismus bzw. der Gemeinschaftsbewegung, die an Christus Gläubigen zu einem
ernsten Heiligungsstreben aufzurufen. Schon Spe ner, der Vater des Pietismus, sagt:
„Niedergeris sen werden müssen die beiden bösen Sätze, so zwo starke Stützen des
satanischen Reiches sind: Erstens, daß einem Christen, weil er doch nur allein durch den
Glauben gerechtfertigt werde, nicht nötig sei, daß er mit solcher Sorgfalt in den Wegen des Herrn
wandle und sein Leben mit äußerstem Fleiß den Regeln und dem Exempel des Heilandes nach
richte; zweitens, daß auch den Gläubigen in diesem Leben nicht möglich sei, aus göttlicher
Gnade ein solch Leben zu führen, daß er die Sünde nicht mehr sollte bei sich herrschen lassen."
Und ebenso bib lisch-reformatorisch ist Speners anderes Wort von der Heiligung: „Das ganze
Neue Testament ziele dahin, daß wir müßten in Christo eine neue Krea tur sein, und daß all
unser Christentum ohne den wirklichen Gehorsam ein Scheinwerk sei und Gott ein Greuel werde,
ja daß unsere von Christus er worbene Freiheit nicht bestehe in einer Freiheit zu sündigen,
sondern frei von Sünden zu sein; so dann, daß unser liebreicher Heiland so gütig gegen uns sei,
daß er zur Leistung des neuen Gehorsams, welchen er erfordert, seinen Heiligen Geist zu geben
willig sei, wo wir nur seine Bewegungen bei uns wollen lassen kräftig sein."

Auch Johannes Seitz ist nicht müde geworden, in allen möglichen Formen den Finger auf das
Heiligungsleben der Kinder Gottes zu legen, weil er klar erkannt hatte, was in unserer Zeit
General superintendent Braun einmal sehr fein und tref fend formuliert hat: „Weh uns, wenn wir
durch unsere Sünde dem Worte Gottes wehren, sich einen leuchtenden und zündenden
Brennpunkt in unserer eigenen Seele zu schaffen! Was wir an unserer Seele versäumen, schadet
den Tausenden, die durch uns lebendig gemacht werden sollen." Dies Wort gilt in erster Linie
jenen, die eine verantwortliche Stellung im Reich Gottes haben; aber darüber hin aus auch allen,
die Glieder am Leibe Jesu sind. Wenn vor fleischlicher Sicherheit gewarnt und ein
Heiligungsleben gefordert wird, so läßt die Ver kündigung der Väter des Pietismus und der Ge
meinschaftsbewegung - das wird uns an Vater Seitz wieder deutlich - keinen Zweifel darüber
aufkommen, daß jeder Perfektionismus (Vollkommenheit = Sündlosigkeit) abgelehnt wird. Auch
hat solch ein Leben der Heiligung durchaus nichts mit „Werkerei" zu tun, derart, als genüge der
Gnadenboden der Rechtfertigung, auf dem man steht, nicht. Dagegen wird ernst betont, daß es
unmöglich ist, hinsichtlich mangelnden Heiligungslebens, sich mit seinem „Armsündertum" zu
trösten. Andererseits wird aber im Blick auf das eigene Leben von Seitz nachgewiesen, daß man
in der eigenen Armut und Demut zu bleiben hat. „Es ist doch unser Tun um sonst, auch in dem
besten Leben." Auch von gesetzlichem Heiligungsstreben und -leben weiß die Wortdarbietung
von Vater Seitz nichts.

Die Grundlage seiner Verkündigung war die Rechtfertigungslehre, aus der sich der Aufruf zu
einem Heiligungslcben der Gläubigen ergab. Er wußte den gottfernen, jesuslosen Menschen
sowohl wie der Namenchristenheit das durch Christus vollbrachte Werk der Versöhnung und
Erlösung tat sächlich groß und herrlich vor die Seele zu malen. Das hat er noch getan in den
beiden letzten An dachten, die der 83-jährige etwa drei Wochen vor seinem Heimgang in
Teichwolframsdorf gehalten hat. Als Text seiner vorletzten Andacht hatte er 2. Kor. 5,18-19
gewählt. Wir können es uns nicht versagen, diese Andacht, die wir in den von sei nem Sohn
aufgezeichneten „Letzten Erinnerungen an Johannes Seitz" finden, hier wiederzugeben:

„Wir haben neulich in einem Pfarrhaus ein regelmäßig wiederkehrendes Bibelkränzchen ge habt,
da wurde auch obiges Wort berührt. Was ich aus dein Text schöpfte, war mir so groß und schön,
daß ich dachte, ich will einiges davon heute weiter geben. Jedes Wort zeigt uns die Gnade und
das tiefe Erbarmen Gottes. - Es wird hin und wie der darauf hingewiesen, die Tiefe des Wortes
Gottes könne niemand ergründen. Ich sagte noch vor kurzem: Unsere Vernunft, unser Verstand
ist nicht imstande, im Worte Gottes alles zu verste hen. Auch der schärfste Verstand kann
unmöglich die ganze Bibel fassen. Aber eines kön nen wir: Wir können alles glauben. Ich kann
jedes Wort, auch wenn ich es gar nicht verstehe, glauben. Damit aber, daß ich es mir zur
Aufgabe mache, Wort für Wort zu glauben, damit nehme ich die ganze Herrlichkeit, die ganze
Kraft, alle die Tiefe, die in so einem Wort liegt, in mich auf, eine Kraft, die ich mit meiner
armseligen Vernunft nicht auf nehmen könnte. - Paulus sagt: ,Wir nehmen gefangen unter den
Glauben alle Vernunft.` Daran leidet nicht nur die Welt, daß sie die Vernunft nicht
gefangennehmen lassen will, daran leiden auch viele Kinder Gottes. Sie lassen fort und fort ihre
armselige Vernunft sprechen anstatt den Glau ben. Was schöpft der Glaube schon aus dem
einen Wort: Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber! Wenn man das Wort
Gottes glaubt und nur noch im Glauben lebt, dann sieht man Gott in diesem Wort unendlich groß.
Ich wenig stens muß vor einem solchen Wort tagelang stehen und ausrufen: O Gott, wie gut bist
du! Deine Güte ist nicht zu ermessen. Wie groß bist du! Kein Mensch kann deine Größe
erreichen, kein noch so feuriger Verstand dieses Wort erfassen: Gott war in Christo und
versöhnte die Welt mit ihm selber. Die Welt ist versöhnt! Und wer hat sie versöhnt mit Gott? Gott
war in Christo und versöhnte die Welt. Die Vernunft ist es immer, die von einem solchen Wort
herunterschneidet, was sie kann. Ist etwa der zehnte Teil der Welt versöhnt mit Gott oder der
zwan zigste oder der hundertste Teil? Gott versöhnte die Welt mit sich selbst. Welch ein Umfang!
Dabei ist eingeschlossen: auch ich gehöre dazu. Wenn Gott die Welt mit sich selber versöhnt hat,
bin auch ich mit ihm versöhnt. - Und doch können wir die schon geschehene Erlösung zunichte
machen und unter das Gericht, unter den Zorn Gottes kom men, gerade als ob Gott niemals
seinen Sohn in die Welt gesandt hätte, sie mit ihm zu versöhnen.

Wie das geschehen kann, sehen wir an einem Bei spiel des Alten Testaments. Da hatte Gott das
ganze Volk Israel aus der Knechtschaft Pharaos befreit. Er hatte das majestätische, gewaltige
Wort gesprochen: ,Keine Klaue soll dahintenbleiben.` Nichts, gar nichts, nicht eine einzige Klaue
sollte in der Hand Pharaos zurückbleiben. Aber dann heißt es im Wort Gottes: ,Ihr wißt, daß der
Herr, da er dem Volk aus Ägypten half, das andere Mal umbrachte, die da nicht glaubten` (Judas
5). Der Unglaube des größten Teiles des Volkes hat schon damals die vollbrachte Erlösung
zunichte und wert los gemacht. - So geht es heute noch. Keinen ein zigen Menschen gibt es in
der Welt, der nicht er löst ist. Man darf jedem Sünder der ganzen Welt sagen: Sünder, du bist
erlöst; Welt, du bist ver söhnt! Und doch, wie viele kommen um, weil sie nicht glauben! - Gott hat
auch mit mir eine Weile gebraucht, bis ich in die Tiefe dieser allumfassen den Erlösung recht
hineinsah. Aber dann erhielt ich einen Rippenstoß um den andern: Das, was du jetzt siehst, mußt
du auch anderen sagen. So einen Rippenstoß, durch den mir Gott klarmachte: Ihr Prediger
verkündigt noch viel zu wenig, das Wort von der Versöhnung, will ich jetzt schildern:

Eine mir gut bekannte Frau, von der ich wußte, daß sie schon viel durchgekämpft und auch durch
gebetet hatte, kam geradewegs von einer Leichenfeier. Als ich ihr strahlendes Gesicht sah, sagte
ich: Du siehst nicht aus; als ob du von einer Leiche, sondern als ob du von einer Hochzeit
kämest. Sie antwortete: Heute hat man die zweite Rahab be graben; sie ist infolge ihres
liederlichen Lebens einige Jahre siech im Bett gelegen und jetzt gestor ben. Ich habe sie in ihrer
Krankheit meinem Ge lübde getreu besucht, sie war jedoch anfangs so stocksteinteufelhart, daß
reinweg nichts, was ich ihr sagte, half. Von einem solchen vergeblichen Besuch bei ihr ging ich
mit meiner Bibel auf mein Zimmer und sagte: Lieber Gott, ist dein Wort nicht wie ein Hammer, der
Felsen zerschmeißt (Jer. 23, 29)? Du hast mir dieses Wort noch nicht gegeben; wenn es aber ein
solches Wort in der Bibel gibt, so habe ich es jetzt nötig. Dann tat sie etwas, was ich nicht wagen
würde, anderen zu raten, wozu sich aber Gott in diesem Fall bekannte. Sie gelobte Gott, ihre
Bibel aufzuschlagen und das Wort der Kran ken zu bringen, worauf ihr Finger fallen würde. Sie
traf auf das Wort: ,Fürchte dich nicht, ich halbe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen geru
fen; du bist mein! Weil du so wert geachtet bist vor meinen Augen, mußt du auch herrlich sein,
und ich habe dich lieb.`

Die Frau erschrak über dieses Wort, es war ihr eigentlich zu gut für eine so liederliche Person. Im
Gehorsam gegen Gottes Wort ging sie aber zu der Kranken, um ihr gerade dies Wort zu bringen.
Maria, sagte sie, heute hat mir Gott aber etwas Schönes für dich gegeben. Höre, was er dir extra
durch mich sagen läßt: ,Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem
Namen gerufen; du bist mein! Weil du so wert bist ge achtet vor meinen Augen, mußt du auch
herrlich sein, und ich habe dich lieb' (Jer. 43, 1).

Da zog die Kranke die Decke über sich und weinte lange. Dann streckte sie den Kopf hervor und
fragte: Ja, ist das wahr, ist das möglich? Kann Gott mich noch liebhaben? Ich habe es ihm ja zu
schlecht gemacht!

Aber sie glaubte es, und alle Tage mußte man ihr dies Wort mehr als zehnmal lesen. Dieser
Glaube machte sie neu. Das Wort erfüllte sich: Weißt du nicht, daß dich Gottes Güte zur Buße
leitet? Gott hat gehandelt nach ihrem Glauben.

An so einem Beispiel hat mir Gott manches ge zeigt. Es war einer von den Rippenstößen, die mir
sagten: Du mußt das Wort von der Versöhnung, die für alle geschehen ist, auch allen sagen. So
erfüllte sich auch an dieser liederlichen Person das Wort: ,Gott war in Christo und versöhnte die
Welt mit sich selber.` Wenn die Welt das glaubt, darf sie dasselbe erfahren, und wenn du das
glaubst, daß Gott dich erlöst hat und dich mit ihm versöhnt hat, wird dein Gejammer aufhören.
Paulus geht gleich weiter und sagt 2. Kor. 5,19: ’. . .und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu.’
Gott hat der Welt ihre Sünden nicht zugerechnet. Kann ich dass verstehen? Es geht über meine
Ver nunft und über meinen Verstand. - Gott hat der Welt ihre Sünden nicht zugerechnet, und
doch kann niemand einwerfen: Das ist aber eine ungerechte Liebe, die ohne weiteres der Welt
vergibt. Nein, es ist keine ungerechte Liebe. Es ist eine gerechte Liebe; denn die Sünde ist
gerichtet worden, nur hat sie Gott nicht an uns gerichtet, er hat sie an seinem Sohn gerichtet. Er
wurde so gerichtet, wie wenn er jede Sünde aller Sünden begangen hätte, so daß die Sünde der
ganzen Welt gerichtet ist. Keine einzige Sünde gibt es, die nicht gerichtet wurde. An dem großen
Heiland wurde das Welt gericht vollzogen, das Gericht, das alle verdient haben. Er wurde so
gerichtet, daß nichts Böses mehr in mir und an mir ist, das nicht gerichtet wurde.

Alles, was nur schlecht und böse in mir ist, auch dass Allerkleinste an Gedanken und Sünden,
das hat Gott alles auf Jesus gelegt. Das ist ausgespro chen in dem Wort Jes.53: Der Herr warf
unser aller Sünden auf ihn. Es wäre schon eine große Gnade, wenn Gott mir erlaubt hätte, meine
Sünde auf Jesus zu werfen. Aber die Gnade war noch viel größer, da Gott selber es getan hat.
Ich hätte die Hälfte vergessen und du auch, wenn wir unsere Sünde selber auf Jesus gelegt
hätten. Doch wir dürfen versichert sein, Gott hat keine einzige ver gessen. Deine kleinsten
Gedankensünden, alles, was nur Böses, Arges, Schlechtes in dir ist, nichts ist vergessen worden.
Wir dürfen dem Worte Got tes trauen, so wie es da steht, und das alles felsen fest glauben.
Luther sagt: In dem Vers 2. Kor. 5, 21: ,Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur
Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt’ sei das
allerherrlichste Evangelium ausgesprochen. Gott hat seinen Sohn gerade so behandelt, wie wenn
er alle Sünden aller Menschen begangen hätte, und uns will er so behandeln, wie wenn wir das
Leben dessen gelebt hätten, von dem er immer wieder gesagt hat: ,Dies ist mein lieber Sohn, an
dem ich Wohlgefallen habe.’ Was hat der Vater an seinem Sohn für Wohlgefallen gehabt! So will
uns Gott nimmer ansehen in dem, was wir durch Adam und seine Schuld geworden sind. Das hat
der Heiland alles mit in sein Grab genommen. Gott will uns so betrachten, als wenn wir dieses
Leben seines Soh nes gelebt hätten, das ihm so gefallen hat. Prälat Oetinger sagt daher, Gott
habe an der gottlosen, liederlichen, miserablen Welt jetzt schon eine grö ßere Freude als an allen
seinen Engeln und Erz engeln. Er sehe die Welt nicht mehr so an, wie sie durch Adam geworden
ist, sondern in dem, was Jesus für sie vollbracht hat und was sie durch Jesus noch werden wird.
Aber, fährt Oetinger fort, wir müssen uns auch mehr in dem ansehen, was Jesus für uns
vollbracht hat und was Gott um deswillen aus uns machen wird. - Wenn es einmal bei einem
Menschen zu diesem Glauben kommt, da hört dann auch das Sündenleben auf. Da heißt es:
Welt, dir dien' ich nimmer; Sünde, dir dien' ich nimmer; ich bin erlöst; ich bin erlöst!"

Im Kampf gegen die Pfingstbewegung

Um den unerbittlichen Kampf, den Vater Seitz gegen die Pfingstbewegung geführt hat, in der
rechten Weise verstehen und würdigen zu können, müssen wir versuchen, das Wesen dieser
irrgeisti gen Strömung zu erkennen. Sie brach in den Jahren 1906/07, von Los Angeles über
Norwegen nach Deutschland kommend, in die christlichen Kreise herein. Es brauchte fast zwei
Jahre, bis die leiten den Persönlichkeiten der Evangelischen Allianz und der deutschen
Gemeinschaftsbewegung den schwarmgeistigen Charakter der Pfingstbewegung klar erkannten
und sich radikal von ihr trennten. Johannes Seitz war im Gegensatz zu andern Brü dern, die
längere Zeit eine abwar tende Stellung einnahmen, mit etlichen anderen von Anfang an ein
Hauptrufer im Streit. Er gehörte mit zu denen, die zum 15. September 1909 eine Konferenz mit
der Zielsetzung nach Berlin einberiefen, diese irrgeistige Strömung bloßzule gen und aus der
Allianz und Gemeinschaftsbewe gung auszuscheiden. Sechzig Brüder aus den ver schiedensten
kirchlichen Gemeinschaften und Ge genden Deutschlands waren dann 19 Stunden zu ernsten
Beratungen zusammen. Das Ergebnis war die sogenannte Berliner Erklärung gegen die
Pfingstbewegung, die von 56 Brüdern unterschrie ben wurde.
Es seien an dieser Stelle aus dem Einladungsschreiben einige Ausschnitte wiederge geben, die
für die Beurteilung der seinerzeitigen Lage sehr wertvoll sind, aber auch heute noch ihre
Gültigkeit haben:

„Die Gemeinde Gottes steht in Gefahr, durch die sogenannte Pfingstbewegung in zwei Lager
gespalten zu werden, die Gegner und die Freunde der Bewegung, zwischen denen eine dritte
Gruppe der Abwartenden steht. Das nötigt uns, eine klare Stellungnahme zu ihr zu finden." -
„Viele Glieder des Volkes Gottes empfinden es tief, daß sie gegenüber den immer stärker und
zahlreicher auf den Plan tretenden Mächten der Finsternis mit ganz anderer Gotteskraft angetan
werden müssen. Sie fühlen ihr Zurückbleiben hin ter dem biblischen Christentum und sehnen
sich, daß der Herr seine ganze Macht und Herrlichkeit in seiner Gemeinde, die ihm vertraut und
gehorcht, möge offenbaren können. In diesem Bedürfnis nach einer tieferen Geistesausrüstung
sind viele Kinder Gottes eins, sie mögen der neuesten Bewegung zustimmend oder alblehnend
gegenüberstehen. Dies Bedürfnis ist vom Herrn gewirkt . . . Wir haben aber, ernste Bedenken,
ob es der Herr sei, welcher in den Gaben und Kräften der sogenann ten Pfingstbewegung
anfängt, dies Bedürfnis zu befriedigen. Die Zungenbewegung von 1907 ist zu uns auf dem Wege
über Christiania - Ham burg aus Los Angeles gekommen. Los Angeles ist aber in einem Artikel,
den das eigene Organ der Bewegung gebracht hat . . ., als ein Stelldichein spiritistischer Geister
und als ein Ort bezeichnet worden, welcher der Bewegung verhängnisvoll ge worden ist. Diesem
Ursprung entsprach auch der traurige Charakter, den die Bewegung bei uns trug. Zwischen der
neuesten Pfingstbewegung und jener Zungenbewegung besteht aber, vermittelt durch die
führenden Persönlichkeiten (Barrat, Pastor Paul), ein klar nachweisbarer und direkter Zusammen
hang . . . An diesem Urteil können uns nicht die äußeren und inneren Zeichen, Heilungen,
Zungen, Bekehrungen, irremachen, von denen die neueste Bewegung begleitet ist. Denn erstens
sind schon oft solche Zeichen, auch bleibender, echter Art, mit Bewegungen verbunden
gewesen, die sich nachher unzweifelhaft als un göttlich herausgestellt haben."

„Was die der Bewegung das Gepräge gebende Lehre von der ,Geistestaufe` betrifft, so bekennen
wir ausdrücklich, daß es - oft viele Jahre nach der Bekehrung - ein ganz neues Erfülltwerden mit
der Kraft des Heiligen Geistes gibt. Wir wis sen, daß gesegnete Knechte Gottes erst von die sem
Erlebnis aus befähigt waren, in die Erfüllung ihres gottgegebenen Auftrages einzutreten. Wir
möchten jeden Gläubigen ermutigen, sich nach einem Erfülltwerden mit der Kraft des Heiligen
Geistes auszustrecken (Eph. 5, 18), wenn anders das Herz danach mit voller Aufrichtigkeit und
mit ganzer Hingabe an Gott verlangt. Jedoch lehnen wir es auf Grund der Schrift ab, eine
Scheidung zu machen zwischen solchen Gläubigen, die nur bekehrt sind, und solchen, welche
die sogenannte Geistestaufe erhalten haben. Alle bekehrten, wie dergeborenen Christen haben
den Heiligen Geist empfangen . . . Auch ist irreführend, von einem ,Empfangen der ganzen Fülle
Gottes’ zu reden, da ein einzelner nie die ganze ,Fülle Got tes’ empfängt, sondern wir durch
immer tieferen Glaubensanschluß an Christus tiefer hineingeführt werden sollen in die herrliche
Fülle Gottes."

Und nun seien weiter aus der Berliner Erklärung noch jene Abschnitte herausgestellt, durch die
versucht wird, die Pfingstbewegung ins rechte biblische Lieht zu rücken. Es sei wiederholt betont,
wie außerordentlich richtunggebend sie auch in unserer vom Schwarmgeist erfüllten Zeit sind,
und wie notwendig es ist, die Grenzen zu sehen, die zu jenen Brüdern und Schwestern bestehen,
die in biblisch-nüchterner Weise sich auf den Boden der Heiligen Schrift stellen und, wie das
Johannes Seitz auch getan hat, auf Grund von Jakobus 5 und Markus 16 mit den Kräften der
oberen Welt rech nen, um durch Gottes Gnade Helfer in Leibes - und Seelennot zu sein.

Die Berliner Erklärung beginnt mit folgenden Sätzen: „Wir sind nach ernster, gemeinsamer Prü
fung eines umfangreichen und zuverlässigen Mate rials vor dem Herrn zu folgendem Ergebnis ge
kommen:

a) Die Bewegung steht in untrennbarem Zusam menhang mit der Bewegung von Los Angeles,
Christiania, Hamburg, Kassel, Großalmerode. Die Versuche, diesen Zusammenhang zu leugnen,
schei tern an den vorliegenden Tatsachen.

b) Die sogenannte Pfingstbewegung ist nicht von oben, sondern von unten. Sie hat viele
Erscheinungen mit dem Spiritismus gemein. Es wirken in ihr Dämonen, die, vom Satan mit List
geleitet, Lüge und Wahrheit vermengen, um die Kinder Gottes zu verführen. In vielen Fäl len
haben sich die sogenannten ’Geistbegabten’ hinterher als besessen erwiesen.

c) An der Überzeugung, daß diese Bewegung von unten her ist, kann uns die persönliche Treue
und Hingebung einzelner, führender Geschwister nicht irremachen . . . .

d) Der Geist in dieser Bewegung bringt geistige und körperliche Machtwirkungen hervor; dennoch
ist es ein falscher Geist. Er hat sich als ein solcher entlarvt. Die häßlichen Erscheinungen, wie
Hin stürzen, Gesichtszuckungen, Zittern, Schreien, widerliches lautes Lachen usw., treten auch
dies mal in den Versammlungen auf . . .

Eine derartige Bewegung als von Gott gegeben anzuerkennen, ist uns unmöglich. Es ist natürlich
nicht ausgeschlossen, daß in den Versammlungen die Verkündigung des Wortes Gottes durch
die demselben innewohnende Kraft Früchte trägt. Unerfahrene Geschwister lassen sich durch
solche Segnungen des Wortes Gottes täuschen. Diese än dern aber an dem Lügencharakter der
ganzen Be wegung nichts, vgl. 2. Kor. 11, 3.4.14 . . .

Der Mangel an biblischer Erkenntnis und Grün dung, an heiligem Ernst und Wachsamkeit, eine
oberflächliche Auffassung von Sünde und Gnade, von Bekehrung und Wiedergeburt, eine willkür
liche Auslegung der Bibel, die Lust an neuen, auf regenden Erscheinungen, die Neigung zu Über
treibungen, vor allem aber auch Selbstüberhebung, das alles hat dieser Bewegung die Wege
geeb net."

Und nun kommt die Erklärung auf Kern punkte der Lehre der Pfingstbewegung zu spre chen, um
sie zu widerlegen.

„Insonderheit aber ist die unbiblische Lehre vom sogenannten ,reinen Herzen’ für viele Kreise
verhängnisvoll und für die sogenannte Pfingstbewegung förderlich geworden. Es handelt sich da
bei um den Irrtum, als sei die innewohnende Sünde in einem begnadigten und geheiligten
Christen ausgerottet. Wir halten fest an der Wahrheit, daß der Herr die Seinigen vor jedem
Straucheln und Fallen bewahren will und kann (1. Thess. 5, 23; Judas 24, 25; Hebr. 13, 21), und
daß dieselben Macht haben, durch den Heiligen Geist über die Sünde zu herrschen. Aber ein ,rei
nes Herz’, das darüber hinaus geht, auch bei gottgeschenkter, dauernder Bewahrung mit Paulus
demütig sprechen zu müssen: ,Ich bin mir selbst nichts bewußt, aber dadurch bin ich nicht
gerechtfertigt’, empfängt der Mensch überhaupt auf Er den nicht. Auch der gefördertste Christ hat
sich zu beugen vor dem Gott, der allein Richter ist über den wahren Zustand der Herzen (vgl. 1.
Kor. 4, 4). ’Wenn wir sagen, daß wir Sünde nicht haben, so verführen wir uns selbst, und die
Wahrheit ist nicht in uns’ (1. Joh. 1, 8). In Wahrheit empfängt der Gläubige in Christo ein
fleckenlos gereinigtes Herz; aber die Irrlehre, daß das Herz in sich einen Zustand der
Sündlosigkeit erreichen könne, hat schon viele Kinder Gottes unter den Fluch der Unaufrichtigkeit
gegenüber der Sünde gebracht, hat sie getäuscht über Sünden, die noch in ihrer Gedankenwelt,
in ihren Versäumnissen oder in ihrem Zurückbleiben hinter den hohen Geboten Gottes in ihrem
Leben liegen. Es kann nicht ge nug ermahnt werden, für die Sünde ein Auge sich zu bewahren,
welches nicht getrübt ist durch eine menschlich gemachte Heiligung oder durch eine eingebildete
Lehre von der Hinwegnahme der Sündennatur."

Über die unbiblische Lehre von der Geistestaufe brachten wir schon einige Sätze, die sich im
Einladungsschreiben finden. In der Berliner Erklärung selbst heißt es weiter in dieser Hinsicht:
„Wir glauben, daß es nur ein Pfingsten gegeben hat (Apg.2). Wir glauben an den Heiligen Geist,
welcher in der Gemeinde Jesu bleiben wird in Ewigkeit (vgl. Joh. 14, 16). Wir sind darüber klar,
daß die Gemeinde Gottes immer wieder erneute Gnadenheimsuchungen des Heiligen Geistes
erhal ten hat und bedarf. Jedem einzelnen gilt die Mah nung des Apostels: Werdet voll Geistes!
(Eph. 5,18). Der Weg dazu ist und bleibt völlige Gemeinschaft mit dem gekreuzigten,
auferstandenen und erhöh ten Herrn. In ihm wohnt die Fülle der Gottheit leibhaftig, aus der wir
nehmen Gnade um Gnade. Wir erwarten nicht ein neues Pfingsten, wir warten auf den
wiederkommenden Herrn. Wir bitten alle unsere Geschwister um des Herrn und seiner Sache
willen, welche der Satan verderben will: Haltet euch von dieser Bewegung fern! Wer aber von
euch unter die Macht dieses Geistes ge raten ist, der sage sich los und bitte Gott um Ver gebung
und Befreiung! Verzaget nicht in den Kämpfen, durch die dann mancher vielleicht hin durchgehen
wird! Satan wird seine Herrschaft nicht leichten Kaufes aufgeben. Aber seid gewiß: Der Herr trägt
hindurch! Er hat schon manchen freigemacht und will euch die wahre Geistesaus rüstung geben.
Unsere Zuversicht in dieser schweren Zeit ist diese: Gottes Volk wird aus diesen Kämpfen
gesegnet hervorgehen . . .“

Diese Beurteilung der Pfingstbewegung ist kei neswegs oberflächlich oder leichten Herzens er
folgt. Maßgebliche Brüder, die sie verantworten, haben viele Monate um diese Fragen ernstlich
vor Gottes Angesicht gerungen. Das ist uns ja wohl ohne weiteres deutlich geworden.

Vater Seitz hat an dem Platz, an den Gott ihn gestellt hatte, den Kampf gegen diese irrgeistige
Bewe gung mit einer kaum überbietbaren Schärfe ge führt. Von den grundlegenden
Feststellungen her, die in der Berliner Erklärung zum Ausdruck kom men, gewinnt er seine
besondere Beleuchtung, aber auch Rechtfertigung.

Wenn nachstehend von Vater Seitz aus seinen Erfahrungen darüber berichtet wird, daß seiner
zeit als Folge tiefen Verstricktseins in der dama ligen Pfingstbewegung Geisteskrankheit und Be
sessenheit vorkamen, so darf diese Feststellung natürlich nicht verallgemeinert werden.
Immerhin müssen wir solche Vorkommnisse als ernstes War nungssignal werten. Auf andere
Kreise der Pfingst bewegung traf und trifft dessen ungeachtet jedenfalls zu, daß seelisches
Wesen mit geistlichem Wesen verwechselt worden ist. Weil dadurch aber der Boden der
Nüchternheit verlassen wurde, sieht man die Dinge nicht mehr wie sie wirklich sind. Daher kommt
es, um nur neben anderem an vermeintliche Sündlosigkeit zu erinnern, daß in der sogenannten
Berliner Erklärung gerade denen, an deren persönlicher Treue und Hingabe nicht zu zweifeln ist,
die ernste Mahnung zugerufen wird, sich doch ja vor Unaufrichtigkeit zu hüten und sich nicht
täuschen zu lassen über Sünden, die noch in der Gedankenwelt und mancherlei Ver säumnissen
Gott und Menschen gegenüber tat sächlich vorhanden sind.

Auf eine Schrift, die Seitz gegen die Pfingstbe wegung geschrieben hatte, bekam er u. a. einen
Brief, dessen Beantwortung auszugsweise wiederge geben sei: „Die Führer der Pfingstbewegung
haben von Anfang an die Tatsache weggeleugnet, daß so viele teils geisteskrank, teils besessen
geworden sind. Es ist aber Tatsache, daß viele besessen wurden, die ’Pfingstgaben’ bekommen
hatten. Die Führer leugnen das beharrlich hinweg und suchen es so hinzudrehen, als ob die
Besessenen erst in Teichwolframsdorf dadurch besessen wurden, daß man mit ihnen betete oder
sie zu einem Sünden bekenntnis gepreßt habe. Damit hätte man sie, wie Sie schreiben, direkt in
die Klauen Satans gejagt. Das nötigt mich, zu diesen Verdrehungen, obwohl es etwas weit führt,
Stellung zu nehmen. Der Satz: ,Der Nazarener zwingt uns, unsere tiefsten Ge heimnisse zu
offenbaren’ (um diesen Satz geht es der Briefschreiberin) wurde nur von einem Dä mon in
verzweifelter Wut aus einer durch den Pfingstgeist Besessenen ausgestoßen. Als diese Person
besessen wurde, hatte sie jede Verbindung mit mir und meinem Hause abgebrochen und rannte
im Galopp in die Pfingstbewegung hinein. Sie war Mitleiterin in einem großen Gemein
schaftskreis. Sie sagte: Ach, der alte Seitz geht doch nicht mit dem neuen Geist! Sie ließen
Pfarrer Paul immer gleich acht Tage lang Pfingstversammlungen in ihrem Gemeinschaftshaus
halten. Da bekamen viele das Zungenreden, und die Schwester, die ihn eingeladen hatte, bekam
die Gabe zu weissagen. Aber es stellte sich bald her aus, daß alle die Zungenredenden
besessen waren. Sie selbst, die Pastor Paul in ihren Saal einge laden hatte und die Gabe zu
weissagen bekam, war am allerschrecklichsten besessen. Sie war in eine furchtbare
Satansmacht geraten in der fal schen Meinung, sie hätte die Gabe des Weissagens bekommen.
Als sie den furchtbaren satanischen Druck fühlte, konnte sie nicht mehr beten und nicht mehr
glauben. Sie empfand überhaupt nichts Göttliches mehr, es war ihr alles unterdrückt und geraubt
. . . Als sie zu mir geschickt wurde, sind ich und die Meinen sehr ernstlich ins Gebet gegangen.
Da sprach der Oberste der Dämonen aus ihr: ,Ich hasse Gott, ich lästere Gott, ich trotze Gott, ich
stoße Gott vom Thron, ich will auf den Thron, ich will Anbetung, und das ist mir auch geglückt in
der Pfingstbewegung, ich wurde ange betet.’ Der Teufel hatte also das Recht zu sagen, die
Pfingstleute hätten ihn angebetet, weil das in der Tat Anbetung des Teufels ist, wenn man sata
nische Mächte, die sich in den Pfingstgeist verlar ven, als den Pfingstgeist oder den Heiligen
Geist aufnimmt. Solche Tatsachen, obwohl es die rein sten Tatsachen sind, leugnen und streiten
die Füh rer der Pfingstbewegung beständig weg oder suchen sie zu verdrehen."

Aus einem anderen seelsorgerlichen Brief, den Seitz geschrieben hat, sei noch folgendes
mitgeteilt: „Sie wundern sich darüber, daß die Brüder eine solche Verwirrung angerichtet haben.
Wie können Sie sich noch darüber wundern? Ist Ihnen denn gar nichts darüber bekannt, daß
überall da, wo Bruder S., wo die Pfingstleute hinkommen, sie alles zerstören und die schönsten
Gemeinschaften zerreißen? Das ist seit Jahren so. Wo sie hinkom men, gibt es Verwüstung, und
das sollte Ihnen nicht bekannt sein? . . . . Wer diese Leute aufnimmt, der nimmt Sprengpulver
auf. Es mögen die schönsten Versammlungen sein. Hinterher wird alles auseinandergerissen."

Wir schließen dieses Kapitel ab mit Äußerun gen, die wir in den „Erinnerungen und Erfah rungen"
von Johannes Seitz finden. Auch dieser Bericht sollte uns noch zu denken geben. Wir lesen auf
Seite 188 ff.: „Ich kann es bei dieser Gelegen heit nicht unterlassen, aus den traurigen Erfahrun
gen etwas mitzuteilen, die ich in meinem Hause machen mußte mit solchen Besessenen, die
durch die Pfingstbewegung besessen wurden und als solche dann hierher kamen und Befreiung
such ten. Die Dämonen, die aus diesen Besessenen sprachen, jammerten, daß der Nazarener
sie im mer zwinge, ihre tiefsten Geheimnisse zu verra ten. Sie bekannten, daß Satan jetzt seine
Heere sammle zum Kampf wider den Nazarener. ,Aber wir Pfingstgeister sind die Elite der Hölle;
denn wir haben die Aufgabe, die Gemeinde zu zer stören oder zu zerfleischen.’ . . . ’Die Hölle
hat gezittert, als die Gemeinde so ausgeschaut hat nach den Kräften und Gaben der
apostolischen Zeit. Aber das haben wir ihr versalzen. Jetzt trachtet die Gemeinde nicht mehr
nach apostolischen Geistes gaben und -kräften. Und sie darf nicht mehr nach diesen Kräften
trachten. In dieser Kraft würde sie auf der ganzen Linie siegen.’ Seitz sagt dann da zu: „Wir
brauchen uns keine Standrede vom Teu fel halten zu lassen, auch dann nicht, wenn der
,Nazarener’ diese Dämonen zwingt, daß sie solche Wahrheiten und Tatsachen verraten müssen.
Viel mehr sollte die Gemeinde Gottes das von selbst einsehen. Denn es ist ja mit Händen zu
greifen, welch eine Freude diejenigen der Hölle gemacht haben und noch machen, die sich durch
die Irr lehre der Sündlosigkeit und durch die traurige Pfingstbewegung haben dazu bringen
lassen, daß sie nicht mehr nach der Heiligung und nach den Gaben und Kräften der
apostolischen Zeit trach ten. Kann das nicht oder sollte das nicht ein Blin der sehen, und ist das
nicht mit Händen zu grei fen? - Aber es ist auch eine noch wenig erkannte Tatsache, daß solche,
welche sich haben abschrec ken lassen, nach biblischer Heiligung zu trachten, Überwundene des
Satans sind. Denn derjenige, der sich durch die List des Feindes von den Zielen und Wahrheiten
und der Heiligung abbringen läßt, die der Heilige Geist wieder auf den Leuch ter gestellt hat, der
ist ebensogut ein Besiegter durch den Teufel, als wenn er durch seine Macht besiegt worden
wäre. Denn an ihm hat ja der Feind seinen Zweck erreicht, den er durch diese Irrlehre der
Sündlosigkeit erreichen wollte. O, daß alle diese Überlisteten sehen könnten, wie sie sich
dadurch zu einem Gespött der Hölle gemacht haben! - Noch drängt es mich, an dieser Stelle auf
eine wichtige Warnungstafel hinzuweisen, die Gott mit der Pfingstbewegung in seine Gemeinde
hineingestellt hat. Es ist die allerernsteste War nung, die es nur geben kann: doch ja nicht danach
zu trachten, voll Geistes zu werden, wenn man sein Herz nicht erst hat reinigen lassen von Hoch
mut und Herrschsucht. Denn ich muß den Leuten, die die Führer der Pfingstbewegung geworden
sind, das Zeugnis geben, daß sie, bevor die Pfingst bewegung kam, mit allem Ernst ausgeschaut
haben nach dem Höchsten, nach der Geistestaufe, nach den Gaben und Kräften des Geistes.
Aber sie haben das getan mit einem Herzen voll Hochmut und Herrschsucht, vielleicht ohne es
zu merken, und haben deshalb zur Strafe anstatt die Geistestaufe und ihre Gaben nur einen
falschen Irr-, Lügen und Schwarmgeist bekommen." - Diese Beschuldi gung wird von Seitz dann
mit Erfahrungen, die er gemacht hat, belegt.

Friedevoller Heimgang

Der Heimgang von Vater Seitz war überaus friedevoll. Er hat den Tod nicht geschmeckt. Acht
Tage vor seinem Ruf aus dieser Welt wurde ihm ein Aufenthalt in Bad Brambach ermöglicht, da
er seines schweren Asthmaleidens wegen dringend einer Luftveränderung bedurfte. Montag, den
8. Juli 1922, trat er die Reise an. Am Morgen des anderen Tages brachte der Pfleger Vater Seitz
in den Garten und setzte sich zu ihm, um Briefe zu schreiben. Dieser schlief ein, und als der
Pfleger nach einer Weile aufblickte, war der Knecht Got tes ohne Todesahnen und Todesgrauen
sanft hin übergegangen zu seinem Herrn, den seine Seele liebte und in dessen Dienst er so viele
Jahre ge standen hatte. Der Dreiundachtzigjährige war seiner Gattin, die drei Jahre vorher vom
Herrn abgerufen worden war, in die himmlische Heimat gefolgt. Bei der Trauerfeier in
Teichwolframsdorf versuchten Pfarrer Kunde, Trünzig; Oberpfarrer Grohmann, Düben; Pfarrer
Schmeißer, Seelingstädt und Pfarrer Eichler, Teichwolframsdorf, das Leben und Wirken des nun
Vollendeten zu würdigen. Weiter sprachen am Sarge: Herr von Hippel als Vertreter der
Karmelmission; Prediger Hummel für den Reichsbrüderbund; Pfarrer Rothhardt vom
Diakonissenhaus Zion, Aue; Herr Kaufmann Klee mann, Chemnitz, und für die Landeskirchlichen
Ge meinschaften und Jugendbünde für E. C. Fabrikant William Schneider, Aue. Weil Pfarrer
Leopold Wittekindt und Prediger G. F. Nagel an der Bei setzung des Heimgerufenen nicht
teilnehmen konn ten, schrieben sie einen Nachruf. Alle Ansprachen und Gedenkworte hat der
Sohn in einem Gedenk heft „Letzte Erinnerungen an Johannes Seitz", in dem er auch Näheres
über den Heimgang seines Vaters mitteilt, zusammengefaßt.

Im Sächsischen Gemeinschaftsblatt vom 15. Juli 1922, das vom Brüderrat für landeskirchliche
Gemeinschaftspflege in Sachsen herausgegeben wurde, findet sich folgender Nachruf:

„Unser Vater Seitz ist heimgegangen. Diese Nachricht erreichte uns kurz vor Redaktionsschluß
unseres Blattes. Obwohl wir seit einigen Wochen damit rechnen mußten, kam uns die Nachricht
doch noch sehr überraschend, und obgleich er das Alter von 88 Jahren schon überschritten
hatte, kam sie uns doch noch zu früh. Sein Heimgang ist ein Ver lust nicht nur für die Gläubigen
in Sachsen, son dern für die ganze Gemeinde des Herrn. Ihm waren besondere Gaben vom
Herrn verliehen, und diesen besonderen Gaben entsprach auch seine besondere Aufgabe. Er ist
nicht nachzuahmen. Viele sind durch sein Glaubensgebet geheilt worden. Doch das war ihm nie
die Hauptsache; die Seele wollte er frei und gesund wissen. So sind viele durch ihn zum
lebendigen, kindlichen Glauben an ihren Herrn und Erlöser gekommen, und viele Gläubige haben
sich in seinem Reim von besonderen Befleckungen reinigen und von Gebunden heiten, die zum
Bann geworden waren, befreien lassen. Er kannte den Teufel als brüllenden Löwen und auch als
Engel des Lichts. Deshalb ging er ihm auch ganz energisch zu Leibe. Und wo manche nur
Krankheit des Leibes sahen, da erkannte er mit seinem die Geister prüfenden Blick, daß Satan
sich in seinen Dämonen den Leib als Wohnstätte er koren hatte, und so sind manche bösen
Geister gewichen, wenn er sein scharfes Geistesschwert schwang. Aber mit den bloß körperlich
Kranken konnte er sehr lieb und väterlich sein. Auch wurde er nicht ungeduldig, wenn durch sein
Händeauflegen und das gemeinsame Gebet mit seinen Mit arbeitern nicht immer sofort die
Heilung sich voll zog. Er war eben nicht der Meinung, daß der Herr jede Krankheit heilen wolle,
und auch nicht, daß es Mangel an Glauben oder sonstige Versäumnisse des Kranken sein
müssen, wenn der Herr nicht gleich oder überhaupt nicht durch das Wunder der Heilung
antwortet.

Zufrieden war er allerdings nicht mit dem inne ren Zustand der Gemeinde. Er sehnte sich danach,
daß der Herr in seiner Gemeinde in viel größerer und ausgedehnterer Weise Geisteskräfte offen
bar und wirksam machen möchte. Es war ihm ganz gewiß, daß der Herr das auch wolle; nur die
Ge meinde sei noch nicht reif. Spiritismus, Pfingstbe wegung, Aberglauben, Sympathie und dgl.
waren ihm Beweise dafür. Daß viele Menschen diesen Irrtümern und feindlichen Geistesmächten
zum Opfer fielen, erregte in ihm heiligen Zorn und heilige Scham über den Tiefstand der
Gemeinde. Wenn mehr göttliche Geisteskräfte wirksam sein könnten, würden die Kranken und
Gebundenen und solche, die die Zukunft ergründen wollten, in der Gemeinde Heilung und
Befreiung suchen und finden. Das hat er oft mit innerem Schmerz betont. Dieser Zeit, die er heiß
ersehnte und so gern er lebt hätte, ist er vorweggenommen. Um so mehr fehlt er seiner
Gemeinde. Wer wird seinen ,Pro phetenmantel’ ergreifen?! Wehe, wenn ihn jemand nur
nachahmen will! Er wird ein Zerrbild werden und Zerrbilder erzeugen. Aber vielleicht hat der Herr
sich doch schon einen ersehen, der in seine Fußtapfen treten und in seinem Heim sein Werk
weiterführen soll. Wir müssen betend des Herrn harren. Was seine Gemeinde nötig hat, wird er
ihr nicht versagen; denn er liebt die Seinen. Wir wollen dem Herrn danken, daß er seiner
Gemeinde auch einen Seitz gegeben und ihr ihn so lange er halten hat. Von ihm gilt es ganz
gewiß: Obwohl er gestorben ist, redet er noch. Und nicht nur durch seine selbstgeschriebenen
’Erinnerungen und Erfahrungen’, sondern auch durch alle, die in seinem Heim gesegnet wurden
und nun ein Segen sind. Die letzte Glaubenskonferenz, die unter seiner Leitung im Februar in
seinem Heim stattfand, und bei der er wieder Köstliches von seinen alten und neuen Schätzen
darbot, war für viele beson ders gesegnet. Getreu der Mahnung seines Herrn: ,Handelt, bis daß
ich komme!’ hatte er sich bereit erklärt, solche Glaubenskonferenzen auch in ande ren Gegenden
unseres Vaterlandes zu halten. Da hat ihm der Herr Halt geboten. Und wenn er zu letzt zu seiner
Gemeinde noch hätte reden können, würde er gewiß gesagt haben: ’Haltet mich nicht auf; denn
der Herr hat Gnade zu meiner Reise gegeben!’ So wollen wir ihm nun auch gönnen, daß er
überwunden hat und nun beim Herrn sein und ausruhen kann von allem Streit und Kampf
hienieden. Und wir wollen der Mahnung einge denk sein: ’Gedenket an eure Lehrer, die euch das
Wort Gottes gesagt haben, welcher Ende schauet an und folget ihrem Glauben nach!’"

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Wilhelm Hesemann

»Weihnachtsglanz auf dem Sterbebett«

Unter dieser Überschrift berichtet Pfarrer Ludwig Schneller über einen Krankenbesuch in Berlin
an einem Heiligabend. Ludwig Schneller war der Sohn von Johann Ludwig Schneller, der im 19.
Jahrhundert das »Syrische Waisenhaus« in Jerusalem gründete. Die Vorfahren der Familie
Schneller wurden durch die Katholiken aus Salzburg vertrieben und fanden in Württemberg
(Erpfingen/Schwäbische Alb) eine neue Heimat.

Pfarrer Ludwig Schneller wollte mit diesem Bericht deutlich machen, wie entscheidend wichtig es
ist, daß der Mensch sich vor seinem Tod vom Worte Gottes her auf die Ewigkeit vorbereiten läßt.
»Wer so stirbt, der stirbt wohl!«

Ludwig Schneller schreibt:

Wieder war der Abend des 24. Dezember da und die Weihnachtsglocken läuteten. Die
Kaiserglocke vom Dom tönte mit ihrem tiefen Brausen und Summen, daß die Erde leise mit
erbebte, und all die großen und kleinen Glocken der kirchenreichen Stadt mischten sich in den
weihnachtlichen Glockenchoral.

Ich hatte draußen auf dem Kirchhofe Melaten eine Beerdigung gehabt und war durchfroren und
müde nach Hause gekommen. Aber hier gab es liebe Arbeit, über der man leicht alle Müdigkeit
vergißt. Galt es doch, den Christbaum vollends zu schmücken und die letzte Hand an die
Bescherung zu legen! Da schellt es plötzlich drunten an der Haustür heftig. Ein Bote tritt herein
und sagt: »Kommen Sie schnell ins Augustiner-Klösterchen in der Severinstraße. Da liegt ein
Schwerkranker, der nach dem Heiligen Abendmahl verlangt.«

Da verschob ich unsere Feier für eine spätere Stunde und eilte durch die hell erleuchteten, mit
Schnee bedeckten Straßen. An der alten Georgskirche mit ihrem traulichen Zwiebelturm ging es
vorbei, dann über den Waidmarkt, wo noch Dutzende von Christbäumchen gekauft und von
Knaben oder Vätern im Jubel durch das großflockige Schneegestöber nach Hause getragen
wurden. In der Severinstraße drängte sich noch alles in die Kaufläden. Nur da und dort
schimmerte schon ein angezündeter Christbaum festlich durch die Fenster.

Ich trat in das Augustiner Klösterchen ein, ein großes, prächtig eingerichtetes Krankenhaus, in
dem die Augustinerinnen pflegen. Eine Schwester mit großer weißer Haube führte mich durch die
von Karbolgeruch erfüllten Korridore. Sie teilte mir das Nötigste von dem Kranken mit. Es sei ein
achtundsiebzigjähriger Mann von auswärts, fast ohne Verwandte. Nur eine einzige Anverwandte
sei vorhin angekommen und sei eben bei ihm drinnen im Zimmer. Er sei wegen Zungenkrebs
operiert. Dabei sei nicht nur die Zunge, sondern ganze Teile des Kopfes, Oberkiefer,
Backenknochen entfernt worden. Aussicht, sein Leben zu retten, sei nicht mehr vorhanden.
Damit öffnete sie mir die Tür zu einem Krankenzimmer erster Klasse und ließ mich ein.

Da lag vor mir ein Kranker, ein Bild des Jammers, in seinen weißen Kissen. An Stelle des Kopfes
war nur ein großer Wulst von weißen Binden zu sehen. Bloß die Nasenlöcher waren des Atmens
wegen freigehalten, und ein paar große Augen schauten mich erwartungsvoll an.

Meinen Gruß erwiderte er mit einem stummen Zeichen der Hand. Auf seinen Wink verließ die
Verwandte das Zimmer. Nun waren wir allein.

Ich sprach mit ihm, und er antwortete auch. Aber da er keine Zunge mehr hatte, und überdies
auch der ganze Mund verbunden war, konnte er wie der alte Zacharias im Adventsevangelium
seine Antworten nur auf eine Schreibtafel schreiben, die auf seinem Bette bereit lag.

Ich begann mit dem Ausdruck meiner herzlichen Teilnahme, und bedauerte besonders, daß er
nicht mehr mit mir sprechen könne. Da nahm er schnell seine Tafel und schrieb: »Psalm 39: Ich
will schweigen und meinen Mund nicht auftun. Denn du, Herr, hast's getan. Psalm 63: Meine
Seele ist stille zu Gott, der mir hilft.«

Diese wenigen Worte sagten mir am im besten, mit ich es zu tun hatte. Es war ein frommer,
gläubiger Christ, dessen Angesicht mir da hinter den weißen Binden verhüllt lag, ein Mann, der
seinen Gott kannte und der von Gottes Wort lebte.

Ich sprach mit ihm über den schweren Weg, den ihn Gott noch im hohen Alter führe, und sagte
ihm, daß der Herr, der ihn 78 Jahre lang gewiß durch viele Höhen und Tiefen geführt habe, ihn
gewiss auch auf der letzten Strecke Weges nicht verlassen würde. Daraufhin schrieb er die
Antwort: »Jesaja 38: Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du aber hast dich meiner Seele
herzlich angenommen, daß sie nicht verdürbe. Denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich.«

Darauf lenkte ich auf den Heiligabend über, auf die selige Botschaft, die heute wieder aller Welt
verkündigt würde, und die auch ihm gelte: Euch ist heute der Heiland geboren. Ich erwähnte
dabei, daß ich morgen früh über die alte Weihnachtsepistel aus dem Titusbrief predigen wollte,
und führte auch ihre Anfangsworte an: »Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen
Menschen.«

Er schien aber damit nicht zufrieden und machte mir lebhafte Zeichen, die ich jedoch nicht
verstand. Da nahm er wieder seine Tafel und schrieb: »Die Fortsetzung dürfen Sie nicht
vergessen, die ist für mich jetzt besonders wichtig: und züchtigt (dies Wort unterstrich er zweimal)
uns daß wir sollen verleugnen das ungöttliche Wesen. Ich stehe jetzt unter der Züchtigung des
Herrn. Aber mein Trost steht im Psalm 23: Ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich
kein Unglück, denn du bist bei mir! Dein Stecken und Stab trösten mich«.

Ich fragte ihn, ob er nicht manchmal recht traurig sei auf seinem einsamen Schmerzenslager. Da
schrieb er: »Als die Traurigen und doch allezeit fröhlich! Als die Sterbenden, und siehe wir
leben!«

Als ich mit ihm über seliges Sterben und über unsere gewisse Hoffnung des ewigen Lebens
gesprochen hatte, schrieb er: »Vor dem Sterben fürchte ich mich nicht. Ich halte mich an das
große Wort des Heilandes Johanness 17: Vater, ich will, daß, wo ich bin, auch die bei mir seien,
die du mir gegeben hast, auf daß sie meine Herrlichkeit sehen.«

Es war mir eine wahre Feierstunde, die ich am Bett des Alten zubrachte. Endlich sagte ich ihm,
das Heilige Abendmahl könne ich ihm freilich nicht geben, da ja sein Mund ganz verbunden sei.
Er solle sich darüber nicht grämen. Wer so seines Heilandes gewiß sei, der trage ihn auch ohne
äußeres Abendmahl durch den Glauben im Herzen. Jesus sei unsichtbar doch bei ihm und werde
ihm in der schwersten Stunde unendlich nahe sein und ihm die Hand unters Haupt legen, daß er
im Frieden heimgehen könne.

Aber er schüttelte lebhaft den Kopf und schrieb: »Nein, ich will und muß noch einmal das Heilige
Abendmahl feiern.«

"Aber wie denn? Ich kann es Ihnen ja nicht geben!«

»Geben Sie mir es sinnbildlich!« schrieb er.

Dieser Fall war mir bisher in meinem amtlichen Leben noch nicht vorgekommen. Auch wußte ich
nicht, ob kirchliche Vorschriften für eine so eigenartige Lage bestünden. Aber das herzliche
Verlangen eines gläubigen Gotteskindes war da und mußte befriedigt werden.

So begann ich denn die Feier wie immer bei Sterbenden. Als ich zur Beichte kam, konnte ich
wohl sehen, wie er die Worte des Sündenbekenntnisses mit tiefer Bewegung innerlich mitsprach.
Sein Ja sprach er dazu durch ein dreimaliges tiefes Neigen seines Hauptes.

Und als ich die Einsetzungsworte gesprochen hatte und ihm Brot und Kelch darreichte mit den
Worten »Nehmet hin und esset« und »Trinket alle daraus alle daraus, das ist das Blut des Neuen
Testaments, das für euch und für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden«, da hob er
mit seligem Ausdruck der ganzen Gestalt beide Arme in die Höhe und sah mit verklärtem Blick
nach oben.

So hat er denn das Heilige Abendmahl »sinnbildlich« empfangen. Ich betete noch mit ihm und
legte ihm beim Segen die Hand auf das verhüllte Haupt. Darin schrieb er mir noch auf die Tafel:
»Römer 8: Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst oder Fährlichkeit?
Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder
Hohes noch Tiefes, noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in
Christo Jesu ist, unserem Herrn«

Als ich es gelesen hatte löschte er die Schrift mit dem Schwämmchen aus und schrieb: »Bitte
kommen Sie doch morgen wieder.«

Das versprach ich. Aber ich konnte nicht anders, ich mußte ihm noch einmal meine Freude
ausdrücken, daß ich so gewiß sein durfte, daß ein ganz anderer bei ihm sei und bleibe, von dem
es nie ein Abschiednehmen gebe: Jesus.

Da ging noch einmal ein frohes Leuchten über seine Augen. Er schrieb und reichte mir die Tafel,
während er die linke Hand wie frohlockend zum Himmel hob: »Mein Ein und mein Alles, mein
seligstes Heil!«

In tiefen Gedanken wie einer, der etwas Großes, Weihnachtliches erlebt hat, ging ich durch die
von einer geschäftigen Menge durchwogte Severinstraße zurück. Welches Glück, musste ich
denken, wenn man seine Bibel nicht nur in Prachtband und Goldschnitt auf dem Bücherbrett
stehen hat, sondern ihre Worte als Lebensquell im Herzen trägt.

Diesem todkranken, nach Ansicht der Welt so unglücklichen Manne brannte es wie goldene
Weihnachtslichter im dunkeln Tal des Todes. Wie elend wäre der vereinsamte, sterbende Greis
gewesen, wenn er sie nicht gehabt hätte! So aber konnte er sich aus der reichen Schatzkammer
der Heiligen Schrift ein Weihnachtslicht nach dem andern anzünden und in ihrem Lichte selig
heimgehen.

Als ich am nächsten Abend nach Predigt, Kindergottesdienst und verschiedenn Weihnachtsfeiern
noch ins Augustiner-Klösterchen eilte und in das Krankenstübchen des lieben Alten trat, hatten
sich seine Augen schon für dies Erde geschlossen. Aber wenn ich auch das verhüllte Totenantlitz
nicht sehen konnte, sondern nur die gefalteten Hände, sah ich doch im Geist ein Angesicht voll
Weihnachtsglanz und Weihnachtsfrieden, so wie wir uns den greisen Simeon mit dem
Jesuskinde auf den Armen vorstellen, während seine Lippen in seliger Freude den Psalm
anstimmen: »Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben
den Heiland gesehen!«

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WER WAR WILLIAM CAREY?

FALSCHER GLAUBE FÜHRT ZU FALSCHEM VERHALTEN - Kol. 1,21; Ps. 119,104

Naturwissenschaft

William Carey war der Botaniker, der seinen Namen einem indischen Eukalyptusbaum gab.
(Careya herbacea). Er war der Erste, der in Indien eine Gesellschaft für Botanik gründete. Er hat
in Indien die ersten Bücher zum Thema Botanik, Pflanzenkunde, Naturwissenschaft,
Gartenpflege, Naturgeschichte geschrieben und gedruckt. In seinem Garten pflegte er viele
schöne und seltene Pflanzen. Er unterrichtete oft zum Thema Naturwissenschaft.

Warum?

Carey glaubte, daß Gott Pflanzen und Tiere geschaffen hat. Alles war gut, alles soll Gott, den
Schöpfer preisen. Die Menschen dürfen die Schöpfung Gottes studieren, pflegen und Gott die
Ehre geben.

Bibelverse: 1. Mose 1,27-30

Die Hindus glauben, daß die Natur nur eine Illusion sei, und daß auch Seelen gefangen sind in
allen möglichen Tieren. Das führt dazu, daß man zum Beispiel keine Mücken töten darf, denn
man weiß ja nicht, ob nicht vielleicht in der Mücke die Seele eines Menschen weiterlebt. Die
Insekten sind gleichviel wert wie Menschen. So wird der Hindu die Ratte, die ihm das Essen
seiner Kinder stiehlt, nicht umbringen, sondern anbeten. Er wird auch nicht den Wunsch haben,
Tiere und Pflanzen zu beobachten für wissenschaftliche Zwecke. Interessanterweise sind noch
heute die wissenschaftlichen Schulbücher in Indien in Englisch geschrieben.
Bibelvers: 2. Mose 20,4-6

Ingenieur-Wissenschaften

William Carey war der Erste, der die Dampfmaschine in Indien einführte. Er war auch der Erste,
der das erste indische Papier für die Druckerei herstellte. Er hat Inder angeleitet, mit am Ort
erhältlichen Materialien seine Maschine nachzubauen.

Wirtschaftswissenschaft

William Carey war der Erste, der in Indien die Idee der Banken einführte. Er hat gegen die
Wucherei und Bestechung gekämpft. In einer Kultur, wo die Zinsen bis zu 100 % gehen und
alles nur mit Bestechung läuft, kann keiner investieren und die Wirtschaft kann sich nicht
entwickeln. Er hat dafür gekämpft, daß Europäer in das Land investieren und so die Wirtschaft
fördern.

Frage:

Was glaubte Carey? Welche Konsequenzen hat sein Glaube auf sein Tun?

Bibelvers: 2. Mose 22,24; Neh. 5,7; Ps. 15,5; Spr. 28,8

Er glaubte an einen gerechten Gott, der Gerechtigkeit will.

Medizin

William Carey war der Erste, der für eine humane Behandlung der Aussätzigen kämpfte. Bis
dahin wurden die Leprakranken aus der Gesellschaft ausgeschlossen, ausgestoßen. Die
Aussätzigen wurden oft auch bei lebendigem Leib verbrannt oder lebendig begraben, da die
Hindus glaubten, daß ein gewaltsames Ende ihren Körper reinigen würde und die Wiedergeburt
in einem gesunden Körper ermöglichen würde.

Carey glaubte, daß die Liebe Jesu auch den Aussätzigen gilt – deswegen sollte man ihnen auch
helfen und sie pflegen.

Frage:

Warum handelte Carey anders als die Hindus? Wie sieht Jesus die Aussätzigen?

Drucktechnik

William Carey hatte die erste Druckerpresse in Indien. Er hat die moderne Technik des Druckens
und Publizierens nach Indien gebracht, weiterentwickelt und gelehrt. Er hatte zu seiner Zeit die
größte Presse in Indien: Die Missionsdruckerei in Serampore. Sie belieferten alle anderen
Druckereien des Landes mit Druckbuchstaben.

Frage:

Warum war diese Arbeit so wichtig für William Carey und seine Freunde?

Wieso hatten die Hindus kein Interesse am Drucken?

Massenkommunikation

William Carey war der Herausgeber der ersten Zeitung, die je in einer asiatischen Sprache
gedruckt wurde. Carey war der Meinung, daß neben allem Einsatz für die Wahrheit und den
wahren Glauben, das Christentum auch den freien Austausch der Meinungen sucht. Durch seine
englische Zeitung, Friend of India, konnte eine Bewegung entstehen, durch welche die soziale
Reform Indiens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen konnte.

Frage:

Woher hatte Carey diese Freiheit? Wieso kannten die Hindus diese Freiheiten nicht?

Landwirtschaft

William Carey war Begründer der Gesellschaft für Landwirtschaft und Gartenbau im Jahre 1820,
dreißig Jahre bevor es so etwas in England gab! Carey, nachdem er eine systematische Studie
der indischen Landwirtschaft betrieben hatte, publizierte Artikel zur Landwirtschaftsreform in der
Zeitung Asiatic Researches und zeigte Mißbräuche und Mißwirtschaft auf.

Frage:

Warum hat sich Carey mit diesem Thema beschäftigt? Er wurde nicht dafür bezahlt, er war
schockiert zu sehen, wie große Teile eines herrlichen Landes durch Ausbeutung und
Mißwirtschaft zur Wüste gemacht wurde. Warum hat kein Hindu für die Erhaltung seines Landes
gekämpft?

Forstwirtschaft

William Carey war der erste Mann in Indien, der Artikel verfaßte zum Thema Forstwirtschaft. Es
war 50 Jahre bevor die Regierung die ersten Versuche unternahm, Wälder zu erhalten. Carey
gab damals schon praktische Anweisungen zur Baumbepflanzung zu verschiedenen Zwecken.

Frage:

Warum? Er glaubte an die Verantwortung des Menschen für die Erde.

Literatur

William Carey war der Erste, der wichtige religiöse und philosophische Werke der Hindus, wie die
Ramayana und Samkhya, ins Englische übersetzte und publizierte. Carey war es zu verdanken,
daß die Sprache der Leute in Bengal, Bengali, zu einer feinen, literarischen Sprache Indiens
wurde. Vor Carey wurde sie als nur passend für Dämonen und Frauen betrachtet. Carey schrieb
auch evangelistische Gedichte und Lieder in Bengali, um den Indern die Liebe zu dieser
Ausdrucksform nahe zu bringen. Carey war es auch, der das erste Wörterbuch in Sanskrit (die
heilige Sprache, Sprache der Gelehrten) für Studenten schrieb.

Frage:

Was war Careys Motivation? William Carey konnte mit den religiösen Hindus diskutieren und da
er ihre heiligen Bücher gut kannte, konnte er sie mit ihren eigenen Schriften widerlegen. Das war
entscheidend bei der Frage der Kinderopfer und Praxis der Witwenverbrennung. Warum hatten
die Hindus nicht diesen Wunsch gehabt, ihre eigenen heiligen Schriften zu übersetzen?

Die heiligen Schriften müssen nicht übersetzt werden. Sie sind erstens nur für eine kleine Gruppe
von Privilegierten gedacht und außerdem müssen sie nicht einmal verstanden werden. Der Klang
allein ist schon segnend.

Bibelvers: Nehemia 8,8 Matth. 13,23

Erziehung, Schulung
Carey war ein englischer Schuhmacher, der ein Professor für Bengali, Sanskrit und Marathi am
Fort William College in Kalkutta wurde. Carey hat Dutzende von Schulen für Kinder aller Kasten
gegründet. Er war der Erste, der auch Mädchen und Unberührbare unterrichtete. Er hat auch die
erste Universität (College) in Asien und die erste Bibelschule (Theologische Ausbildungsstätte) in
Serampore gegründet.

Frage:

Warum tat er dies? Er wollte die Menschen, die in Aberglaube und Unwissenheit gebunden
waren, befreien. Die Erkenntnis der Wahrheit wird sie befreien. Warum war dies in all den Jahren
vorher nicht möglich gewesen?

Die religiöse Kultur Indiens hat bewußt Jahrtausende die große Masse der Bevölkerung in
Unwissenheit gelassen. Sie hatten keinen Zugang zur Bildung. Ob Hindus, moslemische
Regenten oder britische Kolonialisten, alle haben sich den hohen Kasten angepaßt und
absichtlich die Massen in Unwissenheit und Gebundenheit gelassen. Indem sie die Menschen
versklaven, können sie ihre Macht ausüben und ihren Gewinn aus ihnen ziehen, sie ausbeuten.

Mathematik, Astronomie

William Carey führte ein in die Wissenschaft der Astronomie.

Frage:

Warum? Carey wußte, daß der Mensch geschaffen worden ist, um die Natur zu erforschen (Ps.
111,2). Die Himmelskörper hat Gott uns als Hilfe für diese Aufgabe geschaffen. Sie sind uns
gegeben als Zeichen, die unserem Raum Richtung geben (Ost, West, Süd, Nord) und unsere Zeit
einteilen (Tag, Nacht, Kalender...) Raum und Zeit ermöglichen uns das Studium der Geographie
und Geschichte. Durch das Studium der Astronomie lernen wir unsere Zeit einzuplanen. Wir
lernen auch einiges über Gottes Größe, Herrlichkeit und Macht zu ahnen. So sollen wir die
kosmischen Gegebenheiten sorgfältig studieren, unsere Zeit verantwortungsvoll einplanen und
Gott die Ehre geben.

Verse: 1. Mose 1,14-19; Ps. 104,19; Römer 1,19-20; Ps. 19; Matth. 4,24 u.17,15

Frage: Was hatte Carey beobachtet? Carey hatte gesehen, welch zerstörerische Auswirkung die
Astrologie auf das Volk hatte: Fatalismus, Aberglaube, Angst, und eine Unfähigkeit, seine Zeit zu
organisieren und zu nutzen. Die Himmelskörper wurden als Götter betrachtet, die das Leben der
Menschen kontrollieren. Die Sterne bestimmen angeblich unser Leben.

Verse: 5. Mose 4,19; Jes. 47,13-14; Apg. 19,19-20

Bibliothekarwissenschaft

William Carey führte die Idee von Leihbibliotheken nach Indien ein. Während die Briten die
Schiffe mit Waffen und Munition füllten, bestellte Carey jede Menge Bücher aus England. Careys
Ziel war, bald genügend einheimische Literatur zu haben, jedoch, bis es so weit war, wollte er
den Indern Wissen und Information aus aller Welt beschaffen, damit ihr Geist aufblühen kann und
sie schnell ihr Defizit anderen Kulturen gegenüber aufholen können.

Sozialkunde

William Carey war der erste Mann, der aufstand gegen die Unterdrückung der Frauen und die
damit verbundenen Morde. Die britische Herrschaft hatte diese Mißstände hingenommen, als zur
Kultur und Religion gehörend. Carey begann mit Nachforschungen, beides in der Gesellschaft
und in den religiösen Schriften. Er schrieb Artikel, um die Aufmerksamkeit der Leute zu Gewinnen
und er verfaßte Protestschriften für Bengal und England. In seiner Stellung als Professor tat er
alles, um seine Studenten zu bewegen, dieses Unrecht zu bekämpfen. Carey eröffnete Schulen
für Mädchen. Er ermöglichte Witwen wieder zu heiraten. Er betete täglich 25 Jahre lang dafür,
daß Gott diesen sündhaften Sitten ein Ende machen würde. Nach 25 Jahren Kampf, im Jahr
1829, durfte er mit großer Freude erleben, daß die Witwenverbrennung gesetzlich verboten
wurde.

Frage: Warum handelte Carey so? Warum waren diese Ungerechtigkeiten in den Augen der
Hindus kein Unrecht? Der Mann in Indien unterdrückte die Frau durch Polygamie, Mädchenmord,
Kinderheirat, Witwenverbrennung, Euthanasie und erzwungenen Analphabetismus, alles im
Namen der Religion! Eine Gesellschaft, die keine Offenbarung von einem lebendigen Schöpfer
kennt, bestimmt von sich aus, welcher Stein ihm als Gott dienen soll (Spr. 29,18). So kann der
Mensch auch bestimmen, daß der Ehemann der Gott der Frau ist. Sie muß ihn anbeten und ihm
dienen. Sie lebt nur für ihn. Also hat nach dessen Tod ihr Leben keine Bedeutung mehr.

William Carey dagegen glaubte, daß Gott der Schöpfer seinen Geschöpfen Bedeutung und
Auftrag gegeben hat. Gott sagt dem Menschen, wie er leben soll, wie Mann und Frau miteinander
leben sollen. Der Mensch kann nicht einfach leben wie er will. Das Leben einer Frau gehört nicht
ihr selber, auch nicht ihrem Mann. Es gehört Gott. Und Gott hat uns nicht das Recht gegeben,
dieses Geschenk des Lebens wegzuwerfen. So war es für William Carey klar, daß „Sati“ Sünde
ist. Das gab ihm die Kraft, dagegen zu kämpfen.

Verwaltung

William Carey, als er nach Indien kam, war er quasi illegal eingereist, da die britische Verwaltung
verhindern wollte, daß Missionare im Land tätig werden. So mußten sich Carey und seine
Mitarbeiter im dänischen Territorium, Serampore, niederlassen. Als die Briten für ihre Eliteschule
keinen Professor für Bengali fanden, wurde William Carey, der als Experte in dieser Sprache galt,
angefragt. So hat Carey während 30 Jahren am Fort William College in Kalkutta unterrichtet. Sein
Einfluß in dieser Zeit auf die britische Verwaltung war, daß sich diese von einer ausbeuterischen
zu einer sozialen Verwaltung verwandelte.

Philosophie

William Carey hat geglaubt, daß Ethik und Moral nicht von der Religion zu trennen sind. Er hat
gepredigt, das die Menschen Sünder sind, Vergebung der Sünde und Befreiung von der Macht
der Sünde brauchen. Er hat gelehrt, daß die Sünde uns von Gott trennt, und wir deshalb Gott
nicht gefallen können ohne Heiligung. So konnte nur wahre geistliche Erfahrung gemacht
werden, wenn der Mensch Buße über seine Sünde tat. Diese Ansicht war revolutionär für Indiens
religiöse Welt von damals. Denn damals war man der Ansicht, daß das menschliche Selbst auch
das göttliche Selbst ist. Der Mensch ist Gott, sein Geist kann also nicht sündigen. Das
menschliche Selbst wird verführt und hält sich für getrennt von Gott. Was der Mensch also
braucht, ist Erleuchtung, Erfahrung seiner Göttlichkeit, die sogenannte Selbstverwirklichung.
Diese Ablehnung von der Sündhaftigkeit des Menschen und dafür die Betonung der mystischen
Erfahrung des Menschen und seiner Göttlichkeit, machte es möglich, daß man in Indien
gleichzeitig sehr religiös und dabei sehr unmoralisch leben konnte.

Frage: Welche Auswirkungen hatte der biblische Glaube der Sündhaftigkeit des Menschen?
Welche Auswirkungen hatte deren Ablehnung?

Verse: 1 Joh.1,8-2,1; Mt. 5,48

Nachdem Raja Ram Mohun Roy, einer der größten Hindu-Gelehrten des 19. Jahrhunderts, in
Kontakt mit Carey kam, fing er ernsthaft an, die Hindu-Spiritualität in Frage zu stellen. Er sagte
Folgendes: "Das Ergebnis meiner langen und ununterbrochenen Suche nach religiöser
Wahrheit war, daß ich die Lehre von Jesus Christus förderlicher für moralische Grundsätze und
besser geeignet für rationale Geschöpfe erfunden habe, als irgend etwas anderes.“ Der Mensch
braucht Vergebung, nicht Erleuchtung!

Geschichte

William Carey ist der Vater der indischen Renaissance des 19. Jahrhunderts. Im 11. Jahrhundert
hatte Indien einen Höhepunkt seiner Entwicklung erlebt. Danach kam der Niedergang durch
Mystizismus, Askese, Okkultismus, Aberglaube, Götzenverehrung, Hexerei, unterdrückende
Glaubensüberzeugungen und –praktiken. Die Invasion, Ausbeutung und politische Beherrschung
machte alles noch schlimmer. In diese Situation hinein kam Carey und er bewirkte den Anfang
einer Reform. Er sah Indien nicht als ein Land zum Ausbeuten, sondern als ein Land, das seinem
Himmlischen Vater gehörte, ein Land, das geliebt werden soll und dem man dienen soll. Er sah
eine Gesellschaft, in welcher die Wahrheit und nicht Unwissenheit regieren soll. Er glaubte, daß
Gottes Abbild im Menschen ist und nicht in Götzen – deshalb nahm er sich der unterdrückten
Menschen an. Er glaubte, daß die Natur verstanden und gepflegt - und nicht gefürchtet,
besänftigt oder angebetet werden soll. Der Intellekt war da, um entwickelt und nicht verleugnet zu
werden. Literatur und Kultur sollten dem Menschen als Genuß dienen – und nicht als Einbildung
(maya) abgetan werden. Seine geistliche Haltung, die großen Wert auf die Liebe zu Gott und die
Liebe zu den Mitmenschen legte, gab den Anstoß zu einer Reformation, eine Erneuerung und
Modernisierung der indischen Kultur.

Wer war William Carey noch?

Mission

William Carey war der Vater der modernen Mission. Er hat die Christen von der Notwendigkeit
der Heidenmission überzeugt. Durch ihn ist eine missionarische Bewegung entstanden.
Missionare sind in die ganze Welt gegangen. William Carey ist Pionier der Protestantischen
Kirche in Indien. William Carey ist außerdem der Übersetzer und Herausgeber der Bibel in ca.
35-40 verschiedenen indischen und asiatische Sprachen. Er übersetzte aus den
Originalsprachen Hebräisch und Griechisch ohne die Hilfe irgendeines Wörterbuches oder einer
Grammatik.

Frage:

Wieso konnte der Hinduismus keinen solchen Kämpfer hervorbringen? Im Hinduismus ist das
Schicksal festgelegt - Karma. Die ganze Gesellschaft ist darauf aufgebaut, es läßt sich nicht
ändern und man will es auch nicht. Die Unterdrücker geben ihre Rechte nicht auf. So konnte es
keine Fortschritte geben.

William Carey hat nicht seine Hoffnung auf seine sozialen Aktivitäten gesetzt. Er wußte, daß
allein das Evangelium die Macht hat, ein Licht in dieser Finsternis anzuzünden. Deswegen hat er
trotz vieler Schwierigkeiten und Angriffe nie die Hoffnung aufgegeben, nie sein Ziel aus den
Augen verloren, und alles daran gesetzt, Gottes Wort in allen wichtigen Sprachen Indiens zu
verbreiten. Die Missionare Carey, Marshman und Ward haben all ihre Kraft und Einkünfte in ihre
Arbeit gesteckt, um so ihr Ziel erreichen zu können.

Einige Beispiele:

Eines Tages wurde ein gläubiger Inder (Vishal Mangalvadi) in ein kleines Dorf gerufen. Die
Dorfleute wollten ihn um Hilfe bitten. Sie waren in großer Not. Eine Überschwemmung des
Flusses hatte ihre Häuser, Felder und Vieh weggeschwemmt. Als der Bruder dort ankam, hatten
sie gerade einen Toten verbrannt und waren dabei, den Dämonen zu opfern. Voller Stolz zeigten
sie dem Bruder ihren Tempel, der in der Mitte des Flusses stand, und der angeblich 1000 Jahre
alt war.

Der Bruder sagte ihnen: "Wißt ihr warum ihr so arm seid? Vor Tausend Jahren hätten eure
Vorfahren die Möglichkeit gehabt, einen Flußdamm und Kanal zu bauen. Statt dessen haben sie
einen Tempel gebaut. Warum? Weil sie den Fluß gefürchtet und angebetet haben, anstatt ihn zu
kontrollieren und das Wasser gezielt einzusetzen zur Bewässerung der Felder.“

Sobald wir anfangen, die Schöpfung anzubeten, werden wir unfähig, über sie zu herrschen.

1. Mose 1,27-28: Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn;
und schuf sie als Mann und Frau. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: seid fruchtbar und
mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im
Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf
Erden kriecht. Psalm 8,5-10:... Gott hat alles geschaffen und den Menschen als Verantwortlich
darüber gestellt. Alles soll zu Gottes Ehre dienen.

Eine Gesellschaft, die die Kuh anbetet, wird nicht Forschungen machen können, um die Rasse
zu verbessern oder die Milchproduktion zu erhöhen. Wenn der Mensch die Kuh anbetet, wird der
Mensch Sklave der Kuh. Die Kuh darf alles, sie darf dem armen Bauern seine Felder zertrampeln
oder in der Stadt mitten auf der Hauptstraße liegen und den ganzen Verkehr behindern. Wer
Affen, Ratten oder gar Schlangen anbetet, wird es sich gefallen lassen, daß die Tiere sein Essen
wegfressen, ja er wird seinen Göttern sogar noch das Essen seiner Kinder bringen, um sie zu
besänftigen oder um sein Gewissen zu beruhigen. Ganz sicherlich wird er nicht eine Falle stellen,
um die Ratten los zu werden.

Aber auch wir haben den Glauben an den Schöpfer verworfen. Unser Egoismus beherrscht uns.
Wir scheuen uns nicht davor, die Natur auszubeuten. Wenn wir uns nicht nach den Geboten des
wahren Gottes, des Schöpfers, richten, finden wir Menschen nicht den Weg der Freiheit und
Verantwortung. In seinem Wort gibt uns Gott Richtlinien, wie wir ein Leben in der Verantwortung
vor ihm leben können. Sprüche 12,10. Matth. 5,25-34: Gott stellt uns die Vögel und die Lilien als
Vorbild hin. Von ihnen können wir lernen, unserem guten Vater im Himmel zu vertrauen.

Frage:

Welche Konsequenzen hat es für mein Leben, wenn ich mich nach den Richtlinien der Bibel
halte? Welche Konsequenzen hat es für mein Leben, wenn ich den Schöpfer leugne?

Eines Tages, es war im Jahr 1794, wanderte William Carey zu einem Dorf, Malda.. Er sah einen
Korb in einem Baum hängen. Er dachte, vielleicht hat ein Arbeiter sein Essen im Korb dorthin
gehängt, um es vor Hunden zu schützen. Aber als Carey sich umsah, konnte er keine Arbeiter
entdecken; so beschloß er nachzuschauen. Als er den Korb öffnete, war er entsetzt. Der Körper
eines kleinen Kindes lag darin. Weiße Ameisen hatten schon die Hälfte gefressen. William Carey
dachte, vielleicht hat eine Mutter das Kind dorthin gehängt, als sie zur Arbeit auf das Feld ging
und es dann am Abend vergessen. So forschte er nach. Da wurde ihm gesagt, daß viele Eltern
ihre Kinder auf diese Weise opfern. Im Hinduismus gibt es fast unendlich viele Götzen. So
verehren manche Bäume, Affen, Ratten oder Schlangen. Diese Götter verlangen auch ständig
Opfer. Carey konnte es kaum fassen.

Eine andere verbreitete Sitte war: Wenn ein Baby krank wurde, glaubte man, es sei unter den
Einfluß von bösen Geistern geraten. So wurde das kranke Kind in einen Korb gelegt und während
dreier Tage irgendwo hingehängt. Wenn es dann noch lebte, wurde erst etwas unternommen, um
ihm zu helfen.

Zum Beispiel gab es in Bengal, wo Carey lebte, die Feier des "Sagar Puja". Jedes Jahr fand im
Januar bei Vollmond an der Mündung des Ganges eine große religiöse Feier statt. Tausende von
Pilger kamen. Wenn der Mond hell schien, warfen mit dem Ruf, "Ganga Ma Ki Jai", was so viel
wie "Sieg der Mutter Ganges" heißt, die Mütter ihre Kinder in den Fluß. Die Babys wurden einfach
die Böschung hinabgestoßen, manche ertranken und andere wurden von Krokodilen oder Haien
gefressen. Manche Mütter opferten der Göttin Ganges ihr erstes Kind, um dadurch den Segen für
noch mehr Kinder zu empfangen oder um dadurch ihre Sünden vergeben zu bekommen (Micha
6,7).

Niemand hat diese Kindestöter aufgehalten, denn man war der Meinung, alle religiösen
Überzeugungen sollten akzeptiert werden. Jeder kann glauben, was er will. So hat sich auch
damals die britische Regierung bewußt nicht eingemischt. Carey jedoch konnte nicht dulden, daß
durch diese geistliche Verblendung die Gebote Gottes so mißachtet würden. Er ging vor den
Gouverneur. Dieser wollte nicht handeln, fragte allerdings Carey, ob Kinderopfer von den
religiösen Schriften der Hindus verlangt werden. William Carey hatte diese Schriften genug
studiert, um beweisen zu können, daß es ein solches Gebot nicht gibt. Da hat die Regierung
tatsächlich ein Gebot erlassen: "Bei Todesstrafe ist es verboten, ein Kind in den Fluß zu werfen!"
Beim nächsten Fest wurden sogar Soldaten als Wache aufgestellt. Es war das Jahr 1804.

Noch heute werden in Indien, obwohl es strikt verboten ist, Kinder geopfert. Zum Beispiel, wenn
eine Brücke oder ein Staudamm gebaut wird, wird manchmal ein gestohlenes Kind der Göttin des
Flusses geopfert. Auch opfern Millionen Eltern ihre eigenen Kinder jedes Jahr. Diese Tötung
werden in den Krankenhäusern vollzogen. Sie nennen es Abtreibung.

Frage:

Ist es richtig, daß in dieser Frage jeder seine eigene Meinung haben kann? Warum war es für
Hindus richtig, das Kind der Göttin Ganges zu opfern? Warum denken wir, daß es eine Sünde ist,
ein Kind zu töten? Warum kämpfte William Carey gegen diese Sitte. Er war doch so offensichtlich
in der Minderheit.

Wer keinen persönlichen Gott kennt, kann den richtigen Wert des Menschen nicht einschätzen.
Wer Gott nicht als Schöpfer anerkennt, der wird den Wert des Menschen irgendwie anders
einordnen müssen, entweder den Tieren gleichwertig, weil von ihnen abstammend oder selbst
göttlich.

Wieso ist es möglich, daß so viele Regierungen die Tötung von Juden, Schwarzen, Christen,
oder Ungeborenen nicht nur erlaubt haben, sondern noch rechtfertigen?

2. Mose 20,2-3: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft,
geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Gott offenbart sich uns als der
Erretter aus der Gefangenschaft. Er will sein Volk in ein gutes Land führen. Er ist ein gerechter
Gott. Er gebietet uns, nicht falsche Götter anzubeten. Warum? Er weiß, daß wenn wir uns von
Ihm, dem wahren Gott abwenden, wir unsere Freiheit verlieren und zu Sklaven der Finsternis
werden.

Als William Carey nach Indien kam, war er mit der allgemeinen Meinung konfrontiert, daß es sich
für ein Mädchen nicht gehört, in die Schule zu gehen. Ein Hindu-Vater sagte einmal zum
Missionar: "Du darfst meine Söhne unterrichten und ihnen alles Wissen zugänglich machen, aber
meinen Töchtern darfst du dich nicht nähern, und wenn deine Absichten noch so gut sind. Ihre
Unwissenheit und Absonderung sind absolut notwendig für die Ehre meiner Familie. Sie müssen
in einem Alter verheiratet werden, wenn deine Pläne zur Bildung erst anfangen könnten."

Offiziell wurde Kinderheirat erst 1929 verboten. Da jedoch diese Praktik seine Wurzeln in der
moralischen-religiösen Kultur hat, ist es sehr schwierig, dagegen anzukämpfen. Noch heute wird
in den Dörfern das Datum gefälscht oder der Beamte bestochen, um das minderjährige Mädchen
verheiraten zu können. Dadurch wird dem Mädchen seine Kindheit gestohlen, die Möglichkeit der
Bildung und Entwicklung ihres Geistes und ihrer Persönlichkeit genommen und sie wird Opfer der
Unterdrückung, Ausbeutung und Versklavung. Sie kann sich nicht wehren.
William Carey war der Erste, der dagegen kämpfte, indem er die Lehren der Bibel verbreitete und
gleichzeitig die ersten Schulen für Mädchen gründete. Seine Mitarbeiterin, Hannah Marshman
übernahm diese Aufgabe. Sie war eine liebevolle, weise und von Herzen gläubige Frau. Sie
kümmerte sich nicht nur um den großen Haushalt der Mission, sondern wurde auch aktiv in einer
Weise, wie es für indische Frauen undenkbar gewesen wäre. Sie fing mit einer Schule für
ausländische Kinder an, was für die Missionare eine große finanzielle Hilfe war. Dann gründete
sie verschiedene Schulen für arme indische Jungen und Mädchen. Diese Arbeit weitete sich aus,
an verschiedenen Orten unterrichteten sie die Kinder. Bald waren es 8000 Schüler.

Die Missionare begnügten sich nicht nur mit einer Grundschule. Es wurden auch weiterführende
Schulen gegründet, ja sogar eine Universität bauten sie: das Serampore College. Es existiert
noch heute und bis heute ist es für manche Fächer die einzige Hochschule in Indien. Dank des
hingebungsvollen Einsatzes dieser Missionarsfrauen, wurde der Weg frei für die Bildung der
indischen Mädchen. Diese Frauen haben kein leichtes Leben gehabt. Hannah Marshman sind 6
kleine Kinder gestorben. Sie hatten kein fließendes Wasser, keine Dusche oder Waschmaschine.
Es gab viele Krankheiten, die man nicht behandeln konnte. Es gab Ungeziefer, oft hatten sie kein
Geld, aber noch schlimmer waren die Kämpfe gegen Aberglaube und Widerstände von allen
möglichen Seiten. Kein Wunder, daß William Careys Frau, Dorothy, damit nicht fertig wurde. Sie
hatte ihren Mann gegen ihren Willen begleitet und sehr gelitten. Auch sie hat in Indien ein Kind
verloren. Sie ist durch die Not und Schwierigkeiten geistig krank geworden. Sie fühlte sich
verfolgt und wurde aggressiv und mußte dann 12 Jahre lang in einem Zimmer isoliert betreut
werden. Um ihre Kinder kümmerten sich die anderen Missionare Marshman und Ward.

Eine andere notvolle Konsequenz der Kinderheirat sind die vielen sehr jungen Witwen. Bei der
letzten Zählung im 19. Jahrhundert wurden in und um Kalkutta zehntausend Witwen unter 4
Jahren gezählt, und über fünfzigtausend im Alter zwischen 5 und 9 Jahren.

Wenn der viel ältere Ehemann starb, befand sich die Witwe in einer schrecklichen Situation. Man
glaubte, daß die Witwe am Tod des Mannes Schuld war. Sie hatte dieses Unglück über ihn
gebracht. Man glaubte, daß die Witwe ihren Mann aufgegessen hatte. Der Hindu sieht nicht in
der Witwe eine kostbare Person, die Hilfe braucht, um weiter leben zu können, sondern er sieht
nur auf seine finanziellen Vorteile. Der Ehemann hatte, als er das Mädchen heiratete, auch eine
Summe Geld von der Familie der Braut bekommen. Dieses Geld will die Familie auf jeden Fall
behalten. Also gibt es kein zurück für das Mädchen. So wurde die Witwe bestraft: sie mußte ihre
Haare rasieren, allen Schmuck abgeben, weiße Kleidung als Zeichen ihrer Witwenschaft
anziehen und mußte im Haus bleiben, um keine anderen Männer in Versuchung zu bringen.
Wenn sie keinen Sohn hatte, mußte sie mit einem Mann der Verwandtschaft leben (ohne mit ihm
verheiratet zu sein), und mußte dem verstorbenen Ehemann einen Sohn gebären und alle
Rituale, Gebete und Opfer für den Toten vollbringen. Es war ein Leben in der Verachtung und
Armut.

Es gab nur einen anderen Ausweg, um diesem lebenslangen Schicksal zu entkommen: die
Witwe konnte „Sati“ begehen. „Sati“ schien der armen Witwe manchmal das kleinere Übel. Es
bedeutete den Tod durch Verbrennen bei lebendigem Leib, zusammen mit ihrem toten Mann. Die
Hindus glauben, daß durch dieses Opfer die Frau der Familie Gutes tun, einige ihrer
Familienmitglieder in den Himmel bringen kann und sie selbst so zu einer gewissen Ehre kommt.
In einer der Hinduschriften wird eine solche Frau beschrieben: „Alle Taten einer Frau sollten die
selben sein wie die ihres Ehemannes. Wenn er glücklich ist, soll sie auch glücklich sein. Wenn er
traurig ist, soll sie auch traurig sein. Wenn er tot ist, soll sie auch sterben. Solch eine Frau wird
‘Pativrata’ genannt werden.“

William Carey hat im Jahr 1799 die Grausamkeit einer „Sati“ miterlebt und in einem Brief an
seinen Freund Andrew Fuller geschildert (S.P. Carey „William Carey, der Vater der modernen
Mission“).
Die Situation der Frau oder des Unberührbaren hatte seine Wurzel in dem falschen Glauben über
die Herkunft, den Sinn des Lebens und den Wert des Menschen. Das indische Verständnis war
gefangen in dem Glauben der Reinkarnation. Der Mensch hat nicht mehr Wert als ein Tier. So
wird eine rein weltliche Schulung auch kein besseres Bild vom Menschen bringen können.
William Carey hat das Kastensystem zutiefst abgelehnt und versucht, es mit dem Licht des
Evangeliums zu überwinden (Gal. 3,28). So taufte er Gläubige erst, wenn sie bereit waren, mit
dem Kastenwesen zu brechen.

Zitat von Raja Ram Mohun Roy: "Die Wurzel des ganzen schlechten Zustandes der indischen
Gesellschaft liegt im Götzendienst und dem damit verbundenen Aberglauben." Carey war
überzeugt, daß allein die Erkenntnis des Evangeliums die Macht hatte diese Menschen zu
befreien. Der Hinduismus teilt die Gesellschaft in Kasten ein. Damit wird ein großer Teil der
Bevölkerung unterdrückt. Welch einen krassen Unterschied zur Bibel!

2. Mose 22,21: Ihr sollt Witwen und Waisen nicht bedrücken. 5. Mose 24,17: Du sollst das Recht
des Fremdlings und der Waise nicht beugen und sollst der Witwe nicht das Kleid zum Pfand
nehmen. 5. Mose 26,12: Wenn du den Zehnten deines ganzen Ertrages zusammengebracht hast
im dritten Jahr, so sollst du ihn dem Leviten, dem Fremdling, der Waise und der Witwe geben,
daß sie in deiner Stadt essen und satt werden.

Auch im neuen Testament finden wir eine bewegende Geschichte. In Lukas 7,11-17 begegnet
Jesus einer Witwe, die gerade ihren Sohn zu Grabe trug. Jesus zeigt tiefes Mitleid, er tröstet sie
und bringt ihren Sohn zurück zum Leben. Psalm 27,10: Denn mein Vater und meine Mutter
verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf. Markus 10;14,15: Jesus sprach zu ihnen: Laßt die
Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes. Wahrlich,
ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.

Der Mann, der das Los der Frauen in Indien unsäglich erleichterte, war nicht Vertreter des
Feminismus, sondern glaubte von ganzem Herzen an den Vater und den Sohn. Im Hinduismus
gibt es zahlreiche Göttinnen und Muttergottheiten. Doch deren Anrufung hatte, wie z. B. Kali,
keine Befreiung, sondern schlimmste Knechtung gebracht. Nach wie vor gilt die Aussage Jesu:
„Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei“ (Joh. 8,36).

Frage:

Warum will ein gläubiger Hindu seine Tochter nicht in die Schule schicken? Warum gehen hier
alle Kinder zur Schule?

In Indien wurde die Religion ein Werkzeug zur Kontrolle über das Gewissen und die
Persönlichkeit der Menschen. Aber durch das Evangelium ruft Gott jeden einzelnen Menschen
zur Verantwortung. Jeder muß Gott Rechenschaft geben für sein Leben. Da es für William Carey
klar war, daß allein das Licht des Evangeliums die Macht hat, die Finsternis zu vertreiben und
Indien zu befreien, widmete er sein Leben mit ganzer Hingabe der Aufgabe der Verbreitung des
Wortes Gottes.

Zusammengestellt aus dem Buch von Ruth und Vishal Mangalwadi „Carey, Christ and Cultural
Transformation.“

Catherine Seibel

Kurzbiographie von William Carey:

William Carey wuchs in einer sehr armen englischen Familie auf und hatte nicht die Möglichkeit
zu studieren. Mit 12 Jahren schon kam er aus der Schule und in eine Schuhmacherlehre. Jedoch
schon als Kind hatte er einen großen Wissensdurst, er interessierte sich für Botanik, Geographie
und Sprachen. Noch während seiner Lehre brachte er sich selbst Latein, dann Griechisch,
Hebräisch, Französisch und Holländisch bei.

Später wurde er Professor für Bengali, Sanskrit und Marathi am berühmten Fort William College
in Kalkutta, Indien. Carey und seine Mitarbeiter gründeten mehr als hundert christliche Schulen
für mehr als achttausend indische Kinder aller Kasten, er war außerdem der Gründer der ersten
christlichen Hochschule in Asien, in Serampore.

Carey und sein Team haben in dreißig Jahren 212 000 Bibeln und Bibelteile gedruckt, und das in
35 verschiedenen Sprachen.

Dies ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, daß dieses Projekt, Gottes Wort unter den
Hindus zu verbreiten, eigentlich illegal war. Die Britisch East Company versuchte alles, um
Careys Arbeit zu verhindern, denn sie wollten ja nicht den Indern helfen, sie wollten sie
ausbeuten.

Careys Familie litt große Not, besonders zu Beginn ihres Aufenthaltes in Indien. Sie waren in
bittere Armut geraten, litten unter dem Klima, in Gefahren vor Schlangen, Tiger, Moskitos, sie
litten unter verschiedenen tropischen Krankheiten, ihr kleiner Sohn, Peter, starb mit 5 Jahren an
Durchfall. Careys erster Mitarbeiter hatte den ganzen finanziellen Vorrat verschleudert, so daß
William Carey sich gezwungen sah eine Arbeit zu suchen. In den ersten sieben Monaten mußte
er mit seiner Familie fünf mal umziehen.

Obwohl Carey oft Briefe in die Heimat schrieb, dauerte es siebzehn Monate, bis er die ersten
Briefe aus England erhielt!

Böse Gerüchte wurden über sie verbreitet, sie kämpften einsam einen schweren Kampf. William
Careys Frau, Dorothy, wurde mit diesen Belastungen nicht fertig und wurde geistig krank. Sie sah
in ihrem Mann einen Feind und versuchte ihn mit einem Messer anzugreifen.

Trotz alledem lernte William Carey Bengali und Sanskrit und predigte regelmäßig in Bengali.
Nach 4 Jahren hatte er schon das Neue Testament in Bengali übersetzt. Und doch kam sieben
lange Jahre kein einziger Inder zum Glauben!

Wie war es möglich daß William Carey so produktiv sein konnte, trotz allen Enttäuschungen,
Angriffen, Verleumdungen, Krankheiten, Persönlichen Nöten, Einsamkeit, wie konnte er
durchhalten ohne die Ermutigung eines einzigen Erfolgs?

Um Careys Motivation zu verstehen müssen wir zurückschauen:

Eine der einflußreichsten Predigten wurde am 31. Mai 1792 von William Carey in Northhampton,
England, gehalten. Sie ist der Anfang der Missionsarbeit für die englisch sprechende Welt. Der
Text dieser historischen Predigt war Jesaja 54:2-3: „ Mache den Raum deines Zeltes weit und
breite aus die Decken deiner Wohnstatt; spare nicht! Spann deine Seile lang und stecke deine
Pflöcke fest! Denn du wirst dich ausbreiten zur Rechten und zur Linken, und deine Nachkommen
werden Völker beerben und verwüstete Stätte neu bewohnen.“ Das Thema seiner Predigt kann
folgendermaßen zusammengefaßt werden: „Erwarte Großes von Gott! - Wirke Großes für Gott!“

William Carey war, im Gegensatz zu vielen Theologen seiner Zeit, überzeugt, daß Gott die
Verlorenen retten wird durch die missionarische Arbeit der Gläubigen. Er vertraute, daß Gott die
Heiden retten würde, wenn er bereit ist, ihnen das Evangelium zu predigen.

Als William Carey 1793 nach Indien kam, befand sich das Land in einem moralisch desolaten
Zustand.
Wenn ein Säugling krank war, glaubten sie, daß er unter dem Einfluß von bösen Geistern war.
Deshalb überließ man das Kind den Elementen, zum Beispiel indem man es in einem Korb an
einen Baum hängte. Bei Malda fand William Carey Überreste eines Babys, das man als ein
lebendiges Opfer von weißen Ameisen hatte auffressen lassen. Bei Sagar Mela, wo der Ganges
ins Meer fließt, erlebte William Carey, wie Mütter ihre Säuglinge ins Wasser warfen, um von den
Krokodilen gefressen zu werden oder zu ertrinken. Dies galt als ein heiliges Opfer für Mutter
Ganges.

Carey machte gründliche Nachforschungen über die Anzahl und Gründe der Kindestötung und
publizierte seine Berichte. Er schrieb mehrmals an die Regierung, bis er erreichte, daß Im Jahr
1802 Kinderopfer verboten wurden. Es war das erste Mal, daß die britische Regierung sich direkt
in religiöse Praktiken der Hindus eingemischt hatte.

Im Hinduismus war die Frau verachtet. „Im Hinduismus gibt es erst Erlösung für eine Frau, wenn
sie als Mann wiedergeboren wurde.“ Ihre einzige Hoffnung bestand darin, dem Mann in völliger
Unterordnung zu dienen. Viele kleine Mädchen wurden schon als Kinder umgebracht. Oder sie
wurden verheiratet, bevor sie das 4. Lebensjahr erreicht hatten. Witwen wurden als
Unglücksbringer betrachtet, die den Tod ihres Gatten verursacht hatten. Sie wurden nur als
wirtschaftliche Belastung angesehen. Witwen mußten ihre Haare rasieren, ihren Schmuck
ablegen, es war ihnen verboten wieder zu heiraten, aber sie mußten mit dem ihrem verstorbenen
Ehemann am nächsten Verwandten leben. Es wurde großer Druck ausgeübt auf sie, doch „Sati“
zu begehen, das heißt sie soll sich lebendig verbrennen lassen zusammen mit dem Leichnam
ihres toten Ehemannes.

Die Hindu Praktik der Polygamie verstärkte das Problem. Carey schildert, wie bei einer
Gelegenheit die 33 Witwen eines Mannes lebendig verbrannt wurden zusammen mit seinem
Leichnam. Bei einer anderen Verbrennung war es die 11 Jährige Witwe des Mannes.

Aussätzige wurden von ihren Familien verstoßen und lebendig verbrannt. Der Hinduismus lehrte,
daß nur ein gewaltsamer und feuriger Tod den Körper reinigen könne und ihm zu einer neuen,
gesunden Existenz verhelfen würde. Euthanasie wurde häufig praktiziert mit Kranken, Behinderte
überließ man oft der Hitze oder Kälte, den Krokodilen, den Insekten oder dem Fluß.

William Carey kämpfte gegen all diese Übel, Kinder Prostitution, Sklaverei und Kastensystem
inbegriffen. Er kritisierte öffentlich die Regierung für ihre Passivität diesen Morden gegenüber. Er
organisierte öffentliche Debatten, er sprach und schrieb oft über diese Greuel. Zu Beginn
begegnete man ihm mit Gleichgültigkeit. „Sati“ sei eine religiöse Praktik und dürfe nicht in Frage
gestellt werden.

Carey war der Herausgeber der ersten Zeitung, die je in einer asiatischen Sprache gedruckt
wurde. Er war der Meinung, daß neben allem Einsatz für die Wahrheit und den wahren Glauben,
das Christentum auch den freien Austausch der Meinungen sucht. Durch seine englische
Zeitung, „Friend of India“, konnte eine Bewegung entstehen, durch welche die soziale Reform
Indiens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen konnte.

William Carey war der erste Mensch, der aufstand gegen die brutalen Morde und allgemeinen
Unterdrückung der Frauen durch Kindstötung, Kinderheirat, Polygamie, Analphabetentum,
Witwenverbrennung und Euthanasie. Carey forschte systematisch nach und veröffentlichte seine
Artikel, um in Bengalen und England öffentliche Proteste zu erwecken. Während seiner Zeit am
Fort William College beeinflußte er eine ganze Generation von Studenten. Carey bekämpfte die
Meinung, das Leben einer Frau sei nach dem Tod ihres Mannes wertlos. Er war der erste, der
Schulen für Mädchen eröffnete, um ihnen zu helfen aus Unterdrückung, Unwissenheit und
Aberglaube herauszukommen.

25 Jahre lang betete und kämpfte Carey unermüdlich gegen die „Sati“ Praktik, bis endlich im Jahr
1829 die Regierung das öffentliche Verbot verkündete.

William Carey war auch der erste Mann, der für eine humane Behandlung der Aussätzigen
kämpfte und der Praxis der Verbrennung bei lebendigem Leib ein Ende setzte.

William Carey hat als Erster die Idee der Banken in Indien eingeführt, um dadurch eine
Förderung der Wirtschaft zu ermöglichen.

William Carey war der Begründer der Gesellschaft für Landwirtschaft und Gartenbau im Jahr
1820, dreißig Jahre bevor es so etwas in England gab! Er führte die Dampfmaschine ein in
Indien. Auf ihn gehen auch zurück die ersten Leihbibliotheken Indiens. Er bestellte jede Menge
Bücher aus England, um den Indern Zugang zu Informationen aus aller Welt zu verschaffen.

William Carey führte die Inder ein in die Wissenschaft der Astronomie. Er hatte beobachtet, welch
eine zerstörerische Auswirkung die Astrologie auf das indische Volk hatte: Fatalismus, Angst und
eine Unfähigkeit, seine Zeit zu organisieren und zu nutzen. Die Astrologie des Hinduismus nimmt
den Menschen gefangen, sein Leben wird bestimmt von den Sternen. Das Studium der
Astronomie, der von Gott geschaffenen Himmelskörper, macht uns frei: Wir erkennen sie als
Hilfe, Zeit und Raum einzuteilen. Sie ermöglichen uns unseren Kalender, die Geographie und
eine bessere Planung unserer Zeit.

Carey war der erste Mann in Indien, der Artikel verfaßte zum Thema Forstwirtschaft. Fünfzig
Jahre bevor die Regierung die ersten Versuche unternahm, Wälder zu erhalten, gab er schon
praktische Anweisungen zur Baumbepflanzung. Er hatte verstanden, daß Gott den Menschen
verantwortlich gemacht hatte für die Erde. William Carey war auch der Erste, der in Indien eine
Gesellschaft für Botanik gründete, die ersten Bücher schrieb zum Thema Pflanzenkunde und
Gartenpflege. In seinem Garten pflegte er viele schöne und seltene Pflanzen. Er unterrichtete
auch oft und gerne zum Thema Naturwissenschaft, weil er daran glaubte, daß die Natur Gott, den
Schöpfer, preist. Der Mensch darf sie studieren, pflegen und Gott die Ehre geben. Der Hindu
glaubt ja, daß die Natur nur eine Illusion sei und daß auch Seelen gefangen sind in allen
möglichen Tieren. Dadurch wird er Tiere und Pflanzen anbeten und sich ihnen unterwerfen und
nicht bestimmen.

William Carey ist Vater der Drucktechnik in Indien. Er hat die moderne Technik des Druckens und
Publizierens nach Indien gebracht, weiterentwickelt und gelehrt. Er hatte zu seiner Zeit die größte
Presse in Indien: die Missionsdruckerei in Serampore. Sie belieferten alle anderen Druckereien
des Landes mit Druckbuchstaben. Im Jahre 1812 zerstörte das Feuer Careys Druckerei, sein
Vorrat an Papier und kostbare Manuskripte, die Arbeit von vielen Jahren. Nach diesem
katastrophalen Verlust predigte William Carey über Psalm 46: „Seid still und erkennt, daß ich Gott
bin“.

Der Brand war nicht der einzige Schlag, den er verkraften mußte: es gab Enttäuschungen,
Krankheiten, Todesfälle, ungerechte Kritik und Verleumdungen von jüngeren Missionaren und
von der Missionsgesellschaft in England, Nöte in eigenen der Familie.

In alledem war William Carey ein Gott hingegebenes Werkzeug, der die ganze Bewegung der
modernen Mission in Gang setzte, die Bibel in mehr Sprachen übersetzte, als sonst ein
Übersetzer und Tausenden Menschen geholfen hat durch seine barmherzigen sozialen
Aktivitäten.

Wir müssen seinem Beispiel folgen und den Menschen an Leib , Seele und Geist dienen, in allen
Enttäuschungen und Widerständen festhalten im Glauben an Gottes Allmacht.

Mini-Biographie:

William Carey wuchs in einer armen Familie auf in England. Schon früh interessierte er sich für
alles, was er in der Natur beobachten konnte. Mit 12 Jahren kam William aus der Schule, in eine
Schuhmacherlehre. Noch in dieser Zeit fand er Vergebung seiner Sünden und Frieden mit Gott
durch seinen Glauben an Jesus Christus. Sein Wissensdurst nahm zu und er stillte ihn damit,
daß er neben seiner Arbeit sich selbst noch fünf Sprachen beibrachte. Außerdem interessierte er
sich für Geographie und Reiseberichte. William Carey wurde immer bewußter, daß die
Menschen, die das Evangelium nicht haben, verloren sind in ihrer Sünde und ihrem Elend. So
segelte er 1793 mit seiner Familie nach Indien.

Mit Eifer diente er seinem Gott 40 Jahre lang in Indien. Es war kein leichter Dienst. Die Indische
Gesellschaft befand sich in einem desolaten Zustand: es herrschte Unterdrückung der Armen,
Kranken, Frauen, Kinder durch Unwissenheit und Aberglaube, oft wurden sie in grausamer Weise
umgebracht. Dazu kamen persönliche Schwierigkeiten, Krankheiten, Ungeziefer, Einsamkeit,
Armut, Verleumdung, Rückschläge und Todesfälle.

William Carey hat in all diesen Schwierigkeiten nicht aufgegeben und auf seinen Gott vertraut,
der allein vermag Großes zu tun.

William Carey wurde dann Professor für Bengali, Sanskrit und Marathi am berühmten Fort
William College in Kalkutta. Mit Hilfe seiner Mitarbeiter gründete er über 100 christliche Schulen
für mehr als 8000 indische Kinder, dazu die erste christliche Hochschule Asiens, die erste
Zeitung Asiens, die erste Druckerei, die erste Dampfmaschine, publizierte die ersten Artikel zu
verschiedenen Naturwissenschaftlichen Themen, er setzte sich unermüdlich ein gegen soziale
Ungerechtigkeiten, gegen das Kastenwesen, Aberglaube und Unterdrückung. Er gründete
Gemeinden und sandte Missionare aus in andere Teile des Landes. Aber seine größte Leistung
ist wohl seine Übersetzungsarbeit: er übersetzte Gottes Wort in 35 Sprachen, und damit konnte
er fast ganz Indien erreichen.

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Kostas Metallinos - Gottes Botschafter für Griechenland

von Yerasmus Zervopoulos Ph. D.

Zum Gedenken

Es sind nun zwanzig Jahre her, seit wir zum letzten Mal dein strahlendes Angesicht schauten,
seit wir zum letzten Mal deine goldenen Worte vernahmen. Ja, zwanzig Jahre sind verflossen,
doch die Wunde ist immer noch offen. Offen ist auch noch die klaffende Lücke, die dein
plötzlicher Fortgang in dem Bereich hinterlassen hat, in dem du für Gott gearbeitet hast.
Jetzt schaust du deinen Herrn; du siehst ihn, "wie er ist!“. Die Herrlichkeit des Himmels, die
menschliche Sprache nicht zu beschreiben vermag, ist nun deine Freude. Die Geheimnisse der
göttlichen Weisheit, die wir nicht verstehen können, sind nun keine Geheimnisse mehr für dich.
Du verstehst, du erkennst, du begreifst.
Mir und vielen Hunderten warst du Vater und Freund, Erleuchtung und starke Stütze. So schätze
ich mich glücklich, dir und deinen geistlichen Kindern diese kurze Geschichte deines Lebens
widmen zu dürfen.
Wir werden uns wiedersehen
Januar 1983

Vorwort

Manche von uns gehen durch das Leben, indem wir unser unbedeutendes Wesen hinter einem
Riesen verbergen. Wir tun das, weil seine Persönlichkeit uns beeindruckt, sein Leben uns
erleuchtet oder sein Wort unsere Dunkelheit erhellt. Häufig kennen wir ihn nur durch seine
Schriften oder seine Reden; manchmal widerfährt uns das Glück, ihn persönlich kennenzulernen
oder mit ihm zusammenzuleben. Ich durfte einer von diesen glücklichen Menschen sein. Es gibt
keinen besseren Einfluß als den, der aus dem Zusammenleben mit einem bedeutenden
Menschen erwächst. Da empfangen wir nicht nur die Ausstrahlung seiner erleuchtenden Worte,
sondern auch die seines christlichen Charakters und Vorbilds.
Das herausragende Kennzeichen des christlichen "Wandels" von Kostas Metallinos war sein
großer Glaube an Gott. Dieser brennende und fruchtbare Glaube bewirkte in ihm eine tiefe und
lebendige geistliche Erfahrung, von der er zunächst innerhalb der Griechisch orthodoxen Kirche
Zeugnis gab. Es war jedoch von Anfang an sichtbar, daß die alten Schläuche nicht stark genug
waren, den neuen Wein aufzunehmen. So lehnte die Orthodoxe Kirche Metallinos ab und
verdammte seine Botschaft.
Doch der Widerstand der traditionellen Kirche brachte nicht das Ende. Statt dessen erwuchs
daraus der Anfang einer kraftvollen Arbeit, die das Ziel verfolgte, diejenigen Ketten religiöser
Formen und Traditionen zu zerbrechen, mit denen die gegenwärtige Orthodoxe Kirche die Seelen
der Menschen bindet. Wie zur Zeit der Urgemeinde sollte das Gewissen des griechischen Volkes
durch eine Leben spendende Predigt erweckt werden. Die Kirche der Gegenwart sollte den Weg
wiederentdecken, den sie verloren hatte. Durch das Wort Gottes sollten die morschen Stützen
des Unglaubens zerstört werden.
Metallinos war mehr als ein Christ, er war ein Ereignis, das neue Verhältnisse in die Geschichte
des evangelischen Zeugnisses in Griechenland brachte.
Für seine Gegner, die hauptsächlich aus der griechisch orthodoxen Geistlichkeit kamen, war er
lediglich ein Ketzer, ein Werkzeug auswärtiger Propaganda und ein Zerstörer der Einheit der
Nation. Doch einflußreiche orthodoxe Laien priesen Metallinos als den größten Prediger den
Griechenland im 2o. Jahrhundert erlebt hatte. Andere sahen in ihm den begabten Vermittler der
evangelischen Wahrheit, und ein griechischer Finanzminister bezeichnete sein Wirken als
"Rettung der Nation".
Zum ersten Mal in der Geschichte der griechischen Nation hörten viele Menschen in so
bedeutenden Sälen und mit so glänzendem Erfolg durch Metallinos das Evangelium in seiner
Einfachheit und Kraft.
Durch seine positive und weitreichende Tätigkeit gab dieser Mann Gottes als Führer einer
geistlichen Bewegung dem religiösen Leben im modernen Griechenland neue Impulse. Seine
Arbeit hinterließ in allen Bereichen der griechischen Gesellschaft einen lebhaften Eindruck.
Für seine unschätzbare Hilfe für die Übersetzung aus dem ursprünglichen Text möchte ich
Evangelos Soteriades meinen Dank aussprechen. Dank gebührt Viola Palos für ihre Arbeit an der
Schreibmaschine und ihre hilfreichen Ratschläge. Dieser gilt auch unseren Kindern John und
Betsie, die sich den Titel für dieses Buch ausdachten und meiner lieben Frau Litsa für ihre
Geduld und ständige Ermutigung. Y. Z.

Inhalt

1. Das Gelöbnis
2. Der Ruf
3. Mein Herr und mein Gott
4. Die Zubereitung
5. Das Ringen mit dem Satan
6. Durch Kämpfe vorwärts
7. Familienleben
8. Das Auswerfen und Einziehen des Netzes
9. Das Hirtenamt
10. Das Erntefeld und die Arbeiter
11. Der Held ist gefallen

1. Das Gelöbnis
Oktober 1910. Es ist eine kalte und regnerische Nacht. Es ist spät. In einem ärmlichen
Stadtviertel, genau unter dem Hügel der Akropolis, brennt in einem Fenster Licht. Innen beugt
sich ein Student über ein aufgeschlagenes Buch, das vor ihm liegt und weint bitterlich. Nach
einem Augenblick hebt er seine Augen auf und beginnt mit großer Mühe zu sprechen.
“O Jesus, ich kannte Dich nicht, darum kämpfte ich gegen Dich. Ich danke Dir, daß Du auch mich
angenommen hast. Ich verspreche Dir, daß ich Dir völlig gehören will, und ich will Dir dienen mit
meinem ganzen ...“
Hier ersticken Tränen seine Worte.
Der Student hieß Kostas Metallinos; das Buch, in dem er las, war das Neue Testament. Das
Gelöbnis, das er in dieser Nacht gab, entzündete die Flamme eines Lebens, das in den
folgenden Jahren Weise und Unweise erleuchtete und die Herzen Gerechter und Gottloser
erwärmte. Fünfzig Jahre lang brannte dieses zündende Leben, bis es am 22. Januar 1963
plötzlich ausgelöscht wurde.
Dieser Mann gehörte nicht zu den Reichen, Weisen oder Großen dieser Welt. Er war ein Diener
des Herrn, der sich mit ganzem Herzen seinem Auftrag hingab. Die Richtschnur seines Lebens
und das Geheimnis seines Erfolges finden wir in Jeremia 17, 5 8:
"Verflucht ist der Mann, der sich auf Menschen verläßt und hält Fleisch für seinen Arm...
Gesegnet aber ist der Mann, der sich auf den Herrn verläßt und dessen Zuversicht der Herr ist.
Der ist wie ein Baum, am Wasser gepflanzt, der seine Wurzeln zum Bach hinstreckt... und er
sorgt sich nicht, wenn ein dürres Jahr kommt, sondern bringt ohne Aufhören Früchte."
Die frühen Jahre

Im Norden der wunderschönen Insel Korfu liegt das Dorf Korakiana. Dieses in trostloser und
felsiger Gegend gelegene Dorf trägt seinen Namen nach dem Berg Korakion, dem Berg mit den
vielen Kronen, an dessen Hängen es gebaut wurde. Der Boden der Gegend ist arm und
unfruchtbar, aber seine Bewohner waren immer reich an Freundlichkeit und sie umgab ein Hauch
von Vornehmheit.
Der freundliche, lautere Führer des Dorfes hieß Spiros Metallinos, den man unter dem
angestammten Namen "Gagas" kannte. Sein begabtes und freundliches Wesen veranlaßte die
Mitbewohner seines Dorfes, ihn zu ihrem Bürgermeister zu wählen.
Am 16. Februar 1891 herrschte im Hause des Bürgermeisters Metallinos eine festliche
Feiertagsstimmung, denn man feierte ein außergewöhnliches und glückliches Ereignis. An
diesem Tag bescherte seine Frau Konstantina der Familie einen Sohn, Kostas. Und da es das
Haus eines Amtsträgers war, gingen viele Freunde und Bekannte aus und ein, um ihre
Glückwünsche auszusprechen und sich an dem guten Wein des Bürgermeisters zu erfreuen.
Die Freude der Familie dauerte nicht lange. Der Junge war noch nicht zwei Jahre alt, als er
wegen einer schweren Bronchitis das Bett hüten mußte. Diese erschwerte das Atmen, schwächte
durch das Fieber den ganzen Körper und verursachte häufige und anhaltende Hustenanfälle.
Bei seinem ersten Besuch gab der Arzt der Familie der Mutter die strikte Anweisung: "Wenn sie
wollen, daß der Junge am Leben bleibt, lassen sie ihn nur dann aus dem Hause gehen, wenn die
Sonne scheint. Und lassen sie das Kind um Himmels willen niemals einen Schluck Wein trinken!"
Doch nach der Meinung der Mutter Konstantina war der Wein die lebensrettende Medizin für die
Krankheit ihres Kostas. Die örtliche Volksmedizin wurzelte so tief im Leben des Dorfes, daß
bestimmte Verhaltensweisen stärker beachtet wurden als die Anweisungen des Arztes.
Die Leute glaubten, daß sich der Wein im Körper eines Kranken in Blut verwandelt,
vorausgesetzt, er wird unverändert getrunken, "so wie der gute Herr ihn gemacht hat". Trotz aller
Warnungen des Arztes pflegte Konstantina das Brot für den kleinen Kostas heimlich mit Wein zu
tränken, "um das Antlitz des Kindes ein wenig zu erhellen, und ließ den Arzt sagen, was er
wollte".(...und laß den Arzt sagen was er will) Nach dem griechischen Sprichwort: "Was man in
der Jugend gelernt hat, verwirft man nicht im Alter", wurde in Wein getauchtes Brot zum
bevorzugten Leckerbissen für Kostas Metallinos.
Wirtschaftlich gesehen lebte die Familie konservativ. Es war kein reiches Haus und es gab nichts
Außergewöhnliches, aber die Gaben, die Gott darreicht, fehlten in der Speisekammer nicht.
Spiros Metallinos diente als Bürgermeister ohne Gehalt. So mußten alle Bedürfnisse der Familie
durch seinen Besitz erbracht werden, besonders
durch die Weingärten und die Olivenbäume. Solange die Verwaltung des Geldes unter den
erfahrenen Augen des Haushaltungsvorstandes geschah, lief alles gut, und der Familie fehlte es
an nichts. Doch als Kostas noch sehr jung war, er besuchte gerade die Oberschule, erkrankte
sein Vater an starkem Rheumatismus, der ihn bis zu seinem Tod ans Bett fesselte.
Für die Haushaltsführung bedeutete diese Krankheit einen schweren Schlag, so daß die Familie
in Not geriet. Die Kämpfe in dieser kritischen Zeit veranlaßten Kostas Metallinos später zu
schreiben: "Ich wuchs inmitten größter Armut auf."
Trotzdem war er auch glücklich, denn er wuchs in einer Umwelt auf, die ihm den Wert eines
guten Elternhauses lehrte. Sein Vater tat sein Bestes, um die warmen und glücklichen
Beziehungen zu seinem Sohn aufrechtzuerhalten. Seine pädagogische Methode beruhte auf dem
Satz: Nicht die Rute. Diese Verhaltensweise paßte besser zu dem gewissenhaften und ruhigen
Charakter seines Sohnes. Kostas sagt, daß er in seiner Kindheit nur einmal von seinem Vater
geschlagen wurde. In den wenigen anderen Fällen des Ungehorsams bestand die Strafe in einer
praktischen Lektion. So berichtet er von folgender Begebenheit:
Im Garten unseres Hauses stand ein Feigenbaum, an dem meine Schwester Pagona und ich ein
Seil anbrachten, um zu schaukeln. Bei diesem Spiel geschah es, daß die Zweige des
Feigenbaumes brachen. Unser Vater verbot uns, weiter an dem Feigenbaum zu schaukeln. aber
wir gehorchten nicht. Daraufhin kam er mit einer Säge in den Garten und ließ uns den Baum
unmittelbar am Boden fällen und auf einen Platz fünfzig Schritte hinter dem Haus zerren.
Obgleich solche Methoden etwas ungewöhnlich erschienen, minderten sie in keiner Weiser die
Liebe und die Achtung; die Kostas gegenüber seinem Vater empfand. Auch der Vater war
heimlich stolz auf seinen Sohn. Und er besaß allen Grund dazu. Denn als Kostas heranwuchs,
entwickelte er einen wundervollen Charakter und, was noch wichtiger war, er lernte gern. Seine
schulischen Leistungen waren so bemerkenswert daß einer seiner Lehrer sich anbot, ihm
kostenlosen Englischunterricht zu erteilen, so daß er dieses Studium später mit einem
Stipendium anderswo fortsetzen könne. Dieses Angebot erschien dem jungen Kostas sehr
verlockend, aber sein Vater vertrat eine andere Meinung. "Mein Junge", sagte er, "du bist mein
einziger, ich möchte nicht, daß du fortgehst. Ich brauche dich in meiner Nähe."
Die Beziehung zwischen Kostas und seiner Mutter war ebenso herzlich. Vielleicht darf man
sagen, daß Kostas als einziger Sohn der Liebling des ganzen Hauses war. Nach der Krankheit
des Vaters wurde die Zuneigung seiner Eltern zu ihm noch stärker, weil sie jetzt in Kostas die
einzige Quelle für ihre Unterstützung im Alter erblickten.
Im Winter 1903 wurde Bürgermeister Metallinos mit Rheumatismus bettlägerig. Nun hörte die
anhaltende, aufmerksame Fürsorge des Hauptes des Hauses auf, und die Familie fing an, die
schwere Last der Armut zu spüren. Und welch eine Armut war das! Manchmal befand sich nur
Brot und Wein und Öl auf dem Tisch.
Es stimmt, daß in diesen Jahren die Bauern überall eine schwere Zeit durchstehen mußten.
Eines Tages ließ Kostas beim Essen sorglos ein Stück Brot zu Boden fallen. Auf den ernsten
Hinweis seines Vaters hin hob er es sofort auf, reinigte es sorgfältig, dann küßte er es und aß es
auf. "Dies ist die Tradition unseres Hauses bemerkte sein Vater."
Da Korikiana keine eigens Hauptschule besaß, mußte der Junge die Schule im drei Kilometer
entfernten Nachbardorf besuchen. Welche lebendige Erinnerung behielt er sein Leben lang an
diesen täglichen Schulweg!
Jeden Morgen pflegte ich mit dem Segen meiner Mutter und mit dem Verlangen zu lernen das
Haus zu verlassen. Diese Wege zur Schule sind mir eine unvergeßliche Erfahrung geblieben.
Voller Freude und Leben machten sich alle Kinder in kleinen Gruppen auf den Gang zur Schule.
Sie sangen vaterländische Lieder, scherzten und lachten herzhaft; damit machten wir aus dem
Weg eine wahrhaft festliche Angelegenheit. Ich denke noch daran, welche Freude es mir
unterwegs bereitete, in den Hecken nach Veilchen zu suchen. Wo immer ich welche erblickte,
wollte ich sie abpflücken und mitnehmen. Ihre Schönheit und ihr Duft erfüllten meine kindliche
Seele. Auf dem Heimweg pflegte ich ein kleines Sträußchen zu binden, um es meiner Mutter zu
schenken. Dennoch hatte ich in jener Zeit das bittere Gefühl, es mit Dingen zu tun zu haben, die
ich nicht besaß. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, daß meine Mitschüler ihre Bücher voller
Stolz zur Schule trugen, während ich mich schämte, weil ich lediglich ein Schulheft in meinen
Händen hatte. Während meiner ersten Jahre auf der Oberschule konnte ich mir niemals ein Buch
kaufen. Ich pflegte von den Notizen zu lernen, die ich machte, während ich auf die Erklärungen
des Lehrers achtete, denn daheim blieb kein Geld übrig, um mir die Bücher zu kaufen, die ich
brauchte.
Und dennoch schloß Kostas jedes Schuljahr mit der Note "ausgezeichnet" ab. Sein Fleiß in der
Schule machte den jungen Kostas im ganzen Dorf beliebt. Einige Dorfbewohner, die die
wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Familie kannten, pflegten ihn regelmäßig zum Essen
einzuladen.
Schließlich kam der Tag, an dem Kostas die Hauptschule abschloß und sich auf den Besuch des
Gymnasiums vorbereitete. In dieser Zeit schienen für ihn die Bedingungen ungünstig zu sein, das
Elternhaus zu verlassen. Die Krankheit seines Vaters wurde immer schlimmer, und die Familie
war von Armut geplagt. Unter diesen Umständen war es nur dem großen Selbstopfer aller
Mitglieder der Familie zu verdanken, daß es Kostas ermöglicht wurde, sein Studium fortzusetzen.
Seine Schwester Pagona sagte später: "Wir setzten Himmel und Erde in Bewegung, um Kostas
studieren zu lassen." Kostas schrieb dieses Selbstopfer der Wirkung der göttlichen Vorsehung
zu.
Dank der unglaublichen und außergewöhnlichen Opferbereitschaft, die Gott in die Herzen aller
Mitglieder meiner Familie gelegt hatte ich war der einzige Sohn neben zwei Schwestern , setzte
ich meine schulische Ausbildung auf dem Gymnasium fort und lebte vier Jahre lang in Kerkyra,
der Hauptstadt Korfus.
Im Herbst 1904 begab sich Kostas nach Kerkyra, um sich in das Gymnasium aufnehmen zu
lassen. Er erreichte die Hauptstadt, die achtzehn Kilometer von seinem Dorf entfernt lag, auf
einem Esel, beschützt von seinem Onkel Christodoulos (kurz „Onkel Chtodoulos"), einem Mann
der alle Eigenschaften eines einsamen Heiligen besaß. Weil Onkel Chtodoulos keine eigene
Familie besaß, widmete er sich von ganzem Herzen dem Haushalt seines Bruders. Besonders
nachdem die Krankheit den Vater für die Familie fast nutzlos werden ließ, wurde Onkel
Chtodoulos eine Art Ersatzvater, der immer bereit war, die Oliven zu pflücken, die Trauben zu
ernten, den Garten zu gießen und nach Kostas zu schauen. Mit welchen Gefühlen des Stolzes
und der liebevollen Sorge begleitete er an diesem Tage den verheißungsvollen Gymnasiasten in
die Stadt. Onkel Chtodoulos übernahm es selbst, für Kostas eine geeignete Bleibe zu suchen, ihn
mit einigen Freunden bekanntzumachen und seinen Neffen am Anfang seines neuen schulischen
Abenteuers zu ermutigen.
Obwohl Kostas zum ersten Mal von zu Hause fort war, benötigte er dennoch kaum einen
ermutigenden Zuspruch. Seine Begeisterung für die Schule überwand jedes Gefühl der Angst
und der Sorge, das mit seiner Trennung von seiner Familie zusammenhing. Er kam auf das
Gymnasium mit einem Kopf, der einem trockenen Schwamm glich, bereit alles aufzusaugen, was
er in seinen Schulbüchern las oder von seinen Lehrern hörte. Später erzählte er einige seiner
Erinnerungen an diesen Lebensabschnitt.
Ich erinnere mich gut, daß damals das Verlangen meiner Seele so zusammengefaßt werden
konnte: ein unersättlicher Durst nach aller wissenschaftlichen Erkenntnis und allen
Glaubensweisen und Anschauungen, die mit dem Menschen, mit der Welt und mit Gott zu tun
hatten. Ich wollte die Wahrheit finden und ihr dienen.
Bei seiner Suche nach der Wahrheit dauerte es nicht lange, bis der junge Kostas von der Theorie
Darwins begeistert wurde, die damals stark in Mode war. Zum ersten Mal begegnete er der Lehre
Darwins in einem Biologiebuch, das die darwinistische Evolution vertrat. Und als er hörte, daß
sein Physiklehrer dieser Lehre anhing, wurde das Denken Kostas ganz von Darwin bestimmt.
Damit öffnete er sich dem Materialismus und wurde ein Ungläubiger.
Seine ideologische Unrast hinderte jedoch keineswegs sein schulisches Fortkommen. Da er
ernsthaft und fleißig war, hatte er bei seinem Lernen Erfolg, obwohl die Lebensbedingungen in
seiner neuen Umwelt manchmal fast unerträglich waren. Onkel Chtodoulos hatte für seinen
Neffen ein Zimmer in der Stadt gemietet, aber Kostas besaß es fast niemals für sich allein.
Finanzielle Erwägungen machten es notwendig, es mit einem oder mehreren Mitschülern zu
teilen.
Die Mahlzeiten waren ebenso der strengsten Wirtschaftlichkeit unterworfen. Damit Kostas kein
Geld für Lebensmittel ausgeben mußte, pflegte sein alleinstehender Onkel jeden Samstag zu
Fuß von dem Dorf in die Stadt zu kommen, um seinem Neffen einen Sack voll Käse, Kartoffeln,
Öl und Wein zu bringen. Er unternahm diese Reise barfuß, doch er nahm Schuhe mit, die er
anzog, sobald er die Stadt erreichte. Er wollte seinen Neffen nicht in Gegenwart seiner
Klassenkameraden in Verlegenheit bringen.
In der Osterwoche 1906 starb Kostas Vater. Der gute Bürgermeister verließ dieses Leben,
nachdem er bettlägerig geworden war und ungefähr drei Jahre lang arthritische Schmerzen
erlitten hatte. Onkel Chtodoulos unternahm es, Kostas diese traurige Nachricht zu überbringen.
Aber im letzten Augenblick entschloß er sich, es geheim zu halten "damit der Junge seine
schulische Ausbildung nicht unterbrechen müßte".
Bei seinem ersten Besuch nach dem Tode seines Bruders kam Onkel Chtodoulos mit einem
Sack voller Lebensmittel in die Stadt, aber diesmal war sein freundliches Gesicht von Traurigkeit
erfüllt, und er trug einen Strohhut mit einem schwarzen Trauerband. Kostas bemerkte die völlige
Veränderung und neugierig geworden, fragte er danach. Der alte Mann nahm einen einfältigen
Gesichtsausdruck an und antwortete: "Ich kaufte ihn, mein Lieber, um meinen Kopf vor der
Sonne zu schützen."
Erst als die Schule schloß und Kostas zu den Sommerferien in das Dorf zurückkehrte, erfuhr er
von dem Tod seines Vaters. Diese Nachricht hinterließ im Herzen des Jungen eine tiefe Wunde,
und es dauerte lange, bis diese heilte. Kostas übernahm nun die Rolle das Beschützers der
Familie, doch in Wirklichkeit war das nur eine Formsache. Wie bisher übernahm der gütige und
erfahrene Onkel die Verantwortung für die täglichen Aufgaben, aber Kostas trug das stolze
Wesen eines Hausherrn zur Schau.
Doch Kostas Herz hing nicht am Besitz oder an der Aufsicht über den Haushalt, sondern am
Lernen. Je näher der Abschluß am Gymnasium heranrückte, um so mehr liebte er seine Studien.
Mathematik war sein Lieblingsfach, aber er zeigte auch besondere Fähigkeiten in den
Naturwissenschaften, der Dichtkunst, der Sprachwissenschaft und den Fremdsprachen,
besonders im Französischen.
Der religiöse Hintergrund

Kostas Metallinos wuchs zu Hause ohne eine bestimmte religiöse Förderung auf. Der Grund
dafür lag in der Gleichgültigkeit seiner Eltern besonders seines Vaters gegenüber den
Bräuchen und Zeremonien der Kirche. Kostas Eltern hielten Litaneien, Totenmessen, Fasten, das
Küssen der Ikonen und dergleichen für entartete und völlig überflüssige Darstellungen der
Frömmigkeit. Diese Menschen waren nicht unfromm, im Gegenteil. Sie besaßen ein religiöses
Bewußtsein und ein mitfühlendes Herz. Doch es ging ihnen mehr um den Inhalt als um die Form.
Obwohl Kostas Vater nur zwei oder dreimal im Jahr in die Kirche ging, war er bereit, denen ihre
Schulden zu erlassen, die sie nicht bezahlen konnten. Wenn er Brot aus der Bäckerei holte, kam
es häufig vor, daß er einen großen Teil davon an hungrige Bettler verteilte, die er unterwegs traf.
An einem kalten Winterabend kam Kostas Vater ohne seinen Mantel nach Hause. Als ihn
Konstatina danach fragte, erklärte er, er habe ihn irgendwo verloren. In Wirklichkeit hatte er ihn
einem Armen gegeben, der fror.
So drückte die Familie Metallinos in praktischer Weise das aus, was man als ein allgemeines,
natürliches sittliches Verhalten bezeichnen kann. Sie teilten ihr Geld mit den Armen, ihr Brot mit
den Hungrigen, ihre Kleider mit den Nackten, doch sie verbanden ihr Tun nicht mit kirchlichen
Ordnungen und religiösen Dogmen.
Vor allem war es der unverständliche Inhalt der Liturgie, der Kostas Eltern von der Kirche und
ihren Lebensäußerungen trennte. Später schrieb Kostas:
Selten besuchten meine Eltern die Kirche das Ortes, wo keiner der Anwesenden etwas verstand,
weil sie in der Regel ungebildete Leute waren. Die Liturgie und die Gesänge vollzogen sich in
altgriechischer Sprache; es gab keine Erklärung und auch keine Predigt durch den Priester.
Da sie ohne Bildung und religiöse Unterweisung waren, bestimmten allerlei Vorurteile und der
Aberglaube die Dorfbewohner. Sie nahmen ihre Zuflucht zum Spiritismus; so konnten sie mit den
Seelen der Verstorbenen in Verbindung treten. Sie praktizierten Teufelsaustreibungen, um so von
ihren Krankheiten geheilt zu werden. Sie trugen einen Talisman, um das "böse Auge" des
Widersachers zu besiegen. Und sie ließen, ihre Kleider mit Weihrauch bestreuen, um so von
ihren Anfechtungen loszukommen.
Manchmal pflegte das religiöse Leben des Dorfes einer seltsamen Mischung von
gottesdienstlicher Anbetung und frommen Materialismus zu gleichen. Solche Atmosphäre
herrschte besonders während der religiösen Feste vor, die an den Gedenktagen mancher
Heiliger auf dem Gelände der Kirche stattfanden. Dort mischte sich der Weihrauchduft aus dem
Allerheiligsten mit dem Geruch der am Spieß gebratenen Tiere. Das Singen der Choräle
verschmolz mit dem Geschrei der Händler. Und unter den Klängen der den Tanz begleitenden
Geigen offenbarte sich ein wahrer "Jahrmarkt der Eitelkeit", ein Babel von Geschäftemacherei,
Freudentaumel und Religion. Das alles diente mehr den Freuden des Fleisches als denen der
Seele. In solch einem religiösen Umfeld wuchs Metallinos auf.
Die beiden Priester des Dorfes, fromme, aber fast gänzlich ungebildete Männer, verrichteten ihre
religiösen Pflichten als treue Diener das Allmächtigen. In der Woche versahen sie in den Morgen
und Abendgottesdiensten mit angemessener Andacht ihren Dienst, obwohl man die Teilnehmer
am Gottesdienst an einer Hand abzählen konnte. Doch zu den Sonntagsgottesdiensten zogen
die Dorfbewohner in Scharen in die Kirche Männer, Frauen und Kinder. Tief im Bewußtsein
dieser Leute wurzelte die traditionelle Vorstellung, daß die bloße leibliche Anwesenheit eines
Christen beim Gottesdienst ein Gnadenmittel für seine Seele sei. Es spielte keine Rolle, daß der
Besucher weder verstand, was im Gottesdienst vor sich ging, noch begriff, was die Lesungen aus
den Evangelien meinten. Kostas Eltern teilten diese Ansicht nicht und zogen es vor, mit der
ganzen Familie am Sonntag daheimzubleiben. Kostas schrieb:
Weil der ganze Gottesdienst in altgriechischer Sprache abgehalten wurde, zog mein Vater es vor,
mich an diesem Ruhetag so lange schlafen zu lassen, wie ich wollte, anstatt mich früh zu wecken
und in die Kirche zu schicken.
Diese Einstellung führte jedoch zu einer Abkühlung in dem Verhältnis Kostas zu seinen Lehrern.
Es galt als feststehende Regel des Rektors, daß alle Schüler an jedem Sonntag teilzunehmen
hatten. Jeder, der fehlte, mußte bestraft werden. Und an jedem Montag erschien der Name
Kostas auf dem Bericht an den Schulleiter für eine angemessene Strafe. Die meisten Kinder
gingen aus Furcht oder aus Gewohnheit zur Kirche und wirkten sogar an der Durchführung des
Gottesdienstes mit. Sie trugen brennende Kerzen, sagten das Vaterunser auf, entzündeten das
Weihrauchgefäß und boten auf mancherlei Weise ihre Hilfe an. Doch Kostas wuchs im Blick auf
diese Dinge als Fremder auf. Das führte ihn einmal zu einer sehr bitteren Erfahrung mit der
Kirche.
Nachdem ich viele Jahre der Kirche ferngeblieben war, gelang es dem Lehrer nicht nur, mich
zum Kirchgang zu veranlassen sondern auch im Gottesdienst mitzuwirken und das Vaterunser zu
sprechen. Ich ging wirklich hin, aber ich machte mich lächerlich weil ich während des
Gottesdienstes viermal begann das Gebet an der falschen Stelle aufzusagen. Jedesmal, wenn
ich diesen Fehler machte" wies mich der Chorleiter ärgerlich zurück: "Still, du Dummkopf, noch
nicht!" während die Gemeinde auf meine Kosten lachte.
Er berichtet als Schlußfolgerung:
Solche Ereignisse wie dieses machten einen tiefen Eindruck auf mich. Mein kindliches Gewissen
empörte sich und ich wurde der Kirche völlig entfremdet. In meinem Herzen herrschte nicht nur
Gleichgültigkeit, sondern auch Ablehnung gegenüber jeglicher Form von Religion.
In der Schule erhielten die Kinder Religionsunterricht, aber sie liebten dieses Fach nicht. An den
Sonntagen empfanden sie besonderen Widerwillen, wenn sie aus den Briefen und aus anderen
Abschnitten der Schrift in der alten Sprache lesen mußten, ohne zu verstehen, was sie lasen, und
ohne Erläuterungen durch den Lehrer zu erhalten. Der junge Kostas hatte noch einen anderen
Grund, warum er religiöse Bräuche ablehnte:
Einmal in der Woche pflegten wir in unserer Schule die Psalmen aus der Septuaginta, der
vorchristlichen Übersetzung des Alten Testaments in die damalige griechische Sprache, zu lesen.
Weil ich es mir nicht leisten konnte, das Buch zu kaufen, um vorher zu Hause darin zu lesen, sah
ich mich diesem Buch erst gegenüber, wenn ich in der Schule war. Es war sehr schwer zu
verstehen. Es wurde mir überdrüssig und erzeugte in mir einen Widerwillen.
Während der letzten Jahre im Gymnasium, als er die Lehren Darwins annahm, begann sich
Kostas Widerwillen gegen die Religion immer mehr zu verfestigen. Von da an nahm er sich vor,
die Fähigkeit zu erlangen, um Christus und Seine Lehren zu bekämpfen. Leidenschaftlich
bezeichnete er Jesus als den größten Feind der Wissenschaft und des menschlichen
Fortschrittes, ja er verlästerte sogar ihn und sein Evangelium.
Es ist bei Kostas offensichtlich, daß seine intellektuelle Wendung zum Unglauben nichts anderes
darstellt, als einen revolutionären Ausbruch nach vielen Jahren der Bedrückung durch die
Religion. In seiner Kindheit und Jugend war für Kostas die Religion mit ihren Forderungen und
Büchern zu einem Alptraum geworden. Religion brachte ständig Schwierigkeiten mit den Lehrern,
machte ihn in der Kirche lächerlich und verletzte seinen kindlichen Stolz und seine Selbstachtung
vor seinen Klassenkameraden. Jetzt, als herangereifter junger Mann, fühlte er den inneren
Drang, ein für allemal von dieser verwirrenden Last frei zu werden.
Trotzdem dürfen wir nicht versäumen, die edlen Ideale anzuerkennen, die das unruhige junge
Herz bestimmten. Er sagt von sich selbst, daß ihn damals eine begierige Entschlossenheit
erfüllte, die Wahrheit zu finden und ihr zu dienen. Doch was würde geschehen, wenn Kostas, wie
Saul von Tarsus lange vor ihm, entdeckt, daß das wahre Wesen der Wahrheit nur in diesem
Jesus Christus zu finden ist, den er lästerte und beschimpfte? Jedenfalls war dieser junge Mann
weder ganz schlecht, noch äußerte sich sein Widerstand gegen die Kirche fanatisch. Unter
solchen Umständen erweist sich das aufrichtige ernsthafte Suchen nach der Wahrheit immer als
erfolgreich. Aber wo würde er die Antwort auf seine Fragen finden? Gewiß in Athen, besonders
auf der Universität. Nachdem der günstige Zeitpunkt eingetreten war und er das Gymnasium in
Kerkyra erfolgreich abgeschlossen hatte, bestieg Kostas das Schiff und machte sich auf den Weg
nach der Stadt des Lichtes und der Weisheit.

2. Der Ruf

Im Herbst 1908 erreichte Kostas die Hauptstadt. Der Anblick Athens erfreute sein Herz. Hier
stand die berühmte Universität, das Ziel der akademischen Hoffnungen eines jeden jungen
Menschen aus der Provinz. Hier befand sich die große Nationalbibliothek mit ihren Schätzen an
griechischen und fremdsprachigen Büchern über alle Bereiche des menschlichen Wissens. Hier
war die neue Umwelt, in der er seine berufliche Karriere beginnen und seine Familie gründen
sollte.
Zuerst hatte er sich natürlich an der Universität einzuschreiben. Er wählte die mathematische
Fakultät, seine erste Liebe. Und doch war es nicht allein die Mathematik, die Metallinos während
dieser Zeit beschäftigte.
Mein Lernbedürfnis war unersättlich. Viele Stunden verbrachte ich in den Antiquariaten und in der
Nationalbibliothek auf der Suche nach verschiedenen Büchern über alle möglichen
Wissensgebiete.
Obwohl er zum ersten Mal in Athen war, hütete sich Kostas davor, einem losen Lebenswandel zu
verfallen. Während seiner Studienzeit führte er ein reines und geordnetes sittliches Leben.
Natürlich hörte die Armut nicht auf, sein unzertrennlicher Begleiter zu sein. Später sagte er:
"Heute erkenne ich, daß damals meine große Armut dazu diente, mich vor den zerstörenden
fleischlichen Leidenschaften zu bewahren."
Die ersten Jahre, die Metallinos in Athen verbrachte, schufen keine bedeutenden Entwicklungen
in seinem geistlichen Leben. Aber er machte an der Universität außerordentliche Fortschritte. Wie
befriedigend wäre es gewesen, wenn er den gleichen Fortschritt in seinem Suchen nach der
Wahrheit gemacht hätte! Tatsache blieb jedoch, daß für Kostas damals das als Wahrheit galt,
was Christus und Seine Lehre schmähte. Überwältigender Haß und Lästerungen gegen Christus
beherrschten das Herz des jungen Ungläubigen. Immer wieder betonte er gegenüber seinen
Mitstudenten: "Das Christentum ist eine Lüge und eine Täuschung. Ein Jude wie Christus kann
den Fortschritt in der Wissenschaft und der Menschheit nicht aufhalten. Diese Religion muß
bekämpft und lächerlich gemacht werden, damit die Welt von diesem Irrtum Jesus Christus
befreit wird."
Als Student der Mathematik wußte Metallinos jedoch, daß keine Theorie ohne Begründung
bestehen kann. Worte waren darum nicht genug. Sein Kampf gegen das Christentum mußte
durch logische und wissenschaftliche Argumente unterstützt werden. Auf diesem Schlachtfeld
erwiesen sich die Bücher der weltlichen Schriftsteller als eine außerordentliche Hilfe. Eifrig las er
zwei Jahre lang Voltaire und andere Schriftsteller, um neue Argumente gegen Christus und Seine
Religion zu finden. Damit war er intellektuell beschäftigt, bis sich dies ereignete:
Eines Tages, ein Tag, der unzerstörbar in meinem Gedächtnis haftet stöberte ich in einem
Buchantiquariat. Dort fand ich ein zweibändiges Werk von Chateaubriand "Le Genie du
Christianisme" (Der Geist des Christentums). Der Titel dieses Buches und sein französischer
Verfasser zogen mich unwiderstehlich an, denn ich sagte mir: "Hier schreibt ein Franzose über
das Christentum. Ich will es lesen, um mein Waffenarsenal gegen das Christentum zu
vervollständigen." Mit diesem brennenden Vorsatz erstand ich es trotz meiner erbärmlichen
Armut für eine Drachme.
Das geschah am 15. April 1910.
Niemals in den folgenden Jahren vergaß Metallinos diese kleine Transaktion bei dem
Buchhändler in der Stadionstraße. Was zunächst lediglich als ein einfacher Bucherwerb erschien,
erwies sich in Wirklichkeit als die erste bedeutsame Wegmarke in seinem geistlichen Leben.
Dies war die Stunde des göttlichen Erbarmens, die mir schlug. Sie führte mich zur Buße und
schuf meine Bekehrung zu Christus, den ich zuvor bekämpft und gelästert hatte.

Gottes Angelhaken
Die Buße von Metallinos und seine Bekehrung waren kein plötzliches Ereignis. Das Licht fiel nicht
plötzlich in seine Seele, wie es bei Saul von Tarsus auf dem Weg nach Damaskus gewesen war.
Die Wahrheit gewann in Metallinos schrittweise Grund und schuf schwere innere Kämpfe. Zuerst
war es natürlich nötig, daß der feste Turm seines Unglaubens niedergerissen wurde.
Metallinos hatte Christus aus Unwissenheit bekämpft. Er war ungläubig, aber nicht ungehorsam.
Aus diesem Grund war es zunächst notwendig, das kennenzulernen, was er bekämpfte - er
mußte es gründlich studieren.
Solch eine Gelegenheit bot sich ohne sein Zutun in dem Augenblick, als er seine Drachme zahlte,
um das Buch von Chateaubriand zu erwerben.
Kostas verließ die Buchhandlung, um sofort sein Zimmer aufzusuchen. Er war so begierig, die
"atheistischen" Argumente Chateaubriands kennenzulernen, daß er bereits unterwegs das Buch
öffnete und darin zu lesen begann. Plötzlich hielt er inne. Er las noch einmal, was er soeben
gelesen hatte. Er tat es mit Verwunderung und Enttäuschung. Er erkannte, daß er sich getäuscht
hatte. Der Verfasser war zwar Franzose, aber er war kein Atheist, wie Kostas es angenommen
hatte. Seine Gedanken waren alles andere als antichristlich.
Welches Erstaunen und welche Ernüchterung erfaßte mich, als ich nach kurzem Lesen
entdeckte, daß der Verfasser das Christentum verteidigte, statt es anzugreifen. Statt gegen die
Religion zu reden empfahl er sie.
Aber da es nun einmal in meine Hände gelangt war, würde ich es widerlegen und meine Kritik in
einer kleinen Broschüre veröffentlichen.
Er begann mit der ersten Seite des Buches und fuhr fort, es geduldig und systematisch Kapitel für
Kapitel zu studieren, um jedem Gedanken auf den Grund zu kommen und jedes Argument zu
prüfen. Er hielt alles für völlig falsch und in seinen Augen besaßen alle Argumente keine
Grundlage. Wie leicht und siegreich würde er sie widerlegen!
Einen Monat lang spielte er mit verbissener Entschlossenheit das Spiel, Christus zu widerlegen.
Dann griff der Herr ein. Als Kostas an die Seite 30 des Buches kam, hielt er inne. Er stieß auf den
Satz: In dem Augenblick, in dem du die Existenz des einen Gottes anerkennst, triffst du, ob du es
willst oder nicht, auf die christliche Religion und ihre Lehren. So haben es Clarke und Pascal
beobachtet.
Welch ein merkwürdiger Gedanke! Besonders das "ob wir es wollen oder nicht." Das war
unerhört. Was sollte das bedeuten? Metallinos war verwirrt. Er glaubte an das Vorhandensein
einer höheren Kraft, durch die die wunderbaren und zahlreichen Gebilde des Universums
erhalten und regiert werden. Als logischer Mensch war er neugierig zu erfahren, wieso dieser
Glaube an eine höhere Macht zu Christus führen sollte.
Seine Verwirrung war umso größer, weil er bei der Übersetzung des letzten Satzes des Zitates
von Chateaubriand einen Flüchtigkeitsfehler gemacht hatte. Metallinos übersetzte das Zeitwort
remarquer, beobachten, als ob es demontrer, beweisen, bedeutet. So dachte er
irrtümlicherweise, Clarke und Pascal hätten die Wahrheit der christlichen Religion und ihrer
Dogmen bewiesen. Dieses bewiesen fesselte die Aufmerksamkeit des mathematisch denkenden
Metallinos außerordentlich.
Nun wird zum Beispiel in der Mathematik bewiesen, daß die Summe der Winkel eines Dreiecks
zwei rechten Winkeln entspricht. Aber welche Bedeutung besitzt der Beweis , wenn er
philosophische und religiöse Dinge betrifft? Das mußte er herausfinden. Clarke war für Metallinos
ein unbekannter Schriftsteller. Bei Pascal war Metallinos nicht ganz sicher, ob sich der Hinweis
auf den berühmten Erfinder und Mathematiker Blaise Pascal bezog. Auf jeden Fall brachte diese
Fehlübersetzung eine große Unruhe in seine Gedanken und weckte den festen Entschluß, diese
Angelegenheit gründlich zu untersuchen.
Sofort schloß ich das Buch. Und da es schon nach Mitternacht war, sagte ich mir: Morgen früh
gehst du in die Nationalbibliothek und stellst fest, um welche Art von Beweisen es sich hier
handelt. Ich bin wirklich neugierig. Wenn sie ernsthaft sind, werde ich sie nachprüfen und
annehmen.
An diesen Sätzen kann man sehen, wie ernsthaft Metallinos der Entschluß war, diesen großen
Schatz zu besitzen: die Wahrheit. Sei Streben war von wertvoller Art, denn es ging ihm nicht nur
darum, seine intellektuelle Neugier zu befriedigen. Er empfand gleichzeitig die Notwendigkeit, das
Verlangen seiner hungrigen Seele zu stillen.
Noch voller Unruhe machte sich Metallinos am nächsten Tag auf zur Bibliothek. Beim Lesen der
Bücher Pascals wurde Kostas stärker als bisher bewußt, welche große mathematische und
physikalische Begabung dieses Genie auszeichnete. Die Erfindungen und eigenen
Anschauungen, die Pascal auf diesem Gebiet der Wissenschaft hervorgebracht hatte, waren
wirklich ungewöhnlich. Die Konstruktion der ersten Rechenmaschine, die die Bewunderung der
ganzen Welt hervorgerufen erregte, seine berühmten Sätze über die Kegelschnitte, seine
Experimente im Bereich der Hydrostatik, die Anfänge der Wahrscheinlichkeitsrechnung und noch
vieles mehr nahm Metallinos Gedanken gefangen.
Doch diesmal war der verwirrte Student mehr daran interessiert, Pascals "Beweise" für die
Religion zu finden als seine wissenschaftliche Leistungen zu bewundern.
Unter den Werken Pascals fesselte jedoch der Titel "Pensées" ("Gedanken") seine ganze
Aufmerksamkeit. Die "Gedanken" enthielten religiöse und philosophische Betrachtungen Pascals,
die nach seinem Tode in Buchform veröffentlicht worden waren.
Metallinos verliebte sich auf den ersten Blick in dieses Buch. Erstens war es französisch
geschrieben, so daß er es ohne Schwierigkeiten lesen konnte. Zweitens war Pascal ein
berühmter Mathematiker, ein anerkannter Wissenschaftler auf Kostas eigenem Gebiet. Und dann
war es das Buch, das auf seine Fragen mit "Beweisen" antworten würde. Metallinos erfüllte eine
große Freude.
Hätte man mir die ganze Welt angeboten unter der Bedingung, daß ich das Buch wegwerfe, ich
hätte das Angebot ohne Zögern abgelehnt. So groß war der Durst und das Verlangen meines
quälenden Suchens.
Diese Worte erinnern uns an die Verheißungen des Herrn für die, die hungern und dürsten nach
der Gerechtigkeit: "Sie sollen satt werden" (Matthäus 5,6). Dennoch kann sich keiner ohne die
Gnade Gottes eines solchen Sattwerdens erfreuen. Um zu erretten pflegt Gott manchmal Blinde
zu erleuchten, manchmal aber auch Sehende blind zu machen. Um von Gottes Angelhaken
gefangen zu werden, wurde Metallinos in doppelter Weise mit Blindheit geschlagen einmal, als
er ein Buch kaufte, das er gar nicht kaufen wollte, zum andern, als er das Zeitwort "Beobachten"
mit "beweisen" übersetzte.
"Mein Gott!", rief Metallinos in Erinnerung an diese Begebenheit aus, "kann es sein, daß dieser
unstillbare Durst und dieses Verlangen meine Seele nie ergriffen hätten, wenn ich nicht diese
beiden Fehler gemacht hätte?"
Nein! Nein! Ich bin gewiß, Du verfügtest über zahllose andere Wege, um mir Dein Erbarmen zu
zeigen, um mir, der sündhaften und blinden Seele, die Gnade zu bringen und das Licht Deines
Christus. Doch unter diesen allen wähltest Du den geeignetesten Berührungspunkt, den
"Anknüpfungspunkt", der aus mir selber kam.
Der "Anknüpfungspunkt", der aus seinem inneren Wesen kam, war sein großer Wunsch, die
Wahrheit durch die Wissenschaft zu finden. Und in Seiner unergründlichen Zuneigung führte der
Herr den ruhelosen Studenten zu den Füßen eines Mannes, der einen scharfen
wissenschaftlichen Verstand und eine tiefe piety in seinem Herzen trug.

Zu Pascals Füßen
Von seinem Verlangen ganz überwältigt nahm Metallinos Pascals "Pensées" in die Hand und
begab sich zu einem der Tische in der Bibliothek. Dort nahm er Platz und begann, es von Anfang
zu lesen.
Das erste Kapitel trug die Überschrift: "Wider die Gleichgültigkeit der Atheisten".
Laßt sie erst einmal lernen, was die Religion ist, die sie bekämpfen, ehe sie sie bekämpfen.
Diese Worte klangen in Metallinos wie Donnerstimmen, und sein Geist wurde verwirrt. Er
empfand, daß diese Anklage genau auf ihn zutraf. Auch er war schuldig, indem er das verfluchte
und verdammte, was er gar nicht kannte.
Unwissenheit beseitigt natürlich nicht die Schuld vor dem Richterstuhl Gottes, aber sie bewirkt in
einem Menschen eine günstige Voraussetzung zur Erneuerung. Christus bat um Vergebung für
diejenigen, die ihn gekreuzigt hatten, weil sie nicht wußten, was sie taten. Der Apostel Paulus
pries Gott, weil ihm wegen seiner Unwissenheit vergeben worden war, obwohl er Christus
verflucht und verfolgt hatte.
Gott begann den nachdenklich gewordenen Metallinos in den gleichen Rahmen zu spannen,
denn schon begann ein starkes Gefühl der Reue in seiner Seele zu erwachen.
"Kann es denn sein, daß ich wirklich nicht weiß, was ich bekämpfe?", fragte er sich, als er die
ersten Worte Pascals las.
In diesem Augenblick fühlte ich tief in meinem Herzen Verdammnis, weil ich nie das ganze Neue
Testament gelesen hatte, ja nie ein Exemplar davon in meinen Händen gehalten hatte. Metallinos
las weiter. Je mehr er las, je mehr wurde ihm bewußt, wie eindrucksvoll und logisch die Stimme
des christlichen Zeugnisses war.
Die wahre Wissenschaft gerät nicht mit dem Glauben in Konflikt, und eine rechte Philosophie
hebt die Offenbarung Gottes nicht auf. Alle Angriffe gegen den Glauben haben ihren Ursprung in
der sittlichen Verderbtheit des Menschen. Diese Verderbtheit hat sein Denken und Urteilen im
Blick auf die Wahrheit in die Irre geführt, denn so lange das Herz des Menschen Gott entfremdet
ist, kann er in und um sich nur dichte Finsternis wahrnehmen. Gott hat Seiner Kirche deutliche
Zeichen gegeben, an denen Er von denen erkannt werden kann, die Ihn aufrichtig suchen.
Tatsächlich gibt es genug Licht, um die Aufrichtigen zu erleuchten, und genug Finsternis, um sie
demütig zu machen. In derselben Erscheinung liegt genug Finsternis um sie blind zu machen,
und genug Licht, um sie zu verdammen.
Solche Gedanken übten eine erschreckende Wirkung auf Metallinos aus. Bis zu diesem
Augenblick war sein Problem zuerst und vor allem ein intellektuelles und nur in zweiter Linie ein
moralisches. Zuerst wollte er seinen Horizont durch Argumente und überzeugende Gedanken
erweitern. Beim Lesen der "Pensées" wurde ihm bewußt, daß Pascal der Mann war, der ihm
dabei helfen konnte. Die Kraft seiner Gedanken, die Größe seiner Aussagen, die Klarheit seines
Denkens und vor allem die Macht seiner Logik demütigten den aufrichtigen Studenten, und die
Stützen seines Unglaubens begannen zu wanken.
Als zur Mittagszeit die Glocke die Schließung der Bibliothek ankündigte, hatte sich Metallinos
schon einer Art intellektueller Richtungsänderung unterzogen. Mit der gleichen
Selbstverständlichkeit, mit der man Christus dem Barabbas vorzog, war er nun bereit, Pascal
dem Atheisten Voltaire vorzuziehen.
Als ich mittags die Bibliothek verließ, war ich ein anderer Mensch als der , der am Morgen dort
hineingegangen war. Obwohl es mir damals nicht bewußt war, war ich bereits überwunden, weil
ich im tiefsten Inneren getroffen war. Von ganzem ungeteilten Herzen begehrte ich,
weiterzusuchen. Ich erkannte, daß ich zum ersten Male auf die ernsthafte, klare und
unwiderlegbare Wahrheit hörte, die aus dem Geist eines großen Denkers kam. Dieser redete zu
mir über die Fragen, die mich betrafen, und wies mich zurecht auf meinen Platz.
Am gleichen Nachmittag kam er wieder in die Bibliothek. Diesmal brachte er Papier und Bleistift
mit, um sich Notizen zu machen. Als er das Buch auf gut Glück öffnete, stieß er auf Pascals
Gedanken über die Verwerflichkeit des Menschen, der ohne Gott lebt. Hier einige
Schlußfolgerungen, die er aufschrieb.
Der Mensch trägt den Stempel der Größe in sich und das Brandmal der Lasterhaftigkeit. Die
Größe des Menschen begegnet uns in seinem Ursprung. Seine Lasterhaftigkeit erwächst aus
seiner Verderbtheit und aus seiner Sünde. Es gibt eine harmonische Beziehung zwischen der
christlichen Wahrheit und dem Verlangen der menschlichen Seele. Der sich selbst überlassene
Mensch ist hilflos und verloren, darum braucht er unbedingt eine Hilfe, eine die von außen
kommt, eine höhere, göttliche Hilfe.
Er unterbrach sein Lesen. Er behandelte das Buch fast mit ehrfürchtiger Bewunderung. Ihn ergriff
ein starkes Verlangen, dieses Buch zu besitzen. Drei Tage durchstreifte er die Bücherantiquariate
der Stadt, bevor er endlich eines fand. Er schreibt: "Ich ging sofort in mein Zimmer, um seinen
ganzen Inhalt in mich aufzunehmen."
Metallinos nahm die Sache sehr ernst. Um sich ungeteilt dem Studium Pascals hingeben zu
können, beschloß er, die Mathematik vorübergehend beiseite zu schieben. Er wollte unbedingt zu
einigen bestimmten Ergebnissen kommen.
Fast völlig von der Außenwelt abgeschlossen, setzte er zwei Monate lang mit unersättlichem
Eifer das Studium der "Pensées" Pascals fort.
Allein mit meinem Buch, ausgelacht von dem kleinen Kreis meiner Studiengenossen, pflegte ich
mich den ganzen Tag in meinem ziemlich ärmlich ausgestatteten Zimmer einzuschließen. Ich
kam von einer erstaunlichen Entdeckung zur anderen. Aber zur gleichen Zeit erreichten mich
Strahlen des Lichtes, dem ich nach und nach zustrebte.
In dieser Zeit fühlte sich der arme Student durch materielle Entbehrungen schwer bedrückt, aber
sein Geist nährte sich mit Freuden von den allerbesten Weidegründen.
Diese Ruhe war jedoch nichts anderes als die Stille vor dem kommenden Sturm. Wolken des
Unbehagens und moralische Vorwürfe fingen an, ihre Schatten auf die Seele Metallinos' zu
werfen, während er fortfuhr zu lesen, wie dieser göttliche Verfasser den dramatischen Kampf
zwischen dem menschlichen Gewissen und dem göttlichen Gesetz beschrieb. Er nahm auch
wahr, daß Pascal selbst einen geistlichen Kampf erlebt hatte, als er in der Tiefe seiner eigenen
Seele die verborgenen Keime seiner Schuld vor Gott und seiner moralischen Verderbtheit
wahrnahm.
Diese Betrachtungen ließen Metallinos auf seinen eigenen moralischen Zustand achten. Und da
spürte er zum ersten Mal in seinem Leben, daß er angesichts der göttlichen Gerechtigkeit, die
befiehlt, richtet und verurteilt, schrecklich schuldig war. Diese Schuldgefühle hatten eine solche
Wirkung auf den feinfühligen Studenten, daß sich sein Interesse und sein Sorgen plötzlich in eine
andere Richtung entwickelten. Aus dem Suchen des Geistes war nun eine Betroffenheit der
Seele geworden. Er suchte nun nicht mehr, seinen Geist mit Argumenten gegen den
Materialismus und Unglauben auszurüsten. Jetzt suchte er zuerst und vor allen Dingen die
Antwort zu finden, die sein verwirrtes Gewissen zur Ruhe brachte.
Besaß etwa Pascal die Antwort?
An diesem Punkt lernte Metallinos die ersten Schritte zu seiner moralischen Wiederherstellung
und Heilung: Er mußte sich selbst erkennen. Pascal veranlaßte ihn, in die Tiefe seines eigenen
Wesens zu steigen, um so die Verderbtheit und Verkehrtheit seiner Natur zu erkennen. Das Böse
regiert den Menschen wie ein Gesetz; es gleicht einer unwiderstehlichen Kraft, die seine Seele,
seinen Leib und seinen Geist ergreift und verdirbt. Deshalb ist der Mensch machtlos, Gutes zu
tun, und unfähig, das moralische Gesetz zu erfüllen. Er hat Leben, besitzt aber nicht das höhere
Leben. Er hat Kraft, aber um Gutes zu tun braucht er eine höhere Kraft. Darum ist die Heilung
und Wiederherstellung des Menschen nicht möglich, wenn er nicht zuerst seinen moralischen
Zustand erkennt, wenn er nicht erkennt, wer er in Wirklichkeit ist.
Metallinos brauchte nicht lange, bis er erkannte, wer er in Wirklichkeit war. Er erkannte in sich
Verderbtheit, Ehrfurchtslosigkeit, ungesetzliche Leidenschaften, Haß, Irrtum, Finsternis. Er
erkannte, wie er schreibt, "ein Chaos, das sich bedrohlich zu seinen Füßen ausbreitete." Dies ist
der Abgrund, der jeden Sünder anschaut, wenn er nur seine eigene sittliche Verderbtheit
wahrnimmt, ohne gleichzeitig Gottes Barmherzigkeit zu erkennen. Doch Pascal erklärte, daß der
Mensch zuerst Christus erkennen muß, wenn er Gott und sein Erbarmen erkennen will. Ohne
Ihn, den Mittler, kann es keine Verbindung zwischen Mensch und Gott geben. Diejenigen, die
Gott außerhalb der Person Christi finden wollen, finden kein Licht, keine Erfüllung, weil Christus
das Licht der blinden ist und der einzige, der Hungrige satt macht. Er ist der wahre Gott, dem wir
uns ohne Stolz nähern, vor dem wir ohne zu verzweifeln niederknien.
Jesus von Nazareth war für Metallinos der verhaßte Jude gewesen, der die Wissenschaft und
den menschlichen Fortschritt bekämpfte. Doch der aufrichtige Student hatte den Wunsch, wie der
zweifelnde Thomas seine Hände in die Seite Christi zu legen, doch diesmal mit mehr
Bedachtsamkeit und ohne jegliches Vorurteil.

3. Mein Herr und mein Gott

Das Fundament des Christentums liegt in dem himmlischen Ursprung Jesu Christi. Das war die
erste Schlußfolgerung, zu der Metallinos kam. Er lernte von Pascal, daß jeder, der die göttliche
Natur Jesu leugnet, das Christentum auf die Ebene einer menschlichen Religion herabzieht und
seinen Begründer auf die Ebene eines Menschen, der ein Lügner und ein egozentrischer
Verrückter ist. Durch das Selbstzeugnis Jesu sind wir gezwungen, die eine oder die andere
dieser beiden Schlußfolgerungen anzunehmen: Entweder war er ein Größenwahnsinniger, der
Gott lästerte, oder er war in Wahrheit Gottes eingeborener Sohn.
Metallinos war tief beeindruckt von der klugen Methode, mit der Pascal die Lehre von der Gottheit
Christi bewies, indem er sich auf die Logik und die Geschichte stützte. Nach Pascal gibt es drei
Argumente, die den göttlichen Ursprung Christi bezeugen:
Das erste ist Seine sittliche Vollkommenheit. Er lebte vollkommen und sündlos. Jesus brauchte
niemand um Vergebung für irgendeinen Fehler zu bitten, noch brauchte Er jemals etwas zu
bedauern, was Er getan oder unterlassen hatte. Die Frage, die Er seinen Anklägern stellte, ist bis
heute unbeantwortet geblieben: "Wer von euch überführt mich einer Sünde ?" (Joh.8,46).
Diesem Selbstzeugnis Jesu fügte Sein himmlischer Vater Sein eigenes, sichtbares Zeugnis
hinzu, die wunderbaren Taten, die Er durch Seinen Sohn vollbrachte.
Diese übernatürlichen Taten, die Seine grenzenlose Macht und Güte widerspiegeln, begründen
die zweite Offenbarung des göttlichen Ursprungs Jesu Christi. Er heilt Kranke, macht Blinde
sehend, reinigt Aussätzige, weckt Tote auf, stillt den Sturm das alles waren übernatürliche
Ereignisse, die den Stempel der Zustimmung Gottes auf Seine Lehre drückten.
Neben die sittliche Vollkommenheit Jesu und Seine Wunder stellt Pascal ein drittes Argument für
Seinen göttlichen Ursprung, das sogar noch größer ist und wirklich nicht zurückgewiesen werden
kann: Die Weissagungen über die Person und das Werk Christi. Hier sind Pascals eigene Worte:
die Weissagungen sind der stärkste Beweis für Jesus Christus. Hätte ein einzelner Mensch ein
Buch mit Weissagungen über Jesus Christus geschrieben, in dem er die Zeit und den Ort Seines
Kommens voraussagt, und Christus wäre in genauer Übereinstimmung mit diesen Weissagungen
erschienen, so wäre dies sicher von außerordentlicher Bedeutung gewesen. Aber in unserem Fall
begegnet uns etwas viel Größeres. Hier erscheint eine ganze Reihe von Propheten während
eines Zeitraumes von 4000 Jahren, und einer nach dem anderen weissagt von dem gleichen
geschichtlichen Ereignis. Wir sehen, wie ein ganzes Volk dieses Ereignis vor seinem Eintreten
ankündigt, und dieses Volk bleibt bestehen, und trotz aller Verfolgungen, die es erlitten hat, ist es
davon nicht abgewichen. Das ist von noch größerer Bedeutung.
Diese logischen Argumente bedeuteten für Metallinos eine Offenbarung. Schrittweise begann die
Wahrheit über die Person Christi seinen Geist zu erleuchten, bis endlich jeglicher Zweifel
vertrieben war.
Als ich das Kapitel Pascals von den Weissagungen über Christus las, brach in mir ein Licht auf.
Die Schuppen fielen von den Augen meiner Seele, und ich erkannte in Seiner Person, in dem von
mir gehaßten Juden, den eingeborenen Sohn Gottes.
Entsetzen erfaßte seine Seele, als ihm bewußt wurde, daß er Gott durch sein Handeln aus
Unglauben in der Person Seines Sohnes den Krieg erklärt hatte. Immer wieder wurde er von den
gleichen Alpträumen bedrängt, die ein Schuldiger erfährt, der sich zu verbergen sucht, während
er gleichzeitig vom Gesetz verfolgt wird.
Der Schrecken und die Verdammnis, die Metallinos empfand, erwiesen sich als Zeichen echter
Buße. Er empfand nicht nur Trauer über das schwankende Verhalten in seinem bisherigen
Leben, sondern auch ein tiefes Schuldbewußtsein. Wie der Zöllner im Gleichnis bekannte er dies
vor Gott und bat aufrichtig um Erbarmen. In Reue bekannte er, daß seine gefallene Natur in
Auflehnung gegen Gott lebte, und in tiefer Buße sagte er sich davon los und brach mit seiner
sündigen Vergangenheit.
Um von dieser vollzogenen Buße zur vollkommenen Vergebung und zur Rettung seiner Seele zu
gelangen, bedurfte es nun eines weiteren Schrittes: Er mußte sich Christus zuwenden, denn nur
Christus vergibt Sünden und rettet den Sünder. Und so streckte Metallinos unter der geistlichen
Führung von Pascal seinem Retter seine flehenden Hände entgegen und empfing inneren
Frieden und vollkommene Vergebung. Später erinnert er sich so an diese glückliche Erfahrung:.
Nach jedem Seufzen überströmte mich jedesmal eine friedvolle Ruhe, und wie ein Blitzstrahl
durchdrang mich der Gedanke: Fürchte dich nicht, Christus hat dich angenommen, du bist erlöst.
Die Gnade Gottes wirkte vollkommen mit der Aufrichtigkeit von Metallinos zusammen und
verwandelte ihn von einem bitteren Feind Christi in einen hingebungsvollen Jünger Jesu. Das
Licht des Erkennens wurde nun zum Glauben des Herzens. Was Metallinos mit seinem Verstand
aufgenommen hatte, empfing er nun in seinem Herzen, nicht nur als Weisheit, sondern als
seelenrettende Wahrheit.
Metallinos bezeichnete seine damalige Entdeckung, die er durch bestimmte Bücher machte, in
denen er eine Fülle wohlbegründeter Argumente zur Verteidigung des christlichen Glaubens
fand, als Gottes Barmherzigkeit. Gründlich und immer wieder studierte er diese Werke.
Das war es, was ich brauchte. So konnte ich in den Kampf ziehen, nicht mehr gegen Christus,
sondern gegen die Feinde Christi.
Nun war für ihn die Zeit gekommen, seine neuen Überzeugungen öffentlich darzulegen. Er
begann damit bei seinen Mitstudenten. Mit der Begeisterung eines aufrichtigen Idealisten zog er
aus, um gegen die Irrtümer zu protestieren, die die Universitätsprofessoren über den
Materialismus und den Ursprung des Menschen lehrten. Der Lohn für diesen schwierigen
geistlichen Feldzug bestand in drei oder vier Mitstudenten, die sich ihm anschlossen. Um ihr
Interesse an christlichen Grundsätzen wachzuhalten, versorgte Metallinos seine ersten
Nachfolger mit Zeugnissen anderer Wissenschaftler, die die Theorien des Darwinismus und des
Unglaubens bekämpften.
Doch ihr Hauptgesprächsthema handelte von der Gottheit Christi. Später erinnerte sich
Metallinos:
Einige meiner Studiengenossen nahmen die Tatsache zur Kenntnis, daß ich mit wirksamen
Argumenten gerüstet zu sein schien, und sie übernahmen meine Überzeugung, daß Christus
wirklich Gott ist und daß wir mit ganzem Herzen an Ihn glauben müssen.

Mit Christus reden

Nach seiner Bekehrung erfüllte Metallinos zum ersten Mal das Verlangen nach einer lebendigen
und persönlichen Verbindung mit Christus.
Eines Tages, als er allein in seinem Zimmer war, durchzuckte ihn eine Erleuchtung: "Wenn du
glaubst, daß Christus Gott ist, warum sprichst du jetzt nicht mit ihm im Gebet ?"
So begann er zu beten. Von dem Gefühl tiefer Demut überwältigt hob er seine Augen auf und ließ
seinen Geist dem Geist Gottes begegnen. Die Worte, die er sprach, klangen so einfach, doch sie
stiegen mit innerer und instinktiver Kraft aus der Tiefe seines Herzens zu Gott empor. Ein kurzes
Schuldbekenntnis, wenige Worte tiefempfundenen Dankes, ein aufrichtiges Gelöbnis und viele
Tränen. Als er aufhörte, erfüllte ihn eine unbeschreibliche Freude. Unmittelbar darauf wollte er
diese beglückende Erfahrung wiederholen. "Ich empfand solchen süßen Frieden, daß ich mir
sagte: Warum sollte ich nicht noch einmal beten?"
Er fing erneut an zu beten mit neuem Sündenbekenntnis, mit neuer Danksagung, mit neuem
Gelöbnis; er vergoß weitere Tränen und erfuhr neue Freude. Als er aufhörte, sagte er sich:
Ich habe das Geheimnis entdeckt! Von heute an werde ich mit Jesus reden. Ich werde in Seine
Nähe treten und viele Male an jedem Tag mit Ihm reden.
In der Tat hatte er eine große Entdeckung gemacht, denn seit diesem Tag im Herbst 191o wurde
das Gebet für Metallinos die Spindel, mit der er anfing, sein geistliches Werk auf dem Teppich
seines Lebens zu weben.
Von da an nahm das Gebet in meinem Leben die Art eines lebendigen und bedeutsamen
Gespräches mit Christus an und wurde zur Quelle des tiefsten Trostes und der höchsten Freude.
An jenem milden Nachmittag, an dem er diese reiche, neue Erfahrung in seinem Gebetsleben
machte, trat er an das Fenster seines bescheidenen Zimmers, öffnete die Schlagläden und warf
einen zufälligen Blick auf den Horizont. Da stand das Parthenon in dem klaren, goldenen Licht
eines wundervollen attischen Sonnenuntergangs und leuchtete stolz vor ihm auf. Daneben, kaum
von der Akropolis getrennt lag die massive,. konturenlose Silhouette des Areopags, auf dem der
Apostel der Heiden zum ersten Mal zu den götzendienerischen Athenern den auferstandenen
Christus verkündigt hatte. Seit Jahrhunderten standen beide Bauwerke nebeneinander, gewaltige
Symbole für das umfassende menschliche Streben, das höchste Gut zu erlangen. Das eine ist
das Symbol menschlicher Weisheit; das andere das Symbol göttlichen Heils. Das eine verkörpert
die höchsten Leistungen menschlicher Anstrengungen; das andere stellt in der Predigt des
Paulus das wunderbare Wirken der Macht und der Liebe Gottes für die Menschheit dar.
In der Schule hatte Metallinos in einigen Stunden des Religionsunterrichts von dem Areopag
gehört. Er erinnerte sich an die Predigt des Paulus, an die Art, mit der die Athener den Apostel
verspottet hatten, an den Ratsherrn Dionysius. Nun schaute er, die Ellenbogen auf die
Fensterbank gestützt, in tiefer Verehrung der Vergangenheit in dieselbe Richtung. Nun rief er sich
im Geist die Szene in Erinnerung, als der Apostel der Heiden vor den den Götzen dienenden
Athenern stand und ihre Finsternis mit seinem geistlichen Licht erleuchtete. Er schaute die
epikureischen und stoischen Philosophen, wie sie über Paulus spotteten und seine Predigt
lächerlich machten. Er sah die Neubekehrten, die dem Apostel folgten, nachdem sie zum
Glauben an Jesus und an die Auferstehung gekommen waren.
Als er aus seinen Träumen erwachte und in die Wirklichkeit zurückkehrte, erschien ihm die Welt
verändert. Nun hatte der steinige Areopag für Metallinos eine größere Bedeutung gewonnen als
der Parthenon, und Dionysius, der Areopagite, stand ihm nun näher als Sokrates.

Im Reich des Lichtes

Das Wunder war geschehen. Der Glaube an Christus fing nun für Metallinos an, zu einem
umgestaltenden, lebendigen, persönlichen Heilserlebnis zu werden. Doch das genügte nicht. Die
geistliche Erleuchtung, die er empfangen hatte, mußte noch stärker werden. Das unsichtbare
innere Zeugnis des Geistes, das er in seinem Herzen schon besaß, mußte in gleicher Weise
durch das sichtbare, geschriebene Zeugnis Gottes, das Neue Testament, bestätigt werden.
Metallinos hatte niemals eine Bibel erworben, noch hatte er sie jemals gelesen. Durch die
wenigen Abschnitte, die seine Lehrer früher in der Schule erklärt hatten, besaß er nur eine
ungefähre Vorstellung von ihrem Inhalt. Er wußte nur, daß die Worte und Taten Jesu im Neuen
Testamen zu finden waren. Er sagte sich:
Da du nun vollkommen überzeugt bist, daß Christus Gott ist, warum kaufst du kein Neues
Testament? Da kannst du mehr von Seinen Worten lesen und lernen, was Er von dir erwartet.
Die Folge dieses inneren Dranges war, daß dieser Einfall ein Feuer in meinem Herzen
entzündete; mich überkam das innere Verlangen, ein eigenes Neues Testament zu besitzen.
Noch am gleichen Tage konnte Metallinos erwerben, wonach ihn verlangte. Als er im Wagen
eines wandernden Buchhändlers stöberte, fiel sein Blick auf ein kleines, schönes antiquarisches
Buch mit dem Titel "Neues Testament". Sofort kaufte er das Buch. Er konnte es kaum abwarten,
in sein Zimmer zu gelangen. Er legte sich auf sein Bett, öffnete das Buch auf gut Glück und fing
an zu lesen:
Ich bin die Welt gekommen als ein Licht, damit, wer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe.
Und wer meine Worte hört und bewahrt sie nicht, den werde ich nicht richten; denn ich bin nicht
gekommen daß ich die Welt richte, sondern daß ich die Welt rette (Johannes 12.46.47).
Diese äußere, geschriebene Tatsache des Neuen Testaments nahm Metallinos als Siegel Gottes
entgegen, durch das die eigene, innere Tatsache der Heilserfahrung bestätigt wurde. Das Wort
"Finsternis" und das damit verbundene Gericht stellten ihm für einen Augenblick das häßliche
Bild seines früheren Lebens vor Augen. Trotz desselben hatte Christus ihm viele Jahre lang
Geduld erwiesen, denn er kam ja nicht, um zu verdammen, sondern um jeden Sünder zu retten
um Kostas Metallinos zu retten.
Zum ersten Mal in meinem Leben las ich diese Worte im Neuen Testament, und zum ersten Mal
erfüllte mich aus tiefster Seele der Dank gegenüber Ihm, der mich so viele Jahre getragen hatte.
Ich hatte mich selbst nicht mehr in der Gewalt. Tränen der Reue und Buße über das, was ich
einem wie Ihm angetan hatte, erschütterte mich gänzlich. Aber auf dem Grund meines seelischen
Zustandes lebte nicht die Verzweiflung, sondern der trostreiche Zuspruch und der himmlische
Friede, weil ich wußte, daß Er mich angenommen und mir vergeben hatte.
Das kleine Zimmer wurde für Metallinos zum Paradies. Eine süße, himmlische Erhebung kam
über ihn, als ob Gott ihn liebkosen würde. Von seinen Gefühlen überwältigt erhob er sich von
seinem Bett. Er ging zu seinem Tisch und setzte sich langsam, fast unbeholfen auf seinen Stuhl.
Mit Tränen im Gesicht und in Gedanken versunken hielt er mit beiden Händen das Neue
Testament. Es war auf derselben Seite geöffnet. In demütiger Haltung hob er seine Augen auf
und flüsterte Christus sein feierliches Gelöbnis: "0 Jesus, ich kannte Dich nicht, darum kämpfte
ich gegen Dich. Ich danke Dir, daß Du sogar mich angenommen hast. Ich verspreche Dir, daß ich
Dir völlig gehören will, und ich will Dir dienen mit meinem ganzen..."
Überwältigt von seinen Gefühlen vermochte er nicht mehr zu sagen. Doch vom Standpunkt des
Herrn aus genügte das , was er gesagt hatte.
Metallinos kam sich wie ein Krieger vor, der in heftigen Kämpfen alle Höhen erobert hatte und
sich nun anschickte, die Beute ins Tal zu schaffen. Sechs Monate lang hatte er zahlreiche
schwere Krisen durchstanden, die sein Innerstes erschüttert hatten.
Die heftige Infragestellung seines ursprünglichen Unglaubens; sein Verwirrtsein bei seiner
späteren Wahrheitssuche; die geistigen Qualen und plötzlichen Umwandlungen, die er beim
Studium Pascals durchmachte; die Annahme der Gottheit Christi, den er bis dahin geschmäht
und gehaßt hatte; die Kämpfe, die der Buße vorangingen; die starken Gefühle, die mit seiner
Wiedergeburt verbunden waren, das alles mußte sich in seinem Geist und Sinn als eine
eindrucksvolle und unvergeßliche persönliche Geschichte festsetzen.
Für Metallinos wurde es nun notwendig, die Schrift zu studieren, damit er Licht gewann und mit
der höheren geistlichen Weisheit vertraut wurde. Getrieben vom Geiste Gottes gelangte er dahin,
das Neue Testament mit wahrer Leidenschaft zu lieben.
So wie ich das Gebet als Quelle meines Glückes bezeichnet hatte, fand ich nun im Studium der
Worte Christi eine Quelle unbeschreiblicher Freude und Erhebung. Für mich war es mehr als
bloßes Lesen und Studieren. Es war die innigste Form persönlicher Gemeinschaft mit meinem
Heiland, während Er fortfuhr, lebendige Worte unmittelbar in meine Seele zu legen.
Der Neubekehrte las nun mit Eifer Gottes Wort. Allein in seinem kleinen Zimmer las er täglich
fünfzehn Stunden im Neuen Testament, ohne dabei zu ermüden. Das Ergebnis bestand darin,
daß er nach zehnmonatiger Beschäftigung mit dem ganzen Neuen Testament, jeden Teil
desselben genau zitieren konnte.
Weil er bei vielen Abschnitten der Paulusbriefe Verstehensschwierigkeiten hatte, entwickelte sich
bei ihm eine stärkere Vorliebe und Wertschätzung der Evangelien, in denen er die
Abschiedsreden Jesu in Johannes 13 16 besonders liebte.
Am Ende seines Lebens schrieb er: Bis auf den heutigen Tag habe ich diese Ausgabe des
Neuen Testaments als meinen kostbarsten Besitz aufbewahrt. Seine Seiten tragen die Spuren
vieler Tränen des Dankes und der Erleichterung, Tränen, die ungefragt flossen, als ich die Worte
meines Heilandes studierte.
Neben dem Studium des Neuen Testaments begann er mit Eifer die Ausle gungen der
Kirchenväter zu lesen, besonders die das Chrysostomus. Dieser half ihm bei der Lösung vieler
schwieriger Fragen in geistlichen Dingen, denn vor allem Chrysostomus half ihm, tiefer in das
Verständnis des Neuen Testaments einzudringen.
In dieser Zeit beschloß Metallinos eines Tages, die Heilige Kommunion zu empfangen. "Warum
soll ich nicht zur Beichte gehen und ich dann die Heilige Kommunion empfangen?", fragte er sich.
Und so ging er. In dem Bewußtsein, geistlich vorbereitet zu sein, ging er zu dem Priester und
beichtete. Er sprach von seiner Buße über sein sündhaftes Leben. Er sprach von der
Veränderung, die Christus in sein Leben gebracht hatte. Er sprach von seiner neuen geistlichen
Erfahrung. Der Priester hatte es eilig. Er unterbrach die Beichte und legte ihm eine
sechsmonatige Bußübung auf: Zehn Gebete an jedem Tag und einige geringere Bußübungen.
Als Metallinos die Kirche verließ, fühlte er sich in seinem Gewissen betroffen, denn er empfand,
daß ihm gerade etwas widerfahren war, das der Wahrheit widersprach, die er bereits aus dem
Neuen Testament kannte. "Warum soll ich auf den Priester hören?", fragte er sich. "Wenn ich
weiß und glaube, daß Christus mich angenommen hat, wozu brauche ich dann noch einen
Priester?"
So ging er am nächsten Sonntag in die Kirche zum Empfang der Heiligen Kommunion. Seine
Seele verlangte nach Gemeinschaft, aber er begehrte keinen Priester mit seinen Bußübungen.
Dieses Problem löste sich jedoch von selbst. Als er drei Wochen lang gekommen war, schickte
ihn der Priester fort. "Was soll das alles? Jede Woche immer wieder dieselbe Geschichte. Geh
fort und komm nicht wieder!" Metallinos ging.
Trotzdem blieb Metallinos weitere acht Jahre in der Orthodoxen Kirche.

Die Zubereitung

Zu Beginn des Jahres 1911 lud einer der Universitätsstudenten Metallinos ein, an einem Treffen
junger Männer teilzunehmen, die das Neue Testament studierten.
Die Folge dieser Einladung war, daß Metallinos mit dieser kleinen Gruppe junger Männer bekannt
und später eng vertraut wurde. Einige von ihnen sollten in den folgenden Jahren entscheidenden
Einfluß auf sein Leben und Wirken ausüben.
Metallinos Teilnahme an dieser ersten Zusammenkunft zum Bibelstudium machte auf die
Anwesenden einen tiefen Eindruck. Am Ende der Versammlung war jeder in der Gruppe
begeistert von dem Beitrag, den der junge Besucher zu dem Gespräch geleistet hatte, besonders
der Leiter Christophilos. Er nahm Metallinos beiseite und fragte ihn, woher er seine Kenntnisse
erworben habe. Metallinos erzählte ihm einiges von dem, was ihm widerfahren war. Christophilos
war durch das Gehörte tief bewegt und forderte ihn auf, regelmäßig an den Zusammenkünften
teilzunehmen.
Von da an entwickelten sich die Dinge in eine neue Richtung.
Die Verbindungen, die Metallinos in den Räumen der orthodoxen Gesellschaften, dem Reform
Club, der Gemeinschaft Mariä Verkündigung und darüber hinaus anknüpfte, waren auf zwei
Weisen von großem Nutzen für seine christliche Berufung. Zunächst boten sie ihm gute
Möglichkeiten und günstige Bedingungen, seine Gabe zum öffentlichen Reden zu pflegen eine
Gabe, durch die Gott später Wunder wirken sollte. Außerdem bildete sich aus dem dadurch
entstandenen Kennenlernen eine feste Gruppe von vier oder fünf gläubigen jungen Männern, die
später mit der Schleuder des Glaubens auszogen, um wie der junge David gegen Riesen zu
kämpfen.
Die Kennzeichen, die diese kleine Schar damals bestimmte, waren das regelmäßige Studium des
Neuen Testaments, die persönliche Erfahrung, die jedes einzelne Mitglied mit der Wahrheit des
Evangeliums machte, und der feste Wunsch, diese seelenrettende Wahrheit zu verkündigen,
auch wenn das große persönliche Opfer fordern sollte.
Die Versammlungen folgten einer einfachen Ordnung. Jede Zusammenkunft zum Bibelstudium
begann mit dem Aufsagen des Vaterunsers. Darauf folgte die Auslegung eines bestimmten
Abschnitts aus dem Neuen Testament. Nach Beendigung der Aussprache suchten die Mitglieder
des Kreises eine Gelegenheit, um ein gemeinsames öffentliches Zeugnis ihres Glaubens zu
geben. Damals entwickelte sich die kleine Gruppe zu einer Wandermission, zu einer Art von
Gemeinde unterwegs. Immer waren sie auf der Suche nach Orten, wo ihre geistlichen
Bestrebungen dankbar angenommen wurden in den Wohnungen von Freunden, in öffentlichen
Hallen und sogar im Freien
Die Allgemeine Mobilmachung, die zu jener Zeit in Griechenland angeordnet wurde, und der sich
anschließende Balkankrieg zerstreute diese christliche Gruppe. Metallinos wurde am 1. April
1913 einberufen und tat bis zum Jahre 1916 aktiven Heeresdienst. Dann wurde er zur Reserve
ausgemustert. Während dieser drei Jahre, in denen er immer wieder zu Wehrübungen einberufen
wurde, versuchte er jede Gelegenheit zu nutzen, um sich und seinen Standort im Leben zu
festigen. So schloß er am 19. Dezember 1915 an der Universität sein Studium ab und erhielt für
seine bemerkenswerten Leistungen in dem von ihm gewählten Studienfach den Grad eines
Doktors der Mathematik
Aber er vernachlässigte auch nicht seine geistliche Tätigkeit. In dem kleinen Zimmer von
Metallinos pflegten sich Mitstudenten und Freunde zu Aussprachen und Predigten über geistliche
Themen zu treffen.
Schon während er sich für diese Tätigkeit einsetzte, war er bereits in den Öffentlichen Dienst
eingetreten. Dort sollte er sich später nicht nur als Regierungsbeamter auszeichnen, sondern
auch als ein Apostel Jesu Christi, berufen zum Dienst unter seinen Kollegen. Seine erste
Einstellung in den Regierungsdienst war am 11. Februar 1911 unterzeichnet worden.
Als Lehrling wurde er der Generalbehörde für das Rechnungswesen zugewiesen, mit einem
Gehalt von 20 Dollar im Monat. Davon sandte er seiner Mutter regelmäßig 4 Dollar. Drei Jahre
blieb er in dieser Stellung, bis er im Jahre 1914 der Behörde für das Rechnungswesen als
ständiger Angestellter zugeteilt wurde.
Dort führte Metallinos einen wirklichen Kampf mit sich und mit dem Satan. Es stellte sich heraus,
daß diese Ernennung für ihn zu einer harten Schule wurde, in der er die ersten Lektionen in
Ausdauer und Demütigung lernen sollte. So dauerte es nicht lange, bis sein christliches Zeugnis
unter seinen Kollegen für diese zu einer Zielscheibe und für ihn zu einer anhaltenden Prüfung
wurde. Spott, Verfolgung, Hohn und Schelte waren an der Tagesordnung. Metallinos schluckte
alles mit gutem Humor und vollkommenen Gleichmut, niemals mit einer Gesinnung von Haß oder
Vergeltung. Wann immer seine Mitarbeiter einen dummen Witz über ihn machten, um ihn zu
reizen, versuchte er stets seine Haltung zu bewahren. Wenn sie zum Beispiel eine Nadel aufrecht
in seinen Stuhl steckten, so daß er gestochen wurde, sprang er lächelnd von seinem Stuhl auf
und flüsterte leise: Es wird euch nicht gelingen, mich verrückt zu machen, ihr Werkzeuge Satans.
Ich bete für euch. Jesus ist dabei euch zu ergreifen. Ihr könnt nicht entkommen.
Damit weissagte er richtig, denn nach einigen Jahren hatte Christus tatsächlich die meisten von
ihnen ergriffen. Die Hand des Herrn zur Errettung dieser Angestellten wurde völlig sichtbar, als
der Lebhafteste von allen, dem Metallinos den Spitznamen "Teufel" gegeben hatte, weil er mit
ihm die schlimmsten Scherze trieb, Buße tat und sich Christus zuwandte und dessen Erbarmen
und Heil begehrte. Als er das hörte, bekannte Metallinos, daß er 15 Jahre lang für das Heil dieses
Mannes gebetet habe.
Von Anfang an war es Metallinos klar, daß er einen besonderen Ruf Gottes besaß, sich für die
geistliche Arbeit unter den Regierungsbeamten einzusetzen. Das war sein Evangelisationsgebiet.
Und weil er sich stets auf die Macht des Gebets und auf die Führung des Herrn verließ, lebte er
in großer Erwartung. Eifrig bemühte er sich darum, daß seine Kollegen mit ihm an der geistlichen
Erfahrung des Heils in Christus Anteil bekamen. Und wie wunderbar war es, wenn während
seiner verschiedenen Regierungsämter Bibelstudiengruppen entstanden. In dieser Zeit lautete
sein Lieblingsspruch: "Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt." Auf diese Verheißung
gestützt, setzte Metallinos seine geistliche Arbeit unter seinen Kollegen mit großer Ausdauer fort.
Er glaubte, daß er später mit Freuden ernten würde, was er damals mit Tränen säte. Wir werden
sehen, daß Gott den Glauben seines ergebenen Arbeiters ehrte.

Die ersten Predigten

Mit Furcht und Zittern stand Metallinos vor seiner ersten Zuhörerschaft. Die Gelegenheit ergab
sich, als Basil Christophilos verreisen mußte. Christophilos war Mitglied der Gruppe und
regelmäßiger Redner in der Kirche Sankt Demetrius und mußte einen Ersatzmann finden. Er
dachte an Metallinos.
"Sag, Kostas, möchtest du am kommenden Sonntag in Sankt Demetrius sprechen? Dann
müssen die Leute nicht ohne Predigt nach Hause gehen", schlug Christophilos vor.
Kostas zögerte mit seiner Antwort. Der Gedanke, allein auf sich gestellt in einer großen Kirche
voller Menschen so lange sprechen zu müssen, schreckte ihn. Aber Christophilos tat alles, um
ihn zu ermutigen. Schließlich stimmte Metallinos zu, wenn auch nur mit halbem Herzen.
Dem Thema seiner ersten Predigt lag der Text zugrunde: "Schaut die Lilien auf dem Felde an"
(Matthäus 6,28).
In seiner Botschaft pries der Laienprediger die Liebe und Güte Gottes. Doch gleichzeitig betonte
er, daß der Glaube des Menschen wesentlich an der Auswirkung dieser Güte und Liebe beteiligt
ist.
Die Lilie auf dem Felde ist eine Pflanze, auf die man täglich sorglos tritt. Doch ihr Schöpfer kleidet
sie mit außerordentlicher Schönheit und Lieblichkeit. Ist es möglich, daß Gott für solch eine
kurzlebige Pflanze sorgt und im Blick auf den Menschen gleichgültig ist, dessen Bestimmung das
ewige Leben ist? Hier soll sich unser Glaube einschalten. "Ich glaube", heißt, ich besitze eine
große Vorstellung von Gott, von Seiner Güte, von Seiner Macht und von Seiner Zuverlässigkeit
im Blick auf Seine Verheißungen. Wer sich fürchtet und an den Verheißungen Gottes zweifelt,
setzt Ihn herab und macht Ihn klein. Wenn wir wirklich glauben, müssen wir uns mit völligem
Vertrauen auf die Verheißungen das Herrn verlassen. Das gilt nicht nur für die alltäglichen
Bedürfnisse unseres Lebens, sondern auch für die Bedürfnisse unserer Seelen.
Es waren solche Gedanken, die Metallinos in seiner ersten Botschaft darlegte. Kaum hatte er
geendet, ertönte eine Stimme aus der Zuhörerschaft, die bestätigte, daß er seine Sache gut
gemacht hatte. "Bravo, mein Junge, bravo! Du hast uns eine gute Botschaft gegeben!" Die
Frauen jedoch verhielten sich zurückhaltender mit ihrem Lob. "Für uns hast du zu schnell
gesprochen. Beim nächsten Mal sag es für uns ein wenig langsamer."
Trotz allem erfahrenen Lampenfiebers hatte Metallinos einen ausgezeichneten Eindruck
hinterlassen. Die Ansprachen setzten sich mit einzigartigen Erfolg fort. Die Gemeinde wuchs
immer weiter, und vom rein wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtete der Priester den jungen
Prediger als ein Gottesgeschenk, als eine Wohltat, die der heilige Demetrius seiner kleinen
Kirche erwies.
Als Christophilos von seiner Reise zurückkehrte und diese Neuigkeit hörte, war er darüber ganz
begeistert. Und statt seinen Platz als Redner wieder einzunehmen, nötigte er Metallinos, mit
seinem Predigen fortzufahren.
Hier ist es angebracht, auf die demütige christliche Persönlichkeit des Christophilos, "des
Lehrers", hinzuweisen. Gott gebrauchte diesen Mann und ließ ihn eine bedeutende Rolle in der
Zubereitung und Mission des Metallinos spielen, ähnlich wie Barnabas bei der Zubereitung und
Mission des Apostels Paulus. Zuerst führte Christophilos Metallinos in die christlichen Kreise ein.
Und er war es auch, der ihn ermutigte und half, seine Ängste zu überwinden, als er begann,
öffentlich zu predigen. Er überließ Metallinos sein eigenes Predigtamt und nahm jede
Gelegenheit wahr, ihn als ein geistbegabtes Werkzeug Gottes herauszustellen. Und das alles,
obwohl auch Christophilos selbst ein Prediger war.
Weil Metallinos in Sankt Demetrius so großen Erfolg hatte, sah sich der Priester von Sankt
Katharina veranlaßt, Metallinos in seine Kirche einzuladen. Metallinos nahm diese Einladung an
mit dem Erfolg, daß sich nun in beiden Kirchen große Gemeinden versammelten.
Doch die harmonische Zusammenarbeit zwischen Metallinos und der Orthodoxen Kirche währte
nicht lange. Das anhaltende Studium der Bibel, besonders des Neuen Testaments, ließ
Metallinos geistliche Wahrheiten erkennen, von denen er vorher niemals gehört oder gelesen
hatte. Darum fing er an, seinen Hörern diese Wahrheiten mit heiligem Eifer in seinen Predigten
mitzuteilen. Aber einige der Kirchenbesucher fingen an, sich zu beschweren, nicht über das, was
er predigte, sondern über das, was er nie erwähnte. So sprach er zum Beispiel in seiner
Botschaft zum 15 August, dem Fest der Gesegneten Jungfrau, ausschließlich über Jesus
Christus und Sein Erlösungswerk, ohne überhaupt die Jungfrau Maria zu erwähnen. Es war
verständlich, daß solche Auslassungen bei einem Teil der Gemeinden Enttäuschungen
hervorriefen.

Neuer Wein in neuen Schläuchen

Durch ihr Bibelstudium und Gebetsleben wurden die Glieder dieses christlichen Kreises
schrittweise zu einem tieferen Verständnis geführt. Dies trat in Erscheinung, als sie anfingen
herauszufinden, daß viele Wahrheiten des Neuen Testaments nicht mit bestimmten Dogmen
übereinstimmten, die von der Orthodoxen Kirche geglaubt und gefordert wurden. In der
schwierigen Frage der Beichte und der Sündenvergebung waren sie zum Beispiel gewiß, daß
hier eine fehlende Übereinstimmung zwischen der heutigen Orthodoxen Kirche und der Kirche
des Neuen Testaments vorlag. Ähnliche mangelnde Übereinstimmung entdeckten sie bei
anderen Dogmen und Glaubenslehren, so über die mündliche Tradition, die Sakramente und die
Kirchenordnungen.
Bei ihren Einwänden beabsichtigten sie natürlich nicht, sich als Theologen aufzuspielen oder die
Orthodoxe Kirche zu verleumden und in Mißkredit zu bringen. Es muß festgestellt werden, daß
sie diese achteten. Durch das Zeugnis des Neuen Testaments hatten sie jedoch die
Überzeugung gewonnen daß ein einfacher Gläubiger, mit der Wahrheit der Schrift gewappnet,
weiser und geistlich besser ausgerüstet ist als der höchste Würdenträger, dem das Licht der
Schrift und das Leben des Geistes fehlt. Ihr Glaube gründete sich auf die klaren Aussagen der
Heiligen Schrift, nach der jeder Gläubige ein "Tempel Gottes" ist (1. Korinther 3.16), ganz gleich
ob er zum Klerus oder zu den Laien gehört. Der Herr rüstet alle Gläubigen, sowohl die Laien als
auch den Klerus, aus mit "dem Geist der Weisheit und der Offenbarung" (Epheser 1,17) und auch
mit der Fülle aller Erkenntnis. So läßt er sie teilhaben an "allen Schätzen der Weisheit und
Erkenntnis" (Kolosser 2,3), die in Christus verborgen sind.
Darum braucht der Heilige Geist keine Helfer, die als Mittler walten, um dem Menschen die
ersten Grundsätze des Heils und das wahren Glaubens zu offenbaren.
Von Anfang an beschäftigte Metallinos die Frage: "Warum sollen wir für wahr halten, daß nur die
Priester und nicht ebenso die Laien die gottgeschenkte Gabe besitzen, die Schrift richtig
auszulegen, zumal die Theologen im Klerus von den Laienprofessoren an den Universitäten
gelehrt werden, die Schrift auszulegen?" Gewiß ist es dann überhaupt nicht befremdlich, wenn
Gott den Laien die Wahrheit der Schrift ummittelbar durch Seinen Geist mitteilt. Ob einer
Arbeiterkleidung trägt oder ein anderer die Gewänder eines Erzbischofs, ob einer willig eine
Prüfung erträgt, in der er seinen Herrn mit Glauben und Vertrauen ehrt, oder ein anderer mit
himmlischer Rednergabe von der Kanzel predigt, jeder, der durch den Heiligen Geist
wiedergeboren ist, ist ein Vermittler der Wahrheit. Jeder von ihnen besitzt die Salbung des
Geistes und ist ein Träger das Zeugnisses von oben.
Obwohl Metallinos und seine Freunde nicht dazu neigten, darüber Auseinandersetzungen
aufkommen zu lassen, empfanden sie die Notwendigkeit als ernsthafte Gläubige darzulegen, daß
sie die Wahrheit wirklich mehr liebten als irgendetwas anderes. Mit anderen Worten: Sie durften
sich nicht scheuen, ihrer Überzeugung in der Öffentlichkeit Ausdruck zu verleihen wann immer
sich eine günstige Gelegenheit dazu bot.
Die Gelegenheit dazu ergab sich für sie im Herbst 1916. Auf einer stark besuchten Veranstaltung
zum Bibelstudium im Saal des Reformclubs richtete Christophilos an seine Hörer die folgende
rhetorische Frage: "Wenn Gott nach dem gewissen Wort des Neuen Testaments jedem nach
seinen Taten vergilt (Römer 2,6), können Sie mir dann sagen, welchen Wert die Totenmessen
haben sollen?" Er beantwortete sofort seine eigene Frage: "Wir sehen im Neuen Testament, daß
dort Totenmessen überhaupt keine Geltung oder Wert besitzen, sie können den Zustand eines
Menschen nach seinem Tod nicht verändern." Diese Bemerkung fand die Beachtung der
Clubleitung, und der Redner wurde um eine Erklärung gebeten. Christophilos freute sich über
diese gute Möglichkeit und wiederholte seine Ansicht über die Totenmessen vor den Mitgliedern
der Clubleitung.
Wenn ein Mensch als unbußfertiger Sünder und Ungläubiger stirbt, können für ihn noch so viele
Totenmessen gelesen werden; sie werden ihm überhaupt nichts nützen, denn Christus selbst
sagt: "Wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden" (Markus 16,16). Stirbt aber ein Mensch
als ein Gläubiger, dann nützen ihm weder Totenmessen noch Gebete, weil sich die Seele des
Gläubigen bereits im Zustand der Seligkeit befindet. "Selig sind die Toten, die in dem Herrn
sterben" (Offenbarung 14.13). Welche zusätzlichen Segnungen können von daher Totenmessen
den Seelen bringen, die in der vollkommenen Freude des Paradieses und in der völligen
Gegenwart des Herrn leben? Entweder besitzt der Mensch das Leben oder er besitzt es nicht.
Daraus folgt, daß er nach seinem Tode entweder bei Christus oder nicht bei Christus ist.
Nachdem Christophilos seine Anschauungen dargelegt hatte, folgte die kurze und einmütige
Entscheidung der Leitung: Der Beschuldigte darf nicht länger im Saal des Clubs predigen. So
verließ Christophilos mit dem Kreis seiner Vertrauten den Reformclub. In Wirklichkeit löste er sich
ebenso endgültig von der Orthodoxen Kirche.
Metallinos dagegen blieb weitere zwei Jahre und predigte in verschiedenen orthodoxen
Gemeinden das Wort Gottes. Er hoffte, daß es ihm durch Ausdauer und Geduld gelingen würde,
einigen der frömmsten Menschen jene Elemente der Wahrheit nahezubringen, die später zum
Samen für eine Reformation der Kirche von innen heraus werden könnte.
Doch sein großer Wunsch nach einer solchen Reformation verwirklichte sich nicht. Die wirklich
fehlende Übereinstimmung mit der Orthodoxen Kirche bestand für Metallinos darin, daß ihm
"nicht erlaubt wurde, frei über die große Hauptwahrheit das Evangeliums von der Errettung durch
die Gnade zu predigen".
Sein ständiges Predigen über die Person und das Werk Christi und sein gleichzeitiges
Schweigen über die Jungfrau Maria und bestimmte Traditionen weckte den Verdacht, er glaube
nicht an die Jungfrau Maria und an die kirchlichen Traditionen. Als er um das Jahr 1918 die
ersten Anzeichen eines Nervenleidens spürte, entstand das Gerücht, die Jungfrau Maria habe ihn
wegen seines Unglaubens mit Krankheit geschlagen. So lösten sich die Bindungen zwischen
Metallinos und der Orthodoxen Kirche fast vollkommen.
Der endgültige Bruch fand statt, als Metallinos zufällig das Kloster Pentele besuchte und einem
dort lebenden Mönch begegnete, der bei diesem Zusammentreffen begeistert ausrief: "Ihre
wunderbaren Predigten haben mich hierhergebracht, Herr Metallinos. Ihretwegen bin ich ins
Kloster gegangen."
"Wieso das? Habe ich gepredigt, um Menschen ins Kloster zu schicken?", rief er zu sich selbst
aus.
Das war der Augenblick, in dem Metallinos beschloß, den neuen Wein in neue Schläuche zu
füllen.

Die ersten Fundamente

Es war an einem Abend zu Beginn des Jahres 1919. Metallinos hatte sich einer Gruppe von fünf
Freunden angeschlossen, die in der Heracleidonstraße 49, dem Haus von John Demopoulos, mit
regelmäßigen Zusammenkünften begonnen hatten. Von 1916 bis 1928 blieb es der ständige
Versammlungsort.
Am Anfang fanden die Zusammenkünfte einmal in der Woche statt. Die Predigten, die gehalten
wurden, waren einfach in der Form, aber äußerst kraftvoll. Der Leiter pflegte aus dem Wort
Gottes vorzulesen und dann die wesentlichen Grundsätze des christlichen Glaubens und Lebens
zu erklären. Mit dem gemeinsam gesprochenen Vaterunser pflegten sie zu schließen.
Doch bei dieser Zusammenkunft schlug Metallinos dem kleinen Kreis vor, daß sie dem Herrn
durch laute persönliche Gebete danken sollten, nicht durch die üblichen aufgesagten
Formelgebete. "Meine Brüder, warum beten wir heute abend nicht laut zu dem Herrn und bitten
um Seinen Segen für uns?", fragte Metallinos.
Ohne zu zögern knieten alle nieder. Jeder dankte, wenn die Reihe an ihn kam, für das Opfer am
Kreuz, für die Vergebung der Sünden, für die Errettung seiner Seele, für das Licht des
Evangeliums, das seinen Geist erleuchtete. Jeder bat um tiefere geistliche Erkenntnis und um
eine vermehrte Fruchtbarkeit in der Arbeit für den Herrn.
Als sie geendet hatten, standen sie erfüllt von dieser himmlischen Erfahrung von den Knien auf,
und einer sagte zu dem anderen: "Das war es, was uns fehlte! Das war es was wir brauchten!"
Für Metallinos war dieser Abend ein Ereignis von geschichtlicher Bedeutung. Später schrieb er:
Als wir in der Heracleidonstraße 48 zum ersten Mal miteinander beteten, war unsere
Begeisterung unbeschreiblich. Ohne daß wir es wußten, legte Gott an diesem Abend den
Grundstein für unsere Gemeinde.
Durch dieses laute Beten nahm die Gemeinde im Bewußtsein der Gruppe Gestalt an. Aber
endgültig trat sie in Erscheinung, als man das Mahl des Herrn miteinander feierte.
Am Gründonnerstag 1919 spürten die Glieder der kleinen Gemeinde zum ersten Mal den
Wunsch, miteinander um den Tisch des Herrn zu sitzen. Oft hatten sie in den Evangelien die
Worte unseres Herrn gelesen: "Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich
mitten unter ihnen" (Matthäus 18,2o). Indem sie sich fest auf diese zuverlässige Verheißung
stützten, glaubte sie, daß der Herr in ihrer Mitte gegenwärtig sei und daß Er sich wirklich darüber
freue, wenn sie in Erinnerung an Seinen Tod das Heilige Abendmahl feierten.
Für dieses besondere Ereignis hatte man ein Lied geschrieben. Dieses wurde später dem ersten
Gesangbuch hinzugefügt und besonders mit Tinte gekennzeichnet. Es war ein kleines Heftchen
mit zehn Liedern, die mit der Hand geschrieben waren.
Von da an nahm die neu gegründete Gemeinde das Herrenmahl als einen ordentlichen Teil des
sonntäglichen Anbetungsgottesdienstes an.
Geleitet durch das Licht der Schrift erhob die kleine Gemeinde von Anfang an zwei wesentliche
Grundsätze zur Grundlage ihrer Verkündigung: Erstens: Der Glaube an die Person und das Werk
Christi ist das einzige und ausreichende Mittel zum Heil für den Sünder. Zweitens: Kirchliche
Traditionen, die in klarem Widerspruch zu Aussagen der Schrift stehen, müssen als schädliche
Täuschungen für die Seele abgelehnt werden.
Von Anfang an legte Metallinos großen Nachdruck auf die Bedeutung und den Inhalt das
Glaubens. Er wollte zeigen, daß der orthodoxe Gläubige der Gegenwart die Verheißungen Gottes
nicht richtig versteht, noch sich daran erfreut, weil der Inhalt seines Glaubens sich von dem
unterscheidet, was Gott nach der Schrift erwartet. Besonders verlangt Gott einen Glauben, der
vor allem von dem völligen Vertrauen zur biblischen Wahrheit und von dem willigen Gehorsam ihr
gegenüber bestimmt ist. Der orthodoxe Gläubige hingegen wird belehrt, er solle den Dogmen der
kirchlichen Konzilien und den Traditionen der Kirche Glauben entgegenbringen.
Wenn der Glaube nicht inhaltlich dem entspricht, was Gott erwartet oder fordert, dann führt dieser
Glaube im Herzen eines Menschen nicht zur Gewißheit und Freude an seiner Errettung, Nur ein
vollständiger und vollkommener Glaube vermag die Fülle der Verheißung zu umfangen. Das
Evangelium läßt den Gläubigen nicht in Qualen der Ungewißheit, sondern führt ihn zur Freude
"Freuet euch in dem Herrn allewege." Schließlich wird es deshalb Evangelium, "Gute Nachricht",
genannt, weil es ein Buch mit einer Freudenbotschaft ist.
In seinen Predigten erklärte Metallinos diese Heilsfreude mit ansprechenden lebendigen
Illustrationen aus dem Alltagsleben: "Sag mir Georg, alter Knabe, ich sehe, daß du
außergewöhnlich glücklich bist. Was ist geschehen? Hast du das große Los gewonnen?" "Nein,
ich habe in keiner Lotterie gewonnen." "Warum bist du dann so glücklich?" "Ich bin so glücklich,
weil ich Anteil an der Errettung in Christus habe. Ich bin glücklich, weil ich den Heiland
aufgenommen habe in mein Herz, weil ich den Sinn des Lebens gefunden habe, weil ich nun
unter dem immerwährenden Schutz des Sohnes Gottes stehe, der für mich starb. Darum bin ich
glücklich. Und diese Freude wird mich nie verlassen, weil sie nicht abhängig ist von den Dingen
dieser Welt. Gepriesen sei der Name des Herrn!"
Eindringlich pflegte Metallinos seine Hörer zu warnen: Hütet euch, euer Vertrauen auf euch selbst
zu setzen, indem ihr sagt: "Ich habe niemals im Gefängnis gesessen; ich bin ein guter Mensch;
ich bin angesehen in der Gesellschaft; ich habe viele gute Taten vollbracht." 0 Mensch, alle diese
Dinge gelten rein gar nichts. Sie machen dich nur blind für deine wahren Bedürfnisse. Das
einzige, was wirklich Wert besitzt, ist das Kreuz Christi, das Blut, das Er für unsere Sünden
vergossen hat; das allein besitzt Kraft. Der Apostel Paulus sagt uns: Der Vater hat uns tüchtig
gemacht (Kolosser 1,12). Das heißt: Er hat uns Sündern die Möglichkeit gegeben, durch den
Glauben teilzuhaben an dem Erbteil der Heiligen im Licht. Das einzige Mittel zum Heil, das dem
Sünder bleibt, besteht darin, daß er sich vollständig lossagt von der irrigen Vorstellung, er besitze
irgendeinen moralischen Wert in sich selbst. Stattdessen muß er sich dem Erlösungswerk Christi
zuwenden und daran von ganzem Herzen glauben, das heißt: darin ruhen, sich darüber freuen
und den Herrn dafür preisen.
Von Anfang an ging es Metallinos in seinem öffentlichen Dienst nicht darum, die Lehren der
modernen Orthodoxen Kirche einer Prüfung zu unterziehen oder sie zu verurteilen. Es lag ihm
mehr daran, die positiven Seiten des evangelischen Glaubens darzulegen.
"Ich glaube", bedeutete für Metallinos, "ich nehme jedes Wort und jede Gnade, die Gott mir in
Jesus Christus anbietet, mit völligem Vertrauen an." Er gebrauchte eine Vielzahl von Bildern, um
zu erklären, wie Glaube geschieht. Manchmal pflegte er den Glauben mit einem Seil zu
vergleichen, das den Sünder aus der tiefen Grube der Verzweiflung zieht. Manchmal mit einem
"eingepfropften Reis", das die wilde ungezähmte Natur des Menschen zu einem brauchbaren,
wertvollen Leben mit ewiger Bestimmung verwandelt. Bei anderen Gelegenheiten mit einem
Rettungsring, den ein Mann ergreift, der im Begriff ist, in einem Meer dunkler und widriger
Umstände zu ertrinken. Dann wieder mit einem Flugzeug, das den bußfertigen Sünder zu der
luftigen Höhe der großen göttlichen Lebensplanung emporhebt. Doch meistens pflegte er von
dem Glauben zu reden, der allein in der Lage ist, dem Sünder einen festen Stand in der
Gegenwart Gottes zu geben. Er schrieb:
Im Gegensatz zu der ichhaften Meinung der Menschen, daß man durch Werke mit Gott
zurechtkommt und so einen festen Stand vor den Augen Gottes erhält, zeigt uns der aus Liebe
und Gnade geborene Plan Gottes mit der Menschheit, wie er uns im Neuen Testament begegnet,
einen anderen Weg. Diese gesegnete Versöhnung, diese wunderbare "Zurechtbringung der
Dinge", diese Rechtfertigung wird von dem Sünder durch ein ganz einfaches Mittel erlangt, das
für alle erreichbar ist, durch den schlichten Glauben an Christus, durch ihn allein. Das
Evangelium Christi bezeugt, daß uns der Glaube diese segensreiche Rechtfertigung, von der
alles abhängt, umsonst gibt.
Der Glaube ist auch das Sittliche, der Geist des Sieges und Triumphes im Leben eines Christen.
Der Herr möchte, daß die Seinen Herren sind über die eigenen Lebensumstände, Vollmacht
ausüben, herrschen und jede Macht des Feindes überwinden. Weil Er uns zu Königen gemacht
hat, will der Herr, daß wir auf dem Thron sitzen. Das bedeutet, wir sollen einen überwindenden
Glauben leben; das heißt: wir sollen über unsere Lebensumstände herrschen, über unsere
Sünde, über die Macht des Feindes, über das Leiden und das alles, weil wir durch den Glauben
mit dem erhabenen und siegreichen Herrn vereint sind.
Metallinos lehrte darum, daß sich der Glaube vor allem auf drei Weisen darstellt: Er ist der
einzige Weg, das Heil durch Christus zu erlangen, die einzige Bedingung für die Erfüllung der
Verheißungen Gottes in unserem Leben und der einzige Kanal für die Kraft und den Sieg Christi.

Das Wort Gottes und die Traditionen


Die sogenannten "mündlichen Traditionen" waren der zweite wichtige Gegenstand, der von
Anfang an die Aufmerksamkeit der jungen Gemeinde fand. Die Heilige Schrift enthält die völlig
ausreichende Wahrheit über das Heil des Menschen. Für Metallinos bestand darin von Beginn an
die Grundlage für sein Lehren und Predigen.
Auf die Argumente der Orthodoxen Kirche, die so entschieden an dem Wert und an der Autorität
der mündlichen Tradition festhielt, gab Metallinos folgende Antwort: Findet sich eine christliche
Wahrheit sowohl in der Bibel als auch in der mündlichen Tradition, dann reicht die Autorität der
Bibel ohne Zweifel vollkommen aus. Wir brauchen keinerlei Unterstützung durch die Tradition.
Keine dieser Traditionen störte Metallinos mehr und fand bei ihm größere Beachtung als die
Lehre, daß man seine Sünden nicht unmittelbar Gott, sondern dem Priester bekennen müsse.
Nachdem sein Beichtvater ihn fortgeschickt hatte, hatte die Frage "Wie vergibt Gott Sünden?"
angefangen, sein Gewissen zu beunruhigen. Obschon er sofort Schritte unternommen hatte,
einen anderen Beichtvater zu finden, war zur gleichen Zeit sein Interesse wachgeworden. So
begann er, in der Bibel nach einer Antwort auf diese schwierige Frage zu suchen. Es war ihm
unmöglich, zu erklären, warum sich das Neue Testament über die Teilnahme des Priesters an
der Vergebung völlig ausschwieg.
Er litt unter einem doppelten Zwiespalt: Warum hören Priester Sündenbekenntnisse und
vergeben Sünden, wenn doch die Apostel selber niemals Sünden "bekannten" oder die Sünden
eines Sünders vergaben, ja es sogar ablehnten, solche Art von Sündenbekenntnissen
anzunehmen. Er sah sich zu der Schlußfolgerung geführt, daß das heutige Dogma, welches dem
Priester die Vollmacht gibt, Sündenbekenntnisse eines Menschen anzunehmen nicht
apostolischen Ursprungs ist, weil dieses Dogma in der apostolischen Kirche völlig unbekannt war.
Als er diese Angelegenheit mit einem gebildeten Mitglied des Klerus besprach, erinnerte ihn
dieser an die Worte des Herrn: "Welchen ihr die Sünden erlaßt, denen sind sie erlassen; und
welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten" (Johannes 2o,23). Und er fuhr fort, zu erklären,
daß unser Herr diese Worte zu den Apostel gesagt habe, daß die Apostel die Priester als ihre
Nachfolger zurückgelassen haben und daß die Priester demzufolge in Übereinstimmung mit dem
Gebot des Herrn die Vollmacht besitzen, die Sünden der Menschen zu vergeben oder zu
behalten.
Obgleich die Schlußfolgerung des Geistlichen einfach klang, schien es Metallinos schwierig zu
sein, das zu begründen. Denn wenn der Herr mit diesem Gebot seinen Aposteln wirklich die
Macht verliehen hatte, Sünden zu vergeben, warum handelten dann diese nicht
dementsprechend? Warum machten sie nicht von ihrem Vorrecht Gebrauch, statt den Menschen
zu sagen, sie sollten unmittelbar zu Gott gehen und ihre Sünden bekennen. Diese Überlegungen
führten Metallinos zu dem Schluß, daß die Apostel die Worte des Herrn sicher nicht so gedeutet
hatten wie sein geistlicher Freund.
Sein anderer Zwiespalt war dieser: Wenn es stimmte, daß Gott nur durch die Vermittlung der
Priester Sünden vergibt, warum fügten dann die Apostel, die doch von Gott inspiriert waren, nicht
noch fünf Worte hinzu (die Worte "durch die Vermittlung des Priesters"), wenn das so wesentlich
für die Vergebung ist. Metallinos bemerkte dazu in seinen Aufzeichnungen:
Es ist, als wenn jemand sich in Todesgefahr befindet. Der Arzt verschreibt ihm ein
unvollständiges Rezept (das dem Patienten nichts nützt) und versäumt es absichtlich, mit
wenigen Worten die nötigen Medikamente aufzuschreiben, ohne die der Patient sterben würde
oder wenigstens nicht geheilt werden kann.
Es war eine feststehende geschichtliche Wahrheit, wenigstens für Metallinos, daß die Alte Kirche
keinerlei apostolische Tradition besaß, die nicht in der Schrift stand. Sie gebrauchte auch den
Ausdruck "Tradition" nicht, um damit mündliche Lehren zu bezeichnen, die für das Heil des
Menschen wichtig sind, aber nicht niedergeschrieben werden sollten.
Eine völlige Zerstörung der Wahrheit findet dort statt, wenn man, wie es einige tun, lehrt, daß es
Traditionen gibt, die, obwohl sie nicht in der Heiligen Schrift stehen, der Bibel gleichgeachtet
oder, was noch schlimmer ist, sogar über die Bibel gestellt werden müssen.
Kann es möglich sein, daß der allweise Gott die Vorbilder, Anweisungen und Symbole mit
solchen genauen Einzelheiten in das Alte Testament aufnahm, wobei er sogar so weit ging, das
Rezept für die Herstellung des Rauchopfers anzugeben, während er andererseits im Neuen
Testament wichtige Lehren ausließ, die mit dem überaus wichtigen Gegenstand des Heils des
Menschen zu tun hatten? Solch eine Annahme ist für uns nicht nur völlig unvorstellbar, sondern
sie ist auch eine Beleidigung der Weisheit Gottes.
Früh hatte die kleine Gemeinde im Licht der Schrift klare und gültige Überzeugungen
herausgestellt, die die grundlegenden Wahrheiten des Glaubens, des Heils und der mündlichen
Tradition betrafen. In allen anderen Fragen schritt sie in der Gewißheit vorwärts, daß der Herr sie
nach Seiner Verheißung "in alle Wahrheit" leiten werde.
Das Ringen mit dem Satan

"Gott stellte mich in das Lager Satans, damit ich die Strategie Satans kennenlernte. Das war für
meine späteren geistlichen Aufgaben notwendig.
Ungefähr ein halbes Jahr, bevor er mit der Orthodoxen Kirche brach, begann für Metallinos die
schmerzvollste Erfahrung seines Lebens. In dieser Zeit begegnete er in einer sehr wirklichen
Erscheinung dem Engel der Finsternis von Angesicht zu Angesicht. Dieser sprach zu ihm,
verspottete ihn mit lautem, grimmigen Gelächter und drohte, ihn zu töten. In den folgenden zehn
Jahren erlebte Metallinos immer wieder Zeiten, in denen er sich ziemlich eigenartig verhielt.
Er selbst erzählte seinen Freunden von einem solchen dramatischen Ereignis:
Als ich auf meinem Bett ausruhte, erschien mir gegenüber plötzlich eine abscheuliche
dämonische Gestalt mit grimmig lachendem Angesicht und drohenden Augen. "Ich werde dich
töten, ich werde dich töten", rief er mir zu. "Sieh doch, sieh doch! Hörst du es?", sagte ich voller
Erstaunen zu meinem Freund, der damals zum Gebet in meinem Zimmer weilte. "Ich sehe ihn,
ich sehe ihn auch", antwortete mein Freund und fügte hinzu: "Fürchte dich nicht, er kann uns
nicht schaden. Jesus Christus wird es nicht zulassen, daß er uns schadet." Das ganze
Geschehen dauerte nur wenige Sekunden.
Für dieses Erleiden, für diese Zeit der Versuchung, gibt es unterschiedliche Erklärungen. Einige
sagten, Metallinos habe einen Nervenzusammenbruch erlitten. Andere meinten, er würde von der
Jungfrau Maria bestraft und von den Heiligen, weil er sie nie in seinen Predigten erwähnte.
Wieder andere sahen in seinen schmerzhaften Erfahrungen einen Eingriff Gottes, der seinen
verheißungsvollen Knecht reinigen und zubereiten wollte.
Als er anfing, die ersten beunruhigenden Symptome zu verspüren, predigte er noch in der
Orthodoxen Kirche. Die langen Zeiten der Schlaflosigkeit verbunden mit nervösen Spannungen
und schweren Kopfschmerzen hielten an und raubten ihm nach und nach die Kräfte seines
Leibes und seines Geistes. Er besuchte einen Arzt nach dem anderen. Ihre Diagnose lautete:
Körperliche und geistige Überanstrengung und Erschöpfung.
Nach schweren Kämpfen mit sich selbst war er in der Lage, in seinem neuen Kreis seinen
Predigtdienst und andere geistliche Tätigkeiten wieder aufzunehmen, jedoch immer gegen den
starken Widerstand seines Nervensystems. Immer wieder machten ihn seine Kopfschmerzen zu
allem unfähig, und es dröhnte in seinen Ohren, als ob sie von einem Schmiedehammer getroffen
worden wären. Bis 1922 fuhr Metallinos mit verzweifelter und entschlossener Ausdauer fort zu
predigen. Dann ereignete sich das, was er später so darstellte:
Eines Abends sprach ich über die Versuchungen unseres Herrn. Als ich die zweite Versuchung
erklärte, wurde ich plötzlich blitzartig von einer geistigen Verwirrung ergriffen, die mich zwang,
mitten in der Veranstaltung zu gehen. Erst nach sechs Monaten konnte ich meine Lehrtätigkeit
wieder aufnehmen.
Doch obwohl er nach sechs Monaten erneut anfing, die Veranstaltungen zu halten, fühlte er sich
zu elend, um seine Pflichten richtig wahrnehmen zu können oder das Programm eines ganzen
Tages durchzuhalten.
Sein häufiges Aussetzen mit jeglicher geistlichen Tätigkeit, sein Fernbleiben von der christlichen
Gemeinde und jeglicher anderen Gesellschaft und das Fehlen des regelmäßigen Betens, das
alles waren Anzeichen einer neuen inneren Krise. Nachdem er ein weiteres Jahr hart gekämpft
hatte, ließ er zuletzt "seine Arme sinken", denn, so erklärte er: "Mein ganzes Nervensystem bebte
und war so belastet, daß ich weder reden, noch studieren oder schreiben konnte.
Oft wenn er sich in der Gesellschaft anderer Menschen befand, besonders wenn er Gesprächen
über religiöse Themen zuhörte, pflegte er plötzlich die Gruppe zu verlassen und sich in sein
Zimmer zurückzuziehen, um dort allein zu sein.
Doch jede Prüfungszeit, die ein Christ durchzustehen hat, muß irgendwann ihr Ende finden. Im
Buch der Offenbarung kündigt Gott der Gemeinde in Smyrna an, daß sie zehn Tage in Trübsal
sein wird, nicht mehr. Ganz gleich, ob es sich um zehn Tage handelt oder wie bei Metallinos
um zehn Jahre, es gibt eine zeitliche Grenze, die Gott festsetzt.
Als die Tage der Prüfung sich dem Ende zuneigten, zeigte Gott endlich an, daß Seine
festgesetzte Stunde gekommen war, in der Metallinos von den Anläufen Satans befreit werden
sollte. Diese Befreiung brachte ihm keine plötzliche und vollkommene Heilung. Er sprach von
"Befreiung". Sie kam nicht durch ein Arzneimittel zustande, das die menschliche Wissenschaft
liefern konnte, sondern allein durch das Gebet. Es ereignete sich so:
Es war Sonntag, der 17. Januar 1927. Sieben seiner Glaubensbrüder besuchten Metallinos, um
miteinander zu beten. Ihre einzige Bitte war "die Heilung von Bruder Kostas". Ein Augenzeuge
beschreibt das eindrückliche Geschehen:
Sobald Metallinos hörte, warum die Brüder gekommen waren, verließ er sofort das Zimmer. Er
wollte kein Gebet hören, davon sollte nicht einmal gesprochen werden. Trotzdem knieten die
sieben Brüder nieder. Nachdem sie zwei Stunden lang ernsthaft gebetet hatten, betrat Metallinos
das Zimmer und fragte voller Erstaunen: "Meine Brüder, habt ihr etwa für mich gebetet? Ich
verspüre ein Gefühl der Erleichterung. Der Druck in meinem Kopf ist gewichen. Ich höre nicht
länger das Hämmern und Klingeln in meinen Ohren. Mein Kopf ist klar." Als die Brüder ihm das
bestätigten, kniete er mit ihnen nieder. Unverzüglich salbten sie Kostas mit Öl im Namen des
Herrn. Dann beteten sie drei Stunden lang weiter. Als sie sich von ihren Knien erhoben, glänzte
das Angesicht von Metallinos.
Zum ersten Mal nach Jahren begannen seine nervösen Beschwerden abzuklingen. Fast einen
Monat dauerte es, bis er wieder zu sich selbst fand, sein früheres inneres Gleichgewicht
wiederhergestellt war und er sein neues Leben gestalten konnte. In diesem Zeitraum hörte sein
merkwürdiges Verhalten auf. Nach und nach wurde für ihn das Gebet zu einer täglichen innerern
Notwendigkeit. In seinem Inneren herrschte nun Frieden.
Nachdem Metallinos zehn Jahre lang durch die schreckliche Wildnis der Versuchung gegangen
war, führte ihn der Herr aus der Bedrängnis auf das weite Feld des überfließenden Lebens.
Gereinigt, wiederhergestellt und fähig zum öffentlichen Dienst kam er hervor. Die folgende
Aufzeichnung aus seinen persönlichen Papieren, klingt wie der Siegesruf einer Fanfare:
Am Mittwoch, dem 9. Februar 1927, morgens um halb acht fand meine vollständige Befreiung
durch den Sohn Gottes statt. Wir lasen gerade den Bericht über die Auferweckung des Lazarus.
Preis sei Jesus Christus, der mich aus der Bedrückung das Teufels befreit hat.
Natürlich findet sich der Ausdruck "Bedrückung des Teufels", mit dem Metallinos hier seine
Krankheit beschreibt, in keinem medizinischen Lexikon. Untersuchte ein heutiger Psychiater
seine Krankheit, würde seine Diagnose auf das Vorhandensein einer nervösen Erschöpfung,
möglicherweise auf eine Psychoneurose hinweisen. Er würde dann versuchen die Ursachen zu
entdecken, die zu diesen Störungen führten.
Der Wissenschaftler hat dazu das Recht. Aber er hat nicht das Recht, entschieden und von
vornherein auszuschließen, daß übernatürliche Kräfte in der Lage sind, solche Störungen
hervorzurufen.
Der Wissenschaftler wird niemals die Existenz des Teufels durch seine Forschungen im
Laboratorium beweisen können, noch wird ein Chirurg mit seinem Seziermesser jemals die
menschliche Seele finden. Die Welt des Geistes und der Bereich der christlichen Wahrheit
besitzen Gründe und Beweise, die über die Reichweite der Sinne hinausgehen und sogar über
das logische Denken des Menschen. Nur der Glaube vermag das Unsichtbare hinter dem
Sichtbaren zu sehen und zwischen geistlicher Wirklichkeit und physischen Erscheinungen zu
unterscheiden. Eine solche geistliche Wirklichkeit im Bereich der christlichen Offenbarung stellen
die unsichtbaren Angriffe Satans dar, des Todfeindes der Menschen, dessen Ziel es ist, das
geistliche wie das leibliche Leben der Gläubigen zu zerstören. In diesem heftigen Kampf gibt es
nur ein Mittel, das dem Erlösten Schutz und endgültigen Sieg verleiht, die geistliche
Waffenrüstung, die Gott uns darreicht.

Die Waffenrüstung Gottes


Während seiner geistigen Schwermut lernte Metallinos wertvolle Lektionen. Am Anfang wußte er
wenig über die Person das Teufels, über sein Wirken im Verborgenen, über die große Macht, die
er besitzt. Metallinos ging durch eine äußerst schmerzhafte Zeit, bis er gelernt hatte, wer der war,
mit dem er es zu tun hatte, und wie er seinen Feind bekämpfen konnte. Er selbst bezeichnet
diese Zeit als ein "Schmoren" in der Bratpfanne Satans
Weder er noch seine Ärzte konnten zu einer richtigen Beurteilung seines Zustandes kommen. Er
wußte nicht, was sich wirklich in ihm abspielte. Es schien so, als ob all sein Denkvermögen, seine
Gedanken und seine Erinnerungen zu einem festen Knoten verwickelt waren. Er merkte, wie sein
Geist in tiefste Finsternis versank. Seine Seele glich einem Vogel in einem engen Käfig, der keine
Möglichkeit hatte, seine Flügel zu spreizen.
Angst umschloß sein ganzes Sein, besonders die Angst, daß seine Gesundheit sich auf dem
Wege zum völligen Zerbruch befände. Obgleich er nicht arbeitete und ihm organisch nichts fehlte,
fühlte er sich völlig erschöpft. Die heftigen Kopfschmerzen setzten ihm mehr zu als sein
körperliches Unvermögen. Seine Unfähigkeit zu predigen und seine Abscheu vor dem Studium
der Bibel und dem Beten ließen ihn geistlich verkümmern. Seine einzige Hoffnung bestand darin,
den "Rettungsring" der Verheißungen das Herrn fest zu ergreifen. In den persönlichen
Aufzeichnungen, die er in dieser Zeit machte, finden wir folgendes Gebet:
0 mein Gott, verleihe mir, daß ich aus diesen tiefen Wassern befreit werde. Rette mich, o Gott,
mein Erlöser, denn die Wasser strömen in meine Seele. Ich finde keinen festen Grund, auf dem
ich stehen könnte. Ich befinde mich in den Tiefen des Wassers und die Fluten überwältigen mich.
Sei mir nahe und rette meine Seele. 0 Herr, höre mein Gebet und laß mein Schrein vor Dich
kommen.
Sein Schreien erreichte tatsächlich den Herrn, und dieser öffnete nun Metallinos die Augen, so
daß er die Strategie Satans erkennen konnte.
Die erste Schlußfolgerung, die Metallinos zog, lautete: Sein mächtiger Feind gebrauchte Lügen,
um ihn zu bekämpfen. Nachdem er das erkannt hatte, stellte er sich selbst Fragen:
Wie ist es möglich, daß meine Schwierigkeiten durch zu vieles Studieren hervorgerufen werde,
(wie die Leute zu sagen pflegten und ich anfing zu glauben), wenn Gott uns auffordert, Sein Wort
"Tag und Nacht" zu studieren und unaufhörlich seine Größe zu verkündigen? Oder: Wie kann die
Gemeinschaft mit Christen meinen Kopf ermüden, wenn sein Wort sagt, daß wir die
Versammlung der Brüder nicht vernachlässigen sollen? Und dann: Wie kann das Gebet mich
erschöpfen, wenn ich weiß, daß die Gemeinschaft mit Gott meinen Geist erfrischt?
Er erkannte, daß das Ziel der bösen Geister darin besteht, unsere Gedanken durch ihre zu
verdrängen, unser Urteil durch ihres, unsere Ängste durch ihre.
Metallinos konnte nun die Ursachen seiner geistlichen Schwankungen erkennen. Er entdeckte
auch die Wurzeln seiner Ängste und woher der Verlust seiner Gesundheit kam.
Doch wie konnte er dagegen ankämpfen? Womit sollte er in seiner Kraftlosigkeit die heftigen
Angriffe des Bösen abwehren? Die Antwort lautete: indem er "den Schild des Glaubens" ergreift.
Der Teufel wird durch unseren Glauben besiegt. Gegen die Hoffnungslosigkeit, die Angst, die
Feigheit, die er in uns wirken möchte, müssen wir unseren Glauben auf Jesus Christus ruhen
lassen. Es geht um einen festen Glauben, der die Anschläge Satans abwehrt und zerstört und
der Lächerlichkeit preisgibt. Grund und Inhalt unseres Glaubens ist das vollendete Werk Christi,
die Frucht Seines vollkommenen Gehorsams. Der Herr Jesus wehrte alle Listen und alle Angriffe
des Satans ab, indem er dem Vater gehorsam wurde, sogar bis zu Seinem Tode. Und Christi
Sieg über den Teufel wird genauso unser Sieg, wenn auch wir dem Willen Gottes gehorchen und
in Christus bleiben. Mit anderen Worten: Wenn wir dem Willen Gottes gehorchen sind wir Sieger
über den Teufel; sind wir ungehorsam werden wir vom Teufel besiegt.
Metallinos konnte nun deutlicher die verschiedenen Wege unterscheiden die der Satan
anwendet. Immer versucht er ja, das sittliche und geistliche Leben der Menschen zu zerstören. Er
sah, wie er die Umstände benutzt, wie er das Herz verunreinigt, wie er das Gewissen täuscht, wie
er die Vorstellungskraft zerstört, wie er die Beweggründe für unser Handeln verdreht, wie er sich
selbst in einen Engel des Lichts verwandelt. So gebraucht er Worte und Gedanken, Gefühle und
Handlungen, um im Leben der Christen seine abgründigen Verhaltensweisen täglich zur Geltung
zu bringen.
Die Antwort auf diese so listigen Verhaltensweisen des Feindes ist einfach: Jesus Christus und
Sein am Kreuz vergessenes Blut.
Als ich noch nicht genug Erkenntnis über den Teufel besaß, meinte ich, er säße verborgen, mit
einer Flinte in einer Ecke, und sobald er einen Christen erblickt Bumm! Er würde ihn sich nicht
entgehen lassen. Ich wußte nicht, daß die Beziehungen eines Christen mit dem Teufel die
Gestalt eines Ringkampfes annehmen. Beim Ringkampf steht man seinem Gegner von Angesicht
zu Angesicht gegenüber, man spürt seinen Atem, man kommt mit seinem Schweiß in Berührung.
Metallinos spricht hier von dem Angstschweiß, der nachts bei ihm ausbrach, wenn ihn die Zweifel
an der Gewißheit seines Heils überfielen. Konnte das Fehlen der christlichen Freude bedeuten,
daß er sein Heil verloren hatte? Konnten die plötzlichen Veränderungen in seinem geistlichen
Leben die Zeichen eines Schiffbruchs sein?
Später sagte er:
Diese Fragen hielten mich oft wach und verursachten solche Angstzustände, daß mein Bett oft
mit Schweiß getränkt war. Gott öffnete mir die Augen, als ich einen diesbezüglichen Satz des
Schweizer Theologen Frédéric Godet las, der mit Entschiedenheit feststellte, daß das Heil fest
und wahr und unbeweglich bleibt, wie der Leuchtturm an der Küste, auch wenn unsere "Wogen"
auf und abgehen. Das brachte mir Stärkung, Trost, Erlösung. Ich hielt mich daran und kam zur
Ruhe.
Natürlich müssen wir einsehen, daß wir ohne die Kenntnis der Schrift keinen entscheidenden
Sieg über den Teufel gewinnen können. "Es steht geschrieben", das ist es, was den Satan
überwindet. Die eigenen Erfahrungen von Metallinos beweisen das reichlich. Während der
dunklen Tage seiner Versuchung erwies es sich als eine große Hilfe, daß er sich in früheren
Jahren Zeit genommen hatte, sich mit dem ganzen Neuen Testament vertraut zu machen. Den
Verlockungen und Anschuldigungen der bösen Geister konnte er leicht mit den gewissen
Aussagen des Wortes Gottes begegnen. Wider die Ängste und Anfechtungen der eigenen Seele
besaß er in den geschriebenen Verheißungen des Herrn ein wirksames Gegenmittel. Hier
erkennen wir, wie wichtig der Glaube an die göttliche Eingebung der Bibel ist, die vollkommene
Gewißheit, daß das geschriebene Wort und die darin enthaltenen Verheißungen unmittelbar aus
dem Munde Gottes kommen. Wir können das Wort mit der Person gleichsetzen. Auf der anderen
Seite erlangt der Feind unserer Seelen einen bedeutsamen Sieg, wenn es ihm gelingt, den
Unglauben an die göttliche Eingebung der Schrift zu wecken.
Der Unglaube straft uns wirklich sehr hart. Er beraubt uns der Segnungen Gottes. Zur Zeit des
Elia gab es viele Witwen, aber zu keiner von ihnen wurde er gesandt außer zu der Witwe in
Sarepta im Lande Sidon. Es gab viele Aussätzige in Israel, doch keiner wurde geheilt außer
Naeman. Ebenso gilt heute: "Wer anders ist Sieger als der Glaubende?"
Wo immer der Feind mit seinem Frontalangriff keinen Erfolg hat, pflegt er seine Zuflucht zu einem
Flankenangriff zu nehmen. Ein schlauer Trick, den Satan zu seinem Plan, die Seele von
Metallinos zu zerstören, benutzte, bestand darin, ihn zu weltlichem Ehrgeiz zu verlocken und
überheblich zu machen.
"Kostas, du besitzt die Erkenntnis der Wahrheit. Gott hat dir erstaunliche Offenbarungen
geschenkt. Du bist Doktor der Mathematik. Du bekleidest ein hohes Regierungsamt. Kostas, du
bist wirklich jemand. Du mußt dich über alle anderen stellen. Weil du jemand bist und weil du viel
erreicht hast, mußt du um dich eine Atmosphäre von Bedeutung verbreiten."
Daß Metallinos lernte, solchen Verlockungen in rechter Weise zu begegnen, machen seine
Aufzeichnungen deutlich, die er bei einer solchen Gelegenheit für sich machte:
Kostas, du bist nichts. Dein Ich, deine Persönlichkeit was immer das sein mag sie sind durch
Gott gekreuzigt. So steht jeder Gedanke, der dir deine Würdigkeit vor Augen stellt, und jeder
Stolz, der sich in dir regt, unter dem Verdammungsurteil des Kreuzes Christi. Sage nie etwas, tue
nie etwas, daß dich selbst in der Wertschätzung durch andere erhöht und dazu dient, Menschen
zu veranlassen, dich zu bewundern und zu preisen. Sie müssen Christus bewundern, sie müssen
Sein Wort preisen. Du selbst, Kostas, bist ein sündhaftes Geschöpf, das den Tod verdient hat. Du
kannst überhaupt nichts aus dir selbst tun. Vergiß nicht, Kostas, du bist nicht der Weinstock, du
bist lediglich eine der Reben. Als Rebe besitzt du keinerlei Vermögen, aus dir selbst Frucht zu
bringen. Jede Frucht, die entsteht, kommt von dem himmlischen Weinstock, von dem erhöhten
Christus.
Reinige mich, o Herr, von eitler Ruhmsucht und von dem Wunsch, beliebt sein zu wollen. Das
sind Feinde, die meine Seele entzünden und den Dienst des Evangeliums anpassen und
schwächen. Lösche mich aus, Vater, daß die Menschen nicht mehr mich wahrnehmen, sondern
erhebe Deinen Sohn zu der Herrlichkeit, die Ihm zurecht gehört. Zerstöre und mache zunichte
jeden Versuch Satans, mir irgendwelchen Ruhm und Ehre zuzuschreiben. Verhülle mich vor den
Augen der Zuhörer, damit Dein eingeborener Sohn sich in ihren Herzen offenbart, denn Ihm allein
gehört aller Ruhm und alle Ehre.
Die Angriffe Satans vollzogen sich manchmal in der Form von Anklagen und Verurteilungen. Oft
war Metallinos im Herzen angefochten. Doch wann immer er eine anklagende und. verurteilende
Stimme in sich vernahm, wies er diese unmittelbar mit dem folgenden Gebet ab.
0 Herr, wenn die Zurechtweisung, die ich in mir verspüre, von Dir kommt, bitte ich Dich, daß Du
mir vergibst und mich mit Deinem Blut reinigst. Wenn aber die Zurechtweisung von dem Feind
kommt, bitte ich, daß Du ihn kräftig zurückweist und mir die wahre Quelle dieser falschen
Anschuldigungen enthüllst. Und vor allem, schenke mir Deinen Frieden.
So erwuchs aus jeder verborgenen Gefahr eine neue Einsicht. Durch seine Erfahrungen in der
Schule der Anfechtung lernte Metallinos den Satan und seine Methoden kennen. Zugleich übte er
sich in der Kunst, gegen ihn Krieg zu führen. Er entdeckte, daß das ernsthafte Gebet und das
Studium des Wortes unbedingt nötig sind, um ein Siegesleben zu führen. Er flehte zu dem
Allmächtigen, alle Bande zu zerreißen, mit denen der Satan seinen Leib und seine Seele
gefesselt habe, jede satanische Falle zu zerstören, alle Festungen des Feindes bis zu ihrem
Grund niederzureißen, alle seine Bollwerke zu vernichten und die Dämonen, die sich ihm
entgegenstellten, wie eine Wolke verschwinden zu lassen. Metallinos bat Gott, er möge ihn
ausrüsten mit der Kraft Seines kostbaren Blutes und mit einem siegreichen Glauben. Er möge ihn
bei den Angriffen Satans zu einer Feuerflamme machen.
Jesus Christus ist der eine, der die Werke das Teufels an Leib und Seele zerstört. Für jedes
Leiden und für jede Krankheit schafft er Heilung. Aber dazu ist der Glaube an Ihn unbedingt
notwendig. Das heißt, man muß anerkennen, daß Er in der Lage ist, solche Wunder zu
.vollbringen. Ohne Glauben kannst du diese Quellen der Allmacht des Herrn nicht in Anspruch
nahmen. Fürchte dich nicht, glaube nur.
Nachdem Gott eingegriffen und seine Gesundheit wiederhergestellt hatte, wurden für Metallinos
die Verheißungen des Herrn zur größten Wirklichkeit seines Lebens. Sie bildeten den festen
Grund, auf den er sich immer verlassen konnte. Die Verheißung des Herrn "Seht, ich habe euch
Macht gegeben ... über alle Gewalt des Feindes" (Lukas 10,19) bedeutete für Metallinos der Ruf,
in seinem geistlichen Krieg zum Gegenangriff anzutreten.
Wir sollten um Wunder beten, damit der Vater in dem Sohn verherrlicht wird. Aber wenn ein
Wunder geschieht, darf nicht der geringste Eindruck entstehen, als ob dies das Verdienst der
Gläubigen sei. Gottes Grundsatz lautet: "Glaube, damit ich wirken kann."
Metallinos glaubte, und Gott wirkte.
Nachdem der Herr in die Krankheit Metallinos eingegriffen hatte, begann eine Zeit, in der Gott in
der kleinen Gemeinde wahrhaft große und wunderbare Taten vollbrachte. In den folgenden
achtzehn Monaten geschahen durch die Gebete der Gläubigen sofortige Heilungen an Leib und
Seele. Viele ernste Magenleiden, Lähmungen verschiedener Körperglieder, Fieber, dämonische
Besessenheit, angebotene Taubheit und andere Leiden verschwanden sofort als Antwort auf das
Gebet und die Salbung mit Öl.
In seinen persönlichen Aufzeichnungen hielt Metallinos besondere Beispiele fest, in denen Gott
unmittelbar vor ihren Augen Wunder vollbrachte.
Seiner Darstellung dieser Fälle gab er die folgende Erklärung bei, unter der Überschrift: "Geh und
sage, wie große Dinge Gott an dir getan hat."
Jeder, der von den Ereignissen seines eigenen Erlebens berichtet, um dadurch Ruhm zu
erlangen und um von den Lesern bewundert zu werden, steht im Begriff, die törichtste und sogar
lästerlichste Tat zu vollbringen, die er vermag. Wer jedoch diese Ereignisse so darstellt, daß Gott
und Sein Christus erhöht und verherrlicht wird, muß dies als seine Pflicht ansehen. Es zu
verschweigen ist ein Verbrechen äußerster Undankbarkeit gegenüber dem Herrn.
In dieser Gesinnung schreibe ich das Folgende nieder:
B.T., ein Seeoffizier, der an einigen Predigtgottesdiensten teilgenommen hatte, litt unter
Magengeschwüren. Sein Zustand wurde so ernst, daß er nur noch Molke zu sich nehmen konnte.
Als er von meiner Heilung hörte, wurde er ermutigt und bat, daß auch für ihn so gebetet würde.
Als Antwort auf das Gebet wurde er sofort geheilt.
Maria, die vierjährige Nichte das Seeoffiziers, die im gleichen Hause wohnte, erkrankte zwei
Tage später an Malaria. Das Fieber stieg auf 40 Grad und sie verlor jegliches Verlangen nach
Speise. Die Familie bat um Fürbitte für sie. Nachdem man gebetet hatte, fiel die Temperatur und
sie setzte sich auf und verlangte nach Speise. Die Folge dieser plötzlichen Heilung war, daß die
Mutter der kleinen Maria Christus aufnahm und sich der Gemeinde anschloß.
Unsere zwanzigjährige Hausangestellte wurde von Dämonen besessen so daß sich ihr Verhalten
plötzlich völlig veränderte. Sie zeigte eine starke Abneigung gegen den Namen "Christus" und
auch gegen das Gebet. Einmal versuchte sie, sich ihre Augen mit einer Nadel auszustechen.
Wiederholt versuchte sie, alle Bibeln, die in unserem Hause waren zu zerreißen. Ganz verrückt
fing sie an, sich die Haare auszureißen. Sie wurde ganz trübsinnig, und ihr Gesicht nahm einen
fremden, wilden Ausdruck an. Als man für sie betete und sie mit Öl salbte, wurde das Mädchen
ganz ruhig und fand ihr altes Wesen wieder. An ihr früheres unsinniges Verhalten konnte sie sich
nicht erinnern.
Wenige Monate später wurde dasselbe Mädchen plötzlich taub und bekam eine Schwellung im
Nacken. Zwanzig Stunden befand sie sich in diesem Zustand, als für ihre Heilung gebetet wurde.
Während das Gebets fing sie laut an zu schreien: "Ich habe Hunger, ich habe Hunger!" Ihre
Heilung geschah schnell und vollkommen.
Einer unserer Brüder in Christus, der sich wegen starker Rheumabeschwerden nicht bewegen
konnte, forderte uns auf, für ihn zu beten. Als wir für ihn gebetet und ihn mit Öl gesalbt hatten,
wurde dieser Bruder geheilt.
Diese Zeichen ereigneten sich jedoch nicht dauernd im Leben der Gemeinde. Solche plötzlichen
und eindrucksvollen Heilungen hörten nach achtzehn Monaten auf. Natürlich stimmt es, daß die
Gemeinde nie aufhörte, die Heilungskraft des Herrn an ihren Gliedern zu erfahren. Solche
göttliche Eingriffe umfaßten schrittweise Heilungen und wurden oft als das Ergebnis anhaltenden
Betens erfahren, aber es waren keine "plötzlichen" Heilungen wie in jener Zeit.
Warum wollte Gott das Leben der kleinen Gemeinde auf solche Weise bereichern?
Metallinos antwortet: "Nicht weil wir würdig waren, sondern weil Er unser Herz in der Wahrheit
Seines Wortes festigen wollte. Er wollte uns ermutigen und uns alle zu einer völligen Hingabe an
Sein heiliges Werk führen."

Durch Kämpfe vorwärts


Die Schar der Gläubigen beschloß, das Haus in der Heracleidonstraße 49 als ständigen
Versammlungsort zu benutzen. Hier trafen sie sich zum Bibelstudium und zu
Gebetsversammlungen. Hier kamen sie zusammen, um von Metallinos die Botschaft von der
Liebe Gottes zu hören. Ein Gemeindeglied gab den folgenden Bericht von dem, was sich einmal
ereignete.
Als in der Anfangszeit unserer Zusammenkünfte Metallinos an einem Abend sprach, hob er
plötzlich seine Augen zum Himmel, breitete seine Arme zu uns hin aus und sagte: "Meine
Freunde, ehe wir aus dem Leben scheiden, wird der Herr uns ein großes und ansehnliches
Gotteshaus geben."
"Reg uns nicht auf, lieber Kostas", widersprach einer der Anwesenden, "wir sitzen hier auf Kisten
und Truhen, weil wir nicht genug Stühle haben, und du willst uns glauben machen, daß wir ein
großes und ansehnliches Gotteshaus bekommen werden."
"Du darfst nicht zweifeln, du darfst nicht kleingläubig sein," antwortete Metallinos. "Wenn wir
aufrichtig glauben und beten, wird der Herr es uns geben."
Doch Gott gibt uns keine großen Gaben, ehe wir nicht treu mit dem umgegangen sind, was wir
bereits von Ihm empfangen haben. Metallinos hatte solche Treue in der Arbeit für den Herrn
bewiesen. Er hatte Ihm das feierliche Versprechen gegeben: "Ich verspreche, daß ich Dir ganz
gehören und alle Tage meines Lebens dienen will." Und von jenem ersten Tage an ist er niemals
von diesem Wort abgewichen. Sein früheres Leben mit all seinen weltlichen Plänen und
ehrgeizigen Zielen war völlig geschwunden. Es sah so aus, als ob er einen Stein in einen tiefen
Brunnen geworfen hätte, ohne im geringsten zu erwarten, daß er jemals wieder an die
Oberfläche steigen würde. Die tiefe Gewißheit, daß der Herr ihn zum Dienst an Seinem
Evangelium gerufen habe, floß oft aus dem Herzen von Metallinos in seine Feder. In der
Anfangszeit seines Dienstes für Christus schrieb er:
Christus ist meine Liebe, das heißt: das Ideal meines Lebens. Meine mich ganz verzehrende
Leidenschaft besteht darin, daß Christus mich in Seinen Dienst gestellt hat und ich an der
Ausbreitung Seines Evangeliums mitwirken kann. Das ist das Ziel, das zu erlangen mein ganzes
Leben geweiht ist.
Die neue Gemeinde hielt nun regelmäßige Gebetstreffen, setzte Abendmahlsfeiern ein und kam
zusammen, um Lieder aus ihrem eigenen neuen Gesangbuch zu singen. Die wunderbaren
Heilungen, die in der ersten Zeit unter ihnen stattfanden, bereicherten das geistliche Leben der
Gläubigen und machten sie doppelt gewiß, daß ihre kleine Gemeinde wirklich ein von Gott
gepflanzter Weinstock ist.
Zur gleichen Zeit entfaltete sich ihr Dienst an den Menschen außerhalb ihrer Gemeinschaft
wirkungsvoll und fruchtbar. Unter anderem veröffentlichten sie drei Bücher, die hauptsächlich der
Erklärung und Verteidigung der christlichen Wahrheit dienen sollten. Jeden Monat verteilten sie
eine große Anzahl von Neuen Testamenten. Und im Jahre 1925 begannen sie, eine kleine
Zeitschrift in Umlauf zu bringen, die sie Worte des Lebens nannten
Im Sommer 1928 wurde der Versammlungsort in das Haus von Metallinos in der Orpheusstraße
24 verlegt. Dort gab es angenehmere und geräumigere Unterbringungsmöglichkeiten für die
Gruppe. Dieser Ortswechsel bedeutete gleichzeitig einen weiteren Schritt vorwärts im Wachstum
und in der Entwicklung der Arbeit.
Die junge Gemeinde verhielt sich in den Dingen des Glaubens entschieden positiv und nicht
negativ. Ihre Glieder diskutierten nicht darüber, was sie von der Orthodoxen Kirche oder von
anderen Kirchen unterschied, noch lenkten sie die Aufmerksamkeit darauf, sondern sie legten
einfach die aufbauenden Wahrheiten des neuen Testaments dar und betonten besonders die
Notwendigkeit einer geistlichen Neugeburt des Menschen, die Mitte der Botschaft des
Evangeliums.
Im Laufe der Jahre ließ der Herr die Zahl derer anwachsen, die gerettet wurden. Die Gemeinde
wurde so groß, daß das Haus von Metallinos überquoll, besonders an den sonntäglichen
Gottesdiensten. Wer keinen Stuhl fand, saß auf Truhen, Betten oder Tischen, und ein Teil der
Zuhörer drängte sich draußen auf einem Balkon.
Durch die Freude und das Glück, die seiner wunderbaren Heilung folgten, erlebte Metallinos in
dieser Zeit eine ungewöhnliche Erquickung des Geistes. Die Aufzeichnungen in seinem
Tagebuch aus dem Jahre 1928 offenbaren eine wirkliche Leidenschaft, Seelen zu retten, und
entwickeln zahlreiche Ideen, um Gottes Heilsbotschaft den Massen zu bringen. Es gab Pläne,
eine christliche Zeitschrift herauszugeben mit Artikeln und Abhandlungen "für die Gebildeten, das
einfache Volk und die Gläubigen", eine christliche Buchhandlung zu errichten, eine Bibelschule
zu gründen das alles und manche andere Vorhaben bewegten ständig seine Gedanken, sein
Herz und seine Gebete.
Das Leben und Wachstum der kleinen Gemeinde hing allein ab von dem starken Arm des Herrn.
Doch bald wurde sichtbar, daß es heftige Kämpfe geben würde, wenn sie ihre eigenen
Anschauungen, ihren Predigtdienst und ihre Unabhängigkeit erhalten wollte.
Im Jahre 1926 gab es mancherlei Gespräche, um sich mit anderen Gruppen evangelischer
Gläubigen zu vereinen, aber daraus wurde nichts. Metallinos sagte in diesem Zusammenhang:
Zur Rechten wie zur Linken finden wir sowohl Wahrheitselemente als auch zahlreiche
unterschiedliche Meinungen. Wir sind glücklich, daß wir euch alle in unserem Herzen tragen, daß
wir unsere Gemeinschaft im Gebet aufrechterhalten und daß wir mit all denen
zusammenarbeiten, die Christus mit aufrichtigem Herzen ihren Herrn nennen mit allen zur
Linken wie auch mit allen zur Rechten. Die Einheit dagegen ist in Wahrheit eine Sache des
Geistes. Dazu müssen wir weder an einem einzigen Ort zusammenkommen noch uns zu einer
einzigen Körperschaft vereinigen

Der Angriff der Staatskirche


Nachdem Metallinos die Griechisch Orthodoxe Kirche verlassen hatte, vermied er lehrmäßige
Auseinandersetzungen mit deren Priestern und Theologen. Bei seinem zurückhaltenden und
bescheidenen Wesen gefielen ihm heftige Diskussionen und Streitgespräche nicht. Wurde er
gefragt: "Was bist du und was glaubst du?", so pflegte er zu antworten: "Ich bin Christ, ein
unabhängiger Sucher und Nachfolger der christlichen Wahrheit, mit der ich mich gründlich
beschäftige und die ich unter rein griechischen Gesichtspunkten verteidige, und das mit
beträchtlichem persönlichen Einsatz.
Tatsächlich legte Metallinos am Anfang seines Wirkens Nachdruck darauf, sich eher als ein
christlicher Mann der Wissenschaft darzustellen, der gegen den Unglauben kämpft, und nicht als
der Führer einer christlichen Bewegung. Als Beispiel dafür eine Erklärung, in der er dem
Ministerium für religiöse Angelegenheiten seinen Standpunkt darlegt:
Ich bin lediglich ein christlicher Mann der Wissenschaft. Als solcher habe ich das dringende
Bedürfnis empfunden, so wichtige und umstrittene Gegenstände wie den Ursprung und die
Bestimmung des Menschen, das Wesen Gottes, die Person Jesu Christi, die Autorität der Bibel
und das Leben nach dem Tode durch sorgfältige wissenschaftliche Forschungen zu untersuchen.
Ich besitze eine natürliche Neigung und eine besondere Ausbildung für wissenschaftliche
Diskussionen und habe mit Akademikern, Rechtsanwälten und hohen Regierungsbeamten zu
tun. Ich habe nicht die Absicht, sie für irgendeine Sonderlehre zu gewinnen. Ich möchte lediglich,
daß sie von ihren rein materialistischen Theorien gelöst werden und eine christliche Anschauung
annehmen, die sich auf eine gesunde, kritische und wissenschaftliche Lebensphilosophie
gründet.
Das alles ging gut, solange es in diesen Bahnen verlief. Aber das Evangelium spricht nicht nur zu
den Gebildeten und Klugen, es spricht ebenso zu den Ungebildeten. Als Prediger des
Evangeliums mußte Metallinos mehr tun, als dieses lediglich den Intellektuellen zu bezeugen. Er
mußte ebenso die Einfältigen und Ungebildeten erleuchten. Diese seine Arbeit unter dem
einfachen Volk war es, die zum ersten Zusammenstoß mit der Staatskirche führte. Der
unmittelbare Anlaß war die Bekehrung seiner Schwester Pagona zum evangelischen Glauben.
Es geschah im Jahre 1929. Pagona wurde ernsthaft krank, und die Ärzte auf der Insel Korfu
entschieden, daß sie unverzüglich zu einer Notoperation nach Athen gebracht werden müsse.
Was dann geschah, berichtet sie so:
Als ich in Athen ankam, ging ich in das Haus meines Bruders Kostas. Kaum hatte er mich
gesehen, kam er mir entgegen, nahm seinen Hut ab und erhob seine Augen zum Himmel. Er
pries den Herrn mit lauter Stimme. Dann wandte er sich mir zu und sagte: "Hab keine Angst,
Pagona, du bist nicht krank. Seit vielen Jahren bete ich dafür, daß Gott mir einen Menschen aus
meiner Verwandtschaft daheim schickt, damit er das Evangelium hört.
Ganz aufgeregt und voller Furcht wegen meiner Krankheit bat ich aufgelöst in Tränen immer
wieder: "O Kostas, ich möchte nicht ins Krankenhaus gehen. Lieber möchte ich sterben, als
operiert zu werden."
"Laß dich dann nur nicht operieren, wenn du es nicht wirklich willst", sagte er. Und dann fragte er:
"Pagona, glaubst du, daß Jesus Christus dich zu heilen vermag?"
"Ich glaube, daß Er es kann, lieber Kostas", sagte ich mit bewegter Stimme." Von da an pflegte er
an jedem Tag an meinem Bett zu knien und zu beten.
Sobald er aufgehört hatte zu beten, goß er ein wenig Öl auf mein Gesicht und rief den Namen
des Herrn an. Mein Zustand begann sich entschieden zu bessern, und bald konnte ich auf sein
und herumgehen. Am ersten Tag meiner Genesung, als ich mit meinem Bruder die Straße
herunterging, spürte ich plötzlich eine Blutung. Ich wurde ganz blaß, und mich ergriff ein
plötzliches Gefühl der Schwäche und des .Schreckens. Ich fühlte mich so schwach in den Knien,
daß ich im Begriff war umzufallen. Ich meinte, wir müßten ein Taxi rufen und sofort nach Hause
fahren.
Seine Antwort setzte mich in Erstaunen: "Fürchte dich nicht, Pagona, versicherte er mir voller
Ruhe, "das alte, verbrauchte Blut fließt heraus, damit neues, gesundes Blut durch deinen Körper
fließen kann. Kaum hatte er diese Worte gesprochen, geschah etwas in mir. Mein Zustand
besserte sich sofort, und statt nach Hause zu gehen setzten wir unseren Weg fort. Der Blutfluß
hörte auf, und von da ab hatte sich mein Zustand entschieden verbessert.
Aber da gab es noch etwas viel Wichtigeres. Die gütigen Worte und das hingebungsvolle
christliche Leben meines Bruders übten in Verbindung mit dem Studium der Bibel, die er mir
gegeben hatte, einen solch großen Einfluß auf mich aus, daß nach kurzer Zeit das herrliche Licht
Jesu Christi in meine Seele kam. So wie Gott meinen Leib geheilt und gestärkt hatte, so
erleuchtete er nun meinen Geist. Ich kam mir als jemand vor, den ich vorher nie gekannt hatte.
Als Pagona auf die Insel zurückkehrte, geheilt am Leibe und erleuchtet im Geist, begann sie von
den Wundern zu erzählen, die Gott an ihrem Leibe und an ihrer Seele getan hatte. In den Augen
der Orthodoxen Kirche erschien diese Art des Zeugnisses als Proselytenmacherei, eine
Widersätzlichkeit, die man keineswegs dulden konnte, sondern streng bestrafen mußte. Als
Pagona anfing, den Bewohnern ihres Dorfes von ihrem neuen christlichen Erleben zu berichten,
machten die beiden Priester des Ortes davon solch ein Aufheben, daß das ganze Dorf in Aufruhr
geriet. Die Sache wurde noch schlimmer, als bekannt wurde, daß sich drei enge Verwandte
Pagonas der "neuen Ketzerei" angeschlossen hatten. Polizeiliche Befragungen, Vorladungen,
Verhöre und falsche Anklagen folgten im schnellen Wechsel. Berichte erschienen in den
Zeitungen, und die "Ketzer" wurden offiziell aus der Kirche ausgeschlossen und zu Verfluchten
erklärt.
Das alles geschah in der Öffentlichkeit. Die Geistlichkeit jedoch entdeckte "hinter dem Vorhang",
daß Pagonas Bruder Kostas Metallinos, der damals Abteilungsleiter im Finanzministerium war,
hinter der ganzen Angelegenheit stand. Sofort eröffneten sie mit Zeitungsartikeln ein starkes
Feuer gegen ihn. Hier ein Auszug aus einem derselben:
Indem er von allen möglichen Tricks Gebrauch macht, ist es diesem Erzketzer, einem
Abteilungsleiter im Staatsdienst, gelungen, einige einfältige Frauen als Proselyten zu gewinnen,
indem er ihnen ketzerische und irrige Lehren darbot. So hat er seine Mitbürger dahin gebracht,
daß sie gegeneinander Stellung beziehen. Unter dem Vorwand, das Evangelium zu predigen,
sind dieser Abteilungsleiter und seine Schar wie räuberische Wölfe in unsere Herde
eingedrungen und verkünden verkehrte Lehren.
Doch wenn das, was Metallinos predigte und schrieb, "verkehrte Lehre" war, hätte doch die
Geistlichkeit im Geiste väterlicher Liebe ihre Herde ermahnen und beschützen müssen, indem sie
die falsche Lehre herausstellte und widerlegte. Sie konnte sogar den "ketzerischen"
Abteilungsleiter vor die Schranken das Gerichts ziehen, wenn sie bestimmte Anklagen gegen ihn
vorzubringen hatte. Seine geistlichen Widersacher bevorzugten jedoch eine andere Methode. Sie
zogen es vor, Metallinos von hinten anzugreifen.
Die Heilige Synode (die oberste Kirchenleitung) übermittelte dem Finanzministerium ein
Memorandum des Diözesanbischofs der Insel Korfu mit Anklagen gegen Metallinos. Darin wurde
betont, er habe es "durch seine Schwester fertiggebracht, einige einfältige und arme Christen der
Gemeinde in Korakiana durch Zuwendungen, Zeitschriften und Bücher, die er seiner
zuvorerwähnten Schwester geschickt hatte, in die Irre zu führen."
Eine Zusammenfassung der Anklagen des Bischofs wurde Metallinos von seinem Vorgesetzten
zugeleitet und mit der Bemerkung "vertraulich" versehen. Hinzugefügt war die Aufforderung:
"Reichen sie uns eine ausführliche und genaue Erklärung in Bezug auf die obigen Anklagen ein."
Ganz offensichtlich schlug die orthodoxe Geistlichkeit genau an jener Stelle gegen Metallinos zu,
wo er als Regierungsangestellter am leichtesten zu treffen war an seinem guten Rufe und vor
allem an seinen Aussichten, beruflich aufzusteigen, für jeden Beamten ein äußerst empfindlicher
Bereich.
Doch statt sich zu fürchten, zeigte Metallinos wahren Mut. In seinen persönlichen
Aufzeichnungen aus jener Zeit zitierte er oft Schriftstellen, die vom Mut und vom Sieg handelten.
Und um diese bestimmten Stellen tatsächlich seiner Lage anzupassen, änderte er die Verbform
aus der Vergangenheit in die Zukunft.
In einer Aufzeichnung mit der Überschrift "Fürchte dich nicht" schrieb er den Abschnitt Jesaja
41,9 13 ab, aber er änderte ihn so:
Du bist mein Knecht, Ich habe dich erwählt und ich werde dich nicht verwerfen. Fürchte dich
nicht, denn Ich bin mit dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich werde dich stärken; ja Ich
werde dir helfen; ja Ich werde dich verteidigen mit der rechten Hand meiner Gerechtigkeit. Siehe,
zu Spott und zuschanden werden alle, die dich hassen; sie werden wie nichts. Die Leute, die mit
dir hadern, werden umkommen. Wenn du nach ihnen fragen wirst, wirst du sie nicht finden. die
mit dir hadern, sollen werden wie nichts. Denn ich bin der Herr, dein Gott, der deine rechte Hand
faßt und zu dir spricht: Fürchte dich nichts Ich helfe dir.
Gestärkt durch Gottes Verheißungen schrieb Metallinos zu seiner Verteidigung den folgenden
Brief:
An das Finanzministerium
An Seine Exzellenz den Finanzminister
Im Zusammenhang mit der Anklage Seiner Hochwürden, des Bischofs der Insel Korfu, der mein
Privatleben angreift, ist es mir eine Ehre, ihnen die folgende Erklärung abgeben zu dürfen: Was
die Anklage betreffs der Sekte oder sogenannten Irrlehre der "Evangelischen" betrifft, so kann ich
mit Stolz sagen, daß ich in den letzten zwanzig Jahren das Neue Testament unseres Herrn Jesus
Christus geglaubt und es studiert habe. Und ich habe die wahre Freude und den Frieden
erfahren, der aus der Gemeinschaft mit dem lebendigen Christus erwächst. Die
Verhaltensweisen die ich seit zwanzig Jahren in Gegenwart aller meiner Kollegen gezeigt habe,
ist sehr wohl bekannt, und ich bin stolz, darauf hinweisen zu können, das sie unabweislich und
beispielhaft ist.
Wir haben keine neue Religion begonnen. Wir halten an dem Glauben fest, den die Apostel
lehrten, aufrichteten und auslebten. Wenn einige uns Irrlehrer nennen, so ist das ihr gutes Recht.
Doch die Inquisition wurde vor vielen Jahrhunderten abgeschafft. Heute kann jeder unter dem
vollen Schutz unserer Verfassung und unserer bürgerlichen Gesetzgebung seinem eigenen
Glauben folgen, und er besitzt die Freiheit, an Christus, Buddha, Mohammed oder sonst
jemanden zu glauben.
Was die sogenannte "Proselytenmacherei" meiner Schwester in unserem Dorf betrifft, so beruht
die ganze Angelegenheit darauf, daß einige unserer Verwandten, nachdem sie das Neue
Testament in einer Sprache gelesen hatten, die ihnen vertraut war und die sie verstehen konnten,
den Sinn der geistlichen Lehre Christi erfaßt und mit Begeisterung und Freude aufgenommen
hatten, wie es jeder vernünftig denkende Mensch tun würde. Das heißt, sie kamen zu dem
Glauben, daß man nicht durch Fastenübungen oder durch religiöse Formen und Zeremonien
gerettet wird, sondern allein durch das alles überragende Erlösungsopfer Christi. Gott möchte,
daß unsere Herzen Seine Tempel sind. Man muß täglich die Bibel in der eigenen vertrauten
Sprache lesen, damit man sie versteht und durch sie erleuchtet wird. Doch diese
Grundwahrheiten, die im Neuen Testament vom Anfang bis zum Ende klar und deutlich
verkündigt werden, genügten offensichtlich, um den erbarmungslosen Zorn der Ortspriester zu
erregen. Diese haben die ungebildeten, einfältigen Dorfbewohner mit allen möglichen
verleumderischen Anklagen aufgehetzt und die Tatbestände völlig verdreht, indem sie jene
wenigen Seelen in Verruf brachten, die dem Herrn mit neugefundenem, aufrichtigem Glauben
dienten.
Was die Anklage betrifft, daß Geld geschickt wurde, um "Proselyten zu machen", weise ich diese
gewissenlosen und unaussprechlich billigen Vorwürfe mit verächtlichem Lächeln zurück. Sie
kommen von Menschen, die sich einfach nicht vorstellen können, daß eine Bewegung für das
Evangelium entstehen könnte, die nicht mit der Erwartung irgendeiner finanziellen Belohnung
verbunden ist. Gott aber sei Dank, daß es einige Menschen mit reinen und heiligen christlichen
Motiven und Idealen gibt. Wir sind stolz, dazu gehören zu dürfen und sind nicht nur bereit, für
diese Sache einen Teil unseres Gehaltes zu geben, sondern auch, wenn es nötig sein sollte,
unser Leben für die Sache Christi zu opfern.
Ihr allerergebenster Diener
Kostas Metallinos
Die Vorgesetzten von Metallinos leiteten seine Stellungnahme an die Heilige Synode weiter. Von
da an erhoben "Ihre Hochwürden", das Bischofskollegium, keine weiteren Anschuldigungen. Er
hatte sich so verteidigt, daß Freund und Feind sehen konnten, daß Jesus Christus ihm alles
bedeutete. Metallinos würde Ihn gegen nichts anderes eintauschen. Er war bereit, alles für
Christus aufzugeben, sei es das hohe Ansehen das er gewonnen hatte, sei es seine Laufbahn
als hoher Beamter, ja sogar sein Leben.
Da er von Natur aus ein ruhiger und milde gesonnener Mann war, hätte Metallinos normalerweise
gezögert, eine förmliche und öffentliche Verteidigung seines Glaubens, seines Wirkens und
seiner Person abzugeben. Doch als seine Widersacher ihn zu heftig bedrängten, sprang er aus
seinem Graben und stürmte mit hocherhobener Fahne zum Angriff, ohne auf irgendwelche
Konsequenzen Rücksicht zu nehmen.

Familienleben
Kostas Metallinos verliebte sich zum ersten Mal, als er 26 Jahre alt war. Einige seiner
persönlichen Aufzeichnungen enthüllen die reinen und erhebenden Gefühle, die der junge Mann
empfand, als er zum ersten Mal Alcmene Kapsalis begegnete, jenem Mädchen, das er später zu
seiner Lebensgefährtin erwählen sollte.
Ihre Begegnung fand ganz zufällig statt. Ein Freund hatte Metallinos in Alcmenes Haus
eingeladen zu einer Feier anläßlich des Geburtstages ihres Bruders John. Sobald Metallinos sie
sah, verliebte er sich in sie.
In einer Eintragung in seinem Tagebuch, unmittelbar danach niedergeschrieben, schildert
Metallinos seine ersten Eindrücke von Alcmene:
Ein Meisterwerk Gottes, ausgestattet mit einem klaren Verstand und mit Schönheit. Sie übertrifft
bei weitem mein Ideal, das ich mir von Frauen gemacht habe. Eine Persönlichkeit mit
Ausstrahlung. Ihre Unschuld und Schönheit fesseln mich.
Zur gleichen Zeit schrieb er einen Brief an John Kapsalis, in dem er den Wunsch ausdrückt, seine
Schwester näher kennenzulernen, "wenn das Ihre Zustimmung findet." Aber dieses Begehren
fand bei allen Beteiligten wenig Wohlwollen.
Alcmene selbst zögerte. Unter keinen Umständen wollte sie um der Ehe willen ihre Freiheit
verlieren. Sie hatte mit höchster Auszeichnung ihr Studium abgeschlossen und begann gerade
ihre Laufbahn als Lehrerin. Alcmene war entschlossen es in ihrem Beruf zu etwas zu bringen. In
der Ehe sah sie ein ernsthaftes Hindernis, ihr großes Ziel zu erreichen. Als Christin war sie
jedoch bereit, jeden Weg zu gehen, wenn sie sah, daß er dem Willen des Herrn entsprach. Um
die Führung Gottes zu erkennen, stellte Alcmene die folgenden vier Bedingungen auf und machte
sie zu einem Gebetsanliegen. Wer immer auch ihr Lebensgefährte würde, ganz wesentlich sollte
es sein, mit ihm in engster geistlicher Gemeinschaft leben zu können. Jeglichem Versuch einer
Eheanbahnung würde sie ihre Unterstützung verweigern. Der Bewerber durfte nicht drängen.
Und schließlich durfte er nicht nach ihrer Mitgift aus ein.
Nach kurzer Zeit wurde es deutlich, daß Kostas Metallinos die Antwort auf Alcmenes Beten war.
So stand es fest, daß der voraussichtliche Bräutigam weder drängte noch nach ihrer Mitgift aus
war. Aber heimlich sehnte er sich danach, seine Erwählte so häufig wie möglich zu sehen.
Obwohl dieser Wunsch verständlich und natürlich war, wurde er für Kostas niemals zu einem
wirklichen Problem, da er von Natur aus ängstlich war. Wie könnte er es wagen, der Familie
Alcmenes eine solche Bitte vorzutragen? Die Lösung erfolgte auf eine unerwartete Weise.
Da damals Krieg herrschte, gab es einen ernsten Mangel an Brot. Das eröffnete dem jungen
Liebhaber eine Möglichkeit. Mit überlegter Planung verbündete er sich mit einem befreundeten
Bäcker, der dafür Sorge tragen sollte, daß es im Hause Kapsalis nie an Brot fehlen sollte. Der
Bäcker stimmte zu.
Kostas selbst sollte das Brot abliefern. So konnte er jeden Tag ein Lächeln und einen Gruß mit
seiner Erwählten austauschen. Ach, welch beglückendes Erleben! Kurz nachdem er Alcmene
kennengelernt hatte, versuchte er das außerordentliche Entzücken, das er in seiner Seele
empfand, mit dem folgenden Gedicht zu beschreiben, das er "Ekstase" nannte:
Aus den Tiefen, dem innersten Sein meiner Seele strömen ungebeten süße Harmonien empor;
Da ist ein himmlisches Orchester, das mich mit seinen Tönen beglückt ,Oder ein Chor von
Engeln, deren Lieder zu mir herüberschallen; Irgendetwas, irgendjemand nimmt in meiner Seele
Gestalt an und begehrt, Flügel zu bekommen und davonzufliegen, Ja, verlangt, sich von meiner
unwilligen Gestalt zu lösen. Du Ewiger, der mein ganzes Sein erfüllt, Dessen magische Kraft
fortfährt meine Seele zu ziehen, Nun gebe ich mich Dir glücklich und begierig hin. Nimm mich an,
denn nur dann werde ich ohne Qual sein.
Sieben lange Jahre sollten vorgehen, ehe endlich der glückliche Hochzeitstag anbrach. Die
verworrene politische Lage und die ungeordneten Verhältnisse, die in den Jahren nach dem
Ersten Weltkrieg herrschten, nötigten die Familie Kapsalis fortzuziehen. Eine beträchtliche Zeit
lang hatte Kostas keine Möglichkeit, seine geliebte Alcmene zu sehen. Hochzeitspläne mußten
unbestimmt bleiben, aber der zukünftige Bräutigam sorgte dafür, daß die Verbindung durch einen
regelmäßigen Briefwechsel aufrechterhalten wurde. Doch er schrieb nicht unmittelbar an seine
Braut, sondern an ihren Vater und sandte bei jeder Gelegenheit Grüße "an die ganze Familie".
Die Hochzeit fand in Callithea statt, einem Vorort Athens, in Anwesenheit des engeren
Familienkreises
Der Bräutigam war ein gut aussehender Mann von 33 Jahren. Als promovierter Mathematiker
leitete er eine Abteilung im Finanzministerium, damals die Schiffahrtsabteilung. Sein sorgfältig
gekämmtes, dunkles, lockiges Haar glänzte unter den hellen Leuchtern das großen
Wohnzimmers. Die dicken, dunklen Augenbrauen bedeckten fast seine durchdringenden,
haselnußbraunen Augen, und ein vorbildlich gestutzter Schnurrbart schmückte seine Oberlippe.
Seine ganze Erscheinung zeigte an diesem Tag Würde, Männlichkeit, Schönheit, Lebenskraft
und klaren Verstand.
Neben ihm stand seine Braut, bescheiden und besonnen, bekleidet mit einem unbefleckten
weißen Brautkleid, ihr Angesicht strahlte in Schönheit und Frische.
Die Trauung verlief einfach und kurz. Den Neuvermählten war bestimmt, sich an einem reichen
Fest an der Tafel des Lebens zu erfreuen, doch nicht sofort.
So befremdlich es erscheinen mag, am Anfang ihres gemeinsamen Lebens sollten sie sich
unvorhergesehenen Schwierigkeiten gegenübersehen. Ihre Hochzeit hatte in jener Zeit
stattgefunden, in der Metallinos noch jene sich wiederholenden Anfälle seines Nervenleidens
erlebte. Und es war zu erwarten, daß wegen dieser besonderen Zustände zu bestimmten Zeiten
dunkle Wolken die Atmosphäre des Hauses überschatten würden.
Diese Schwierigkeiten hielten ungefähr drei Jahre lang an. Aber als Gott ihn an jenem
denkwürdigen Tage im Januar 1927 heilte, fanden sein wechselhaftes Verhalten, die häuslichen
Spannungen und alle anderen Schwierigkeiten, die von seinen nervösen Spannungen herrührten
ihr Ende. Seine Befreiung erwies sich als vollkommen und anhaltend. Von da an herrschte Liebe
und Friede in ihren Herzen und in ihrem Hause.
Das tägliche häusliche Leben verlief einfach und reibungslos. Alcmene übernahm die häuslichen
Pflichten und die finanziellen Angelegenheiten. Kostas widmete sich seinen Studien und seiner
Stellung als Staatsbeamter. In ihrer geistlichen Tätigkeit blieben sie miteinander vereint, und in
allen seelischen hielten sie enge Gemeinschaft. Er predigte, lehrte und schrieb; sie half, tröstete
und diente.
Metallinos nahm die Dienste seiner Gefährtin in den kleinen Dingen des häuslichen Lebens in
Anspruch. Immer lag Alcmenes Name auf seinen Lippen, denn er pflegte sie zu rufen, wann
immer er irgendetwas benötigte. "Liebe Alcmene, würdest du, bitte, eine Telefonnummer für mich
heraussuchen?" Alcmene, bring mir, bitte, ein Messer oder etwas anderes, womit ich meinen
Bleistift spitzen kann." "Alcmene, Liebling, deck doch, bitte, den Tisch, damit wir essen können."
Seine Stimme klang freundlich, aber manchmal lag darin auch eine Spur von Gereiztheit. Wenn
der Geruch von irgendeiner Mahlzeit auf dem Herd Kostas' Appetit anregte das war oft der Fall,
weil er immer hungrig zu sein schien , pflegte er von seinem Schreibtisch aufzustehen, sofort in
die Küche zu eilen, einen großen Löffel zu nehmen und ihn mit langsamen geübten Bewegungen
einige Male in den Topf zu führen, indem er erklärte, er "koste gerade das Essen, um zu sehen,
ob genug Salz darin sei."
"Du liebe Güte, bleibst du von dem Topf weg, pflegte Alcmene zu schimpfen." Kostas legte dann
etwas enttäuscht den Löffel beiseite, doch immer verbunden mit seinem üblichen Kompliment für
die Köchin: "Ja, ja, heute gibt es bestimmt ein ganz vorzügliches Essen."
Nicht nur durch ihr gutes Kochen, sondern auf mancherlei andere Weise erwies sich Alcmene als
eine ergebene Frau, die immer bereit war, ihrem geschäftigen Ehemann zu dienen. So pflegte sie
zum Beispiel saubere, deutliche Abschriften von seinen unleserlichen Manuskripten herzustellen;
sie erinnerte ihn an seine Termine; war er erkältet, pflegte sie seinen Rücken zu behandeln.
Eine andere ihrer Pflichten bestand darin, auf die Finanzen der Familie zu achten. Alcmene hatte
ihren gebefreudigen Ehemann überredet, die Hände von seiner Brieftasche zu lassen und ihr die
ganze Verfügungsgewalt in Geldangelegenheiten zu übertragen. Sein Gehalt als Staatsbeamter
war natürlich nicht sehr hoch, obwohl es ausreichte, um die normalen Bedürfnisse der Familie zu
decken. Zuerst wurde ein Zehntel des monatlichen Gehaltes beiseite gelegt für das Werk das
Herrn. Sodann verteilte sie einige weitere kleinen Summen für die Bedürfnisse bestimmter armer
Christen. Was übrig blieb, mußte für die eigenen Bedürfnisse während des Monats reichen.
Metallinos dachte über das Geben des Zehnten so:
Ein Grund, warum manche Christen die Segnungen ihres Herrn nicht erfahren, liegt darin, daß
sie keinen Zehnten geben. Die Bedürfnisse der Familie sollten niemals zuerst in Betracht
gezogen werden. Wenn wir den Zehnten des Herrn für uns selbst verwenden, werden wir die
finanziellen Probleme unserer Familie nicht lösen. Würden wir nicht zahlen, wenn der
Finanzminister von uns eine zehnprozentige Steuer fordert? Manche sagen, der Zehnte gehöre in
die Zeit des Alten Testaments. Dann müssen wir als Christen des Neuen Testaments noch mehr
geben. Von uns Christen wird sicher mehr erwartet als von den Juden. Doch das ist nur ein erster
Schritt. Wir müssen darüber hinaus geben. Der Herr ist ein reicher Vergelter.
Immer war irgendetwas im Hause los. Neben den regelmäßigen Versammlungen, wenn die Leute
zusammenkamen, um das Wort zu hören und zu beten, schien das Haus voller christlicher
Aktivitäten. Dort trafen sich zum Beispiel die Regierungsangestellten zu ihren monatlichen
Zusammenkünften, dort wurden Traktate zum Versand fertiggemacht, dort hielt eine
Sonntagsschule für Kinder ihre Stunden. Bald erkannte Metallinos, daß geeignetere Räume dafür
nötig waren, und er erbat sie von dem Herrn. Und gewiß erhörte Gott sein Gebet. Mit einem
Darlehen das Staates erwarb Metallinos in Lahana Straße 38 ein neues Haus auf einem Hügel
Athens mit einer wundervollen Aussicht und einer überdachten Terrasse.

Lahana Straße 38
Metallinos betrachtete das neue Haus als ein "Haus Christi", darum stand seine gastliche Tür
jedermann offen. Es wurde zum Heim für die heimatlosen Verwandten, die auf Reisen waren,
zum Zufluchtsort für die Verfolgten und zum Ort der Geborgenheit für junge Leute, die keine
Freunde besaßen. Eine Lieblingsaufgabe bestand für Metallinos darin, entschieden gläubige
junge Leute als Gäste in seinem Hause aufzunehmen, die begabt waren, aber nicht die
notwendigen Mittel besaßen vorwärtszukommen. Er pflegte zu sagen:
Wenn Gott dir keine Kinder gegeben hat, heißt das, daß er dich berufen hat, die Verantwortung
für andere Kinder zu übernehmen. Werde ihr geistlicher Vater und weihe dein Leben der
Aufgabe, sie aufzunehmen und zu versorgen. Auf diese Weise könntest du zum Werkzeug für
ihre zweite Geburt werden. Diese ist wichtiger als die erste Geburt, denn es ist die Wiedergeburt
durch den Heiligen Geist.
Metallinos nahm sich vieler solcher Patenkinder an. Er beherbergte sie in seinem Hause und
kümmerte sich wie ein geistlicher Vater um sie. In einigen Fällen geschah das für einige Monate,
in anderen für etliche Jahre. Er teilte nicht nur sein Dach mit ihnen, sondern auch sein Geld und
sein Brot. Zu manchen Zeiten beherbergte und versorgte das "Haus Christi" bis zu zehn
Menschen.
In der schweren Zeit der feindlichen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs, als die Geißel
des Hungers die Menschen zu Tausenden auslöschte, entdeckten diejenigen, die Lahana Straße
38 bewohnten, eine sehr tröstliche Lektion der Schrift. Sie studierten den Bericht über den
Propheten Elia, als die Raben ihn morgens und abends mit Nahrung versorgten, und auch den
über die Witwe, deren wunderbarer Krug eine nicht versiegende Ölquelle darstellte. Diese beiden
Ereignisse bestimmten ihre Gespräche und Gebete. Brachte zum Beispiel einer der christlichen
Brüder wildes Gemüse oder ein Glas mit Syrup oder etwa trockene Erbsen in den gemeinsamen
Haushalt in Lahana Straße 38 mit, wurde er als "Rabe des Herrn" bezeichnet. In den Tagen des
äußersten Mangels, als das vorhandene Öl fast zur Neige ging, lautete die besondere Bitte bei
dem Gebet der Familie: "Herr, segne unser Öl, wie Du das Öl im Krug der Witwe zu Zarpat
gesegnet hast." Dann kam die Zeit, als der kleine Ölvorrat erschöpft war und die kleine geistliche
Gemeinschaft auf die Antwort des Herrn wartete. Immer wieder versicherte ihnen Metallinos:
Gott antwortet nicht auf unsere Gebete, indem er uns volle Körbe aus dem Himmel sendet,
sondern indem er bestimmte Menschen als Seine Werkzeuge gebraucht. Er bewegt die Herzen
und läßt so das geschehen, was Er will und wünscht.
Und genau das geschah im Falle des Öls. Eines Tages war Metallinos im Begriff ins Büro zu
gehen, als er jemanden rufen hörte: "Kostas, Kostas!" Es stellte sich heraus, daß es der Besitzer
einer Fabrik war, den er kannte. Komm morgen bei meiner Firma vorbei. Ich möchte dich gerne
sprechen. Und bring einen Behälter mit. Ich möchte dir gerne etwas von dem Olivenöl geben, da
ich für meine Angestellten einkaufe."
Am nächsten Tag ging Metallinos hin und nahm einen zwei Liter fassenden Krug mit. Mit seinem
Behälter voll Öl in bester Qualität ging er wieder weg. Der Spender fügte hinzu: "Schicke jede
Woche jemanden, damit der Krug wieder nachgefüllt werden kann." So fehlte bis zum Ende des
Krieges niemals der Vorrat an Olivenöl in Lahana Straße 38. Die Hausbewohner bezeichneten
den Besitzer der Fabrik als "der Krug".
Bei Metallinos finden wir alle Kennzeichen eines glücklichen und frohen Lebens, das völlig Gott
hingegeben ist. Der Tag daheim begann mit dem Singen geistlicher Lieder. Er neigte dazu, diese
etwas in die Länge zu ziehen, aber er sang sie mit tiefer Empfindung. Er pflegte zu sagen:
Wenn wir Kinder Gottes wirklich die große Liebe kennen, die uns unser himmlischer Vater
erzeigt, würden wir wie die Vögel Tag und Nacht vor Freude singen.
Im Haus von Metallinos gab es immer viel zu lachen. In seinen Adern schien Humor und
gesunder Spaß zu pulsieren. Es bereitete ihm viel Freude, Verse mit humorvollen Wortspielen zu
machen oder kluge, witzige Bemerkungen, um Freunde zu necken. Diese Verhaltensweise störte
Alcmene sehr. Oft pflegte sie ihn zu unterbrechen, um ihn von seinen witzigen Sprüchen mit der
ernsten Zurechtweisung abzuhalten: "Du liebe Güte, willst du nicht mit deinem Necken und
Sticheln aufhören?" Doch die Neckerei von Kostas war so harmlos, daß keiner befremdet war,
der sie hörte, auch die nicht, auf die er es abgesehen hatte. Im Gegenteil, im Geheimen erfreute
sie sein glänzender Humor. Metallinos machte es ebenso Freude, wenn andere ihn neckten.
Einmal blieb ein Gast, der zum Essen eingeladen war, an der Tür stehen und sagte voller Scherz,
indem er einen etwas dramatischen Ton anschlug: "Was sehe ich, Kostas! Du hast gewaltig
zugenommen, mein Junge! Oh, oh, das ist schlimm, das ist sehr schlimm!"
Metallinos lachte von Herzen über diese Beobachtung und erwiderte: "Ich glaube, du hast noch
nie in der Bibel gelesen: 'Wer sein Vertrauen auf den Herrn setzt, den macht Er fett.' Was mich
verwundert und bedrückt, ist, daß du so hager wirst."
Ganz gleich, welches Essen auf dem Tisch der Familie stand, immer pflegte Metallinos Gott für
Seine guten Gaben zu danken. Er wußte, wie es ist, Überfluß zu haben, und wie es ist, Mangel
zu leiden. Bestand zum Beispiel während des Krieges die Mahlzeit nur aus etwas Maisbrot und
einigen Oliven oder gelben Erbsen, pflegte er zu beten: "Herr, segne diese Speise und gib, daß
sie in unserem Körper wie Kotelett und Hähnchen wirkt, so daß wir die körperliche Kraft
gewinnen, Dir zu dienen."
Man sprach über Ernstes und Leichtes, unter geistlichen Gesichtspunkten oder auch nicht. Hier
sind einige seiner charakteristischen Aussprüche und Bemerkungen:
Wenn ich in den Himmel komme, will ich die ersten hundert Jahre zu Füßen meines Herrn sitzen
und Tränen der Dankbarkeit weinen.
Als er einmal gefragt wurde, ob er sich auf seiner ersten Reise mit dem Flugzeug gefürchtet
habe, antwortete Metallinos: "Wenn ich gehe, setze ich mein Vertrauen auf meine beiden Füße
und auf den Herrn. Doch wenn ich mit dem Flugzeug fliege, setze ich mein Vertrauen auf Gott
allein. So fühle ich mich, wenn ich fliege, sicherer."
Das Verlangen, der neuesten Mode zu folgen, stammt vom Teufel. Eine Braut kam einmal zu
ihrer Trauung in die Gemeinde und trug ein völlig unpassendes Brautkleid. Es ist traurig, wenn
die Modemacher von Paris in der Kirche Jesu Christi den Ton angeben. Allen, die in meiner
Gemeinde getraut werden wollen, habe ich klar gemacht, daß sie anständig gekleidet sein
müssen, nicht halbnackt. Wenn nicht, verlasse ich die Kanzel und lasse sie sich selbst trauen.
Unsere Herzen sollten denen der kleinen Kinder gleichen. Es stimmt, daß sie manchmal Streit
haben. Aber ehe man sich es versieht, haben sie eingelenkt und spielen wieder miteinander.
Wie undankbar und töricht sind wir, was unser Verhältnis zu Gott betrifft und wie wir mit Ihm
umgehen. Nehmen wir an, eines unserer Augen ist schwer krank und der Arzt empfiehlt es zu
entfernen, damit nicht auch das andere Augen Schaden leidet. Wir gehen dann zum Arzt und
sagen ihm: "Bitte, Herr Doktor, entfernen sie das Auge, ich werde sie dafür bezahlen." Und nach
der gelungenen Operation sagen wir ihm: "Hier ist das Geld für die Entfernung meines Auges, ich
möchte die Hand küssen, die die Operation ausgeführt hat." So gehen wir mit Menschen um.
Aber wenn Gott uns etwas widerfahren läßt, erheben wir lauter Anklagen gegen Ihn. 0 welche
Geduld zeigt der Herr, wenn er an uns handelt!
Christus sagt, wir sollen unseren Feinden Gutes tun, wenn sie uns Böses tun. Wenn ein
psychisch kranker Mensch seinen Arzt tritt, wird dieser keine Vergeltung üben und ihn auch
treten. Er wird zu der Schwester sagen: "Geben sie dem armen Kerl, der mich eben getreten hat,
ein Beruhigungsmittel. Er scheint es nötig zu haben."
Viele dieser Einfälle kamen Metallinos, wenn er an milden Sommerabenden auf die Dachterrasse
von Lahana Straße 38 stieg, um auszuruhen und nachzudenken. Dort unter dem Eindruck des
Himmels von Athen, wo die zahlreichen Lichter der Stadt um ihn und über ihn ein strahlendes
Panorama erzeugten, konnte man ihn leise betend oder im Selbstgespräch antreffen, während er
auf der Terrasse langsam auf und ab ging. Er mochte ein theologisches Problem bedenken oder,
indem er fest auf einen Punkt am Horizont schaute, sich über den Reichtum der göttlichen
Wahrheit freuen, die in Jesus Christus offenbar geworden ist.

Seine Vorstellungen von der Ordnung der Ehe


Die Anschauungen, die Metallinos über die Ehe hegte, glichen den hohen Vorstellungen, wie sie
der Apostel Paulus ausdrückt. Die Ehe ist weder eine Art fleischlicher Austausch noch in
irgendeiner Weise eine geschäftliche Transaktion. Die Ehe bedeutet die Verbindung zweier
Menschen zu einer göttlichen Einheit, um so die reinste und heiligste Form der Liebe
hervorzubringen
Die Ehe ist ein heiliges Bündnis. Sie ist eine Darstellung, eine Erfüllung, eine praktische
Verwirklichung des Geheimnisses der Liebe Christi (dargestellt durch den Mann) zu der
Gemeinde (dargestellt durch die Frau). Gott möchte, daß die Liebe Christi auf menschlicher
Ebene nachgebildet wird, die Er erweist, indem Er uns arme Sünder durch ein Heil rettet, das
unbeschreiblich herrlich ist und in alle Ewigkeit währt. Er möchte, daß diese Liebe zwischen zwei
Herzen, einem Mann und einer Frau, erneut dargestellt wird, sei es in einer armen Hütte, in
einem Haus oder in einem Palast.
Das folgende Bekenntnis zeigt sein übermenschliches Begehren, den Himmel zu erreichen, ohne
die Berührung mit der Erde zu verlieren. So suchte er seine menschlichen, romantischen Gefühle
in göttliche zu verwandeln. Er wollte die ideale Liebe darstellen und sich ihrer als christlicher
Ehemann erfreuen. Dieses Bekenntnis fand sich in seinen privaten Aufzeichnungen und war an
seine Lebensgefährtin gerichtet:
Aus dem gewaltigen turbulenten Strom des Lebens hat Gott uns beide auf der Bühne dieser
gegenwärtigen Welt zusammengebracht. Es ist diese wirbelnde Welt, in der sich Menschen
begegnen, ohne erkannt zu werden und ohne sich zu kennen, jeder geht in eine andere
Richtung. Gott brachte uns auf denselben Weg, damit wir uns begegnen und von nun an für
immer miteinander gehen. Damit wir miteinander in eng verbundener Gemeinschaft Sein Lob
singen. Damit unsere Liebe und Anbetung wie ein Rauchopfer zum Thron unseres ewigen
Erlösers aufsteigen. Damit unsere Seelen zwei Harfen gleichen, die in vollkommener Harmonie
Preis und Anbetung Ihm bringen, der Sein Blut für uns vergoß, um uns zu erlösen, um Sich für
uns dahinzugeben und in unserer Seele zu wohnen und unser Leben zu werden, der wahre
Pulsschlag unseres Lebens. Angesichts dieser Tatsachen sollen wir uns einander anschauen,
und unsere Herzen werden vor Freude springen. Unsere Seelen werden von Liebe überfließen.
Neben diesem ethischen und moralischen Gesichtspunkt, hat die Ehe eine weniger hohe, aber
notwendige Aufgabe ihre rein leibliche Funktion. Kinder zur Welt bringen sichert den Erhalt der
Rasse. Kinder sind in einem sehr realen Sinn das Material, das wir nach dem Willen des Herrn
für Ihn bereiten sollen, weil er einen Bau im Himmel errichten will das große und grenzenlose
Königreich des Himmels. Für Sein Königreich braucht Gott Männer und Frauen. Jeder von uns
gleicht einem geistlichen Stein, einem Baustein, der durch seine Teilhabe am Leben und Geist
Christi zubereitet wird, damit er ein Teil des großen Bauwerks wird und das Angesicht Gottes
schaut.
Metallinos empfahl auch, sich streng an die Anweisungen zu halten, die die Schrift für das
Verhältnis zwischen Mann und Frau gibt. Die Erschaffung der Frau aus der Rippe des Mannes ist
von großer Bedeutung und verdient höchste Beachtung. Bei seinen Predigten legte Metallinos
darauf großen Wert:
Gott schuf die Frau nicht aus dem Kopf des Mannes, denn Er wollte nicht, daß sie über ihn
herrschen und ihn sich untertan machen sollte. Auch schuf Gott die Frau nicht aus dem Fuß des
Mannes, denn Er wollte nicht, daß der Mann das Recht habe, sie zu treten und auf ihr
herumzutrampeln. Die Frau hat eine enge Beziehung zu der Seite ihres Mannes, nämlich zu
seinem Herzen, seiner Liebe.
Diese Bande der Liebe und Achtung zwischen Mann und Frau entstehen und werden erhalten
durch ihre geistliche Gemeinschaft. Das tägliche gemeinsame Bibellesen und Beten erinnert die
Eheleute an die göttliche Bestimmung ihrer Beziehung, belebt ständig neu ihre erste Liebe,
verhindert das Entstehen bitterer Gefühle und veranlaßt die Hausgenossen, an dem göttlichen
Leben und dem heiligen Dienst teilzunehmen. Metallinos nannte dieses geistliche Erleben
"erfrischend."
Doch Metallinos blieb hier nicht stehen. Nachdem er empfohlen hatte, das Eheleben ständig zu
"erfrischen", schlug er weiter vor, die Trauung zu "erfrischen". Er fragte die Glieder seiner
Gemeinde: "Warum sollten wir nicht ständig Hochzeit feiern?" Wie gern sah er es, wenn der
Vater und die Mutter einer großen Familie ihre Hochzeit erneuerten, indem sie wie Braut und
Bräutigam Arm in Arm durch die Gemeinde zur Kanzel kamen, sich liebevoll ansahen und ein
halbes Dutzend Söhne und Töchter ihnen folgten, während der Chor entsprechende
Hochzeitslieder sang.
Metallinos besaß keine eigenen Kinder. Aber hätte er sich zu einer solchen "Erfrischung"
entschlossen und seine eigene Trauung erneuert, wären ihm eine große Schar von Jungen und
junger Menschen gefolgt, die Kinder, die er geliebt hatte, für die er gesorgt hatte, die er
großgezogen hatte.
Ich danke Gott, daß Er meiner Frau und mir, obwohl Er uns keine eigenen Kinder gab, dennoch
die Möglichkeit schenkte, die Verantwortung für zahlreiche Kinder zu übernehmen. So können wir
sagen: Wir hatten viele Kinder, ja eine große Menge Kinder

Das Auswerfen und Einziehen der Netze


Keiner kann alles tun, aber jeder muß seine Aufgabe erfüllen", pflegte Metallinos zu sagen.
Darüber konnte kein Zweifel bestehen, daß er zum Seelenfischer bestimmt war. Wo immer er
sein evangelistisches Netz aus warf, wurde das Wirken des Heiligen Geistes sichtbar. Ob in
einem persön lichen evangelistischen Gespräch oder bei einer Predigt auf der Kanzel, in einer
kleinen Gesprächsrunde oder in einem öffentlichen Vortrag, ganz gleich welche Methode er
benutzte, immer pflegte Metallinos sich den Menschen mit Weisheit und Geschick zu nähern, so
wie es die jewei ligen Umstände erforderten. Vom Anfang seiner Laufbahn als
Regierungsbeamter an sah sich Metallinos genötigt, die rettende Botschaft des Evangeliums
zuerst seinen Mitarbeitern zu vermitteln. Viele von ihnen verhielten sich geistlichen Dingen
gegenüber völlig gleichgültig. Andere blieben ablehnend, und wieder andere spotteten über ihn
und bekämpften ihn so heftig, daß er sich wie ein Schaf inmitten eines Rudels von Wölfen
vorkam. Dennoch besaß er den unerschütterlichen Glauben, daß seine Bemühungen Erfolg
aufkommen zu lassen oder daß irgendwelche Vorwürfe gegen ihn erhoben wurden. Er tat alles,
um sein gutes christliches Zeugnis zu bewahren.
Als er zum Beispiel im Finanzamt dem Büro zur Verwaltung der Staatsausgaben angehörte,
begehrte ein Teil der Angestellten sehr, in die Kommission versetzt zu werden, die die
Wiedergutmachungszahlungen an die Flüchtlinge zu überweisen hatte. Bei der Größe der
Wiedergutmachungen, die zu leisten waren, war das verständlich. Metallinos hatte entscheidend
über die Zusammensetzung dieser Kommission zu bestimmen. Darum versuchten
verständlicherweise viele Mitarbeiter, die dorthin versetzt werden wollten, ziemlichen Druck auf
ihn auszuüben. Obwohl Metallinos auf Grund seiner Stellung und seines Ranges gerechterweise
einen Platz als stimmberechtigtes Mitglied hätte beanspruchen können, machte er sich selbst
zum Sekretär mit einer vergleichsweise geringeren Vergütung, die er mit seinem Stellvertreter
teilte, der in Wirklichkeit besser bezahlt wurde als Metallinos.
Als man ihn fragte, warum er so handle, antwortete er: "Gerade auf diese Weise konnte ich
vermeiden, die anderen herauszufordern."
Trotz des guten Zeugnisses seines Lebens als Regierungsbeamter trug die Saat des
Evangeliums, die Metallinos säte, keine Frucht. Sie fiel auf das Erdreich, damit war es aus.
Offensichtlich fiel einiges auf felsigen Grund und einiges unter Dornen. Aber die Saat, die auf
gutes Erdreich fiel, trug wirklich Frucht. Diejenigen, die zuerst Interesse zeigten, waren bereit,
sich in Privathäusern zu Gesprächen über geistliche Fragen und zum Bibelstudium zu treffen. So
entstand ein kleiner Kreis geistlich gesonnener Menschen, und Metallinos fuhr fort, andere
einzuladen, dieser Gruppe beizutreten und an den Aussprachen teilzunehmen.
Die Gegenstände, über die man sprach, wechselten, und es gab keinen bestimmten Ablauf für
diese Gespräche. Doch mit Geduld und Takt sorgte Metallinos dafür, daß die Gedanken der
Teilnehmer immer auf die Wahrheit gerichtet wurden, die rettet und frei macht. Manchmal durch
eine systematische Darlegung der Lehre über die Erlösung durch Christus, dann wieder durch ein
gründliches Studium des Johannesevangeliums vermittelte er seinen Mitarbeitern die Botschaft
von der Liebe Gottes in ihrer ganzen Tiefe und Macht.
Denen, die ein ernsthaftes Verlangen nach geistlichen Dingen zeigten, wandte Metallinos
besondere Aufmerksamkeit zu. Er pflegte sie regelmäßig in ihren Büros zu besuchen, ihnen ein
Neues Testament zu schenken und ihre Namen auf seine persönliche Gebetsliste zu setzen. Die
Frucht dieser Zusammenkünfte bestand darin, daß einige Regierungsangestellte das Licht des
Evangeliums erkannten.
George Sophronopoulos, ein früherer Mitarbeiter von Metallinos und späterer Finanzminister, gab
dieses öffentliche Zeugnis von seinem eigenen Erleben:
Während einer dieser Zusammenkünfte in unserem Gesprächskreis lasen wir den fünften Vers
von Johannes fünfzehn: "Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in
ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun."
Ich fragte Kostas Metallinos: "Aber wie kann das je möglich sein?" Er sagte zu mir: "Durch Gebet,
durch persönliche Hingabe, durch eine enge Verbindung mit dem Herrn des Lebens. Wenn Sie
Ihn von ganzem Herzen darum bitten, wird er es Ihnen geben, und Sie werden ein wahrhaft
Glaubender." In diesem Augenblick durchströmte mich etwas wie ein elektrischer Strom, vom
Scheitel meines Kopfes bis zur Sohle meiner Füße, und ich wurde in einem Augenblick ein
Glaubender. Genau in diesem Augenblick empfand ich die echte Freude, Anteil zu haben an dem
Reichtum, den Jesus für uns bereithält. Von diesem Moment an verstand ich die Größe und Tiefe
der Liebe des Herrn.
Basil Beretsos, Direktor des Außenministeriums, bezeugte öffentlich:
"Ich preise den Herrn, der Metallinos als ein Werkzeug in Seinen Händen gebrauchte, um mir zu
der Erkenntnis der Wahrheit zu verhelfen, die mich frei gemacht hat. Dieser Bruder hielt keine
Anstrengung für zu groß und zögerte nie, ungewöhnliche Methoden anzuwenden, wenn es
darum ging, einen Menschen zu gewinnen und ihn auf den Weg des Heils zu führen."
Einige frühere Mitarbeiter von Metallinos gaben ähnliche öffentliche Zeugnisse.
Voller Begeisterung über seinen Erfolg beschloß Metallinos, jede sich bietende Gelegenheit
wahrzunehmen. Er nannte die neue geistliche Bewegung: "Regierungsangestellte untersuchen
die Gültigkeit des christlichen Glaubens". Gleichzeitig traf er Vorbereitungen für eine Reihe von
Vorträgen in öffentlichen Sälen, die sich hauptsächlich mit der Verteidigung des christlichen
Glaubens beschäftigten. Mit diesem Vorträgen versuchte er immer, die geistige Führungsschicht,
die eine höhere Bildung besaß, zu erreichen. Und er hatte Erfolg. Vorträge über Themen wie
"Durch die Wissenschaft zu Gott", "Die Stellung der heutigen Wissenschaft zur Person Jesu
Christi", "Vom Wesen der Seele" und ähnliche Themen weckten das Interesse vieler Gebildeter.
Der damalige Finanzminister Papathanis wies alle ihm unterstellten Beamten an, sich mit diesen
Vorträgen von Metallinos zu beschäftigen, "weil diese dazu dienen, den Bildungsstand der
Staatsbeamten zu heben". Und Loberdos, ein anderes Kabinettsmitglied, der noch mehr von
dieser Arbeit unter den Regierungsbeamten begeistert war, meinte, sie habe eine Heilswirkung
für das ganze Land.
Da alles so gut zu laufen schien, ging Metallinos einen weiteren Schritt vorwärts. Als Vertreter
des Klubs unterbreitete er der Regierung die Bitte, das frühere Parlamentsgebäude für öffentliche
Vorträge benutzen zu dürfen, zu denen der Eintritt völlig frei sein sollte. Die Bewilligung wurde
unverzüglich erteilt. Etwa drei Jahre lang vom Herbst 1935 bis zum Sommer 1938 kamen jede
Woche zweimal große Scharen zusammen, um von der Rednertribüne des früheren griechischen
Parlaments die Wahrheiten zu hören, die die Erlösung durch Christus betrafen.
Später, während der heldenhaften Kämpfe des griechischen Volkes gegen das faschistische
Italien, wurde Metallinos am Radio Athens Redezeit eingeräumt, um durch seine Ansprachen die
Moral der Zivilbevölkerung zu stärken. Zur gleichen Zeit druckte das Amt für Öffentlichkeit der
Regierung kostenlose Flugschriften von Metallinos, die an Tausende von Soldaten an der Front
verteilt wurden.
Der Klub der Regierungsangestellten war das ideale Mittel, um die klare, seelenrettende
Wahrheit des Evangeliums über das Radio allen Schichten der Bevölkerung zu senden und alle
Ereignisse im Leben der Nation anzusprechen. Sophronopoulos, der frühere Finanzminister,
sagte treffend: "Metallinos war das Werkzeug, das Gott gebrauchte, um Griechenland in seiner
Zeit der Not zu helfen."
Lycurgusstraße 18
Die ganze geistliche Bewegung nahm eine völlig neue Form an und empfing ein neues Leben,
als die Gemeinde aus dem Haus von Metallinos in der Orpheusstraße 24 in ihr erstes eigenes
Gotteshaus umzog, ein Gemeindehaus von ansehnlicher Größe in der Lycurgusstraße 18. Dies
geschah am 7. Februar 1939. Der neue Saal besaß ungefähr 300 Sitzplätze. Trotz des Nachteils,
daß das Gebäude an einer Terrasse lag 72 Stufen von der Straße aus war die Gemeinde ganz
gewiß, daß der Herr sie dorthin geführt hatte.
Um die Öffentlichkeit von diesem kleinen Ort in Kenntnis zu setzen, verlegte Metallinos seine
Vorträge von dem alten Parlamentsgebäude nach Lycurgusstraße 18 und vermehrte zur gleichen
Zeit die Zahl der wöchentlichen Veranstaltungen der Gemeinde auf fünf. Auf diese Weise wurde
das Gesamtprogramm verbreitert und bereichert. Neben den volkstümlichen Vorträgen zur
Verteidigung des Glaubens gab es auch evangelistische Predigten, Ansprachen zur Vertiefung
des Glaubenslebens und Gebetsstunden
Im Oktober 1940 wurde Griechenland der Krieg erklärt. Im April des folgenden Jahres drangen
die feindlichen Truppen in das Land ein, um die Herrschaft zu übernehmen, zu töten und zu
verwüsten. Die Bevölkerung war entsetzt. Die Folge dieser dramatischen und tragischen
Entwicklung der Ereignisse bestand darin, daß jeder Schutz und Gnade bei Gott suchte.
Diese Umstände schufen für die verstörte Bevölkerung eine günstige Zeit, um die tröstende
Botschaft des Evangeliums zu hören. Metallinos, dessen machtvolles Wort durch seine
bewegende Redeweise verstärkt wurde, fing an, von der Kanzel aus Gottes Unzufriedenheit mit
dem Wandel der Menschen und ihrem aufrührerischen Verhalten zu verkündigen. Sein
Lieblingstext in jener Zeit stand in Jesaja 1,3: "Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die
Krippe seines Herrn; aber Israel kennt's nicht, und mein Volk versteht's nicht."
Dennoch lädt Gott jene, die sich gegen Ihn aufgelehnt haben, ein, sich wieder versöhnen zu
lassen. Er will ihnen entgegenkommen, ihre Vergangenheit übersehen und ihnen völlig vergeben.
"So kommt denn und laßt uns miteinander rechten, spricht der Herr. Wenn eure Sünde auch
blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden" (Jesaja 1,18).
"Gott sendet den Nationen und Völkern der Erde Gericht. Laßt uns für unsere bösen Taten Buße
tun, damit wir dem Zorn Gottes entfliehen, wie ein Brandscheit, das aus dem Feuer gerissen
wird", predigte Metallinos. Die Zuhörer nahmen die Botschaft wie eine kostbare, heilende Salbe
an. Tag für Tag waren die Räume in Lycugusstraße 18 brechend voll. Die Menge besetzte die
Treppe und die Dachterrasse des Gebäudes. Einige drängten sich unter die Kanzel, fast zu des
Redners. Voller Erwartung schauten sie auf zu ihm, um jedes Wort zu trinken, das von seinen
Lippen strömte. Das Wort des Herrn wirkte mächtig in dieser Zeit. An jedem Sonntag begehrten
Neubekehrte, in die Gemeinde aufgenommen zu werden. Diejenigen, die im Glauben erkaltet
waren, spürten in sich einen neuen, brennenden Eifer, während andere mit Tränen in den Augen
zu Gott schrieen und Ihn um Reinigung "von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes"
baten.
Plötzlich entstand eine weitere Schwierigkeit. An einem Sonntagmorgen im Juli 1941 erschien ein
italienischer Offizier mit dem amtlichen Befehl, den Saal unverzüglich zu räumen, weil eine
Militäreinheit dort am gleichen Tag ihr Quartier beziehen sollte. Man ließ ihnen nur zwei Stunden,
das Anwesen zu räumen.
Verwirrt und enttäuscht verließen die Leute sofort den Saal, ihre Herzen waren so leer wie der
Raum, den sie gerade verlassen hatten. Als Metallinos an jenem Morgen ankam, um seine
Predigt zu halten, verwunderte er sich über die Glieder seiner Gemeinde. Er sah, wie sie eilig
Stühle, Bücher und Möbel auf die Straße hinabtrugen. Als er hörte, was sich ereignet hatte,
schien ein Schwert seine Seele zu durchbohren. Schweren Herzens ging er die vielen Stufen zu
dem Saal hinauf, gab einige Anweisungen zur richtigen Verwendung des Mobiliars und
versuchte, die Glieder der Gemeinde zu trösten. "Seid nicht traurig, weil wir ausgewiesen worden
sind; alles wird sich zur Ehre des Herrn erweisen, versicherte er der Gemeinde. Dann warf er
einen wehmutsvollen Blick auf den Saal und ging weg. Als er die Treppe hinabging, füllten sich
seine Augen mit Tränen.
Diejenigen, die an diesem Morgen zum Gottesdienst gekommen waren, hatten es nicht eilig, sich
zu zerstreuen und nach Hause zu gehen. Zusammengedrängt blieben sie am Eingang des
Gebäudes stehen und beobachteten, ohne ein Wort zu sagen, den italienischen Offizier mit
traurigen Blicken. Sie glichen Vögeln, die zuschauen, wie eine Schlange ihr Nest zerstört.
Sie alle fragten sich, warum wohl der Herr dem Teufel gestattet habe, diese böse Tat zu
vollbringen. Ihr Rätsel wurde jedoch sehr bald gelöst. Unmittelbar nach dieser Machenschaft
Satans begann der Plan sichtbar zu werden, den Gott zuvor gefaßt hatte. Es sieht so aus, als ob
Gottes wichtigstes Werk darin besteht, die Dinge so zu lenken, daß sogar das größte Übel
benutzt werden kann, um dem persönlichen Wohl einiger der Seinen zu dienen oder dem größten
Nutzen Seiner Kirche.
Die Gemeinde blieb nicht lange ohne ein Zuhause. In derselben Woche begann Metallinos, die
Zeichen der Führung Gottes zu erkennen. Als offizieller Vertreter des "Klubs der
Regierungsbeamten" verfaßte er eine Bittschrift an das Büro des Premierministers, die er
persönlich überreichte. Diese enthielt die Bitte, "daß Sie freundlicherweise erlauben, die Halle
des Parlaments im "alten Palast" zu benutzen, die gegenwärtig nicht gebraucht wird. Hier sollen
eine Reihe von Vorträgen stattfinden, in denen den Damen und Herren der Gesellschaft Athens
geistiger Zuspruch, christlicher Trost und Wegweisung vermittelt werden, was unserem
Gemeinwesen und unserem Land zum Nutzen sein wird."
Am 4. August 1941 wurde der Bittschrift stattgegeben. Unverzüglich begannen die Vorträge, die
große Menschenmengen anzogen. Diese kamen aus allen Gesellschaftsschichten und
Bildungsstufen. Die Bewohner eines Altersheim nahmen daran teil und der wohlhabende
Geschäftsmann; der Pförtner eines Ministeriums wie der Direktor desselben; der Arzt, die
ungebildete alte Frau und der Professor. Es war eine wahrhaft schillernde Zusammensetzung der
Hörerschaft, die ein gemeinsames Anliegen hatte, den brennenden Wunsch, von den Lippen
Kostas Metallinos' die seelenrettende Botschaft des Evangeliums zu hören.
Es war ganz deutlich, daß Gott in Seiner Vorsehung dafür gesorgt hatte, daß seine Botschaft von
vielen unter idealen Bedingungen gehört werden konnte. Die Halle des Parlaments war geräumig
und anziehend und besaß bequeme Sitze. Sie lag zentral und konnte leicht von allen Stadtteilen
Athens aus erreicht werden. Da außerdem die Mehrheit der Bevölkerung wegen des Krieges
arbeitslos war und ohne ihre normalen beruflichen Pflichten, verfügte sie über genügend freie
Zeit, um sich geistlichen Dingen widmen zu können. Andererseits veranlaßten die ständigen
Ängste und Gefahren, die der Krieg brachte, viele, sich Gott näher zuzuwenden.
Metallinos erkannte die einzigartige Gelegenheit, die diese ungewöhnlichen Umstände boten.
Dreieinhalb Jahre lang predigte er dreimal wöchentlich unermüdlich von der Rednertribüne des
Parlaments aus. Die Themen, ,die er wählte, umfaßten ein weites Gebiet. An einem Tag sprach
er über die Seele und die Beweise für ihre Existenz, an einem anderen über Ehe und Familie. In
einem Vortrag konnte er Darwins Evolutionstheorie angreifen, während er im nächsten die Lehre
eines der Gleichnisse unsere Herrn zu erklären versuchte. Dann befaßte sich eine seiner
Ansprachen mit den Irrtümern des Spiritismus, während er in der nächsten Gottes Heilsplan für
die Menschen darlegte. Manchmal forderte er als Mathematiker und Naturwissenschaftler seine
Hörer auf, zum Himmel aufzusehen und die vollkommene Harmonie der Gesetze der materiellen
Welt zu bedenken, während er sie bei einer anderen Gelegenheit als Theologe zur Erde
zurückbrachte und sie veranlaßte, in die geheimen Tiefen des menschlichen Herzens zu
schauen.
Doch unabhängig von seinen Themen versäumte Metallinos niemals, in jeder Ansprache die
Hauptwahrheiten des Evangeliums zu bringen: Gottes Liebe zu dem Sünder, die Notwendigkeit
der Wiedergeburt für den Menschen, das Heil durch den persönlichen Glauben an das
Erlösungswerk Christi. Wenn wir den Segen des Herrn haben wollen, dann muß das Evangelium
in jeder Botschaft enthalten sein. Unser Mission ist die Evangelisation. Jede Woche sollten wir
dafür beten, daß Gott Menschen zubereitet.
Zum ersten Mal in der Geschichte der griechischen Nation wurde die Botschaft des Evangeliums
in seiner ganzen Schlichtheit und Kraft von so vielen Menschen während einer so langen Zeit mit
solch hervorragenden Ergebnissen gehört.
Während dieser Vorträge nahm die ganze Atmosphäre den Charakter eines geistlichen Festes
an. Die Zuhörer bekamen nie genug, den vom Herrn begabten Menschenfischer zu beobachten,
wie er unter der Leitung des Heiligen Geistes das Netz des Evangeliums in das Meer der
Menschen um ihn herum auswarf.
Tausende hörten und verstanden den Heilsplan, und eine große Zahl neuer Glaubender, unter
ihnen Professoren. Ärzte, Rechtsanwälte und hohe Regierungsbeamte, schlossen sich der
Gemeinde an.
Im März 1944 hatte sich das Kriegsgeschick gewendet, und die Italiener hielten es für notwendig,
Lycurgusstraße 18 zu räumen. Kurz danach fand die feindliche Besetzung Griechenlands ihr
Ende, und der Parlamentssaal mußte der Regierung zurückgegeben werden. Dieser Abschnitt
des Wirkens Gottes war nun zu Ende. Und so kehrte die Gemeinde in ihr altes Haus
Lycurgusstraße 18 zurück. Sie kehrten zufrieden und glücklich zurück, wie Soldaten, die beladen
mit der Beute eines erfolgreichen Feldzuges zurückkehren.
In den folgenden Monaten erwies sich Lycurgusstraße 18 als ein Gottesgeschenk. Hier war ein
Zufluchtsort, wo Männer und Frauen, die von vielen Nöten erschöpft waren und denen fast nichts
geblieben war, den Mut fanden, Loblieder zu singen und wieder zu lachen. Alle die Treuen
kamen zu jedem Gottesdienst, obwohl es als Folge des Krieges keine Verkehrsmittel gab. Einige
waren wegen des Nahrungsmangels zu Haut und Knochen abgemagert. Einige waren wegen des
Mangels an Vitaminen aufgedunsen und kaum wiederzuerkennen. Andere kamen mit hageren
Gesichtern und eingefallenen Wangen, eine Folge der Nöte, die sie während des Krieges erlitten
hatten. Einige hatten sich noch nicht von den Schrecken der Belagerungen und
Massenhinrichtungen erholt. Und andere litten noch unter Krankheiten, weil sie verdorbene
Nahrungsmittel gegessen hatten. Sie kamen alle zu Fuß, einige mit Krücken, andere schwer auf
Stöcke gestützt. Andere mußten sich an die Hauswände lehnen, um Kraft zu gewinnen. Und
wenn sie nach mühsamen und anstrengenden Wegen Lycurgusstraße 18 erreicht hatten, mußten
sie noch die 72 Stufen zum Dach des Gebäudes bewältigen. Langsam, Schritt für Schritt nahmen
sie eine Stufe nach der anderen, getrieben von dem Verlangen, den Saal auf dem Dach zu
erreichen, damit ihre Seele durch eine süße, geistliche Erquickung gesegnet würde. Sie waren
gewiß, daß Gott diese über sie ausgießen würde, besonders während ihrer Gebetsstunden und
bei der Teilnahme am Mahl des Herrn.

Metallinos als Schriftsteller


Eine andere Weise, auf die Metallinos seinen evangelistischen Dienst versah, bestand in dem
Gebrauch des gedruckten Wortes. Leider fiel ihm das Schreiben für Veröffentlichungen nicht
leicht. Er war ein lebhafter Redner, aber eher ein langsamer Schreiber. Oft benötigte er Stunden
tiefer geistiger Konzentration, um den Stoff für eine Seite zu schaffen, bis sie ihm als druckreif
erschien. Tatsächlich konnte er manchmal nach vielen arbeitsreichen Stunden, in denen er nichts
zuwege brachte, von seinem Stuhl aufstehen und erklären, er sei heute nicht fähig, einen
gescheiten Gedanken hervorzubringen. Oft neckten ihn seine Freunde, weil seine "Untersuchung
des Römerbriefes" nur so langsam vorwärtskam. Um die Tiefe der Themen, über die er schrieb,
deutlich zu machen, pflegte er zu antworten: "Ein Kaninchen bringt seine Jungen in drei Monaten
zur Welt, ein Elefant braucht dafür zwei Jahre.
Er gab sich große Mühe, seine Gedanken so deutlich niederzuschreiben, daß jeder sie leicht
verstehen kann. Um darin sicher zu sein, ging er mit einigen seiner Freunde das Geschriebene
durch und besprach sich mit ihnen über schwierige Abschnitte. Einige seiner Manuskripte pflegte
er sogar der Hausangestellten vorzulegen, einem Mädchen, das nur die Grundschule besucht
hatte. Er pflegte sie dann zu bitten, ihm zu sagen, was sie darin nicht verstanden habe.
Ehe Metallinos anfing, die Feder in die Hand zu nehmen und zu schreiben, pflegte er immer
zuerst zu beten. Er bat Christus, ihn so zu erleuchten, daß sein Schreiben so wirkungsvoll würde
"wie der kleine Stein Davids".
Für den christlichen Autor sollte sein Hauptziel nicht darin bestehen, in sich zu schauen und dort
Wahrheiten zu finden, und den besten Weg zu suchen, diese zu entfalten. Er sollte vielmehr
danach trachten, vom Himmel her zu hören, so daß das, was er schreibt, von Christus
eingegeben ist. Diese Frage nach dem Quellgrund, nach dem wahren Ursprung unseres
Schreibens, ist von höchster Bedeutung. Wo stammen die Worte wirklich her, die wir weitergeben
wollen? Kommen sie lediglich aus uns selbst, werden sie keine Frucht tragen. Kommen sie aber
von Christus, dann werden sie in den Herzen der Menschen Wurzeln schlagen und Frucht
bringen, weil sie der Heilige Geist bestätigen wird. Es hängt also von der inneren Einstellung des
christlichen Schreibers ab. Der wahre Gläubige muß beim Schreiben ständig und ernsthaft
Christus anflehen, daß Er ihm Einsicht gibt in Seine "Schätze der Weisheit und Erkenntnis", damit
alles, was er schreibt, zu seiner Ehre und zur Ehre Gottes geschieht.
Alle schriftlichen Arbeiten von Metallinos tragen ihre bestimmte Eigenart. Sowohl die Gedanken,
die er darlegt, als auch der Stil, in dem er schreibt, spiegeln etwas von seiner Persönlichkeit
wieder. Niemals folgt er in seinen Schriften allgemeingültigen Regeln und den Maßstäben fester
literarischer Formen. Freimütig schmückt er seine Sätze aus und folgt seinen eigenen Einfällen,
um an den Wahrheiten festzuhalten, die er weitergeben will. Die Wahrheiten, mit denen er sich
an den Verstand wendet, formuliert er sorgfältig und mit wissenschaftlicher Genauigkeit. Er
kleidet sie in ein schönes, kraftvolles, gelehrtes Griechisch. Wendet er sich aber an das Herz,
benutzt er das vom einfachen Volk gesprochene Griechisch und einen ernsten, ausdrucksvollen
Stil, der stark vom Gefühl bestimmt ist. In welchem Stil er jedoch auch schreibt und welches
Thema er auch immer entfaltet, stets wird in allem, was er schreibt, seine ungewöhnliche
Begabung deutlich, schwierige Dinge einfach auszudrücken und ihren Sinn ausführlich und
umfassend darzulegen.
Das Werk Christi (1922) ist die Übersetzung eines Buches von Frédéric Godet aus dem
Französischen.
Die Französische Akademie der Wissenschaft und ihre Einstellung zu Religion und Wissenschaft
(1932) heißt der Titel eines von Metallinos ins Griechische übersetzten Buches, das Ansichten
von Mitgliedern der Französischen Akademie wiedergibt.
Das Problem der Bibel (1933) verteidigt die Inspiration und Autorität der Heiligen Schrift. Es ist
besonders für Laien geschrieben. In dieser Studie, die auch in zweiter Auflage erschien,
entwickelt Metallinos zum ersten Mal seine Gedanken über die Bibel, wie Gott Sich den
Menschen mitteilt und an ihnen handelt. Dann behandelt er sein Haupt thema: den Nachweis des
göttlichen Ursprungs der Bibel.
Mehrere Jahre lang hatte sich Metallinos Aufzeichnungen über den prophetischen Abschnitt in
Daniel 9,25 27 gemacht, der sich auf die Zeit des ersten Kommens Christi bezieht. Eine
erstaunliche Weissagung über Christus (1945) handelt von diesem wahrhaft prophetischen
Abschnitt und weist auf, wie er sich se ich genau erfüllt hat. Es handelt sich um eine
Verteidigungsschrift, die die Vertrauenswürdigkeit und die Autorität des prophetischen Wortes
deutlich herausstellt.
Eine Untersuchung über den Beichtstuhl und die Vergebung der Sünden (1949) trägt einen ganz
lehrhaften Charakter.
Nun kommen wir zu dem Werk, an das Metallinos sein Herz gehängt hat, von dem er geträumt,
für das er gebetet hat, seine Untersuchung des Römerbriefs (1949).
Er plante ihre Veröffentlichung in sechs Bänden, die, wie er betonte, "das Ergebnis seines
40jährigen Studierens und Mühens" enthalten sollten. Es war ein umfassend geplantes Projekt,
das nie vollendet wurde. Metallinos konnte nur den ersten von sechs Bänden vollenden, dann
wurde er dem irdischen Leben entrissen.
Die sogenannten "wissenschaftlichen" Ergebnisse der Ungläubigen sind nicht die einzigen
Faktoren, die zur Zerstörung des Glaubens und der Hoffnung der Christen führen. Ebenso
zerstörend wirken die dogmatischen Abwegigkeiten jener, die zwar die Bibel lesen, aber durch
ihre eigenen vorgefaßten Meinungen und Vorurteile verblendet sind. Das stellte Metallinos in
seinem Buch Der Streit um die Seele heraus.
Obwohl er zuerst beabsichtigt hatte, in diesem Buch "den Irrtum der Zeugen Jehovas zu
widerlegen, die die völlige Bewußtlosigkeit der Seele nach dem Tode lehren", konnte er der
Versuchung nicht widerstehen, in dieses Buch eines seiner Lieblingsthemen einzuarbeiten: die
Existenz, das Wesen und der göttliche Ursprung der menschlichen Seele.
Ein Beitrag, der unter den Schriften von Metallinos überrascht, ist seine Darstellung einer eigenen
Methode, das Studium der Hebräischen Sprache zu vereinfachen. Diese neue Methode bot er
zuerst als deutsches Buch dar: Neue und leichte Methode der Hebräischen Sprache (1962).
Metallinos schrieb diese Grammatik hauptsächlich für diejenigen, die den Text des Alten
Testaments in seiner hebräischen Grundsprache studieren wollten. Sie trug die Widmung:
"Meinem Herrn und Heiland, Jesus dem Messias".
Eine weitere erstaunliche Entwicklung in seiner schriftstellerischen Laufbahn, diesmal in einem
völlig anderen Bereich, bestand darin, daß er eine Erzählung schrieb, die er Claudia (1954)
nannte. Hier wollte Metallinos seine Fähigkeiten auf dem Feld der reinen Dichtung erproben.
Ein weiterer Bereich der schriftstellerischen Tätigkeit von Metallinos begegnet uns in Beiträgen
über verschiedene Themen, die als Fortsetzungsreihen in christlichen Zeitschriften erschienen.

Metallinos als Dichter und Verfasser geistlicher Lieder


Metallinos liebte die Dichtkunst. Aus einer Sammlung seiner Gedichte wird deutlich, daß er über
eine beachtliche Begabung verfügte, Verse zu schreiben. Er war, noch sehr jung, als er begann,
seine ersten Gedichte zu verfassen. Obwohl diese sich nicht durch eine besondere rhythmische
Vollkommenheit auszeichneten oder literarisch überragend waren, offenbarten sie doch seine
Gabe poetischer Vorstellungskraft und zeigten eine reiche Ausdrucksfähigkeit. Seine ersten
Verse waren durch eine romantische Grundstimmung mit einer melancholischen Unterströmung
gekennzeichnet. Darin offenbarte sich die innere Tiefe und die empfindliche Seele eines jungen
Menschen Das folgende Gedicht gehört zu seinen ersten und ist von einer bedrückenden
Traurigkeit geprägt. Er nannte es:
"Für die Blumen auf meinem Schreibtisch".

Oh ihr lächelnden, lieblichen kleinen Blumen,

Wie lange soll meine Seele fortfahren,

Von eurem süßen Duft vergiftet zu werden?

Wie lange werde ich mich an eurem Honig laben können,

Wie die Biene, die saugend immer Abstand hält?

Nur für kurze Zeit welch ein Jammer

Denn euer Leben gleicht dem der Menschen;

Auch euch wirft der gnadenlose Tod zu Boden,

Und dann spendet ihr keinen Honig mehr


Sondern ihr zerstiebt wie die Asche des Räuchwerks,

Wie alles, was dahinschwindet, wie alles, was stirbt.

Wie zu erwarten, war es Metallinos unmöglich, seine Lieblingsblume, das Veilchen, in seinen
Gedichten auszulassen. Diese liebliche Blume erinnerte ihn an die sorglosen Jahre seiner
Kindheit und das Glück, das er auf seinem Schulweg empfand. Er verstand das Veilchen als ein
Gleichnis für die Demut und erinnerte sich an ein Wort der Schrift, in dem es heißt, daß "wer sich
selbst erniedrigt, der soll erhöht werden". So schrieb er dieses Gedicht.

Demut
Scheu hinter dem Zaun hervorschauend, sich den Blicken wie ein Vagabund entziehend, So
verbirgt sich das Veilchen vor den Vorübergehenden, Verbirgt seine Schönheit und seinen
lieblichen Duft. Doch plötzlich tritt es in den Blick, Und seine Pracht ist zu sehen. Es findet sich im
Palast auf des Königs Tafel. Und es schmückt die Brust der Königin. Lerne, mein Freund, deine
Lektion vom Veilchen: Wahre Demut kleide dich, Immer bedecke sie deine göttliche Seele Solche
Haltung wird dich stark machen. Dann wird eines Tages die Hand eines Engels Gottes Dich sanft
aus dem Leben pflücken, Und du wirst im Himmel allezeit anbeten den Herrn, Deinen Heiland
befreit von den Mühen der Erde
Um einen jungen Seeoffizier mittleren Grades zu necken, der gerade zum Glauben gekommen
war und mehr streitbaren Eifer zeigte als reife Urteilskraft, wenn er sich bemühte, die Richtigkeit
seiner Ansichten aus der Bibel zu begründen, schrieb Metallinos diese Zeilen:
Basil Tsoulouhopoulos
Todfeind des Materialismus! Kritiker und Verkläger der Priester! Der jeglichen Irrtum völlig
vernichtet, Der selbst alle falsche Lehre verbrennt Mit dem heiligen teuer göttlicher Aussprüche!
In Wirklichkeit jedoch nur ein Seeoffizier mittleren Grades.
Doch in seiner weisen Vorsehung hat Gott Metallinos diese dichterische Gabe nicht so sehr dazu
gegeben, um mit seinen Versen die Natur zu preisen oder Menschen zu necken, sondern um die
Bedürfnisse der Glaubenden zu befriedigen und das Wirken der Gemeinde fördern. Die junge
Gemeinde mußte singen. "Loblieder reinigen die Atmosphäre der Gemeinde von allen Bazillen
und jeglichem Schmutz Satans", pflegte Metallinos zu sagen. Und so fuhr er fort, von seinem
Talent Gebrauch zu machen, und Singweisen aus dem Englischen und anderen Sprachen
griechische Worte zu verleihen. Er lernte die Melodien mit dem Ohr und schuf dazu geistliche
Gedichte. Ihr erstes Gesangbuch bestand nur aus einem zwölfseitigen, handgeschriebenen Heft,
aber seine Lieder fanden Zustimmung und Begeisterung. Diese unvergessenen Loblieder haben
immer wieder die Herzen der Erlösten entfacht und sie zu neuen Höhen christlichen Erlebens
geführt. Die Beiträge von Metallinos zu den drei gedruckten Ausgaben von 1936, 1947 und 1961
wurden noch zahlreicher und waren sehr geschätzt.

DAS HIRTENAMT
Sein Dienstamt an der Ortsgemeinde versah Metallinos mit Güte, Liebe und Hingabe ein Hirte
der aufrichtig für das Wohlergehen jeder Seele in seiner Herde sorgte. Als er, wie es seine
Gewohnheit war, an einem Frühlingsmorgen nach einer Zeit des Betens in seinem Garten auf
und ab ging, fiel sein Auge auf eine wunderschöne Rose. Irgendetwas schien ihn innerlich zu
bewegen. Er näherte sich der Rose, bewunderte sie still, dann nahm er sie vorsichtig in seine
Hand, beugte sich über sie und küßte sie. Mit diesem bewegenden Geschehen läßt sich die tiefe
Anteilnahme vergleichen, die er jenen Seelen erwies, die der Herr ihm anvertraut hatte, und auch
jene liebevolle Fürsorge, die er an ihnen ausübte. "Als ein Glied am Leibe Christi, der Gemeinde,"
so schrieb er einmal, "richtet sich mein ganzes Trachten auf den Leib. Mit ganzer Aufrichtigkeit
und tiefer Hingabe möchte ich in der Gemeinde und für sie wirken." 0 Herr, gib mir die
Leidenschaft zu helfen, zu dienen und Deine Kinder zu trösten."
Der Herr gewährte ihm diese Bitte. In seiner Gebetsliste, die einige Notizbücher füllte, befinden
sich die Namen von über 500 Personen. Neben jedem Namen stand ein besonderes Anliegen,
und jedes Anliegen machte er zum Gegenstand einer besonderen Fürbitte. Er mußte für Georg
beten, der sich in den Stricken der Versuchung verwickelt hatte, für Helene, die seit wer weiß wie
langer Zeit ans Bett gefesselt war, für Basil, der in einem abgelegenen Dorf für die Sache Christi
leiden mußte. Die persönlichen Probleme jedes Einzelnen standen in seinem Notizbuch und in
seinem hingebungsvollem Hirtenherzen.
Niemals verhielt er sich gleichgültig gegenüber den Bedürfnissen "einer dieser Geringsten". So
konnte er zum Beispiel während seines Betens um geistliche und heilige Anliegen plötzlich sein
Herz ausschütten, um für die Aufbesserung der Rente einer armen Witwe zu beten oder für die
Aufnahme eines leidenden Bruders in ein Krankenhaus.
Mit besonderer Hingabe betete er für alle, die besondere Verantwortung für die Aufrechterhaltung
und Förderung der Gemeindearbeit trugen die Ältesten, die Lehrer des Wortes, die schriftliche
Arbeiten erledigten, die Glieder des Chores und überhaupt die verschiedenen Arbeitszweige der
Gemeinde und alle, die in irgendeiner Weise der Gemeinde dienten. Der letzte auf seiner Liste,
der letzte, für den er betete, war er, Metallinos, selbst: "Herr, mache etwas aus mir. Bereite mich
zu, damit ich als brauchbarer und treuer Diener erfunden werde. Hilf mir, daß ich wie eine jener
klugen Jungfrauen in dem Gleichnis werde und so das Vorrecht empfange, Dein Angesicht zu
schauen und allezeit Dein Lob zu singen."
Doch er beschränkte sich nicht darauf, nur für die Bedürfnisse der Kinder Gottes zu beten. Es
wurde ebenso an seinem Handeln deutlich. So pflegte er zum Beispiel in jedem Monat einen Teil
seines Gehaltes beiseite zu legen, um es an Arme zu verteilen, die sich in besonderer Not
befanden. Er pflegte das Geld in ein Stück Papier zu wickeln, auf dem der Name des Empfängers
stand, und fand dann eine Gelegenheit, es in dessen Tasche zu stecken und ihm leise
zuzuflüstern: "Hier ist etwas, das Jesus Christus dir geben möchte. Nimm es." Durch sein hohes
Regierungsamt war es ihm möglich, vielen auf mancherlei Weise zu helfen und für mancherlei
Bedürfnisse zu sorgen. Da er ein ziemlich hohes öffentliches Amt bekleidete, machte er
manchmal von seiner Dienstbezeichnung Gebrauch. Dann wiederum nutzte er seine
Beziehungen, um Arbeitslosen eine Stellung zu vermitteln, um alten Menschen zu ihrer Rente zu
verhelfen, um Mittel für einen Kuraufenthalt zu erlangen. Oder er setzte sich für einen
Angestellten ein, dem man die verdiente Beförderung verweigert hatte. Den Montag hielt er sich
frei für Gespräche, im Gemeindebüro mit den Po Gliedern seiner Gemeinde, die irgendwelche
persönlichen Gespräche hatten. Dort verbrachte er viele Stunden, in denen er zuhörte, ermutigte
tröstete. Doch obwohl die Schar der Gläubigen in vielen Bereichen ihres Lebens durch ihren
Hirten hingebungsvoll betreut wurden, hatte sie mit manchen inneren Schwierigkeiten zu
kämpfen. Als besonders ernst erwies sich der etwas ungeordnete Zustand der wachsenden
Gemeinde. Natürlich wußte man, daß die organisatorische Struktur der Gemeinde auf allgemein
gültigen Grundsätzen der Führung beruhte. Diese Grundsätze mußten jedoch auf diejenigen
Personen angewendet und, wenn nötig, durchgesetzt werden, die solche Führungsverantwortung
wahrnahmen. Diese Ausübung der Autorität zur rechten Zeit dient dazu, "den Frieden und das
Wohlergehen" der ganzen Gruppe zu bewahren. Hier ergab sich für diese Gemeinde eine
Schwierigkeit. Entstanden irgendwelche Nöte, empfand jeder, daß es die Aufgabe des Pastors
sei, als erster etwas zu unternehmen. Doch Metallinos scheute sich, sich einzumischen und
Autorität auszuüben. Selten zeigte er die Bereitschaft, Brüder in Zucht zu nehmen, die den
geraden und schmalen Weg verließen oder sich in ihrem christlichen Wandel ernste Fehltritte zu
Schulden kommen ließen, es sei denn, andere bestanden darauf, daß er sich darum kümmere.
Ebenso pflegte er nicht die Initiative zu ergreifen und sich vermittelnd einzuschalten, wenn es
heftige Mißverständnisse gab oder ein überzogener Standpunkt zu Parteiungen in der Gemeinde
führte, so daß sie schließlich völlig aus der Hand glitt. Ohne Zweifel rief die Neigung ihres Hirten,
sich in solche Angelegenheiten nicht einzumischen, bei den Gemeindegliedern beträchtliche
Enttäuschung und Besorgnis hervor. Als noch notvoller erwies es sich, daß er gewöhnlich zu
schnell nachgab, wenn sich gegen einen seiner Anregungen und Vorschläge von seiten einiger
lautstarker und herausfordernder Brüder Widerspruch erhob. Ohne Zweifel, so sicher er von der
Richtigkeit seiner Anschauung in einer bestimmten Angelegenheit überzeugt war, er hielt daran
nur bis zu einem gewissen Punkt fest, um dann in der Regel den Kampf "um des lieben Frieden
willens" aufzugeben. In weniger wichtigen Gemeindeangelegenheiten schadete diese von ihm
geübte wohlwollende, zurückhaltende, nachgebende Art nicht so sehr. Aber ging es um wichtige
Entscheidungen, die die ganze Gemeinde betrafen, dann rief natürlich solches Nachgeben "um
des lieben Frieden willen" in der Gemeinde sorgenvolle Gedanken hervor. Manche begannen zu
fragen, ob die Gemeinde unter solchen Umständen wirklich wachsen könne. Doch trotz dieser
Schwäche liebte die Gemeinde ihren Hirten. So lange er da war und ihnen durch seine bloße
Anwesenheit Licht und Wärme vermittelte, bestand keine Gefahr für irgendeine ernsthafte
Schwierigkeit. Sie alle erblickten in ihm einen vertrauenswürdigen, hingebungsvollen,
aufrichtigen, heiligen Diener des Herrn. Wenn es sein sollte, waren sie bereit für ihn ihre Augen
hinzugeben, um so ihrem geistlichen Vater ihre Dankbarkeit zu erweisen. Hatte er sie doch
aufgezogen und ihnen zum Wachstum im Glauben geholfen, ohne jemals die geringste materielle
Vergütung dafür zu erbitten. Metallinos hingegen spürte die Liebe und Hingabe seiner Herde,
diente ihr mit Demut, ermahnte sie mit Liebe, lehrte sie, wies sie zurecht und betete ohne
Aufhören für sie und ihre Bedürfnisse oft mit Tränen in den Augen. Allzuoft lag er mit
tränenreichen Bitten ganz anderer Art auf den Knien. Diese Gebete wurden durch eine geistliche
Krise hervorgerufen, die die Gemeinde erlebte. Immer wieder stifteten einige Personen Unruhe
unter den Gliedern und riefen solche Spannungen und Nötigungen hervor, daß Wachstum und
Einheit der Gemeinde ernsthaft bedroht waren. Diese geistlichen Krisen schmerzten wie Dornen
im Fleisch und bedruckten, ja zerbrachen fast die Seele des empfindsamen Hirten. Überängstlich
besorgt, nur kein Mißfallen zu erregen, und entschlossen, lieber stille zu halten, als irgend
jemand zu verletzen, pflegte Metallinos den bitteren Kelch ganz selbst zu trinken. Bei solchen
Gelegenheiten nahm er seine Zuflucht zu dem "Gnadenthron" und erfuhr über dem Weinen und
Beten Trost und Erleuchtung. Er glich einer Mutter, die lieber selber Leiden auf sich nimmt, als
daß ihr unartiges, wildes Kind, das sie so sehr liebt, die Strafe empfängt, die es verdient hat.
Wann immer es darum ging, jemanden für etwas Verkehrtes verantwortlich zu machen, pflegte er
immer ohne zu zögern aufzustehen und bereitwillig die Verantwortung auf sich zu nehmen. Er
nahm die Verantwortung für allen Mißbrauch und alle ungerechten Anklagen auf sich, um so die
Gemeinde vor allen Schuldzuweisungen zu bewahren. "Schießt weiter, Jungs", sagte er einmal,
"ich bin ein gutes Ziel, ich bin dick." Es ist überflüssig, zu betonen, daß unter solchen Umständen
dieser Anflug von Humor in Wirklichkeit als Maske diente, die den tiefen Schmerz verbergen
sollte, den er über das, was da geschah, empfand. In seinen persönlichen Aufzeichnungen
begegnen wir manchen Klagen, Feststellungen, Zurückweisungen und Anklagen, die er schriftlich
festgehalten hatte. Aber es ist beachtenswert, daß er es am Ende seiner Überlegungen immer
wieder zuwege brachte, alles unter den Mantel der Liebe und Vergebung zu stellen. Häufig
jedoch vergab er nicht nur, sondern deckte die Fehler anderer, indem er deren Schuld auf sich
nahm und so sein eigener Ankläger wurde. Schauen wir, mit welch feiner christlichen Einsicht
und Demut er sich einmal äußerte, um einen Streit zu schlichten, der in der Gemeinde
entstanden war:
Um unserer christlichen Gemeinsamkeit willen haben diese Brüder und wir alle als Glieder eines
Leibes diese Angelegenheit vor den Herrn gebracht. Wir wollen fortfahren, Ihn für sie und für uns
um Erbarmen anzuflehen. In einer so ernsten Meinungsverschiedenheit wie dieser, ist es höchst
unwahrscheinlich, daß wir alle richtig gehandelt haben und umsichtig gewandelt sind. Auch
haben wir nicht immer und in allen Dingen die Haltung eingenommen und die Weisheit gezeigt,
die unser Herr besaß. Uns ist das bewußt und wir alle haben das Gefühl tiefer Beugung.
Diese liebenswerte Gesinnung der Selbstverurteilung, jene von Gott gegebene Tugend der
Bereitschaft, die Schuld auf sich zu nehmen, drückt sich in vielen Aufzeichnungen aus, die
Metallinos in Augenblicken starker innerer Bewegung niederschrieb. Das geschah besonders
dann, wenn er sich in heftige Kämpfe verwickelt sah. So schreibt er zum Beispiel: "Ich bin den in
mich gesetzten Erwartungen nicht nachgekommen, ich habe in vielen Fällen versagt, ich bitte
dich, mir zu vergeben". Oder: "Ich möchte die Dinge wieder in Ordnung bringen auslöschen,
womit immer ich dich betrübt habe."
Obwohl es einige in der Gemeinde gab, deren Worte und Taten er wie bittere Pillen schlucken
mußte, fanden sich viele, die durch ihr opferbereites Leben und durch ihren Lebenswandel das
Herz des Hirten erfreuten. Das wurde besonders deutlich, als Metallinos die Gemeinde aufrief,
das Anwesen in Alcibiadestraße 3 als neuen Versammlungsort zu erwerben. Im Jahre 1952
wurde es durch äußeren Druck für die Gemeinde unmöglich, weiter den Saal in Lycurgusstraße
18 für ihre Gottesdienste zu benutzen. Die Brüder mußten versuchen, an einen anderen Ort zu
ziehen. Es wurde der Vorschlag gemacht, etwas Eigenes zu erwerben. Durch eine Kette
wunderbarer Umstände ermöglichte es ihnen der Herr, ein geeignetes Anwesen zu finden. Der
Preis für das Gebäude und das Grundstück betrug 2300 Goldpfund. Als Metallinos das Anwesen
sah, entschloß er sich sofort und erklärte: "Wir kaufen es!" Der Kassenverwalter verfügte nur über
150 Pfund. Wie sollten sie den fehlenden Betrag aufbringen? "Unser Gott ist reich und weiß, daß
wir das alles für seine Ehre begehren", lautete Metallinos' sofortige Antwort.
An dem Tag, als er diese große finanzielle Herausforderung von der Kanzel aus darlegte,
reagierten die Brüder unvergleichlich und mit großem Eifer. Die Ärmsten zeichneten ein Darlehen
oder gaben das wenige, was sie vermochten. Die Reicheren reagierten mit großzügigeren
Beiträgen. Ein Mädchen, das sich kürzlich verlobt hatte, opferte ihren Verlobungsring. Eine alte
Frau brachte das Geld, das sie für eine notwendige Zahnbehandlung zurückgelegt hatte. Eine
alleinstehende Frau brachte ihre Ersparnisse, die für ihre Altersversorgung bestimmt waren. Eine
andere Frau schenkte ihren ganzen Schmuck. Ein armer Mann brachte seine Milchziege und ihre
drei Zicklein. Jeder zeigte eine solche gebefreudige Gesinnung, daß Metallinos davon sehr
bewegt war und sich veranlaßt sah, in seinen privaten Aufzeichnungen dieses Gebet
festzuhalten: "Ich danke Dir, Herr, daß Du mich berufen hast, solchen Brüdern zu dienen."
Am 3. Juli 1954 bezog die Gemeinde ihr neues Gebäude.

Das Gebetsleben von Metallinos


Die Gebete von Metallinos umschlossen eine ganze Welt von Menschen, Dingen und
Situationen. Er machte es sich zur Gewohnheit, seine Gebetsanliegen aufzuzeichnen und sich
auf sie zu beziehen, um so sein Gedächtnis aufzufrischen und unnötige Wiederholungen zu
vermeiden. Die meisten Gebete, die sein persönliches geistliches Leben betrafen, stammen aus
der Bibel zumeist aus den Psalmen und aus den Briefen des Paulus und werden oft wörtlich
zitiert. Er besaß auch eine Sammlung von ihm selbst verfaßter Gebete, aus denen er bestimmte
nach den jeweiligen geistlichen Bedürfnissen auswählte. Wir halten es nicht für verkehrt, hier eine
Auswahl aus dieser Sammlung seiner persönlichen Gebete aufzunehmen. Doch wir bringen
jedesmal nur Auszüge und keine vollständigen Gebete.
Gebet um innere Erneuerung
Nimm weg, o Herr, alle Hindernisse und alle Widerstände, die mich aufhalten, und schenke mir
die Freiheit, die in Deinem Heiligen Geist zu finden ist. Zerreiße, o mein Herr, alle Stricke des
Satans wie ein Spinnennetz. Erfülle jede Faser von mir mit neuem Leben, indem die Kraft Deiner
Auferstehung mich durchdringt. Erquicke meine Seele und laß sie überfließen. Gewähre mir die
Fülle Deiner Freude. Durchströme mich mit froher Ergriffenheit, damit ich Deinen heiligen Namen
preise und verherrliche und rühme und erhebe, durch Jesus Christus, meinen Erlöser.
Gebet um Errettung
Erweise mir, o Herr, zur Zeit meiner Not Deine Gnade. Errette mich aus dem tiefen Schlamm,
damit ich nicht versinke. Befreie mich aus den Händen derer, die mich hassen, und errette ich
aus den tiefen Wassern. Dein starker Arm komme mir zu Hilfe. Strecke von oben Deine Hand
aus. Befreie mich und beschütze mich vor der Menge der Dämonen, laß sie ohne Kraft sein.
Rette mich, o Herr, mein Erlöser, denn die Wasser überfluten meine Seele. Ich versinke im
Schlamm und finde keinen Platz, wo ich stehen kann. Laß deinen Blitzstrahl das Heer der
Dämonen, die mich bedrängen, zerschmettern, erschrecke sie, bitte, mit der Stimme Deines
Donners. Gürte mich mit Stärke, daß meine Feinde unter meinen Füßen zertreten werden.
Gebet um geisterfülltes Wirken
Lösche mich aus, o Vater, in den Gedanken meiner Hörer, denn allein Dein Sohn darf erhoben
werden. Reiße mich aus den Herzen der Menschen, damit nur Dein Name verherrlicht wird.
Mache jeden Versuch Satans zunichte, daß ich gepriesen und geehrt werde, denn Preis und
Ehre gebührt allein Dir.
Gebet um Führung
0 Herr, laß auf alle Bereiche meines geistlichen Lebens Dein Licht fallen, damit ich Deine
Führung erlebe und erkenne, was ich tun soll. Laß mich in allen Begebenheiten dieses Tages die
Zeichen Deiner Gegenwart erkennen. Laß mich meine Stellung zu Dir klar und deutlich erkennen,
damit ich in Demut wandle, so wie Du mich nach Deinem Willen führst. Nimm von mir ganz Besitz
und leite mich an allen Tagen meines Lebens, damit ich Dir allezeit diene, dich verherrliche und
anbete Deinen heiligen Namen.
Gebet um Frieden in den Gemeinden
0 Herr, Gott des Friedens, laß die Glieder Deines Leibes immer im Frieden miteinander leben,
daß sie eines Sinnes in Christus Jesus sind. Zerstöre die Macht Satans und zertritt ihn unter den
Füßen Deiner Heiligen. Laß Zwietracht, üble Nachrede, Parteiungen und Uneinigkeit unter
Deinen Heiligen ein Ende finden. Öffne ihnen die Augen, damit sie ihren wahren Zustand
erkennen. Fülle sie mit Eifer, Deinen Namen zu verherrlichen. Erfülle alle Deine Heiligen mit
Kraft, mit Glauben und mit geistlichem Verständnis. Öffne, ihnen die Augen, damit sie erkennen,
daß die Gemeinden Liebe und Frieden brauchen. Dann können sie siegreich vorwärtsschreiten,
als ein Leib, der mit dem Haupt verbunden ist, und jubelnd die Wahrheit bezeugen, die in
Christus ist.
Gebet um persönliche Erbauung
0 mein gepriesener Erlöser, laß mich allen Listen Satans widerstehen, damit ich in jedem
Augenblick unter der Führung Deines Heiligen Geistes wandle und die unaussprechliche und
herrliche Freude eines geisterfüllten Lebens erfahre. Gib mir die unaussprechliche Gnade, so zu
leben, daß jeder Schritt und jeder Atemzug das Leben des Heiligen Geistes bezeugt, der durch
mich wirkt. Es ist meine Bitte, daß ich mich eines Lebens voll süßen Friedens erfreuen kann und
voll himmlischer Freude im Glanz der Ewigkeit. Zerstöre, o Herr, jede fleischliche Gesinnung und
jedes unheilige Begehren, damit Deine kostbare Gabe an mich, das Leben im Geist, weder
verdunkelt noch ausgelöscht wird. Hauche mich an, damit alle Ruhelosigkeit aus meinem Herzen
verschwindet wie die Wolke am Morgen.
Laß mich im Heiligen Geist und mit völlig reinem Herzen so auf meine Schwestern und Brüder
schauen wie auf Dich. Laß Deine Gedanken, Deine Worte, Deine Wege sich tief einprägen in
meinem Herzen.
Gib mir, Herr, solch brennende Leidenschaft, daß jede Botschaft, in der ich Deinen heiligen
Namen verkündige, reich gesegnet wird. Mache mich begierig und eifrig, Deinen Kindern zu
helfen, Ihnen zu dienen, sie zu trösten. Laß mich als Dein guter und treuer Diener erfunden
werden.
Metallinos meinte, das Gebet sei für die Seele das, was das Atmen für den Leib ist. Je häufiger
ein Christ betet, umso stärker drückt er damit seine Zuneigung zu seinem Herrn aus, und das
erfreut Ihn sehr Gott gibt uns Verstandeskraft und sagt zu uns: "Ich bin die einzige Quelle deines
Glücks und deiner Freude. Erkennst du, wie arm und bedürftig du bist? Gestehst du deine Fehler
ein? Bete stets zu mir, dann werde Ich dich aus dem Warenhaus Meiner himmlischen Güter mit
allem versorgen, was du brauchst." Der Herr ermutigt uns, alles, was wir nötig haben, von Ihm zu
erwarten, die großen Dinge wie die kleinen, denn in Seinen Augen ist nichts zu groß und nichts
zu klein
Halte an, den Herrn darum anzurufen, daß Er Eifer und Verlangen in dein Beten legt, sowohl in
die Bitten, die dich persönlich betreffen, als auch in die, die sich auf Sein Reich beziehen.

Die Predigt des Wortes


Unter der vielseitigen geistlichen Tätigkeit von Metallinos nahm das Predigen ohne Zweifel den
ersten Platz ein. Doch wenn ein Prediger das Wort Gottes wirkungsvoll verkündigen will, muß er
ständig unter der unmittelbaren Leitung des Heiligen Geistes stehen wenn nicht, macht er nur
Worte. Metallinos wußte das. Darum machte er es zu seiner Gewohnheit, erst dann die Kanzel zu
betreten, wenn er sich vorher durch brennendes, anhaltendes Beten in die richtige geistliche
"Form" gebracht hatte. Dabei pflegte er drei wesentliche Bitten auszusprechen: Daß der Geist
Gottes ihn reinige von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes; daß der Herr ihn vor den
Augen der Hörer verberge, damit nur Christus gesehen und verherrlicht wird; und daß Gott ihm
eine reiche und fruchtbare Predigt schenke, damit die Bedürfnisse der Menschen durch ihn
gestillt würden.
Bei seiner Vorliebe für originelle Aussprüche und seiner Begabung für ungewöhnliche Aussagen
pflegte Metallinos gelegentlich die Vorbereitung einer Predigt als das "Kochen" und das Halten
derselben als das "Servieren" zu bezeichnen. Die Hörer bezeichnete er als "Feinschmecker"
("herzhafte Esser" wäre eine bessere Wiedergabe des griechischen Ausdrucks), weil sie nach
immer mehr geistlicher Speise verlangten. Doch er achtete sorgfältig darauf, ihnen niemals zu
viel auf einmal vorzusetzen. "Ich ziehe es vor", pflegte er zu sagen, "daß meine Zuhörer hungrig
nach mehr weggehen, als mit einem überfüllten Magen, der Beschwerden bereitet, weil man sich
übergessen hat. Es ist besser, sie verlassen die Gemeinde und klagen, daß ich zu früh aufgehört
habe, als daß sie verstimmt sind, weil ich zu lange gemacht habe. In Wirklichkeit natürlich hörte
Metallinos nie Klagen darüber, daß er zu lange reden würde. Seine Botschaften waren immer so
interessant und anregend, daß seine Hörer ihm gerne stundenlang zugehört hätten, ohne sich im
geringsten ermüdet zu fühlen.
Wenn er die Kanzel betrat, hatte er gewöhnlich die Bibel, ein Neues Testament in der
griechischen Grundsprache und ein Gesangbuch bei sich. Er pflegte seinen Platz hinter der
Kanzel einzunehmen und seine Zuhörer in Erwartung einer ersten Eingebung einige Augenblicke
still anzuschauen. Fing er endlich an zu sprechen, schienen die Zuhörer lebendig zu werden.
Seine kraftvolle Stimme, voll Spannung und Wärme, beherrschte die Anwesenden und weckte
ihre Aufmerksamkeit. Die Worte kamen klar, packend, kraftvoll und fließend aus seinem Munde.
Verstärkt durch eine angemessene, ausdrucksvolle Gestik wurden seine Worte zum Träger einer
bewegenden und überzeugenden Verkündigung der Wahrheit.
Niemals las er seine Predigten ab. Er nahm nur wenige Notizen mit auf die Kanzel, eine Abfolge
der wichtigsten Punkte, das übrige überließ er der Führung durch den Heiligen Geist. Deshalb
überrascht es nicht, daß es ihm zur Gewohnheit geworden war, diese Bitte in sein Eingangsgebet
einzuschließen: "Gib mir, Herr, heilige Gedanken. Laß das Gesagte Dein Wort sein, nicht
Menschenwort, Worte des Heiligen Geistes, nicht des Fleisches."
Metallinos brachte einige grundsätzliche Neuerungen in die Verkündigung des Evangeliums und
in die Predigtweise überhaupt. Das eine war seine Gliederung der Botschaft in drei getrennte
Teile. Der erste Teil sollte ermuntern und trösten. Einige Verse aus den Psalmen oder Propheten
gaben den bewegten und bewegenden Prediger eine Fülle von Stoff, der dazu diente, die
Kleingläubigen zu stärken und die Angefochtenen zu trösten. Manchmal brachte er im ersten Teil
seiner Predigt einige geistreiche, praktische Illustrationen, um damit die Anschauungen der
Ungläubigen lächerlich zu machen. Hier ein Beispiel:
Jeden Abend frage ich meine Frau: "Hast du die Türen abgeschlossen, Alcmene; und hast du sie
gut verriegelt?" Warum verriegeln und verschließen wir unsere Türen so sorgfältig? Wollen wir
uns vor Bären oder vor Löwen schützen? Nein! Wir schützen uns vor den Menschen des 20.
Jahrhunderts, vor den Menschen, die ohne Gott leben, die aus unserer Welt einen richtigen
Dschungel gemacht haben. Leider! Leider! Mensch! Das ist Gottes größtes Problem!
Einmal stellte der die hohle, heuchlerische Frömmigkeit mancher Geschäftsleute unserer Tage
heraus, indem er die folgende Geschichte erzählte:
Eines Tages traf ich einen befreundeten Geschäftsmann und fragte ihn, wie die Geschäfte
gingen. "Es läuft wirklich gut, Gott sei Dank!", sagte er. "Kürzlich übernahm ich den Laden meines
Nachbarn, so daß sich nun meine Schaufensterfront vergrößert hat. Wissen sie, Herr Metallinos,
Gott ist gut zu uns."
Sechs Monate später traf ich denselben Mann wieder. Als ich ihn begrüßte, fragte ich ihn erneut,
wie die Geschäfte gingen. "Sie fragen mich nach meinem Geschäft, Herr Metallinos", antwortete
er mit bitterer Stimme. "Nun, ich habe keins mehr. Ich hatte ernsthafte finanzielle Rückschläge
und mußte den Laden schließen. Und nun reden sie mir nicht von Gott. Es gibt keinen Gott, Herr
Metallinos!"
Nach diesem ersten Teil des Gottesdienstes sprach Metallinos ein Gebet und ließ die Gemeinde
ein oder zwei Lieder singen. Dann ließ er den zweiten Teil seiner Predigt folgen. Dieser war
gewöhnlich für die Darlegung der Botschaft des Evangeliums bestimmt. Hier nahm er die Gele
genheit wahr, die Grundwahrheiten des göttlichen Heilsplans für die Menschen zu erklären und
herauszustellen: Die ewige Praeexistenz Jesu Christi; die wesenhafte Gottheit Seiner Person;
Seine Menschwerdung; Sein Erlösungswerk am Kreuz; Seine leibliche Auferstehung aus den
Toten; Seine zukünftige Wiederkehr zur Entrückung Seiner Gemeinde. Metallinos berührte und
erklärte diese Themen immer wieder, so daß sich einige seiner Zuhörer beschwerten, weil er in
jeder Ansprache immer wieder dasselbe predige. "Hör zu, mein Freund"' , sagte er zu einem
dieser Kritiker, "du mußt dir bewußt machen, daß eine Predigt, die sich nicht auf diese
seelenrettenden Wahrheiten gründet, keine echte Evangeliumsverkündigung darstellt, sondern
nur frommes Gerede ist, ohne die Kraft, sterbende Seelen zu retten."
Ein oder zwei weitere Lieder schlossen diesen zweiten Teil des Gottesdienstes und leiteten zu
einem dritten Teil der Botschaft über, die mehr lehrhafter Art war.
Die Gleichnisse Jesu, die Wunderberichte des neuen Testaments und die Geschichten aus dem
Alten Testament waren die reiche Quelle, aus der er seine Wahrheiten und Illustrationen zu
schöpfen pflegte. Sie dienten ihm als Bausteine, aus denen er ein wunderbares Bauwerk
praktischer Unterweisung errichtete. Diese geistliche Feierstunde endete mit einem weiterem
Lied und mit dem Schlußgebet. Auf diese Weise erwies sich die Verkündigung von Metallinos, in
der der Trost, die Lehre des Evangeliums und die praktische Unterweisung ihre jeweils
besondere Rolle spielten, als reich, beeindruckend und wirksam.
In Worten liegt Ausstrahlung und Kraft. Es gibt Menschen, die können kleine Kinder nur mit
Worten zum Einschlafen bringen. Andere vermögen, durch den Gebrauch des Wortes ein ganzes
Volk zu heldenhaften Taten zu entflammen. Wenn Metallinos predigte, waren seine Worte mit
göttlicher Kraft erfüllt, so daß sie sich Eingang zu den geheimsten Kammern der menschlichen
Seele verschafften und dort Wunder wirkten. Seine Worte glichen nicht, kunstvollen Reden, die
nur eines beabsichtigten, dem Ohr zu gefallen. Es waren wirkungsvolle Äußerungen, die die Kraft
besaßen, Seelen zu erregen und zur Entscheidung zu führen.
Eine besondere Stärke, die Metallinos auf der Kanzel so erfolgreich sein ließ, lag in der
persönlichen Art seines Predigens. Dies war das Ergebnis seiner langen und gründlichen
Erfahrung in der Kunst der öffentlichen Rede. Er sprach zu dem einzelnen Zuhörer mit derselben
Anteilnahme wie ein Arzt, der mit seinem Patienten spricht, oder ein Vater mit seinem Kind. Ein
weiterer Wesenszug, der in seiner Predigt eine Rolle spielte, lag in jener Begabung, die wir
Ausdrucksstärke nennen könnten. Er gebrauchte eine einfache Sprache, kurze Sätze und
Ausdrücke, die dem einfachen Menschen vertraut waren. Dabei kleidete er seine Darbietungen
über die Wahrheiten des Heilsplans Gottes in Jesus Christus in das Gewand einer Erzählung, die
eine anziehende Frische besaß.
Metallinos liebte es besonders, sich an das "moderne Denken" zu wenden - er meinte damit den
gebildeten Menschen der Gegenwart. Er empfand die Verpflichtung, die Begebenheiten und
Lehren der Schrift auf eine Weise darzubieten, die der geistigen Einstellung der Zeit entsprach.
Dieser äußerst moderne Einstieg bedeutete eine weitere Erneuerung, die er mit seiner Predigt
erreichte.
Religiöse Begriffe und Ausdrücke, die man jahrelang immer wieder verwendet hatte, sollten durch
andere, modernere, ansprechendere, interessantere ersetzt werden. So wurde aus der Heiligen
Schrift "das Buch". Das Neue Testament wurde in "Gottes gute Nachricht für die Menschen"
umbenannt. Der Begriff für Beten lautete nun: "Ich habe mit Ihm gesprochen." Die Predigt nannte
er nun "eine geistliche Rede" oder einfach eine "Ansprache". Die Lehren des Evangeliums, die
auf Gleichnissen beruhten, die das bäuerliche Leben Palästinas im 1. Jahrhundert widerspiegeln,
wurden nun in modernem Gewand dargeboten und mit Bildern aus der modernen Technik und
dem Leben in der Stadt erläutert. Die Gemeinschaft des Christen mit seinem auferstandenen
Herrn fand nun seine Entsprechung in einem Stecker, der ein Elektrogerät mit der Stromquelle
verbindet. Den Glauben verglich er mit dem Schalter eines Radios. Solange er abgestellt ist,
besitzen wir keine Verbindung mit den elektromagnetischen Wellen, die uns ständig umgeben.
Doch sobald wir den Schalter des Glaubens betätigen, empfängt unsere Seele die ganze Welt
der Wahrheiten und Offenbarungen, eine Welt, der wir vorher völlig fremd gegenüberstanden.

DAS ERNTEFELD UND DIE ARBEITER


Die Gebete von Metallinos verbanden sich mit der Kraft Gottes. Das Werk breitete sich aus und
festigte sich. Bald drang dieser Dienst am Evangelium in neue Bereiche. Der Erfolg ihrer Arbeit in
Athen machte der Gemeinde Mut, ihre Tätigkeit auf die Vororte auszudehnen. Dort wurden kleine
Gruppen gebildet, die in Privathäusern zusammenkamen. Indem sie das Wort studierten und
miteinander beteten, fanden sie den Trost und die Kraft, die sie brauchten, um die schrecklichen
Belastungen der Kriegsjahre ertragen zu können. Die ersten beiden Vorposten wurden um 1943
in Neo Smyrna und Neo Ionis errichtet. Durch die missionarischen Anstrengungen der Glieder
der Gemeinde Lycurgusstraße 18 vermehrten sich in den folgenden Jahren die Zahl dieser neuen
Zentren.
Doch während die neuen Arbeitsfelder reif wurden für die Ernte, wurde immer deutlicher, daß es
an fähigen Arbeitern fehlte. "0 Herr, sende Arbeiter aus in Deinen Weinberg. Sende uns ein Heer
von Mitarbeitern am Evangelium und salbe sie für ihre Aufgabe." Das war das tägliche Gebet von
Metallinos. Er lud einige besonders fähige und besser ausgebildete Gemeindeglieder ein,
besonders junge Männer und Frauen, um sie zum Bibelstudium anzuleiten. So sollten sie besser
für den christlichen Dienst zubereitet werden. Auf diese Weise entstand 1945 eine zwanglose
kleine Bibelschule, die später als Griechisches Bibel-Institut bekannt wurde. Im ersten Jahr waren
es ungefähr zwanzig Studenten.
Der Unterricht erfolgte zumeist in der Form freier Aussprachen. In den vielen Stunden, die sie
jede Woche zusammenkamen, beschäftigten sich die Studenten und ihr Lehrer mit einer Fülle
von Themen. Fast über alles, was zur Sprache kam, tauschten sie sich aus. Sie sprangen von
dem Geheimnis der Heiligen Dreifaltigkeit zur Auferstehung von den Toten, um dann
anschließend eine einfache Methode, Hebräisch zu lernen, vermittelt zu bekommen. Dann konnte
eine Aussprache über die Irrtümer der Evolutionstheorie Darwins folgen, um schließlich mit einem
Gespräch über die Grippe und ihre wirkungsvollste Bekämpfung zu enden. Während der
Diskussionen pflegten die Studenten Fragen zu stellen - alle Arten von Fragen. Sie wollten über
viele Dinge Bescheid wissen: Hat der Teufel wirklich Hörner und einen Schwanz? Werden wir
uns im Himmel wiedererkennen? Haben Bazillen etwas mit bösen Geistern zu tun? Kommen die
Priester der Orthodoxen Kirche in die Hölle?
Obwohl es noch an ausgearbeiteten Lehrplänen fehlte (erst nach ein oder zwei Jahren wurde der
Unterricht vereinheitlicht und die Stoffverteilung geregelt), gelang es dem Griechischen Bibel-
Institut viele begabte christliche Arbeiter zuzurüsten. Diese leisteten später unschätzbare Dienste
für die Arbeit der Freikirche in Athen und für die ganze Evangelische Kirche Griechenlands. Die
Lehrgabe von Metallinos trug wesentlich zu diesem Erfolg bei. Die Einfachheit und Klarheit seiner
Darbietung und seine besondere Fähigkeit, Wissen zu vermitteln, machten seinen Studenten das
Lernen zum Vergnügen. Er besaß eine erstaunliche Fähigkeit, neue Worte und Ausdrücke zu
prägen, und seine persönliche Art machte seine Darbietungen lebendig und seine Ansichten
verständlich.
Immer strebte Metallinos in seiner Theologie praktische Ziele an. Niemals trennte er in seinem
persönlichen Wandel zwischen Lehre und Leben. Obwohl er in seinem Denken die Freude am
reinen Theoretisieren genoß, vergaß er niemals, daß er einen heiligen Wandel zu führen hatte.
Diesen Schwerpunkt behielt er auch bei seiner Lehrtätigkeit bei. Obwohl es ihm große Freude
bereitete, theoretische Themen wie "Der Glaube philosophisch betrachtet" oder "Der
Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Gnade" zu behandeln, hörte er nicht auf, ebenso
den praktischen Gesichtspunkt des christlichen Lebens zu betonen.
"Liebet eure Feinde", das ist die höchste Vollendung. Die zu lieben, die euch lieben, bedeutet
wenig oder nichts, das tun die Diebe auch. "Liebt diejenigen, die eurer Liebe nicht wert sind.
Wenn ihr das nicht tut, seid ihr nicht besser als die Zöllner und Sünder." Die zu lieben, die euch
lieben, ist eine selbstverständliche Pflicht. Doch wenn ihr einen liebt, der eurer Liebe nicht wert
ist, dann begebt ihr euch in den Bereich der christlichen Liebe und werdet eurem himmlischen
Vater ähnlicher. Wenn wir jemand hassen und erklären, daß wir ihn nicht sehen wollen, dann
findet der Satan bei uns Raum. Wo immer Menschen uns Unrecht tun, sollten wir beten: "0 Gott"
gib uns ein Herz wie Deins, so daß ich alle lieben kann."
Ist euer Herz nicht zur Vergebung bereit, regiert euch noch euer "alter Mensch". Wir dürfen nicht
sagen: "Vor zwei oder drei Jahren hast du mir dieses oder jenes angetan" und versuchen, Rache
zu nehmen. Stattdessen sollten wir beten: "Mein Gott, sei ihm gnädig."
Macht ihr euch über viele Dinge Sorgen, so laßt ihr letztlich zu, daß eure Kraft vergeudet wird.
Wo das geschieht, verliert ihr jegliches Empfinden für geistliche Dinge. Gebt der Sorge keinen
Raum. Ihr habt einen Vater im Himmel, der für euch sorgt. Denkt an die Vögel, die keine
Nahrungsmittelvorräte besitzen, die weder säen noch ernten. Der Herr hört nicht auf, sie mit
Nahrung zu versorgen.
Einmal ließ ich in meinem Garten einige Brotkrumen fallen; sofort stürzte sich eine Schar Vögel
darauf. Wer hat sie herbeigeholt? Der Instinkt, den Gott ihnen gab, führte sie genau zu diesem
Platz. Stimmt es nicht, daß Gott sich noch mehr um uns sorgt?
Ihr geht zu eurem Bruder und sagt ihm: "Du hast einen kleinen Splitter in deinem Auge, laß mich
ihn entfernen." Doch gleichzeitig seht ihr nicht den dicken Balken in eurem Auge. Was seid ihr für
Heuchler! Zieht nicht los, um andere zu verurteilen. Das tut Gott. Er ist dabei, euch zu richten.
Kümmert euch um eure Angelegenheiten. Schaut in den Spiegel. Seht ihr in ihm, daß ihr ohne
Flecken seid, könnt ihr hingehen und mit den Menschen reden - nicht um sie zu verdammen,
sondern um ihnen im Geist der Liebe den rechten Weg zu weisen. Doch zuerst seht zu, daß der
dicke Balken aus eurem Auge verschwindet. Es ist schlimm, wenn Christen in üble Nachrede
verwickelt sind, das schmerzt den Herrn. Wenn ihr nicht bald mit der Nachrede aufhört, wird der
Herr euch an den Ohren ziehen müssen. Gerne gebt ihr vor, ihr tut es aus Liebe, und ihr
versucht, euch zu verteidigen, indem ihr sagt: "Bin ich nicht der Hüter meines Bruders?" Wer hat
euch zu Hütern bestellt? Jesus Christus und der Heilige Geist sind die Hüter eures Bruders.
Anstatt eilig euren Bruder zurechtzuweisen, bekennt ihm zuerst eure Sünden, dann könnt ihr mit
ihm auch über seine reden.
So unterwies Metallinos die Gläubigen nicht nur über Fragen der Lehre, damit sie mehr über
Christus verstehen lernen, sondern er lehrte sie auch praktische Wahrheiten, um sie in dem
Leben in Christus zu stärken.
Besonders achtete der darauf, daß diejenigen, die vorhatten in den Dienst Christi zu treten,
geistlich und moralisch gut zugerüstet wurden. Er betrachtete die Mahnung des Apostels Paulus:
"Das befiehl treuen Menschen an, die tüchtig sind, auch andere zu lehren", als eine große
persönliche Verantwortung. Er wollte, daß diejenigen, die an dem Evangelium dienten, fest in der
Schrift gegründet waren. Ihr Wandel sollte weise und ihr Leben heilig sein. Tag für Tag betete er:
"Schirme, o Herr, und beschütze Deine Diener vor falschen Anklagen des Teufels." Gleichzeitig
vermittelte er ihnen praktische Ratschläge, die aus der Fülle eigenen Erlebens stammten.
Die Gemeinde Jesu Christi wird durch Christus gebaut und nicht durch Menschen. Das bedeutet,
es ist Christus, er allein, der Menschen entzündet und beeinflußt, damit sie den Weg in die Hürde
finden. Er ist es, der sie rettet und stärkt. Darum laßt uns darauf achten, daß wir immer
aufschauen und beten: "Herr, führe mich zu einem Menschen, den du zubereitet hast." Wir dürfen
nicht auf unsere Fähigkeiten vertrauen und erklären, wir würden unseren Nachbarn zu einem
Christen machen. Wir sind einfach nur Werkzeuge, die Christus gebrauchen kann. Wir können
Tote nicht lebendig machen. Doch das ist es gerade, was an den Nicht-Geretteten geschehen
muß. Es ist Christus, der das Werk ausführen muß. Ihr müßt predigen und dann anfangen zu
beten: "0 Herr, nimm einem Menschen seine Sorgen und Ängste, laß ihn hier Dein Wort hören
und führe ihn zu Deinem Heil."
Menschen, die ihr aus euch herzubringt, bleiben nicht. Nur die, die Christus herbeibringt, bleiben.
Es war Christus, der den Kämmerer aus Äthiopien berief. Er sandte Philippus, um mit ihm zu
reden. Es war Christus, der Paulus zur Lydia sandte. Paulus konnte nicht wissen, wie es in den
Herzen der Menschen aussah. Es ist ein Fehler, wenn man, wie es einige tun, sagt: "Ich mache
aus ihm einen Christen" oder: "Ich sorge dafür, daß er seinen Sinn ändert." Wer so redet, scheint
nicht zu wissen, wer das Bauwerk errichten muß. Wiederum mag einer klagen: "Wir sind so
wenige." Das macht nichts. Seid ihr zu zweit? Nun, dann seid ihr viele. Haltet fest am Glauben
und haltet an am Gebet. Das Leben wird zeigen, wo du stehst. "Aber er hat uns keinen Menschen
in den Weg gestellt." Vielleicht ist noch keiner so weit. Der Herr wird einige Menschen zubereiten
und sie dir zuführen, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Überstürze dich nicht. Christus hat ein
größeres Verlangen als wir. Unser Verlangen, die Dinge voranzutreiben, kommt aus unserem
Stolz; wir wollen Zahlen sehen. "Der Herr ... fügte ... hinzu, die gerettet wurden." Nehmt ihr euch
nicht in acht, und wollt ihr lediglich Aufmerksamkeit erregen, geratet ihr in ernste Schwierigkeiten.
Das heißt nicht, ihr sollt euch hinsetzen und nichts tun. Weit gefehlt! Haltet an am Gebet, bleibt
abhängig von Ihm, dem Haupt der Gemeinde. Geht dort hin, wohin Er euch führt. Verteilt dort
Traktate wohin er euch leitet. Doch verfallt nicht dem Fehler zu meinen, ihr seid das Haupt. Wenn
wir uns nahe zu Gott halten, wird Sein Geist uns führen. Dann werden wir spüren, wohin wir
gehen und mit wem wir für unserem Herrn reden sollen. Wir wollen uns unter Seine unmittelbare
Führung stellen und gewiß sein, daß Er uns dorthin sendet, wo Menschen für unseren Dienst
zubereitet sind.
Wenn ihr in enger Verbindung mit Gott lebt, wird Er euch dorthin führen, wo ihr predigen sollt.
Schaut den Herrn an. Von Ihm lesen wir: "Er mußte aber durch Samarien reisen" (Johannes 4,4).
Und seht, was geschah, nachdem Er mit der Samariterin gesprochen hatte.
In Philippi ging der Apostel Paulus zum Flußufer und sprach zu einigen Frauen, die zum Gebet
dorthin gegangen waren. Das Ergebnis: Lydia wurde bekehrt, und daraus entstand eine
Gemeinde in Philippi.
Fängt einer an, feierlich zu schwören, sprecht nicht mit ihm. Warum wollt ihr mit ihm reden? Daß
er noch mehr beschwört? Es ist der Herr, der hinzufügt, die gerettet werden (Apostelgeschichte
2,47). Wenn wir das täten, was der Herr uns tun heißt, würden wir nicht so viel Durcheinander
anrichten.

Verfolgt, aber siegreich


Nach 25jähriger ausgezeichneter Zusammenarbeit zwischen Metallinos und den
Protestantischen Kirchen Griechenlands (1925-1950) bestand kein Grund, einen solchen
Aufstand zu erwarten, wie er über der christologischen Frage aufbrach.
Der Funke wurde gezündet, als ein Student des Griechischen Bibel-Instituts, dessen Präsident
Metallinos war, über die Erniedrigung Christi predigte. In seiner Predigt vertrat der Redner die
Lehre von Metallinos, daß sich der Sohn Gottes während seiner Menschwerdung von allen
seinen göttlichen Eigenschaften "selbst entäußerte" und Seinem Vater in allen Dingen völlig
gehorsam war. Diese christologische Schau hatte in den Ohren bestimmter evangelischer
Gläubiger, die sich an das traditionelle Glaubensbekenntnis hielten, einen harten Klang.
Der Kern der Sache ist, kurz gesagt, dieser: Nach der traditionellen Lehrmeinung, wie sie auf
dem Konzil zu Chalcedon (451 n.Chr.) formuliert worden war, eine Lehrmeinung, die auch die
meisten Protestanten angenommen hatten, war Jesus Christus während seines 33jährigen
Lebens auf Erden "wahrer Mensch und wahrer Gott. Er besaß zwei getrennte Naturen, eine
göttliche Natur und eine sündlose menschliche Natur. Diese waren voneinander unterschieden
doch untrennbar in einer Person miteinander verbunden mit all Seinen unveränderten göttlichen
Vorrechten und Vollkommenheiten."
Metallinos, der immer bemüht war, die Tradition an der Schrift zu prüfen, war nicht bereit, diese
traditionelle Anschauung zu übernehmen, ehe er nicht selbst die Schrift über diesen wichtigen
Gegenstand befragt hatte. Er wußte, daß diese sogenannten "traditionellen
Glaubensbekenntnisse" auf Entscheidungen der Ökumenischen Konzilien beruhte, denen er mit
Vorbehalt begegnete. Beim Forschen in der Schrift fand er seinen Verdacht bestätigt. Er kam zu
dem Ergebnis, daß der Sohn Gottes "Gott gleich" war, den Himmel verließ und wahres
menschliches Wesen annahm. Er entäußerte sich freiwillig Seiner göttlichen Eigenschaften,
seiner Allgegenwart, Allmacht und Allwissenheit. Er wurde ganz Mensch, jedoch vollkommen,
ohne durch die Sünde seine Gemeinschaft mit Gott zu zerstören.
Einige unternahmen den Versuch, Metallinos den Mut zu nehmen, so sehr die Person Christi zu
erforschen. Sie meinten, "wir dürften nicht versuchen den Schleier wegzuziehen, der das
Geheimnis des menschgewordenen Sohnes vor unseren Augen verhüllt."
Metallinos sah die Dinge nicht so. Für ihn war es nicht verboten, Christologie zu treiben. Dieser
Gegenstand verdient unser Studium. Durch dieses in rechter Demut und Ehrfurcht ausgeübte
Studium, werden die Herzen der Gläubigen in Wirklichkeit gesegnet und belebt. Er schreibt:
Für uns ist es keine Sünde oder mangelnde Frömmigkeit, wenn wir uns bemühen, immer mehr
die Natur Christi zu erkennen, vorausgesetzt, wir gehen niemals über das hinaus, was die Bibel
über Ihn offenbart. Alles, was wir über die Person Jesu lernen können, erquickt die Seele.
Christus heißt uns, Sein Fleisch zu essen und Sein Blut zu trinken, damit wir durch Ihn das Leben
haben. Und es wird uns gesagt, es sei Gottes Wille, daß wir alle zu "der Erkenntnis des Sohnes
Gottes" kommen sollen, um "zu erkennen das Geheimnis Gottes, das Christus ist, in welchem
verborgen liegen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis(Epheser 4,13; Kolosser 2,2.3).
Von dieser Erklärung aus fuhr Metallinos unverzüglich fort, aus der Schrift zu. zeigen, daß das
Wort - Jesus Christus - "Fleisch wurde" (Johannes 4 1,14), "arm wurde" (2.Korinther 8,9), "sich
entäußerte" (Philipper 2,7). Das alles kann nur heißen, daß der Sohn während Seiner 33jährigen
irdischen Lebenszeit voll und ganz die menschliche Seinsweise angenommen hat, ohne damit
aufzuhören, der ewige Sohn Gottes, der Gott-Mensch zu sein. Er verzichtete auf seine
Selbstbestimmung und führte ein Leben in völliger Anhängigkeit von seinem himmlischen Vater
(Johannes 5,30.36) und in völliger Unterordnung unter Seinen Vater in allen Dingen (Johannes
6,57; 8,26 29; 11,41 42; 12,49 50; 13,3; 14,10; 16,28).
Die Vertreter der traditionellen Anschauung sagten: "Ein Gott, der aufhört, Gott zu sein, war
niemals Gott."
Metallinos antwortete: "Dieses Argument hält nicht stand. Eigentlich müßten wir sagen: Ein Gott,
der der Gefangene Seiner eigenen Natur ist und nicht ganz genau das werden kann, was Er will,
ist überhaupt kein Gott."
Es wäre ein Glück gewesen, wenn sich dieser Dialog auf theologische Argumente beschränkt
hätte. Doch je länger die Diskussion anhielt, um so mehr gewann sie an Umfang. Sie wurde so
hitzig, daß heftige Erwiderungen vernünftige Argumente ersetzten. So wurde die ganze Situation
immer schwieriger. Statt die christologische Frage auf der Ebene einer fruchtbaren Diskussion zu
halten, gingen einige, die damit befaßt waren, dazu über, Metallinos persönlich anzugreifen. Dies
war ein unglücklicher Irrtum. Diejenigen, die es unternommen hatten, eine fruchtbare Diskussion
über die Person Jesu Christi zu führen, hatten die Liebe Christi vergessen.
Für diese Angriffe und Anklagen gab es keine stichhaltige Rechtfertigung, denn im September
1951 hatte Metallinos in einer offiziellen Erklärung seinen Standpunkt unmißverständlich
dargelegt:
Von ganzem Herzen glaube und bekenne ich, daß Jesus Christus, als Er auf Erden war, die
zweite Person der göttlichen Dreieinheit war und blieb, der ewige Gottessohn, der die Gestalt
eines Knechtes angenommen hatte, um sich als Stellvertreter für alle Menschen darzubieten.
Nach Seiner Menschwerdung blieb Er Gott dem Wesen nach, die zweite "Person" der göttlichen
Dreieinigkeit, obwohl er in das menschliche Leben getreten und wesensmäßig und um aller
praktischer Ziele willen wahrer Mensch geworden ist.
Metallinos war keiner, der die traditionellen "Glaubensbekenntnisse" annahm, wie jemand, der in
einem Restaurant die vorgesetzten Speisen zu sich nimmt, ohne irgendwelche Fragen zu stellen.
Wann immer ihn irgendwelche allgemein vertretenen theologischen Anschauungen nicht ganz
befriedigten, wollte er selber am "Kochen" beteiligt sein. Immer forschte er, wie er es häufig
bezeugte, "mit Gebet und aufrichtigem Herzen und mit viel ernsthaftem Studium" in der Schrift
Als tüchtiger Bibelgelehrter und gründlicher Kenner der griechischen Sprache konnte Metallinos
nicht einsehen, daß die christologischen Aussagen des Konzils von Chalcedon irgendeine
Unterstützung durch das Neue Testament fanden. So konnte er zum Beispiel nicht einsehen,
wieso Christus als eine Person zur gleichen Zeit als Gott alle Dinge wußte und dieselben Dinge
als Mensch nicht wußte. Als Gott konnte Er alle .Dinge tun, als Mensch konnte Er dieselben
Dinge nicht tun. Als Mensch war Er am Kreuz von Seinem Vater verlassen, und als Gott war er
zur gleichen Zeit in der Herrlichkeit des Himmels. Statt dieser Widersprüche entdeckte Metallinos
in der Schrift die harmonische Lösung: Christi Erkenntnis nahm schrittweise zu (Lukas 2,52), Er
empfing Seine Allmacht vom Vater (Johannes 14,10b) und befand sich während seiner
Erdentage nicht im Himmel (Johannes 16,28). Diese oben genannten Widersprüche wurden
aufgehoben und dem Geheimnis seiner Selbsterniedrigung zugeschrieben (Philipper 2,6 8). Das
war eine Tat, in der Christus, ohne jemals aufzuhören, der zu sein, der Er war (der ewige Sohn),
sich freiwillig in das verwandelte, was Er war (Eigenschaften, Bedingungen), indem Er sich ganz
den menschlichen Bedingungen unterwarf und so der einzigartige Mensch wurde.
Auf die oben erwähnte Erklärung antworteten die Vertreter der traditionellen Anschauung: "Für
einen Menschen ist es unmöglich, die wahre Natur des Mensch gewordenen Gottessohnes zu
erklären. Hier haben wir es mit einem Geheimnis zu tun, und das muß im Glauben angenommen
werden."
Metallinos erkannte, daß diejenigen, die nicht mit ihm übereinstimmten, das Wort "Geheimnis"
nur zu ihren Gunsten verwandten. Sie sprachen von "Geheimnis", wenn sie ihn an der Darlegung
seiner christologischen Anschauungen hindern wollten. Boten sie jedoch ihre christologische
Anschauung dar, unternahmen sie große Anstrengungen, eben dieses "Geheimnis" zu erklären.
Sie erklärten zum Beispiel: "Christus muß in zwei Naturen erkannt werden, ohne Vermischung,
ohne Veränderung, ohne Teilung, ohne Trennung. Die Unterscheidung der Naturen hebt
keineswegs die Einheit auf, sondern bewahrt die Merkmale jeder Natur und verbindet sie zu einer
Person und Seinsweise. Diese ist nicht in zwei Personen geteilt oder getrennt, sondern ist
derselbe Sohn und der Eingeborene Gott und das Wort, Jesus Christus."
Ist die Menschwerdung des Sohnes Gottes ein Geheimnis, so ist sie ein Geheimnis für alle und
nicht für einige, stellte Metallinos fest. Außerdem erscheint im Neuen Testament das Wort
"Geheimnis" niemals in der Bedeutung von etwas Geheimnisvollem und/oder für den
menschlichen Geist Unbegreiflichem. Im Gegenteil, dieses Geheimnis wurde dem Apostel Paulus
völlig offenbart (Epheser 3,4 6), der in Wirklichkeit alle Gläubigen auffordert, "zu erkennen das
Geheimnis Gottes, das Christus ist, in welchem verborgen liegen alle Schätze der Weisheit und
der Er kenntnis"(Kolosser 2,2 3).
Was Metallinos über diese Anschauungen lehrte und schrieb, versuchte er niemals, irgend
jemandem aufzunötigen. Als Bibelgelehrter war er ohne Vorurteile und tolerant. Er achtete die
Überzeugungen anderer und empfand eine besondere Freude, die verschiedenen
Lehrmeinungen nebeneinander stehen zu lassen.
Doch er litt unter dem Verhalten bestimmter Brüder. Trotz all seiner Erklärungen und
Erläuterungen trachteten diese danach, das Feuer der Auseinandersetzung am Brennen und die
Gedanken der Brüder in ständiger Verwirrung zu halten.
Während dies alles das empfindsame Herz von Metallinos tief verwundete, diente es zugleich
dazu, seinen christlichen Charakter sichtbar zu machen. Noch während die Auseinandersetzung
tobte, schrieb er seinen Gegnern und Anklägern in demütiger und vornehmer Gesinnung einen
Brief. Indem er auf bestimmte Ereignisse hinwies, wollte er ihnen zeigen, welches Unrecht ihm
getan wurde. Und er versicherte ihnen: "ich halte es kaum für nötig hinzuzufügen, daß ich,
während ich dieses schreibe, sie alle mit brüderlicher Zuneigung aufrichtig liebe. Ich trage
gegenüber keinem Bitterkeit in meinem Herzen. Ich rufe Gott als meinen Zeugen an. Bitte,
nehmen sie meine brüderlichen Grüße in Christus an." Und dann bietet er ihnen sogar die andere
Backe dar und fügt hinzu: "Ich stelle mich ihnen zur Verfügung und bin bereit, meinen Brüdern zu
dienen, wo immer sie es wünschen.'
Dennoch schien dieser unglückliche Zustand kein Ende zu nehmen. Während dieser
Streitigkeiten drangen die Anklagen sogar nach Europa und nach Nordamerika.
Die Folge war: Metallinos brachte seine mit Schreibmaschine geschriebene Studie über die
Person Christi einigen ausländischen Theologen zur Kenntnis und bat sie um ihre kritische
Stellungnahme. Besonders bat er sie, ihm genau zu zeigen, wo seine Untersuchungen und
Schlußfolgerungen nicht mit dem Neuen Testament übereinstimmen. Er erklärte ihnen, daß es
nicht auf die Dogmen ankäme, die durch die "Tradition der Kirchen" überliefert worden seien,
sondern auf die Lehren, die ihren Grund im Neuen Testament haben.
Daraufhin trafen viele Briefe aus dem Ausland ein. Einige bestanden darauf, er müsse seine
Studie veröffentlichen. Viele andere drückten ihre Zustimmung zu der Stellung aus, die er in
dieser wichtigen Frage einnahm.
Doch nun wurde Metallinos durch den unglücklichen Verlauf, den die Diskussion von Anfang an
genommen hatte, so müde, daß er die hier folgenden endgültigen Erklärungen abgab und damit
die Tür zu jeder weiteren Auseinandersetzung über diese Angelegenheit schloß.

Erklärung I
Von ganzem Herzen glaube und bezeuge ich, daß "das Geheimnis der Gottseligkeit ist groß: Gott
ist offenbart im Fleisch" (1.Timotheus 3,16).
Um es deutlicher zu sagen: Zu keinem Augenblick habe ich aufgehört zu glauben und zu
bekennen, daß der geschichtliche Jesus immer Gott-Mensch war, die zweite Person der heiligen
Dreieinigkeit, der Sohn Gottes vor allen Zeitaltern, der den Menschen gleich war (Philipper 2,7),
der sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat (Jesaja 53,10), Sein Leben zu einer Erlösung für
viele (Matthäus 20,28).
Darum betone ich hiermit entschieden, daß alle Anschuldigungen, die mich darstellen als einen,
der die oben genannten lebenswichtigen und fundamentalen göttlichen Wahrheiten leugnet oder
gering achtet, völlig ungerecht und unbegründet sind. Alle wissen, daß ich durch Gottes Gnade
24 Jahre lang unermüdlich und opfervoll für die Verkündigung dieser Grundwahrheit des
Glaubens gearbeitet habe. Bis zu meinem letzten Atemzug werde ich an diesem herrlichen
Zeugnis festhalten. Zum Zeugen dafür rufe ich Ihn an, der die Geheimnisse des Herzens kennt
und auch die Beweggründe für unser Handeln, vor dem ich an jenem Tage stehen werde, um
Rechenschaft zu geben.
Erklärung II
Was meine mit Schreibmaschine geschriebene Studie "Die Person unseres Herrn Jesus
Christus" betrifft, in der die christologischen Abschnitte des Neuen Testaments zur
Übereinstimmung gebracht werden, ziehe ich willig alle außerbiblischen Ausdrücke, die darin
gefunden werden, zurück - die philosophischen und die psychologischen - und ich bitte demütig
darum, sie als nie geschrieben zu betrachten. (gezeichnet) Kostas Metallinos
Einige deuteten die Erklärung von Metallinos als eine Zurücknahme seines christologischen
Standpunkts, aber das war sicher nicht der Fall. Er war nicht der Mann, der mit einem Federstrich
Schlußfolgerungen und Überzeugungen widerrief, die er nach vielen Jahren gründlichen
Studiums des griechischen Neuen Testaments formuliert hatte. Der einzige Zweck der oben
gebrachten "Erneuten Bestätigung des Glaubens" lag darin, wie er selbst sagt, "alle
außerbiblischen Ausdrücke, philosophische und psychologische, zurückzuziehen". Er wollte nicht
seine ursprünglichen christologischen Ansichten zurückziehen, die sich auf biblische Aussagen
gründeten. Er schrieb: "Die Lehre von der Selbstentäußerung gründet sich nicht nur auf den
Abschnitt Philipper 2,7 8, sondern auch auf die Evangelien, genauer gesagt, auf die klaren und
zahlreichen Aussagen unseres Herrn über Seine Person und auf den historischen Bericht über
Sein Leben, wie er in den Evangelien enthalten ist, besonders im Johannesevangelium." Im
Verlauf der Jahre ebbte diese Auseinandersetzung nach und nach auf.

Verbindungen mit dem Ausland

Hauptsächlich dadurch, daß Metallinos Christen in anderen Ländern kannte, entwickelte sich
nach und nach ein beachtlicher Grad der Zusammenarbeit zwischen dem Bund der Freikirchen
Griechenlands und dem Internationalen Bund Freier evangelischer Gemeinden. Der erste
Kontakt wurde 1950 aufgenommen.
Als Präsident des Bundes Freier evangelischer Gemeinden von Griechenland nahm Metallinos
an den jährlichen Konferenzen des Internationalen Bundes teil. So hatte er die Gelegenheit,
zahlreiche Brüder in Christus kennenzulernen. Häufig wurde er als Gast in ihre Häuser
eingeladen, und oft wurde er gebeten, länger zu bleiben.
Jedesmal, wenn er die europäischen Länder bereiste, erfuhr er eine freundliche Aufnahme. Die
Zeitungen der Länder, die er besuchte, berichteten ausführlich über ihn, besonders in
Deutschland, Dänemark und Schweden. Und jedesmal ließ er beim Abschied einen Teil seines
Herzens dort zurück. Als ihm einige Monate vor seinem Tod die Art und Weise, wie einige Leute
in der Gemeinde in Athen die Dinge behandelten, große Seelenqual bereitete, sagte er zu seiner
Frau: "Alcmene, ich kann nicht mehr länger hier bleiben. Warum gehen wir nicht von hier nach
Deutschland, um dort zu leben?"
Natürlich war das nicht ernsthaft gemeint. Es waren lediglich Worte, - Worte, die aus einem
beschwerten und erschöpften Herzen kamen. Niemals dachte Metallinos ernsthaft daran, die
Gemeinde zu verlassen, die er so sehr liebte. Seine Rundschreiben, die er an seine geistlichen
Kinder sandte, wenn er während seines letzten Lebensabschnitts regelmäßig Reisen ins Ausland
unternahm, offenbaren, welche zarten und heilige Gefühle er für sie empfand
Diese Briefe werden der Gemeinde immer in Erinnerung bleiben. Sie waren ein anderer Bereich
seines anregenden und fruchtbaren Hirtendienstes. Die erregende, brennende Weise, in der
Metallinos Gott lobte; die Fülle biblischer Wahrheiten, die er darbot, um seinen Leuten Trost und
Friede zu bringen; der siegreiche Klang, mit dem er die verzweifelten Herzen ermutigte; und die
heiligen Gedanken, die er zum Tragen brachte, wenn er Alte und Junge ermunterte - das alles
spiegelt die verschiedenen Seiten seiner Persönlichkeit wieder, einer Persönlichkeit, die in einem
heiligen und völlig dem Herrn und Seiner Gemeinde geweihten Leben milde und abgeklärt
geworden war. Von seinem Besuch in Ewersbach in Deutschland schrieb er seiner Gemeinde:
Meine geliebten Brüder!
Wir sind Pilger in dieser Welt. Wir sind in die Welt gekommen, um Christus kennenzulernen, Ihn
zu lieben, Ihm zu dienen und Ihn in Kürze von Angesicht zu Angesicht zu schauen.
Doch sollen wir, meine geliebten Brüder, immer von Herzen die heiligen Gebote unseres Herrn
bewahren und befolgen. Nur so machen wir Ihm Freude. Und er wird uns mit neuer Liebe lieben
und mit göttlicher Kraft in unserem Herzen leben.
Die Versuchungen, durch die Er uns gehen läßt, das Feuer der Feindschaft, in das wir durch die
Verhältnisse gestoßen werden, das alles kommt von Ihm. Das alles hat Er zuvor sorgfältig
geprüft, denn Er will uns dadurch zu einem höheren Standpunkt verhelfen, von dem aus wir Ihn
besser erkennen und durch Seine Gegenwart, Seinen Trost und Seine Freude erquickt werden.
Als dem Paulus diese Wahrheit offenbart wurde, schrieb er in jubelndem Geist: "Ich will mich am
allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne."
Darum, meine Lieben, seid allezeit fröhlich und danket dem Herrn für alles, auch wenn wir in
unserer Schwachheit aneinander leiden. Keiner verdamme seinen Bruder, laßt uns nicht einander
richten, laßt uns nicht eifersüchtig aufeinander sein. Bittet den Herrn, daß Er uns Ihm gleich
macht, denn Er hat uns dazu geschaffen, dieses herrliche Ziel zu erreichen.
Meine lieben Brüder, der Herr hat mir hier eine Arbeit anvertraut, die mich noch einen weiteren
Monat hier festhalten wird.
Von der Kanzel aus schaue ich Eure strahlenden und heiligen Gesichter und ich umarme euch in
Christus.
Euer Diener in dem Herrn, Kostas
DER HELD IST GEFALLEN
An jenem Samstag im Januar 1963 war der Terminkalender von Metallinos übervoll. Nach der
Predigt am Morgen feierte er das Mahl des Herrn. Danach mußte er an einer Konferenz mit
Gemeindevertretern aus den Außenbezirken teilnehmen. Und am Nachmittag hatte er zwei
Trauungen zu halten. Obwohl er blaß und erschöpft aussah, vernachlässigte er keine seiner
Aufgaben. Um jeden zufriedenzustellen kümmerte er sich um alles. Es schien so, als ob er schon
ahnte, daß dies sein letzter Sonntag in Alcibiadestraße 3 sein würde. Am nächsten Tag brach er
mit einigen Brüdern zu einer geistlichen Rüstzeit nach Sounion auf.
"Laßt uns gehen," sagte er zu ihnen, "laßt uns nach Sounion gegen, damit wir allen Menschen
und allem Irdischen absterben und für den Herrn leben. Möchte Er uns doch von dort aus in den
Himmel aufnehmen."
Sie gingen wirklich nach Sounion. Und der Herr erfüllte ihm den erbetenen Wunsch und nahm ihn
von dort auf in den Himmel. Als in früheren Jahren ähnliche Gruppen aus verschiedenen
Gemeinden nach Sounion gingen, um dort die Bibel zu studieren und geistliche Gemeinschaft zu
erleben, wählte Metallinos für die Botschaften, die er zu ihrer Erbauung gab, eine Vielzahl von
Themen. Dieses Mal jedoch hatte ihr geistlicher Vater das starke Bedürfnis, zu den
Versammelten über das Buch der Offenbarung zu sprechen.
Fünfzehn Tage lang hatte er die Lehren, Weissagungen und geheimnisvollen Bilder der
Offenbarung des Johannes ausgelegt. Nun war er zu dem 20. Kapitel des Buches gekommen. Er
war gerade dabei, das Gericht vor dem großen, weißen Thron zu beschreiben, als ihn ein
plötzliches Unwohlsein überfiel, so daß er seine Botschaft abbrechen mußte. Unmittelbar danach
bat er darum, besonders dafür zu beten, "daß der Satan zurückgeschlagen werden möchte". Das
geschah. Nun schien er wieder er selbst zu sein und fuhr fort. Doch kurz darauf brachte er seine
Botschaft zu einem vorzeitigen Ende.
Hier die Zusammenfassung jener Botschaft, die die letzte seines Lebens sein sollte:
Diejenigen, die im Herrn entschlafen, gehen ein in Seine Gegenwart. Doch das Wort Gottes
schildert uns keine Einzelheiten. Sind wir zu sehr bestrebt, mehr Einzelheiten zu erfahren,
besteht die Gefahr, daß wir in die Irre geführt werden. Was uns froh macht, ist die Tatsache, daß
wir bei Christus sein werden. Diejenigen, die in dem Herrn sterben, befinden sich bereits in einem
gesegneten Zustand, aber sie befinden sich noch nicht in der Herrlichkeit.
In Kapitel 21,3 finden wir eine Schilderung, in der beschrieben wird, wie Gott unter den Menschen
wohnt. Auf wunderbare Weise wird Er die Menschen mit einer neuen Art Leben beschenken. Es
wird ein himmlisches Leben sein. Es wird keine Schmerzen, kein Leid, keine Tränen mehr geben.
Nun noch etwas über die himmlische Stadt. Hier auf Erden begegnen uns Städte mit hohen
Gebäuden, mit Fabriken und wunderbaren Maschinen, mit Erfindungen und Unternehmungen.
Denn die Menschheit träumt von einem idealen Staat, streckt sich nach etwas aus, sehnt sich
danach, von den Lasten des Lebens, unter denen die Menschen voller Angst seufzen, befreit zu
werden. Die Menschheit gibt sich große Mühe, diesen Idealstaat hervorzubringen. Doch Gott
besitzt einen solchen Ort, der unseren Augen noch verborgen ist. Wenn Er ihn uns offenbart, wird
all unser Verlangen gestillt sein. Was sonst könnte unser Herr gemeint haben, wenn er sagt: "Ich
gehe hin, euch die Stätte zu bereiten"? Diese Stadt wird dem Ideal entsprechen, das wir begehrt
haben, ein Ort von unbeschreiblicher Schönheit und absoluter Vollkommenheit. Und wir werden
darin wohnen, für alle Zeitalter, die kommen werden. Der Name unseres Herrn sei gelobt.
Es war Montag, der 21. Januar. Am Abend mußte sich Metallinos mehrmals übergeben. "Ein
brennender Schmerz an der Magenöffnung" hielt ihn fast die ganze Nacht hindurch wach. Er
meinte, er litte unter einer "bösen Magengrippe". Keiner erkannte den Ernst der Lage. Er blieb im
Bett und verbrachte einen Teil seiner Zeit im Gebet. Die andere Zeit nutzte er, um seine
Gedanken für die Botschaften der nächsten Tage über die beiden letzten Kapitel der Offenbarung
zu sammeln. Doch am nächsten Tag war er nicht in der Lage aufzustehen. Irgendwann am
Nachmittag nahm er ein Blatt Papier, auf das er mit großer Mühe dieses Gebet schrieb: "0 Herr,
nimm diese brennenden Magenschmerzen von mir, mit denen der Teufel mich plagt." Am Abend
bat er Alcmene, die bei ihm war, ihm aus dem Bücherschrank einen Kommentar über die
Offenbarung zu holen. Als sich Alcmene dem Bücherschrank näherte, um nach dem Buch zu
suchen, hörte sie hinter sich ein leichtes Röcheln. Es war der letzte Atemzug von Kostas
Metallinos.
Man schrieb Dienstag, den 22. Januar 1963, acht Uhr abends.
Kurz darauf trat eine liebe Schwester aus der Gemeinde von Metallinos hinzu und schloß mit
einer leichten Berührung ihrer Finger seine beiden Augen. Es waren die beiden Fenster, durch
die seine Leute so viele Jahre lang die Schönheit seiner Seele wahrgenommen hatten, die ihn
gerade verlassen hatte.
Die Nachricht von seinem Tode breitete sich aus, von Mund zu Mund. durch Telefon und
Telegramme, durch das gedruckte Wort. Sie wirkte tiefe Trauer bei alt und jung, bei groß und
klein, bei Freunden und Bekannten. Als die Menschen hörten, daß er gestorben sei, hatten sie
das Empfinden, in ihnen sei etwas ausgelöscht worden, ein Teil von ihnen sei für immer von
ihnen gegangen. Am folgenden Tage brachte man den Leichnam von Sounion nach
Alcibiadesstraße 3, wo er vor der Kanzel aufgebahrt wurde.
Die Beerdigung fand am Donnerstag, dem 24. Januar, um 10.30 Uhr vormittags statt.
Lange vor Beginn des Gottesdienstes war der Raum mit Menschen und Blumengaben überfüllt.
Es schien, als ob jeder von nah und fern gekommen sei, um über ihn zu trauern. Der eine kam,
um seinen Vater im Glauben zu beklagen, der ihn über Jahre hindurch geistlich versorgt und sich
um seine verschiedenen materiellen Nöte gekümmert hatte. Ein anderer kam, um über den
Kollegen im hohen Regierungsamt zu trauern, der ihn durch seine Geduld und seine Demut
dahin geführt hatte, das Licht des Heils Gottes zu schauen. Ein anderer trauerte über den Diener
des Evangeliums, der über einen Zeitraum von 50 Jahren ein würdiger Diener des Evangeliums
gewesen war, ohne dabei den geringsten materiellen Vorteil für sich zu erlangen. Dieser Dienst
war in voller Lebendigkeit geschehen und hatte reiche Frucht getragen. Ein anderer kam, um
diesen "wunderbaren Mann" zu beklagen und gleichzeitig um seine Neugier zu befriedigen.
Wollte er doch wissen, wie dieser wahre Mensch Gottes im Sarg aussah.
Zu Ehren des heimgegangenen Dieners Gottes sang der Gemeindechor, dessen Dienst
Metallinos sehr geschätzt hatte, in ruhigen, getragenen Weisen Lieder der Hoffnung und des
Sieges. Außer diesen eindrücklichen Weisen war nichts in diesem überfüllten Heiligtum zu hören.
Die einen standen da, schweigend, bewegt, benommen. Die anderen zogen als ein langsamer,
schweigender Strom am Sarg vorüber.
Die tiefe Trauer derer, die an der Beerdigung teilnahmen, machte auf den
Bestattungsunternehmer einen solchen Eindruck, daß er für seine Bemühungen keine Vergütung
annahm, obwohl ihm Metallinos völlig fremd war. Tief bewegt von dem, was er sah, sagte er: "Die
Tatsache, daß eine so große Menge gekommen ist, diesen Mann zu beweinen, macht deutlich,
daß er wirklich ein heiliger Mann gewesen sein muß.
Die Sargträger waren junge Männer, die eifrig am Wort dienten. Sie alle waren durch Metallinos
zum Glauben gekommen. Durch ihn hatten sie ihre geistliche Speise empfangen und waren
Nachfolger und Nachahmer ihres geliebten Lehrers geworden. Wo immer sie auch predigten,
trugen sie die Botschaft von Metallinos weiter und verbreiteten so seine theologischen Ansichten.
Sie hatten sogar manche seiner besonderen Verhaltensweisen angenommen.
Es war fast Mittag, als der Leichenzug sich in Bewegung setzte. Es war ein regnerischer Tag voll
durchdringender Kälte. An der Spitze fuhr der Leichenwagen mit den sterblichen Überresten von
Kostas Metallinos. Dann folgte eine lange Auto-Prozession mit Menschen und wunderbaren
Kränzen und Blumengebinden. Die lange Wagenkolonne brauchte eine halbe Stunde, um den
Eingang des Friedhofs zu erreichen. Von dort zog, fast beredt in seiner würdigen Feierlichkeit, ein
langer Zug zur eigentlichen Beerdigungsstätte.
Der Sarg wurde neben das offene Grab gestellt, und alle versammelten sich zu einem letzten
Abschiednehmen. Es gab ein kurzes Zeugnis von der lebendigen Hoffnung der Christen. Dann
sang die Schar der Gläubigen einige Lieder. Langsam wurde der Sarg in das Grab gesenkt und
mit einem milden Regen von Erde und Blumen sanft bedeckt.
"Wie sehr wünschte ich mir, ich würde aufwachen und erkennen, daß das alles nur ein böser
Traum war", sagte einer der Trauernden beim Verlassen des Friedhofs. Aber leider war es kein
Traum. Einer der Helden war wirklich gefallen.

Die Bedeutung des Mannes


Die Person und das Werk von Kostas Metallinos kann man mit einer der hohen Pyramiden
vergleichen, deren gewaltige Größe uns ebenso stark beeindruckt wie die Kammern mit ihren
verborgenen Schätzen im Inneren. Den äußeren Dimensionen seines geistlichen Wirkens
entsprach die innere Heiligkeit seines Herzens.
Ein Beitrag, den Metallinos der christlichen Kirche leistete, bestand in seiner Lehrtätigkeit. Als
Lehrer der Bibel bot Metallinos in Wort und Schrift die göttliche Wahrheit dar, kristallklar,
interessant und, wie er gern sagte, "frisch". Seine Verkündigung war nicht mit den traditionellen
dogmatischen Klischees überladen. Er war ein wagemutiger Prediger. Wenn er davon überzeugt
war, daß seine Gedanken auf der Schrift beruhten, scheute er sich nicht, diese auszusprechen,
auch wenn er wußte, daß dies einigen seiner Hörer mißfallen würde.
Sowohl seine Anschauungen über die christologischen Probleme, über die Verkündigung des
Evangeliums unter den Toten und über die moralische Freiheit des Menschen, als auch seine
Argumente, die er bei der Darlegung dieser Themen verwandte, zeigen uns einen unabhängigen
theologischen Denker. Die Grundwahrheiten unserer Erlösung durch Christus deutete er durch
das Licht, durch das Gott ihm das Sehvermögen geschenkt hatte. Er tat es aber immer erst,
nachdem er gründlich geforscht, hart gearbeitet und besonders für diese Aufgabe gebetet hatte.
Doch das Herausragende an der Lehrtätigkeit von Metallinos bestand darin, daß es ihm gelang,
einfache, ungebildete Gläubige so für ihren Glauben zu begeistern, daß sie sogar bereit waren,
über theologische Fragen zu diskutieren und Argumente auszutauschen. Dieser Erfolg beruhte
auf seinem Vermögen, Themen und Vorstellungen klar auszudrücken, so daß sogar einfache
Menschen sie verstehen konnten. Auf diese Weise veranlaßte er durch sein Lehren einen
Schneider zu einer Diskussion über die moralische Verantwortung des Menschen; eine Hausfrau
zu begeisterten Aussagen über den Heilsplan durch Christus; einen Friseur zu einer langen
Erklärung über den Tod Christi als wirksames Mittel, Gottes Gerechtigkeit und Gnade
miteinander zu versöhnen. Die Theologie wurde lebendig und so vereinfacht, daß Laien sie
verstehen konnten. Diese Theologie schlug in den Freikirchen wurzeln und wurde nicht nur zu
ihrem Kennzeichen, sondern sie erwies sich auch als eine reale Kraft, die ihre Glieder über Jahre
hinaus hellwach hielt und ihnen dazu verhalf, die Quellen ihres Glaubens und dessen
wesentlichen Inhalt bewußt zu erleben.
Ein weiterer wichtiger Beitrag, den Metallinos der Gemeinde Christi leistete, lag in der
Wahrnehmung seines Hirtenamtes. Er war ein beliebter und hingebungsvoller Hirte, von dem
viele anregende und bewegende Züge seines opfervollen Dienstes in Erinnerung geblieben sind.
Nur in einem Bereich seiner Arbeit, auf dem Gebiet verantwortlicher Führerschaft, scheint er eine
gewisse Schwäche gezeigt zu haben. Es lag ihm sehr daran, daß in der Gemeinde alles
"anständig und ordentlich" geschieht. In seinem Bemühen, aus der Gemeinde eine reine
demokratische Körperschaft zu machen, versäumte er es als ihr verantwortlicher Leiter,
Maßnahmen zu ergreifen, die die rechte Ordnung und Zucht in der Gemeinde sicherten. Das
Ergebnis war, daß jeder in der Gemeinde Tätigkeiten ausüben konnte - ohne rechte Anleitung,
ohne Einschränkungen und ohne irgendeine Aufsicht. Einige, noch jung an Jahren und im
Glauben, übernahmen - völlig aus eigener Verantwortung - Aufgaben, die ihre geistliche
Erfahrung und Reife überstieg. Diese ungezügelte Freiheit verursachte in der Gemeinde eine
Unzahl von Reibungen und Mißverständnissen, besonders dann, wenn sie mehr mit Kraft als mit
Weisheit ausgeübt wurde. Dieser Zustand hemmte nicht nur die Entwicklung der Gemeinde,
sondern verursachte Rückschläge, die Metallinos häufig in große Bedrängnis brachten und am
Ende seines Lebens zu starken Seelenängsten führte.
Weil er sich ganz dem Dienst am Wort verschrieben hatte, kam die Wahrnehmung von
Verwaltungsaufgaben bei ihm zu kurz. Doch auf jenem Gebiet erkennen wir den überragenden
Beitrag von Metallinos an die Gemeinde Christi. Er hat es selbst bezeugt, daß er von Gott den
Ruf empfangen habe, zu predigen, das Wort auszulegen, den Griechen das Evangelium Christi in
einer schlichten, leicht verständlichen Weise zu bringen.
Seit Beginn seiner Wirksamkeit im Jahre 1917 empfand er, daß er vom Herrn für diese
besondere Aufgabe gesalbt worden sei. Damals schrieb er:
Mein Lebensideal, der so wichtige Plan für mein Leben, dessen Erfüllung ich als Sinn meines
Daseins empfinde, liegt in meinen Eintritt in den Dienst Christi und in meinem Bemühen, Sein
Evangelium auszubreiten.
Und es gelang ihm tatsächlich, das zu verwirklichen, was er als das Ideal seines Lebens ansah.
Und außerdem gelang es ihm durch die Art, wie er die Wahrheit bezeugte, dem Evangelium zu
hohem Ansehen zu verhelfen. Seine ihm eigene Predigtweise diente dazu, die Grundwahrheiten
des Neuen Testaments zum Leuchten zu bringen. Dieses übte bis dahin kaum irgendeinen
Einfluß auf das moderne griechische Denken aus. Die Geistlichkeit und die Mönche der
Staatskirche hatten bis dahin mehr dazu beigetragen, die Wahrheit des Evangeliums zu
verbergen als ans Licht zu bringen. Metallinos machte den Inhalt des Evangeliums so lebendig
und betonte seine Bedeutung für die Gegenwart so geschickt, daß Gläubige wie Ungläubige von
seiner Ausstrahlung angezogen wurden. Er war ein Wegbereiter, ein Pionier, der für das religiöse
Leben Griechenlands neue Pfade eröffnete und neue Markierungen setzte.
Außerdem war er der erste Staatsbeamte, der die Wahrheit unter denen verbreitete, die im
Staatsdienst standen. Er war darin so erfolgreich, daß einige der höchsten Beamten
Bibelstudienkreise und Gebetsgruppen für Regierungsangestellte einrichteten.
Als Wissenschaftler, der das Christentum angenommen hatte, war er der erste, der den Mut
besaß, unserem materiellen Zeitalter in öffentlichen Vorlesungen über wissenschaftliche Themen
den Glauben an Christus als etwas darzustellen, das nicht im Widerspruch zu unserer modernen
Gesellschaft steht. Sogar die Orthodoxe Kirche ist Metallinos zu großem Dank verpflichtet.
Widmete er doch sein ganzes Leben der Aufgabe, das religiöse Gewissen des griechischen
Volkes zu wecken und den Kampf gegen die Mächte des Unglaubens zu führen. Darüber hinaus
brachte er durch seine Predigten das Licht des Evangeliums zu angesehenen orthodoxen Laien,
die, nachdem sie die Rettung durch den Glauben erfahren hatten, aktive Mitarbeiter in ihrer
Kirche wurden und dazu beitrugen, daß wünschenswerte Reformen innerhalb der Orthodoxen
Kirche in Gang gesetzt wurden.
Das Fundament, aus dem alle Arbeit von Metallinos erwuchs, war sein persönlicher Glaube. Ein
Blick in den Reichtum geistlicher Schätze, die in diesem Mann verborgen lagen, mag uns gut tun.
Er war weder ein systematischer Theologe noch ein überragender Organisator oder Verwalter. Er
war jedoch ein Mann des Glaubens. Mit dem schlichten Glauben eines kleinen Kindes vertraute
er den Zusagen und Verheißungen Gottes. Solch einfältiger und unmittelbarer Glaube begegnet
uns niemals ohne wahre Demut. Diese Tugend gab seinem Auftreten und seinen täglichen
Verrichtungen einen besonderen Glanz. Nie suchte er das Licht der Öffentlichkeit. Er besaß
genug Demut und genug Einsicht, um zu erkennen, daß Gottes Werk durch Gott geschieht und
nicht durch Menschen. Seinen Erfolg betrachtete er als eine Kraftwirkung des Evangeliums,
niemals verstand er ihn als persönliche Leistung.
Im Verlauf seiner geistlichen Entwicklung erwies er sich nicht als ein streitbarer Krieger, sondern
als ein einfältiges Lamm. Seine einzige Angriffswaffe war seine Predigt, seine einzige
Verteidigungswaffe war sein zartfühlendes heiliges Leben. So war Metallinos um seines Herrn
willen allezeit bereit zu predigen und zu leiden. Doch das Hauptmerkmal dieser gebildeten und
zarten Seele war die Liebe, die Liebe Gottes, die übersieht, die vergibt, die mitleidet, die versteht.
Diese alle umschließende Liebe verspürte er zum ersten Mal in seinem kahlen, kleinen Zimmer,
während seiner Studentenzeit. Damals vergoß er Tränen der Freude und der Dankbarkeit. Diese
Liebe hatte ihn so ergriffen, daß er bereit wurde, für alle Zeit ein Sklave in Fesseln zu werden.
Damals hatte er mit leiser Stimme seinem Herrn gesagt: "Ich verspreche Dir, daß ich Dir ganz
gehören will und daß ich mein ganzes Leben nicht aufhören will, Dir zu dienen." Kostas
Metallinos hielt sein Versprechen, und der Herr trieb sein Werk.
Dieses Werk starb nicht mit Metallinos. Im Gegenteil, es wurde größer und breitete sich aus.
Einige ehemalige Studenten der Bibelschule von Metallinos gründeten in Griechenland zahlreiche
neue Ortsgemeinden. Andere trugen die Botschaft in fremde Länder. Diese hingebungsvolle
Arbeit für Gott wurde auf vielfältige Weise für die in zahlreichen Ländern zerstreuten
Auswanderer, die unter Einsamkeit und manchmal unter Verzweiflung litten, zur Botschaft der
Hoffnung.
Der Herr bestätigte diesen Dienst. Das führte dazu, daß sich heute zahlreiche
griechischsprechende Gemeinden in Europa, den USA, Kanada und besonders in Australien
entfalten. Alle diese Gemeinden sind durch ein gemeinsames Zeugnis, ein gemeinsames Ideal
und ein gemeinsames Streben verbunden. Und die Arbeit geht weiter.
Das Reich Gottes gleicht einem Sauerteig, den eine Frau nahm und unter einen halben Zentner
Mehl mengte, bis er ganz durchsäuert war (Lukas 13,18).

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ICH WAR ERSCHÜTTERT VON DIESER NIE GEAHNTEN MENSCHLICHKEIT


- Den stillen Ruhm des anderen Deutschland laut verkünden: Die Jüdin Annie Kraus über ihre
Erlebnisse als Getauchte während der Nazizeit -

Tausende überlebten den Judenmord nur, weil sie auf Retter trafen, die sie unter Gefahr des
eigenen Lebens versteckten und versorgten. Annie Kraus erwähnt in ihrem Brief an den
emigrierten Juristen Waldemar Gurian nicht nur prominente Helfer wie den Solf Kreis, eine
Gruppe von Kritikern und Gegnern Hitlers, und den katholischen Widerstand. Auch
Portiersfrauen, Wirtinnen und Kindergärtnerinnen, “Weddingbewohner“, die selbst fast nichts
besaßen, rühmt sie für ihren Anstand und ihre riskante Hilfe. Es handelt sich um die verborgenen
Helden einer inoffiziellen Widerstandsbewegung, ohne die sie und andere nicht überlebt hätten.
Den Hinweis auf diesen unbekannten Brief, den wir hier gekürzt wiedergeben, verdanken wir den
Historikern Andreas Mix und Reinhard Mehring.

F.A.Z., 20. Juli 2007

Sommer 1947

Sehr verehrter Herr Dr. Gurian!

Ich bin Ihnen und H. H. Peter Thomas Michels sehr dankbar für Ihre große Freundlichkeit, zumal
ich das versprochene Carepaket weniger für mich als für meine caritativen Zwecke bitter
notwendig brauche.

Sie bitten mich um Mitteilung meiner Erlebnisse als Getauchte während der Nazizeit. Aber ganz
Deutschland ist jetzt in unvorstellbarer leiblicher und seelischer Not, und so ist in. E. nicht mehr
der Moment, auf Deutschland Steine zu werfen, trotzdem die nicht zu leugnende Reuelosigkeit
und Unbußfertigkeit der "ewigen Nazis" den Anschein eines Rechtes dazu erwecken könnte.
Auch ist jene Unbußfertigkeit und alles neue Oberwasser, das man leider konstatieren muß, nicht
ganz unverschuldet. Denn die Dinge, die jetzt tatsächlich von anderer Seite geschehen, sind
nicht dazu angetan, das eigene begangene Unrecht bereuen zu lassen in Köpfen, die man auf
keine Weise in der ihnen entsprechenden Art aufgeklärt hat (eine Art, in der Hitler Meister war).
Das aber hätte unbedingt geschehen müssen.

Auch aus privaten Gründen möchte ich darauf verzichten, das Quälende und Schreckliche, das
ich durchmachte, und die unvorstellbaren Strapazen, die ein minutiöser Kampf mit der Materie
mit sich brachte, heraufzubeschwören: ich möchte die erst vor kurzem erfolgte ärztliche
Beseitigung der nervlichen Folgen jener Zeit nicht mutwillig in Frage stellen. Vor allem aber wäre
mein spontaner Bericht ohnehin niemals eine bloße Schilderung der erlebten Schrecken
geworden. Denn da diese körperlich und seelisch schwersteiri unvorstellbar schweren Jahre
meines Lebens auch die gnadenreichsten und geseg netsten waren, so bleibt mir gar nichts an:
deres übrig, als von ihnen in diesem Sinne zu zeugen.

Weiß ich doch inzwischen, daß im Ausland leider in keiner Weise hinreichend bekannt ist, welch
unerhörte Leistungen des Widerstandes, z. B. auch in der individuellen Betreuung politisch und
rassisch Verfolgter, seinerzeit in ganz Deutschland und in Berlin, wo ich im ersten Jahr meines
"Untertauchens" lebte, vollbracht worden sind. In jenen Jahren ist das "andere Deutschland" so
sichtbar geworden und so strahlend erglänzt, dass ich zu sagen wage: es wiegt das Grauen des
Übrigen auf. Dieses andere Deutschland ist eine Realität, vor der alles Übrige, von dem das
Ausland mehr Notiz nimmt, vergeht, wie das Nichts des Bösen vor einem Funken der Liebe was
wiederum keineswegs heißen soll, daß jenes andere Deutschland quantitativ so gering war.

Ich selbst habe es persönlich in a l l e n Schichten erlebt, angefangen von den oberen
Zehntausend, von meiner hochverehrten Excellenz Frau Hanna Solf und ihrer Tochter Gräfin Lagi
Ballestrem, die mich als Erste 6 Wochen lang beherbergte, ohne mich vorher gekannt zu haben,
von Graf Albrecht Bernstorff und Geh. Legationsrat Kuenzer, diesen prachtvollen, edlen
Menschen, die nach grauenvollen Marterungen im KZ am Tage des Russeneinmarsches von der
SS erschossen wurden; über Weltgeistliche beider Konfessionen und Ordensleute hinweg bis
hinunter zu Portiersfrauen und Weddingbewohnern, welch letztere sich ganz besonders
wunderbar erwiesen und unauslöschlich in meinem Dankesgedächtnis eingetragen bleiben
werden. Ohne die Hilfe, die diese Menschen mir angedeihen ließen, nachdem ich bereits von der
Gestapo erfaßt war, und die ich das ist das Allerbemerkenswerteste! annehmen konnte, wäre
ich wohl heute nicht mehr am Leben.

Unermüdlich waren diese Menschen des Solfkreises (unter ihnen auch Prof. Erxleben, der
Beichtvater unseres Berliner Kardinals, der mich, nachdem er schon ein furchtbares
Gestapoverhör hinter sich hatte, 5 Tage in seiner Wohnung beherbergte) und die Anderen, von
denen ich noch reden werde, bemüht, mich und viele Andere zu retten, sei es durch schwarzen
Grenzübertritt, durch Beschaffung von Quartieren (das schwierigste und für mich furchtbarste
Problem damals, weil es mit der stärksten Gefährdung der Quartiergeber verbunden war), sei es
durch Auftreiben von Lebensmittelkarten, durch pekuniäre Hilfe und durch Beschaffung falscher
Papiere. Sie alle riskierten ganz bewußt unaufhörlich ihr Leben, und zwar in umso höherem
Grade, als sie selbst bereits durch ihre antinazistische Haltung und Tätigkeit „oben“ sehr
schlecht angeschrieben waren. Das war bei dem prominenten Solfkreis und den mich
betreuenden Geistlichen und Schwestern, namentlich dem Gründer des Kath. Friedensbundes,
Dr. Metzger und seinen Piusstift Schwestern, durchgängig der Fall.

Was ich auf Bitten Frau Solfs einem Herren in der Schweiz über Kuenzer schrieb, das kann ich
mit anderen gleichwertigen Einzelheiten auch über alle anderen Personen sagen, die ich in
diesem Brief an Sie, verehrter Herr Doktor, nennen werde: "Seine erstaunliche Lauterkeit und
Güte waren von all dem Schrecklichen, das damals als das Leiden Anderer auf ihn zukam, so tief
und schmerzlich beeindruckt, und es löste ein so so großes Mitleid und Erbarmen bei ihm aus,
daß seine Selbstlosigkeit und Hingabe Formen annahm, die zu dem Rührendsten gehörten, was
ich erlebte. So führte er z. B. mich, die er damals kaum kannte, persönlich zu kleinen, abgelegen
wohnenden Winkeladvokaten, von denen er sich für mich und meinesgleichen eine besondere
Hilfe versprach. Er holte mich von weither ab, um mir irgendeinen Tip zu geben. Er brachte
persönlich einen Mantel zu einer mir helfenden Freundin, um den wir ihn für einen französischen
Kriegsgefangenen gebeten hatten, dem wir zur Flucht verhelfen wollten. Er lud mich zum Essen
ein, um mit mir Hilfsmöglichkeiten für andere Juden zu besprechen, die ihm am Herzen lagen. Er
beherbergte mich unter größter eigener Gefahr fast eine Woche lang. Er veranstaltete
Geldkollekten für mich und ich weiß, daß ich nur ein Fall unter vielen, vielen anderen war. Er
hatte Kontakt und suchte ihn weiter mit allen Widerstands und helfenden Kreisen, die der
Betreuung getarnter Juden galten. Er machte zu diesem Zweck Informationsreisen in die
Schweiz, um uns dort Übergänge zu besorgen. Und dies alles in einer ganz stillen, zutiefst
noblen Art, immer nur den Blick auf den Andern, den leidenden, verfolgten Andern gerichtet, nie
auf sich selbst."

Alle diese Leute schämten sich Deutschlands so furchtbar, konnten nicht an die längere Dauer
eines solchen politischen Zustandes glauben und waren von einem in meinen Augen unfaßlichen
kindlichen Optimismus beseelt bezüglich des Zeitpunktes des Zuendegehens jener
Schreckensherrschaft sowie dessen, was sie an Vergiftung der Gemüter und an Leiden
angerichtet hatte. Der kindliche Optimismus jener zum Teil politisch doch höchst erfahrenen
Leute war indes der unmittelbare Ausfluß der Güte und Lauterkeit ihres Gemütes, das an die
Tragfähigkeit solcher Bosheit nicht glauben konnte. Inzwischen wollten sie alle nichts anderes
tun, als ihren Teil dazu beitragen, das Unrecht gutzumachen, soweit es in ihren Kräften stand.
Sie wollten helfen und trösten – und waren doch selber bereits durch ihr bloßes Dasein ein
großer Trost und das Wahrzeichen des wirklichen Vorhandenseins eines anderen, echten, guten
Deutschlands, von dem gerade wir „Getauchte“ so herrliche Proben erleben durften und für die
Zeugnis abzulegen unsere unabdingliche Verpflichtung ist.
Zu den von mir betrauerten Toten zähle ich vor allem meinen priesterlichen Freund und Vater Dr.
Max Joseph Metzger, der am 17.4.1944 in Brandenburg hingerichtet wurde und als Märtyrer für
den Frieden der Welt und die Einheit der Kirche gestorben ist. Er war der Mensch, der mir in
jenen Zeiten am meisten gegeben hat und um den ich am meisten gelitten habe (wie denn
überhaupt das, worunter ich in den Zeiten meiner Verfolgung am schwersten gelitten habe, die
Angst um die Andern war, die Angst um die, die mir geholfen hatten, an denen ich hing und von
denen die Meisten in die Fänge der Gestapo geraten waren).

Ich selbst wohnte monatelang am Wedding neben Dr. Metzger, aß oft in seinem Piusstift und
"konspirierte" mit ihm. Ich selbst habe das Dokument, welches seinen Tod herbeiführte, als man
es bei Kuenzer und durch den Verrat einer Schwedin fand, die sich in die von Dr. Metzger
gegründete und geleitete Una Sancta Gruppe eingeschlichen hatte, auf seinen Wunsch in den
Solf Kreis geleitet: eine Art Verfassungsentwurf eines Nachkriegs-Deutschlands, für das der
protestantische Bischof Schwedens, an den dieser Entwurf gehen sollte, auf Bitten Dr. Metzgers
ein Wort bei den Alliierten einlegen sollte, das Deutschland vor der Zermalmung zu schützen
vermöchte.

Als ein Opfer der Judenbetreuung wurde Dr. Franz Kaufmann (Bruder des bekannten
Völkerrechtlers Erich Kaufmann der Berliner Universität, später in Haag) der eng mit Kuenzer in
diesen Dingen zusammenarbeitete und mit dem ich gut bekannt war, von der SS erschossen. Dr.
Kaufmann war Tag und Nacht auf den Beinen, um Juden zu helfen. Ich selbst war übrigens als
ein helfendes Glied in die karitativen Bemühungen Dr. Metzgers und Dr. Kaufmanns, Thrasolts,
Kuenzers und Frau Solfs eingeschaltet. Man brauchte mich vorwiegend zur Beschaffung falscher
Papiere und zur Besorgung von Quartieren. Auch die Dominikaner in Berlin, die Juden betreuten,
brauchten mich hierzu. Eine der Hauptkräfte dort war Maria George, die 1933 aus
Gewissensgründen ihr Amt als Lehrerin niedergelegt hatte und als Küsterin zu den Dominikanern
gegangen war. Sie beherbergte mich ebenfalls unter größter Gefahr und furchtbaren
Aufregungen und leistete wahrhaft heroische Akte der Selbstentäusserung in der Hilfe an Juden,
wohl bewußt, daß dies alles "Selbstmord" sei.

Dieser Maria George und Frau Maria Helfferich (Bornim/Potsdam) sowie meine frühere Wirtin Frl.
Gertrud Kaulitz, einer Klavierlehrein in Schlachtensee, einer Ungläubigen, - die, nachdem ich
fortziehen mußte, über ein Jahr lang eine Jüdin bei sich versteckt hielt - bin ich außer den
vorerwähnten Personen und den Schwestern des Piusstifts in erster Linie zu tiefstem Dank
verpflichtet.

Aber neben diesen intellektuellen Personen gab es noch die vielen "kleinen", von denen ich zum
Teil nicht einmal mehr die Namen weiß. Portierfrauen, kath. Kindergärtnerinnen, Fürsorgerinnen.
Von solchen Leuten bekam man (keineswegs selten!) anonyme Couverts mit 50 Mark-Scheinen.
Rührend waren eine Frau am Wedding, Frl. Anna Winkler, u. eine Kindergärtnerin am Wedding:
Grete Kühnel. Erstere beherbergte mich monatelang, später nahm sie einen Buben und ein jüd.
Ehepaar. Das Gleiche tat Grete Kühnel. Diese Menschen, die selbst fast nichts besaßen,
steckten uns, die wir dieses Milieu früher nicht gekannt hatten (ich wenigstens habe das
Weddingmilieu nur vom Film her gekannt), in unüberbietbar vornehmer Art Lebensmittelkarten
und Geld zu. Man war erschüttert von dieser hohen, nie geahnten Menschlichkeit. Ich selbst
nahm mir damals vor, "wenn alles vorüber" sei, und ich überleben würde, meinen Wohnsitz am
Wedding zu nehmen und nie mehr im Westen Berlins.

Während der ganzen schweren Zeit damals schwebte mir als erstes Ziel nach der Befreiung vor,
all diesen Wohltätern, von denen eine Reihe zu nahen Freunden geworden war, meine
Dankbarkeit auf der ganzen Linie zu beweisen, geistig und materiell. Geistig, indem ich ihren
stillen Ruhm laut verkünden würde; materiell, indem ich ihnen alles an Lebensmitteln und
sonstigen Hilfen zuwenden würde, was ich für mich selbst vom Ausland zu bekommen hoffte. In
Beidem habe ich mich verrechnet. Ich stieß auf taube Ohren, wenn ich von jenem anderen
Deutschland redete, ich bekam so gut wie nichts an Lebensmitteln. Meine Hilferufe für die
hungernden Schwestern in Berlin (die während der Nazizeit und während des
Russeneinmarsches Namenloses durchlitten und von denen jetzt die zweite an Hunger Tbc
erkrankt ist) sowie für andere großartige Helfer verhallten so gut wie ungehört. Meine gesamte
riesige karitative Korrespondenz für diese Zwecke hat fast kein Resultat gezeitigt. Als ich dann
selbst ab und zu ein Carepaket bekam, leitete ich den Inhalt unter großen Schwierigkeiten nach
Deutschland weiter, doch kam immer nur ein Teil davon an.

Trotz all meiner bisherigen Fehlschläge wage ich nun heute, mich an Sie, verehrter Herr Doktor,
zu wenden, weil ich hinreichend Grund habe, an Ihr Verständnis und an Ihren Einfluß zu glauben.
Ich brauche Ihnen wohl nicht zu versichern, wie glücklich und wie dankbar ich wäre, wenn der
Weg zur Hilfe in der großen Not durch Sie endlich gefunden u. beschritten werden könnte. Auf
alle Fälle lege ich die mir wichtigen Adressen (an die niemals ein Auslandpaket gelangt!) bei. Es
handelt sich bei ihnen nur um die verborgenen, unprominenten Helden einer inoffiziellen
Widerstandsbewegung (obwohl unbegreiflicherweise auch prominente wie Frau Solf und ihre
Tochter ohne "Reparationen" und Hilfe geblieben sind und ein schweres Leben haben). Falls
meine Bitte in ihrer Handfestigkeit jedoch deplaciert ist, so mögen Sie sie als nicht gestellt
betrachten und meiner Unkenntnis der diesbezüglichen Verhältnisse und Anschauungen in USA
zugute halten. Auf jeden Fall durfte ich nicht unterlassen, sie zu stellen. Das werden Sie
begreifen.

Sollte ich aber weiterhin so gut wie nichts zur Linderung der materiellen Not beitragen dürfen und
die große Ungerechtigkeit an jenen stillen heldenhaften Lebenden weiterhin ertragen müssen
(während sich alles in mir dagegen bäumt), so muß man uns doch gestatten, die zu rühmen,
denen man nichts mehr zu geben braucht als die Ehre, die ihnen wie jenen Lebenden gebührt.

Die Schablone, unter der man sich gewöhnt hat, Deutschland zu sehen, ist falsch. Das weiß
niemand besser als wir, die in jenem Land am schwersten verfolgt worden sind. Ich werde nie
aufhören, den Mut aufzubringen, dies zu behaupten, und sollte ich selbst dadurch weiter in
Mißkredit geraten und sollten mir weiterhin fühlbare Nachteile durch diese Behauptung und
meine Haltung erwachsen. So verständlich und berechtigt das Entsetzen derer ist, die ein Land
verließen, das gründlich suspekt werden mußte, weil in ihm "überhaupt so etwas passieren
konnte", so unwiderleglich ist die Tatsache, daß in demselben Land Dinge geschahen, deren
Erhabenheit nur in den glorreichen Märtyrerzeiten ihresgleichen findet, von deren Widerschein
hier aber wie sonst nirgendwo so Viele erglänzten, daß man das Wort Augustins realisiert zu
sehen glaubte, wonach "auch du" ein Heiliger zu werden vermagst.

Und noch eins ist nicht zu vergessen: Gewissermaßen hatten es die Juden viel einfacher als
jenes andere Deutschland. Wir hatten bloß zu leiden, konnten überhaupt nichts tun. Unser Leiden
war gleichsam eindimensional, wahllos, ohne Gewissensnot. Wir brauchten uns auch nicht zu
schämen, mir standen sozusagen groß da. Unsere ganze Situation war eindeutig. Jene
Menschen waren jedoch in der geradezu verzweifelten Lage, sich schämen zu müssen für etwas,
woran sie persönlich unschuldig waren, und etwas wirklich entscheidend Abhelfendes doch nicht
tun zu können. Sie hatten buchstäblich nur die Wahl, ihr Leben immer wieder aufs Spiel zu
setzen für etwas, das sie selbst persönlich irgendwie gar nichts anging, und für eine Hilfe, die rein
quantitativ doch nur ganz gering sein konnte; oder schweigend bloß zu leiden, sich zu schämen
und ihr Leben zu behalten. Die Vielen, die diesen Teil erwählten, dürfen wir nicht verurteilen.

Zum Schluß möchte ich noch sagen, daß ich dieser Zeit, die ich in Deutschland durchmachte,
eine Gabe der Unterscheidung verdanke, die ich nicht mehr preisgeben möchte. In ihr lernte ich
die Menschen kennen, die ich vorher nicht gekannt und die sich nicht unter meinen
(selbstverständlich durchweg antifaschistischen) Freunden fanden. Jene Zeit war der "Ernstfall",
an dem ich mich ein für allemal orientieren konnte und aus dem meine Wahl unwiderruflich
hervorging. Ich gehöre jetzt in erster Linie zu jenen Menschen, zu jenen wahrhaft Bewährten, die
ich in allen Schichten fand, und nicht mehr zu denen, mit denen mich bis dahin mehr oder
weniger intellektuelle Affinitäten verbanden. Diese Gabe der Unterscheidung indes erstreckt sich
auch auf die zwischen Nazis und Nichtnazis.
Es ist wahr, wir gehörten zu denen, die die Gnade hatten, nicht Nazis zu sein.

Nehmen Sie, verehrter Herr Doktor, nochmals sehr herzlichen Dank für Ihre große Freundlichkeit,

Ihre sehr ergebene

Annie Kraus

Reinhard Mehring

Annie Kraus, der Würgeengel des Carl Schmitt

Carl Schmitt propagierte 1936 den "Kampf gegen den jüdischen Geist" in der
Rechtswissenschaft. Aus den noch unveröffentlichten Tagebüchern der zwanziger Jahre geht
indes hervor, dass Schmitt weit engeren freundschaftlichen Umgang mit Juden hatte als bisher
bekannt. Georg Eisler war bis 1933 wohl sein engster Freund, der ihn auch finanziell unterstützte.
Schmitt lebte in Hamburg bei Eislers wie ein Mitglied der Familie. Als seine kranke Frau Duschka
wieder einmal in ein Sanatorium musste, ging Eislers Cousine Annie Kraus auf dessen Wunsch
1928 über ein Jahr als Privatassistentin, Sekretärin und Hausdame zu Schmitt nach Berlin. Er
diktierte ihr täglich seine Korrespondenz und unternahm auch privat viel mit ihr. 1933 brach
Schmitt um seiner nationalsozialistischen Karriere willen abrupt seine Beziehungen zu seinen
jüdischen Freunden ab.

Annie Kraus überlebte in Deutschland unter dramatischen Umständen, die der Historiker Andreas
Mix ("Hilfe im katholischen Milieu. Das Überleben der Konvertitin Annie Kraus", in: Überleben im
Dritten Reich. Juden im Untergrund und ihre Helfer, hrsg. von Wolfgang Benz München 2003)
geschildert hat. Als sie im Januar 1942 die Aufforderung erhielt, sich für einen Transport "in den
Osten" zu melden, tauchte sie unter. Im Juni 1942 ließ sie sich von ihren katholischen Helfern
taufen, die ihren Einsatz für versteckte Juden teils mit dem Leben bezahlten. Im Frühjahr 1943
floh sie ins Allgäu, wo sie gesundheitlich angeschlagen überlebte. Im Sommer 1947 schrieb sie
darüber an Schmitts ältesten jüdischen Schüler Waldemar Gurian einen erstaunlichen Brief.
Gurian von dem das Wort über Schmitt als den "Kronjuristen des Dritten Reichs" ursprünglich
stammt – war 1934 in die Schweiz geflohen. Später ging er in die Vereinigten Staaten.

Annie Kraus publizierte 1947 einen klugen Essay "Über die Dummheit" (Verlag Josef Knecht,
Frankfurt 1948, später stark überarbeitet erneut erschienen), der Thomas von Aquins Lehre von
der "Dummheit" auf den Nationalsozialismus münzte. Dummheit ist nicht nur eine Sache des
Verstandes, meinte sie. Es gibt auch emotionale Intelligenz und Dummheit. Die größte Dummheit
ist die "Starrheit" und Trägheit des Herzens, der verstockte Mangel an Empathie, die
Mitleidslosigkeit. Das war namentlich auf Schmitt gemünzt und traf ihn auch. Am 27. Oktober
1948 notierte er in sein "Glossarium": "Sie tut wie ein kleiner Würgeengel und gehört doch gar
nicht in die Gesellschaft der Prosecutoren und Accusatoren." REINHARD MEHRING

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Ruth Graham - Gehilfin der Freude

Dorothea Ruth Killus


Als im fernen China dem Missionsarzt McCue Bell und seiner Gattin eine zweite Tochter geboren
wurde, ahnte niemand, daß sie für fast 64 Jahre dem bekanntesten Evangelisten unserer Zeit an
die Seite gestellt sein würde: Billy Graham. Wer war diese Ehefrau, Mutter von fünf Kindern,
Dichterin und Schriftstellerin, die sich ursprünglich auf eine Missionstätigkeit in Tibet und den
Märtyrertod eingestellt hatte und die Gott Mitte Juni 2007, 87-jährig, in Nordkarolina/USA zu sich
nahm?

"Meine Frau Ruth war die wunderbarste Frau, die ich je gekannt habe", erklärte Billy Graham auf
ihren Heimgang hin. “Sie war ein geistlicher Hüne. Ihre beispiellose Bibelkenntnis und Hingabe
ans Gebet hat jeden, der sie kannte, herausgefordert und inspiriert.” Was dabei an ihr zuerst
imponieren kann, war ihre Bereitschaft, sich voll in die ihr zugewiesene Aufgabe zu stellen, ihrem
Mann eine echte, doch im Hintergrund wirkende Gehilfin zu sein. So ließ sie ihn stets seiner
Berufung folgen und arbeitete ihm darin nach Kräften zu. Auch achtete sie darauf, daß er als bis
in die höchsten Kreise gefragter Evangelist nicht etwa eingebildet würde oder in den Bereich der
Politik übergriff.

Was für eine liebende, verantwortungsvoll denkende, Entfaltungsfreiheit gewährende und selber
ideenreiche und humorvoll-spritzige Mutter sie war, berichten sodann ihre ihrerseits zu
christlichen Persönlichkeiten herangereiften Kinder. Im Rückblick auf die nicht leicht
durchzustehende häufige Abwesenheit des Vaters, bei der sie dennoch nicht in die Opferrolle
verfiel, sagte sie: Die härtesten Zeiten seien für sie die gesegnetsten gewesen, weil sich ihr
Jesus Christus darin am klarsten erschlossen habe. Wie oft fanden ihre Kinder sie vor Gott auf
den Knien liegen! Das gab ihr die Kraft, auch in Krisenzeiten - zumal bei ihren Söhnen - diesen
nie mit einer "Gardinenpredigt" zu kommen, sondern sie zu ermutigen. Das war überhaupt ein
Erziehungsprinzip der immer in Übereinklang handelnden Eltern.

Um einen Eindruck von der Eigenständigkeit ihres Glaubens und ihrer Urteilskraft zu geben:
Obwohl ihr Mann Baptist war und sie dazu gedrängt wurde, hat Ruth sich nicht als Erwachsene
noch einmal taufen lassen. Und in einem Dankesschreiben an den Autor eines Buches über die
Entrückung noch vor der Großen Trübsal hielt sie ihm entgegen, daß nach ihrer Einsicht wir
Christen uns durchaus noch in den endzeitlichen Wirren bewähren müßten. Leidenden
gegenüber war ihr ein sehr mitfühlendes Herz geschenkt, und sie packte überall praktisch zu, wo
es zu helfen galt.

Was Ruth sich auch im größten Trubel nicht nehmen ließ, war die Stille vor dem Herrn - und das
Stillewerden über seinem Wort. So hatte sie eine Ecke im Haus eingerichtet, wo immer die
aufgeschlagene Bibel in ihrer Muttersprache lag und vierzehn weitere Bibelübersetzungen in
Benutzung waren! Ihre über ein Dutzend allein oder gemeinsam mit anderen verfassten Bücher,
darunter sehr feine Gedichtbände, strahlen unmittelbar etwas von diesem Stillewerden in Gott
aus.

Hören wir Ruth Bell Graham in ihrem Alter, mitten in ihrem Krankheitsleiden, das sie für Jahre
befiel, etwas über ihre Glaubenserfahrung sagen: "Das in meinem Leben Herausragende, das
alles andere übersteigt, ist dies: Daß ich es erlebt habe, wie die Verheißungen Gottes sich
erfüllen". In der zurückhaltenden und zugleich unerschrockenen Art, wie diese "First Lady" der
Evangelisation sich auf den Boden der Selbstkundgabe Gottes gestellt und andere mit ihm
vertraut gemacht hat, ist sie für Unzählige zu einer Gehilfin wahrer Freude geworden. Auch
weiterhin redet sie durch ihre Schriften und berührt darin tief.

Als was für ein Mensch sie der Nachwelt in Erinnerung bleiben wolle?, fragte ihre Tochter sie
einmal in einem Interview. Das sei ihr eigentlich gleich, antwortete sie, wenn sie nur eines bewirkt
hätte: daß Menschen durch sie hungrig würden nach Ihm.

Dieser Beitrag aus der Zeitschrift DIAKRISIS, 4/2007, wurde mir freundlicherweise von Frau Dr.
Dorothea R. Killus zur Verfügung gestellt. - Horst Koch, Herborn
www.institut-diakrisis.de

www.horst-koch.de
info@horst-koch.de

Anne Graham

Wie konnte Gott das zulassen?

In der TV-Sendung The Early Show in den Vereinigten Staaten wurde Anne Graham (Tochter
von Billy Graham) bezüglich der Terrorangriffe auf das WTC vom 11.Sept. 2001 die Frage
gestellt: "Wie konnte Gott das zulassen?"

Anne G. äußerte sich wie folgt:

"Ich glaube, dass Gott durch diesen Angriff tief betrübt worden ist, genauso wie wir alle auch
- aber während Jahren haben wir Gott gebeten, unsere Schulen zu verlassen, unsere Regierung
zu verlassen - einfach, unsere Leben mit seiner Gegenwart nicht mehr zu behelligen. Und weil Er
ein Gentleman ist hat er sich ganz still zurückgezogen. Wie können wir erwarten, dass Gott uns
seinen Segen und Schutz gibt, wenn wir ihn bitten, uns gefälligst in Ruhe zu lassen?

Im Blick auf die hinter uns liegenden Ereignisse (Terroristen-Attacken, Schiessereien in Schulen
etc.) müssen wir uns folgende Tatsachen vor Augen halten:

Madeline Murray Q'Hare (sie wurde später ermordet aufgefunden) beklagte sich, dass in Schulen
gebetet würde und wir sagten ok.

Dann kam ein anderer, der sagte, dass die Bibel in den Schulen keinen Platz mehr haben
dürfe ..., Gottes Wort, das uns sagt: du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, liebe deinen
Nächsten, wie dich selbst etc. - und wir sagten ok.

Dann trat Dr. Benjamin Spock auf, der uns riet, die Kinder nicht zu disziplinieren, auch nicht zu
schlagen, wenn sie sich ungezogen aufführen, weil so ihre zarte Persönlichkeit beschädigt und
ihre Individualität in Mitleidenschaft gezogen würde (Dr. Spocks Sohn hat Selbstmord
begangen!). Wir erklärten, dass es Dr. Spock als Fachmann wohl wissen müsse und wir sagten
ok.

Andere Leute wiederum traten auf und gaben die Devise heraus, dass Lehrer und Vorsteher ihre
Schüler nicht disziplinieren dürften, wenn sie sich ungezogen benähmen. Viele schlossen sich
dem an, aus Angst, in Misskredit zu geraten oder gar verklagt zu werden. (Zur Beachtung: es
besteht ein grosser Unterschied zwischen disziplinieren und dreinschlagen, erniedrigen,
Fusstritte verteilen etc.) Wir schlossen uns auch diesem Urteil an und sagten ok.

Wiederum andere sagten: Lass unsere Töchter ihre Kinder abtreiben, wenn sie wollen; die Eltern
brauchen darüber nicht informiert zu werden. Auch hier sagten wir ok.

Leiter von Schulen äusserten sich: da Jungs nun mal Jungs sind und sie sowieso tun, was sie
wollen, lasst uns ihnen Kondome verteilen, so dass sie all ihre Begehrlichkeiten ausleben
können. Natürlich wird Eltern gegenüber verschwiegen, dass solches an unseren Schulen
geschieht. Wir sagten ok.

Einige unserer Regierungsbeamten waren der Ansicht, dass es keine Rolle spiele, was
Menschen im privaten Bereich tun, solange sie ihre Arbeit gut verrichten. Damit drückten wir aus:
es ist einerlei, wie Menschen ihr Privatleben gestalten - dies betrifft auch unseren früheren
Präsidenten (Monica Lewinsky) wenn ich nur meinen Job habe und die Wirtschaft rund läuft.
Wieder andere sagten: Lasst uns Illustrierte drucken mit Bildern nackter Frauen und lasst uns
dies 'Ganzheitlichkeit' nennen als 'Würdigung' des wohlgeformten weiblichen Körpers - und wir
sagten ok.

In der Folge wurden Bilder nackter Kinder publiziert, die sogar über Internet verfügbar wurden -
und wir sagten ok.

Dann wurde der Gedanke verbreitet, dass die Redefreiheit in keinster Weise einzuschränken sei.
Die Unterhaltungsindustrie setzte diesen Gedanken in die Tat um, indem sie verkündigte: Lasst
uns TV- Shows machen, die Eitelkeiten, Gewalt und unerlaubten Sex darstellen. Dazu sollen
geeignete Klänge gespielt werden, die Szenen wie Vergewaltigung, Drogen, Mord, Selbstmord
und satanische Themen musikalisch untermalen. Wir meinten dabei selbstgefällig: es gehe nur
um Unterhaltung, von der keine schädliche Wirkung ausgeht und keiner der Zuschauer das
Dargebotene wirklich ernst nimmt – also lasst es uns tun.

Betroffen fragen wir uns, warum unsere Kinder keine Gewissensbisse mehr haben, warum sie
nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden können und warum es ihnen nichts mehr
ausmacht, Menschen zu töten, ihre Klassenkameraden kaltblütig umzubringen und dazu auch
noch sich selbst.

Wenn wir wirklich darüber nachdenken dämmert uns plötzlich, dass diese Ereignisse sehr viel mit
der Erkenntnis zu tun haben: "Was der Mensch sät, wird er auch ernten."

"Lieber Gott, warum hast du dieses kleine Mädchen, welches im Klassenzimmer getötet wurde,
nicht gerettet? - hochachtungsvoll: ein sehr betroffener Student." Dann die Antwort: "Lieber
betroffener Student - es ist mir nicht erlaubt, in den Klassenzimmern anwesend zu sein –
hochachtungsvoll: Gott".

Eigenartig, wie Menschen Gott leichtfertig 'entsorgen' und sich im Nachhinein wundern, warum
die Welt zur Hölle geht. Eigenartig, wie wir unseren Zeitungen Glauben schenken, jedoch
hinterfragen, was die Bibel sagt. Eigenartig, dass jedermann in den Himmel kommen will, ohne
an Gottes Wort zu glauben oder so zu denken, zu reden oder zu handeln, wie es in der Bibel
geschrieben steht. Eigenartig, wie jemand sagen kann "Ich glaube an Gott" und immer noch
Satan folgt, der - beiläufig bemerkt – auch an "Gott glaubt". Eigenartig, wie schnell wir über
andere urteilen, ohne uns selbst unter das Urteil zu stellen. Eigenartig, wie man tausend Spässe
über E-mail verbreiten kann, die wie ein Feuer um sich greifen, aber wenn es um Gott geht
zweimal darüber nachdenkt, ob man dies auch in Bezug auf IHN tun sollte.

Eigenartig, wie das Laute, Brutale, Vulgäre und Obszöne frei durch den Cyberspace fließt, die
öffentliche Diskussion über Gott jedoch an allen Orten - ob Schule oder Arbeitsplatz – unterdrückt
wird. Eigenartig, wie jemand am Sonntag über Christus begeistert sein kann, jedoch unter der
Woche ein unscheinbares Christsein lebt. Denkst du, dies sei zum Lachen?

Eigenartig, wenn du diese Botschaft nur einigen deiner Bekannten zukommen lässt, weil du nicht
weißt, was sie glauben oder von dir halten. Eigenartig, wie ich viel besorgter darüber bin, was die
Leute von mir denken als was Gott über mich denkt. Merkst du etwas?

Verbreite diese Gedanken, wenn du meinst, dass sie es wert sind; wo nicht, wirf alles beiseite ...
niemand würde es merken!
Allerdings: solltest du diese Überlegungen verwerfen, höre auf, dich zurückzulehnen und darüber
zu klagen, in welch erbärmlichem Zustand unsere Welt sich befindet.

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Bibelschule Wiedenest

Die Geschichte der "Bibelschule Wiedenest"

50 Jahre Missionshaus Bibelschule Wiedenest (1905 - 1955)

von Erich Sauer [ 1]

1. Die Gründung der Bibelschule in Berlin (1905)

"Siehe, ich sage euch: Hebet eure Augen auf und sehet in das Feld; denn es ist schon weiß zur
Ernte" (Joh. 4,35).

"Die Ernte ist groß, der Arbeiter aber sind wenige" (Luk. 10,2).

Mit diesen Worten des Neuen Testaments ging vor nunmehr 50 Jahren eine Schrift hinaus, die
von der Gründung einer Bibelschule in Berlin berichtete (April 1905).

Rückschauend auf die Anfangszeiten unseres Bibelschulwerkes, erscheint es uns fast, als sei
damals eine andere Welt gewesen. Die Völker Europas lebten, trotz einiger Kriegsfeuer in der
Ferne, in jahrelangem Friedenszustand miteinander. Frei reiste man von Land zu Land, ein
Zustand, wie ihn die heutige Generation sich kaum vorstellen kann.

Vor allem aber war es eine Zeit besonderen Geisteswehens. Gerade in den Jahrzehnten vor der
Jahrhundertwende waren große Glaubensmänner der Gemeinde Gottes geschenkt worden. Die
Freudenbotschaft von dem gegenwärtigen, völligen Heil in Christo, von einem siegreichen Leben,
von der Heiligung durch den Glauben war mit gottgegebener Geisteskraft dem Volk Gottes neu
vor die Augen gestellt worden. Völlige Hingabe an den Herrn, Befreiung nicht nur von der Schuld,
sondern auch von der Macht der Sünde: das waren Wahrheiten, die Tausenden wie helle
Lichtstrahlen ins Herz fielen. "Jesus errettet mich jetzt!" Das war der Mittelpunkt der Botschaft.
Entschiedenere Hingabe, höhere Ziele, tägliche Heiligung, freudigere Energien und lebendigere
Frische, und das alles in Christo, dem Heiland von heute und jetzt!

Auch die Wahrheit von der neutestamentlichen Gemeinde war an vielen Orten neu auf den
Leuchter gestellt worden, und in froher Erwartung richteten viele Kinder Gottes ihre Blicke auf die
Wiederkunft des Herrn und die Vollendung Seines Reiches.

Von dieser Bewegung des Geistes wurden auch weite Gebiete des Ostens ergriffen. Sowohl in
Süd-Rußland unter der Landbevölkerung wie auch in Nord-Rußland kam es zu einem Siegeszug
des Evangeliums. An vielen Orten entstanden kleinere und größere Gemeinden neubekehrter,
lebendiger Christen.

Großer Eifer beseelte diese jungen Gemeinden. Seelen für Christus zu gewinnen, war ihr
glühendstes Anliegen.
Bald aber setzten von seiten der zaristischen Regierung Verfolgungen ein. Doch unerschüttert
blieb ihr Glaube und ihr Zeugenmut. Aber ein Bedürfnis war noch nicht recht erfüllt. Es fehlte den
Gemeinden an Brüdern, die tiefer in die Schrift eingeführt waren. Sie waren alle noch jung im
Glauben, noch dazu von Feinden umstellt. Bibelkurse waren nicht durchführbar. Biblische
Literatur war nicht gestattet. Brüderkonferenzen und erst recht Bibelschulen waren verboten. Wie
sollte da den jungen, eifrigen Gemeinden weitergeholfen werden?

Dies lag besonders einem der zahlreichen Gottesmänner, die der Herr damals Seiner Gemeinde
gegeben hatte, Dr. Friedrich Wilhelm Baedecker, brennend auf der Seele. Jahre hindurch hatte er
weite Missionsreisen durch die Gebiete des Ostens gemacht. Er brachte dies Anliegen, das ihn
besonders bewegte, in die deutsche Heimat zurück.

Dies führte schließlich zur Gründung unserer Bibelschule in Berlin. Da es nicht möglich war,
planmäßige Einführungskurse in die Heilige Schrift im zaristischen Rußland selbst zu
veranstalten, erwogen einige Brüder, denen diese geistliche Not besonders am Herzen lag,
begabte und geistlich gesinnte Brüder nach Berlin einzuladen und ihnen dort eine Gelegenheit zu
geben, zwei oder drei Jahre hindurch sich planmäßigem Bibelstudium zu widmen. Als dann
gerade mitten in diese Beratungen hinein drei Brüder aus dem Osten nach Berlin-Steglitz kamen
und um Rat und Hilfe baten und als bald danach noch drei weitere hinzukamen und noch mehr
Anfragen und Bitten einliefen, hielten die Brüder den Zeitpunkt für gekommen, im Aufblick zum
Herrn eine Bibel- und Missionsschule zu eröffnen.

Zu den Gründern der Bibelschule gehörten, außer dem soeben genannten Dr. Friedrich Wilhelm
Baedecker (übrigens ein Vetter des Herausgebers der bekannten Baedecker-Reisebücher),
General von Viebahn, der in weiten, christlichen Kreisen Deutschlands hochgeschätzte
Evangelist, ebenfalls Missionsinspektor Mascher, Inspektor Simoleit von Neu-Ruppin (bei Berlin),
ferner die beiden, mit der Allianz-Konferenz von Bad Blankenburg (Thür.) eng verbundenen
Brüder Frhr. v. Thümmler und v. Thiele-Winkler, der Bruder von Mutter Eva, der Gründerin und
Leiterin des bekannten "Friedenshorts".

Eng verbunden mit der Arbeit war von vornherein Bernhard Kühn, der Herausgeber des
Evangelischen Allianzblattes und Dichter zahlreicher, vielgesungener Glaubenslieder, z. B. "Nahe
bei Jesu, o Leben so schön", "Durch alle Länder schreitet siegreich der Geist des Herrn".

Die Sitzung der Brüder, in der die Gründung beschlossen wurde, fand am 11. April 1905 in Berlin
statt, und zwar in der Wohnung von Frl. Toni von Blücher, einer Großnichte des aus den
Freiheitskriegen bekannten Feldmarschalls von Blücher.

Fast alle diese Brüder sind nun schon beim Herrn. Nur einer weilt noch unter uns. Es ist der
hochbetagte und in seinem langen Leben reich gesegnete Missionsinspektor Simoleit, der noch
heute in Neu-Ruppin bei Berlin wohnt. Zu ihm gehen unsere Gedanken in Liebe und Dankbarkeit
in diesen Tagen in besonderer Weise.

Bernhard Kühn lenkte die Aufmerksamkeit der Brüder auf einen gläubigen Pfarrer Christoph
Koehler in Schildesche bei Bielefeld und seinen jungen Mitarbeiter Johannes Warns. Diese
hatten gerade damals, zwei Monate vorher (am 5. Februar), ohne von der Planung der
Bibelschule zu wissen, ihren Dienst innerhalb der Landeskirche niedergelegt, um nach bestem
Wissen und Gewissen, in völliger Unterordnung allein unter die Schrift, den Weg
neutestamentlichen Gemeindelebens praktisch zu verwirklichen, in gleichzeitiger Betätigung
herzlicher Bruderschaft mit allen Kindern Gottes in Kirche und Freikirche. So wurden sie beide zu
Lehrern der Bibelschule berufen.

Für beide Brüder kam dieser Ruf als unmittelbare Antwort auf ihre Gebete um klare Führung auf
dem neu beschrittenen Wege. Christoph Koehler hatte diesen Schritt zugleich in völliger
Übereinstimmung mit seiner Frau getan. Gerade auch im Hinblick auf die Versorgung seiner
Familie mit fünf Kindern war diese Entscheidung ein wirklicher Glaubensschritt gewesen.

Am 5. September 1905 eröffneten die Brüder Koehler und Warns den ersten Bibelschulkursus in
Steglitz mit 18 Schülern. Die Eröffnungsfeier selbst fand im Saal der von Toni von Blücher
gegründeten Christlichen Gemeinschaft, Hohenstaufenstraße 65, im Beisein von General von
Viebahn und Bernhard Kühn, statt. Bald darauf wurde die Bibelschule in das Haus
Hohenstaufenstraße 65 selbst verlegt.

Toni von Blücher

Toni von Blücher war, wie so viele andere, eine Frucht der Erweckungsbewegung der letzten
Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. In jenen Tagen waren führende Männer des geistlichen Lebens
in Berlin zu dem Entschluß gekommen, den damals weit bekannten, englischen Evangelisten
Pearsall Smith zu besonderen Evangelisationsversammlungen nach Berlin einzuladen. Da sich
unter anderem namentlich der Oberhofprediger Dr. W. Baur für sein Kommen einsetzte, gab
Kaiser Wilhelm I. die Erlaubnis, die alte Garnisonkirche für diese Glaubensversammlungen zu
benutzen. Dr. Baedecker übersetzte. Diese neue Art der Verkündigung nach Inhalt und Form zog
viele an. Dr. Baedecker setzte nach der Abreise von Pearsall Smith die Versammlungen noch
allein fort. Zu einer solchen, von ihm gehaltenen Versammlung kam dann auch Toni von Blücher.
Sie war, obwohl von ihren Großeltern in christlichem Sinne erzogen, doch noch nicht zu einem
vollen Heilserlebnis hindurchgedrungen. Ja, oft war sie im Ringen um volle Klarheit von
furchtbaren Zweifeln gequält. Nun sprach Dr. Baedecker am 14. April in der Garnisonkirche über
das Thema "Was der Heilige Geist tut, um das Opfer Christi klar und kräftig zu machen". Das war
für sie eine Botschaft der Gnade und Wahrheit, die der Geist Gottes ihr tief in die Seele
einprägen konnte. Nach der Heimkehr rang sie auf ihren Knien. Als neue Kreatur in Christo stand
sie auf und begann nun ein Leben freudigen Dienstes für ihren Erlöser. Sie veranstaltete Tee-
Versammlungen für Fernstehende. Sie verteilte Traktate. Sie sammelte Kinder zu einer
Sonntagsschule. Meist ganz arme Kinder. Am ersten Sonntag waren es nur fünf, dann neun, bald
dreißig, ja, nach einigen Jahren und nach Überwindung mancher Rückschläge, war die Anzahl
der Kinder auf 400 angewachsen. Sie richtete Mütter-Versammlungen ein. Frauen bekehrten
sich. Elternabende wurden veranstaltet und jeweilig ein Evangelist dazu eingeladen. Männer
bekehrten sich. So wuchs eine Arbeit heran, aus der in den folgenden Jahren eine Gemeinde
entstand, die im Jahre 1894 in der jetzigen Berliner Hohenstaufenstraße 65 ihren Gemeindesaal
erhielt. In den Räumen dieser Gemeinde fand dann 1905 die Eröffnungsfeier der Bibelschule
statt. Frl. von Blücher war sehr dankbar, daß dann bald die Brüder Koehler und Warns in
besonderer Weise den Dienst in der Gemeinde übernahmen, und viele Jahre hindurch ist es ein
harmonisches Zusammenleben und ein gegenseitiges Befruchten zwischen Gemeinde
Hohenstaufenstraße und Bibelschule gewesen. Auch heute noch, nach der Verlegung des
Werkes nach Wiedenest, verbindet uns besondere Freundschaft und Liebe mit dieser unserer
ersten Heimatgemeinde.

Sehr lebendige Anteilnahme an der Entstehung und Ausgestaltung der jungen Arbeit betätigte
General von Viebahn.

General von Viebahn

Georg v. Viebahn war nicht nur einer der Hauptbegründer des Bibelschulwerkes, sondern, wie
das neben mir liegende, handschriftliche Protokoll jener Tage zeigt, auch einer der
regelmäßigsten Mitarbeiter an den Beratungen und Bibelschulsitzungen der nun folgenden Jahre.

Georg v. Viebahn wirkte an der Entscheidung mit, daß die Bibelschule, die zunächst ihre Arbeit in
Steglitz begonnen hatte, auf ein Angebot von Toni v. Blücher hin, in die Räume der
Hohenstaufenstraße übersiedelte, und daß dann die Brüder Koehler und Warns in der dortigen,
von Toni v. Blücher gegründeten Gemeinde durch Wortverkündigung und Seelsorge besonders
mitarbeiten sollten. Er wirkte an der Entscheidung mit, daß "die Bibelschule nicht nur
Evangelisten und Diener am Wort ausbilden soll, sondern auch solchen Brüdern Handreichung
tun, die in ihren Beruf zurückkehren wollen, um so dem Herrn zu dienen."

In einer Sitzung machte v. Viebahn den Vorschlag, daß regelmäßige Mitteilungen über die
Bibelschularbeit im Evangelischen Allianzblatt erscheinen sollten, ein Vorschlag, der von dem
Schriftleiter des Blattes, Bernhard Kühn, von Br. v. Thiele-Winkler und allen anderen anwesenden
Brüdern angenommen wurde. Er wirkte an Fragen der Lehrerberufungen mit sowie an den
Entscheidungen über die Aufnahmen neuer Brüder wie auch über die Gestaltung des Unterrichts
und Stundenplans.

Freundschaftliche Bande blieben zwischen ihm und der Familie des ersten Bibelschulleiters
Christoph Koehler bis an sein Lebensende bestehen. Und wie er im Saal der Gemeinde
Hohenstaufenstraße bei der Eröffnungsfeier des Bibelschulwerkes mit anwesend gewesen Zwar
und am Wort mitgedient hatte, so hat er im gleichen Saal - viele Jahre hindurch -- regelmäßig im
Frühling Bibelwochen gehalten, die sog. "Maiversammlungen", die von vielen Kindern Gottes der
verschiedenen gläubigen Kreise unter dem offensichtlichen Segen des Herrn besucht wurden.
Jedesmal war er dann zugleich während dieser Woche Gast im Bibelschulhaus.

14 Jahre Bibelschularbeit in Berlin

Eine wirkliche Bibelschulfamilie war es, die nun in den Räumen der Hohenstaufenstraße
zusammenlebte. Christoph Koehler und seine Frau nahmen die Brüder, die meist aus dem Osten
kamen, geradezu ganz in ihren Familienkreis auf. Gleich vom ersten Tag an sagten die jungen
Brüder "Vater" und "Mutter" zu ihnen, und sie haben wirklich Vaterliebe und Mutterfürsorge bei
ihnen genießen dürfen. Mit manchem Humor wurden die anfänglichen Sprachschwierigkeiten im
Familienkreis überwunden.

"Mutter" Koehler war ihrem Mann eine treue, verständnisvolle Gehilfin. Sehr viel Gelegenheit gab
es zur Ausübung der Gastfreundschaft. Es war ein dauerndes Kommen und Gehen von Gästen
aus vieler Herren Länder. Schon die zentrale Lage der Reichshauptstadt begünstigte dies in
weitgehendem Maße.

Da galt es, immer wieder auf den Herrn zu vertrauen, daß ER, bei der großen Familie, den
zahlreichen Brüdern und den vielen Besuchern, täglich neu alle Mittel zur Bestreitung des großen
Haushalts darreichen würde. Waren doch keinerlei Einnahmen gesichert! War doch die ganze
Arbeit ein freistehendes Missionswerk! Galt es doch, immer wieder im Glauben nach oben zu
schauen und alles von Dem zu erwarten, der gesagt hat: "Ich will dich nicht verlassen noch
versäumen" (Hebr. 13,5).

Dies ist dann auch die Erfahrung im Verlauf aller folgenden Jahre und Jahrzehnte geblieben bis
auf den heutigen Tag. Rückblickend auf die langen 50 Jahre mit ihren zwei Weltkriegen, zweimal
schweren Nachkriegszeiten und oft schwierigen Ernährungsverhältnissen, können wir nur die
Gnade Gottes preisen, der, als der Vater im Himmel, das tägliche Wunder gewirkt hat, stets von
neuem den Tisch zu decken. Oft, ja meistens waren es 50, in der Wiedenester Zeit nicht selten
60 und mehr Personen. Dabei konnten von den Schülern die meisten nur wenig und viele
überhaupt gar nichts zu ihren Unterhaltskosten beitragen. So haben wir auch in dieser äußeren
Hinsicht wirklich allen Grund, mit Freuden zu bekennen: "Eben-Ezer! Bis hierher hat der Herr
geholfen."

In den darauf folgenden Jahren bis 1914 nahm die Zahl der Schüler ständig zu. An den meisten
Missionslehrgängen nahmen bis zu 30 und mehr Schüler teil.

Naturgemäß wurde die Bibelschularbeit durch den Ausbruch und die lange Dauer des ersten
Weltkrieges stark gehemmt. Dennoch konnte der Unterricht, wenn auch nur in kleinem Rahmen,
auch in diesen Jahren fortgesetzt werden. Sogar eine Anzahl ausländischer Brüder, die sich bei
Kriegsbeginn in der Bibelschule befanden, erhielten die Genehmigung, auch weiterhin dort zu
bleiben. Nur mußten sie sich regelmäßig polizeilich melden. Die Zahl war natürlich nur gering.

Als die Lebensmittelknappheit immer mehr anstieg, ging Br. Koehler mit den jungen Brüdern aufs
Land, wo sie sich durch gemeinsame Garten- und Feldarbeit den Lebensunterhalt erleichtern
wollten. Familie Koehler besaß in Thüringen ein kleines Landhaus in der Nähe des Kyffhäusers.
Dort lebten sie nun alle gemeinsam längere Zeit hindurch in großer Einfachheit. Auch Br. Koehler
setzte sich, trotz seines fortgeschrittenen Alters, tatkräftig für die Durchführung der äußeren
Arbeiten mit ein. Körperlich aber hat es, wie es scheint, ihm doch zuviel Kräfte gekostet.
Körperliche Arbeit war er ja eigentlich nicht gewohnt gewesen. Dazu kam die schmale Kost. Auch
lehnte er es stets ab, irgend etwas Zusätzliches für sich selbst in Anspruch zu nehmen, was
seine Schüler nicht ebenfalls mit ihm teilten.

Dies alles hat seine Gesundheit stark beeinträchtigt. Darum, als die Bibelschule dann bald nach
dem Kriege ins Rheinland verlegt wurde, besaß er nicht mehr die erforderliche Kraft zu
regelmäßiger Mitarbeit. So blieb er in Berlin, setzte den Dienst in Wortverkündigung und
Seelsorge in der Gemeinde Hohenstaufenstraße fort, und Br. Warns übernahm die Leitung des
Werkes. Br. Koehler selbst wollte, wie er hoffte, von Zeit zu Zeit durch Abhaltung von Bibelkursen
noch mithelfen.

Aber des Herrn Weg mit ihm war ein anderer. Als er im Herbst 1922 zu einem solchen
Kursusdienst nach Wiedenest kam, erkrankte er schwer, und schon nach vier Wochen wurde er
vom Herrn heimgeholt. Alle, die ihn gekannt haben, werden sein Andenken nie vergessen. Am 1.
November wurde seine irdische Hülle auf dem stillen Wiedenester Friedhof unter der Teilnahme
vieler Freunde von fern und nah beigesetzt.

Christoph Koehler

Christoph Koehler war als Kind gläubiger Eltern schon vor seiner Geburt dem Dienst des Herrn
geweiht worden. Am 14. Nov. 1860 erblickte er das Licht der Welt. Sein Vater stand im Dienst der
Inneren Mission. Er war Waisenhausvater in Buchenschachen bei Saarbrücken. Dort verlebte
Christoph Koehler, als Ältester einer großen Kinderschar, eine frohe und gesegnete Jugend.
Schon früh kam er zum lebendigen Glauben und, nachdem er seine Schulzeit beendet hatte, kam
für ihn nur ein Studium in Frage, nämlich das der Theologie. Sein erstes Pfarramt führte ihn kurz
nach seiner Eheschließung nach Herford als Gefängnispfarrer, wo er vielen den Weg zum Herrn
weisen durfte. Von dort wurde er 1895 nach Schildesche bei Bielefeld an eine große
Landgemeinde berufen. Seine erwecklichen Predigten, die unermüdliche Arbeit in
Hausbesuchen, in Bibelstunden, in Jünglings-, Jungfrauen- und Blaukreuzvereinen bereiteten
den Boden für eine gesegnete Erweckung, die im Herbst 1903 stattfand und bei der einige
hundert Seelen zum Glauben kamen, Darunter ganze Familien! Doch waren auch diese Jahre für
ihn sehr bewegt durch viele innere Kämpfe. Schon damals stand es ihm fest, daß die Heilige
Schrift die alleinige Richtschnur sei nicht nur für Glaubens- und Heiligungsleben, sondern in
gleicher Weise auch für das Gemeindeleben der Gläubigen. So reifte in ihm zuletzt der
Entschluß, auf jeden Dienst innerhalb der Kirche zu verzichten und, nach seiner Erkenntnis,
seine Arbeit für den Herrn frei fortzusetzen. Seine Amtsniederlegung bedeutete zugleich Verzicht
auf Gehalt und Pension. Doch er wollte den Weg kompromißloser Überzeugungstreue gehen, in
zuversichtlichem Glauben, daß der Herr helfen werde. "Der Herr ist", so schrieb er bald danach,
"unter großen Kämpfen so sichtlich mit uns gewesen, daß es sträflicher Unglaube wäre, jetzt
irgendwie zaghaft zu sein. Er ist allmächtig und reich, und es ist unser herrlichstes Vorrecht, Ihm
bedingungslos zu vertrauen, Ihm zu dienen und Ihm zu folgen, wohin es auch geht."

In diese Lage hinein kam der Ruf an die neugegründete Bibelschule. Es fiel Christoph Koehler
umso leichter, ihn als Weg Gottes zu erkennen und anzunehmen, als auch er bereits als Pfarrer
den Gedanken gehegt hatte, selbst eine Bibelschule ins Leben zu rufen.
Von 1905 bis 1919 hat er dann dem Bibelschul- und Missionswerk vorgestanden. In einen weiten
Raum wurde er durch diese Arbeit gestellt. Oft diente er auf Konferenzen im deutschen Vaterland
und in anderen Ländern. Weite Missionsreisen führten ihn nach Ost- und Südosteuropa, nach
Finnland, Schweden, England, Holland und in die Schweiz.

Mit dem in jener Erweckung entstandenen Geschwisterkreis in Schildesche ist er zeitlebens


verbunden geblieben.

Das, was alle, die Vater Koehler gekannt haben, am meisten beeindruckte, war seine große
Bescheidenheit und Demut. Da war kein Amtsbewußtsein, kein Gefühl der Überlegenheit durch
Wissen oder Erfahrung. In seiner Selbstlosigkeit, Besonnenheit und Kompromißlosigkeit wird er
uns allen ein Vorbild bleiben. Vielen ist er ein treuer Berater und Seelsorger gewesen. Das haben
seine Schüler immer wieder dankbar bezeugt. Unbedingte Wahrhaftigkeit und Lauterkeit war ein
hervortretender Charakterzug seines Wesens. In dem allen war er sich dessen bewußt, daß
alles, was Wert hat, nur Wirkung der Gnade sein kann. Gerade auch in seinen letzten
Lebenstagen hat er immer wieder die unverdiente Gnade Gottes gerühmt. So dürfen wir,
rückblickend auf dies Leben, dankbar das Wort des Apostels anwenden: "Ich habe einen guten
Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten." (2. Tim. 4,7.)

Johannes Warns

Johannes Warns wurde am 21. Januar 1874 als Sohn eines Pfarrers in Ostfriesland geboren.
Schon früh verlor er seine Mutter und, da sie aus dem Pfarrhaus von Wiedenest stammte, kam er
als neunjähriger Knabe für einige Monate zu seinen Großeltern nach Wiedenest. Seitdem liebte
er Wiedenest wie seine Heimat. Selbstverständlich war es für ihn und seine Angehörigen, daß er,
nach Beendigung des Gymnasiums, Theologie studierte. Während seiner Studienzeit in Berlin
kam dann der große Wendepunkt seines Lebens. Durch eine schlichte Waschfrau, wurde er in
eine Versammlung der Heilsarmee eingeladen, und dort erlebte er an der Bußbank die Errettung
seiner Seele. Wie oft hat er uns von dieser Stunde erzählt! Wie oft hat er bezeugt, daß gerade
von dieser Stunde an für den jungen Studenten der Theologie auch die Stellung zur Bibel eine
total andere geworden war! Als Kandidat der Theologie kam er zum erstenmal mit Familie
Koehler in Verbindung. Diese Verbindung ist dann für sein Leben geblieben. Er heiratete später
die älteste Tochter Christoph Koehlers, Annemarie, und ist sein Mitarbeitet und Weggenosse
geblieben.

Zuerst half Johannes Warns in frischer, lebendiger Weise in vielen Versammlungen in


Bauernstuben und Scheunen, wie sie gerade damals während der besonderen Erweckungszeit in
Schildesche bei Bielefeld stattfanden. Mit Christoph Koehler zusammen sah er sich dann auch
bald vor die Entscheidung gestellt, ob ihr fernerer Dienst im bisherigen Rahmen verbleiben sollte.
Als dann Pfarrer Koehler sein Amt niederlegte, war auch der Entschluß seines jungen
Mitarbeiters gefaßt, in gleicher, freier Weise dem Herrn zu dienen. Dabei aber behielt er stets
einen offenen Blick für die ganze Gemeinde Jesu und wußte sich - ebenso wie Vater Koehler - in
herzlichster Weise verbunden mit allen Kindern Gottes in Kirche, Freikirche und Brüderkreisen.

Bald darauf ließ sich Johannes Warns durch den China-Missionar Josef Bender auf das
Bekenntnis seines Glaubens hin taufen. Als dann 1905 die Bibelschule gegründet wurde, folgte
er seinem väterlichen Freund Christoph Koehler als Mitarbeiter. Schon als Student war in ihm das
Missionsinteresse wach geworden. Durch die Bekanntschaft mit dem Mohammedanermissionar
Pastor Faber knüpfte er persönliche Verbindung an mit dem bekehrten Türken Johannes
Avetaranian, einem leiblichen Nachkommen Mohammeds. Doch ging sein Hauptinteresse von
vornherein auf den Balkan. Schon 1901 - vier Jahre vor der Gründung der Bibelschule -
unternahm er seine erste Missionsreise nach Südosteuropa.

Mit der Verlegung der Bibelschule von Berlin nach Wiedenest (1919) übernahm er die Leitung
des Werkes. Hier in Wiedenest waren seine Vorfahren mütterlicherseits im vorigen Jahrhundert
drei Generationen hindurch Pfarrer gewesen. Besonders war es um 1860 sein Großvater
gewesen, ein klar bekehrter Mann und kraftvoller Gotteszeuge, durch dessen Verkündigung hier
viele zum lebendigen Glauben gekommen waren, so daß von dem kleinen Wiedenest aus das
Evangelium in die weitere Umgebung hell hinausstrahlte.

In den letzten 17 Jahren seines Lebens, in denen er in Wiedenest dem Werk vorstand, hat der
Herr ihn gebraucht, die Bibelschularbeit neu aufzubauen und zu erweitern. Nicht nur Bibelschule
ist "Wiedenest" in all den Jahren gewesen, sondern auch Sammelpunkt für Kinder Gottes, die ein
Herz für die Mission und für die Einheit der Gemeinde Gottes haben. Gerade auch das war ein so
besonderes Herzensanliegen unseres Bruders.

Auf 27 Missionsreisen - von Anbeginn seiner Missionsarbeit gerechnet - war er bemüht, die
Heilsbotschaft hinauszutragen, Missionsarbeiter zu beraten und zu ermutigen und das Band der
Gemeinschaft unter den Kindern Gottes zu stärken.

Rückblickend auf dies fruchtbare Leben möchten auch wir alle Ehre der Gnade Gottes geben. So
war es ja auch sein eigenes, oft ausgesprochenes, persönliches Bekenntnis: "Es ist alles nur
Gnade". Niedergelegt hat er dies sein Lebenszeugnis in dem Lied, das wir so oft gesungen
haben, ohne zu seinen Lebzeiten zu wissen, wer der Verfasser war:

"Ich bin nicht wert all Deiner Treue, Du treuer Gott, mein höchstes Gut. Du offenbarst sie stets
aufs neue und hältst mich fest in Deiner Hut. Ja, was ich habe, was ich bin, das weist auf Deine
Treue hin. Du bist es wert, daß ich Dich preise, Du großer Gott, in Ewigkeit. Noch bin ich auf der
Pilgerreise; doch ist die Heimat nicht mehr weit. Dort lobt und preist Dich immerdar der Deinen
auserwählte Schar."

3. Übersiedelung nach Wiedenest

Der erste Weltkrieg war beendet. Mit dem Herbst 1919 begann ein völlig neuer Abschnitt in der
Geschichte unseres Werkes. Soviel Vorzüge, namentlich im Hinblick auf geistige und geistliche
Anregungen, das Leben in einer Großstadt für eine Bibelschule auch bot, so zeigte es sich doch,
daß die Versorgung einer so großen Schar mit so vielen jungen Männern in einem Stadthaushalt
mit besonderen Schwierigkeiten verbunden war. Dazu kam, daß, infolge der Auswirkungen des
Krieges, die äußere Lage der Lebenshaltung ja auch ganz allgemein recht schwierig war. So
machten die Brüder diese Erwägungen zu einem ernsten Gebetsgegenstand. Sie wollten auch
hier die Führung Gottes erleben.

Manche Vorschläge wurden gemacht. Häuser in mehreren Teilen Deutschlands wurden zum
Kauf angeboten. Aber der Herr schenkte keine Gewißheit, und so kam es zunächst noch nicht zu
einer Entscheidung.

Nun wohnten auch im Rheinland Freunde des Bibelschulwerkes, die eine Verlegung der
Bibelschule in ihre Gegend von Herzen wünschten. Auch sie legten ihr Anliegen dem Herrn dar.
Besonders war es unser Bruder und Freund Major August Frhr. von Wedekind, der von Berlin
nach Derschlag im Oberbergischen gezogen war und nun von dort Ausschau hielt nach einem
geeigneten Grundstück mit Haus. Die Brüder Koehler und Warns waren schon oft in dieser
Gegend gewesen und hatten hier in Gemeinden und auf Konferenzen gedient.

Da lasen eines Tages Br. von Wedekind wie auch einer seiner Freunde, Br. Ernst Reuber aus
Hunsheim bei Derschlag, eine Zeitungsanzeige, daß in dem nahe gelegenen Wiedenest ein Haus
zum Kauf angeboten sei. Beide Brüder fühlten sich innerlich gedrungen, das Anwesen in
Wiedenest zu besichtigen. Unterwegs begegnete ihnen ein Bekannter Ernst Reubers, der mit ihm
in geschäftlichen Beziehungen stand und - völlig unerwarteter Weise - auf offener Straße seine
Brieftasche zog, um eine Geldsumme zurückzuzahlen, die er ihm schuldete. Es handelte sich um
einen Betrag von 5000 Mark. Br. Reuber war äußerst erstaunt, daß diese Rückzahlung gerade
jetzt und noch dazu auf offener Straße vollzogen wurde. Als sie aber nach Wiedenest kamen,
erkannten sie bald, daß hier Gottes Führung in besonderer Weise eingegriffen hatte.

Das Haus, um das es sich handelte, stellte sich als eine Gastwirtschaft heraus. Als sie dort
eintraten, saß bereits ein Mann, der die Verhandlungen über den Kauf schon begonnen hatte.
Die beiden Brüder ließen sich in der Veranda etwas zu essen bringen und benutzten die Stille,
um noch einmal den Herrn um Seine Führung zu bitten. Sie sähen, daß dies Gebäude gerade
das Rechte für die Bibelschule sein würde. Als der Besitzer dann zu ihnen hereinkam und die
Verhandlungen begonnen hatten, war er sofort willig, ihnen den Kauf einzuräumen, wenn sie in
der Lage sein würden, ihm eine sofortige, größere Anzahlung zu machen. Und was war der
Betrag, den er nannte? Genau 5000 Mark! Dies geschah alles am 19. März 1919. Wie
wunderbar, daß Ernst Reuber ihm nun genau diesen gleichen Betrag auszahlen konnte, so daß
damit der Kauf grundsätzlich abgeschlossen war.

Br. von Wedekind sandte sofort ein Telegramm nach Berlin an Johannes Warns: "Offene Türen in
Wiedenest benutzt. Erwarte dich sofort. Wedekind "Beim Schreiben dieser Zeilen liegt das
Originalblatt dieses Telegramms hier neben mir auf dem Schreibtisch. Es ist uns ein überaus
wertvolles Dokument wunderbarer Gottesführung.

Was gab das für eine Überraschung in Berlin! Wie sah man ganz deutlich den Weg Gottes! Wie
wäre wohl alles verlaufen, wenn unsere beiden Brüder nur einen oder vielleicht auch nur einen
halben Tag später zur Besichtigung dieses Hauses gekommen wären? Ob wohl das jetzige
Bibelschulhaus dann damals wieder eine Gastwirtschaft geworden wäre? Wer kann es wissen?
Unmöglich ist es nicht.

Und wie anders hätte ja auch von den Brüdern Koehler und Warns selbst die Entscheidung
getroffen werden können? In alten Aufzeichnungen schreibt Johannes Warns: "Beinahe wäre der
Lindenhof in Kelbra am Kyffhäuser in Thüringen gekauft worden. Die Verhandlungen mit dem
Besitzer schienen zum Ziele zu führen, und Vater Koehler und ich fuhren zur persönlichen
Besichtigung dorthin. Bei herrlichem Winterwetter und sonnenbeleuchtetem Schnee trafen wir in
Kelbra ein. Wir hatten auch im allgemeinen einen guten Eindruck und hielten den Preis für
angemessen. So gingen wir ins Städtchen zum Notar. Wir hatten schon die Hand auf der
Türklinke, als mir plötzlich starke, innere Bedenken kamen, so daß ich meinen Schwiegervater
fragte: "Hast du wirklich die innere Gewißheit und Freudigkeit, daß wir das Haus kaufen sollen?" -
"Nein", antwortete Vater Koehler, "die habe ich auch nicht." - "So wollen wir noch einmal ernstlich
überlegen und den Herrn um Klarheit bitten." In unserer Gebetsgemeinschaft dann zuhause
wurden wir in der Überzeugung bestärkt, daß wir fast einen übereilten Schritt getan hätten."

Wie kann uns dies alles zugleich eine wichtige und praktische Ermahnung sein, daß wir in allen
Entscheidungen, in großen wie in kleinen, ganz in Verbindung mit dem Herrn sein, nichts ohne
volle Glaubensgewißheit unternehmen und wirklich völlig, in Gebetsabhängigkeit, unter der
Leitung des Heiligen Geistes stehen möchten!

Ja, während des ersten Weltkrieges war einmal sogar ein noch ganz anderer Gedanke wach
geworden. Johannes Warns hatte auf einer seiner Missionsreisen in Ungarn einen Freund in dem
kleinen Dörfchen Sofava besucht. In diesem Dorf aber lag, in einem herrlichen Park versteckt,
das alte Schloß der Grafen Lazar. Die Besitzerin, eine Gräfin Irma von Lazar, war eine gläubige
Christin. Br. Warns hatte herzliche Gemeinschaft mit ihr und den dortigen Gläubigen im Wort
Gottes und im Brechen des Brotes, nachdem er die Gräfin vorher, ihrem Wunsch entsprechend,
auf das Bekenntnis ihres Glaubens hin getauft hatte.

Diese Gräfin machte ihm nun während seines Besuches den Vorschlag, die Bibelschule doch
nach Sofava zu verlegen. Da sie keine Kinder habe, war sie bereit, ihr ganzes Besitztum dem
Werk des Herrn zu vermachen: zwei Schlösser, das Gut und eine Mühle, etwa 300 Morgen Land
und Wald. Es war ihr völlig ernst mit diesem geradezu verlockenden Angebot. Aber die Brüder
Köhler und Warns wollten erst das Ende des Krieges abwarten, um dann klarer den Weg Gottes
sehen zu können. Und dann haben sie es eben so wunderbar erfahren, wie der Herr weiter so
eindeutig geleitet hat, indem Er das Bibelschulwerk nach Wiedenest führte.

In den nächsten Tagen, bald nach dem Kauf, kam Johannes Warns nach Wiedenest. Da wurde
gerade jetzt noch ein anderes, fast genau gegenüberliegendes Haus - ebenfalls eine
Gastwirtschaft - zum Kauf angeboten. Infolge der opferfreudigen Mithilfe von Freunden des
Werkes konnte auch dieses Haus erworben werden, und so ist in Wiedenest das Wunder
geschehen, daß im Verlauf von nur ganz wenigen Wochen zwei Gastwirtschaften in eine
Bibelschule und ein Missionshaus umgewandelt wurden.

Bei der grundbuchlichen Eintragung des Kaufvertrages in unserer Kreisstadt Gummersbach


äußerte der Beamte: "Schade, man konnte früher dort so schön Kaffee trinken." Johannes Warns
antwortete: "Bitte, Sie sind auch bei uns auf unserer Veranda herzlich eingeladen." Zehn Jahre
hindurch ist die Veranda Versammlungs- wie auch Unterrichtsraum gewesen. Noch oft sind auch
später Fuhrleute, die von früher her gewohnt waren, hier in der Gastwirtschaft einzukehren und
nun das inzwischen über der Haustür befestigte Schild "Bibelschule" nicht bemerkt hatten, in das
Bibelschul-Haupthaus hineingekommen, um dort eine Ruhepause zu machen, zu essen oder zu
trinken. Das gab dann den Brüdern Gelegenheit zu einem Zeugnis an so manchen
Fernstehenden. Und man konnte sie darauf hinweisen, daß jetzt in diesen Häusern eine andere
Speise und ein anderer Trank dargeboten würde, eben die Speise des göttlichen Wortes und der
Trank des Wassers des Lebens, wie sie Jesus, der Herr, allen denen schenkt, die als Hungernde
und Dürstende zu Ihm kommen und sich von Ihm erneuern, erquicken und beleben lassen
wollen.

So sind nun die Häuser die neue Heimat der Bibelschule geworden. Im Rückblick auf diesen
Neuanfang gedenken wir jener Freunde in Dankbarkeit, die durch einen ganz besonders
opferbereiten, großzügigen Einsatz den Kauf der Häuser ermöglicht haben. Zwei von ihnen sind
bereits beim Herrn. Dem damaligen Wunsch entsprechend sollen die Namen der Spender nicht
genannt werden. Sie haben dem ganzen Werk einen unvergeßlichen Liebesdienst erwiesen.

Am 5. Oktober fand die Eröffnungsfeier in Wiedenest statt. Der Gesangchor der Gemeinde
Wülfringhausen sang vierstimmig das Lied: "Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren!"
Herrliches Herbstwetter verschönte den sonnigen Tag. Fast 400 Gäste waren gekommen.

Da sie natürlich nicht alle in den zur Verfügung stehenden Räumen Platz haben konnten, saßen
und lagerten viele im Bibelschulgarten. Vater Koehler gab zuerst einen Überblick über die
Entstehung des Werkes und die ersten 14 Jahre in Berlin und ließ dann seine Ansprache
ausklingen in die Worte: "Eben-Ezer! Bis hierher hat der Herr geholfen!" Johannes Warns sprach
die Hoffnung aus, daß in Zukunft noch viele solcher Zusammenkünfte hier stattfinden möchten.
Vertreter von Nachbargemeinden sagten Grußworte und Segens wünsche. Tiefen Eindruck
machten die Lieder des blinden, gläubigen Schweizer Sängers Guillod.

An die Eröffnungsfeier schloß sich sofort die erste Wiedenester Konferenz an. An ihr nahm auch
ein Missionar aus Zentral-Afrika (Michael Zentler) teil, desgleichen der durch seine zahlreichen
Bücher und Schriften auch in Deutschland jetzt weithin bekannte Zelt-Evangelist und Schriftsteller
Georg Brinke. Br. Brinke war als junger Mann in Berlin Bibelschüler gewesen, war dann jahrelang
Missionar in Südafrika, ist jetzt wohnhaft in der Schweiz.

Unmittelbar im Anschluß an die Konferenz wurde mit dem regelmäßigen Unterricht in der
Veranda begonnen. Mit der Verlegung der Bibelschule nach Wiedenest hatte Johannes Warns
die Leitung übernommen. Ihm zur Seite standen die Brüder Oberst Peterssen, Major v.
Wedekind, Heinrich Koehler und (seit 1920) Erich Sauer.
Sehr bald folgten Pläne für zwei Neubauten für die Brüder Peterssen und v. Wedekind. Diese
Häuser gingen aber später in den Besitz der Bibelschule über. Es war damals eine notvolle Zeit.
Das Bauen war mit großen Schwierigkeiten verbunden. Materialmangel, dürftiger Ersatz, Streiks,
ständig wachsende Inflationspreise - alles dies waren wenig ermutigende Begleiterscheinungen
des Neuanfangs. Aber der Herr gab auch zu diesen Bauten seinen Segen. In den ersten Jahren
(bis 1927) wohnte Br. v. Wedekind in dem einen dieser Häuser, bis er, eines schweren Asthma-
Leidens wegen, nach Bad Homburg v. d. H. (Taunus) übersiedeln mußte. Er hat in den Jahren
seiner Mitarbeit in Wiedenest einen wertvollen Dienst getan. Auch in den Gemeinden hin und her
war seine Verkündigung weithin hoch geschätzt. Im Jahre 1948 rief ihn der Herr zu Sich heim. In
vielen, oft besonders schweren Lebensführungen hat er sich immer wieder in restlosem
Vertrauen, in Hingabe und Treue an den Herrn bewährt. Die Gnade Gottes in seinem Leben ist
groß gewesen. Viele sind durch ihn reich gesegnet worden.

Oberst Peterssen konnte nicht, wie zuerst geplant war, selber nach Wiedenest ziehen. Wegen
eines schweren rheumatischen Leidens seiner Gattin zog er es vor, im benachbarten
Bergneustadt wohnen zu bleiben, kam aber, trotz seines hohen Alters, täglich zu Fuß nach
Wiedenest, um beim Unterricht mitzuhelfen. Viele unserer alten Freunde werden sich des lieben,
aufrichtigen, demütigen Bruders gern entsinnen. Wir waren schon vorher in Berlin mit ihm
bekannt geworden, und als wir nach Wiedenest kamen, war es sein Wunsch gewesen, mit uns zu
kommen.

Wunderbar war es, wie der Herr ihn zu Seinem Eigentum gemacht hat.

Ferdinand Peterssen war Berufsoffizier. Eines Tages las er in der Zeitung eine Notiz, daß
"General" Booth von der Heilsarmee in Berlin im Zirkus Busch sprechen würde. Diesen
seltsamen Mann, von dem er schon manchmal gehört hatte, wollte Oberst Peterssen gern einmal
hören. So saß er denn eines Abends im Zirkus Busch unter den Hörern. Er ahnte nicht, daß er an
diesem Abend Großes, ja für sein ganzes Leben Entscheidendes erfahren sollte. Als General
Booth seine Predigt begann und in Beweisung des Geistes und der Kraft das Evangelium
bezeugte, daß Jesus Christus in die Welt gekommen sei, Sünder selig zu machen, sprach ihn die
Botschaft sehr an. Er wurde tief durchdrungen von der Macht des Wortes Gottes. Als aber
schließlich der General seine Zuhörer aufforderte, dem Mann von Golgatha Herz und Leben
auszuliefern, da konnte er einfach nicht mehr mit! Ja, als er sogar noch zu hören bekam, wie der
General aufforderte, "jetzt in diesem Augenblick an die Bußbank zu kommen, wenn du überzeugt
bist von dem Anspruch Jesu an dich - es waren 24 Stühle im Mittelpunkt des Zirkus - und dort um
Gnade und Vergebung zu bitten", da war es für den preußischen Oberst zu viel! Er stand auf und
ging durch den langen Gang des Zirkus dem Ausgang zu. Schon stand er draußen an der Tür.
Da öffnete sich, gleichsam wie von unsichtbarer Hand, noch einmal der Vorhang, und Gott
sprach zu ihm: "Übergib dich dem Herrn und tue es jetzt!" Und da machte er die große
Kehrtwendung. Er ging zurück, schritt durch den langen Gang des Zirkus dem Zentrum zu, kniete
am ersten Stuhl nieder und übergab sein Leben bedingungslos dem Herrn, nahm Seine Erlösung
an und wurde von nun an ein fröhlicher Christ, dem man den tiefen Frieden seiner Seele vom
Angesicht ablesen konnte. Später hat er auch die große Freude erlebt, daß seine Gattin ebenfalls
den Weg des Glaubens beschritt. Im Jahre 1929 ging Br. Peterssen nach langer Krankheit heim.
Er, wie auch seine Gattin, die ihm nach einigen Jahren folgte, fanden ihre letzte Ruhestätte auf
dem Friedhof in Wiedenest.

4. Weiterentwicklung der Arbeit in Wiedenest

Es waren schwere Jahre, die ersten Jahre in Wiedenest! Es war ja die Nachkriegszeit des ersten
Weltkrieges. Die Lebensmittel waren knapp bemessen. Die Geldentwertung machte die
Haushaltführung äußerst schwierig. Aber immer wieder haben wir die Hilfe des Herrn
handgreiflich erleben dürfen. Unsere erste Hausmutter, Schwester Antoinette Lehmann, hat in
aufopfernder Arbeit mit sehr bescheidenen Mitteln den Bibelschulhaushalt neu aufgebaut. Sie
war eine ältere Schwester von Johannes Warns. Acht Jahre hat sie in mütterlicher Treue unter
vielen äußeren Schwierigkeiten dem Bibelschulwerk einen überaus wertvollen Dienst getan. Die
beiden Brüder Hugo Hefendehl und Wilhelm Gauer, die gleich zu Anfang der Wiedenester Zeit zu
uns kamen, haben in unermüdlichem Fleiß und vorbildlicher Selbstlosigkeit unsere Gärten und
Felder bearbeitet. Auch die Bibelschüler arbeiteten draußen fleißig mit, und der Herr gab seinen
Segen.

Für die Bibelschul- und Missionsarbeit öffneten sich neue Missionsgebiete. Insbesondere waren
es jetzt die Länder Südosteuropas, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, die
Tschechoslowakei. Auch in diesen Ländern hatten die jungen Gemeinden an nicht wenigen Orten
Verkennung, ja manchmal geradezu Verfolgung von seiten der griechisch-orthodoxen Kirche zu
erdulden. Aber der Herr segnete das Zeugnis ihrer Treue.

In Wiedenest sind wir oft zu sieben oder acht Nationalitäten beieinander gewesen. Nicht selten
haben wir bei gemeinsamen "Brüderabenden" ein und dasselbe christliche Lied nach der
gleichen Melodie, aber in sechs, ja manchmal sogar acht bis neun verschiedenen Sprachen
gleichzeitig gesungen! Das war dann ein "heiliges Babylon", wie wir wohl scherzhaft sagten, aber
ein "Babel", das in Wahrheit ein Vorgeschmack vom "himmlischen Jerusalem" war! Werden doch
in der ewigen Gottesstadt einst alle vereint sein "aus allen Stämmen und Sprachen, aus allen
Völkern und Nationen" (Off. 5,9).

Naturgemäß waren auch auf unseren Missionskonferenzen oft zahlreiche Länder vertreten.
Einmal waren es sogar Brüder von siebzehn Nationen bzw. Missionsgebieten, in denen unsere
Brüder oder befreundete Missionare arbeiteten.

So konnte Johannes Warns schon im Jahre 1928 schreiben: "Einige hundert Brüder haben bis
heute (seit Beginn der Arbeit 1905) am Unterricht teilgenommen, viele aus Rußland und
Deutschland, nicht wenige aus den Ländern Südosteuropas, einzelne aus anderen europäischen
Ländern. Sie stehen heute in der Arbeit in Rußland, Sibirien, in Polen, in der Tschechoslowakei,
in Ungarn, Rumänien, in Bulgarien, in der Schweiz und in Deutschland, einzelne auch in
Norwegen, Dänemark, Frankreich, England, Kanada, den Vereinigten Staaten Nordamerikas, in
Südamerika; Syrien (Damaskus), Palästina (Jerusalem), Persien, auf Java und in Afrika. Einige
von ihnen arbeiten in der Mohammedaner-Mission, andere unter dem Volk Israel, andere unter
den Heiden. Manche widmen ihre ganze Zeit dem Werk des Herrn, andere neben ihrem irdischen
Beruf."

Der Unterricht in der Bibelschule wurde in deutscher Sprache gegeben. Durch das Erlernen des
Deutschen war den Brüdern zugleich der Schlüssel zu wertvollen Schätzen des deutschen,
christlichen Schrifttums an die Hand gegeben.

Daß bei der Erlernung der deutschen Sprache unseren ausländischen Brüdern zuweilen auch
"drollige" Fehler unterliefen, ist uns noch heute eine belustigende Erinnerung. So rief einmal ein
rumänischer Bruder, der die Häkselmaschine in der Scheune bedienen sollte und darum die
dazugehörigen Gewichte brauchte, laut über den Bibelschulhof: "Wo sind die Schwierigkeiten?
Wo sind die Schwierigkeiten? - Nun, Schwierigkeiten braucht man im Leben wohl sonst nicht erst
zu suchen! Es ist wirklich nicht zu schwierig, Schwierigkeiten zu finden. Oft haben wir an diese
lustige Geschichte gedacht. An sich war der Fehler ja nur allzu begreiflich; denn "Gewichte" sind
ja auch "schwer", wenn natürlich auch nicht "schwierig"! Ein anderes Mal besuchten wir mit den
Brüdern einen Jugendtag in der mit uns befreundeten Gemeinde Wuppertal-Barmen
Freiheitstraße. Unsere Brüder legten Zeugnis ab. Da war es dann wieder ein rumänischer Bruder,
dein ein interessanter, kleiner Sprachfehler unterlief. Er wollte bezeugen, wie doch sein Leben so
ganz anders geworden war, seitdem er es Christus als seinem Heiland und Herrn übergeben
hatte. "Da bekam ich eine ganz neue - ,Temperatur'!", rief er mit Begeisterung aus. Alles lachte.
Er meinte natürlich: ,Temperament'! Ich konnte aber doch sofort, im Anschluß an sein Zeugnis,
diesem Wort eine besondere Wendung geben. Ich sagte: "Auch das ist eine Wahrheit, daß wir
durch den Glauben an Jesus Christus eine neue Temperatur' bekommen! Denn früher waren wir
lau; jetzt sind wir warm. Früher waren wir kalt; jetzt dürfen wir heiß und glühend sein in lebendiger
Liebe zu Jesus, unserem Herrn, und in feurigem Einsatz für Sein Evangelium."

Einige Brüder bewiesen eine ganz besondere Sprachbegabung. So erinnern wir uns an einen
Slowaken, der, als er zu uns kam, über nicht viel mehr als 40 bis 50 deutsche Worte verfügte. Mit
unermüdlichem Fleiß ergab er sich dem Studium der so schwierigen deutschen Sprache. Das
Ergebnis war überraschend. Schon nach sechs Wochen konnte er zum erstenmal in der
Gebetsstunde ein zwar schlichtes und kurzes, aber doch inhaltvolles, klares Gebet sprechen, und
nach weiteren sechs Wochen war er in der Lage, in der Versammlung sogar ein Zeugnis von
seiner Bekehrung auf deutsch öffentlich abzulegen.

Ein besonderes Ereignis war im November 1932 der Brand eines Teiles des Bibelschul-
Haupthauses. Während die Mehrzahl der Brüder am Mittagstisch saßen, erblickte einer, der
etwas später von der Feldarbeit zurückkam, eine Rauchsäule, die aus dem Heuboden des
landwirtschaftlichen Gebäudes emporstieg. Schnell griff das Feuer um sich. Dumpf tönte der
Klang der Brandglocke. Dank der schnellen und bereitwilligen Hilfe der Wiedenester und
Bergneustädter Feuerwehr konnte das Hauptgebäude gerettet werden. Gerade wenige Wochen
vorher war eine neue Motorspritze angeschafft worden. Gerade während des Brandes drehte
sich der Wind, der vorher die Flammen ins Haupthaus hineingetrieben hatte und wehte nun in
umgekehrter Richtung. Wie leicht hätte alles zerstört sein können! Aber gerade auch in diesen
beiden Umständen sahen wir ein gnädiges Helfen des Herrn.

Im ganzen brannten neun Wohnräume ab. Die Kühe im Stall konnten rechtzeitig auf die Weide
getrieben werden. In wenigen Stunden war vieles vernichtet, was in monatelanger Arbeit
mühsam aufgebaut worden war. Aus übriggebliebenen Balken und Brettern des abgebrannten
Hausteiles erbaute später ein Bibelschüler, Br. Karl Kramer, der im Baufach ausgebildet war, ein
schönes, festes Hühnerhaus, das in den letzten Jahren in ein stilvolles Gartenhäuschen
umgewandelt worden ist und nun im Bibelschulgarten unseren Gästen und Freunden einen
schönen Aufenthaltsraum und eine stille Stätte für innere Sammlung und Gebetsgemeinschaften
darbietet.

Bis zum Herbst 1928 hatte Schwester Antoinette Lehmann als Bibelschulhausmutter in großer
Treue und Hingabe gearbeitet. Dann hat sie wegen schwerer Erkrankung ihren Dienst aufgeben
müssen und war bald darauf heimgegangen. Nun war es wieder eine Führung des Herrn, daß Er
einen früheren Bibelschüler aus den Anfängen der Berliner Zeit, Rudolf Bohn, zu uns sandte, der
mit seiner Frau den Hauselterndienst übernahm. Geschw. Bohn hatten jahrelang im
Missionsdienst unter den mohammedanischen Kirgisen in Turkestan (Zentral-Asien) gestanden.
Dann waren sie, nach Beendigung des ersten Weltkrieges, nach Jahren der Gefangenschaft und
mancher Not in die deutsche Heimat zurückgekehrt. Sechs Jahre hindurch haben wir hier eine
schöne, harmonische Zusammenarbeit gehabt. Doch Br. Bohns Gesundheit war schon vorher
sehr geschwächt. So mußte er bereits im Jahre 1933 die Arbeit niederlegen und zog nach
Niederbierenbach. Nach fünf Jahren nahm ihn der Herr dann zu Sich.

Auch Bruder Johann Legiehn, der mit seiner Frau nun viele Jahre den Bibelschulhaushalt leitete,
war zuerst als Bibelschüler nach Wiedenest gekommen, Dann hatte er den Hausvaterdienst
übernommen und war auch Jahre hindurch Missionslehrer. 16 Jahre hindurch hat uns eine ganz
besonders gesegnete Arbeitsgemeinschaft verbunden. 1948 ging er mit seiner Familie nach Süd-
Amerika, um dort unter den Auslandsdeutschen mit dem Evangelium zu dienen und am Aufbau
des dortigen Gemeindelebens mitzuwirken. Unsere Geschwister hinterließen hier eine Lücke, die
wir noch heute empfinden. Das Band der Liebe ist unverändert geblieben, trotz aller Entfernung
über Land und Meer! Johann Legiehn tut jetzt einen gesegneten Lehrdienst an zwei
Bibelschulen. 1954 gab er unter dem Titel: "Unser Glaube" eine "Kurzgefaßte Biblische
Glaubenslehre" heraus. Sie erschien in Ponta Grossa, Parana, Südbrasilien. Sie fand nicht nur in
Südamerika, sondern auch in Nordamerika und Kanada unter den Deutschsprechenden
freundliche Aufnahme und hat jetzt auch ihren Weg nach Deutschland gefunden. Mit diesem
Buch will unser Bruder besonders solchen einen Dienst tun, die es benutzen möchten zum
persönlichen Bibelstudium, zu Jugendarbeit und zum praktischen Dienst der Wortverkündigung.

Vom Anfang in Wiedenest an hatten wir alljährlich eine Glaubens- und Missionskonferenz. Auch
hier schenkte der Herr ein erkennbares Zunehmen. Die erste Konferenz fand im Raum unserer
Veranda statt. Schon diese Raumbeschränkung zeigt, daß die Anfänge zunächst zahlenmäßig
recht klein waren. In späteren Jahren wurde verschiedentlich dicht neben unserem kleinen
Dörspe-Flüßchen ein Zelt aufgeschlagen, und freudige Lieder, von vielen gesungen, klangen
durchs Tal über die Berge hinaus. Besondere Freude machten allen Konferenzbesuchern immer
die so lebendigen Gesänge der Chöre der uns benachbarten Gemeinde Derschlag. Oft wurden
die gemeinsamen Lieder durch Br. Heinz Koehler mit laut hinausschallender Trompete begleitet,
Nie werden wir vergessen, wie so oft das jubelnd triumphierende Lied erklang:

"Wir überwinden durch Den, der uns liebet. Wir überwinden durchs Blut unseres Herrn!"

Zweimal fand unsere Konferenz in der Scheune statt. Das war äußerlich zwar ein ganz schlichter
Rahmen. Aber auch in diesem schlichten Raum erlebten wir etwas von der Kraft des
Evangeliums und der Gemeinschaft der Kinder Gottes, wie sie - in einst noch unvergleichlich
höherem Maße - schon bei den ersten, schlichten Gemeinden der urchristlichen Zeit vorhanden
gewesen war.

1930 wurde unser schöner, großer Saal gebaut. An seiner Herstellung waren die Opfer vieler
Kinder Gottes mitbeteiligt. Auch kamen Brüder aus befreundeten Gemeinden aus dem
Westerwald - Maurer von Beruf - und setzten freudig ihre Kraft und Zeit mit ein, um durch ihrer
Hände Werk mitzuhelfen am Aufbau dieses Hauses, das ja dem Herrn und Seinem Dienst
geweiht sein sollte. Die Einweihung des Saales fand bei der Feier des 25. Bestehens des
Bibelschul-Missionswerkes statt (1930).

Zu allen Zeiten haben diese Konferenzen den Charakter brüderlicher Aussprache getragen.
Zugleich waren sie ein Ausdruck der Gemeinschaft der Kinder Gottes aus den verschiedenen,
gläubigen Kreisen. Ein besonderes Kennzeichen war stets ihr Missionscharakter. Jede
Abendversammlung, ob in der Veranda, ob im Zelt, ob in der Scheune oder ob später im Saal,
stand nicht nur unter dem Zeichen der Wortverkündigung, sondern gerade auch der Mission und
Evangelisation. Brüder berichteten von ihrer Arbeit in den mit uns verbundenen Missionsgebieten
Ost- und Südosteuropas. Andere berichteten über das Werk des Herrn in Holland und der
Schweiz. Nicht selten wurden auch Missionsberichte gegeben von Missionaren aus Afrika, China
und Indien. Eine Freude war es uns, wenn vom Evangeliumszeugnis unter dem
alttestamentlichen Bundesvolk Israel erzählt wurde. Gelegentlich wurden Missionsberichte
gegeben über Österreich, Italien und Spanien. Und welche Freude erfüllte unser Herz, wenn,
wiederholt, nach einem gesegneten, kraftvollen Evangeliumszeugnis, Seelen sich für Christus
entschieden und Frieden fanden.

Wie überall, so brachten auch uns die vielen Jahre im Wechsel des Erlebens Regen und
Sonnenschein, Freud und Leid. So manchmal sind wir auf den stillen Friedhof gegangen, wo
mehrere unserer treuen Mitarbeiter und Freunde, auch einer unserer Bibelschüler, und ebenso
einige unserer Kinder ihre letzte, irdische Ruhestätte fanden.

Besonders schwer traf uns der Verlust unseres teuren Bruders Johannes Warns. Am 27. Januar
1937 rief ihn der Herr ganz plötzlich und unerwartet beim. Mit ihm ist einer der Führer des Volkes
Gottes aus der kämpfenden in die triumphierende Gemeinde hinübergegangen.

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