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Neue Spiritualität
In der letzten Einheit sprachen wir davon, daß Christen den Sinn ihres Lebens in
der Hingabe an Gott gefunden haben. Aber wie ist das überhaupt mit Gott? Kann m
an wissen, ob es ihn gibt? Wie kann man etwas über Gott herausfinden?
In den letzten 10-15 Jahren ist das Bewußtsein dafür stärker geworden, daß die m
aterielle, technisch erfaßbare Wirklichkeit nicht alles ist. Man spürt: Es gibt
Dinge zwischen Himmel und Erde, es gibt eine Wirklichkeit, die man nicht sehen,
nicht messen kann und die doch real ist. Es gibt einen Ursprung, eine Quelle, vo
n der her wir leben, ohne sie zu sehen.
Viele Menschen haben den Wunsch, mit dieser unsichtbaren Wirklichkeit in Kontakt
zu kommen, zur Quelle zurückzufinden.
Die Kirchen werden zwar immer leerer, aber dafür boomen Esoterik, religiöse Ange
bote aus dem Osten, Sekten. Die Esoterikliteratur verzeichnet die höchsten Zuwac
hsraten im Bereich der Fachliteratur.
Leute investieren enorm viel Zeit, Kraft und Geld, um transzendente, übersinnlic
he Erfahrungen zu machen. Spiritualität ist der ultimative Trend der Neunziger (
Die Woche, 26.4.96). Religion ist wieder in.
Das ist nicht nur eine Modeerscheinung. Religiösität ist ein universales Phänome
n. Soweit man die Menschheitsgeschichte zurückverfolgen kann, gab es Religion. U
nd in allen bekannten Kulturen, von den Eskimos bis zu den Buschmännern, gibt es
Religion. Jemand sagte mal: Der Mensch ist unheilbar religiös.
Diese Religiösität ist ein Indikator, Zeichen einer tiefen Sehnsucht. Menschen s
ehnen sich danach, zu ihrem Ursprung zurückzufinden, Anschluß an die Quelle zu b
ekommen, wahres, heiles Leben zu finden. Diese Sehnsucht nach dem Ursprung, nach
Transzendenz, ist letztlich eine Sehnsucht nach Gott. Vielleicht würde man es s
elber nie so nennen. Vielleicht ist das Wort Gott für manchen so negativ besetzt,
daß man es nicht verwenden mag. Aber ich bin ganz sicher: letztlich sehnen wir u
ns nach ihm. Die Religiösität des Menschen ist das Zeichen seiner Sehnsucht nach
Gott.
Gott nur eine Projektion?
Doch genau an diesem Punkt kommen Zweifel auf: Kann es nicht sein, daß die Relig
ion ein großartiger kollektiver Selbstbetrug ist? Daß Gott das Produkt eines Wun
schdenkens ist? Wir sehnen uns nach Geborgenheit, nach Orientierung, nach Recht,
nach ewigem Leben. Und weil es das alles in dieser Welt nicht oder nur sehr geb
rochen gibt, erglauben wir uns einen Gott, der unsere Sehnsucht erfüllt. Wir wün
schen uns einen Gott und darum glauben wir an seine Existenz.
So ähnlich wie die Kinder an das Christkind glauben wollen, obwohl sie im Stille
n schon wissen, daß es die Eltern sind, die die Geschenke bringen. Aber der Geda
nke ist so schön, daß man ihn unbedingt festhalten will. Könnte es nicht sein, d
aß wir es mit Gott genau so machen?
Das war die These von Ludwig Feuerbach, dem großen Religionskritiker des letzten
Jahrhunderts. Er sagte: Gott ist eine Projektion unserer menschlichen Wünsche.
Nicht Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, sondern der Mensch schuf Gott n
ach seinem Bilde, nach seinen Wünschen. Gott ein Wunschgedanke, ein Traum, aus d
em man nicht aufwachen möchte, weil sonst die Wirklichkeit so trostlos wäre.
Für Feuerbach war die Tatsache, daß Menschen sich nach Gott sehnen, schon der Be
weis seiner Nichtexistenz. Er meinte, indem er die Religion aus den Wünschen des
Menschen erklärt, sie auch schon widerlegt zu haben. Das ist, nebenbei bemerkt,
natürlich sehr kurz gedacht, wirkte aber überzeugend. Und jetzt, meinte er, geh
t s nur noch darum, daß der Mensch endlich aus seinem Traum erwacht und mit seinen
eigenen Händen schafft, wonach er sich in seiner Religion sehnt: eine heile, gl
ückliche Welt.
Inzwischen ist der Optimismus der Religionskritiker verschwunden. Die Welt ist n
icht besser geworden. Nietzsche: Die Welt ist nach dem Tod Gottes dunkler geworden
. Menschen leiden unter metaphysischer Heimatlosigkeit (Thomas Meyer), Orientierun
gs- und Sinnlosigkeit.
Die Sehnsucht nach Gott ist geblieben.
Douglas Coupland, Autor von Generation X, bekennt am Ende seines Buches Life aft
er God (1994) sehr ehrlich:
Und dies ist mein Geheimnis: Ich werde es dir sagen, mit einer Offenheit des Her
zens, die ich wohl niemals wiedererlangen werde; und so bete ich, daß du in eine
m stillen Raum bist, wenn du diese Worte hörst.
Mein Geheimnis ist, daß ich Gott brauche daß ich krank bin und allein nicht weit
er kann. Ich brauche Gott, damit er mir hilft, zu geben, denn ich scheine zum ge
ben nicht länger in der Lage zu sein; damit er mir hilft, gut zu sein, denn ich
scheine zur Güte nicht länger imstande zu sein; damit er mir hilft, zu lieben, d
enn ich scheine über die Fähigkeit zu lieben hinaus zu sein.
Natürlich kann man mit kühler Argumentation sagen: Menschen erglauben sich einen
Gott, weil sie ihn brauchen. Aber es könnte doch auch genau umgekehrt sein! Es
könnte doch sein, daß es für unsere Sehnsucht eine Erfüllung gibt. Es gibt ja fü
r alle wesentlichen Sehnsüchte und Bedürfnisse des Menschen eine Erfüllung. Wir
haben Durst und es gibt Wasser. Wir haben Hunger und es gibt Brot und Butter. Wi
r sehnen uns nach Liebe und es gibt wirkliche Liebe.
Es könnte doch sein, daß es auch für unsere Sehnsucht nach Gott eine Erfüllung g
ibt. Daß wir uns nach Gott sehnen, weil Er Wirklichkeit ist und weil Er in uns d
iese Ahnung und diesen Durst nach ihm hineingelegt hat. Daß wir Menschen auf Got
t angelegt sind. Augustinus: Du, Gott, hast uns zu dir hin geschaffen, und unser
Herz ist unruhig bis es Ruhe findet in dir.
Sehnsüchte sollte man nicht verdrängen. Wer Durst hat, sollte den Durst nicht ig
norieren, sonst kommt er um. Wer Durst nach Gott hat, sollte den nicht verdränge
n, sondern die Quelle suchen, sonst geht es ihm wie dem berühmten modernen Mensch
en .
Geschichte vom modernen auch postmodernen Menschen erzählen, der in Wüste umheri
rrt, nahe am Verdursten, dann eine Oase sieht: Palmen, Gras, plätscherndes Wasse
r.
Er denkt: Das muß eine Fata Morgana sein, das kann nicht Wirklichkeit sein und s
chleppt sich weiter. Kurz darauf finden ihn zwei Beduinen verdurstet am Boden, n
ur wenige Meter von der Oase entfernt. Wie konnte das passieren? Er hätte nur die
Hand ausstrecken brauchen... Es war eben ein moderner Mensch.
Die Sehnsucht nach Gott ist kein Beweis der Wirklichkeit Gottes, aber ein Hinwei
s, ein Indiz, das uns auf die Spur bringen kann. Einen Beweis Gottes im strengen
Sinne gibt es nicht. Und das spricht nicht gegen Ihn, sondern für Ihn. Was wäre
das für ein Gott, den wir mit unseren Mitteln beweisen könnten! Beweisen können
wir nur Dinge, die wir untersuchen, testen, messen und sezieren können, die wir
begreifen können, die in Raum und Zeit sind, in den Grenzen, in denen wir leben.
Gott ist aber kein Ding, das man begreifen kann, sondern eine Wirklichkeit, die
Raum und Zeit umfaßt, die größer ist als wir. Um Gott zu begreifen und zu beweis
en, müßten wir einen Standpunkt jenseits von Raum und Zeit, jenseits von Gott ei
nnehmen. Das können wir aber nicht.
Was kann man dann noch sagen?
Ob es einen Gott gibt und wie dieser Gott ist, das können wir von uns aus nicht
herausfinden. Es sei denn, daß Gott sich zu erkennen gibt, sich in irgendeiner W
eise uns mitteilt.
Stellt euch vor, daß hier auf diesem Blatt zweidimensionale Wesen leben. Sie hab
en also wirklich nur eine Ausbreitung in der Fläche, aber nicht in der Höhe. Die
dritte Dimension von Raum kennen sie nicht. Es sind flächige, fleckartige Wesen
. Mich als dreidimensionales Wesen können sie nicht wahrnehmen, selbst dann nich
t, wenn ich mich mit meinem Finger diesem Blatt nähere. Erst wenn ich mit meinem
Finger in ihre Dimension hineingehe, das Blatt tatsächlich berühre, werde ich f
ür sie spürbar, hinterlasse einen Fingerabdruck und ermögliche ihnen, etwas von
meiner Wirklichkeit zu erfassen.
Auf solche Fingerabdrücke Gottes sind wir angewiesen. Wenn wir etwas von ihm wis
sen wollen, dann muß er sich zu erkennen geben. Dieser Gedanke, daß Gott sich zu
erkennen geben könnte, kommt einem lächerlich vor, wenn man sich Gott unpersönl
ich vorstellt, als kosmische Energie oder pantheistisch als Teil des Universums.
Aber was ist, wenn Gott personal ist? Wenn Er kein Es ist, sondern ein Du, mit d
em man sprechen kann? Er hat ja personale Wesen wie uns hervorgebracht, die auf
Beziehung angelegt sind! Wenn Gott personal ist, dann ist es im Grunde naheliege
nd zu vermuten, daß er in irgendeiner Weise mit uns Kontakt aufnimmt.
Die Bibel sagt, daß das wirklich geschehen ist. Und sie nennt diesen Vorgang Off
enbarung. Offenbarung heißt: Gott tritt aus der Verborgenheit heraus, gibt sich
zu erkennen. Er tritt aus seiner unsichtbaren Wirklichkeit in unsere irdische Wi
rklichkeit, in unsere Dimension ein, damit wir ihn erfahren können. Er hinterläß
t Fingerabdrücke in unserer Welt.
Das ist auf verschiedene Weise geschehen:
Zum einen zeigt sich Gott in seiner Schöpfung. Das Universum ist nach den Aussag
en der Bibel Gottes Werk. Er hat die Welt geschaffen und hat seine Spuren darin
hinterlassen. Jedes Kunstwerk offenbart ja etwas von dem Künstler, der es gemac
ht hat. Und auch die Schöpfung trägt die Spuren des Schöpfers, auch wenn sie nac
h christlichem Verständnis schwer beschädigt ist. Man muß nur die Augen aufmache
n und die Natur anschauen: wie komplex selbst die einfachsten Lebensformen sind,
wie phantastisch so ein einfacher Käfer gestaltet ist. (Vgl. z.B. den Film Mikr
okosmos!).
Oder was für eine verschwenderische Liebe zur Schönheit die Blumenwelt spiegelt.
Aus der Natur kann man etwas über den Schöpfer erfahren. Jede Blume, jeder Berg,
jeder Sonnenaufgang erzählt etwas von der Macht, Phantasie und Schönheit des Sc
höpfers.
Der Apostel Paulus drückt diesen Gedanken so aus:
Gott ist zwar unsichtbar, doch an seinen Werken, der Schöpfung, haben die Mensch
en seit jeher seine göttliche Macht und Größe sehen und erfahren können. Deshalb
kann sich niemand damit entschuldigen, daß er von Gott nichts gewußt hat. (Röm
1,20; Übersetzung: Hoffnung für alle) In seiner Schöpfung offenbart Gott etwas v
on seiner Macht und seiner Liebe zur Schönheit.
Gott offenbart sich aber auch in der Geschichte. Das wird konkret z. B. in seine
r Geschichte mit dem Volk Israel. In der Bibel lesen wir, wie Gott einzelnen Men
schen begegnet ist und Geschichte mitgestaltet.
Zum Beispiel begegnet Gott Abraham, dem Stammvater Israels. Er hörte Gottes Sti
mme und das hat sein Leben total verändert.
Das Volk Israel hat Gott erlebt als sie Sklaven in Ägypten waren. Sie haben erle
bt, wie Gott sie befreit hat.
Es gab Menschen in diesem Volk, Propheten, die Visionen hatten und Gottes Stimme
hörten. So hat sich Gott diesem Volk immer mehr zu erkennen gegeben.
Gott offenbart sich, indem er einzelnen Menschen begegnet, in Raum und Zeit hine
inwirkt.
Nach dem christlichen Glauben gibt es einen Punkt in der Geschichte, wo sich Got
t in ganz einzigartiger Weise zu erkennen gegeben hat: in Jesus.
Jesus ist nicht nur ein Mensch, der etwas von Gott gehört hat, wie die Propheten
, sondern er kommt selber aus der unsichtbaren Welt Gottes. In Jesus kommt Gott
selbst in seine Schöpfung, zeigt uns wer er wirklich ist, zeigt uns sein Herz. (
In einer späteren Einheit werden wir uns genauer damit befassen.)
Gott offenbart sich in Schöpfung, Geschichte des Volkes Israel und vor allem in
Jesus Christus. Die Bibel berichtet von diesen Offenbarungen. Darum ist die Bibe
l die Quelle, aus der Christen ihre Informationen über Gott beziehen und die Gru
ndlage für alles, was wir hier über den christlichen Glauben sagen.
Jetzt denken vielleicht manche: Das klingt ja alles gut und schön, aber woher we
iß ich, ob das auch stimmt, daß Gott sich offenbart hat. Die Denkmöglichkeit ein
er Offenbarung ist ja noch lange kein Beweis, daß es auch wirklich passiert ist!
Ob das mit Gott und mit der Offenbarung stimmt oder nicht, das kann man nicht am
Schreibtisch entscheiden, das ist keine theoretische Frage, die man durch logis
che Schlüsse beantworten kann, sondern eine existentielle Frage. Gott ist ja kei
n Ding , das man mit technischen Mitteln aufspüren kann. Er ist auch kein Gedanke,
den man mit logischen Mitteln erfassen oder widerlegen kann. Sondern Er ist der
Lebendige, der Schöpfer.
Gewißheit über ihn bekommt man nicht auf theoretischem Weg, sondern nur auf exis
tentielle Weise, nur, indem man sich mit seiner ganzen Person, mit seinem ganzen
Leben auf ihn einläßt, sich ihm öffnet.
C.S. Lewis, ein Professor in Cambridge, der viele Jahre Gott gesucht hatte und d
ann Christ wurde, schreibt etwas sehr Beeindruckendes über die Suche nach Gott:
Der Gott des Pantheisten tut nichts und verlangt nichts. Wenn man ihn wünscht, i
st er da, so wie ein Buch auf dem Bücherbrett. Er verfolgt mich nicht [...] Der
Schock überfällt uns in dem Augenblick, da sich uns in der Schnur, an der entlan
g wir uns vorwärtstasten, die Spannung des Lebens mitteilt. Es ist immer erschre
ckend, dort Leben anzutreffen, wo wir allein zu sein glaubten. [...] Und deshalb
ziehen sich gerade hier so viele zurück ich selbst hätte es auch getan, wenn ic
h gekonnt hätte und dringen nicht weiter in den christlichen Glauben ein. Ein unp
ersönlicher Gott schön und gut. Ein subjektiver Gott der Schönheit, Wahrheit und
Güte in unsern eigenen Köpfen noch besser. Eine gestaltlose Lebenskraft, die uns
durchwallt, eine ungeheure Macht, die wir anzapfen können am besten von allem.
Aber Gott selbst, der lebendige, der am andern Ende der Schnur zieht, der sich v
ielleicht mit ungeheurer Geschwindigkeit nähert [...] das ist eine völlig andere
Sache. Es kommt der Augenblick, da Kinder beim Räuberspielen plötzlich zusammen
zucken: Waren das nicht wirkliche Schritte im Flur? Es kommt der Augenblick, da
Menschen, die in der Religion herumgeplätschert haben, sich plötzlich zurückzieh
en. Angenommen, wir haben ihn wirklich gefunden! Dazu wollen wir es doch nicht k
ommen lassen! Schlimmer noch: Angenommen er hat uns gefunden!!!
(Zitiert nach Alister McGrath, Fragen lohnt sich, S.99f)
Wer Gewißheit über Gott bekommen will, muß bereit sein, sich von ihm finden zu l
assen, sich auf ihn einzulassen. Wer über Gott nur spekulieren will, wie über ei
nen Gedanken, der wird nie Gewißheit haben. Die bekommt man nur, indem man klein
e Schritte auf Gott zu wagt, das Gespräch mit ihm aufnimmt, sich traut, ihn beim
Wort zu nehmen. Das ist ein Wagnis, ein Vertrauenswagnis, aber ohne dieses Wagn
is geht es nicht. Glauben heißt, dieses Wagnis einzugehen, das Spekulieren aufzuhö
ren, Vertrauen zu fassen und sein Leben Gott hinzugeben. Ich denke, daß wir es h
ier mit dem eigentlichen Hinderungsgrund zu tun haben, der viele Menschen davon
abhält, Christen zu werden. Sie wollen dieses Wagnis nicht eingehen. Sie wollen
ihr Leben nicht in fremde Hände geben. Ihnen fehlt Gott gegenüber das nötige Ver
trauen, um sich auf ihn einzulassen.
Die Gründe, warum es Menschen schwer fällt, sich Gott anzuvertrauen, können sehr
unterschiedlich sein.
Bei manchen hängt das mit ihrer Lebensgeschichte zusammen.
Sie haben Erfahrungen gemacht, die ihr Grundvertrauen erschüttert haben und die
es ihnen schwer machen, sich jemandem hinzugeben.
Da ist z.B. jemand, der als Kind die Erfahrung gemacht hat: Die Mutter ist nicht
da. Immer wieder ist es passiert, daß er geschrien hat, aber die Mutter kam nic
ht. Diese Erfahrung kann sich so tief eingraben, daß sie bis in die Gegenwart hi
nein das Leben dieses Menschen bestimmt: Wenn ich um Hilfe schreie, dann kommt d
och keiner. Wenn ich bete, ist da doch keiner, der mich hört.
Ein Mensch ist tief in seinem Inneren verletzt worden. Ein Kind hat von seinem V
ater nie Zärtlichkeit bekommen. Der Vater war stumm, arbeitsbesessen, schnell jä
hzornig, hat nie gesagt: Ich habe dich lieb. Das kann tiefe seelische Wunden in
uns hinterlassen.
Es gibt noch viele andere Erlebnisse, die uns verletzen können. Die liegen viell
eicht schon ganz lange zurück, so daß wir uns kaum noch daran erinnern können. A
ber das Grundvertrauen ist dadurch erschüttert worden und ein tiefes Mißtrauen h
at sich festgesetzt.
Dieses Mißtrauen ist wie ein Selbstschutz. Wer einmal verwundet worden ist, will
das nicht noch mal erleben. So legt sich das Mißtrauen wie eine Dornenhecke um
das eigene Herz, um es vor weiteren Verletzungen zu schützen.
Wer so eine Dornenhecke um sein Herz hat, dem fällt es schwer anderen Menschen z
u vertrauen. Dem fällt es auch schwer, an Gott zu glauben. Glauben bedeutet ja e
ine vertrauensvolle Hingabe seines Lebens an Gott. Aber wer solche Erfahrungen g
emacht hat, dem fällt gerade das ungeheuer schwer. Was in unserer Lebensgeschich
te passiert ist, können wir nicht rückgängig machen. Wir können die Verletzungen
nicht ungeschehen machen, so sehr wir uns das auch wünschen. Aber Verletzungen
können heilen, so daß sie uns nicht mehr bestimmen, daß nicht mehr Angst und Miß
trauen unser Leben prägen.
(Hier kann es sehr hilfreich sein, so weit es möglich ist, von einer persönliche
n Erfahrung von Verletzung und beginnender Heilung zu erzählen.)
Die Heilung von inneren Wunden geschieht meistens nicht von heute auf morgen. We
r sich darauf einläßt, wird einen längeren Weg zurücklegen müssen. Es kann damit
beginnen, daß man mit einem Menschen oder auch mit Gott darüber spricht, was un
s so verletzt hat.
Vielleicht kann das ja in diesem Einführungskurs anfangen, daß man mit Gott oder
auch mit einem anderen Menschen über seine Lebensgeschichte redet. Dazu muß man
keinen großen Glauben haben. Es kann aber ein erster Schritt sein, die Dornenhe
cke des Mißtrauens zu öffnen.
Auf der Rückseite der Blätter, die gleich ausgeteilt werden, steht ein Gebet.Es
ist eine Bitte an Gott um innere Heilung - daß er uns in unseren Schmerz und in
unseren Verletzungen begegnet und so anfängt, die Wunden zu heilen. Dieses Gebet
ist gedacht als eine Anregung und Hilfe zum eigenen Beten.
Vielleicht kann es ja auch für manchen zum eigenen Gebet werden. Beten, das kann
man auch, wenn man noch nicht wirklich weiß, ob es Gott überhaupt gibt. Man kan
n auch jemand anderes bitten, für einen zu beten.
Ist da jemand? Von Gott und wie man ihm begegnen kann . So weit dazu einige Gedanke
nanstöße. Jetzt wollen wir uns wieder Zeit nehmen, in den Gesprächsgruppen über
das Gehörte zu reden und miteinander einen Bibeltext zu lesen.
zum Inhaltsverzeichnis
BASICS 5: Jesus
Faszination Jesus
Es gibt wohl kaum einen Menschen auf der Welt, der so eine Faszination ausübt wi
e Jesus.
Jedes Jahr erscheinen neue Bücher über ihn. Auch ganz unkirchliche Zeitschriften
wie Spiegel oder Focus beschäftigen sich immer wieder mit diesem Mann. Über keinen
Menschen wurde so viel geforscht und geschrieben. Und trotz allem, was da gefors
cht worden ist, hört das Fragen nicht auf: Wer ist dieser Mensch? Die Meinungen
darüber gehen weit auseinander.
Die einen sagen: Er war ein antiker Psychotherapeut, andere halten ihn für einen
großen Gesellschaftskritiker, noch andere für einen Erleuchteten wie Buddha. Ab
er alle, die sich mit Jesus beschäftigt haben, sind sich einig: er ist eine der
außergewöhnlichsten und beeindruckendsten Persönlichkeiten, die auf dieser Erde
gelebt haben. Jesus fasziniert.
Für den christlichen Glauben steht Jesus absolut im Zentrum. Von ihm, Jesus Chri
stus, hat der christliche Glaube ja seinen Namen. Christen sind Christusanhänger
. Wenn man verstehen will, was christlicher Glaube ist, muß man verstehen, wer J
esus ist. Wer war, wer ist dieser Jesus wirklich? Eine Menge Leute, sogar manche
Theologen, behaupten: das können wir gar nicht wissen. Die Quellen über Jesus s
ind zu unzuverlässig. Die sind erst viel später von irgendwelchen Kirchenleuten
geschrieben worden, die Jesus zu einem Gottmenschen hochstilisiert und das Bild
vom wirklichen Jesus verfälscht haben.
Schauen wir uns die Quellenlage mal an: Es gibt ein paar außerbiblische Quellen,
die Jesus erwähnen. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus schreibt ungefähr
115 n.Chr., daß Christus unter Tiberius vom Prokurator Pontius Pilatus hingericht
et worden war. (Tacitus, Annalen 15,44)
Der Jude Josephus, ein Geschichtsschreiber, der im 1. Jahrhundert lebte, erwähnt
ihn auch an einigen Stellen. Inhaltlich geben diese Quellen aber wenig her. Die
Hauptquellen, die uns zur Verfügung stehen, sind die vier Evangelien, die im Ne
uen Testament stehen: Das Evangelium nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes.
Diese Quellen sind wesentlich zuverlässiger als der Spiegel und andere populärwi
ssenschaftliche Veröffentlichungen uns glauben machen wollen.
Die Textüberlieferung
Die Überlieferung der Evangelien ist einzigartig gut. Es gibt in der ganzen anti
ken Literatur keine Texte, die auch nur annähernd so gut überliefert worden sind
.
Man braucht nur einmal die Evangelien mit anderen Texten aus der Antike zu vergl
eichen: Nehmen wir z.B. Caesars Gallischer Krieg . Der ist zwischen 50 und 60 vor C
hristus geschrieben worden. Die älteste Abschrift, die wir heute noch haben, ist
von 900 n.Chr. Das heißt: zwischen dem Original und der ältesten Abschrift lieg
en etwa 950 Jahre. Insgesamt gibt es nur 9 oder 10 Handschriften. Trotzdem hat k
einer unserer Lateinlehrer bezweifelt, daß der Text, den wir heute haben, wirkli
ch von Caesar stammt.
Die Werke von Plato sind um 400 v. Chr. geschrieben worden. Die älteste Abschrif
t wird auf etwa 900 n.Chr. datiert. Zwischen dem Original und der ältesten Absch
rift liegen also etwa 1300 Jahre. Insgesamt gibt es nur 7 Handschriften.
Die Evangelien wurden zwischen 60 und 90 n. Chr. geschrieben. Die älteste Abschr
ift, sie ist nur ein Fragment und enthält einen Teil des Johannesevangeliums, is
t ungefähr 120 n. Chr. entstanden. Wenn man annimmt, daß das Johannesevangelium
um 90 n.Chr. geschrieben wurde, dann liegen zwischen dem Original und der ältest
en Abschrift nur etwa 30 Jahre! Es gibt eine ganze Reihe von weiteren Papyri, di
e Teile des NT enthalten und aus dem 2. und 3. Jahrhundert stammen. Das älteste
vollständige Neue Testament stammt aus dem 4. Jahrhundert. Insgesamt gibt es ca.
5000 erhaltene griechische Abschriften!
Und das beeindruckende ist: Sie stimmen inhaltlich völlig überein. Es gibt zwar
kleinere Unterschiede im Wortlaut, Abschreibfehler und ähnliches. Aber es gibt s
o gut wie keine inhaltlich relevante Stelle im ganzen NT, die textlich umstritte
n wäre. Wir können mit gutem Grund davon ausgehen, daß der Text, den wir heute h
aben, mit dem Original übereinstimmt.
Die Verfasser der Evangelien
Die Evangelien selbst sind wahrscheinlich zwischen 60 und 90 n. Chr. geschrieben
worden, also 30 bis 60 Jahre nach den Ereignissen, von denen sie berichten! Das
bedeutet, es gab noch eine Menge Augenzeugen, die Jesus persönlich gekannt hatt
en, die man befragen konnte, die Dinge korrigieren konnten.
Die Verfasser der Evangelien waren nach den ältesten Quellen entweder selbst Aug
enzeugen, die Jesus kannten (Matthäus und Johannes, zwei seiner Schüler) oder Sc
hüler von Augenzeugen. Markus war ein Reisebegleiter von Petrus. Lukas war ein F
reund von Paulus und kannte auch die anderen Apostel. Das heißt, die Evangelien
sind ganz nah dran an Jesus und an denen, die ihn persönlich kannten.
Mündliche Überlieferung
Nun darf man sich das mit der Entstehung der Evangelien nicht so vorstellen, daß
ein Evangelist sich 30 oder 40 Jahre nach den Ereignissen hingesetzt und überle
gt hat: Wie war das denn damals? Sondern es gab eine gut gepflegte Überlieferung
von dem, was Jesus getan und gesagt hat. Mündliche Überlieferung wurde im damal
igen Judentum ganz sorgfältig gepflegt. Schüler haben sich die Worte ihrer Lehre
r, der Rabbis, genau gemerkt. Sie haben sie sogar oft auswendig gelernt. Sie hab
en sie wie einen Schatz bewahrt und sorgfältig weitergegeben.
Dr. Rainer Riesner, Dozent für Neues Testament in Tübingen, hat in einer großen
Studie nachgewiesen, daß Jesus seine Schüler wie ein Rabbi gelehrt hat. Sie habe
n sich seine Worte, seine Gleichnisse und Lehren eingeprägt und ganz gewissenhaf
t weitergegeben. Sie hielten ihn ja nicht nur für einen großen Lehrer, sondern f
ür den Messias, für den, der von Gott kommt. Und sie hätten sich gehütet, seine
Worte wahllos zu verändern oder ihm Sätze in den Mund zu legen, die er nie gesag
t hat.
Wenn wir das alles zusammen nehmen, die Zuverlässigkeit der Textüberlieferung, d
ie Nähe der Evangelien zu den Ereignissen und die Genauigkeit bei der mündliche
n Überlieferung, dann können wir davon ausgehen, daß unsere Evangelien keine Ph
antasieprodukte sind, sondern uns ein zuverlässiges und realistisches Bild von J
esus bieten.
Was berichten die Evangelien über Jesus?
Auffallend ist zunächst, daß sie fast ausschließlich von den letzten 2, 3 Lebens
jahren Jesu erzählen. Matthäus und Lukas berichten von seiner ungewöhnlichen Geb
urt, aber was dann passierte, wie er aufwuchs, was er bis zu seinem 30. Lebensja
hr machte, darüber schweigen sie sich aus. Wir müssen wohl davon ausgehen, daß J
esus ein ganz normales Leben als Zimmermann in Nazareth führte. Dann, als er ung
efähr 30 ist, beginnt er plötzlich in die Öffentlichkeit zu treten.
Jesus tritt auf als Lehrer, als Prediger. Er geht in die Sy-nagogen und spricht
davon, daß Gottes Herrschaft jetzt anfängt und daß es Zeit ist, sein Leben zu ve
rändern. Wenn Jesus predigte, dann wurde es keinem langweilig. Markus schreibt e
inmal: Die Leute waren außer sich über das, was Jesus sagte. Manche waren schock
iert, andere begeistert. Alle spürten: Jesus redet nicht wie die Theologen. Wenn
er von Gott spricht, dann ist das keine Theorie, sondern er spricht von Gott wi
e von einem, den er persönlich kennt. (Mk 1,21 22). Er nennt Gott Abba . Das ist aram
äisch und entspricht unserem Papa . Da wird eine ganz tiefe, vertraute, zärtliche B
eziehung zwischen Jesus und Gott deutlich. Noch nie hat jemand so von Gott und m
it Gott gesprochen.
Jesus hatte, soweit wir wissen, keine theologische Ausbildung. Aber er legt das
Gesetz Gottes mit einer unglaublichen Souveränität aus: Im Gesetz Gottes steht:
Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: wenn dich jemand auf deine recht
e Backe schlägt, dann halte ihm auch die linke hin. Jesus stellt seine Worte auf
eine Ebene mit den Geboten Gottes. Er beansprucht für sich dieselbe Autorität.
Er redet nicht wie ein Gesetzesausleger, sondern wie ein Gesetzgeber!
Die Kraft, die Jesus in seinen Worten zeigt, die zeigt er auch in seinem Handeln
. Jesus heilt Kranke. Immer wieder berichten die Evangelien davon. Er macht Blin
de sehend. Er spricht ein Wort, und ein Gelähmter kann wieder laufen. Er berührt
mit seinem Finger die Zunge und die Ohren eines Taubstummen, und er kann hören
und reden. Das spricht sich herum. Die Menschen kommen in Scharen zu Jesus in de
r Hoffnung, von ihm geheilt zu werden. Und Jesus heilt sie wirklich. Er macht Me
nschen an Leib und Seele gesund. Es gibt im ganzen NT keinen Fall, wo Jesus eine
n Menschen, der ihn um Heilung oder Hilfe bittet, abweist.
Es gibt Leute, die haben ihre Schwierigkeiten mit Heilungen und anderen Wundern.
Kann das überhaupt möglich sein? Haben sich das die Evangelisten vielleicht nur
ausgedacht? Oder sind diese Heilungen, wenn sie denn passiert sind, nicht auch
psychosomatisch zu erklären? Ich glaube, die Heilungen und anderen Wunder spiele
n eine viel zu große Rolle in den Evangelien, als daß man sie als Erfindungen de
r Evangelisten abtun könnte. Johannes der Täufer wurde auch von den Menschen tie
f verehrt als ein Mann Gottes. Aber es wird in den Evangelien kein einziges Wund
er von ihm berichtet, von Jesus dagegen endlos viele. Meines Erachtens kann man
die Heilungen auch nicht alle psychologisch erklären. Dazu sind sie zu unterschi
edlich und die Fälle oft zu schwerwiegend. Einer, der von Geburt an blind ist, k
ann nicht durch seelische Aufmunterung wieder sehen! (Joh 9) Interessant ist, da
ß auch die Gegner von Jesus seine Wunder nicht bestritten haben. In späteren jüd
ischen Schriften wird gesagt, daß Jesus in Ägypten Zauberei gelernt hat und daru
m außergewöhnliche Taten tun konnte!
Wie immer man es deutet, die Menschen, die Jesus begegneten, spürten: in diesem
Mann stecken außergewöhnliche, übernatürliche Kräfte. Und immer wieder, wenn Leu
te das erlebten, kam die Frage auf: Wer ist dieser Mensch?
Jesus hat nicht nur außergewöhnlich gelehrt und außergewöhnliche Taten vollbrach
t. Seine ganze Persönlichkeit war einzigartig und faszinierend.
Jesus war ein Mensch aus einem Guß, ohne Brüche, ohne faule Kompromisse. Er hat
sich überhaupt nicht von den damaligen Konventionen bestimmen lassen. Wir sehen
ihn in Gemeinschaft mit Leuten, mit denen kein anständiger Mensch etwas zu tun h
aben wollte. Er faßt Leprakranke an. Er läßt sich von einer Prostituierten die F
üße waschen und lädt sich bei einem korrupten Beamten zum Mittagessen ein. Das L
eiden anderer Menschen geht ihm unter die Haut. Er setzt sich so für andere ein,
daß er manchmal keine Zeit zum Essen findet.
Aber dann kann er sich auch plötzlich aus der Menschenmasse zurückziehen und ein
e ganze Nacht allein auf einem Berg verbringen und mit Gott sprechen. Er hat kei
ne Angst vor der Einsamkeit, kann wochenlang allein in der Wüste sein, kann dann
aber auch mitten im Menschengetümmel fröhliche Feste feiern. Er durchschaut die
Menschen und hat doch gleichzeitig ein tiefes Erbarmen mit ihnen.
Einmal wird eine Frau zu Jesus gebracht, die beim Ehebruch erwischt worden ist.
Die Strafe, die im Gesetz dafür vorgesehen war, ist die Steinigung. Den Leuten,
die die Frau bringen, geht es gar nicht um die Frau. Sie wollen Jesus eine Falle
stellen: Was sagst du dazu? Soll sie gesteinigt werden? Wenn Jesus Nein sagt, s
tellt er sich gegen das Gesetz Gottes. Wenn er Ja sagt, bringt ihn das in Konfli
kt mit der römischen Besatzung. Jesus bleibt gelassen. Er hockt sich auf die Erd
e, malt mit dem Finger im Sand und läßt die Leute warten. Dann steht er auf und
sagt: Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Die Ankläger vers
tehen. Einer nach dem anderen schleicht sich allmählich davon. Als Jesus mit der
Frau allein ist, sagt er zu ihr: Ich verurteile dich nicht. Geh und sündige nic
ht wieder. (Joh 8)
Gegenüber den Autoritäten seiner Zeit, den Theologen und Priestern, aber auch ge
genüber Herodes und Pilatus und den anderen Politikern beweist Jesus eine selten
e Unabhängigkeit. Er deckt ihre Heuchelei auf, ohne Rücksicht darauf, daß ihm da
s selbst Nachteile einbringen wird. Als sie ihm den Prozeß machen, da versucht J
esus nicht, sie von seiner Unschuld zu überzeugen oder überhaupt irgendet- was z
u seinem Vorteil zu tun. Er ist unbestechlich ehrlich, selbst als es um Leben un
d Tod geht. Und am Kreuz, wo alle anderen nur noch fluchen, hat er für seine Fei
nde gebetet: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!
Was für ein Mensch!
Jesus hat die Liebe, die er predigte, selbst gelebt. Reden und Handeln waren bei
ihm eine Einheit. Er war frei und selbstbewußt wie ein König. Und doch war er s
ich nicht zu schade, seinen Schülern die Füße zu waschen!
Jesus der wahre Mensch. Ein Mensch, so wie Gott ihn sich gedacht hat.
Wie sah Jesus sich selbst?
Es gibt aber etwas, das ist noch aufregender als seine Worte, seine Taten und se
ine Persönlichkeit. Das Aufregendste an diesem Menschen ist, was er von sich sel
bst sagt. Wie er sich selbst sieht. Das war es, was die Leute damals am meisten
schockte und was schließlich dazu führte, daß sie ihn töteten. Wie hat Jesus sic
h selbst gesehen? Welchen Anspruch hat er erhoben?
Ich möchte euch einladen, einige Beobachtungen zu teilen:
Wir haben schon gesehen, daß Jesus seinen eigenen Worten eine Autorität beimißt,
die ebenso hoch, wenn nicht höher ist wie die des Gesetzes. Es steht geschrieben
... Ich aber sage euch ... Nun ist das Gesetz ganz unbestritten Gottes Gesetz. D
iese Überzeugung hat Jesus mit seinen Zeitgenossen geteilt. Das heißt aber, er b
eansprucht, daß seine Worte göttliche Autorität haben!
Die Evangelien berichten, daß Jesus einzelnen Menschen Sünden vergibt. (Einen di
eser Berichte werden wir nachher in den Gesprächsgruppen lesen.)
Das klingt auf den ersten Blick ziemlich harmlos. Aber man muß sich einmal klarm
achen, was das bedeutet! Stell dir vor, ein Bekannter von dir leiht sich dein sc
hönes, neues Fahrrad aus. Ein paar Stunden später kommt er völlig zerknirscht wi
eder: Du, dein Fahrrad ist leider geklaut worden. Ich war nur kurz beim ALDI und
hab vergessen, es abzuschließen, und als ich rauskomme ist es weg. Du bist natürli
ch stinksauer. Dann komme ich daher, höre eurem Gespräch zu und sage dann deinem
Bekannten: Mach dir keine Sorgen. Ich vergebe dir deine Schuld.
Das wäre total lächerlich. Schuld kann nur der vergeben, an dem man schuldig gew
orden ist und nicht ein unbeteiligter Dritter. Und Sünde, Schuld gegenüber Gott,
kann nur Gott vergeben. Wenn Jesus Sünden vergibt, dann ist das entweder totale
r Unsinn oder er erhebt tatsächlich den Anspruch, daß er an Gottes Stelle steht,
daß er auf irgendeine Weise ganz eng verbunden ist mit Gott.
Diese einzigartig enge Verbundenheit mit Gott bringt er auch explizit zum Ausdru
ck: An mehreren Stellen in den Evangelien spricht er von sich als dem Sohn . Wir wo
llen uns nur eine Stelle, vielleicht die wichtigste, anschauen. Das Synhedrium,
das war der Senat der Juden, der war in Judäa für die inneren Angelegenheiten un
d die Rechtssprechung zuständig, hatte Jesus gefangennehmen lassen. Diese Leute
wollten Jesus unbedingt loswerden und suchten nach einer Anklage, mit der sie ih
n zum Tode verurteilen konnten. Die einzige Anklage, die da in Frage kam, war di
e der Gotteslästerung. Darauf stand die Todesstrafe.
Und darum stellt Kaiphas, der Hohepriester und Vorsitzende des Senats, die entsc
heidende Frage an Jesus: Bist du der Christus, der Sohn Gottes? Wenn ein Mensch
sich zum Sohn Gottes erklärt, dann macht er sich damit Gott gleich. Und das ist,
nach jüdischem Verständnis, Blasphemie. Jesus weiß, daß es jetzt um Leben und T
od geht. Er fängt aber keine Diskussion an, versucht nicht, sich herauszuwinden,
sondern bejaht die Frage: Du sagst es. Ich bin s. (Mk 14,62) Das Synhedrium fällt d
arauf das Urteil: Jesus hat wegen Gotteslästerung den Tod verdient.
Jesus hat also den Anspruch erhoben, Gottes Sohn zu sein. Er hat damit etwas Ung
eheuerliches behauptet, nämlich daß er aus Gott hervorgegangen ist, aus Gott sta
mmt und von Ihm kommt. Er hat dafür mit dem Leben bezahlt.
In Jesus zeigt uns Gott sein Herz
An einer anderen Stelle sagt er: Wer mich sieht, sieht den Vater. (Joh14,9) Damit
sagt er: Ich bin so sehr eins mit Gott, meinem Vater, daß man an mir sehen kann,
wie Gott ist. Wer Jesus ansieht, der sieht Gott, der sieht das Wesen Gottes. In
dieser Person Jesus zeigt uns Gott sein Herz.
Stellt euch mal vor, das wäre wahr, daß an Jesus Gottes Wesen sichtbar wird! Da
müßte man jetzt noch mal die ganzen Geschichten, wie Jesus den Menschen begegnet
ist, an seinem inneren Auge vorbeilaufen lassen:
Wie Jesus die kleinen Kinder auf den Arm genommen und sie gesegnet hat.
Wie er sich bei dem Zolleinnehmer, den alle anderen haßten, eingeladen und sein
Leben neu gemacht hat.
Wie er der Ehebrecherin sagt: Ich verurteile dich nicht.
So ist Gott! So geht er mit uns um. Wer Jesus sieht, der sieht Gott ins Herz.
An Jesus glauben bedeutet, ihm das zu glauben, ihm zu glauben, daß er von Gott g
ekommen ist, daß er der Sohn Gottes ist. Im Zentrum des christlichen Glaubens st
eht die Überzeugung, daß in diesem Menschen, Jesus von Nazareth, Gott selbst zu
uns gekommen ist, sich offenbart hat. Jesus ist sozusagen der menschgewordene Te
il Gottes.
Gott hat sich in Jesus aber nicht nur gezeigt. Er hat noch etwas Wichtigeres get
an. Wir sahen in der letzten Einheit, daß das Grundproblem von uns Menschen dari
n besteht, daß unsere Beziehung zu Gott kaputt ist. Die Sünde, das Mißtrauen geg
en Gott, hat uns von ihm getrennt.
Sie steht zwischen uns und Gott wie eine tiefe Kluft. Immer wieder versuchen Men
schen, diese Kluft von sich auf zu überbrücken, zu Gott, zur Quelle, zurückzufin
den. Manche versuchen es durch ethische Anstrengungen, versuchen, bessere Mensch
en zu werden und so die Verbindung wiederherzustellen. Oder man versucht es durc
h religiöse Leistungen oder durch Meditationsübungen, durch okkulte Praktiken. M
enschen unternehmen alles Mögliche, um diese Kluft zu überbrücken.
Und nun sagt das NT etwas ganz Erstaunliches: Gott hat diese Kluft von sich aus
überbrückt. Nicht nur wir Menschen haben Sehnsucht nach Gott. Er hat Sehnsucht n
ach uns. Gott sieht, daß alle unsere Bemühungen, die Kluft zu überwinden, zu kur
z greifen. Darum schlägt Gott in Jesus selbst eine Brücke zu uns und stellt die
Verbindung wieder her.
Jesus ist Gottes Weg zu uns. Und darum unser Weg zu Gott.
Er hat das selbst einmal so gesagt: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leb
en. Niemand kommt zum Vater außer durch mich. (Joh 14,6)
Jesus ist die Brücke, die uns mit Gott verbindet. In Jesus berührt die göttliche
Wirklichkeit unsere Wirklichkeit. In Jesus läuft uns Gott entgegen wie der Vate
r im Gleichnis dem verlorenen Sohn entgegenläuft und nimmt uns in seine Arme.
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