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Albert Schweitzer: Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben – Gesinnungsethik

Wahre Philosophie muss von der unmittelbarsten und umfassendsten Tatsache des
Bewusstseins ausgehen. Diese lautet: Ich bin das Leben, das leben will, inmitten

Bildquelle: http://www.kulturkeule.de/Kulturgeschichte/a49/Schriftsteller-
5 von Leben, das leben will!

Ich möchte leben. Ich habe Angst, dass ich getötet werde, oder dass mir Schmerzen

und-Philosophen/i185/Albert-Schweitzer.html
zugefügt werden. Ebenso geht es allem Lebendigen um mich herum. Es spielt keine
Rolle, ob sich die Lebewesen äußern können oder stumm bleiben. Alle um mich
herum haben ebenso wie ich den Willen zum Leben. Die Ethik und somit die Antwort
10 auf die Frage „Was soll ich tun?“ besteht also darin, dass ich die Nötigung erlebe
und das Ziel habe, allem Lebendigen, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht
Albert Schweitzer (1875-
vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Damit ist das denknotwendige 1965) war deutscher
Grundprinzip des Sittlichen gegeben. Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern; evangelischer Theologe,
böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen. […] Musiker, Mediziner und
Philosoph. Sein Engagement
15 Wahrhaft ethisch ist der Mensch nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, für seine rational
dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgendetwas Lebendigem nachvollziehbare Ethik der
Schaden zu tun. Er fragt nicht, inwiefern dieses oder jenes Leben als wertvoll Ehrfrucht vor dem Leben,
die sich für Umwelt-/
Anteilnahme verdient, und auch nicht, ob und inwieweit es noch empfindungsfähig Tierschutz und gegen das
ist. Das Leben als solches ist ihm heilig. [...] atomare Wettrüsten
aussprach, wurde 1952 mit
20 Ein Mensch, der so denkt und handelt reißt kein Blatt vom Baume ab, bricht keine dem Friedensnobelpreis
Blume und hat acht, dass er kein Insekt zertritt. […] Geht er nach dem Regen auf der ausgezeichnet.
Straße und erblickt den Regenwurm, der sich darauf verirrt hat, so bedenkt er, dass
er in der Sonne vertrocknen muss, wenn er nicht rechtzeitig auf Erde kommt, in der er sich verkriechen
kann, und befördert ihn von dem todbringenden Steinigen hinunter ins Gras. […]
25 Was sagt die Ehrfurcht vor dem Leben über die Beziehungen zwischen Mensch und Kreatur1?
Wo ich irgendwelches Leben schädige, muss ich mir darüber klar sein, ob es notwendig ist. Über das
Unvermeidliche darf ich in nichts hinausgehen, auch nicht in scheinbar Unbedeutendem. Der Landmann,
der auf seiner Wiese tausende Blumen zur Nahrung für seine Kühe hingemäht hat, soll sich hüten, auf
dem Heimweg in geistlosem Zeitvertreib eine Blume am Rande der Landstraße zu köpfen, denn damit
30 vergeht er sich an Leben, ohne unter der Gewalt der Notwendigkeit zu stehen.

Diejenigen, die an Tieren Operationen oder Medikamente versuchen oder ihnen Krankheiten einimpfen,
um mit den gewonnenen Resultaten Menschen Hilfe bringen zu können, dürfen sich nie allgemein dabei
beruhigen, dass ihr grausames Tun einen wertvollen Zweck verfolge. In jedem einzelnen Falle müssen
sie erwogen haben, ob wirklich Notwendigkeit vorliegt, einem Tier dieses Opfer für die Menschheit
35 aufzuerlegen. Und ängstlich müssen sie darum besorgt sein, das Weh, soviel sie nur können, zu mildern.
[…] Gerade dadurch, dass das Tier als Versuchstier in seinem Schmerz so Wertvolles für den leidenden
Menschen erworben hat, ist ein neues, einzigartiges Solidaritätsverhältnis zwischen ihm und uns
geschaffen worden. Ein Zwang, aller Kreatur alles irgend mögliche Gute anzutun, ergibt sich daraus für
jeden von uns.
40 Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt. […] Auf tausend Arten steht
meine Existenz mit anderen in Konflikt. Die Notwendigkeit, Leben zu vernichten und Leben zu schädigen,
ist mir auferlegt. Trotzdem erkennt die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben keine Kompromisse und
Relativierungen an. Als gut lässt sie nur Erhaltung und Förderung von Leben gelten. Alles Vernichten und
Schädigen von Leben, unter welchen Umständen es auch erfolgen mag, bezeichnet sie als böse.

1
Kreatur: Geschöpf, (von Gott) geschaffenes Wesen

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