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30 von 44 II.B.12 Moralphilosophie  Eine Ethik für alle Kulturen?

– Relativismus und Universalismus im Vergleich

M8 Günther Patzig: Übergreifende moralische Prinzipien


Günther Patzig (1926–2018) war ein deutscher Philosoph, der unter anderem als Experte für Ethik
galt. In seinen Beiträgen zur Ethik steht häufig die Frage nach der Begründung und Rechtfertigung
der Allgemeingültigkeit moralischer Prinzipien im Fokus.

Aufgaben
1. Setzen Sie sich in einem zusammenhängenden Fließtext mit dem Text von Günther Patzig aus-
einander, indem Sie
a) die zu erörternde Fragestellung, zentrale These und den zugrunde liegenden Argumenta-
tionsgang in eigenen Worten darstellen.
b) die im Unterricht besprochenen kulturethischen Positionen in ihren Grundzügen darstellen.
c) Patzigs Position begründet in den fachlichen Kontext der Kulturethik einordnen und
d) in einem abschließenden Fazit die Tragfähigkeit von Patzigs Argumentation prüfen.

Gibt es übergreifende moralische Prinzipien?


1 Verschiedenheiten in den einzelnen Gesellschaften fallen dem Beobachter meist mehr in
2 die Augen als die weithin gleichlaufenden Verhaltensmuster, die in den Gesellschaften
3 konstant sind. Es gibt Verhaltensweisen, die in fast allen Gruppen, die bisher untersucht
4 worden sind, moralisch geschätzt und ermutigt werden, und andere, die in allen Gruppen
5 verurteilt werden. So finden wir überall Inzestverbote, Ablehnung der Lüge, des Bruchs
6 von Vereinbarungen und Versprechen gegenüber Gruppengenossen; wir finden überall die

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7 Anerkennung von Mut, Hilfsbereitschaft und der Sorgfalt bei allen vorkommenden Arbei-
8 ten. Jedoch kommt es uns einstweilen hauptsächlich auf die Divergenzen an.
9 Hier müssen wir einen wichtigen Unterschied zwischen der konkreten Anwendung be-
10 stimmter moralischer Normen und den übergreifenden moralischen Prinzipien machen,
11 die den einzelnen Vorschriften und Stellungnahmen jeweils zugrunde liegen. Die Vielfalt
12 der Situationen, in denen sich Menschen befinden und einrichten können, ist schwer über-
13 schaubar. Deshalb schließt man oft vorschnell aus der Verschiedenheit konkreter Verhal-
14 tensregeln und Stellungnahmen auf die Verschiedenheit der ihnen zugrunde liegenden
15 allgemeinen Grundsätze und behauptet damit den prinzipiellen Relativismus.
16 Die inzwischen vorliegenden Berichte über die moralischen Verhaltensregeln und ihren
17 Zusammenhang in bestimmten ethnischen Gruppen sind für die Ethik deshalb bedeut-
18 sam, weil wir aus solchen Untersuchungen lernen, dass bei gleichen zugrunde liegenden
19 moralischen Grundsätzen doch vollkommen verschiedene „moralische Landschaften“ ent-
20 stehen können, je nach den aktuellen geografischen, ökonomischen und historischen Be-
21 dingungen, unter denen die Angehörigen solcher Gruppen leben.
22 Auch wenn man in einer solchen Gesellschaft als Fremder lebt und beobachtet, was die
23 Angehörigen dieser Gruppe tun und sagen und wie sie emotional auf Handlungen anderer
24 Menschen reagieren, wird man sich vielleicht zunächst über so ganz von den eigenen abwei-
25 chenden Handlungsweisen, Empfindungen und theoretischen Stellungnahmen wundern.
26 Aber allmählich wird man diese Verhaltensweisen auf die Randbedingungen des Verhaltens
27 zurückzuführen lernen und dann auch den Zusammenhang der befremdlichen Divergenzen
28 mit gewissen Grundprinzipien erkennen, die man durchaus akzeptieren kann. Tatsächlich
29 kann nach einiger Eingewöhnung in die Denkweise jener Gesellschaft, die man als Gast zu
30 beobachten Gelegenheit hat, die Einsicht eintreten, dass die moralischen Grundprinzipien
31 der eigenen und der beobachteten fremden Gesellschaft weithin übereinstimmen. […]

65 RAAbits Ethik/Philosophie November 2020


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32 Es gibt z. B. bei mehreren Stämmen die Vorschrift, dass erwachsene Kinder ihre Eltern,
33 wenn diese alt und schwach sind, töten sollen. Bei den Eskimos hat dieses Verfahren eine
34 rationale und in der tatsächlichen Situation gelegene Begründung, dass nämlich unter den
35 harten Bedingungen des Existenzkampfes in den Gegenden, die von den Eskimos bewohnt
36 werden, der Untergang eines altersschwachen Individuums qualvoll sein muss verglichen
37 mit dem schnellen Tod, den diejenigen austeilen, denen am meisten an einem schmerzlo-
38 sen Abschluss des Lebens ihrer Eltern gelegen sein wird. […] Die Verhaltensweise wirkt
39 auf uns abschreckend und fremd; jedoch liegt das moralische Prinzip zugrunde, dass Kin-
40 der ihren Eltern Gutes erweisen sollen und verpflichtet sind, sie vor Leid und Elend zu
41 bewahren, soweit sie dazu im Stande sind. Wir sehen also, dass hier ein moralisches Prin-
42 zip, das auch bei uns gilt, zu ganz abweichenden konkreten Regeln führt.
Text: Patzig, Günther: Ethik ohne Metaphysik. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1971.
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