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Hans-Georg
Gadamers
Hermeneutik des
Verstehens
Und der Bezug zum Weltethos von Hans Kü ng
Modul: phi 311 Begründung von Werten und Normen in Philosophie und Religion
Marlies Leman
19.10.2019
0
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung.............................................................................................................................................1
2 Voraussetzungen für das Verstehen....................................................................................................2
2.1 Vorverständnis.............................................................................................................................2
2.2 Hermeneutischer Zirkel................................................................................................................4
2.3 Gespräch und „Horizontverschmelzung“......................................................................................4
2.4 Nicht gelungene(s) Gespräch bzw. Horizontverschmelzung.........................................................6
3 Kritik an Gadamers Ansatz und der praktischen Umsetzung...............................................................7
4 Zusammenhang von Gadamers Hermeneutik und dem Projekt Weltethos......................................10
Literaturverzeichnis..............................................................................................................................13
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Verstehen als "hermeneutischer Zirkel" nach Gadamer, Vermittlung der Spannung
zwischen dem Verstehenden und der zu verstehenden Sache, eigene Grafik.......................................4
1
1 Einleitung
Das Projekt Weltethos1 versucht bestimmte Werte für alle Menschen zu finden und diese
mittels Gemeinsamkeiten von Weltreligionen und Wissen aus den Philosophien zu
begründen. Der Titel „Miteinander leben lernen“ des Buches von Schönherr-Mann leitet sich
von Gadamers Aussage „Wir müssen doch miteinander leben lernen!“ 2 ab. In dem Buch
werden religiöse und philosophische Prämissen für ein Weltethos dargestellt. Folgende
Regeln sind das Resultat des Projektes eines Dialogs zwischen Vertretern vieler Religionen 3:
1
Ethos meint nicht ein ethisches System, sondern eine Selbstverpflichtung der Menschen auf verbindende
Werte (vgl. Schönherr-Mann S.349).
2
Hans Georg Gadamer in: Hans-Martin Schönherr-Mann, Anhang: Hans-Martin Schönherr-Mann. Ethik des
Verstehens. Perspektiven der Interpretation - ein Überblick., S. 181–205, in: Hermeneutik als Ethik, hg. von
Hans-Martin Schönherr-Mann. München 2004, S.205.
3
Schönherr-Mann, Hans-Martin, Miteinander leben lernen: Die Philosophie und der Kampf der Kulturen,
München u.a. 2008, vgl. S. 13 f.
4
Begriff nach Heidegger, Bedingung innerhalb der menschlichen Existenz, durch die ein Miteinander überhaupt
möglich ist.
5
Tietz, Udo, Hans-Georg Gadamer: zur Einführung, Hamburg 32005, vgl. S. 34.
2
einsehen, dass wir die große Handlungskraft, die in den großen Weltreligionen steckt,
miteinander versöhnen können.“6) mit dem Projekt Weltethos verknüpft, diskutiert werden.
Man möge es mir altem Philologen zugutehalten, wenn ich sie [die hermeneutische Erfahrung] am ‚Sein
zum Texte‘ exemplifiziert habe. In Wahrheit ist die hermeneutische Erfahrung ganz und gar in das
allgemeine Wesen der menschlichen Praxis verwoben, in die das Verstehen von Geschriebenem zwar
wesentlich, aber doch nur sekundärweise eingeschlossen ist. Sie reicht so weit, wie die
Gesprächsbereitschaft vernünftiger Wesen überhaupt reicht 8
Verstehen ist also bei Hans-Georg Gadamer sehr allgemein verstanden und umfasst Dinge
wie Verstehen von Gegenwart durch Auseinandersetzung mit der Geschichte, Verstehen von
anderen Menschen durch aktives Zuhören und auch das Verstehen eines Sachverhaltes. Im
Folgenden wird vor allem das Verstehen mit einem anderen Menschen gemeint sein,
welches in einem gelungenen Gespräch der Fall ist, gemeint sein. Gadamer arbeitet eine
Theorie des Verstehens heraus, die zeigt, was in der praktischen Erfahrung des Verstehens
(im Bereich der praktischen Philosophie) im Spiele ist.9
2.1 Vorverständnis
Bereits Aristoteles vertrat die These, dass Menschen die Wahrheit fänden, indem sie
Evidenzen in der Welt suchen und an ihre Erfahrung anknüpfen und dann Kategorien bilden,
um die Welt besser zu ordnen. Er selbst klassifizierte lebendige Dinge und gab der heutigen
Wissenschaft Biologie eine wichtige Grundlage für deren Taxonomie. 10
Gadamer zieht die banal klingende Bilanz, dass Vorurteile dazu dienen, dass man überhaupt
verstehen könne, weil es eine Sinnerwartung ist, die man beim Lernen nicht ignorieren
könne. Zur Zeit der Aufklärung manifestierte sich jedoch das Paradigma Vorurteile seien
grundsätzlich schlecht und müssten von Vornherein vermieden werden. Erst seit dieser Zeit
hat das Wort „Vorurteil“ eine negative Bedeutung erhalten. Gadamer kritisiert dieses
Paradigma der Aufklärung, indem er sagt: „So mußte (sic!) die hermeneutische Reflexion
eine Lehre von den Vorurteilen entwickeln, die, ohne den Sinn der Kritik an allen der
Erkenntnis drohenden Vorurteilen zu gefährden, dem produktiven Sinn von Vorverständnis
6
Hans-Georg Gadamer in: Hermeneutik als Ethik, hg. v. Hans-Martin Schönherr-Mann, München 2004, vgl. S.
205.
7
Tietz 32005, Hans-Georg Gadamer, vgl. S. 31.
8
Gadamer, Hans-Georg, Hermeneutik II. Wahrheit und Methode.: Ergänzungen, Register, Tübingen 1986, S.
273.
9
Gadamer, Hans-Georg, Hermeneutik als praktische Philosophie, S. 9–31, in: Hermeneutik als Ethik, hg. von
Hans-Martin Schönherr-Mann. München 2004, vgl. S. 53.
10
Buckingham, Will et al., Das Philosophie-Buch, München 2011, vgl. S. 58-61.
3
gerecht wird (…).11“ Diese Lehre, die die Vorurteile mit einbezieht, soll die Voraussetzung des
Verstehens erleichtern, denn es sei nicht zielführend diese Vorurteile zu verdrängen,
sondern im Gegenteil müsse man mit ihnen arbeiten. „Darum sind die Vorurteile des
einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins.“ 12 Das
hermeneutische Bewusstsein sei stets an einen lebensweltlichen Kontext und dessen
Sinnhorizont gebunden und es sei für handelnde Subjekte nicht möglich, sich aus diesen
herauszureflektieren. Diese These Gadamers lautet abgekürzt „These des holistischen
Charakters der lebensweltlichen Vorverständnisse“. 13 Andernfalls würde sich das Individuum
in seinem Verstehensprozess selbst nicht ernst nehmen und würde sich einer der
wichtigsten Grundlagen für das Verstehen selbst berauben. Man solle Vorurteile
aussprechen, offen über sie diskutieren und auch dafür offen sein, falsche Vorurteile, die
nicht der Wahrheit entsprechen, zu korrigieren.
Nun beschreibt Gadamer einen Gegensatz von hermeneutischem Bewusstsein/ Reflektion
und Tradition. Traditionen verhinderten meist, dass das hermeneutische Bewusstsein sich
bemühen müsse, Inhalte verstehen zu wollen. Auch hier gab es zur Zeit der Aufklärung das
Paradigma, Traditionen wären für aufgeklärte Menschen hinderlich und unnötig. Dagegen
sträubt sich Gadamer, denn für ihn haben beide entgegengesetzte Kräfte im Menschen ihre
Daseinsberechtigung. Traditionen oder Rituale würden betrieben, damit Menschen lernen
über wichtige Dinge nachzudenken, wie den Tod oder die Geburt. Damit man hier das
richtige Fragen lerne.14 Ansonsten würde man vielleicht dem Tod einfach ausweichen und
über unangenehme Dinge gar nicht nachdenken. Das hermeneutische Bewusstsein
beschreibt Gadamer als Wahrnehmen der eigenen Bedingtheit und Begrenztheit, was dann
wiederum davor schütze aufzuhören, sich auf Wahrheitssuche zu begeben und sich dabei
auch von anderen etwas sagen zu lassen.15
Vorverständnis bezieht also Vorwissen, Vorurteile und Traditionen mit ein und all dieses
Wissen hat für den Menschen seine Berechtigung, damit er sich Fragen stellen kann und
überhaupt verstehen kann. In der Regel seien Vorurteile kohärent, also sinnbildend mit der
Lebenswelt des Subjekts und nur im Einzelfall problematisch. Verstehen impliziert eine
Offenheit, sich auf den anderen einzulassen und sich von ihm etwas sagen zu lassen.
11
Gadamer 1986, Hermeneutik II. Wahrheit und Methode., S. 434.
12
Gadamer, Hans-Georg, Hermeneutik I : Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen
Hermeneutik, Tübingen 51986, S. 281.
13
Tietz 32005, Hans-Georg Gadamer, vgl. S. 72.
14
Gadamer im Interview mit Thomas Sturm, „Rituale sind wichtig“: Interview mit Hans-Georg Gadamer über
Chancen und Grenzen der Philosophie, in: Spiegel,
https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/15737880 Heft 8, 2000.
15
Tietz 32005, Hans-Georg Gadamer, vgl. S. 79.
4
In Abbildung 1 wird dargestellt, wie ein Mensch sich Wissen erarbeitet. Der hermeneutische
Zirkel ist dabei ein Spannungsfeld von Vertrautem und Fremdheit, eine Bewegung zwischen
Interpret und Überlieferung oder eine Bewegung im Denken zweier Menschen. 16 Dabei wird
von Vorverständnis in Form von Vorurteilen, Ritualen etc. ausgegangen und damit ein
Weltverständnis erarbeitet. Dieses Vorverständnis wird vielleicht durch die Wissenschaft
überholt oder im Gespräch korrigiert und dann wird ein neues Weltverständnis aufgebaut.
Da die Spirale sich in einem Menschenleben unendlich weiter bewegt, ist der Lernprozess
nie abgeschlossen, was wieder eine Offenheit für neues Wissen fordert. Voraussetzung ist
deshalb Offenheit und Empfänglichkeit für (die Verständigung über) einen Sachverhalt. Was
an Vorbedingungen auch da sein muss, um überhaupt in den Zirkel eintreten zu können, sind
Vorverständnis, Beherrschen der Sprache, aber auch Vorstellungen über vergangene
Verhältnisse. Der Lernende müsse selbst im Prozess des Verstehens die produktiven und die
Vorurteile, die das Verstehen verhindern, ordnen 17 Das klingt so, als müsse sich das Pferd an
der eigenen Mähne aus dem Sumpf ziehen, falls es diese Vorurteile nicht erkennt oder nicht
ändern will. Gelungenes Verstehen ist meiner Meinung nach gegeben, wenn im
hermeneutischen Zirkel Fortschritt erbracht wird und man sich wirklich auf den anderen
oder den Gegenstand einlässt und daher ist es auch eng mit einem gelungenen Gespräch
verknüpft.
16
Tietz 32005, Hans-Georg Gadamer, vgl. S. 75.
17
Gadamer 51986, Hermeneutik I : Wahrheit und Methode, vgl. S. 279.
18
Ebd., vgl. S. 72.
19
Ebd., vgl. S. 79.
5
Dies schildert Gadamer folgendermaßen: „Wir sagen zwar, dass wir ein Gespräch führen,
aber je eigentlicher ein Gespräch ist, desto weniger liegt die Führung desselben in dem
Willen des einen oder anderen Gesprächspartners.“ Wer diese Kontrolle also nicht bereit ist
abzugeben, der wird nach Gadamer kein echtes Gespräch führen. Schönherr-Mann zitiert
Gadamer folgendermaßen:
Damit ein Gespräch gelingtm, muss alles stimmen. […] Ein fruchtbares Gespräch ist eins, in dem Geben
und Nehmen, Nehmen und Geben schließlich zu etwas führen, was eine gemeinsame Wohnstatt ist, mit
der man vertraut ist und in der man sich miteinander bewegen kann. Wir sagen’s auch im Deutschen
‚Mit dem habe ich mich gut verstanden‘. Worin versteht man sich denn da eigentlich? Antwort? In
allem. So zeigt sich an dieser Redensart, die eine Erfahrung ausdrückt, dass sich in der Tat im Gespräch
ein echtes Universum auftut.20
Ein Gespräch zu führen, ist demnach nicht einfach, weil es bedeuten kann, dass der andere
Recht haben könnte und man selbst Unrecht. Wer von Vornherein alles für geregelt hält und
der Meinung ist er habe Recht, wird sich oftmals gar nicht auf ein Gespräch einlassen. Auch
geht es beim Fragen nicht einfach bloß darum, wichtige Informationen oder Meinungen des
anderen zu bekommen. Schon das Wort „Information“ sage es ja: Das sei etwas, worüber
man nicht weiter nachzudenken braucht.21
Wie genau kann man die Metapher der Horizontverschmelzung bei einem Gespräch
verstehen? Ist mit „Horizontverschmelzung“ nun gemeint, dass derjenige mit dem kleineren
Horizont von dem mit dem größeren Horizont lernt? Die erste Auslegung (Gadamers) ist eine
optische Deutungsperspektive und geht davon aus, dass man mit jedem neuen Blick oder
Horizont etwas Altes hinter sich lässt. Insofern könnte man die erste Deutung als
Horizontverschiebung bezeichnen. Wie bei einem Reisenden bekommt der Betrachter
immer einen neuen Horizont in den Blick. In dieser Deutung kann man nicht besser, sondern
immer nur anders verstehen, da frühere Horizonte nicht überschritten oder falsifiziert
werden können. Die Deutung kennt dann keine Erweiterung des Horizonts, weil mit einem
Erwerb stets ein proportional großer Verlust an Wissen verknüpft ist. Man kann sich dies so
vorstellen, dass altes Vorwissen durch neues substituiert wird. Die Horizontverschmelzung
ist dabei ein übersubjektives Sinn-Geschehen.
Die zweite zu Gadamer alternative Auslegung geht nicht von einem übersubjektiven Sinn-
geschehen, sondern von einer Welterschließung aus, bei der Ausdruck und Wahrheit in
Sprache gekleidet von einem anderen Subjekt mittels Sprache verstanden wird. In diesem
Lernprozess ist sehr wohl eine Horizonterweiterung bei der Horizontverschmelzung möglich.
Ich persönlich finde diese Darstellung überzeugender, da Erwerb meiner Meinung nach nicht
durch Verlust in Form eines Nullsummenspiels aufgewogen werden kann. 22 Auch Heidegger
schlägt vor, „Sicht“ von aller optischen Metaphorik abzulösen und sie rein pragmatisch als
Zugangsfähigkeit zu sehen, womit er die Grenzen der Metaphorik betont. 23 Um nun die Frage
20
Schönherr-Mann 2008, Miteinander leben lernen, vgl. S. 233.
21
Gadamer im Interview mit Thomas Sturm, „Rituale sind wichtig“.
22
Tietz 32005, Hans-Georg Gadamer, vgl. S. 83-85.
23
Seel, Martin, Über Richtigkeit und Wahrheit: Erläuterungen zum Begriff der Welterschließung, in: Deutsche
Zeitschrift für Philosophie, Band 3 Heft 41, 1993, vgl. S. 511.
6
zu beantworten, ob immer der Gebildetere vom Ungebildeteren lernt, kann man nach
beiden Deutung sagen, dass dies nicht zwangsläufig so sein muss, denn die Bereitschaft, den
Horizont erweitern zu wollen, spielt vielleicht noch eine größere Rolle. Wer das Sonderbare,
das „atapon“ verstehen möchte, muss zwar in irgendeiner Form auf Vorwissen
zurückgreifen, wer neugieriger ist, könnte im Gespräch aber sogar mehr bieten als jemand,
der viel Wissen angesammelt hat, aber damit nicht flexibel umgehen kann oder nicht gut auf
den anderen eingeht. Horizont heiße auch, dass die Person die Bedeutung der Dinge, die
innerhalb ihres Horizonts liegen, verstehen möchte. Aber beim Lernen eines neuen
Gegenstandes oder im Gespräch mit einer anderen Person können ebenso neue Dinge den
Horizont erweitern oder alte Vorurteile führen zu neuem Weltverständnis. Alllerdings
bedeutet Einigung im Gespräch nicht automatisch auch, dass die erschlossenen Sachverhalte
nun in ihrer Wahrheit erkannt und verstanden wären. In einem echten Gespräch würden die
Horizonte der Gesprächspartner, also die in Abbildung 2 dargestellten hermeneutischen
Zirkel miteinander verschmelzen. Dabei ist es entscheidend, dass beide die Verständigung
über die Sache und die Wahrheitssuche als Prämisse haben, statt den anderen vom eigenen
Standpunkt überzeugen zu wollen. Die evtl. verschiedenen Standpunkte blieben dabei
weiterhin bestehen und verschmelzen nicht, wohl aber die Voraussetzungen für die
jeweiligen Meinungen und neue Aspekte können den eigenen Horizont aus der
Verschmelzung heraus erweitern. Horizontverschmelzung funktioniert meiner Meinung nach
nicht entweder ganz oder gar nicht, sondern teilweise oder nahezu vollständig, wobei auch
wie beim hermeneutischen Zirkel eine absolute Verschmelzung niemals stattfinden kann.
Außerdem besteht in der Philosophie grundsätzlich das Problem, normativ festzulegen, was
als gelungen gelten kann. Der Philosoph Seel sagt dazu zum Beispiel, dass gelungene
Welterschließung vielleicht da vorliege, wo es sich um einen Korrekturprozess handele, der
für weitere Korrekturprozesse offen sei.24 Im Folgenden soll benannt werden, wann
Horizonte nicht verschmelzen können.
„Die Unverständlichkeit oder Mißverständlichkeit überlieferter Texte, die sie ursprünglich auf den Plan gerufen
hat, ist nur ein Sonderfall dessen, was in aller menschlichen Weltorientierung als das ‚atapon‘, das Seltsame
begegnet, das sich in den gewohnten Erwartungsordnungen der Erfahrung nirgendwo unterbringen läßt.“ 26
24
Ebd., vgl. S. 524.
25
In diesem Punkt widerspreche ich Gadamer, der die Voraussetzungen bereits für selbstverständlich hält.
26
Gadamer 1986, Hermeneutik II. Wahrheit und Methode., S. 237.
7
Wenn sich nicht auf den Sachverhalt eingelassen wird, also keine hermeneutische Spirale in
Gang kommt, verbleibt man beim Sonderbaren. Auch in zwischenmenschlicher
Kommunikation scheitert das Verstehen, wenn zu wenig Vorwissen vorhanden ist und wenn,
wie Aristoteles es formulierte, die Erwartung davon abhängt, wie viel Einsicht wir in einen
Zusammenhang haben und diese Einsicht nicht da ist. Somit setzt dann nicht das Staunen
und Philosophieren ein, sondern die Einsicht wird durch Ablehnung verhindert und der
Zusammenhang nicht angegangen.27 Ein weiteres Hindernis liegt vor, wenn ein
Gesprächspartner auf den anderen herabblickt und deshalb kein echtes Gespräch entstehen
kann, oder wenn eine Person der anderen zwar aktiv zuhört, aber sich ihr selbst nicht
offenbart, wie vor allem in der Sondersituation einer Gesprächstherapie. Wenn sich beide
Gesprächspartner nicht genug Zeit nehmen wollen oder können, oder wenn einer gar nicht
in Kommunikation treten möchte, ist das echte Gespräch unmöglich. Dennoch bin ich der
Meinung, sollte man nicht das idealistische Ziel haben, immer jeden Menschen verstehen zu
wollen in einer Sache. In solchen Situationen, in denen jemand etwas auf der Straße
verkaufen möchte oder wenn jemand missionieren möchte, ist es zum Selbstschutz legitim,
nicht in einen hermeneutischen Zirkel einzutreten. Die Wahrscheinlichkeit in solchen
Situationen ein echtes Gespräch zu haben, ist sehr gering, weil der Gesprächspartner gar
nicht an einem echten Gespräch interessiert ist, sondern nur eine Mittel-Zweck Beziehung
anstrebt und empathisches Einfühlen vortäuscht.
Zudem scheitert die Möglichkeit den anderen zu verstehen, wenn jede Kultur oder
Religionsgemeinschaft nur in ihrer eigenen hermeneutischen Spirale verbleibt. Dies passiert,
wenn Parallelgesellschaften sich in einer Gesellschaft entwickeln und dann Verstehen als
„Wegräumen von Mißverständnissen, als Überbrückung der Fremdheit zwischen Ich und Du“
nicht stattfindet.28 Auch das Internet mit den sogenannten Informationsblasen und
benutzerzugeschnittenen Angeboten sorgt für eine eingeschränkte Möglichkeit des
Verstehens, weil man dadurch kaum Menschen kennenlernt, die anders denken. Ein echtes
Gespräch ist in Internetforen gar nicht möglich, weil der andere nicht wirklich verfügbar ist
und somit niemand wirklich Verantwortung übernimmt für das Gesagte. Für Gadamer ist
zwar die Hermeneutik und die Sprache universell, aber diese Ansicht ist zu kritisieren, da die
Argumentation unlogisch ist und daher im folgenden Kapitel intern kritisiert werden soll.
27
Ebd., zitiert von Hans-Georg Gadamer, vgl. S. 185.
28
Ebd., S. 187.
8
Drittens resultiert aus der von Gadamer zugeschriebenen Universalität der Sprache und der
Konzentration auf den Gesprächsgegenstand die Ansicht, dass man sich gar nicht in den
anderen hineinversetzen müsste:
Die Aufgabe des historischen Verstehens schließt die Forderung ein, jeweils den historischen Horizont
zu gewinnen, damit sich das, was man verstehen will, in seinen wahren Maßen darstellt. Wer es
unterläßt, derart sich in den historischen Horizont zu versetzen, aus dem die Überlieferung spricht, wird
die Bedeutung der Überlieferungsinhalte mißverstehen. Insofern erscheint es eine berechtigte
hermeneutische Forderung, daß man sich in den anderen versetzen muß, um ihn zu verstehen. Indessen
fragt es sich, ob eine solche Parole nicht gerade das Verständnis schuldig bleibt, das von einem verlangt
wird. Es ist genauso wie im Gespräch, dass wir mit jemandem nur zu dem Zwecke führen, um ihn
29
Gadamer 51986, Hermeneutik I : Wahrheit und Methode, S. 478.
30
Tietz 32005, Hans-Georg Gadamer, vgl. S. 93.
9
kennenzulernen, d.h. um seinen Standort und seinen Horizont zu ermessen. Das ist kein wahres
Gespräch, d.h. es wird darin nicht die Verständigung über eine Sache gesucht (…).“ 31
Gadamer meint wohl, dass Gemeinsamkeiten schon von Anfang an bestünden und man solle
sich auf das, was in der Sache selbst liegt konzentrieren, nicht auf Perspektivwechsel oder
Hineinversetzen. Gemeinsamkeiten würden dann also schon apriori bestehen und werden
dann im Gespräch aufgedeckt. Diese Ansicht ist zu kritisieren, denn damit behauptet
Gadamer, dass die goldene Regel unwichtig, ja sogar hinderlich wäre. Es ist aber wichtig,
eine gemeinsame Sprache zu finden und dies gestaltet sich meiner Meinung nach umso
schwieriger, je unähnlicher sich Menschen sind. Wenn sich Menschen ähnlich sind, brauchen
sie weniger Kommunikation, da diese ja gerade dazu dient, z.B. die unterschiedlichen
Bedürfnisse einander klar zu machen. Miteinander reden braucht man nur, weil Menschen
individuell, sozial und kulturell unterschiedlich sind. Wenn man sehr verschiedene Horizonte
hat und zwei ganz verschiedenen Kulturen angehört, sodass man fast gar keine
gemeinsamen Voraussetzungen hat, wäre es dann nicht umso wichtiger sich in den anderen
hineinzuversetzen? Dann müsste man verstehen, wie jemand zu seiner Meinung gekommen
ist oder was bestimmte Rituale für ihn bedeuten, damit man diese besser tolerieren kann,
wenn sie einen selbst vielleicht stören. Vielleicht lohnt es sich aber gerade dieses für mich
störende Ritual eines anderen zu akzeptieren, wenn ich weiß, wie viel es ihm bedeutet. Ich
selbst kann durch einfache Mittel damit umgehen und möchte auch, dass meine
Gewohnheiten oder religiösen Rituale von anderen akzeptiert werden. Dies geht nur, wenn
ich die goldene Regel anwende und andere dies auch tun. Auf dieser Art von Toleranz basiert
im Grunde jeder Gesellschaftsvertrag und auch das Weltethosprojekt. Das Hineinversetzen
ist doch gerade am Anfang des Gesprächs wichtig, damit man den anderen zu Wort kommen
lässt, und die Persönlichkeit und die Geschichte des anderen wahrnimmt und an sie sinnvoll
anknüpft. Natürlich solle das Hineinversetzen nicht ausgenutzt werden, um jemanden nur
kennenzulernen, um dadurch eigene Vorteile zu haben und ihm nur vorzuspielen, an ihm
interessiert zu sein.
Im Gespräch halten sich meiner Meinung nach Einfühlungsvermögen und Konzentration die
Waage und Sprache hat auch keine universelle Hermeneutik inne, da ansonsten gar keine
sprachlichen Missverständnisse vorliegen würden. In diesen Punkten kann ich Gadamer nicht
zustimmen und dies sind auch Punkte, die eine Einigung und damit ein Weltethos-Projekt
behindern.
Hermeneutik ist an Sinn und Lebenswelt des Subjektes gebunden. Was aber ist gelungene
Welterschließung oder gelungenes Verstehen? Wenn es sich dabei um einen
Korrekturprozess handelt, der für weitere Korrekturprozesse offen ist, dann stellt sich die
Frage, wie man für alle Menschen gültige Normen überhaupt festlegen kann. Es stellt sich
auch die Frage, ob man aus dem hermeneutischen Zirkel im Gespräch entnehmen kann, dass
es zwar ein Verstehen, aber nie eine Einigkeit gibt. Innerhalb der Philosophie ist dies nicht
möglich und daher ist es an dieser Stelle klug, wenn die Philosophie in den Dialog mit den
Religionen tritt und dadurch Normen ermöglicht werden. Gadamer sieht ein Potential in den
Weltreligionen, dass sie den Menschen endgültige Werte und Normen geben kann und die
Werte des Weltethos eher aus ihnen extrahierbar sind, als aus der Summe der Philosophien.
Mit dem Zitat wird das Problem der Normativität in der Philosophie angesprochen: Werte
und Normen geben, kann die Philosophie der Postmoderne nicht, weil sie von einer stark
pluralistischen Gesellschaft ausgeht, in der niemand das Recht hat, jemand anderem die
eigenen Werte oder Weltanschauungen aufzudrängen.
Die Religionen aber enthalten alte Regeln, wie die goldene Regel, die aus Traditionen
hervorgegangen ist und sich bewährt haben. Damit dies funktioniert, müssen vor allem
monotheistische Religionen die Deutungshoheit ihrer eigenen Religion in den Hintergrund
stellen. Was die hermeneutische Philosophie, ohne die gottesähnliche Glorifizierung des
Überlieferungstextes, wie Gadamer sie verstand, uns lehrt, ist jegliche Überlieferung kritisch
zu prüfen. Im Grunde müsste also jeder Mensch ständig alle überlieferten Texte, auf deren
Fundament er baut, kritisch überprüfen und ihren Sinngehalt an die aktuelle Gegenwart
anpassen. In Bezug auf Kants kategorischen Imperativ hieße dies, die Maximen immer
wieder zu prüfen, die zum Gesetz werden sollen, nicht aber jedes Mal wieder den
kategorischen Imperativ zu hinterfragen. Leider erfährt man insgesamt von wenig
Menschen, die diese Arbeit betreiben. Auch im Christentum betreiben nur wenige diese
Exegese und im Islam kommt es hingegen immer mehr dazu, dass Laien den Koran oder die
Hadithe nach ihren Gunsten auslegen.
Das Problem des voraussetzungsreichen Verstehens und, dass bereits verstanden worden
sein muss, um zu verstehen
Ich zitiere an dieser Stelle eine Teilnehmerin, die in der Diskussion zu Gadamers
hermeneutischer Theorie sinngemäß sagte: Diese Theorie komme wie viele andere
philosophische mit einem schillernden Gewand daher, aber in der praktischen Umsetzung
sei sie so nicht umsetzbar, da viele Menschen gar nicht in eine sehr voraussetzungsreiche
hermeneutische Spirale eintreten könnten. Was aber passiert, wenn das Pferd sich nicht an
der eigenen Mähne aus dem Sumpf ziehen kann, denn wie soll man z.B. darauf kommen,
dass ein unproduktives Vorurteil ersetzt werden müsste? Vielleicht ist gerade dieses sehr
bequem, denn der Sinn der Zugehörigkeit erfülle sich ja gerade durch die Gemeinsamkeit
grundlegender und wichtiger Vorurteile.32 Die hermeneutische Philosophie Gadamers sagt,
dass Autorität Quelle von Vorurteilen, aber auch Wahrheitsquelle sein kann. 33 Verstehen ist
32
Tietz 32005, Hans-Georg Gadamer, Hans-Georg Gadamer, Gadamer zitiert nach Tietz, vgl. S. 73.
33
Gadamer 51986, Hermeneutik I : Wahrheit und Methode, vgl. S. 283.
11
nicht beliebig und zielt auf richtiges Verstehen, wobei automatisch mit der Hermeneutik
auch eine ethische Wertung verknüpft ist. 34 So gesehen kann man über die Philosophie
genauso zu den selbstverpflichtenden Forderungen des Weltethos gelangen, wie wenn man
seine Religion kritisch hinterfragt und sich mit deren Leitsätzen beschäftigt. Wenn jemand
dieses Reflexionsvermögen nie gelernt hat, bleibt eine Hermeneutik aus. In diesem Fall
können dann vor allem Gesetzesreligionen Handlungssicherheit bieten. Fehlt dabei jedoch
eine Toleranz gegenüber Andersdenkenden bzw. Andersgläubigen, ist die Einsicht in das
Projekt Weltethos nicht gegeben.
Aus der Beschäftigung mit Gadamer erwachsen die Einsichten, dass man dem
Gesprächspartner auf Augenhöhe begegnen und sich nicht von Vornherein selbst als weiser
und klüger halten sollte. Dies verhindert Horizontverschmelzung und echtes Gespräch.
Stattdessen könnte der andere unerwarteter Weise den eigenen Horizont, selbst wenn er
jünger ist, unwissender erscheint oder einen anderen Glauben hat, erweitern. Da die
hermeneutische Spirale unendlich ist, kann es keine absolute Wahrheit geben und so
gesehen sollten alle undemokratischen Institutionen verhindert werden. Auch sollte man
Religionen nicht verachten. Hier spielt auch die goldene Regel mit rein, dass man dem
anderen seine Rituale lässt und diese toleriert35. Religiöse Traditionen sind deshalb nicht zu
verachten, sondern zu hinterfragen, denn sie sind für die jeweilige Person sinnstiftend. 36
In der Diskussion im Seminar sind wir uns einig geworden, dass die Bereitschaft sich auf
etwas Neues einzulassen und somit in den hermeneutischen Zirkel einzutreten, sehr wichtig
ist, damit man Weltverständnis aufbauen und somit auch einen Weltethos verstehen und
anwenden kann. Diese Bereitschaft hat nicht unbedingt etwas mit Intelligenz zu tun, aber
sicherlich ist es förderlich, wenn man die Bereitschaft (in Erziehung, Schule, Universität etc.)
erlernt hat über sich hinauszuwachsen. Hier könnten auch Religionen, die für das Subjekt
eher Weltabgewandheit plädieren (z.B. Hinduismus, Buddhismus) einer Handlungskraft und
dem Aufbau von Weltwissen eher entgegenwirken. Allerdings gibt es aber auch viele
Menschen, die sicherlich gar nicht in einen hermeneutischen Zirkel eintreten können und
dann können die verschiedenen Kulturen oder Milieus nicht wirklich miteinander
34
Schönherr-Mann 2004, Hermeneutik als Ethik, vgl. S. 24.
35
Toleranz ist dabei ein sehr schwieriger Begriff, denn was bringt es, wenn man die anderen Religionen zwar
toleriert, aber nicht akzeptiert und deren Sichtweise nicht versteht?
36
Schönherr-Mann 2008, Miteinander leben lernen, vgl. S. 354.
12
kommunizieren. Dieses Problem ist nur durch eine demokratische Weltordnung zu lösen,
wobei unklar bleibt, ob man mit den derzeit weltweit bestehenden Wirtschaftsordnungen
wirklich die im Weltethos geforderte gerechte Weltwirtschaft jemals erreichen kann.
Alles in allem kann man sagen, dass die hermeneutische Theorie insofern zum Weltethos-
Projekt passt, da sie nicht die Einheit der Meinungen, sondern Frieden in der
Verschiedenheit erreichen will. Die Art wie ein gelungenes Gespräch nach Gadamer
stattfinden sollte, passt gut zu den Forderungen von Küng in Bezug auf das Weltethos
überein. Küng fordert darin „Kein Religionenmix, sondern Frieden in Verschiedenheit“. Die
Selbstverpflichtung der Menschen in Form eines Weltethos kann nur funktionieren, wenn
alle Menschen diese Werte verstehen, anerkennen und für wichtig halten. Bis dahin ist es
noch ein langer Weg. Sicherlich ist es wie die hermeneutische Spirale auch zeigt, ein
unendlicher Prozess der Annäherung und somit ein idealistisches Konzept. Andererseits
muss man anerkennen, dass unsere Zivilisation nicht da wäre, wo sie heute ist, wenn nicht
bereits ganz viele Menschen die Regeln des Weltethos in einer Selbstverpflichtung
anwenden würden. Die im Zitat erwähnte Handlungskraft muss aus dem Menschen selbst
kommen und kann meiner Meinung aus der kritischen Beschäftigung mit Religion und
Philosophie erwachsen, sollte aber nicht von oben diktiert werden. Jeder Mensch muss sie
sich in Form einer hermeneutischen Spirale selbst erarbeiten.
13
Literaturverzeichnis