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Editorial

Bundesgesundheitsbl 2020 · 63:925–927 Anke-Christine Saß1 · Hildegard Niemann1 · Wolfgang Straff2 · Maxie Bunz2
https://doi.org/10.1007/s00103-020-03194-9 1
Abteilung 2 für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, FG 24 Gesundheitsberichterstattung, Robert
Online publiziert: 16. Juli 2020 Koch-Institut, Berlin, Deutschland
© Der/die Autor(en) 2020 2
Abteilung II 1 Umwelthygiene, Fachgebiet II 1.5 „Umweltmedizin und gesundheitliche Bewertung“,
Umweltbundesamt, Berlin, Deutschland

Health and the City

In der Stadt zu leben bringt für viele Men- ren spielen eine zentrale Rolle bei der Be- gen und viele große Namen zurückbli-
schen seit Jahrhunderten Chancen und urteilung der Lebensqualität wie auch der cken.
Vorteile – bei gleichzeitig damit einher- gesundheitlichen Wirkungen einer Stadt. Mit Beginn der Industrialisierung
gehenden Nachteilen und Risiken, die Dies betrifft im Besonderen den öffentli- im 19. Jahrhundert setzte in Berlin
nicht zuletzt auch gesundheitlicher Art chen Raum, der einem ständigen Wandel ein starkes Bevölkerungswachstum ein.
sein können. Anneliese Bödecker, eine in unterliegt. Er ist in seiner Funktion an Während Mitte des 19. Jahrhunderts
Berlin lebende und für ihre Verdienste gesellschaftliche Transformationsprozes- knapp eine halbe Million Menschen
zum Wohl der Allgemeinheit ausgezeich- se geknüpft. Durch diese Prozesse kommt in Berlin lebte, waren es zur Jahrhun-
nete Sozialarbeiterin, brachte es für diese es im Laufe der Zeit zum einen zu Ver- dertwende bereits fast 1,9 Mio. Damit
Stadt auf den Punkt: „Berlin ist absto- änderungen des öffentlichen Raums und verschlechterten sich die hygienischen
ßend, laut, dreckig und grau, Baustellen zum anderen auch zu einer modifizierten Verhältnisse, die Versorgung der Bevöl-
und verstopfte Straßen, wo man geht und Wahrnehmung der Eigenschaften und kerung und vor allem die Wohn- und
steht – aber mir tun alle Menschen leid, Anforderungen an diesen Raum [2]. So Lebensbedingungen.
die nicht hier leben können!“ [1]. ist bei einigen öffentlichen Plätzen zu be- Stadtbaurat James Hobrecht (1825–
Der Trend, in die Städte zu ziehen, obachten, dass sich die Nutzung vom Spa- 1902) entwarf 1862 im sogenannten Ho-
ist global betrachtet ungebrochen und zieren oder Flanieren hin zu mehr sport- brecht-Plan die systematische Erweite-
auch in Deutschland verzeichnen Groß- licher Betätigung und Unterhaltung ver- rung der Bebauung im damaligen Berli-
städte wie Berlin, Hamburg oder Mün- ändert. Entsprechend wird die Planung ner Stadtgebiet und in den umgebenden
cheneinenanhaltendenZustrom. Gerade des öffentlichen Raumes angepasst, was Gemeinden. Der Hobrecht-Plan legte zu-
junge Menschen zieht es in solche Me- auch die Wahrnehmung durch die Nut- nächst den Verlauf von Straßen fest und
tropolen, die daher oft auch als „echte zerinnen und Nutzer verändert. Beispiele ermöglichte damit kurz vor der Jahrhun-
Schwarmstädte“ bezeichnet werden [2]. sind neuere Parks in Berlin wie das Tem- dertwende auch den Bau einer zentralen
Das Hauptgutachten des wissen- pelhofer Feld oder der Park am Gleisdrei- Trinkwasserversorgung und einer mo-
schaftlichen Beirates der Bundesregie- eck – öffentliche Flächen, die multifunk- dernen Stadtentwässerung. Dafür wurde
rung für globale Umweltveränderungen tionale Eigenschaften besitzen und auch nach Plänen von Hobrecht eine Kanalisa-
sieht voraus, dass urbane Räume zur zen- als Outdoorvielzweckräume genutzt und tion mit 12 Radialsystemen gebaut und
tralen Organisationsform des 21. Jahr- wahrgenommen werden. die Berliner Rieselfelder wurden ange-
hunderts werden, dass wir gewisserma- Nicht zuletzt sind die Entwicklung ei- legt. Bedingt unter anderem durch Spe-
ßen im „Jahrhundert der Städte“ leben ner Stadt und der Infrastrukturen so- kulationen mit Immobilien und fehlen-
[3]. Städte und insbesondere Großstädte wie deren Möglichkeiten und Grenzen de Gesetze entstand schließlich eine sehr
und Metropolregionen stellen bereits für die Bewohnerinnen und Bewohner verdichtete Bebauung, große Blöcke mit
heute den Lebensraum des Großteils der stark mit umwelthygienischen Fragestel- Seiten- und Hinterhäusern und zum Teil
Weltbevölkerung dar. Dadurch haben lungen verwoben. Hier sind die schon im 2–6 Höfen, die oft nur das Mindest-
Fragestellungen, die sich mit Gesund- vorletzten Jahrhundert getroffenen Maß- maß besaßen (5,34 m2). Das hatte negati-
heitsaspekten des urbanen Lebensraums nahmen oft noch bis heute maßgeblich ve Auswirkungen auf die Bewohnerinnen
beschäftigen, jetzt und in Zukunft ho- für eine gesunde Stadt: Das betrifft Hy- und Bewohner, die häufig dem Industrie-
he Relevanz. Die Lebensqualität und giene, Straßen- und Raumplanung so- proletariat angehörten. Hundertausende
das subjektive Wohlbefinden in Städ- wie den Umweltschutz. Hygiene ist be- lebten in überfüllten, dunklen, schlecht
ten müssen dabei genauso betrachtet zogen auf das Thema Stadt und Gesund- geheizten Wohnungen. Typhus, Chole-
werden wie die gesundheitsschädlichen heit schon sehr lange ein wichtiges Pub- ra, Tuberkulose und andere Infektions-
oder -förderlichen Eigenschaften dieser lic-Health-Thema. So können wir hier krankheiten grassierten.
urbanen Lebensform. in Berlin auf wegweisende städtebauli- Eine der bekanntesten Persönlichkei-
Die Stadtplanung und Architektur, die che Konzepte, wechselvolle Entwicklun- ten, die sich für die Gesundheit der Stadt-
Gestaltung von Plätzen und Infrastruktu- bevölkerung in dieser Zeit einsetzten, war

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Editorial

der Arzt und Berliner Stadtverordnete gen, mit den bei vielen Menschen ausge- dessen gesundheitliche Auswirkungen
Rudolf Virchow (1821–1902). Er beton- lösten Ängsten um die Gesundheit und aufgezeigt sowie Ansätze zum Verständ-
te den Zusammenhang von Armut und Existenz sowie mit ihren noch nicht ab- nis gesundheitsförderlicher akustischer
Krankheit und setzte sich auch politisch sehbaren langfristigen Folgen beispiellos. Qualität von Städten beschrieben. Die
stark für die Verbesserung der Lebens- Die Erfahrungen und Erkenntnisse aus Beiträge zur Bedeutung der gefühlten
und gesundheitlichen Lage der „einfa- dieser Zeit sollten künftig in Gestaltung Temperatur bei Hitzewellen und zur Fra-
chen Leute“ in Berlin ein, u. a. initiierte und Entwicklung von Städten einfließen. ge, was Länder und Kommunen bislang
er den Bau von öffentlichen Krankenhäu- Das Wachstum der urbanen Räume zur Anpassung an Hitzeextreme unter-
sern. Mehrere Generationen von enga- stellt die Gesellschaft, die Politik und nommen haben, bilden den Abschluss
gierten Persönlichkeiten in Politik, Stadt- das Gesundheitswesen vor viele Aufga- des Heftes.
planung und Public Health waren seit- ben. Das vorliegende Schwerpunktheft Damit wünschen wir Ihnen eine an-
dem tätig und haben durch ihre verant- soll dabei unterstützen, Fragestellun- regende und spannende Lektüre. Und als
wortungsvolle Arbeit dazu beigetragen, gen zu schärfen, Zusammenhänge und Ausblick: Weil das Thema noch weitaus
dass große Gesundheitsgefahren einge- Entwicklungen besser zu verstehen und facettenreicher ist, plant das Bundesge-
dämmt und dass das Leben in Berlin schließlich Antworten zu finden. Das sundheitsblatt, das Thema Stadt und Ge-
attraktiver und „gesünder“ wurde. Heft beleuchtet den aktuellen Stand der sundheit in der näheren Zukunft noch
Neben den hygienischen Vorausset- Wissenschaft zum Thema „Stadt und Ge- einmal aufnehmen.
zungen sollen Städte den Menschen einen sundheit“ mit einem Fokus auf deutsche
gesunden Lebensraum bieten. Damit sie Großstädte und Ballungszentren. Korrespondenzadresse
das in Zukunft besser als heute kön- Im ersten Themenblock „Konzep-
nen, müssen sie insbesondere auch um- tionelles und Forschungsmethodik zu Dr. Anke-Christine Saß
Abteilung 2 für Epidemiologie
weltfreundlich agieren. Die Nachhaltig- Stadt und Gesundheit“ werden wichtige
und Gesundheitsmonitoring,
keit der Lebensweise in Städten garan- Determinanten für eine gesundheitsför- FG 24 Gesundheitsbericht-
tiert in der Zukunft mehr denn je den derliche Stadtentwicklung herausgestellt erstattung, Robert Koch-
Wohlstand, die Lebensqualität und auch und die Bedeutung von Satellitendaten Institut
die Gesundheit der Stadtbevölkerung. Zu für Forschungsprojekte im Bereich Um- General-Pape-Straße 62–66,
12101 Berlin, Deutschland
den bekannten Herausforderungen zäh- welt und Gesundheit diskutiert. Sodann
SassA@rki.de
len neben der teils mangelhaften Luft- werden die Bedeutung der Stadtpla-
qualität in den Städten und dem Lärm nung für die Förderung einer aktiven, Dr. Hildegard Niemann
auch neuere Einflüsse wie Veränderun- gesundheitsdienlichen Alltagsmobilität Abteilung 2 für Epidemiologie
gen durch den fortschreitenden Klima- dargestellt und in einem weiteren Beitrag und Gesundheitsmonitoring,
FG 24 Gesundheitsbericht-
wandel, wie häufiger auftretende Starkre- Konzepte und Beispiele zur Gestaltung
erstattung, Robert Koch-
genereignisse oder Hitzewellen. Bei Hit- einer nachhaltigen Stadtgesundheit auf- Institut
zewellen kommt es insbesondere in Städ- gezeigt. General-Pape-Straße 62–66,
ten oft zur Entwicklung von urbanen Im zweiten Themenblock „Auswir- 12101 Berlin, Deutschland
Wärmeinseln. In dicht bebauten Gebie- kungen von Umweltfaktoren auf die NiemannH@rki.de
ten fällt die nächtliche Abkühlung gerin- Gesundheit in der Stadt“ werden gesund-
Dr. Wolfgang Straff
ger aus, was den menschlichen Organis- heitsrelevante Ereignisse in Großstädten Abteilung II 1 Umwelthygiene,
mus belastet. betrachtet. Anhand des Zusammenwir- Fachgebiet II 1.5
Die jüngsten weltweiten Entwicklun- kens von Luftverschmutzung mit weite- „Umweltmedizin und
gen in der Folge der Coronakrise zei- ren Umweltfaktoren, wie Lärm, Außen- gesundheitliche Bewertung“,
Umweltbundesamt
gen, dass auch die Ausbreitung einer Er- temperatur und Grünflächen, wird im
Corrensplatz 1, 14195 Berlin,
krankung, welche zunächst und vor al- ersten Beitrag dieses Blocks die Bedeu- Deutschland
lem als Infektionskrankheit imponiert, tung von Interaktionen verschiedener wolfgang.straff@uba.de
damals wie heute sehr stark von den Le- Umweltfaktoren näher beleuchtet. Da-
bensbedingungen der Bevölkerung ab- nach wird diskutiert, wie Stadtarchitektur Dr. Maxie Bunz
Abteilung II 1 Umwelthygiene,
hängig ist. Dabei spielt auch das städti- das Wohlbefinden in der Stadt beeinflusst
Fachgebiet II 1.5
sche Wohnumfeld eine große Rolle. Die und wie die menschlichen Bedürfnisse „Umweltmedizin und
Coronakrise zeigt gerade in den Groß- nach Stimulation, Identifikation und gesundheitliche Bewertung“,
städten in Deutschland deutlich, dass zu Privatheit mit Stadtarchitektur zusam- Umweltbundesamt
wenig städtisches Grün für eine woh- menhängen. Im dritten Beitrag werden Corrensplatz 1, 14195 Berlin,
Deutschland
nungsnahe Freizeitgestaltung und Erho- die Auswirkungen von sozialer Stress-
maxie.bunz@uba.de
lung im Freien vorhanden ist, wenn alle exposition auf Emotionen, Verhalten
daran teilhaben wollen. Die Zeit dieser und psychische Gesundheit ausgeführt.
Funding. Open Access funding provided by Projekt
Pandemie ist mit ihrer globalen Ausbrei- Als weiterer Umweltfaktor wird dann DEAL.
tung, ihren zahlreichen Einschränkun- Lärm in den Mittelpunkt gestellt und

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Interessenkonflikt. A.-C. Saß, H. Niemann, W. Straff
und M. Bunz geben an, dass kein Interessenkonflikt
besteht.

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Literatur
1. Buddée G (2020) MERIAN Reiseführer Berlin. Gräfe
und Unzer Verlag, München
2. bpb - Bundeszentrale für politische Bildung (2018)
Dossier: Stadt und Gesellschaft. http://www.bpb.
de/politik/innenpolitik/stadt-und-gesellschaft.
Zugegriffen: 22. Juni 2020
3. WBGU – Wissenschaftlicher Beirat Globale Um-
weltveränderungen (2016) Der Umzug der
Menschheit: Die transformative Kraft der Städte.
WBGU, Berlin

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