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Megastädte: Neue Risiken für die Gesundheit

Article · January 2009

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Tabea Bork-Hüffer Carsten Butsch


University of Innsbruck University of Cologne
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Frauke Kraas Kroll Mareike


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Foto: Frauke Kraas

MEGASTÄDTE

Neue Risiken für die Gesundheit


In den Entwicklungs- und Schwellenländern leben die Menschen zunehmend in
den Städten. Durch das starke Wachstum der Bevölkerung entstehen dort neue
Gesundheitsprobleme und Versorgungsdefizite.

Tabea Bork, Carsten Butsch, Frauke Kraas, Mareike Kroll

urch den weltweit stattfin- terungsprozesse eingesetzt. Dadurch bevölkerung werden dort 2025 in
D denden Urbanisierungspro-
zess werden Megastädte als Kno-
benötigen Millionen von Menschen
eine Unterkunft, eine Infrastruktur
Städten leben – mehr als 3,8 Milli-
arden Menschen. Die Städte der
tenpunkte und als Steuerzentralen und einen sicheren Zugang zu Nah- Entwicklungs- und Schwellenlän-
der Globalisierung immer wichti- rung, Wasser und Energie. der müssen zwischen 2000 und
ger. Bis zum Zweiten Weltkrieg Weltweit stieg der Anteil der in 2030 fast das gesamte Wachstum
konzentrierte sich die Verstädterung Städten lebenden Bevölkerung an der Weltbevölkerung aufnehmen,
vor allem auf industralisierte Staa- der Gesamtbevölkerung zwischen das heißt zusätzlich rund zwei Mil-
ten. Bedingt durch ein starkes 1950 und 2000 von 30 auf 47 Pro- liarden Menschen.
Bevölkerungswachstum, eine inten- zent. Im Jahr 2010 werden es vo- Mehr als die Hälfte der Weltbe-
sivierte Industrialisierung und Glo- raussichtlich 57 Prozent sein. In völkerung konzentriert sich in Städ-
balisierungsprozesse sowie die An- den Industrieländern lebten 1990 ten mit weniger als 500 000 Ein-
ziehungskraft von ökonomisch pros- schon fast drei Viertel der Bevölke- wohnern. Am augenfälligsten ist
perierenden Städten und Landflucht rung – circa 880 Millionen Men- jedoch die steigende Zahl der Me-
wachsen seitdem auch in den Schwel- schen – in Städten. Der Anteil ist in gastädte. Als Megastadt bezeichnet
len- und Entwicklungsländern die den Entwicklungs- und Schwellen- man eine Metropole, in der – je
Städte rasant. Dies verändert die be- ländern mit 37 Prozent zwar deut- nach Definition – mehr als fünf,
troffenen Gesellschaften tief grei- lich geringer, jedoch sind dies annä- acht oder zehn Millionen Menschen
fend, auch weil urbane Ökonomien hernd 1,4 Milliarden Menschen. leben. Dies kann eine einzelne
zunehmend in Globalisierungspro- Hochrechnungen gehen davon aus, Stadt sein, aber auch eine soge-
zesse, internationale Arbeitsteilun- dass in den nächsten 15 Jahren die nannte polyzentrische Agglomerati-
gen und internationale Wirtschafts- Urbanisierungsquote in den Indus- on, wie das Rhein-Ruhr-Gebiet
verflechtungen eingebunden werden. trieländern nur wenig zunehmen oder das Perlflussdelta in Südchina.
Besonders in Asien haben – unter an- wird. In den Entwicklungs- und In den 1950er-Jahren hatten in den
derem durch die Entfaltung der Markt- Schwellenländern erwartet man Ländern des Südens nur vier Städte
wirtschaft in Staaten wie China, In- hingegen einen enormen Anstieg: mehr als fünf Millionen Einwohner.
. dien oder Vietnam – rapide Verstäd- Geschätzte 57 Prozent der Gesamt- 1985 waren es bereits 28 und 1990

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THEMEN DER ZEIT

sogar 35 Städte. Für das Jahr 2010 globale Knotenpunkte sollten be- den boomenden Städten. Beispiel
geht man von weltweit 53 Mega- achtet werden: Das große Finanz- hierfür sind die zahlreichen Chole-
städten mit mehr als fünf Millionen kapital und die vielen Arbeitskräfte raausbrüche in europäischen Groß-
Einwohnern aus. Zwei Drittel da- sowie breit vernetzte und interagie- städten in der zweiten Hälfte des
von befinden sich zurzeit in Ent- rende Akteure bieten ein erhebli- 19. Jahrhunderts. Dies zeigt, wie
wicklungs- und Schwellenländern, ches Potenzial. Einerseits nehmen anfällig städtische Räume für Ge-
die meisten in Ost- und Südasien Megastädte eine Vorreiterrolle in sundheitsprobleme sind. Dem „ur-
(1). In einigen Megastädten – zum der Entwicklung nachhaltiger Lö- banen Fluch“ (urban penalty) be-
Beispiel Mexiko-Stadt, São Paulo, sungen ein: Zum Beispiel können gegnete man in den Industrielän-
Seoul, Mumbai (Bombay), Jakarta durch den geringeren Flächenver- dern zu Beginn des letzten Jahrhun-
und Teheran – verdreifachte sich die brauch Ressourcen effizienter ge- derts vor allem, indem die sanitären
Bevölkerungszahl zwischen 1970 nutzt werden und durch eine Ver- und hygienischen Verhältnisse ver-
und 2000; Dhaka in Bangladesch besserung der Bildungs- und Ge- bessert wurden, aber auch mit Ver-
wuchs zum Beispiel von 1,5 Millio- sundheitsfürsorge mehr Menschen waltungsvorschriften, Aufklärungs-
nen Einwohnern im Jahr 1970 auf erreicht werden. Darüber hinaus und Bildungskampagnen (3).
circa 13 Millionen im Jahr 2008. lassen sich technische Innovationen Aus drei Gründen interessiert
Megastädte unterliegen einer- in Megastädten rentabler verwirkli- sich die Forschung heute erneut für
seits vielfältigen globalen ökologi- chen und effizienter in vorhandene die (mega-)urbane Gesundheit:
schen und sozioökonomisch-politi- Strukturen integrieren (zum Bei- ● Die räumlichen und zeitlichen
schen Prozessen. Andererseits be- spiel Transportsysteme, Leitungs- Dimensionen und Reichweiten der
einflussen sie den globalen Wandel netze, Prozessinnovationen). weltweiten Urbanisierung verän-
durch ihre rasante Entwicklung dern sich. Vor allem in Asien wer-
massiv mit (2): Dazu zählen der Folgen der Urbanisierung den urbane Räume zunehmend zur
globale Klimawandel ebenso wie für die Gesundheit gesundheitsbestimmenden Lebens-
die wirtschaftliche Globalisierung Bereits während der frühen Indus- umwelt (4, 5). Immer mehr Men-
oder soziale Segregationsprozesse. trialisierung mit ihren rasanten Ur- schen leben in immer größeren und
In diesem Zusammenhang werden banisierungsprozessen entwickel- sich immer schneller verändernden
Megastädte meist als Risikogebiete ten sich in Europa und den USA er- Städten. Diese beeinflussen das
betrachtet: Durch Umweltver- hebliche gesundheitliche Ungleich- Umland mit ihrer komplexer wer-
schmutzung, Überlastungserschei- heiten zwischen ländlichen und denden Ressourcensicherung und
nungen, Ressourcenverbrauch, Na- städtischen Lebensräumen. So wie- ihren immer größeren Reichweiten.
turgefahren oder durch Risiken, die sen die Städte des Deutschen Rei- Städtische Umwelten sind zwar
Weltweite Vertei- Menschen (mit-)verursachen, wie ches Ende des 19. Jahrhunderts eine nicht per se gesundheitsfördernd
lung der Megastäd- Wasserknappheit, Wirtschaftskri- weitaus höhere Kindersterblichkeit oder -schädigend (6), aber es wir-
te im Jahr 2015:
sen, ethnisch-religiöse Auseinan- auf als die ländlichen Gebiete Preu- ken doch besonders in Megastädten
Besonders in Asien
werden sich die dersetzungen et cetera, bedrohen ßens (3). Zudem förderten die in- der Entwicklungs- und Schwellen-
Menschen immer sie megaurbane wie nationale Öko- dustrielle Luft- und Wasserver- länder tief greifende physische und
mehr in den Städten nomien und Gesellschaften. Doch schmutzung und vor allem die un- anthropogene Stressfaktoren. Dazu
konzentrieren. auch die Entwicklungschancen als zureichende Hygiene Epidemien in zählen Luft-, Wasser- und Boden-
verschmutzung, Lärmbelastung, aber
GRAFIK auch sozioökonomische Unterschie-
de und Konflikte, Armut, Anonymi-
tät und soziale Vernachlässigung.
Sie können infektiöse und chroni-
sche sowie psychosomatische und
mentale Krankheiten verursachen
oder verstärken.
● Innerhalb des Sozialgefüges
der Städte kann es zu sehr kurzfris-
tigen, lokalen und teilweise auf ein-
zelne soziale Gruppen begrenzte
Veränderungen kommen. Diese be-
treffen die Strukturen, Rahmenbe-
dingungen und Akteure der welt-
weiten Urbanisierungsprozesse und
deren Einfluss auf unterschiedliche
Bevölkerungsgruppen. So entste-
hen komplexe, kleinräumige und
vielfältige Wechselwirkungen zwi-
schen Stadtstrukturen und -funktio-

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THEMEN DER ZEIT

nen mit physischen und sozialen


Umweltfaktoren und urbanen Land-
nutzungsmustern. Wohn- und In-
dustrieflächen befinden sich dadurch
oft mosaikartig in direkter Nach-
barschaft, unterschiedliche Ein-
kommens- und ethnische Gruppen
– teils global arbeitend, teils nur
lokal vernetzt – leben auf engstem
Raum zusammen. Auch gesund-
heitsbestimmende Faktoren, wie
Nahrungsversorgung, Wohn- und
Umweltqualität sowie Arbeitsbe-
dingungen, werden heterogener. In
den Megastädten bilden sich so
durch Fragmentierung der Gesell-
schaft zahlreiche parallel existie-
rende epidemiologische Profile ein-
zelner Bevölkerungsgruppen aus.
● Vor dem Hintergrund der Dy-
namik und Diversifizierung der ur-

Foto: Carsten Butsch


banen Expansion wird es immer
komplexer, Gesundheitsdienstleis-
tungen bereitzustellen oder in An-
spruch zu nehmen. Die angebo-
tenen Gesundheitsdienstleistungen Privates Kranken- und Schwellenländern beobachtet ment gibt es nicht. Gründe dafür
sind aufgrund der hohen Konzentra- haus in Pune, man neben ähnlichen Trends auch sind vor allem eine Dezentralisie-
tion von Bevölkerung, Bildungs- Indien: Private Leis- wesentliche Unterschiede. Diese rung bei gleichzeitigem Personal-
und Ausbildungseinrichtungen zwar tungserbringer, teil- entstehen vor allem durch unter- mangel, fehlendes Know-how auf
weise auf inter
besser als in kleineren Städten oder schiedliche sozioökonomische und den unteren Verwaltungsebenen
nationalem Niveau,
im ländlichen Raum, dies garantiert werden für die Ver- politische (gesundheitspolitische, und die weitverbreitete Korruption.
aber nicht jedem Einwohner einen sorgung in Indien umweltpolitische und andere) Rah- Infolge von Privatisierung (10) ent-
adäquaten Zugang hierzu. Dieser immer wichtiger. menbedingungen. Im Folgenden wickelte sich ein breites Spektrum
wird vielmehr durch gesundheits- soll dies anhand von Fallstudien von Anbietern medizinischer Diens-
systemische Rahmenbedingungen zweier Megastädte, Guangzhou in te, darunter zahlreiche private und
bestimmt: Auf staatlicher Ebene China und Pune in Indien, verdeut- öffentlich-private Hybridformen.
wird geregelt, wie Gesundheitsver- licht werden. Gleichzeitig deckt eine zunehmen-
sorgung finanziert wird, welcher de Anzahl informeller und illegaler
Zugang besteht, wer welche Res- Guangzhou, China: Reformen Anbieter den Bedarf vor allem der
sourcen bereitstellt und welche Auf- mit unklarem Ergebnis nicht versicherten Bevölkerung.
gabenteilung zwischen verschiede- Durch den rasanten wirtschaftli- Nationale Reformen führten zu
nen Leistungserbringern erfolgt (6). chen und sozialen Wandel seit der einer inflationären Verteuerung von
In Megastädten der Entwicklungs- ökonomischen Öffnung Chinas im Medikamenten und medizinischen
und Schwellenländer entstehen da- Jahr 1978 brachen die Finanzie- Diensten. Um dem abzuhelfen,
bei häufig parallel öffentliche und rungs- und Versorgungsstrukturen führte man ein zweigleisiges Preis-
private Gesundheitssektoren. Viel- des dortigen Gesundheitssystems system ein: festgesetzte Preise für
fach sind bei privaten Anbietern der zusammen. Deshalb wurde seither Basisdienste und -medikamente,
rechtliche Status unklar sowie Aus- eine Vielzahl nationaler, regionaler Marktpreise für neu eingeführte
bildungs- und Qualitätsstandards und lokaler Reformen und Reform- Leistungen und Pharmazeutika. Die
oder aufgrund fehlender Rahmenre- experimente mit dem Hauptziel Folgen waren jedoch zum einen ein
gelungen, Finanzmittel und Kon- eines kostendeckenden Betriebs Überangebot an hochtechnischen
trollroutinen zumindest zweifelhaft der Gesundheitseinrichtungen ein- Diagnosemethoden, mit denen hö-
(8). Auch erschweren Klientel- und geleitet (8). here Einnahmen erzielt werden
Korruptionsbeziehungen sowie man- Das Gesundheitssystem von Gu- können, und zum anderen eine
gelnde öffentliche Information und angzhou, der „Fabrik der Welt“, weitverbreitete Überverschreibung
Partizipation, dass sich sozial- weist heute ein unreglementiertes von Medikamenten (11). Dieses
verträgliche und leistungsgerechte und fragmentiertes Nebeneinander Phänomen findet man aufgrund der
Steuerungsstrukturen entwickeln. von Anbietern verschiedenster größeren Nachfrage und der höhe-
Bei der Megaurbanisierung in Qualität auf. Eine effiziente Kon- ren Einkommen vor allem in den
den verschiedenen Entwicklungs- trolle und ein stringentes Manage- Boomstädten der Ostküste Chinas.

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THEMEN DER ZEIT

Die kurative und präventive Basis- Vor allem soziale Randgruppen tet und versorgt den Großteil der
versorgung der Bevölkerungsmehr- sind in Guangzhou doppelt belastet. Bevölkerung. Bei langfristigen Be-
heit – mit der sich kein Profit er- Gesundheitsrisiken treten vermehrt handlungen mit einer dauerhaften
wirtschaften lässt – wird seit diesen in den vormals ländlichen Dörfern finanziellen Belastung scheint je-
Reformen vernachlässigt (12). auf, die sich im Zuge der urbanen doch der öffentliche Gesundheits-
Zu den nicht abgesicherten und Expansion zu hoch verdichteten sektor in Anspruch genommen zu
daher im Zugang zu Gesundheits- Marginalsiedlungen entwickelt ha- werden. Dafür spricht, dass im Rah-
diensten benachteiligten Gruppen ben – sogenannte chengzhongcun men einer Haushaltsbefragung le-
gehören die im informellen Sektor („Dörfer in der Stadt“) –, die einen diglich vier Prozent der Befragten
Tätigen, Arbeitslose, im Geschlech- Großteil der Land-Stadt-Wanderer im Falle einer akuten Erkrankung
tervergleich zu einem größeren An- der Region beherbergen. Außerdem (zum Bespiel schwere Diarrhö) eine
teil Frauen sowie insbesondere die führt der unterschiedliche Zugang öffentliche Gesundheitseinrichtung
massiv angewachsene Anzahl von zur Gesundheitsversorgung zu deut- aufzusuchen würden; für behand-
Land-Stadt-Wanderern. Letztere sind lichen Disparitäten im Gesund- lungsbedürftige chronisch Kranke
von den nach Land und Stadt heitsstatus von armen und reichen (beispielsweise bei Diabetes) lag
getrennten Finanzierungssystemen Bevölkerungsgruppen (18). Die dieser Anteil bei immerhin neun
nicht abgedeckt, weshalb sie häufig „Fabrik der Welt“ krankt an den Prozent (19).
auf informelle Gesundheitsdienst- Folgen der unausgegorenen Refor- Als Standort mehrerer öffentli-
leistungen zurückgreifen müssen men sowie einem größer werden- cher und privater Universitäten ver-
beziehungsweise den Arztbesuch den Anteil informeller und illegaler fügt Pune zwar über akademische
hinauszögern oder unterlassen (13). medizinischer Dienstleistungen. Es Lehrkrankenhäuser und ein hohe
Erste Forschungsergebnisse lassen fehlt der politische Wille, notwen- Zahl gut ausgebildeter Ärzte. Trotz-
vermuten, dass eine krankheitsbe- dige Investitionen in den Gesund- dem haben große Teile der Bevölke-
dingte Rückkehr in die Heimatre- heitssektor zu tätigen, um den Zu- rung kaum Zugang zu einer qualita-
gionen aufgrund des mangelnden gang für marginalisierte Bevölke- tiv hochwertigen Gesundheitsver-
Zugangs und der hohen Kosten von rungsgruppen zu verbessern. sorgung. Denn im privaten Gesund-
Gesundheitsdienstleistungen in den heitssektor verhindern finanzielle,
Städten existieren könnte. Die offi- Pune, Indien: Zugang und im öffentlichen Sektor räumliche
ziellen Statistiken und Berichtssys- Gesundheitsstatus und soziale Barrieren (Akzeptanz,
teme versagen bisher jedoch dabei, Auch in Pune vollzogen sich seit Vertrauen, Organisation et cetera),
die Gesundheit der wandernden Be- 1991, bedingt und verstärkt durch dass Gesundheitsdienstleistungen in
völkerung zu erfassen (14). Auch die Liberalisierungs- und Deregu- gerechter und gesicherter Form für
der im Januar 2009 vorgestellte, lierungspolitik, tief greifende Trans- jeden verfügbar sind. Trotz zuneh-
umfassende nationale Reformplan formationsprozesse. Diese führten mender Überlastung der vorhande-
des Gesundheitssystems vernach- zusammen mit dem Aufkommen nen Strukturen und einer rasant
lässigt weiterhin die Versorgung der einer neuen Mittelschicht einerseits steigenden Bevölkerungszahl bleibt
Land-Stadt-Wanderer sowie eine zu einer Diversifikation der Inan- der Ressourceneinsatz gleich, so-
stärkere Kontrolle des privaten Ge- spruchnahme von Gesundheits- dass sich die Barrieren im öffentli-
sundheitssektors (15). dienstleistungen. Andererseits be- chen Sektor noch verstärken. Als
Dass der Gesundheitssektor sich günstigte dies, dass sich unter- Alternative weichen die Menschen
seit dem Jahr 1978 so entwickelte, schiedliche Versorgungsstrukturen auf den privaten Sektor aus, mit der
hat das Neuauftreten und Wieder- parallel entwickelten. Ungleichhei- Folge, dass sie sich im Krankheits-
auftauchen von Infektionskrankhei- ten im Gesundheitsstatus und im fall häufig hoch verschulden: Eine
ten begünstigt. Dieses als „double Zugang zu Gesundheitsdienstleis- Hospitalisierung würde beispielswei-
burden of disease“ (16) angespro- tungen sind in Pune allerdings nicht se – allein durch die direkten Kos-
chene Phänomen führt zu hohen primär auf fehlende Dienstleister, ten – knapp ein Viertel der Haushal-
Prävalenzraten, etwa von sexuell sondern vielmehr auf ungleiche te im Bundesstaat Maharashtra in
übertragbaren Krankheiten oder Lebensbedingungen und Zugangs- eine finanzielle Notlage führen (20).
Tuberkulose. Gleichzeitig sind in barrieren zurückzuführen. Der Zugang zu kurativer Be-
den letzten Jahren Epidemien von Indiens Gesundheitssektor weist handlung ist in Pune für verschiede-
35 „neuen“ Infektionskrankheiten heute eine zweigeteilte Versor- nen Gruppen höchst unterschied-
aufgetreten (wie HIV/Aids, SARS, gungsstruktur auf: Einem gut struk- lich, was sich direkt in einer unglei-
Vogelgrippe). Daneben sind auf- turierten, aber unterfinanzierten öf- chen Krankheitslast dieser Gruppen
grund epidemiologischer Verände- fentlichen Gesundheitssektor steht niederschlägt. In der präventiven
rungen – bedingt durch die wirt- ein unregulierter privater gegen- Versorgung konnten in Indien zwar
schaftliche Entwicklung, das be- über, der im städtischen Raum durch konzertierte zentralstaatliche
schleunigte Altern der Bevölkerung quantitativ stärker vertreten ist. Gesundheitsprogramme seit der
und die zunehmend ungesunden Dieser private Sektor ist zumindest Unabhängigkeit zahlreiche „alte“
Lebensstile – Zivilisationskrank- im Bereich der sekundären und ter- und tödliche Erkrankungen, wie
heiten immer bedeutsamer (12, 17). tiären Versorgung besser ausgestat- Pocken, Lepra oder Poliomyelitis,

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THEMEN DER ZEIT

erfolgreich bekämpft werden (21),


weiterhin aber leiden in Indiens
Städten viele Menschen aufgrund
schlechter sanitärer Bedingungen,
weitverbreiteter Armut und sozio-
kultureller Faktoren (zum Beispiel
die Benachteiligung von Frauen)
nach wie vor an infektiösen Erkran-
kungen, wie Diarrhö oder Ge-
schlechtskrankheiten (22). Hiervon
sind vor allem die Bewohner von
Marginalsiedlungen betroffen, die
im Falle Punes circa 40 Prozent der
Gesamtbevölkerung ausmachen.
Zugleich kommt es durch die
spezifische Kombination krank-
heitsökologischer Faktoren in den
Megastädten zur Ausbreitung „neu-

Foto: Frauke Kraas


er“ Infektionskrankheiten, wie mul-
tiresistenter Tuberkulose, unter an-
derem auch durch eine steigende
Aidsprävalenz (21). Entsprechend
stellen übertragbare Krankheiten cher Führung vernachlässigt wurde, Verlust staatlicher Steuerung die Dorf in der Stadt
weiterhin eine ernst zu nehmende verhinderte in Indien ein zum Teil Gefahr, sich zur globalen Bedro- in Guangzhou,
Gefahr der öffentlichen Gesundheit mit antikolonialen Reflexen zu er- hung auszuwachsen, wie die SARS- China: Die Bevöl-
dar. Während jedoch die Mortalität klärender, traditioneller Fokus auf Epidemie 2003 gezeigt hat. kerung ist hier
besonderen Ge-
durch infektiöse Erkrankungen ins- die ländliche Bevölkerung, dass ei- Megastädte brauchen nicht zu-
sundheitsrisiken
gesamt stärker als die Morbidität ne leistungsfähigere öffentliche Ge- letzt eine leistungsfähige Gesund- und -belastungen
zurückgeht, nehmen Morbidität und sundheitsinfrastruktur in den Städ- heitsberichterstattung, um die Ge- ausgesetzt.
Mortalität durch nicht übertragbare ten entsteht. In beiden Fällen führt sundheitsprobleme unterschiedlicher
Krankheiten, wie kardiovaskuläre das rapide Wachstum zu unregle- Bevölkerungsgruppen identifizie-
Erkrankungen, Diabetes, Atem- mentierten, informellen Strukturen: ren und auf diese reagieren zu
wegserkrankungen und Krebs, stark Private, teils informelle Anbieter können. Auch sind angemessene
zu (23). Von diesen sogenannten tragen erheblich dazu bei, Versor- Steuerungsinstrumente mithilfe in-
Zivilisationskrankheiten sind dabei gungsdefizite in der öffentlichen terdisziplinärer internationaler For-
nicht nur die urbane Mittel- und Gesundheitsversorgung zu überbrü- schungskooperationen zu entwi-
Oberschicht mit ihren sich verän- cken. Der Steuerungsverlust der öf- ckeln. Zudem müssen sich die öf-
dernden Lebensstilen, sondern auch fentlichen Verwaltungen verstärkt fentlichen Verwaltungen im Ge-
urbane Armutsgruppen betroffen. Gesundheitsungleichheiten und, an- sundheitsbereich langfristig enga-
Punes Bevölkerung leidet somit gesichts mangelnder sozialer Ge- gieren. Um düsteren Prognosen, die
ebenfalls unter der „double burden rechtigkeit, auch die Zugangsbar- vor einer Zukunft der Metropolen
of disease“. rieren zu öffentlichen wie privaten und Megastädte als pestilente Ne-
Gesundheitsdienstleistungen. Dies kropolen warnen (24), zu begegnen,
„Gesundheit für alle“ als wiederum führt in beiden Städten sollten vor allem auch alle Ent-
megaurbane Herausforderung zu einer höheren Krankheitslast, scheidungsträger – von Regierung
Die beiden Fallbeispiele Guang- insbesondere vulnerabler Bevölke- und Verwaltung über den Privatsek-
zhou und Pune weisen trotz erhebli- rungsgruppen, wie Arme, Kranke, tor bis zur Zivilgesellschaft – an der
cher Unterschiede der sozioökono- Frauen, Kinder oder Behinderte. Entwicklung von lokal angepassten
mischen und politischen Rahmen- Die zunehmende Diversifizierung Lösungen beteiligt werden.
bedingungen zahlreiche Parallelen der Gesundheitsprofile unterschied-
auf. Auch wenn in beiden Ländern licher Bevölkerungsgruppen, die ❚ Zitierweise dieses Beitrags:
die Gesundheitssysteme ursprüng- Ausbreitung alter sowie das Auf- Dtsch Arztebl 2009; 106(39): A 1877–81
lich dem Gedanken der Alma-Ata- treten neuer Infektionskrankheiten
Anschrift für die Verfasser
Deklaration verpflichtet waren, ist bringt jedoch nicht nur für die ein- Tabea Bork, Carsten Butsch,
von dem darin geforderten Prinzip zelnen Megastädte neue Gesund- Prof. Dr. Frauke Kraas, Mareike Kroll
„Gesundheit für alle“, wenig zu er- heitsrisiken. Da sie als Knoten- Geographisches Institut
Universität zu Köln
kennen. Während in China ange- punkte globaler Städte- und Ver- Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln
sichts prioritärer Wirtschaftsrefor- kehrsnetzwerke fungieren, birgt die
men eine adäquate Anpassung des Kombination aus vulnerabler Be-
Gesundheitswesens unter staatli- völkerung und einem zunehmenden @ Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit3909

Deutsches Ärzteblatt | Jg. 106 | Heft 39 | 25. September 2009 A 1881

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