Sie sind auf Seite 1von 107

ISSN 0007– 3121

DER BÜRGER IM STAAT


3/4–2008

Die Volksrepublik China


DER BÜRGER IM STAAT

INHALT
Christoph Müller-Hofstede
Die Geschichte der chinesisch-westlichen Beziehungen:
ein Überblick 172
Xuewu Gu
Chinas Aufstieg als Global Player 180
Markus Taube
Grundlagen, Triebkräfte und Perspektiven
HEFT 3/4–2008 des wirtschaftlichen Aufstiegs 186
58. JAHRGANG
ISSN 0007– 3121 Heinrich Kreft
Die soziale Kehrseite des chinesischen Aufstiegs 195
Thomas Heberer
„Der Bürger im Staat” wird von der Landeszentrale
für politische Bildung Baden-Württemberg herausge- Nationalitätenprobleme in China und die Tibet-Frage 203
geben.
Eva Sternfeld
DIREKTOR DER LANDESZENTRALE Schöne neue Welt im Grauschleier.
Lothar Frick Chinas ökologische Situation und Umweltpolitik 210
REDAKTION Bettina Gransow
Siegfried Frech, siegfried.frech@lpb.bwl.de
Zu viel, zu alt, zu männlich?
REDAKTIONSASSISTENZ Demographie und Bevölkerungspolitik 217
Barbara Bollinger, barbara.bollinger@lpb.bwl.de
Robert Heuser
ANSCHRIFT DER REDAKTION Chinesische Rechtskultur im Wandel
Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart
sozioökonomischer Bedürfnisse 223
Telefon 0711/164099-44, Fax 0711/164099-77
Gunter Schubert
HERSTELLUNG
Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG China und die Menschenrechte 230
Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit
Telefon 0711/4406-0, Fax 0711/442349
Bettina Gransow
Das Petitionswesen in China –
GESTALTUNG TITEL ein Instrument sozialer Gerechtigkeit? 236
Bertron.Schwarz.Frey, Gruppe für Gestaltung, Ulm
Günter Schucher
GESTALTUNG INNENTEIL
Böses Erwachen? Chinas Traum von der sozialen Harmonie 243
Britta Kömen, Schwabenverlag Media
der Schwabenverlag AG
Werner Spaeth
VERTRIEB China – ein marginales Thema im Unterricht? 251
Verlagsgesellschaft W.E. Weinmann mbH
Postfach 1207, 70773 Filderstadt
China im Überblick 257
Telefon 0711/7001530, Fax 0711/70015310
Buchbesprechungen 259
Der Bürger im Staat erscheint vierteljährlich.
Preis der Einzelnummer 3,33 EUR.
Jahresabonnement 12,80 EUR Abbuchung.

Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel mit


dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte
Kundennummer an.

Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht


unbedingt die Meinung des Herausgebers und
der Redaktion wieder.

Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte


übernimmt die Redaktion keine Haftung.
THEMA IM FOLGEHEFT
Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen
Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur
mit Genehmigung der Redaktion. 60 Jahre Grundgesetz
Im 21. Jahrhundert präsentiert sich China mit wachsendem Selbstbewusstsein als ein modernes, der Welt zugewandtes Land, das sich
im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne bewegt. picture alliance/dpa

169
Die Volksrepublik China
Chinas Aufstieg ist wohl das überra- Der Beitrag schließt mit der Skizzierung ter Vielvölkerstaat. Die Mehrheitsbe-
gende Ereignis des 21. Jahrhunderts, der chinesischen Interessenpolitik süd- völkerung (Han) hat nur ein geringes
das bereits als „asiatisches Jahrhun- lich der Sahara und zeigt, dass China Verständnis für die ethnischen Minder-
dert“ apostrophiert wird. Die von Deng eine ernstzunehmende Führungsrolle heiten; die Kontrolle durch Peking ist
Xiaoping im Jahre 1978 eingeleitete in der internationalen Staatengemein- teilweise sehr rigide. Die historische
und bis heute konsequent verfolgte Re- schaft beansprucht. Dimension der Nationalitätenkonflikte
form- und Öffnungspolitik hat zu einem Die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte offenbart die Wurzeln des patriarcha-
außergewöhnlichen Wirtschaftswachs- Chinas ist beispiellos. Noch vor einigen lischen Staatsverständnisses, welches
tum geführt, so dass sich die Gewichte Jahren wurden die chinesischen Staats- Traditionen der feudalen Vergangen-
in der Weltwirtschaft merklich verscho- unternehmen als reformunfähig und ma- heit fortschreibt. Am Beispiel der un-
ben haben. Der rasante Aufstieg des rode belächelt, heute beliefert Chinas gelösten Tibet-Frage zeigt Thomas He-
„Reichs der Mitte“ verändert die glo- Exportwirtschaft die gesamte Welt mit berer, dass China von einem anderen
bale Wirtschaft, Politik und Kultur. Die ihren Produkten. China hat den Wan- Nationen- und Staatsbegriff ausgeht
Konsequenz des ökonomischen Erfolgs del vom Billiglohnland zum Hightech- als die westlichen Länder. Obwohl die
ist ein „neues“ China, das sich selbst- Standort vollzogen und überrascht als bei den Tibetern existierende Einheit
bewusst und souverän als Akteur der drittgrößte Volkswirtschaft der Erde mit von nationaler und religiöser Identi-
Weltpolitik positioniert. zweistelligen Wachstumsraten. Woher tät den chinesischen Einfluss in Tibet
Ein wichtiger Schlüssel zum Verständ- kommt dieser Erfolg? Markus Taube er- eng begrenzt, befindet sich Peking
nis Chinas ist die Geschichte der chi- örtert, ausgehend vom Scheitern des in einer Position der Stärke. Zudem
nesisch-westlichen Beziehungen. Über maoistischen Entwicklungsmodells über wird Tibet von der internationalen
2.000 Jahre war China sowohl das die Reformära unter Deng Xiaoping Staatengemeinschaft einhellig als Teil
bevölkerungsreichste Land und die bis hin zum Wandel von der Plan- in Chinas betrachtet. Die Kritik des Wes-
größte Volkswirtschaft der Welt wie die so genannte Sozialistische Markt- tens wird sich daher lediglich auf die
auch eine technologisch und administ- wirtschaft, die spezifischen Rahmen- Einhaltung der Menschenrechte und
rativ fortgeschrittene Zivilisation. Weil bedingungen, Entwicklungsimpulse und die Wahrung der kulturellen Autono-
sie an Absatzmärkten interessiert wa- Triebkräfte des chinesischen Wachs- mie beziehen.
ren, forcierten westliche Imperialmäch- tums, diskutiert die Einbindung Chinas Das atemberaubende Wirtschafts-
te die gewaltsame Öffnung des Lan- in die internationale Arbeitsteilung wachstum Chinas hat seine Schatten-
des. Für China stellt diese Zeit der wirt- und beschreibt den Wandel von der seiten. Die Umweltkrise ist allgegen-
schaftlichen Ausbeutung und politisch- „passiven“ Einbindung als „Werkbank wärtig. China sieht sich aufgrund seiner
militärischen Niederlagen bis heute der Welt“ hin zu einem eigenständi- naturräumlichen Gegebenheiten mit
ein im kollektiven Gedächtnis veran- geren Wachstums- und Entwicklungs- „traditionellen“ Umweltproblemen wie
kertes Trauma dar. Das koloniale Ge- pfad. Dürren, Überschwemmungen, Verlust
baren des Westens trug jedoch ent- Die ökonomische Entwicklung Chinas von Biomasse, Erosion und Ausbreitung
scheidend zur Reform des Staats- und ist zweifelsohne dem Aufbau einer der Wüsten konfrontiert. Durch die im-
Gesellschaftsgefüges, zur Entstehung „Gesellschaft mit bescheidenem Wohl- mense Industrialisierung und Intensivie-
eines modernen chinesischen Natio- stand“ näher gekommen. Allerdings hat rung der Landwirtschaft kommen „mo-
nalismus und zur Herausbildung po- sich das Ziel, eine egalitäre Gesell- derne“ Umweltbelastungen hinzu: Luft-
litischer Eliten bei, die das politische schaft schaffen zu wollen, ins Gegenteil und Gewässerverschmutzung, Schad-
Geschick des Landes im 20. Jahrhun- verkehrt. Die rapide Modernisierung stoffbelastungen in Agrarerzeugnissen
dert prägten. Christoph Müller-Hofste- hat zu sozialen Widersprüchen und und ansteigende Treibhausgasemissi-
de analysiert das chinesisch-westliche gesellschaftlichen Ungleichgewichten onen. Unter volkswirtschaftlichen Ge-
Verhältnis sowie dessen wechselvolle geführt. Die Ungleichverteilung der sichtspunkten verursacht die Umwelt-
Geschichte und schildert Chinas von Einkommen verstärkt die Disparitäten zerstörung erhebliche ökonomische
Spannungen, Widersprüchen, Rück- zwischen Stadt und Land. Landflucht, Schäden. Eva Sternfeld erörtert die
schlagen und Konflikten gekennzeich- Millionen von Wanderarbeitern, ho- verschiedenen Dimensionen der chine-
neten, aber überaus erfolgreichen he Arbeitslosigkeit sowie mangelnder sischen Umweltsituation und analysiert
Weg in die Gegenwart. Arbeits-, Unfall- und Versicherungs- die Wirkung der umweltpolitischen
Die Einsicht, dass China nur auf dem schutz sind Verwerfungen dieser öko- Maßnahmen und Anstrengungen auf
Wege der Kooperation mit den führen- nomischen Dynamik. Hinzu kommen die dem Gebiet des Umweltrechts.
den Industriestaaten seine Modernisie- Auswirkungen des demographischen Chinas rigide Bevölkerungspolitik hat
rung fortsetzen und damit internationa- Wandels, der auch die bescheidene gravierende demographische Folgen.
len Einfluss gewinnen kann, ist Konsens Altersversorgung kollabieren lässt. Die Das staatliche Programm der Gebur-
unter den Regierungseliten im chinesi- politische Führung Chinas muss – so tenplanung, als so genannte Ein-Kind-
schen Politbüro. Außenpolitische Sta- das Fazit von Heinrich Kreft – geeigne- Politik bekannt, war stets umstritten und
bilität und internationale Zusammen- te soziale Maßnahmen und Aufstiegs- führte zu Unmut und Abwehrstrategien
arbeit sollen die Kontinuität des Wirt- chancen für die Verlierer des Moder- auf Seiten der betroffenen Familien.
schaftswachstums sowie die ökonomi- nisierungsprozesses schaffen, wenn sie Trotz der inzwischen erreichten Ver-
sche Leistungsfähigkeit garantieren. der wachsenden Erosion ihrer Legitimi- langsamung des Bevölkerungswachs-
Xuewu Gu zeigt in seinem Beitrag am tät begegnen will. tums hat die chinesische Bevölkerungs-
Beispiel der Olympischen Spiele, dass Die jüngsten Unruhen in tibetischen politik eine Reihe von nicht intendier-
sukzessive politische Veränderungen Siedlungsgebieten sind nur ein Indika- ten Nebenwirkungen ausgelöst. So ist
in dem autoritär regierten Land auf- tor für zunehmende Konflikte zwischen Chinas überalterte Bevölkerung eine
grund der Übernahme internationaler den Nationalitäten in China. Die Volks- Herausforderung für die im Aufbau be-
Verantwortung durchaus möglich sind. republik ist ein nur scheinbar toleran- griffenen sozialen Sicherungssysteme.

170
Schwer wiegt auch die unausgewoge- Trotz einer schrittweisen Verbesserung Beispiele verdeutlichen die vielfältigen
ne Geschlechterverteilung bei der Ge- der Menschenrechtslage, die von inter- Ursachen der Proteste, von denen inzwi-
burt, die eine deutliche Präferenz für nationalen Menschenrechtsorganisa- schen kein Landesteil mehr verschont
die Geburt von Jungen und die gesell- tionen durchaus konstatiert wird, zeigt bleibt. Umwelt- und Landprobleme, so-
schaftliche Geringschätzung des weib- die aktuelle Bestandsaufnahme von ziale und arbeitsrechtliche Ungerech-
lichen Geschlechts offenbart. Hinter Gunter Schubert, dass die zivilen und tigkeiten, Machtmissbrauch sowie die
der Ungleichverteilung von Geburten- politischen Rechte nur unzureichend Korruption politischer Eliten führen zu
und Sterberaten bei Jungen und Mäd- verwirklicht sind. Mithin stellt sich die Protesten, die letztlich den Herrschafts-
chen verbirgt sich eine soziale „Logik“, Frage der Positionierung des Westens. anspruch der Kommunistischen Partei
die Frauen diskriminiert und der zufol- Wirksame Strategien sind eine stete in Frage stellen. Die chinesische „Dop-
ge nur wenig in weibliches Humanka- Gratwanderung zwischen „stiller“ Dip- pelstrategie“ der Regierung und Partei
pital investiert wird – so das Fazit von lomatie bzw. bilateralen Dialogen und setzt in den letzten Jahren zum einen
Bettina Gransow. einer Thematisierung der weltweiten auf sozialen Ausgleich, auf die „nach-
Während der ersten drei Dekaden der Menschenrechtsverletzungen in inter- holende“ Entwicklung ländlicher Räu-
Volksrepublik China stand das Recht im nationalen Foren. me und die Etablierung verbesserter
Dienste der klassenkämpferisch ausge- Das Instrument der Petition gab es Sozialgesetze und Rechtswege, scheut
richteten Parteipolitik. Im Gefolge der schon im kaiserlichen China. Es trug zur aber andererseits auch vor „harten“
zunächst zögerlich eingeleiteten Re- Lösung von Konflikten auf lokaler Ebe- Maßnahmen und Überwachungsstra-
formpolitik Ende der 1970er Jahre, die ne bei, vermittelte dem Kaiser zugleich tegien nicht zurück.
als Wirtschaftsreform begann, sich Informationen über lokale Verhältnisse China gewinnt immer mehr an Bedeu-
sodann zur gesellschaftlichen und po- und die dortige Beamtenschaft. 1949 tung, Wissen und Kenntnisse über das
litischen Reform entwickelte, war die besann sich die Regierung der Volks- Land nehmen aber nicht in gleichem
Wandlung der Rechtskultur und Ent- republik China erneut auf dieses alte Maße zu. Vielmehr ist unser Bild von
wicklung des Rechtssystems eine Not- Instrument, welches eine Ventilfunktion China rudimentär und allzu häufig von
wendigkeit. Ein Strafgesetz und ein einnehmen, das Ansehen der Kommu- Ängsten geprägt. Der rasante Wandel
Strafprozessgesetz garantieren – trotz nistischen Partei verbessern und ana- des Landes und seine wirtschaftliche
aller Mängel aus westlicher Sicht – ein log zur historischen Funktion im alten Verflochtenheit mit Europa – nicht zu-
Mindestmaß an Sicherheit der Bürger China Informationen über regionale letzt auch mit dem exportorientierten
und schaffen somit die Grundvoraus- Verhältnisse und lokale Kader bereit- Land Baden-Württemberg – legen im
setzung für gesellschaftliche Stabilität. stellen sollte. Seit den 1990er Jahren Grunde eine intensive unterrichtliche
Die wirtschaftliche Erfolgsgeschich- erlebt das Petitionswesen einen Auf- Beschäftigung mit China nahe. Wenn
te Chinas wäre undenkbar ohne Ver- schwung. Untersuchungen zur Lage man nun die Bildungs- und Lehrpläne
änderungen im Wirtschaftsrecht bzw. des Petitionswesens zeigen einen Ver- genauer in den Blick nimmt, so stellt
ohne eine Wirtschaftsordnung, die seit trauensschwund in die unteren Ebenen man fest, dass zwar hehre Ziele formu-
geraumer Zeit privatwirtschaftliche In- von Partei und Regierung und belegen, liert werden, die realen Gegebenhei-
itiativen und Rechtsformen zulässt und dass die an Petitionen gebundenen Er- ten jedoch einiges zu wünschen übrig
Systeme der sozialen Sicherung etab- wartungen, soziale Gerechtigkeit zu er- lassen. Der curriculare Stellenwert des
liert. Verbesserungen im Rechtsschutz fahren, aufgrund jahrelanger und kom- Themas und das zur Verfügungen ste-
und die Kontrolle administrativer Macht plexer Interaktionen zwischen Staat, hende Zeitkontingent lassen eine diffe-
sind weitere Indikatoren, die – so Robert Bürgerinnen und Bürgern oft erheblich renzierte Auseinandersetzung mit dem
Heuser – den Wandel der Rechtskultur gedämpft werden. Bettina Gransow „Reich der Mitte“ oftmals nicht zu. Chi-
anzeigen. Gleichwohl kennt die chine- zeigt am Beispiel einer bäuerlichen na ist ein eher randständiges Thema
sische Verfassung keine Gewaltentei- Petitionsbewegung aus dem Gebiet im Unterricht. Mehr noch: Schulbücher
lung. Insofern ist der Terminus „sozia- des Drei-Schluchten-Staudamms, wel- und audio-visuelle Unterrichtsmedien
listischer Rechtsstaat“ eine Chiffre für che Eigendynamik eine solche, über lassen eine ausgewogene Betrachtung
den Übergang und kennzeichnet den viele Jahre andauernde Bewegung in der wichtigsten Inhalte vermissen. Und
Suchprozess, historische Ordnungsvor- der Praxis entfalten kann. Größere und auch im Rahmen der Lehrerfortbildung
stellungen und chinesisches Kulturerbe im Hinblick auf ihre Zahl wachsende, – so ein Fazit von Werner Spaeth – liegt
mit der Idee des Rechtsstaats europäi- durch qualifizierte Anführer organisier- vieles im Argen. Ziel und Aufgabe von
scher Prägung in Einklang zu bringen. te Petitionsbewegungen lassen auf das Schule und Unterricht müsste es viel-
Bei aller berechtigten westlichen Kri- Entstehen zivilgesellschaftlicher Struk- mehr sein, eine differenzierte Darstel-
tik an der Menschenrechtssituation in turen auch in China schließen. lung und unterrichtliche Behandlung
China wird allzu oft übersehen, dass Konfuzius, der einst als reaktionär diffa- anzustreben, um so der Bedeutung des
China die Grundidee der Menschen- mierte Philosoph, erlebt ein Comeback. Landes gerecht zu werden.
rechte nachdrücklich befürwortet, je- Das von Staats- und Parteichef Hu Jin- Die Autorinnen und Autoren wollen mit
doch eine eigene Position entwickelt tao propagierte Konzept einer „Har- ihren Beiträgen detaillierte Informatio-
hat. Chinesische Politiker unterstreichen monischen Gesellschaft“ lehnt sich an nen und Fakten vermitteln, die für das
angesichts westlicher Rhetorik immer die Lehre von Konfuzius an. Diese neue Verständnis des komplexen Themas
wieder, dass es in einem „Sozialismus alte Zauberformel ist eine Reaktion auf wichtig sind. Allen Autorinnen und Au-
mit chinesischen Besonderheiten“ ein die sozialen Folgeerscheinungen des toren sowie Herrn Werner Spaeth, der
anderes Verständnis der Menschen- chinesischen Wirtschaftswunders. Das mit seinem fachkundigen Rat wesentlich
rechte herrsche. Wichtiger als die von immer größer werdende Einkommens- zum Entstehen des Heftes beigetragen
westlicher Warte aus reklamierten in- gefälle und die daraus erwachsende hat, sei an dieser Stelle gedankt. Dank
dividuellen Rechte seien in China im- Unzufriedenheit äußern sich in offenen gebührt auch dem Schwabenverlag für
mer die kollektiven, d.h. die wirtschaft- und zum Teil gewaltsamen Protesten. die stets gute und effiziente Zusammen-
lichen und sozialen Rechte gewesen. Die von Günter Schucher vorgestellten arbeit. Siegfried Frech

171
CHINA UND DER WESTEN

Die Geschichte der chinesisch-westlichen


Beziehungen: ein Überblick
Christoph Müller- Hofstede

scheinlich erscheinen, dass die USA rativ fortgeschrittenste Zivilisation. Im


Ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis und Europa als politische und wirt- neunzehnten Jahrhundert versank das
Chinas ist die wechselvolle Geschichte schaftliche Weltführungsmächte lang- hoch entwickelte Land in tiefe Armut
der chinesisch-westlichen Beziehungen. sam aber unausweichlich in den Hinter- und wurde Halbkolonie des Westens.
Über die letzten 2.000 Jahre war China grund gedrängt werden. Damit würden Es war das Jahrhundert der Demüti-
sowohl das bevölkerungsreichste Land sich Analysen bestätigen, die eine drit- gung, das bis heute jeden Chinesen
und die größte Volkswirtschaft der Welt te große Machtverschiebung in den in- prägt.“ 3
wie auch eine technologisch und admi- ternationalen Beziehungen der letzten Nach wie vor – so die These dieses
nistrativ fortgeschrittene Zivilisation. Bis 500 Jahre prognostizieren. Tatsächlich Beitrages – ist das westlich-chinesische
zum 18. Jahrhundert sah China sich als ist eine Dynamik des Auf- und Abstiegs Verhältnis nur vor dem Hintergrund die-
Zentrum der Welt. Weil sie an Absatz- in den Beziehungen zwischen Europa ser von wechselseitigen Aufstiegs- und
märkten interessiert waren, forcierten (das heißt dem Westen) und China un- Abstiegsgeschichten, von Ängsten und
westliche Imperialmächte die gewaltsa- verkennbar. Im 16. Jahrhundert (nach Faszinationen belasteten „Beziehungs-
me Öffnung des Landes. Im 19. Jahrhun- den Entdeckungen Amerikas) wurde Eu- geschichte“ zu verstehen. Der vorolym-
dert geriet das hoch entwickelte Land ropa zum reichsten und aktivsten Teil pische Kommunikationscrash zwischen
in eine halbkoloniale Abhängigkeit vom der Welt. Die von der Renaissance und China und dem Westen nach den Un-
Westen. Für China stellt diese Zeit der
der Aufklärung angestoßenen kogniti- ruhen in Tibet im März 2008 muss vor
Besetzung, der wirtschaftlichen Ausbeu-
ven und technologischen Umwälzungen diesem historischen Hintergrund ge-
tung und politisch-militärischen Nieder-
lagen bis heute ein im kollektiven Ge-
wirkten weltweit und leiteten die poli- sehen werden, der im Rahmen dieses
dächtnis verankertes Trauma dar. Das tische und intellektuelle Vorherrschaft Beitrages nur kurz skizziert werden
koloniale Gebaren des Westens trug je- des Westens ein, die lange als Selbst- kann. 4
doch entscheidend zur Reform des verständlichkeit betrachtet wurde.
Staats- und Gesellschaftsgefüges Chi- Im 20. Jahrhundert lösten die USA die
nas sowie zur Entstehung eines mo- Vorherrschaft des britischen Imperi- Die Ankunft der Europäer
dernen chinesischen Nationalismus und ums ab und wurden zur beherrschen-
zur Herausbildung politischer Eliten bei, den Weltmacht. Im „amerikanischen Beginnen wir mit dem Hinweis auf
die das politische Geschick des Landes Jahrhundert“ verfestigte sich die wirt- Marco Polos Bericht über seine Reise
im 20. Jahrhundert prägten. Christoph schaftliche, politische und kulturel- zum Großkhan und zu den „Wundern
Müller-Hofstede analysiert das chine- le Dominanz der USA – trotz zweier der Welt“ (Merveilles du Monde), mit
sisch-westliche Verhältnis sowie dessen Weltkriege und der Blockkonfrontation dem im 14. Jahrhundert die westliche
wechselvolle Geschichte und schildert des Kalten Krieges – über den Rest der Chinafaszination ihren Anfang nahm.
Chinas von Spannungen, Widersprü- Welt. Heute – so der amerikanische Pu- Christoph Kolumbus hatte eine von ihm
chen, Rückschlagen und Konflikten ge- blizist Fareed Zakaria 2 – bewegen wir annotierte Ausgabe der Beschreibun-
kennzeichneten Weg in die Gegenwart. uns in einer „postamerikanischen Welt“, gen Marco Polos an Bord seiner ers-
Vor dem Hintergrund der chinesischen in der sich der „Aufstieg der Übrigen“ ten Expedition, die ihn zu den Reichtü-
Geschichte handelt es sich bei der aktu- (rise of the rest) vollziehe, all der Nati- mern des Großkhan in Cathay führen
ell zu beobachtenden Entwicklung Chi- onen, die in den letzten 20 Jahren ra- sollte, aber tatsächlich nach Amerika
nas zur politischen und wirtschaftlichen
pide an wirtschaftlicher und politischer brachte. Zwanzig Jahre nach der Ent-
Weltmacht um die „Rückkehr“ zu einer
Bedeutung gewannen. Hierzu gehören deckung Amerikas landeten 1519 por-
Stellung, die dieses Land über mehr als
zwei Jahrhunderte nur vorübergehend
Brasilien, Russland, Indien, China – die tugiesische Schiffe vor Kanton (Gu-
aufgegeben hatte.  sogenannten BRIC-Staaten – als größ- angzhou), um Handelsbeziehungen
te Nationen. China als bevölkerungs- mit China anzuknüpfen. Dieser erste
reichstes und dynamischstes Mitglied Vorstoß scheiterte (die Portugiesen
dieser Gruppe steht freilich im Mittel- wurden des Landes verwiesen, einige
punkt dieser Bewegung. von ihnen als Seeräuber hingerich-
China und der Westen: Nicht zufällig sehen auch andere Be- tet) – erst nach 1540 konnte Portugal
der geschichtliche Kontext obachter den Aufstieg Chinas im Kon- in Macao eine dauerhafte Niederlas-
text einer 500-jährigen Auseinander- sung errichten. Mit dem Eintreffen des
Die Beziehungen des Westens 1 mit Chi- setzung des Landes mit dem Westen Jesuiten Matteo Ricci (1552–1610) in
na stehen zu Beginn des 21. Jahrhun- und sprechen von einer „Rückkehr“ Chi- Macao im Jahre 1582 beginnt die fast
derts unter dem Eindruck einer neuen nas zu seinem angestammten Platz als 150 Jahre andauernde Jesuitenmission
Dynamik. Drei Jahrzehnte rasanten Weltmacht: „Von einer Rückkehr Chinas (bis zum kaiserlichen Verbot der Mis-
Wirtschaftswachstums haben China in spricht man, weil das Reich der Mitte sionierung 1742). Etliche theologisch
die Champions League der Weltpolitik über den größten Teil unserer Zeitrech- und naturwissenschaftlich gebildete
und Weltwirtschaft aufsteigen lassen. nung nicht nur das bei weitem bevöl- Jesuiten werden am Hof in Peking als
Nicht nur die historische Finanzkrise, kerungsreichste Land und die größte Berater und Gelehrte des Kaisers an-
die seit dem Spätsommer 2008 den Volkswirtschaft der Welt war, sondern gestellt. Eine rege Korrespondenz mit
Westen ergriffen hat, lässt es wahr- auch die technologisch und administ- Europa beginnt. Ihre Berichte gelan-

172
DIE GESCHICHTE DER CHINESISCH-
WESTLICHEN BEZIEHUNGEN:
EIN ÜBERBLICK

Handelsreisender geformt, insbeson-


dere den berühmten Bericht des eng-
lischen Gesandten Lord George Ma-
cartney 1793, der vergeblich im Auf-
trag George III. am chinesischen Hof
Handelsrechte aushandeln wollte. Der
Bericht wurde in mehrere europäische
Sprachen übersetzt und hatte großen
Einfluss auf die europäische Öffent-
lichkeit. Die allgemeine Chinabegeis-
terung schlägt nun um in Verachtung.
China wird als Reich im Niedergang
angesehen, als „Mumie“, so etwa Karl
Marx in einem berühmten Diktum, „in
einem hermetisch versiegelten Sarg,
die durch die europäische Expansion
mit frischer Luft in Berührung“ komme
und nun unausweichlich zerfalle. 8 Die
von den europäischen „Meisterden-
kern“ angelegte Projektion einer dau-
erhaften, historisch gleichsam gene-
tisch angelegten Überlegenheit des
Westens über den Rest der Welt, mit-
hin der Blick auf chinesische Defizite
(Aufklärung, Demokratie, Individualis-
mus etc.), prägt die westliche Chinabe-
trachtung bis weit ins 20. Jahrhundert
– ungeachtet kurzer Phasen der China-
schwärmerei wie in der Studentenbe-
wegung der 1960er Jahre. Diese Epo-
che der gleichsam selbstverständlichen
und implizit auf allen Seiten akzeptier-
ten Dominanz des Westens geht heute
zu Ende. Allenthalben wird eine neue
„geistige Kartographie“ (Frank-Walter
Steinmeier) für den Umgang mit Chi-
Mit Marco Polos Bericht über seine Reise zum Großkhan und zu den „Wundern der Welt“ na und anderen aufstrebenden Na-
(Merveilles du Monde) nahm die Faszination für China im 14. Jahrhundert ihren Anfang. tionen gefordert. Die Konturen dieser
Die Buchmalerei zeigt Kublai Khan, der die Bezahlung von Händlern durch seine Beamten neuen Mindmap des 21. Jahrhunderts
überwacht. picture alliance/dpa zeichnen sich freilich nur langsam ab.
Sicherer erscheint der Blick zurück auf
diejenigen Ereignisse und Entwicklun-
gen – gedruckt in prächtigen illustrier- nander zu lernen. 6 Noch kurz vor der gen im 19. und 20. Jahrhundert, die die
ten Bildbänden wie der „Description de Französischen Revolution wünscht sich Wahrnehmungen auf beiden Seiten so
la Chine“ des Jesuiten Jean Baptist Du ein Berater von König Ludwig XVI., den nachhaltig geprägt haben.
Halde – in die Bibliotheken und an die Franzosen einen Hauch „chinesischen
Höfe Europas. 5 Das positive Bild, das Geistes“ einzuimpfen. Damit ist jedoch
sie von den wirtschaftlichen, sozialen auch der Höhe- und Endpunkt der eu- China als Kolonial- und Zentralmacht
und politischen Verhältnissen in China ropäischen Sinophilie erreicht. Schon Ostasiens im 18. Jahrhundert
zeichnen, löst die Chinabegeisterung in der Mitte des 18. Jahrhunderts hat-
(und Chinamode) des späten 17. und ten zunächst in England, aber auch in Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte
frühen 18. Jahrhunderts aus. Voltaire Frankreich (Charles de Montesquieu) das chinesische Kaiserreich seine bis
etwa war von einer umfassenden Über- und Deutschland (Johann Gottfried dahin größte Ausdehnung erreicht. Ne-
legenheit Chinas über das von kirch- Herder) chinakritische Stimmen an Ge- ben den 18 Provinzen des chinesischen
lichen Mächten beherrschte Europa wicht gewonnen. 7 Die neue Dynamik Kernlands umfasste das Reich die erst
überzeugt: ‚Bewundern, erröten, aber in der Entwicklung Europas, die poli- Ende des 17. Jahrhunderts eroberte In-
vor allem: nachmachen“, war sein Re- tischen Impulse der Französischen Re- sel Taiwan, die Mandschurei mit gro-
zept für den Umgang mit China. Zumin- volution sowie die von England aus- ßen Gebieten jenseits des Amur, die
dest aber drängte man, wie Gottfried gehende industrielle Revolution ließen Innere wie die Äußere Mongolei, Tibet
Wilhelm Leibniz in seiner „Novissima China in einem von ihm nicht gewollten sowie weite, gleichfalls nach 1750 neu
Sinica“ (1697), auf einen umfassenden weltweiten „Wettbewerb der Systeme“ eroberte Landstriche Zentralasiens bis
kulturellen und wissenschaftlichen Aus- zunehmend zurückfallen. ins heutige Kasachstan. Im Südwesten
tausch mit China, dem „Europa des Os- Das europäische Chinabild wurde erstreckte sich China über den Hindu-
tens“, um sich zu ergänzen und vonei- fortan durch die Berichte europäischer kusch hinaus bis nahe an Persien her-

173
Christoph Müller-Hofstede
an. Ein großer Teil dieser Gebiete war rien, die Konkurrenz gleichberechtigter Verträge zwischen China und den west-
erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts Nationalstaaten, die Bedeutung der lichen Mächten unterschrieben; diese
erobert worden. Umwälzungen auf außerchinesischen Herkunftsbezeichnung tragen die ab
China war unter den mandschurischen Schauplätzen erschlossen sich der chi- den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts
Qing-Kaisern Kangxi (1662–1722) und nesischen Beamtenelite nicht. Noch bevollmächtigten Gesandten Chinas
Qianlong (1736–1795) zur wirtschaft- ruhte China selig in sich selbst.“ 10 ins Ausland.“ 12
lichen und politischen Zentralmacht in Das chinesische Selbstverständnis ei-
Ostasien geworden. Die wirtschaftliche nes moralisch und zivilisatorisch über-
Blüte des Reiches in dieser Phase hat- Exkurs: Welt- und Selbstverständnis legenen Universums ließ an Außenbe-
te eine Verdoppelung der Bevölkerung Chinas vor dem Zusammenstoß mit ziehungen und eine Konkurrenz der
innerhalb von 150 Jahren auf 300 Milli- dem Westen „Nationen“ wie in Europa nicht den-
onen zur Folge. Chinas technologische ken. Ein Nationalstaat bildet sich erst
und wirtschaftliche Stärke wurde den Wesentlich trug hierzu das Weltver- im 20. Jahrhundert heraus – allerdings
Europäern nicht zuletzt durch die erste ständnis der kaiserlichen Bürokratie bei. mit dem (ungeklärten) Erbe eines mul-
„Exportlawine“ Chinas vor Augen ge- China – genauer das Herrscherhaus tinationalen und multikulturellen Impe-
führt: seit Beginn des 17. Jahrhunderts der Mandschu-Dynastie – sah sich als riums.
bis weit ins 18. Jahrhundert hinein wur- Zentrum eines moralischen Universums.
den mehrere hundert Millionen Stück Die gesamte zivilisierte Welt (die auf
Porzellan über die holländischen und Chinesisch als tianxia, d.h. „alles unter Chinas Einbindung in Weltwirtschaft
englischen East India Companies nach dem Himmel“ bezeichnet wurde) wurde und Weltpolitik: die wichtigsten
Europa eingeführt. Der „erfolgreichste mit der chinesischen Zivilisation gleich- Stationen von 1800–1949
Keramiktyp der Weltgeschichte“ (Lo- gesetzt. Dem Tianxia-Konzept lag die
thar Ledderose) konnte erst Anfang des Idee einer hierarchischen Weltordnung Ab Ende des 18. Jahrhunderts machten
18. Jahrhunderts in ersten Prototypen in und der Überlegenheit und Zentralität die Fernwirkungen der europäischen
Europa produziert werden. 9 China war chinesischer Kultur zugrunde. Individu- Entwicklungen auch vor China nicht
Europa also in wirtschaftlicher Hinsicht, en und Völker waren darin nicht gleich- Halt. Die technische, ökonomische und
wenn nicht überlegen, so doch eben- berechtigt. administrative Überlegenheit der Eu-
bürtig. Auch als Kolonialmacht kann Dabei war dieses Konzept so umfas- ropäer wurde ab dem 19. Jahrhundert
China mit den europäischen Mächten send, dass selbst über die chinesische auch militärisch wirksam und zwang
verglichen werden – wenn auch we- Bezeichnung für China im Grunde kei- China – wie auch Japan – in das von
sentliche Unterschiede beachtet wer- ne Klarheit herrschte. Ein chinesisches Europa gestaltete und dominierte inter-
den müssen. Wort für ein politisches „China“ bzw. nationale System. China wurde für über
Im Unterschied zu Russland und Eng- die „chinesische Nation“ existierte vor ein Jahrhundert – zwischen 1840 und
land war der chinesische Kolonialismus dem 19. Jahrhundert nicht! Weder im 1945 – zum „Objekt der Großmächte“.
weder religiös noch wirtschaftlich mo- allgemeinen Sprachgebrauch noch im Parallel hierzu verlief die Einbindung
tiviert. Sicherheitsbedürfnisse und das Bewusstsein der Elite war China als Na- Chinas in die weltwirtschaftliche Ar-
Bestreben, die „mongolische Gefahr“ tion präsent. Der heute etablierte Be- beitsteilung, die schon mit dem für Chi-
endgültig auszuschalten, waren die griff des „Reichs der Mitte“ (zhong guo; na profitablen Export von Tee, Seide
zentralen Motive der chinesischen Ex- dies bedeutet eigentlich „mittleres Kö- und Porzellan im 17. und 18. Jahrhun-
pansion. Die Eroberung Chinas durch nigreich“) ist eine Erfindung des späten dert begonnen hatte. Die Faszination
mongolische Reiterstämme in der Nach- 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wie Mi- des angeblich grenzenlosen chinesi-
folge von Dschingis Khan im 13. Jahr- chael Lackner gezeigt hat.11 In der viele schen Marktes wurde dann zum we-
hundert und die wiederkehrenden Beu- Millionen Schriftzeichen umfassenden sentlichen Antriebsmoment der engli-
tezüge der innerasiatischen „Barbaren“ Sammlung der 25 chinesischen Dyna- schen Expansion nach China. In dem
innerhalb des chinesischen Kernlands stiegeschichten erscheint der Ausdruck nun folgenden „Jahrhundert der chine-
im 15. und 16. Jahrhundert hatten tiefe zhong guo nur zirka 2.200 Mal. In der sischen Revolution“ (1840–1949) wird
Spuren im kollektiven Gedächtnis chi- klassischen Literatur Chinas wurde der China zunächst durch die „ungleichen
nesischer Herrscher hinterlassen. Begriff nie benutzt, um eine chinesische Verträge“ mit England im Gefolge der
Vor allem aber war Chinas machtpoli- Nation oder die chinesische Zivilisation Opiumkriege schrittweise in das von
tisch-militärische Stellung im 18. Jahr- zu beschreiben. Da nur China als Mus- Europa gestaltete internationale Sys-
hundert noch nicht von seinem Kontakt ter eines zivilisierten Staates angese- tem integriert und gleichzeitig entmün-
mit dem Westen bestimmt. China kon- hen wurde, erübrigte sich, so Lackner, digt. Gleichzeitig verlor China massiv
zentrierte sich auf den kontinentalasia- eine Abgrenzung zu anderen Staatsge- an weltwirtschaftlicher Bedeutung:
tischen Raum und lebte „mit dem Rücken bilden nach räumlichen (also in gewis- Betrug Chinas Anteil an der Weltwirt-
zum Pazifik“. Epochale Ereignisse wie sem Sinne egalitären) Kriterien. Statt- schaftsleistung im Jahr 1820 noch 33
die Französische Revolution 1789, die dessen setzte sich eine Bezeichnung Prozent, so waren es 1952 nur noch 5,2
napoleonischen Eroberungen in Ägyp- nach historischen Kriterien, also nach Prozent, ein Anteil, der sich erst nach
ten, Europa und Russland oder die briti- der Abfolge der Dynastien, durch. Tra- 1980 wieder erhöhen sollte.13 Die wirt-
sche Eroberung Indiens zwischen 1770 ditionell wurde das chinesische Reich schaftliche Misere und die machtpoli-
und 1818 wurden in Beijing (Peking) nur durch die jeweils unterschiedlichen tische Entmündigung erzeugen einen
nicht weiter wahrgenommen. Um 1800 Dynastienamen bezeichnet – also Qin, neuen chinesischen Nationalismus, der
wusste man in China viel weniger über Han, Tang, Yuan, Song, Ming und Qing, im 20. Jahrhundert zur entscheidenden
Europa als umgekehrt: „Vor der macht- um die wichtigsten Dynastien zu nen- Triebkraft der Innen- und Außenpolitik
politischen Asymmetrie, die im 19. Jahr- nen. „Dementsprechend ist die offiziel- Chinas wird. Erst mit der Niederlage
hundert zum Tragen kam, stand die le Bezeichnung Chinas (selbst) zur Zeit Japans 1945 endet für China die Phase
Asymmetrie des (Herrschafts-)Wissens der erbittersten Konfrontation mit dem der Vorherrschaft fremder Mächte. Sei-
zwischen den beiden wirtschaftlichen Westen eben nicht China, respektive nen Abschluss findet das „Jahrhundert
und politischen Machtzentren der da- zhong guo, sondern da Qing guo, Staat der chinesischen Revolution“ mit dem
maligen Welt. Weltpolitische Katego- der großen Qing(-Dynastie). So sind die Sieg der Kommunisten im Bürgerkrieg

174
und der Gründung der Volksrepublik eines halben Jahrhunderts dramatisch DIE GESCHICHTE DER CHINESISCH-
China am 1. Oktober 1949. verschlechtert; hinzu kamen die drama- WESTLICHEN BEZIEHUNGEN:
Betrachten wir im Folgenden diese Epo- tischen gesundheitlichen Folgen des EIN ÜBERBLICK
che etwas näher, bevor wir uns mit den sich ausbreitenden Opiumkonsums.
Beziehungen zwischen der Volkrepub- Der Opiumkrieg ab 1840, der mit dem
lik China und dem Westen nach 1949 Abschluss des ersten „ungleichen Ver- der Wirtschaftshistoriker Richard H.
beschäftigen. trages“ (so werden in China bis heute Tawney – glich einer Bordüre, die ei-
die dem Land im 19. Jahrhundert von nem alten, durchaus noch tragfähigen
den westlichen Mächten aufgezwunge- Gewand aufgesetzt war. Erst 1895
Opiumkriege und Einschränkungen nen Verträge bezeichnet) von Nanjing begann das Zeitalter des territorialen
der Souveränität (1839–1895) (Nangking) im Jahre 1842 endete, war Kolonialismus und der ausländischen
eine Reaktion Großbritanniens auf Ver- Direktinvestitionen, insbesondere des
Die wirtschaftliche Lage Chinas in suche der chinesischen Regierung, den Aufbaus ausländisch beherrschter In-
den ersten Jahrzehnten des 19. Jahr- von ihr als illegal und schädlich einge- dustrieunternehmen im Textilsektor und
hunderts wurde durch die sogenannte stuften Opiumhandel in Kanton zu un- im Bergbau. In den Vertragshäfen, ins-
Opium-Silber-Krise geprägt. Seit der terbinden. Dieser erste „Öffnungskrieg“ besondere in Shanghai (noch bis 1949
ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts war und die gewaltsame Durchsetzung von wirtschaftlich bedeutender als Hong-
China in zunehmendem Maße in die Freihandelsinteressen war Teil der Po- kong und Tokio), entwickelten sich neue
Handelsströme zwischen Europa und litik Großbritanniens, die im 19. Jahr- Eliten: chinesische Geschäftsleute mit
Asien eingebunden worden. Porzellan, hundert auch gegenüber den jungen einem erheblichen Eigenvermögen ver-
Seide und vor allem Tee wurden in sol- lateinamerikanischen Staaten und dem mittelten zwischen westlichen Kaufleu-
chem Umfang nach Europa exportiert, Osmanischen Reich praktiziert wurde. ten und dem chinesischen Markt. Eine
dass sich ganze Regionen Chinas auf Die wirtschaftlichen Folgen des Opi- ganze Schicht von Händlern, Bankiers
den Export spezialisierten. Allein in den umkriegs waren zunächst begrenzt: und Industriellen entstand, die unter
Porzellanmanufakturen von Jingdezhen Die chinesischen Küstenstädte wur- modernen Bedingungen operierte. In
in der Provinz Jiangxi sollen bis zu einer den Schritt für Schritt in die Weltwirt- Shanghai, aber auch Hongkong, ent-
Million Arbeiter tätig gewesen sein. Die schaft eingebunden und entwickelten standen Zirkel revolutionär und liberal
europäischen Importe wurden in gro- sich sozial und politisch schneller als gesinnter Intellektueller, die über Aus-
ßem Umfang mit Silber, vor allem aus die Binnenprovinzen Chinas. In macht- wege aus der Krise Chinas (unter an-
Spanisch-Amerika, bezahlt. politischer Hinsicht bedeutete die ers- derem mit Hilfe westlicher „Rezepte“)
Im 18. Jahrhundert wuchsen die euro- te Niederlage Chinas gegen einen nachdachten.
päische Nachfrage nach chinesischen westlichen Staat dagegen einen tiefen Hier zeigte sich das Janusgesicht des
Waren und damit auch der Zufluss von Einschnitt, der sich in markanten Ein- westlichen Kolonialismus: Durch die
Silber nach China weiter stark an. Für schränkungen der chinesischen Souve- Begegnung mit dem Westen beschleu-
England wurde die notorisch passive ränität äußerte. Hierzu gehörten unter nigte sich der Zerfall der traditionellen
Handelsbilanz mit China zum Problem. anderem die Öffnung der Hafenstädte Ordnung nach innen und nach außen;
Um die anhaltend hohen Teeimpor- Guangzhou, Shanghai, Fuzhou, Ning- gleichzeitig wurden entscheidende
te aus China zu bezahlen, exportierte bo und Xiamen für ausländische Kauf- Impulse zur Reform des chinesischen
es am Ende des 18. und zu Beginn des leute und Konsulate; damit konnten Staats- und Gesellschaftsgefüges und
19. Jahrhunderts zunächst Rohbaum- sich in diesen Städten extraterritoriale zur Herausbildung neuer Eliten gege-
wolle aus Bengalen nach Kanton, um Brückenköpfe Großbritanniens bilden, ben. Der Druck des Westens trug zur
mit den Erlösen das Chinageschäft da die Konsulate später auch mit der institutionellen Modernisierung Chinas
abzudecken. In diesem anglo-indisch- Rechtsprechung über in China ansässi- bei, unter anderem durch die Moder-
chinesischen Dreieckshandel ersetzte ge britische Bürger betraut wurden. In nisierung der Zollbehörden und den
ab 1820 indisches Opium zunehmend den folgenden Jahren wurden Belgien, Aufbau moderner außenpolitischer In-
die Rohbaumwolle. Opium war billiger den Niederlanden, Preußen, Spanien, stitutionen.
herzustellen und zu transportieren und Portugal, den USA und Frankreich ähn-
zudem in China leichter abzusetzen als liche Privilegien zuerkannt.
Baumwolle. 1860 entsandten Großbritannien und China als Objekt der Weltpolitik
Schon um 1830 war Opium zur wich- Frankreich ein gemeinsames militäri- (1895–1931)
tigsten Ware im Handel zwischen sches Expeditionskorps nach Beijing
Großbritannien und China geworden. und sicherten sich weitere Rechte. In der 1895 ist das entscheidende Epochen-
Erstmals veränderte sich die Handels- Folge entstand die wesentlich weitge- jahr, in dem sich der interne Machtver-
bilanz zu Chinas Ungunsten; zwischen hendere sogenannte „Zweite Vertrags- fall der Qing-Dynastie weiter beschleu-
1827 und 1849 verlor China vermutlich ordnung“ (nach dem Vertrag von Nan- nigt und zugleich der Aufstieg Japans
die Hälfte des Silbers, das während der jing), die China weitere massive Souve- als neue imperiale Macht in Ostasien
vorausgegangenen 125 Jahre ins Land ränitätseinschränkungen aufzwang. So eingeleitet wird. In der Folge kommt es
geströmt war: „Der Tausch von Tee und wurden nicht nur die Vertragshäfen an zum Zusammenbruch des Kaiserreichs
Textilien gegen Silber, also die Situa- der Küste, sondern ganz China für aus- und der Gründung der Republik China
tion vor 1800, war für China ein gu- ländische Reisende zugänglich; christ- (1. Januar 1912). Der weitere Zerfall der
tes Geschäft gewesen, der Tausch von liche Missionare konnten nun ohne Be- Zentralmacht prägt die nächsten Jahr-
Silber gegen Opium, also die Situation schränkungen ihrer Arbeit nachgehen. zehnte. China wird zu einem Flicken-
nach 1830, führte hingegen zu Belas- Hinzu kam die Öffnung elf weiterer Ver- teppich, auf dem regionale Machtha-
tungen der einheimischen Wirtschaft, tragshäfen, darunter Tianjin in der Nä- ber (Warlords), ausländische Mächte
u. a. durch die Verknappung und Preis- he Beijings und wichtige Binnenhäfen und eine schwache Zentralregierung
erhöhung des Silbers für Grundbesitzer am Jangste. Dennoch blieb der direk- ihre Konflikte zulasten der Bevölkerung
und die Bauernschaft, die ihre Steuern te ökonomische Einfluss des Westens austragen. Außenpolitisch wird China
in Silber zahlen musste.“ 14 Chinas wirt- auf diese Vertragshäfen beschränkt. weiter geschwächt: Der innere Zerfall
schaftliche Lage hatte sich innerhalb Die fremde Wirtschaftspräsenz – so begünstigt den Zugriff ausländischer

175
Christoph Müller-Hofstede
Mächte auf die Ressourcen Chinas.
Ungleiche Verträge prägen auch im
frühen 20. Jahrhundert die Außenbe-
ziehungen Chinas. Drei Aspekte sind
in dieser Phase hervorzuheben:
(1.) Die Bedeutung der Niederlage im
chinesisch-japanischen Krieg 1894/95:
Japans Sieg über China zerstörte end-
gültig den Rest an Macht und Presti-
ge, der dem Qing-Reich bis dahin noch
geblieben war. Chinas zivilisatorische
und politische Hegemonie über Ostasi-
en war endgültig beendet, und die chi-
nesischen Reformer waren sich dessen
bewusst. „Unser Land erwacht aus ei-
nem viertausendjährigen Schlummer“,
schrieb der nationalistische Theoreti-
ker Liang Qichao. Die Kriegsentschä-
digung war doppelt so hoch wie die
gesamten jährlichen Steuereinnahmen
der Zentralregierung: Japan konnte
durch die in Sterling ausgezahlte Ent-
schädigung weiter aufrüsten und stieg
in den Kreis der Vertragsmächte Chinas
auf. Die Modernisierung Japans ging
Hand in Hand mit seiner militärischen
Expansion. Im Ersten Weltkrieg und in
den Jahren danach verstärkte sich der
territoriale Druck Japans auf China.
(2.) Die Jahre zwischen 1895 und 1931
waren die Jahre des größten Einflusses
des Westens in China: Alle imperialisti-
schen Mächte des 19. und 20. Jahrhun-
derts trafen in China zusammen und
kooperierten miteinander, um China
zu kontrollieren. Einige Besonderheiten
dieser multinationalen Kontrolle Chi-
nas waren unter anderem:
 das System der „ungleichen Verträge“,
von denen durch die Meistbegünsti-
gungsklausel automatisch alle in Chi-
na aktiven ausländischen Mächte pro-
fitierten;
 die ausländische, „synarchische“ (d.h.
durch gemeinsame Herrschaft ausge-
übte) Kontrolle des Seezollamts und den Friedenskonferenzen sowie Grün- Jahre erreichten die antibritischen und
des Salzamts und die direkte Verwen- dungsmitglied des Völkerbunds war, antijapanischen Massenproteste erste
dung der dort eingenommenen Gel- blieb das Land weiterhin Objekt der bescheidene Konzessionen von Seiten
der für die Bezahlung des „Schulden- Weltpolitik.15 der Vertragsmächte. Ab 1928 gaben
dienstes“; (3.) Die eklatanten Beschränkungen zunächst die USA, später auch andere
 die multinationalen Chinakonsortien, der staatlichen Souveränität Chinas Vertragsmächte die Befugnis zur Zoll-
die den Eisenbahnbau finanzierten erzeugten neue und intensive Formen erhebung an die chinesische Regierung
und damit die Erschließung des Landes des Nationalismus. Die als „4. Mai- zurück.
beförderten. Bewegung“ bekannt gewordenen Mas-
Seinen Höhepunkt erreichte diese sys- senproteste im Jahr 1919, die sich vor
tematische Entmündigung Chinas an- allem gegen Japan und die Sieger- Vom antijapanischen Krieg zur
lässlich der Versailler Konferenz 1919: mächte des Ersten Weltkriegs richteten, Unabhängigkeit (1931–1949)
China, das auf Wunsch der USA in den zwangen die chinesische Regierung,
Ersten Weltkrieg eingetreten war und den Versailler Vertrag nicht zu unter- Das Jahr 1931 wird zu Recht als Be-
über 100.000 Soldaten nach Frank- zeichnen. Ab 1921 kam (unter maßgeb- ginn eines „denouéments“ (Klärung) in
reich entsandt hatte, musste erfahren, licher Beteiligung sowjetischer Berater) Ostasien bezeichnet, in dem sich Inte-
dass Jiaozhou, das 1897 vom Deut- sogar eine Einheitsfront von Kommu- ressen und Ziele der in und um China
schen Reich militärisch besetzte und nisten und Nationalisten zustande, da agierenden Mächte – nicht zuletzt un-
1898 für 99 Jahre gepachtete Gebiet beide Seiten die gemeinsame Vision ter der Wirkung der Weltwirtschafts-
in der nordöstlichen Provinz Shan- eines „starken und unabhängigen Chi- krise – deutlicher als zuvor klären. 16 In
dong, nicht zurück an China, sondern nas“ verfolgten. Übergreifendes Ziel Japan gewannen die militaristischen
an Japan fallen sollte. Obwohl China chinesischer Politik war es, den aus und expansionistischen Strömungen im
„Siegermacht“ des Ersten Weltkriegs dem 19. Jahrhundert stammenden Sta- Militär entscheidenden Einfluss auf die
und gleichberechtigte Teilnehmerin an tus quo zu verändern. Mitte der 1920er Innen- und Außenpolitik des Landes:

176
Obwohl in der DIE GESCHICHTE DER CHINESISCH-
so genannten WESTLICHEN BEZIEHUNGEN:
Kulturrevolution EIN ÜBERBLICK
ab 1966 eine
ganze Genera-
tion junger in der Lage noch willens, den Endkampf
Chinesen den um die Macht in China entscheidend zu
Mobilisierungs- beeinflussen. Beide Großmächte sahen
experimenten sich „zu Zuschauern jenes Dramas re-
und Autarkie- duziert, als dessen Regisseure sie sich
phantasien noch Anfang 1945 in Jalta gefühlt hat-
Mao Zedongs ten“.17 Im Oktober 1949 übernahm die
geopfert wurde, Kommunistische Partei Chinas endgül-
ist Mao in China tig die Macht in Beijing. Von nun an be-
zum Mythos ge- stimmten die internationalen Rahmen-
ronnen. Der Text bedingungen des Kalten Krieges die
des Propaganda- Außenpolitik des neuen Staates.
plakats aus dem
Jahr 1969 lautet
sinngemäß: „Alle Unabhängigkeit, Isolation und
Menschen der Reintegration in die
Revolution lieben Staatengemeinschaft (1949–1979)
dich so sehr!“
picture alliance/dpa Zu Recht ist die chinesische Revolution,
die am 1. Oktober 1949 in die Grün-
dung der Volksrepubik China mündete,
als eine der großen „total revolutions“
in der neueren Geschichte bezeichnet
worden. Die Radikalität und Nachhal-
tigkeit der von ihr ausgelösten gesell-
schaftlichen Umwälzungen, die dauer-
hafte Etablierung einer neuen, revolu-
tionären Staatsmacht und die Auswir-
kungen auf das internationale System
weisen deutliche Parallelen mit der
Französischen Revolution 1789 und der
Russischen Oktoberrevolution 1917 auf.
Wesentlich bedeutsamer als im Falle
Frankreichs und Russlands war jedoch
in China die Mobilisierung nationalis-
tischer Gefühle, die den Kommunisten
schon im Bürgerkrieg und nach der
Machtergreifung entscheidend Legiti-
mation verlieh. Die „Befreiung“ Chinas
von äußerer Einmischung und Unterdrü-
China sollte zum kolonialen und stra- wa ein Fünftel der Kaiserlichen Armee, ckung erlangt zu haben, gilt bis heute
tegischen Hinterland für die weitere gebunden waren, die somit nicht für an- als Hauptverdienst Mao Zedongs und
Expansion Japans werden. Innerhalb dere Einsätze zur Verfügung standen. der Kommunistischen Partei.
weniger Wochen besetzte Japan Ende Nach der Kapitulation Japans am 2. Nach 1949 musste sich China zunächst
1931 die ganze Mandschurei. Auf ei- September 1945 standen sich die nun aus ideologischen und pragmatischen
nen Schlag fielen elf Prozent des chine- jeweils von den Großmächten Sowjet- Gründen in die weltpolitische Blockbil-
sischen Territoriums mit 50 Prozent der union und USA materiell und politisch dung einfügen und wurde zum Partner
Erdöl- und 80 Prozent der Eisenvorräte unterstützten Verbände der Kommu- der Sowjetunion, gemäß der Politik des
Chinas unter japanische Kontrolle. Ab nistischen Partei Chinas und der Guo- „sich auf eine Seite Neigens“ (yibian-
Juli 1937 hatten japanische Truppen mindang unversöhnlicher denn je ge- dao), wie es Mao Zedong (Mao Tse-
Beijing, Shanghai und Nanjing besetzt genüber. Die USA waren an einem neu- tung) 1949 prägnant formulierte.
und mit der Eroberung des chinesischen en Bürgerkrieg nicht interessiert und Schon am 14. Februar 1950 unterzeich-
Kernlandes begonnen. Bis 1945 eignete versuchten, zwischen beiden Seiten zu neten die Vertreter der Volksrepublik
sich Japan große Teile Chinas in einem vermitteln, allerdings ohne Erfolg. China und der Sowjetunion – nach
kolonialen Raub- und Vernichtungs- Nach den Vorstellungen der Sowjetuni- über zweimonatigen Verhandlungen
feldzug an. Der japanische Feldzug on und der USA sollte in Beijing eine zwischen Mao und Stalin – einen Ver-
in Ostasien führte ab Dezember 1941 nationalistisch-kommunistische Koaliti- trag über Freundschaft, Allianz und ge-
(Überfall auf Pearl Harbor) zum Bünd- onsregierung etabliert werden, um Chi- genseitige Hilfe. China bekam umfang-
nis der USA mit der republikanischen na zu einer stabilen (wenn auch schwa- reiche Finanz-, Wirtschafts- und tech-
Regierung Chinas und zur Schwächung chen) Bündnismacht in einem postkolo- nische Hilfen. Im Gegenzug musste es
Großbritanniens in Ostasien. nialen Asien zu machen. Die Eigendy- strategische Zugeständnisse machen,
China trug zur Niederlage Japans bei, namik des chinesischen Bürgerkriegs unter anderem die Unabhängigkeit
da auf chinesischem Territorium etwa machte alle diese Pläne zunichte. Die der Äußeren Mongolei und damit die
eine Million japanischer Soldaten, et- Sowjetunion und die USA waren weder sowjetische Dominanz in der ehemals

177
Christoph Müller-Hofstede
von China kontrollierten nördlichen Pe- liche Hilfe für China wurde eingestellt die China intensiver als je zuvor in sei-
ripherie anerkennen. Die Sowjetunion und die sowjetischen Experten von ei- ner Geschichte in das internationale
verpflichtete sich hingegen, die chine- nem Tag auf den anderen abberufen. System integrieren sollte. Die Reformer
sische Souveränität über Xinjiang anzu- Chinas ideologische und innenpoli- um Deng Xiaoping knüpften mit ihrem
erkennen, das sich in den Wirren des tische Radikalisierung führte in den Ziel, China in einen reichen und mäch-
antijapanischen Krieges kurzfristig un- Jahren danach weiter in die außenpo- tigen unabhängigen Staat zu verwan-
ter dem Namen „Ostturkestan“ für un- litische Isolation. In der so genannten deln, explizit an die Visionen der Refor-
abhängig erklärt hatte. Kulturrevolution ab 1966 wurde eine mer des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
Der Koreakrieg, der nur drei Monate ganze Generation junger Chinesen an. Das (nationalistische) Geschichts-
später (im Juni 1950) ausbrach, stellte den Mobilisierungsexperimenten und bewusstsein der chinesischen KP-Elite
das neue Bündnis auf eine erste Probe. den Autarkiephantasien Mao Zedongs prägte den Reform- und Öffnungskurs
China unterstützte den Angriff Nord- und seiner Verbündeten in der Führung von Anfang an – eine in der westlichen
koreas auf Südkorea mit über 200.000 der Kommunistischen Partei Chinas ge- Öffentlichkeit gern übersehene Tatsa-
Soldaten. Dies hatte zur Folge, dass opfert. Strategisch und sicherheitspoli- che. Deng Xiaoping selbst bemerkte
die USA ihre 7. Flotte in die Straße von tisch geriet China in die Gefahr einer einmal in einem Gespräch, dass His-
Taiwan schickten und damit alle Pläne Konfrontation mit beiden Supermäch- toriker, sollten sie einst die Geschichte
zur Eroberung Taiwans langfristig ver- ten. des 20. Jahrhunderts schreiben, Maos
eitelten. China wurde zum Objekt US- Zu Beginn der 1970er Jahre brach die Revolution nur als Vorspiel zu der wirkli-
amerikanischer Wirtschaftssanktionen maoistische Führung allerdings auf chen Revolution begreifen würden, die
und Eindämmungspolitik in Ostasien: spektakuläre Weise aus der weltpoli- Deng selbst 1978 gestartet hatte.
Japan, die Philippinen, Südkorea, Tai- tischen Isolation aus. Im Februar 1972 In seiner auf longue durée angelegten
wan und später Südvietnam wurden zu kam es zu dem legendären Besuch des Betrachtung ging es darum, die Isola-
amerikanischen Militärposten, die in US-Präsidenten Richard Nixon in Chi- tion und Abschottung Chinas von der
Ost- und Südostasien eine breite an- na und zum Abschluss des sogenann- technologischen und wirtschaftlichen
tikommunistische Front bildeten. Fast ten Shanghai-Kommuniqués, das Chi- Entwicklung in der Welt ein für allemal
alle zwischenstaatlichen Kontakte der na als gleichwertigen Akteur in Ost- zu beenden, alle ideologischen und
USA mit China wurden bis Ende der asien anerkannte und die Differenzen politischen Blockaden für ungehemm-
1960er Jahre abgebrochen. Der in Eu- in der Taiwan-Frage zurückstellte.19 tes Wirtschaftswachstum im Inneren zu
ropa nach 1945 begonnene Kalte Krieg Maßgeblich dafür war die Erkenntnis überwinden und eine neue historische
setzte sich in Ostasien fort und drückte der maoistischen Führung, dass China Epoche einzuleiten, in der China erneut
auch den chinesisch-westlichen Bezie- gegenüber der Sowjetunion in die De- zu Weltgeltung gelangen sollte. Das
hungen seinen Stempel auf. fensive geraten war und dass dieses eingangs erwähnte Motiv der „Rück-
Innenpolitisch gab der Koreakrieg das Ungleichgewicht nur mithilfe der USA kehr“ kommt hier zur Geltung.
Signal zu einer breit angelegten De- geändert werden konnte. US-Präsident Im Rahmen dieser strategischen Grund-
nunziations- und Repressionskampag- Nixon und Außenminister Henry Kis- ausrichtung trat China schon 1979 der
ne gegen die „Konterrevolution“, an de- singer wiederum wollten China in eine Weltbank und dem Internationalen
ren Ende Millionen Menschen starben. regionale Lösung zur Beendigung des Währungsfonds (IWF) bei, um von den
In dieser Zeit wurde das seit der Mit- Vietnamkriegs einbeziehen und welt- Transferleistungen zu profitieren. In den
te des 19. Jahrhunderts gewachsene politisch als Gegengewicht gegen die 1980er und 1990er Jahren wurde Chi-
dichte Netz aus westlich-chinesischen Sowjetunion einbinden. Zuvor war im na zum größten Empfänger von beson-
Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kul- Oktober 1971 die Volksrepublik China ders günstigen, fast zinslosen Krediten
turkontakten radikal zerschlagen und in die Vereinten Nationen aufgenom- (soft loans) und anderen Kapitalhilfen
durch eine ebenso radikale Ausrich- men worden; sie nimmt seitdem einen der Weltbank. Parallel zu der wach-
tung auf das sowjetische Entwicklungs- ständigen Sitz im Fünfergremium des senden Verflechtung mit der Weltwirt-
modell ersetzt. 18 Sicherheitsrats ein. 20 schaft verstärkte China seine Präsenz
Ab 1956, mit Beginn der Entstalinisie- Chinas Öffnung begann somit schon in zahllosen Foren und Unterorganisa-
rung in der Sowjetunion, begannen in den frühen 1970er Jahren; diplo- tionen der Vereinten Nationen: Seine
sich tiefe Risse in der chinesisch-sowje- matische und Handelsbeziehungen mit Mitarbeit dort wird als konstruktiv und
tischen Freundschaft abzuzeichnen. Die dem Westen intensivierten sich, wäh- kooperativ eingeschätzt.
„Tauwetterpolitik“ in der durch 40 Jahre rend die Beziehungen mit der Sowjet- Auf internationaler Ebene konnte China
leninistisch-stalinistische Herrschaft er- union und den Ostblockstaaten für fast – trotz einer kurzen Phase der Isolation
schöpften Sowjetunion gefährdete den ein Jahrzehnt auf niedrigstem Niveau nach der gewaltsamen Niederschla-
Machtanspruch der radikalen Fraktion stagnierten. Im so genannten strategi- gung des Studentenaufstands auf dem
in der Kommunistischen Partei Chinas schen Dreieck zwischen den USA, der Platz des Himmlischen Friedens im Juni
um Mao Zedong, die strikt am Primat Sowjetunion und China blieben jedoch 1989 – deutlich an Legitimation gewin-
der Ideologie festhielt. Innen- wie au- die USA die eindeutig dominierende nen, sowohl bei den wirtschaftlichen
ßenpolitisch war diese an Kompromis- Macht. Chinas Weltmachtstatus be- und politischen Eliten des Westens als
sen mit den „gemäßigten“ sowjetischen ruhte in dieser Zeit eher auf Fiktion als auch bei den Führungen der Staaten
Kommunisten nicht interessiert. Auch auf Realität. Ost- und Südostasiens. Die Offensive
machtpolitisch ließen sich die Interes- der chinesischen Diplomatie seit Mitte
sen der Sowjetunion und Chinas nicht der 1990er Jahre, die von einem kon-
mehr auf einen Nenner bringen: Die Von der Ablehnung zur Akzeptanz tinuierlichen Wirtschaftswachstum und
Sowjetunion suchte nach einem Arran- des internationalen Systems einem geschärften Bewusstsein für die
gement mit den USA, um einen Nukle- (1979–2008) Vorteile von „soft power“ getragen ist,
arkrieg zu verhindern; China hingegen hat dazu entscheidend beigetragen.
wollte zunächst selbst (mit sowjetischer Erst der Tod Maos 1976 und der Beginn Rechtlich ist China mit dem Beitritt
Hilfe) Atommacht werden und den Sta- der Reform- und Öffnungspolitik im De- zur Welthandelsorganisation (World
tus quo zu seinen Gunsten verändern. zember 1978 erzeugten schließlich jene Trade Organization/WTO) 2001 stär-
1960 kam es zum Bruch: Die wirtschaft- wirtschaftliche und politische Dynamik, ker denn je in die internationale Ord-

178
nung integriert; allerdings erhöht sich die Äußere Mongolei wurde 1945 un- G
D
EIESCH
C
IH
DTEC
RHN
IE
DIE
SICH
W
- ESTC
LGESCHICHTE
IHEN
BEZEIHUNGEE
N
Ü
I:BERBC
LIKG
D
EIESCH
C
IH
DER
DTEC
RHN
I ESICH
CHINESISCH-
W
- ESTC
LIHEN
BEZEIHUNGEE
N
Ü
I:BERBC
LIK
mit dem besseren Zugang zu Ressour- abhängig, geriet dann unter den Ein- WESTLICHEN BEZIEHUNGEN:
cen (Märkten/Investitionen) auch der fluss der Sowjetunion und sieht sich EIN ÜBERBLICK
Druck hin zu Transparenz und politi- heute mit der starken wirtschaftlichen
scher Berechenbarkeit. Wie schon im und kulturellen Ausstrahlung Chinas
19. und 20. Jahrhundert steht China konfrontiert. So ging ironischerweise Katalog zur Ausstellung der Berliner Festspiele
heute weiterhin vor der Aufgabe, sei- Chinas erfolgreiche Selbstbehauptung GmbH im Martin-Gropius-Bau Berlin. 12. Mai bis
ne Selbstbehauptung (gegenüber dem gegen den westlichen Imperialismus 18. August 1985. Redaktion: Hendrik Budde/
Christoph Müller-Hofstede. Berlin 1985.
Westen in einer globalisierten Welt- mit einer partiellen Restauration seines 6 Adrian Hsia (Hrsg.) (1985): Deutsche Denker
ordnung) und seine Einbindung in die quasi-kolonialen Status in Zentralasien über China. Frankfurt am Main.
Weltordnung zu balancieren. einher. 7 Siehe ausführlicher hierzu: Michael Lackner
Interessanterweise scheint dieser Vor- (2008): Formeln für China? Anmerkungen zu west-
gang mit einer in China in den letzten lichen „master narratives“ über China. Vortrag im
Rahmen einer Ringvorlesung in Bonn am 21 .4.
Ausblick Jahren zu beobachtenden Rückwen- 2008; Manuskript unter: www.meeting-china.de.
dung zur Reichsidee zu koinzidieren, in 8 Karl Marx: Die Revolution in China und Euro-
Es wird deutlich, wie sehr das Leit- der die Grenzen zwischen dem In- und pa. In: Adrian Hsia (Hrsg.) (1985): Deutsche Den-
motiv des modernen chinesischen Na- Ausland verschwimmen und Ansprüche ker über China. Frankfurt am Main, S. 243–253;
hier S. 246.
tionalismus die Beziehungen Chinas eines neuen chinesischen Universalis- 9 Lothar Ledderose (2008): Porzellan: Die erste
mit dem Westen prägt: Der massive mus sichtbar werden. 21 In der Tat gibt Exportlawine aus China. Vortrag im Rahmen einer
Bedeutungsverlust Chinas in Welt- es Belege für ein neues (insbesondere Ringvorlesung in Bonn am 23.6. 2008. Dokumen-
wirtschaft und Weltpolitik wurde bis kulturelles) Selbstverständnis Chinas tiert unter: www.meeting-china.de.
heute zur entscheidenden Erfahrung im 21. Jahrhundert, das an die kaiserli- 10 Jürgen Osterhammel (1989): China und die
Weltgesellschaft. München 1989, S. 47.
aller sich um die Reform Chinas bemü- chen Traditionen des 18. Jahrhunderts 11 Michael Lackner (2004): Anmerkungen zur
henden Eliten. China den Rang einer anknüpft. Unwahrscheinlich erscheint historischen Semantik von China, Nation und chi-
Großmacht wiederzugeben, die regio- aber, dass sich eine „sinozentrische nesischer Nation im modernen Chinesisch. In: Turk,
nal und international anerkannt wird, Weltordnung“ in Asien, wie sie im 18. Horst u.a. (Hrsg.) (2004): Kulturelle Grenzziehun-
gen im Spiegel der Literaturen: Nationalismus,
stand von Anfang an im Mittelpunkt Jahrhundert zeitweilig geherrscht ha- Regionalismus, Fundamentalismus. Göttingen,
sowohl der republikanischen als auch ben mag, wieder restaurieren lässt. S. 323–338.
der kommunistischen Politik. Methoden Dagegen sprechen gute Argumente – 12 Michael Lackner (vgl. Anmerkung 11), S. 327.
und Strategien zur Erreichung dieses nicht zuletzt die fortdauernde militäri- 13 Gudrun Wacker (2006): Chinas „Grand
Ziels wechselten jedoch häufig; west- sche Präsenz der USA in Ostasien, die Strategy“. In: Wacker, Gudrun (Hrsg.) (2006):
Chinas Aufstieg: Rückkehr der Geopolitik? Stif-
liche Ideologien und Theorien dienten Möglichkeit, dass kleinere und mittle- tung Wissenschaft und Politik. Berlin, S.62.
dabei als Rezepte für die „Rettung Chi- re Nachbarstaaten Koalitionen bilden 14 Jürgen Osterhammel (vgl. Anmerkung 10),
nas“, die unter anderem in der maois- und die intensive wirtschaftliche Ver- S. 146; Fußnote 10.
tischen Phase der Volksrepublik Millio- flechtung. Vieles spricht gegen eine 15 Jürgen Osterhammel (vgl. Anmerkung 10),
S. 2–7 ff.; ferner: Oskar Weggel (1998): Vom Ob-
nen Menschenleben forderten. Außen- gleichsam linear verlaufende Restaura- jekt der Weltpolitik zur Unabhängigkeit: China
politisch ist es China zweifellos gelun- tion einer pax sinica. Welche Rolle Chi- und die Weltpolitik (1995–1949). In: Herrmann-
gen, die Territorialverluste aus dem 19. na und die westliche Welt auf der Büh- Pillath, Carsten/Lackner, Michael et al. (Hrsg.)
Jahrhundert wieder weitgehend wett ne der Weltpolitik und Weltwirtschaft (1998): Länderbericht China. (Schriftenreihe Band
zu machen: dies gilt für die kolonia- in den nächsten 20 Jahren tatsächlich 351 der Bundeszentrale für politische Bildung).
Bonn 1998, S. 154–162.
len und quasi-kolonialen Peripherien spielen werden, muss jedoch offen blei- 16 Jürgen Osterhammel (vgl. Anmerkung 10),
Xinjiang und Tibet und für die ehemals ben. Lineare Aufstiegs- und Abstiegs- S. 277.
portugiesischen und britischen Kolo- projektionen sollten ebenso wie popu- 17 Jürgen Osterhammel (vgl. Anmerkung 10),
nien Macao und Hongkong, die 1999 läre historische Parallelen mit Vorsicht S. 330.
18 Beverley Hooper (1986): China Stands Up:
und 1997 an China zurückfielen; nur genossen werden. Ending the Western Presence, 1948–1950. Lon-
UNSER AUTO don.
19 Kay Möller (2005): Die Außenpolitik der
Volksrepublik China 1949–2004. Eine Einführung.
ANMERKUNGEN Wiesbaden, S. 84–85.
20 Es waren die USA, die in den 1940er Jahren
UNSER AUTOR

1 Der Begriff „Westen“ wird hier abkürzend für gegen die Opposition Großbritanniens darauf
die Vielfalt der europäischen, amerikanischen bestanden, China als ständiges Mitglied in den
und ab dem 20. Jahrhundert auch japanischen UN-Sicherheitsrat aufzunehmen. Während Win-
und russischen/sowjetischen Einflüsse in China ston Churchill in seinen Gesprächen mit Roose-
verwendet. Auch der Begriff „China“ steht für eine velt die Chinesen noch als „Chinks“ und „China-
hochkomplexe, plurale und widersprüchliche po- men“ bezeichnete, wollte dieser China zum
litische und kulturelle „Entität“, die sich nicht kul- Freund der USA machen. Siehe: G. John Iken-
turessentialistisch reduzieren lässt. Siehe erhel- berry (2008): The Rise of China and the Future of
lend über die neuen Versuche, China weltpoli- the West. In Foreign Affairs, Heft 1/2008, S. 28.
tisch als „antiwestlich“ zu klassifizieren: Mark 21 Michael Lackner (2007): Kulturelle Identitäts-
Siemons (2008): China und die neue Aufteilung suche von 1949 bis zur Gegenwart. In: Fischer,
der Welt. In: FAZ, 4.10. 2008. Doris/Lackner, Michael (Hrsg.) (2007): Länderbe-
2 Fareed Zakaria (2008): The Post-American richt China. (Schriftenreihe Band 631 der Bundes-
Christoph Müller-Hofstede hat Sino- World. New York, London 2008. zentrale für politische Bildung) Bonn, S. 491–512.
3 Konrad Seitz (2000): China: Eine Weltmacht
logie und Politikwissenschaft in Berlin,
kehrt zurück. Berlin 2000, S. 12.
Peking, Shanghai und Hongkong stu- 4 Siehe ausführlich Michael Lackner (Hrsg.)
diert. Seit 1988 arbeitet er als wissen- (2008): Zwischen Selbstbestimmung und Selbst-
schaftlicher Referent in der Bundeszent- behauptung. Ostasiatische Diskurse des 20. und
rale für politische Bildung in den The- 21 . Jahrhunderts. Wiesbaden 2008; Jonathan
Spence (1998): The Chan’s Great Continent. Chi-
menfeldern China, internationale Bezie- na in Western Minds. London.
hungen/Europa, Migration/Integration 5 Siehe auch: Berliner Festspiele GmbH (Hrsg.)
und Islam. (198): Europa und die Kaiser von China 1240–1816.

179
CHINA – EINE WELTMACHT IM WERDEN

Chinas Aufstieg als Global Player


Xuewu Gu

schon seit 1971 ständiges Mitglied des zu niedrig. Die EU wirft China insbeson-
Das außenpolitisch klar definierte Ziel der UN-Sicherheitsrates, nachdem die Ver- dere vor, ausländische Importeure und
politischen Führung Chinas ist die Rück- einten Nationen Taiwan ausgeschlos- Investoren zu behindern und den Kurs
kehr des Landes in den Kreis der inter- sen hatte.1 Allein diese Position verleiht des Yuan künstlich niedrig zu halten.
nationalen Führungsmächte. Außenpoliti- dem Land mit 1,32 Milliarden Menschen Zudem wurde unlängst Kritik laut, weil
sche Stabilität und internationale Zu- ein erhebliches Machtgewicht zur Be- nach Angaben Brüssels zirka 80 Prozent
sammenarbeit sollen die Kontinuität des einflussung des weltpolitischen Gesche- der in der EU vertriebenen gefälschten
Wirtschaftswachstums garantieren sowie hens. In der Tat hat die Regierung in Bei- Markenprodukte in China hergestellt
die ökonomische Leistungsfähigkeit Chi- jing (Peking) seitdem nie gezögert, die werden.
nas erhalten. Die Einsicht, dass China nur Privilegien einer UN-Vetomacht in An- Einmalig scheinen auch die Dauer und
auf dem Wege der Kooperation mit den spruch zu nehmen, um sich als ebenbür- die Intensität des chinesischen Wirt-
führenden Industriestaaten seine Moder- tige und gleichberechtigte Großmacht schaftsbooms zu sein. Chinas Anteil am
nisierung fortsetzen und damit internatio- gegenüber den Vereinigten Staaten, Welthandel ist von unter einem Prozent
nalen Einfluss gewinnen kann, ist Konsens der Russischen Föderation (vormals der vor 20 Jahren auf heute fünf Prozent an-
unter den Regierungseliten im chinesi-
Sowjetunion) und anderen westlichen gestiegen – mit steigender Tendenz.
schen Politbüro. Xuewu Gu zeigt in seinem
Industriestaaten zu behaupten. Jahrelang anhaltendes ununterbroche-
Beitrag unter anderem am Beispiel der
Olympischen Spiele, dass sukzessive po-
Dennoch ist der Aufstieg Chinas zum nes Wachstum auf einem Niveau von
litische Veränderungen in dem autoritär Global Player ein relativ junges Phäno- jährlich zehn Prozent und mehr hat es
regierten Land aufgrund der Übernahme men. Es ist das ununterbrochene Wirt- bislang noch nirgendwo auf der Welt
internationaler Verantwortung durchaus schaftswachstum von durchschnittlichen gegeben, weder in Europa und Ameri-
möglich sind. Der Beitrag schließt mit der zehn Prozent pro Jahr seit dem Beginn ka, noch in Asien und Afrika. Selbst der
Skizzierung des chinesischen Engage- der von Deng Xiaoping im Jahr 1978 ein- Wirtschaftsboom Deutschlands und Ja-
ments in Afrika. Gerade die chinesische geleiteten Reform- und Öffnungspolitik, pans in der Nachkriegszeit haben die-
Interessenpolitik südlich der Sahara zeigt, welches die Volksrepublik befähigt, glo- ses Ausmaß nicht erreicht.
dass China eine ernstzunehmende Füh- bal und wirkungsvoll zu agieren. Inzwi- Die unmittelbar daraus resultierenden
rungsrolle in der internationalen Staaten- schen gilt China als regelrechtes Kräfte- Entwicklungsleistungen, nämlich die
gemeinschaft bransprucht.  zentrum der Weltwirtschaft und als un- Überwindung der Massenarmut, sind
verzichtbarer Partner bei der Lösung von beachtlich. Der Armutsabbau in den ver-
Problemen mit globalem Ausmaß. gangenen 30 Jahren ist historisch ein-
malig. Millionen Menschen werden jähr-
Chinas Griff nach dem Weltall lich aus der Armut geholt. Zur Bekämp-
Historische Dimension des fung der Armut auf dem Land und zur Si-
Der Eindruck, dass China nicht mehr chinesischen Aufstieges cherung der Nahrungsmittelversorgung
nur eine regionale Großmacht blei- wurde der Agrarhaushalt im Jahr 2008
ben, sondern auch ein Global Player Historisch betrachtet ist Chinas Auf- um fast ein Drittel auf 562 Milliarden Yu-
werden will, wurde durch den erfolg- stieg zu einer führenden Wirtschafts- an aufgestockt. China ist bei der Armuts-
reichen Start seiner dritten Raumfahrt- macht im 21. Jahrhundert ein einmaliges bekämpfung eines der erfolgreichsten
mission am 25. September 2008 erneut Phänomen. Zum ersten Mal in der Ge- Länder der Welt. Es scheint keine Über-
symbolisiert. Im Rahmen dieser Mission schichte erleben wir ein kapitalistisches treibung zu sein, wenn die Weltbank die-
wurde zum ersten Mal ein Aufenthalt Wirtschaftssystem, das unter kommu- se Entwicklung als eine Leistung für die
im Weltall außerhalb des Raumschiffes nistischer Führung realisiert wird. Der Menschheit des 21. Jahrhunderts wür-
durch einen chinesischen Astronauten Schutz des Privateigentums ist in die chi- digt. „Das Reich der Mitte“ ist auf dem
(chinesisch: Taikonauten) durchgeführt. nesische Verfassung eingeschrieben. Weg, den gerade aus der Armut be-
Die Tatsache, dass die Chinesen nun- Wettbewerb als das zentrale Leitprin- freiten Menschen einen „kleinen Wohl-
mehr in der Lage sind, sowohl mehrere zip wirtschaftlichen Handelns hat sich stand“ (xiaokang) zu geben. 800 Milli-
Taikonauten ins All zu schicken, als auch in China längst durchgesetzt. onen Landbewohner sollen noch von
einen Weltraumspaziergang vorzuneh- Eine regelrechte Marktwirtschaft, in Bauern zu „Nicht-Bauern“ gemacht wer-
men, deutet darauf hin, dass sie bald ihr welcher der Staatssektor und das Kapi- den. Ein massiver Urbanisierungsprozess
Ziel erreichen könnten: die Einrichtung tal privater Unternehmen und ausländi- steht just an. Führende Ökonomen sehen
einer eigenen Raumstation. Die Tage scher Investoren noch um die Dominanz hierin die entscheidende Schubkraft für
der Monopolisierung der stationären ringen, entsteht im „Reich der Mitte“. einen noch nachhaltigeren und kräftige-
Weltraumerschließung durch die Verei- Selbst die amerikanische Bush-Adminis- ren Konjunkturschwung Chinas. Es sieht
nigten Staaten und Russland scheinen tration gab neulich zu verstehen, dass so aus, als ob China sich immer noch am
gezählt zu sein. sie bereit sei, China den Status einer Beginn des Booms befindet.
Die Etablierung Chinas als Weltraum- Marktwirtschaft zuzuerkennen. Wenn
nation wird den Prozess seines Aufstie- die US-Regierung tatsächlich ihren Wil-
ges als Global Player beschleunigen len in die Tat umsetzen sollte, würde die „Friedlicher Aufstieg“ im Zeichen
und seine internationale Stellung ver- Europäische Union (EU) unter starken der Globalisierung
stärken. Allerdings ist die Volksrepub- Druck geraten. Für die EU sind die staat-
lik China auf der weltpolitischen Bühne lichen Subventionen in China immer Es ist auffällig, dass der Aufstieg des au-
kein Neuling mehr. Die Volksrepublik ist noch zu hoch und die Markttransparenz toritären China bislang friedlich verlau-

180
fen ist. Offensichtlich ist die Welt durch den ausländischen Kapitalinvestoren CHINAS AUFSTIEG ALS GLOBAL PLAYER
Chinas Aufstieg von einem Agrarland zu Ordnung, Steuervergünstigungen und
einer Wirtschaftsmacht, in der mehr als vor allem eine angemessene Infrastruk-
ein Drittel der globalen Verarbeitungs- tur – also alles, wovon ein Investor nur
kapazitäten konzentriert sind, nicht un- träumen kann. Nicht nur das Timing zwi-
sicher geworden. Weder einen „hei- schen Chinas Öffnung und der Inten-
ßen“ noch einen „kalten“ Krieg haben sivierung der Globalisierung, sondern (BIP) in Höhe von etwa 3.000 Milliarden
die chinesische Wirtschaftsexpansion auch die „Chemie“ zwischen Kommunis- US-Dollar hat Deutschland nur einen
und Machtausdehnung bis jetzt verur- ten und Kapitalisten war stimmig. hauchdünnen Vorsprung vor China, das
sacht, auch wenn Reibungen und Strei- Im Rahmen dieser kommunistisch-ka- 2007 etwa 2.900 Milliarden US-Dollar
tigkeiten präsent sind. Diesen „friedli- pitalistischen „Großkoalition“ ging die erwirtschaftete. 2008 könnte das Jahr
chen Aufstieg“ charakterisierte der ja- technokratische Rechnung auf. Inzwi- sein, in dem Deutschland seinen dritten
panische Verteidigungsminister neulich schen ist das „Reich der Mitte“ ein Welt- Platz an das „Reich der Mitte“ verliert.
in einem Fernsehinterview in Hongkong produktionszentrum geworden. 80 Pro- Dies scheint durchaus möglich zu sein,
damit, dass China zwar die Macht zu zent aller Spielzeuge, die weltweit ge- wenn man daran denkt, dass das zu
einem Angriffskrieg auf Japan, jedoch liefert werden, werden in China produ- erwartende Wachstum Chinas (10 Pro-
nicht den Willen dazu besitze. Für viele ziert. 83,3 Millionen Farbfernsehgeräte zent) fünfmal höher ist als das deutsche
Beobachter – aber auch Betroffene – (2006) und 35,3 Millionen Kühlschränke Wachstum (1,8 Prozent).
scheint die Wahl der Chinesen für einen entstammen chinesischen Produktions-
friedlichen Aufstieg eine beschlossene anlagen (vgl. Tabelle 1 und 2).
Sache zu sein. Der Prozess der Globalisierung hat Chinas unmerklicher Aufstieg
In der Tat resultiert Chinas Entschei- Chinas Stellung in der Weltwirtschaft
dung für einen friedlichen und auf Aus- gleichsam revolutionär verändert. Von Chinas Aufstieg ist in gewissem Sinne
gleich bedachten Aufstieg aus histori- einer randständigen Position aus hat auch öffentlich unauffällig verlaufen.
scher Einsicht, technokratischem Kalkül das Land alle europäischen Staaten mit Nur wenige Fachleute und Chinakenner
und strategischer Klugheit. Die weltpo- Ausnahme der Bundesrepublik über- haben bemerkt, dass chinesische Unter-
litischen Katastrophen, die Japan und holt, um den vierten Platz unter den nehmen an die Weltspitze vorgerückt
Deutschland in der Vergangenheit bei größten Volkswirtschaften der Welt sind. Aus einer Studie der Firma Ernst
der Ausdehnung ihrer Macht gegen den einzunehmen, hinter den USA, Japan & Young aus dem Jahre 2007 geht her-
Willen anderer Mächte herbeigeführt und Deutschland. Aber die Tage für vor, dass China nun zu den drei Spit-
hatten, schreckten offenbar die Regie- Deutschland als drittgrößte Volkswirt- zenländern gehört, die über die meisten
rungselite in Beijing vor einer gewaltsa- schaft scheinen gezählt zu sein. Mit ei- Großunternehmen verfügen. Noch vor
men expansionistischen Politik ab. Die nem Volumen des Bruttoinlandsprodukts 15 Jahren waren die Chinesen eine nu-
Einsicht, dass China nur in Kooperation
mit den führenden Industriestaaten sei- Tabelle 1: Hauptausfuhrgüter 2006 (in Prozent)
ne Modernisierung fortsetzen und da-
mit an Stärke und internationalem Ein- Büromaschinen / EDV 13,9
fluss gewinnen kann, ist Konsens unter Nachrichtentechnik, Radio und Fernsehen 12,8
den Regierungseliten im chinesischen
Textilien und Bekleidung 14,9
Politbüro. Letztlich prägt auch die po-
sitive Einstellung der technokratischen Elektrotechnik 7,5
Regierung – die ihre pragmatische Re- Maschinenbauerzeugnisse 6,1
gierungspolitik optimieren will – ge- Chemische Erzeugnisse 4,6
genüber dem Globalisierungsprozess
Metallerzeugnisse 3,7
die chinesische Politik des „friedlichen
Aufstiegs“. Eisen und Stahl 3,4
Globalisierung wird von der chinesi- Kfz und Kraftfahrzeugteile 2,8
schen Regierung zwar nach wie vor als
ein „doppelschneidiges Schwert“ mit Quelle: Munzinger Archiv
Risiken und Möglichkeiten angesehen.
Jedoch erblickten sie gerade in diesem
Tabelle 2: Produktion ausgewählter Industrieerzeugnisse 2006 und 2007
Prozess die einmalige Chance für Chi-
na, den Anschluss an die Dynamik der
Weltwirtschaft und damit an den Wohl- 2006 2007
stand der Nachbarländer zu erreichen. Rohstahl (Mio. t) 419,1 489,6
Die billigen Arbeitskräfte und das gren-
Walzstahl (Mio. t) 468,9 568,9
zenlose Marktpotential der Milliarden
Einwohner identifizieren das Land als Zement (Mio. t) 1.236,8 1.360,0
einen lukrativen Standort für westliche Kunstdünger (Mio. t) 53,5 57,9
Industrie- und asiatische Tigerstaaten.
Werkzeugmaschinen (1.000 Stück) 573,0 N.N.
So entstand die Politik der Reform bei
gleichzeitiger Öffnung. Die Tür des Lan- Kraftfahrzeuge (Mio. Stück) 7,3 8,9
des wurde gerade in der Zeit geöffnet, Textilgewebe (Mrd. m) 59,9 66,0
in der westliches Kapital, zermürbt durch
den üppigen Sozialstaat im Heimatland Kühlschränke (Mio. Stück) 35,3 44,0
und befreit durch die neoliberalen De- Farbfernsehgeräte (Mio. Stück) 83,8 84,3
regulierungen, den Globus nach neuen PC (Mio. Stück) 93,4 120,7
Investitionschancen absuchte. Die chi-
nesischen Kommunisten versprachen Quelle: Munzinger Archiv

181
Xuewu Gu
merische Unbekannte, wenn es um Rang Jahr 2009 erstmalig in den einstelligen
und Ruhm in der Landschaft der großen Bereich sacken, belastet von der sinken-
Konzerne ging. den Nachfrage westlicher Märkte. Tau-
Die Situation hat sich jedoch geändert. sende von Fabriken, die auf den Export
Auf der Liste der 100 größten Unterneh- bauen, stehen vor der Insolvenz, Milli-
men der Welt ist China mit zehn Unter- onen von Arbeiter vor der Entlassung.
nehmen vertreten, hinter den USA (32) Chinas gewaltige Devisenreserven hel-
und Großbritannien (11), aber vor Frank- fen dem Land gegenwärtig nur wenig
reich (8) und Deutschland (7). Auch das weiter, weil der größte Teil in US-Staats-
Ranking international agierender Groß- anleihen angelegt ist. Diese Rücklagen
banken wurde durch Chinas Aufstieg kann Peking derzeit nicht abstoßen,
durcheinander geworfen. Das Land ver- ohne das internationale Finanzsystem
fügt heute mit der ICBC (Industry and noch weiter in Schieflage zu bringen.
Construction Bank of China) über die
größte Bank der Welt. Zu den Top Five
der weltweit größten Bankhäuser zäh- Der hohe Preis des wirtschaftlichen
len drei chinesische Banken. Aufstiegs
Zweifelsohne ist China mächtig gewor-
den, auch unter finanz- und geldpoliti- Chinas Entwicklung jedoch ist asymmet-
schen Aspekten. Mit 1,90 Billionen US- risch. All die „großen Erzählungen“ über
Dollar übertreffen Chinas Devisenreser- seinen Aufstieg bleiben ein Mythos,
ven die Rücklagen aller Industriestaaten wenn die Schwächen dieser Expansion
zusammen. Schätzungsweise sind 70 bis nicht aufgezeigt werden. Es stellt sich die
65 Prozent davon in US-Dollar notier- Frage, ob die Chinesen nicht einen all-
ten Wertpapieren angelegt, meistens in zu hohen Preis für den wirtschaftlichen
Staatsanleihen der US-Regierung. Jede Aufstieg ihrer Nation gezahlt haben und
Umschichtung der Anlagestruktur oder noch zahlen. Diese Frage ist insofern be-
neue Ausrichtung der Anlagepolitik der rechtigt, weil die soziale und ökologi-
chinesischen Regierung in größerem sche Schieflage unverkennbar ist.
Maßstab würde den Weltfinanzmarkt in Soziale Gerechtigkeit und Umweltqua-
erhebliche Bewegung versetzen. Davon lität sinken drastisch, während die Wirt-
wäre auch der Wert des Euro betroffen. schaft prosperiert. Auch der Eindruck,
Sollte die chinesische Zentralbank, aus dass die Chinesen ihre politische Frei-
welchem Grund auch immer, dazu über- heit gegen den materiellen Wohlstand
gehen, US-Dollar massiv zu verkaufen ausgetauscht und damit auf einen we-
oder Euro anzukaufen, würde die eu- sentlichen Bestandteil des modernen
ropäische Währung noch teurer. Diese Lebens verzichtet haben, hält sich hart-
Option bleibt bestehen, unabhängig näckig. Chinas Gini-Index 2 verschlech-
davon, ob China selber von den Kon- tert sich ständig, von 0,16 (1978) auf 0,47
sequenzen seiner eigenen Handlungen (2007). Der gängige alarmierende Wert
profitiert oder darunter leidet. Fest steht sozialer Ungleichheit liegt bei 0,4. Die-
nur: Zum ersten Mal in der Geschichte se Entwicklung deutet darauf hin, dass
ist die chinesische Entwicklung derart die chinesische Bevölkerung massiv da-
eng mit dem Wirtschaftsleben Europas ran gehindert wird, gleichermaßen vom
verflochten, dass der Wert seiner Wäh- Wirtschaftboom zu profitieren.
rung, die Sicherheit der Arbeitsplätze In der Tat führen die städtischen Ein-
seiner Bürgerinnen und Bürger sowie die wohner ein viel wohlhabenderes Leben
Stabilität seiner Konjunktur nicht mehr als die Landbewohner. Das Jahresein-
von dem Land in Fernost getrennt gese- kommen der Beschäftigten in den öst-
hen und analysiert werden können. lichen Küstenzonen ist im Durchschnitt
Das Gleiche gilt für China, das die meis- fast sechsmal höher als im Westen des
ten seiner Produkte auf dem europäi- Landes. Die Kluft zwischen Reichen und
schen Kontinent absetzen und sich somit Armen vergrößert sich dramatisch.
europäischen Veränderungen nicht ent- Dass Chinas Aufstieg zur führenden
ziehen kann. Der Umstand, dass die chi- Wirtschaftmacht zwei Seiten hat, zeigt Veränderungen durch die Olympiade
nesischen Exporte im Kontext der wirt- sich spätestens dann, wenn man be-
schaftlichen Stagnation der USA und denkt, dass die Kosten der Verschmut- Trotz seiner fünftausendjährigen Ge-
der Verlangsamung des Wachstums in zung von Wasser, Luft und Boden etwa schichte und Vergangenheit als Hoch-
Westeuropa seit Mitte 2008 spürbar zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts kultur ist China ein vergleichsweise
zurückgegangen sind, veranschaulicht des Landes ausmachen. Ironischerwei- „junger“ Global Player. Das Land erlebt
das wechselseitig verflochtene Schick- se entspricht diese Prozentzahl just der gegenwärtig einen Reifungsprozess.
sal Chinas, Amerikas und Europas. jährlichen Wachstumsrate der chinesi- Verschiedene Faktoren können diesen
Gerade die Finanzkrise im Herbst 2008 schen Wirtschaft. So gesehen hat China Prozess beeinflussen, beschleunigen,
offenbarte diese Interdependenzen. praktisch nur ein „Nullwachstum“ vorzu- verlangsamen oder sogar zurücksetzen.
Obwohl China als einzige große Volks- weisen. Nicht ohne Grund rangiert das Einer davon ist die Interaktion zwischen
wirtschaft nicht von einer Rezession be- Land auf dem Index der Umweltperfor- China und der internationalen Staaten-
droht ist, sorgte die Finanzkrise auch mance 2008 auf Platz 104 unter den 149 welt. Eine verständnisvolle und gedul-
dort für ökonomische Verwüstungen. Staaten, die die amerikanische Eliteuni- dige internationale Staatenwelt könnte
Das Wachstum wird voraussichtlich im versität Yale untersucht hat. dazu beitragen, dass der chinesische

182
Soldaten marschieren CHINAS AUFSTIEG ALS GLOBAL PLAYER
kurz vor der Eröff-
nung der Olympi-
schen Spiele am er-
leuchteten National-
stadion in Peking vor-
bei. Die erfolgreiche letzten Tag der Veranstaltung haben
Durchführung der die Chinesen um ein mögliches Schei-
29. Olympiade tern des Festes gebangt. Die Angst vor
stärkte das Selbst- einer Blamage im Angesicht der Welt-
vertrauen Chinas. öffentlichkeit wegen technischen oder
Bis zum letzten Tag organisatorischen Versagens war groß.
der Veranstaltung Doch als die olympische Flamme aus
bangten die Chinesen Griechenland in China melancholisch,
um ein mögliches langsam, aber sicher erlosch, begriff
Scheitern. das Milliardenvolk, dass es Geschichte
picture alliance/dpa gemacht hat. Das Gefühl, dass China
in der Lage ist, die größte Sportveran-
staltung der Welt zumindest genauso
gut wie andere führende Industriestaa-
ten ausrichten zu können, erhöhte das
Selbstbewusstsein der Chinesen ge-
waltig. Dieses selbstbewusste China
wird die Welt auch in der nacholympi-
schen Zeit verstärkt, aber positiv spüren,
wenn es darum geht, den Mut zu mehr
Transparenz zu erhöhen.
Auch die Politik des nach wie vor au-
toritär regierten Landes ist durch die
Ausrichtung der Olympischen Spiele
liberaler geworden. Es ist zwar nicht
falsch, wenn aus der Sicht westlicher
Menschenrechtsorganisationen argu-
mentiert wird, dass es dem Westen nicht
gelungen ist, mit Hilfe der Olympiade
China zur Einführung westlicher Men-
schenrechtsstandards und einem Men-
schenrechtsregime gemäß den Konven-
tionen der Vereinten Nationen zu ver-
anlassen. Aber aus chinesischer Sicht
ist das, was während der Spiele mit der
Meinungs- und Pressefreiheit geschah,
ein gewaltiger Fortschritt. Zum ersten
Mal in der Geschichte der Volksrepub-
lik China konnten in- und ausländische
Journalisten derart frei über das Land
und seine Probleme berichten.
Es ist zu erwarten, dass das Regime die
bereits eingeführte Freiheit für die Me-
dien- und Berichterstattung weitgehend
belassen wird. Diese wieder rückgängig
zu machen, würde der pragmatischen
Mentalität der technokratischen Füh-
rung diametral widersprechen. Immer-
Reifungsprozess schneller und positiver rastrukturen – von den gigantischen hin würde eine Rückkehr zur „vorolym-
vorangetrieben wird. Je mehr interna- Sportanlagen über die topmodernen pischen Informationspolitik“ nur mit ei-
tionale Verantwortung China übertra- Flughafenterminals bis hin zu den erst- nem Loyalitätsverlust der chinesischen
gen wird, desto selbstbewusster und klassigen U-Bahnsystemen – enorm ge- Journalisten gegenüber dem Staat und
verantwortlicher wird sich es verhalten. ändert hat. Die durch die Olympischen mit einer Verschlechterung des interna-
Dass die Ausrichtung der Olympischen Spiele im Land herbeigeführten Verän- tionalen Ansehens des Landes möglich
Sommerspiele 2008 letztlich positiv zum derungen haben eher ideellen als ma- sein. Diesen hohen Preis zu bezahlen,
Reifen des Landes beigetragen hat, ist teriellen Charakter. China ist nicht mehr scheint die Parteiführung noch keinen
ein überzeugendes Beispiel dafür. dasselbe Land wie vor der 29. Olympia- Anlass gefunden zu haben.
Die These, dass die Olympiade in Chi- de, auf die das Land sieben Jahre lang Erstaunlicherweise sind die Chinesen
na politisch wie gesellschaftlich keine mit großen Anstrengungen hingearbei- durch die olympischen Spiele auch
Spuren hinterlassen habe, verkennt die tet hatte. nüchterner geworden, wenn es darum
tatsächlichen Veränderungen. Nicht Die erfolgreiche Ausrichtung der Olym- geht, die Einstellung der Welt gegen-
deswegen, weil das Gesicht Pekings pischen Spiele stärkte vor allem das über China zu beurteilen. Insbesondere
sich durch die neu entstandenen Inf- Selbstbewusstsein Chinas. Bis zum bei den relativ gut informierten jungen

183
Xuewu Gu
Chinesen ist zu beobachten, dass sie China rasch seinen Einfluss geltend. Su- tengemeinschaft hat die chinesische
bei der Rezeption des westlichen Chi- dan, Angola und Simbabwe sind nur ei- Führung letztlich veranlasst, der erstge-
nabildes realistischer geworden sind. nige Musterbeispiele hierfür. nannten Option die Priorität einzuräu-
Dass China nicht nur Freunde, sondern Im Fall von Sudan ergab sich für China men. Im Sommer 2007 stimmte China als
auch viele Kritiker, ja sogar entschiede- durch das Zusammenspiel von inneren Vetomacht im UN-Sicherheitsrat dann
ne Gegner in der Welt hat, haben die Unruhen und internationaler Isolation doch einer humanitären Intervention
Chinesen durch die weltweite Unter- des afrikanischen Staates eine günsti- im Darfur-Konflikt zu. Nach jahrelanger
stützung der Exil-Tibeter und die scho- ge Konstellation. Wenn die westlichen Unterstützung des Regimes in Khartum
nungslose Kritik des chinesischen Sys- Staaten es ihren Unternehmen nicht reagierte Peking damit auf die wach-
tems mit großem Schmerz zur Kenntnis untersagt hätten, dort Ölgeschäfte zu sende internationale Kritik.
nehmen müssen. Viele fühlten sich ver- betreiben, läge die Ölindustrie Sudans Der Trend zur Nichteinmischung in die
wirrt, aber noch mehr erkannten, dass noch in der Hand amerikanischer und inneren Angelegenheiten afrikanischer
die Welt in der Tat nicht aus „One world, französischer Ölkonzerne. Ohne den Staaten wird stets dann beibehalten,
one dream“ besteht und die politischen Rückzug der westlichen Unternehmen wenn es darum geht, afrikanische Re-
Bestrebungen Pekings manchmal auf hätten die Chinesen kaum eine Mög- gierungen zur Kooperation zu gewin-
Unverständnis oder sogar Widerstand lichkeit gehabt, in Sudan Fuß zu fassen. nen. Anders als die Kredite westlicher
anderer Nationen stoßen können. Der Sudan hat sich zu einem gewinn- Geberländer sind die chinesischen In-
Diese ernüchternde Erkenntnis ermutigt bringenden Projekt für Chinas Engage- vestitionen und Finanzspritzen nicht an
nicht wenige Menschen in China, sich ment in Übersee entwickelt. Die gesam- politische Konditionen – wie beispiels-
mit der Politik des eigenen Landes kri- te Ölinfrastruktur und Ölproduktions- weise Demokratie, Transparenz und
tisch auseinanderzusetzen und objektiv kette Sudans – von der Erdölgewinnung die Einhaltung von Menschenrechten –
nach den Ursachen der internationa- im Ölfeld der sudanesischen Provinz geknüpft. Die politischen Eliten Afrikas
len Kritik zu suchen. So gesehen kann Kordofan über Raffineriekapazitäten empfangen China daher mit offenen
man durchaus konstatieren, dass das in Khartum bis hin zum Öltransport Armen. Diese Abneigung gegen poli-
chinesische Volk als Ganzes durch die durch die 750 Kilometer lange Pipeline tische Konditionen im Rahmen interna-
intensiven Auseinandersetzungen mit nach Port Sudan an der Küste des Roten tionaler Kooperationen geht teilweise
der Weltöffentlichkeit vor und während Meeres – befinden sich fest unter der auf historische Erfahrungen zurück, die
der Spiele politisch reifer geworden ist. Kontrolle des größten chinesischen Öl- die Chinesen beim Umgang mit west-
Hierin besteht die eigentliche, nicht- unternehmens CNPC (China National lichen Mächten machen mussten. Sie
sportliche, aber dennoch wertvolle Petroleum Corporation). An der staat- begründet sich teilweise auch im Zwei-
Leistung, die die 29. Olympischen Spie- lichen sudanesischen Erdölgesellschaft fel der politischen Eliten Chinas an der
le in Peking gebracht haben. GNPOC (Greater Nile Petroleum Ope- Wirkung und Effektivität internationa-
rating Company) ist China bereits seit ler Sanktionen. Beijing (Peking) vertritt
1996 größter Anteilseigner mit derzeit nach wie vor die Auffassung, dass Sank-
Afrika als Übungsplatz 40 Prozent des Kapitalbesitzes. tionen, die leicht zu Eskalation führen
Durch ihre verspätete Zustimmung für könnten, nur im Ausnahmefalle verhängt
Als „verspäteter“ Global Player sucht die von den Vereinten Nationen initiier- werden sollten.
die Volksrepublik China intensiv nach ten Sanktionen gegen die sudanesische Ein weiteres Motiv für die Zurückhaltung
Regionen, in denen ein geopolitisches Regierung im UN-Sicherheitsrat hat sich der chinesischen Führung gegenüber
Vakuum herrscht, um den chinesischen die chinesische Regierung den Zorn der dem westlichen Modell, Investitionen
Einfluss geltend zu machen. Afrika wur- westlichen Welt zugezogen. Im Sudan- und Maßnahmen der Entwicklungshil-
de hierbei als idealer Übungsplatz ent- Darfur-Konflikt blockierte China, das fe an politische Konditionen zu binden,
deckt, auch wenn das chinesische Enga- 2004 erst einer entschärften Resolution kann auch darin gesehen werden, dass
gement mit den afrikanischen Staaten des Sicherheitsrates zugestimmt hat- sich China in Afrika von den westlichen
auf die 1950er Jahre zurückgeht. Nach te, ein entschiedenes Vorgehen gegen Mächten abheben möchte. In Ango-
dem Ende des Ost-West-Konflikts profi- Khartum. Die Abwägung zwischen der la, dessen größter Handelspartner die
tiert China von der schwachen Präsenz Absicherung der nationalen Energiever- USA sind, hat China inzwischen die
der USA, Europas, Russlands und Japans sorgung und einem Entgegenkommen Chance begriffen und eigenes Profil
in Afrika südlich der Sahara. Die chine- gegenüber der internationalen Staa- gezeigt. Der Einstieg in den von Ame-
sische Politik und Wirtschaft zeigen sich rikanern dominierten Markt in Angola
immer entschlossener, dieses Vakuum war – aufgrund der dortigen Erdöl- und
UNSER AUTOR

rasch zu füllen. Diese Vorgehensweise Diamantenvorkommen – schon immer


resultiert aus der Einsicht chinesischer ein Ziel chinesischer Unternehmen ge-
Eliten, dass eine sich spät industrialisie- wesen. Als sich die Regierung in Luanda
rende Nation als Konkurrent nur dort ei- nach Kreditabsagen durch den Westen
ne Chance hat, wo die Konkurrenz der an Beijing wandte, kam China dieses
etablierten Mächte schwach ist. Kooperationsangebot sehr gelegen.
Daher fühlt sich die Volksrepublik durch Aus chinesischer Sicht wäre eine Ableh-
all die Probleme – Menschenrechtsver- nung der von Angola ersuchten Kredite
letzungen, Krieg, Aids, Hunger, Armut, in Höhe von zwei Milliarden US-Dollar
Korruption, Unterentwicklung, Hitze – ein sträfliches Eigentor mit drei negati-
nicht gestört, über die sich Amerikaner, ven Wirkungen gewesen. Erstens hätte
Europäer und Japaner im Hinblick auf Prof. Dr. Xuewu Gu ist Politikwissen- Beijing einen Imageverlust hinnehmen
Afrika ständig beklagen. Im Gegenteil: schaftler; Promotion 1990 in Bonn, Ha- müssen. Die Gleichsetzung Chinas
Afrika wird von den Chinesen eher als bilitation 1997 in Freiburg; seit 2002 ist durch die Afrikaner mit den USA wäre
Chance denn als Risiko wahrgenom- Prof. Dr. Xuewu Gu Inhaber des Lehr- die unmittelbare Konsequenz einer sol-
men. Dort, wo sich die westlichen Indus- stuhls für Politik Ostasiens und Leiter der chen Ablehnung gewesen. Zum Zweiten
triestaaten zurückgezogen haben oder Sektion Politik Ostasiens an der Ruhr- fürchtete Beijing auch einen Profilver-
noch zögern, sich zu engagieren, macht Universität Bochum. lust: Das Land hätte den Anspruch da-

184
rauf verwirkt, anders als die westlichen China bleibt eine Herausforderung CHINAS AUFSTIEG ALS GLOBAL PLAYER
Geldgeber zu sein. Und drittens drohte
ein erheblicher Marktverlust: Dass die China stellt für den Westen eine ernst-
Ambitionen auf die Ölfelder Angolas zunehmende Herausforderung dar.
durch eine Kreditverweigerung der chi- Das Konzept „friedlicher Aufstieg“ (he-
nesischen Regierung durchkreuzt wer- ping jueqi) zur Weltmacht und damit bleibt China gegenwärtig noch aus-
den könnten, war die größte Sorge chi- die Integration in die Weltwirtschaft geschlossen. Nur aus amerikanischen
nesischer Ölkonzerne. kann durchaus dialektisch verstanden Think-Tanks werden die Stimmen nach
Die chinesische Afrika-Politik ist zwar als werden: Es verkörpert nicht nur die chi- einem Umdenken immer lauter. Von ei-
solche nicht antiwestlich ausgerichtet, nesische Bereitschaft nach nationaler ner G 2-Herrschaft im Sinne einer chi-
verengt aber in der Praxis die politischen Erneuerung bei gleichzeitigem Verzicht nesisch-amerikanischen Führerschaft in
Optionen westlicher Staaten in Afrika. auf militärische Mittel. Es ist ebenfalls Kooperation mit den „zweiten Welt-
Mit ihrer an Konditionen gebundenen als ein Angebot der Volksrepublik Chi- ländern EU, Russland und Indien“ (Fred
Afrika-Politik, die eine Kooperation nur na an die etablierten Mächte zu verste- Bergstein) oder einer G 3-Konstruktion
dann zulässt, wenn die afrikanischen hen: Lasst uns aufsteigen und wir ver- von Amerika, China und Europa (Parag
Partner bereit sind, bestimmte politische sprechen, dies friedlich zu tun. Khanna) ist dort die Rede.
Reformen in Richtung Demokratie und Aus chinesischer Sicht bedeutet „fried- Aus dem europäischen Elitenkreis ist je-
Menschenrechtsschutz durchzuführen, lich“ in diesem Kontext den Willen, die doch noch wenig Kreatives zu hören.
werden die USA und die EU wegen der vorhandene internationale Ordnung, Es herrscht noch kollektives Schweigen
chinesischen Präsenz auf dem Kontinent von der China profitieren will, nicht in auf dem Kontinent – hoffentlich nicht zu
erhebliche Probleme bekommen. Denn Frage zu stellen. China ist in den letz- lange. Der Eindruck, dass Europa dem
mit seiner nicht an Konditionen gebun- ten Jahren allen regionalen und inter- „friedlichen Aufstieg“ Chinas intellektu-
denen Afrika-Politik stellt das „Reich der nationalen Institutionen beigetreten, ell nicht gewachsen wäre, muss durch
Mitte“ eine praktische Alternative zur die diese Ordnung symbolisieren. Dies kreatives Denken und schnelles Han-
Verfügung. Afrikanische Staaten müs- sind Institutionen, die unter amerikani- deln vermieden werden.
sen sich dem westlichen Druck nicht scher und europäischer Federführung
mehr beugen, sondern richten ihren errichtet wurden, um die liberale Wirt-
Blick gen China – wie dies Simbabwe schaftordnung aufrechtzuerhalten: von
unlängst angekündigt hat. Dies ist ein der Welthandelsorganisation (WTO)
Grund, warum von westlichen Ländern, über die Weltbank bis hin zum Interna-
auf deren Kosten die chinesische Of- tionalen Währungsfonds. ANMERKUNGEN
fensive geht, Pekings Vorgehen in Afrika China, erstarkt durch sein Gewicht in
1 Die Generalversammlung der Vereinten Na-
als Unterstützung diktatorisch regierter der Weltwirtschaft, lässt jedoch zu- tionen beschloss am 25. Oktoer 1971, die VR Chi-
Staaten gebrandmarkt wird. Aber auch nehmend erkennen, dass es nicht mehr na als einzig rechtmäßigen Vertreter des chinesi-
reformwillige afrikanische Staaten wür- bereit ist, sich vorhandenen Ordnungs- schen Volkes anzuerkennen und ihre Vertreter in
den es wagen, mit den westlichen Ge- vorstellungen nur zu unterwerfen. Sein den UN-Organen gegen die „nationalchinesi-
berländern über bessere Konditionen Verhalten bei Fragen des Klimawan- schen“ Vertreter auszutauschen. Seit diesem Aus-
tausch der Volksvertretungen ist Taiwan bis heute
zu feilschen, weil sie ständig die Chi- dels, der Energieversorgung, der Ent- nicht mehr in den Vereinten Nationen vertreten.
nakarte als Trumpf in der Hand haben. wicklung des afrikanischen Kontinents, 2 Der Gini-Koeffizient – oder auch Gini-Index
In der Tat haben die westlichen Staaten in der Doha-Runde 3 sowie bei der Be- – ist ein statistisches Maß, das von dem italieni-
wegen der Existenz des „China-Faktors“ handlung des Iran zeigt, dass die chi- schen Statistiker Corrado Gini zur Darstellung
von Ungleichverteilungen entwickelt wurde. Der
einen Teil ihrer Initiative auf dem afri- nesische Führung in vielen globalen Koeffizient kann z.B. als Kennzahl für die Un-
kanischen Kontinent bereits verloren, Zukunftsaufgaben vom Westen abwei- gleichverteilung von Einkommen oder Vermögen
wenn es darum geht, Geschwindigkeit, chende Vorstellungen hat. eingesetzt werden. Der Wert kann beliebige Grö-
Prioritäten und Themen der politischen Im Westen herrscht zwar die Auffas- ßen zwischen 0 und 1 annehmen. Je näher der
und wirtschaftlichen Entwicklung in Af- sung, dass diese Aufgaben ohne eine Gini-Koeffizient an 1 ist, desto größer ist die Un-
gleichheit.
rika zu beeinflussen. An China kommt angemessene Mitwirkung Chinas nicht 3 Als Doha-Runde – oder auch Doha-Entwick-
man heute in Afrika nicht mehr vorbei. wirklich gelöst werden können. Aber lungsagenda – wird ein Paket von Aufträgen be-
China hat augenblicklich einen guten auf politischer Ebene bewegt sich noch zeichnet, welche die Wirtschafts- und Handels-
Ausgangspunkt, muss jedoch einen zu wenig, was zur einen größeren mit- minister der WTO-Mitgliedstaaten auf einer
Konferenz in Doha bearbeiten und bis 2005 ab-
Weg finden, um nicht nur das Wohlwol- wirkenden Rolle Chinas bei der Ge- schließen sollten. Aufgrund unterschiedlicher An-
len der Afrikaner, sondern auch die Zu- staltung einer neuen Weltordnung füh- sichten der WTO-Mitglieder kam es bisher nicht
stimmung des Westens zu erreichen. ren könnte. Vom Kreis der G 8-Staaten zu einem Verhandlungsabschluss.
IMPRESSUM

Die Zeitschrift „Der Bürger im Staat“ wird herausgegeben von der LANDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Baden-Württemberg.
Direktor der Landeszentrale: Lothar Frick
Redaktion: Siegfried Frech, Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Telefax (07 11) 16 40 99–77.
Herstellung: Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG, Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern (Ruit),
Telefon (07 11) 44 06–0, Telefax (07 11) 44 23 49
Vertrieb: Verlagsgesellschaft W. E. Weinmann mbH, Postfach 12 07, 70773 Filderstadt,
Telefon (07 11) 7 00 15 30, Telefax (07 11) 70 01 53 10.
Preis der Einzelnummer: EUR 3,33, Jahresabonnement EUR 12,80 Abbuchung.
Die namentlich gezeichneten Artikel stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion dar. Für unaufgefordert eingesandte Manu-
skripte übernimmt die Redaktion keine Haftung.
Nachdruck oder Vervielfältigung auf Papier und elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit
Genehmigung der Redaktion.

185
CHINAS RASANTE ÖKONOMISCHE ENTWICKLUNG

Grundlagen, Triebkräfte und Perspektiven


des wirtschaftlichen Aufstiegs
Markus Taube

der drittgrößten Handelsnation mit ei- und Triebkräften der chinesischen „Er-
Die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte nem Anteil von gut acht Prozent an den folgsgeschichte“ und der Nachhaltig-
Chinas ist beispiellos und ein erstaunli- Weltexporten und einem der wichtigs- keit der das chinesische „Wirtschafts-
ches Phänomen zugleich. Noch vor eini- ten Gastländer für Direktinvestitionen wunder“ befeuernden Wachstums- und
gen Jahren wurden die chinesischen avanciert. Keine andere Volkswirtschaft Entwicklungsimpulse. Im Zuge einer
Staatsunternehmen als reformunfähig hat je zuvor eine derartig dynamische Annäherung an diese Problemstellung
und marode belächelt, heute beliefert und lang anhaltende Entwicklung wird im Folgenden zunächst die histo-
Chinas Exportwirtschaft die gesamte durchlaufen. Die „Wirtschaftswunder“ rische Ausgangslage dargelegt bevor
Welt mit ihren Produkten. China hat den in Deutschland, Japan und Südostasi- dann der Ideologiewechsel der Ägide
Wandel vom Billiglohnland zum High- en werden durch den chinesischen Auf- Deng Xiaoping und der institutionel-
tech-Standort vollzogen und überrascht schwung klar in den Schatten gestellt. le Wandlungsprozess vom Plan zum
als drittgrößte Volkswirtschaft der Erde Es stellt sich von daher die Frage nach Markt in ihrer die wirtschaftliche Ent-
mit zweistelligen Wachstumsraten. Wo- den spezifischen Rahmenbedingungen wicklung fördernden Funktion näher
her kommt dieser Erfolg? Markus Taube
erörtert, ausgehend vom Scheitern des
maoistischen Entwicklungsmodells über Abbildung 1: Das chinesische „Wirtschaftswunder“ – Expansion von BIP und
die Reformära unter Deng Xiaoping bis
BIP pro Kopf
hin zum Wandel von der Plan- in die so
genannte Sozialistische Marktwirtschaft,
die spezifischen Rahmenbedingungen, 1.500
Entwicklungsimpulse und Triebkräfte
des chinesischen Wachstums, diskutiert
die Einbindung Chinas in die internatio- 1.400 BIP
nale Arbeitsteilung und beschreibt den
Wandel von der „passiven“ Einbindung 1.300 BIP pro Kopf
als „Werkbank der Welt“ hin zu einem
eigenständigeren Wachstums- und Ent-
wicklungspfad. Obwohl Unternehmen 1.200
mit ausländischem Kapitalanteil nach
wie vor die zentrale Stütze der chinesi- 1.100
schen Wirtschaft und ihres Wachstums-
erfolges darstellen, präsentiert sich in
jüngster Zeit ein ökonomisch „gereiftes“
1.000
China auf der Weltbühne. 
900

800
Einführung
700
Seit Beginn der von Deng Xiaoping
eingeleiteten Reform- und Öffnungs-
politik ausgangs der 1970er Jahre hat 600
die chinesische Volkswirtschaft einen
historisch einzigartigen Wachstums- 500
und Entwicklungsprozess durchlaufen.
Zwischen 1978 und 2007 ist das Brut-
toinlandsprodukt (BIP) im Jahresdurch- 400
schnitt um über zehn Prozent ange-
stiegen. Die wirtschaftliche Leistungs- 300
erbringung des Landes insgesamt ist
während dieser 30 Jahre um das Fünf- 200
zehnfache angewachsen; das Bruttoin-
landsprodukt pro Einwohner um mehr
als das Elffache (vgl. Abbildung 1). Bis 100
1978
1979
1980
1981
1982
1984
1985
1986
1987
1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007

zum Jahr 2007 ist die Volksrepublik


China somit von einem armen, unter-
entwickelten Land zur (in Kaufkraftpari-
täten gemessen) drittgrößten Volkswirt- Anmerkung: 1978 = 100. Darstellung basiert auf konstanten, inflationsbereinigten Preisen.
schaft der Erde (vgl. auch Tabelle 1), Daten: Nationales Statistikamt der VR China. Eigene Darstellung.

186
betrachtet werden. Im Anschluss wer- wendung zuzuführen. Über ein gutes GRUNDLAGEN, TRIEBKRÄFTE
den die zentralen Wachstumstreiber Jahrzehnt hinweg war Chinas Kapital- UND PERSPEKTIVEN DES
des chinesischen Aufstiegs vorgestellt. stock nach Maßgabe eines militärstra- WIRTSCHAFTLICHEN AUFSTIEGS
Diese Darstellung wird sodann vertieft tegischen Kalküls gebildet worden und
durch eine ausführliche Diskussion der hatte Ende der 1970er Jahre schließlich
Bedeutung, die Chinas Einbindung in jeglichen Bezug zu den bestehenden
die internationale Arbeitsteilung für die gesamtwirtschaftlichen Knappheitsre- sondern stattdessen das Missverhältnis
wirtschaftliche Entwicklung des Landes lationen verloren. China befand sich zu zwischen der mangelnden Leistungs-
hatte. Die sich in diesem Kontext ab- diesem Zeitpunkt weit entfernt von dem fähigkeit der Volkswirtschaft und den
zeichnenden Verschiebungen hin zu best practice der Weltwirtschaft und materiellen Bedürfnissen der Bevölke-
einer größeren Eigenständigkeit des wies somit substantielles Potential zur rung.
chinesischen Wachstums- und Entwick- Erschließung einer Entwicklungslücke Mit einem Schlag war somit der
lungspfades stehen im Folgeabschnitt im Sinne des Konzepts „nachholenden Schwerpunkt aller politischen Arbeit
zur Diskussion. Der Beitrag schließt mit Wachstums“ auf. Um diese Potentiale vom „Klassenkampf“ verlagert worden
einer Betrachtung der weiterführenden aber auch wirklich umsetzen zu kön- auf die Wirtschaftspolitik. Während
Entwicklungs- und Wachstumsperspek- nen, mussten zunächst die aufgesetzten zuvor ökonomische Zielsetzungen und
tiven der chinesischen Volkswirtschaft. Pfadabhängigkeiten und Systemträg- Rationalitätsüberlegungen einem ideo-
heiten überwunden werden. Dies wie- logisch-klassenkämpferischen Primat
derum konnte nur geschehen im Zuge untergeordnet worden waren, wurden
Die historische Ausgangsposition eines Bruchs mit grundlegenden Wert- nun die Förderung der wirtschaftlichen
vorstellungen und Überzeugungen der Entwicklung und die Ausbildung von
Der Startpunkt des modernen chine- maoistischen Leitideologie. 3 leistungsstarken ökonomischen Struktu-
sischen „Wirtschaftswunders“ liegt ren zum Primat der politischen Arbeit.
letztlich in dem ultimativen Scheitern Die derart herbeigeführte ideologische
des maoistischen Entwicklungsmodells Ideologisches Fundament und Fundierung einer grundlegenden Umge-
begründet. Zum Ausgang der 1970er wirtschaftspolitische Leitbilder staltung des ökonomischen Ordnungs-
Jahre befand sich die chinesische rahmens wurde auf dem 14. Parteikon-
Volkswirtschaft in einem weitgehend Der entscheidende Impuls zum Bruch mit gress im September 1992 durch die
dysfunktionalen Zustand und war nicht der herrschenden Ideologie ergab sich Erhebung des Konzepts der „Sozialisti-
mehr in der Lage, das ökonomische Fun- schließlich mit der Erkenntnis, dass der schen Marktwirtschaft“ zum Leitprinzip
dament bereitzustellen, um Staat und von Hua Guofeng eingeleitete neuer- der ordnungspolitisch-institutionellen
Gesellschaft in die Zukunft zu führen. liche Versuch, mit einer investitionsge- Ausgestaltung der chinesischen Wirt-
China partizipierte auch nicht an den triebenen, schwerindustriell ausgerich- schaftsordnung noch einmal substanti-
wohlfahrtsfördernden Effekten der in- teten Entwicklungsstrategie die ökono- ell ausgeweitet. Im offiziellen Sprach-
ternationalen Arbeitsteilung und war mischen Probleme des Landes zu lösen, gebrauch wurde nun erklärt, dass der
faktisch kein konstituierender Bestand- zu einem grandiosen Scheitern verur- Marktmechanismus lediglich ein Instru-
teil der Weltwirtschaft.1 Nachdem teilt war. ment zur Forcierung der wirtschaftlichen
bereits mit dem katastrophalen Fehl- Unter der Führung Deng Xiaopings Entwicklung sei und keineswegs ein defi-
schlag des „Großen Sprungs nach vorn“ übernahmen Ende des Jahres 1978 nierendes Charakteristikum des Gesell-
(1958–1959) die Volkswirtschaft nach- reformorientierte Kräfte innerhalb der schaftssystems. Auch bei Anliegen einer
haltig geschwächt worden war, war sie Kommunistischen Partei die Macht und marktwirtschaftlichen Wirtschaftsord-
anschließend im Rahmen der „3.-Front- setzten auf dem 3. Plenum des 11. Zen- nung könne und werde in China weiter-
Strategie“ (1964–1979) 2 in Strukturen tralkomitees im Dezember 1978 durch, hin eine sozialistische Gesellschaftsord-
überführt worden, die in keiner Weise dass als Hauptwiderspruch innerhalb nung umgesetzt. Mit dieser revolutio-
geeignet waren, die der Volkswirtschaft der chinesischen Gesellschaft nun nicht nären Umdeutung eines Eckpfeilers der
zur Verfügung stehenden Ressourcen in mehr der Antagonismus zwischen Bour- marxistischen Lehre wurde der Weg frei
effizienter Weise einer produktiven Ver- geoisie und Proletariat definiert wurde, gemacht für den forcierten Aufbau einer
funktionsfähigen Marktwirtschaft. Ideo-
logiegeleitete Debatten über die Kom-
Tabelle 1: Die Weltwirtschaft und ihre Akteure im Vergleich – Absolute Größe patibilität einzelner ökonomischer Re-
nationaler Volkswirtschaften in Mrd. US-Dollar auf Kaufkraftparitätenbasis formmaßnahmen mit den Grundwerten
der sozialistischen Bewegung konnten
Weltwirtschaft 54.980 100,0% nun entfallen. Der ordnungspolitisch-
institutionelle Aufbau einer marktwirt-
EU-25 13.019 23,7
schaftlichen Ordnung konnte nun mit al-
USA 12.376 22,5 ler Kraft angegangen werden.
VR China 5.333 9,7 Mit dieser Ablösung von dem bishe-
Japan 3.870 7,0 rigen Entwicklungskontinuum wurden
unternehmerische Freiräume eröffnet,
Deutschland 2.515 4,6 in denen sich der Prozess dynamischer
Indien 2.341 4,3 institutioneller und realwirtschaftlicher
Großbritannien 1.902 3,5 Entwicklung entfalten konnte.
Frankreich 1.862 3,4
Russland 1.698 3,1 Vom Plan zum Markt
Italien 1.626 3,0
Brasilien 1.585 2,9 Ausgehend von einem gegebenen Satz
an Produktionsfaktoren (Arbeit, Boden
Daten: World Bank, Revision vom Dezember 2007. Eigene Darstellung. (d.h. Umwelt i. w. S.), Kapital) und ei-

187
Markus Taube
nem gegebenen technologischen Ni- verändert werden. Mit der Definition ei- tischen Vorgaben eine Parallelexistenz
veau wird die Leistungsfähigkeit einer nes neuen wirtschaftspolitischen Leitbil- von plan- und marktwirtschaftlichen
Volkswirtschaft in erster Linie von ihrer des ausgangs der 1970er Jahre hatten Ordnungsmechanismen zum Prinzip er-
Befähigung determiniert, diese Produk- die politischen Entscheidungsträger in hob. (Industriebetriebe wickelten ihre
tionsfaktoren möglichst effizient (d.h. Beijing (Peking) grundsätzlich die Vor- Produktion so z.B. zu einem Teil nach
Transaktionskosten sparend) zu kom- aussetzung für derartige Änderungen Maßgabe von Plandirektiven und zum
binieren und im Sinne einer bestmög- geschaffen. Ursprünglich bestand dabei anderen Teil nach den Gegebenheiten
lichen Reduzierung von subjektiv emp- lediglich die Absicht, durch einen partiel- der Marktnachfrage ab.) Diese – ur-
fundener Knappheit einzusetzen. In len Einbau marktwirtschaftlicher Institu- sprünglich wohl keineswegs bewusst
der dynamischen Perspektive tritt dann tionen die Leistungsfähigkeit des beste- entwickelte – Reformstrategie hat letzt-
noch die Befähigung hinzu, bestehende henden zentralverwaltungswirtschaftli- lich entscheidend dazu beigetragen,
Strukturen möglichst schnell und frikti- chen Ordnungssystems zu steigern. Ein dass der chinesische Transformations-
onsarm an Veränderungen in der – öko- Systemwechsel vom Plan zum Markt war prozess, im Gegensatz zu den osteuro-
nomischen – Umwelt anzupassen sowie nicht vorgesehen. Er ergab sich dann päischen und zentralasiatischen Trans-
das erreichte technologische Niveau allerdings „spontan“ aus der Logik des formationsländern, ohne das Phäno-
über die Zeit hinweg immer weiter zu institutionellen Wandels und der sich men einer den Wirtschaftsprozess er-
erhöhen, um so eine immer Ressourcen aufzeigenden Möglichkeiten, durch wei- schütternden Transformationsrezession
sparendere Nutzung der Produktions- terführende Reformen immer neue Wohl- vonstatten gehen konnte. Stattdessen
faktoren zu ermöglichen und Güter zur fahrtspotentiale zu erschließen. ist es gelungen, ein Kontinuum von ins-
Befriedigung von Bedürfnissen zu er- Kern des chinesischen Reform- und titutionellen (Übergangs)-Lösungen zu
stellen, die zuvor nicht realisiert werden Transformationsprozesses war das schaffen, das einen vergleichsweise
konnten. Prinzip eines langsamen Aus- bzw. Ein- friktionsarmen Übergang von zentral-
Das in der Volksrepublik China bis zum blendens institutioneller Arrangements, verwaltungswirtschaftlichen zu markt-
Ende der 1970er Jahre verfolgte zentral- d.h. individuelles Verhalten steuernder wirtschaftlichen Interaktionsstrukturen
verwaltungswirtschaftliche Ordnungs- Regelsätze und Anreizmechanismen, ermöglicht hat. Insbesondere ist es ge-
system war de facto nicht in der Lage, und der Verzicht auf kurzfristig um- lungen, eine schlagartige Entwertung
die in der Volkswirtschaft verfügbaren gesetzte radikale Brüche mit beste- von Human- und Sachkapital zu ver-
Produktionsfaktoren in statischer und henden Strukturen. Dieses phasing-in meiden und dieses stattdessen allmäh-
dynamischer Hinsicht hinreichend effizi- eines neuen Satzes von Institutionen lich umzuwidmen. 4
ent zu kombinieren. Um eine substantiel- erfolgte sowohl durch den langsamen, In diesem Zusammenhang sind auch
le Steigerung der volkswirtschaftlichen graduellen Ansatz der chinesischen staatliche bzw. kollektive Eigentums-
Leistungserbringung zu erzielen, musste Systemtransformation als auch durch rechte nicht mit einem Schlag in Privat-
daher zwangsläufig der institutionelle die Idee eines dual-track-Vorgehens, eigentum überführt worden. Stattdes-
Rahmen der ökonomischen Interaktion das entgegen aller wirtschaftstheore- sen folgte die Eigentumsstruktur dem in

Tabelle 2: Chinas Öffnung zum Weltmarkt

Zeitpunkt Maßnahme
Januar 1979 Einrichtung einer Export-Produktionszone in Shekou (Shenzhen).
Die Provinzen Guangdong und Fujian werden mit Sonderrechten in Hinblick auf Außenhandel und
Mai 1980
die Attraktion ausländischer Direktinvestitionen ausgestattet.
Einrichtung von vier Sonderwirtschaftszonen (Shantou, Shenzhen, Zhuhai [in der Provinz Guang-
August 1980
dong], Xiamen [Provinz Fujian]).
Deklaration von 14 „Geöffneten Küstenstädten“ sowie der Insel Hainan; in einigen derselben wer-
April 1984
den zusätzlich spezielle Economic and Technological Development Zones eingerichtet.
Februar 1985 Öffnung dreier Deltaregionen (Perlfluss-Delta, Yangtse-Delta, Süd-Fujian-Delta).
März 1988 Ausweitung der geöffneten Küstenregion.
Die Insel Hainan wird aus der Provinz Guangdong herausgelöst und zur fünften Sonderwirtschafts-
April 1988
zone erhoben.
März 1991 Einrichtung von 21 High-Tech Development Zones.
1992 Einrichtung weiterer 18 Economic and Technological Development Zones.
Der Shanghaier Stadtteil Pudong wird geöffnet.
Juni 1992 Öffnung von 28 Hafenstädten entlang des Yangtse-Flusses.
Öffnung von 14 Grenzstädten.
März 1993 Einrichtung von 27 weiteren High-Tech Development Zones.
Inländische Regionen erhalten größere Gestaltungsfreiheiten in Hinblick auf ihre Außenwirtschafts-
1994–1996
beziehungen.
Im Kontext der Great Western Development Strategy erhalten westchinesische Provinzen größere Ent-
März 2000
scheidungsgewalten in Hinblick auf ihre Außenwirtschaftsbeziehungen.
China tritt der Welthandelsorganisation (WTO) bei. Beginn der Umsetzung weit reichender Libera-
Dezember 2001 lisierungsmaßnahmen und volkswirtschaftlicher Öffnungsschritte nach Maßgabe sektorspezifischer
Zeitpläne.

Daten: Offizielle Bekanntmachungen. Eigene Darstellung.

188
einem von grauen Märkten und politi- markt hin geöffnet und gleichzeitig vom GRUNDLAGEN, TRIEBKRÄFTE
schen Unternehmern geprägten Muster Rest der Volkswirtschaft abgeschottet UND PERSPEKTIVEN DES
von Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten. wurden. Die Gründung von vier Son- WIRTSCHAFTLICHEN AUFSTIEGS
Erst in dem Maße wie Marktprinzipien derwirtschaftszonen im Jahr 1980 er-
zum dominierenden Ordnungsprinzip füllte genau diesen Zweck (Es handelte
aufgestiegen waren und politische Ak- sich hierbei um Territorien in den Re-
teure an Einfluss auf individuelle Unter- gierungsbezirken Shantou, Shenzhen Neben diesen „intensiven“ Wachstums-
nehmensergebnisse verloren, sind auch und Zhuhai in der Provinz Guangdong impulsen ist in den vergangenen 30
exklusive Verfügungsrechtsstrukturen sowie Xiamen in der Provinz Fujian.). Jahren aber auch die Quantität der der
und private Eigentumstitel umfassend Von der Binnenwirtschaft abgeschottet Volkswirtschaft absolut zur Verfügung
implementiert worden. Diese jahrzehn- wurden sie zu Zollfreigebieten erklärt stehenden Produktionsfaktoren erheb-
telange Ambiguität von Eigentumstiteln und mit weit reichenden Sonderbestim- lich angestiegen. Zwischen 1980 und
hat letztlich keineswegs zu Allokations- mungen zur Attraktion ausländischer In- 2007 ist die Altergruppe der erwerbs-
effizienzen geführt, sondern hat viel- vestoren ausgestattet. Die Befähigung fähigen Bevölkerung (16–65 Jahre) von
mehr aufgrund ihrer jeweils gegebenen derartiger Arrangements, Entwick- 600 Millionen auf 920 Millionen Perso-
zeitpunktbezogenen Anreizkompatibi- lungs- und Wachstumsimpulse aus der nen angestiegen und hat das Angebot
lität die auf der ökonomischen und der Weltwirtschaft in die Binnenwirtschaft des Produktionsfaktors „Arbeit“ erheb-
politischen Ebene positionierten Unter- zu tragen, war allerdings zwangsläufig lich ausgebaut. Auch der Produktions-
nehmerpersönlichkeiten in hocheffizi- sehr beschränkt. Erst mit der sukzessi- faktor „Kapital“ war bei einer Sparquo-
enten Allianzen zusammengeführt. ven Ausweitung der zum Weltmarkt hin te von 30 bis 40 Prozent in mehr als hin-
geöffneten Teilbereiche der Volkswirt- reichendem Maße vorhanden. Kapital
schaft und einer Liberalisierung des Au- war in der jüngeren Geschichte faktisch
Chinas Öffnung zum Weltmarkt ßenhandelsregimes wurde es möglich, niemals ein bottleneck für die wirtschaft-
die entwicklungsfördernde Funktion der liche Entwicklung in China.
Eine der für die Entfaltung des chinesi- internationalen Arbeitsteilung allmäh- Um all die hier angesprochenen grund-
schen „Wirtschaftswunders“ wichtigs- lich zu erschließen (vgl. Tabelle 2). 6 legenden Wachstumstreiber aber auch
ten, aber wohl auch eine der schwie- wirklich mobilisieren zu können, bedurf-
rigsten Dimensionen der institutionel- te China findiger Unternehmer, die ren-
len Neuerung bildete die Öffnung der Wachstumstreiber diteträchtige Projekte aufspürten, die
chinesischen Volkswirtschaft zum Welt- vorhandenen Ressourcen in solchen zu-
markt. Der auf der Grundlage des oben skiz- sammenführten, das ökonomische Ge-
Bis zum Anheben der Reformbewegung zierten Ideologiebruchs und institu- flecht immer weiter ausdehnten und den
Ende der 1970er Jahre war die chinesi- tionellen Wandels angestoßene Pro- Strukturwandel vorantrieben. Derarti-
sche Volkswirtschaft, wie erwähnt, fak- zess wirtschaftlicher Entwicklung und ge Unternehmerpersönlichkeiten sind
tisch vollständig vom weltwirtschaftli- Wachstums in der Volksrepublik China nach dem ideologischen Neuanfang
chen Geschehen isoliert. Faktorallokati- ist wie eingangs dargestellt mehr als be- und dem Beginn der Reformpolitik in be-
on und Güterströme erfolgten losgelöst achtlich. Die Einstufung als „Wirtschafts- deutender Zahl zu Tage getreten. Und
von den auf dem Weltmarkt herrschen- wunder“ ist allerdings irreführend, da viele von ihnen haben ihr Handwerk von
den Knappheitsrelationen (und faktisch der chinesische Wachstumsprozess zum ausländischen und insbesondere Hong-
auch den tatsächlichen ökonomischen einen auf einem sehr niedrigen Niveau konger Managern erlernt.
Knappheiten der Binnenwirtschaft auf einsetzte und zum anderen die Mecha- De facto konnte die chinesische Volks-
der Grundlage eines hierarchisch nismen „nachholenden“ Wachstums wirtschaft während der allerersten
durchorganisierten Planungssystems. zum Tragen gekommen sind, durch die Phase ihrer weltwirtschaftlichen Öff-
Die verbliebenen rudimentären Kon- aufstrebende Volkswirtschaften quasi nung von einem historischen Glücksfall
takte zur Außenwelt wurden durch eine automatisch höhere Wachstumsraten profitieren. Zeitgleich mit der Öffnung
Reihe von „Adapter“-Organisationen 5 erzielen können, als die etablierten, des südchinesischen Perlfluss-Deltas
abgewickelt, die als „Luftschleusen“ zu führenden Wirtschaftsnationen. 7 hatte die Hongkonger Volkswirtschaft
den horizontalen Interaktionsstrukturen Die den chinesischen Wachstumspro- aufgrund steigenden Kostendrucks ein
der Weltwirtschaft fungierten und jegli- zess vorantreibenden Faktoren waren Entwicklungsstadium erreicht, dass ei-
che Übertragung von systemfremden und sind vielfältiger Natur. Schon al- nen grundlegenden Strukturwandel
Informationen und Signalen verhinder- leine durch die institutionelle Umge- erzwang. Die exportorientierte Leicht-
ten. Nur so konnte der Ordnungszusam- staltung der Wirtschaftsordnung sind industrie Hongkongs suchte genau zu
menhang des Binnenmarktes aufrecht- erhebliche Effizienzverbesserung bei jenem Zeitpunkt neue Entwicklungsper-
erhalten werden. – In diesem Umfeld der Allokation und Kombination der spektiven, als sich mit der Öffnung des
mussten Experimente mit einer Öffnung der Volkswirtschaft zur Verfügung ste- direkt angrenzenden festlandchinesi-
der Volkswirtschaft zum Weltmarkt wie henden Produktionsfaktoren ermöglicht schen Perlfluss-Deltas ein kostengüns-
ein Hantieren mit hochtoxischen Giften worden. In diesem Kontext ist u. a. ein tiger Produktionsstandort anbot. Im Er-
wahrgenommen werden. umfassender Strukturwandel vollzogen gebnis konnte so eine win-win Konstel-
Tatsächlich waren die ersten Schrit- worden im Zuge dessen Sektoren mit lation erzielt werden, die es einerseits
te zur Durchbrechung der binnenwirt- relativ geringer Arbeitsproduktivität Hongkonger Unternehmern ermöglich-
schaftlichen Isolation denn auch von (Landwirtschaft) an Gewicht verloren te, ihre bestehenden, grundsätzlich
größter Vorsicht und dem Bestreben und solche mit einer höheren Produktivi- erfolgreichen Geschäftsmodelle mit
geprägt, diese Experimente gegebe- tät (Industrie, Dienstleistungen) gewon- neuen, deutlich verbesserten Kosten-
nenfalls ohne größere Kosten wieder nen haben. Das heißt allein dadurch, strukturen fortzuführen, und es ande-
rückgängig machen zu können. Diese dass Arbeitskräfte von der Landwirt- rerseits festlandchinesischen Akteuren
Interessen konnten am besten durch schaft in die Industrie und letztlich den ermöglichte, innerhalb kürzester Zeit
die Ausweisung von Exklaven erfolgen, Dienstleistungssektor gewandert sind, einen tiefen Einblick in den Weltmarkt,
d.h. Industriezonen auf dem Territorium ist es gelungen, die gesamtwirtschaft- seine Strukturen und Usancen zu neh-
der Volksrepublik China, die zum Welt- liche Leistungserbringung zu steigern. men. Die Lehr-Funktion Hongkongs für

189
Markus Taube

die Ausbildung einer neuen Generati- Akteuren in den Weltmarkt eingeführt nas nicht nur sehr viel langsamer erfolgt,
on von weltmarktorientierten Unterneh- und somit eine entscheidende Funktion sondern in weiten Bereichen auch gänz-
mern in China kann nicht hoch genug für die Einbindung Chinas in die Welt- lich unmöglich gewesen.
geschätzt werden, sind es doch gera- wirtschaft gespielt.
de die fehlenden Kenntnisse über die Die überragende Bedeutung der welt-
Bedarfsstrukturen, Kaufgewohnheiten, wirtschaftlichen Integration für das An- Geborgtes Wachstum? –
spezifischen administrativen Anforde- heben des chinesischen „Wirtschafts- Chinas „passive“ Einbindung
rungen an technische Standards und wunders“ beschränkt sich allerdings bei in die Weltwirtschaft
Qualitätsanforderungen etc. in den Weitem nicht auf diese Ausbildungs-
OECD-Märkten, die Unternehmern aus funktion. Ohne die Einbindung Chinas in Das von Hongkonger Unternehmern
Entwicklungsländern einen eigenstän- die internationale Arbeitsteilung wären im Perlfluss-Delta angestoßene Mo-
digen – nicht von ausländischen Inves- die allokationseffiziente Ausrichtung dell der „passiven“ Einbindung Chi-
toren angeleiteten – Einstieg in diese des Wachstumspfades und die Erschlie- nas in die Weltwirtschaft hat letztlich
erschweren und einen solchen letztlich ßung substantiell höherer Dimensionen Modell gestanden für zwei Jahrzehn-
oftmals verhindern. Vor diesem Hinter- von Wachstumsdynamik kaum möglich te exportorientierten („vertikalen“) En-
grund haben Hongkonger Unternehmer gewesen. Ohne ihre Einbindung in die gagements ausländischer Investoren
eine kritische Masse von chinesischen Weltwirtschaft wäre der Aufstieg Chi- in China. Kern dieses Modells ist die

190
GRUNDLAGEN, TRIEBKRÄFTE
UND PERSPEKTIVEN DES
WIRTSCHAFTLICHEN AUFSTIEGS

Zwischen 1980 und 2007 ist die Alters-


gruppe der erwerbsfähigen Bevölkerung
in China von 600 Millionen auf 920 Millio-
nen Menschen angestiegen und hat das
Angebot des Produktionsfaktors „Arbeit“
erheblich ausgeweitet.
picture alliance/dpa

 parallel zur Exportausweitung massiv


anwachsende Importe von Vorproduk-
ten insbesondere aus Südostasien, ge-
paart mit schnell anwachsenden Han-
delsbilanzdefiziten Chinas gegenüber
diesen Staaten.
In China selber war der Aufstieg zur
„Werkbank“ der Welt zum einen ver-
bunden mit dem Aufbau substantieller
Produktionskapazitäten, die an den
Bedarfsstrukturen des Weltmarktes
ausgerichtet waren und von ausländi-
schen Unternehmungen gesteuert und
kontrolliert wurden und zum anderen,
qua hohen Vorprodukteinfuhren, einem
zunächst vergleichsweise geringen
chinesischen Wertschöpfungsanteil an
den chinesischen Fertigproduktexpor-
ten in die OECD-Märkte.
Wenn die ausländischen Unternehmun-
gen als prozesssteuernde Akteure und
Empfänger der auf den internationalen
Märkten zu erzielenden Renten für ihre
Technologie- und Markenführerschaft in
beachtlichem Maße von der – durch sie
betriebenen! – Integration Chinas in die
internationale Arbeitsteilung profitie-
ren konnten, so hat auch die chinesische
Volkswirtschaft in ihrer eher „passiven“
Rolle in erheblichem Maße von dieser
Konstellation profitiert. Chinesische Un-
ternehmungen haben durch die Vermitt-
lung ausländischer Investoren Kenntnis
von und Zugang zu Geschäftsmodellen
Führungsrolle ausländischer Unter- te sich somit Kaufkraft aus dem Ausland und Produktionsverfahren erhalten, die
nehmungen, die den Standort China „ausleihen“, um eine derartige Expansi- zuvor nicht bekannt waren. Die im Zeit-
aufgrund seiner Produktionskostenvor- on der einheimischen Industrie realisie- ablauf über 600.000 in China gegrün-
teile in ihre Wertschöpfungsketten in- ren zu können. deten Unternehmungen mit ausländi-
tegriert haben, gleichzeitig aber die Im Rahmen dieses Modells der Rollen- schem Kapitalanteil haben nicht nur Ar-
Kontrolle über die im Produktionspro- verteilung ist China zur „Werkbank“ beitsplätze für Dutzende von Millionen
zess eingesetzten Technologien, die der Welt aufgestiegen, wobei sich drei Arbeitskräften bereitgestellt, sondern
Vertriebsstrukturen in den Absatzmärk- zentrale Strukturphänomene mit letzt- auch eine neue Generation von Ma-
ten, die Markenpositionierung etc. in lich globalen Implikationen herausge- nagern, Ingenieuren und Fachkräften
ihren Händen behalten. Absatzseitig bildet haben: ausgebildet, die mittelfristig auch und
ist der exportorientierte Charakter der  massive (Netto)-Zuflüsse ausländi- gerade der einheimischen Industrie zur
in diesem Kontext aufgebauten Indust- scher Direktinvestitionen nach China; Verfügung stehen. Die Bereitstellung
riekapazitäten zu betonen. Angesichts  rapide ansteigende Exporte von Fer- technologischen Know-hows seitens
der geringen Kaufkraft auf dem chine- tigprodukten aus China in die OECD- ausländischer Investoren ist demge-
sischen Binnenmarkt hätte dieser eine Märkte, gepaart mit hohen und wei- genüber keineswegs immer freiwillig er-
entsprechende Angebotsausweitung ter ansteigenden Handelsbilanzüber- folgt, sondern wurde (und wird) seitens
nicht absorbieren können. China muss- schüssen Chinas; der chinesischen Regierung durch ein

191
Markus Taube
Bündel von Maßnahmen erzwungen, sischen Bruttoinlandsprodukts (BIP), ca. versorgt, diese aber nur dank massiver
dass u. a. die folgenden umfasst: 30 Prozent der industriellen Wertschöp- Vorproduktimporte herstellen kann und
 local content-Auflagen und damit fung, und steht für über 55 Prozent der letztlich nur geringe eigene Wert-
Zwang zur Weitergabe von Produk- gesamten chinesischen Exportleistung. schöpfungsanteile beisteuert, wird suk-
tions-Know-how auf vorgelagerten Ihr Anteil an den chinesischen Exporten zessive abgelöst durch eine neue Ex-
Produktionsstufen; von Hochtechnologie-Gütern ist noch portstruktur. Diese wird nun gekenn-
 sektorspezifischer Zwang zur Joint deutlich höher und erreicht in einzelnen zeichnet durch wachsende Wertschöp-
Venture-Bildung mit zum Teil explizit Produktgruppen 100 Prozent. Wichtiger fungsanteile am Endprodukt, eine
ausgewiesenen chinesischen Part- als diese Größenindikatoren sind aber breitere Nutzung inländischer Vorleis-
nern; relative Leistungsindikatoren. Und auch tungen und eine immer geringere Ab-
 sektorspezifische Auflagen zur Grün- hier erweist sich der Sektor der auslän- hängigkeit von Vorprodukten aus Süd-
dung von F&E-Einrichtungen8 gekop- disch kapitalisierten Unternehmungen ostasien und anderen Weltregionen.
pelt an die Vergabe von Geschäftsli- dem inländischen Unternehmenssektor  Einzelne chinesische Unternehmungen
zenzen; weit überlegen. Die Wachstumsdyna- emanzipieren sich von der Führungsrol-
 mangelhafte Durchsetzung von Geset- mik ersterer liegt um das Dreifache über le ausländischer Konzerne und schrei-
zen und Bestimmungen zum Schutz letzteren, was dazu führt, dass auslän- ten nun erstmals eigenständig, mit ei-
geistigen Eigentums. dische Unternehmungen in den letzten genen Geschäftsmodellen, patentier-
Auf diese Weise ist es China gelungen, Jahren bis zu 40 Prozent zum chinesi- ten Technologien und Marken auf die
in überproportionalem Maße techno- schen Wirtschaftswachstum beigetra- Weltmärkte hinaus. Das heißt dem bis-
logisches Know-how aus dem Ausland gen haben. In Hinblick auf die Arbeits- her zu verzeichnenden einseitigen
einheimischen Unternehmen zugäng- produktivität stehen ausländisch ka- Strom von Direktinvestitionen nach Chi-
lich zu machen und zum Aufbau eige- pitalisierte Unternehmungen in einem na hinein wird nun ein zweiter daneben
ner Technologieträger und „national Leistungsverhältnis von 9 zu 1 zum chi- gestellt, der aus China herausführt und
champions“ zu nutzen. nesischen Unternehmenssektor insge- es chinesischen Unternehmungen er-
Der wichtigste Beitrag ausländischer samt bzw. 4 zu 1, wenn nur Unterneh- möglicht, in bislang nicht gekannter
Investoren für die Entwicklung der chi- men des industriellen Sektors betrach- Form aktiv und selbstbestimmt auf den
nesischen Volkswirtschaft dürfte aller- tet werden. Weltmärkten aufzutreten.
dings in der von ihnen angestoßenen Diese offensichtliche Zweiteilung der Während die erstere der hier angeführ-
Ausrichtung der Produktionsstrukturen chinesischen Unternehmenslandschaft ten Entwicklungslinien noch stark mit
an den komparativen Kostenvorteilen in einen leistungsstarken ausländisch der Präsenz ausländischer Investoren in
des Landes sein. Aufgrund ihrer Ex- kapitalisierten Sektor und einen deutlich China korreliert ist und durch diese in er-
portorientierung mussten ausländische rückständigeren einheimischen Sektor heblichem Maße vorangetrieben wird,
(und später dann auch rein chinesi- weist letztlich darauf hin, dass trotz der scheint die neuerlich in schnell wach-
sche) Investoren ihre Produktionsstruk- staatlichen Anstrengungen zur Erzwin- senden Volumina (18,7 Milliarden US-
turen streng an den komparativen Kos- gung eines Technologietransfers ein Dollar im Jahr 2007) zu beobachtende
tenvorteilen ausrichten. Dadurch wurde substantieller spillover von Know-how eigenständige Investitionstätigkeit chi-
nicht nur der (ausländisch kontrollierte) und eine dadurch induzierte Anglei- nesischer Unternehmungen im Ausland
Exportsektor in Richtung der komparati- chung der Produktivitätsniveaus beider eine neue Ära in der Einbindung Chinas
ven Kostenvorteile des Landes gedreht, Unternehmensgruppen nur höchst un- in die Weltwirtschaft einzuläuten.
sondern auch dessen vorgelagerten zureichend stattgefunden hat. Chinas Die Motive chinesischer Unternehmun-
Zulieferindustrien. In einem längerfristi- „passive“ Einbindung in die Weltwirt- gen, sich im Ausland zu engagieren,
gen Anpassungsprozess setzt sich die- schaft würde von daher auch einherge- sind vielgestaltig und tatsächlich nur
ser Ausrichtungsprozess schließlich bei hen mit einem vom Ausland „geborgten“ zum Teil als Ausdruck von „Stärke“ zu
allen grenzübergreifend handelbaren Wachstumsimpuls, der ohne ausländi- interpretieren. Ein wichtiger Beweg-
und nicht-handelbaren Gütern durch. sche Unternehmungen und insbeson- grund, den Sprung ins Ausland zu
Dessen ungeachtet bezeichnet die An- dere einen beständigen Zustrom neuer wagen, liegt letztlich nämlich auch in
reicherung der chinesischen Volkswirt- Direktinvestitionen nicht aufrecht zu er- dem Bestreben, dem exzessiven Wett-
schaft durch Unternehmungen mit aus- halten wäre. bewerb im chinesischen Heimatmarkt
ländischem Kapitalanteil und die durch zu entfliehen, wo in zahlreichen Bran-
diese betriebene rasche Einbindung chen massive Überkapazitäten das
Chinas in die internationale Arbeits- Paradigmenwechsel – China als Marktumfeld prägen und einen enor-
teilung keineswegs eine ungetrübte Er- „aktiver“ Gestalter der Weltwirtschaft men Kosten- bzw. Preisdruck ausüben,
folgsgeschichte. Grund hierfür ist in ers- was letztlich zu unterdurchschnittlichen
ter Linie die nur unzureichende Integra- Die oben skizzierte „passive“ Einbin- Rentabilitäten führt. Von größerer Be-
tion ausländischer Unternehmungen in dung Chinas in die Weltwirtschaft er- deutung sind insgesamt allerdings pro-
den nationalen Wirtschaftsverband. fährt in jüngster Zeit allerdings – jen- aktive, strategische Beweggründe, die
Stattdessen hat sich eine duale Struktur seits der weiterhin bestehenden starken die Elite der chinesischen Unternehmen
herausgebildet, die durch stark diver- Abhängigkeit von leistungsstarken aus- dazu veranlassen, den Sprung in die
gierende Leistungsparameter bei Unter- ländisch kapitalisierten Unternehmun- Weltwirtschaft zu wagen:
nehmungen mit ausländischem Kapital- gen im industriellen Gefüge des Landes  Etablierung chinesischer Markenna-
anteil und rein chinesisch kapitalisierten – weit reichende Veränderungen, die men auf den OECD-Märkten und so-
Unternehmen geprägt ist. Unternehmen dazu beitragen können, den chinesi- mit Erschließung der „markierten Pro-
mit ausländischem Kapitalanteil (und schen Wachstumsprozess auch in den dukten“ erschließbaren profit pools;
hier insbesondere solche mit Investoren kommenden Jahren zu verstetigen. Die-  Förderung von Vertriebsaktivitäten und
aus den OECD-Staaten) stellen die zen- ser Wandlungsprozess wird durch zwei Umgehung von Handelsbarrieren in
trale Stütze der chinesischen Wirtschaft größere Entwicklungslinien gekenn- einem Umfeld weltweit eskalierender
und ihres bisherigen Wachstumserfol- zeichnet: Handelsdispute;
ges dar. Diese Unternehmensgruppe  Das Modell der Werkbank Chinas, die  Verlagerung von Produktionsstätten im
erwirtschaftet ca. 20 Prozent des chine- die Welt mit leichtindustriellen Gütern Vorfeld einer erwarteten deutlichen

192
Aufwertung der chinesischen Wäh- Diese Allianz zwischen sehr ehrgeizi- GRUNDLAGEN, TRIEBKRÄFTE
rung und damit einhergehenden signi- gen Unternehmen und noch ambitio- UND PERSPEKTIVEN DES
fikanten Verschlechterung der preisli- nierteren Regierungsorganisationen – WIRTSCHAFTLICHEN AUFSTIEGS
chen Wettbewerbsfähigkeit chinesi- die mittlerweile auch über substantielle
scher Exportprodukte; finanzielle Mittel verfügen – weckt zu-
 Erwerb von Forschungs- und Entwick- weilen den Eindruck, dass hier eine neu
lungskapazitäten und Innovations- gegründete „China AG“ sehr aktiv dar- können, die ihnen im Rahmen ihrer Ein-
kompetenz, die in China nicht zugän- um bemüht ist, sich die Welt zu erschlie- bindung in die globalen Wirtschafts-
gig ist, zur Stärkung der mittel- bis ßen und diese nach den eigenen Be- strukturen vorgestellt wurden.
langfristigen Wettbewerbsfähigkeit; dürfnissen (um)zugestalten. Tatsächlich Inwiefern dieses Muster „nachholen-
 Sicherung des Zugangs zu Rohstoffen hat China in den letzten Jahren durch der Entwicklung“ auch in Zukunft das
und Ressourcen zur Aufrechterhaltung kombinierte ADI/ODA-Aktivitäten 10 in Wachstum der chinesischen Wirtschaft
der mittelfristigen Versorgungssicher- Afrika und Südamerika in einem Maße wird antreiben können, erscheint zu-
heit in einem Umfeld zunehmender strukturierend auf die Weltwirtschaft nehmend fraglich. Mit wachsender
Konkurrenz um knappe Rohstoffe. eingewirkt, wie es bislang nur den USA Komplexität der anliegenden instituti-
Übergeordnetes Ziel dieser Aktivitäten und westeuropäischen Staaten möglich onellen Strukturen, Geschäftsmodelle,
ist der Einzug chinesischer Unternehmun- schien. So wurden z.B. Investitionen von technologischen Grundlagen und Inter-
gen in die die wichtigsten Gütermärkte Baosteel in brasilianische Eisenerzvor- aktionsmuster wird die Ausrichtung an
der Weltwirtschaft beherrschenden Oli- kommen seitens der chinesischen Re- exogen vorgegebenen Vorbildern und
gopole. Der Shanghaier Joint Venture- gierung mit Entwicklungshilfeprojekten benchmarks immer schwieriger. Allein
Partner von Volkswagen, SAIC, hat so zum Bau einer transkontinentalen Eisen- schon die Identifikation geeigneter Vor-
z.B. bereits kommuniziert, dass das Un- bahntrasse und dem Ausbau eines pe- bilder gestaltet sich immer problemati-
ternehmen innerhalb der nächsten zehn ruanischen Tiefseehafens komplemen- scher; die Adaptation externer Modelle
bis 15 Jahre zu einem der sechs größten tiert. Durch diese Maßnahmen wird – im an lokale Gegebenheiten verlangt im-
Automobilkonzerne aufsteigen und die Vorhof der USA – eine neue Infrastruktur mer größere Anpassungsleistungen.
etablierte „6+3“-Struktur der globalen geschaffen, die an den Rohstoffbedürf- Ein phasing-out des bisherigen „nachho-
Automobilindustrie aufbrechen will. Un- nissen einer expandierenden chinesi- lenden Wachstumsprozesses“ bedeutet
ternehmen wie Baosteel (Stahl), Haier schen Volkswirtschaft ausgerichtet ist. allerdings keineswegs, dass die Wachs-
(„weiße Ware“ 9 ), Huawei (IuK-Technolo- Ähnliche Aktivitäten sind in Afrika zu tumsdynamik der chinesischen Volks-
gien), Lenovo (Computer), TCL (TV-Ge- beobachten, wo China insbesondere in wirtschaft damit verloren gehen müsste.
räte, „braune Ware“) verfügen bereits Angola und im Sudan ökonomische In- Notwendig für eine Fortsetzung der chi-
heute in ihren spezifischen Gütermärk- teressen mit üppigen „Entwicklungshil- nesischen „Erfolgsgeschichte“ ist aber
ten – auch global – über beachtliches feleistungen“ untermauert und eine auf unbedingt eine stärkere Hinwendung
Gewicht und Einfluss und sind auf dem seine eigenen langfristigen Rohstoffbe- zu einem bislang weit untergewichte-
besten Weg, die bestehenden globalen dürfnisse und Exportinteressen ausge- ten potentiellen Wachstumsparameter:
Oligopolstrukturen neu zu gestalten. richtete Infrastruktur schafft. dem inländischen Konsum. Chinas ca.
Die chinesische Regierung, die in star- Aus der Gesamtperspektive betrach- 20 Prozent der Weltbevölkerung reprä-
ken einheimischen Unternehmen eine tet erscheint somit in jüngster Zeit ein sentieren heute nur drei Prozent des glo-
wichtige Voraussetzung für die Durch- ökonomisch „gereiftes“ China auf der balen Konsums. Eine „Normalisierung“
setzung chinesischer Interessen auf der Weltbühne, das aus der bisherigen dieser Relation birgt immenses Wachs-
internationalen, politischen wie ökono- passiven Einbindung in die internatio- tumspotential für die chinesische Volks-
mischen Bühne sieht, ist gerne bereit, nale Arbeitsteilung herauswächst und wirtschaft. Dabei könnte dieser Wachs-
die auf eine Stärkung ihrer globalen nun aktiven Einfluss auf den Weltmärk- tumsfaktor vergleichsweise schnell mo-
Positionierung ausgerichteten Aktivitä- ten gewinnt, der ihm bislang verwehrt bilisiert werden, wenn es gelingt, pri-
ten chinesischer Unternehmer zu unter- geblieben war. Diese Entwicklung stärkt vate Kaufkraft freizusetzen, die derzeit
stützen. Unternehmungen, die sich als den chinesischen Unternehmenssektor noch in Ersparnissen gebunden ist, wel-
staatlicher Förderung würdig erwiesen und die Volkswirtschaft als ganze, die che aus Unsicherheit über die Versor-
haben, können so von einem breiten Abhängigkeiten von den von außen vor- gung im Falle von Alter, Arbeitslosigkeit
Spektrum staatlicher Unterstützungs- gegebenen Strukturen ablegen kann. oder Krankheit gehalten werden. Die
maßnahmen profitieren. Diese umfas- Insgesamt trägt dieser Prozess zu einer Etablierung eines verlässlichen Sozial-
sen u. a. folgende Bereiche: produktiveren Verwendung der Chi- versicherungssystems könnte von daher
 Befreiung von administrativen Aufla- na zur Verfügung stehenden Produkti- entscheidende Bedeutung für die Entfal-
gen im Außenwirtschaftsverkehr; onsfaktoren bei und erhöht zudem die tung der chinesischen Volkswirtschaft in
 Zugang zu subventionierten Kreditlini- Entlohnung derselben durch einen nun- der nächsten Dekade besitzen.
en; mehr erlangten direkten Zugang zu den Mit der Ablösung der bisherigen
 umfassende Steuererleichterungen; profit pools der Weltwirtschaft. Wachstums- und Entwicklungsmuster
 bevorzugten Zugang zu Geschäftsli- wird China in den kommenden Jahren
zenzen; große Anstrengungen zur Stärkung ei-
 materielle und institutionelle Unterstüt- Perspektiven: Die Binnenwirtschaft gener Innovationskapazitäten und der
zung bei der Etablierung eigener Mar- als Wachstumsträger Erlangung „chinesischer“ Schlüssel-
kennamen; technologien und Patente unternehmen
 materielle und institutionelle Unterstüt- Der Volksrepublik China ist es über müssen. Die Wirtschaftspolitik hat sich
zung bei der Entfaltung eigenständi- drei Jahrzehnte hinweg gelungen, die dieser Aufgabenstellung bereits ange-
ger F&E- Aktivitäten; Wachstumspotentiale nachholender nommen und mit einer Ausbildungsof-
 Protektion vor ausländischen Konkur- Entwicklung zu realisieren. Dabei ha- fensive sowie dem Medium to Long-term
renten; ben sich die chinesische Volkswirtschaft Program on Technological and Scientific
 eigenen Direktinvestitionen komple- insgesamt und ihre Unternehmungen Development ein durchaus schlagkräfti-
mentäre Entwicklungshilfeleistungen im Speziellen immer wieder von neuem ges Rahmenprogramm eingerichtet, das
an Drittländer. an Modellen und Vorbildern ausrichten dazu beitragen soll, den Beitrag des

193
Markus Taube
technologischen Fortschritts zum Wirt- schaftlich sinnvolle und aus sich selbst heraus über den „Nachzügler“ höhere Wachstumsraten
schaftswachstum auf bis zu 60 Prozent tragfähige Wirtschaftsstrukturen in Zentral- und realisieren und somit ihren Entwicklungsrückstand
Westchina zu erschaffen. Stattdessen wurden gegenüber den führenden Volkswirtschaften redu-
hinaufzuführen und gleichzeitig die Ab- zieren können, ergibt sich aus dem Solow’schen
diese Regionen in den Folgeperioden mit einem
hängigkeit von ausländischen Techno- übermäßigen Bestand an unrentablen und nicht Ersparnis-Investitionen-Abschreibungs-Nexus. Bei
logieimporten auf unter 30 Prozent zu an den Bedürfnissen einer sich reformierenden einer gegebenen gesamtwirtschaftlichen Sparrate
senken. Bis zum Jahr 2020 soll China au- und öffnenden Volkswirtschaft ausgerichteten kann die Volkswirtschaft umso schneller wachsen,
ßerdem in Hinblick auf die Anzahl der Staatsunternehmen belastet. Der industrielle Kern desto größer der Anteil der Ersparnisse, der in Neu-
der chinesischen Volkswirtschaft überdauerte investitionen fließt und nicht für den Ersatz abge-
in chinesischer Hand befindlichen Pa- demgegenüber in seinen traditionellen Kernge- schriebenen Sachkapitals aufgewendet werden
tentrechte und in der Zahl der interna- bieten in Ost- und Nordostchina, obwohl er über muss. Hoch entwickelte Volkswirtschaften müssen
tionalen Veröffentlichungen zu den fünf ein Jahrzehnt hinweg durch das Ausbleiben von mit zunehmender Reife immer größere Anteile ihrer
führenden Nationen gehören. Diese Ersatzinvestitionen und den Abzug von Maschi- Ersparnis in den Ersatz abgeschriebenen Sachka-
nen deutlich geschwächt worden war. pitals lenken und können somit nur noch immer
Ziele erscheinen überambitioniert, zei- geringere Netto-Neuinvestitionen und damit
3 Das Geflecht ökonomischer Interaktionen
gen aber an, dass die Herausforderun- und dessen Ordnung ist letztlich als Subsystem Wachstumsraten realisieren. Letztlich erreichen sie
gen eines Wachstums jenseits der Ära des gesamtgesellschaftlichen Werte- und Nor- ihren steady state in dem die Ersparnisbildung ge-
des „Nachholens“ sehr wohl verstanden mensystems zu verstehen. Es existiert nicht losge- rade für die Wiederherstellung des verbrauchten
worden sind. löst von anderen Teilbereichen des gesellschaft- Sachkapitalbestands ausreicht. Wachstum kann
lichen Lebens, sondern steht mit diesen in einem nun nur noch durch technologische Innovation und
engen Sinnzusammenhang. Letztlich bedeutet eine produktivere Faktorverwendung realisiert wer-
dies, dass die Ausgestaltung des ökonomischen den. In Summe ergibt sich aus diesen Überlegun-
Systems in erster Linie auf der Ebene der ideolo- gen die Einsicht, dass Volkswirtschaften, die dem
ANMERKUNGEN gisch-religiösen Grundüberzeugungen determi- „ausgetretenen Entwicklungspfad“ der in der Welt-
1 Während der maoistischen Ära war die niert wird. Mittelfristig kommt es dann aber auch wirtschaft führenden Industriestaaten folgen, (a)
Volksrepublik China nur marginal in die internati- zu gegenläufigen Rückkopplungen. geradezu zwangsläufig höhere Wachstumsraten
onale Arbeitsteilung eingebunden. Die Wirt- 4 Um unserer Beispiel weiter zu verfolgen: Ma- werden realisieren können als diese und (b) dieses
schaftsbeziehungen zu den „westlichen“, markt- nager eines Industriebetriebes, die das Unter- Wachstumsdifferential umso größer sein wird, des-
wirtschaftlich organisierten Volkswirtschaften er- nehmen zuvor allein nach Maßgabe der Plandi- to rückständiger die „nachholende“ Volkswirt-
lebten mit Chinas Einritt in den Koreakrieg und rektiven gelenkt hatten, konnten nun in den über schaft.
den anschließenden Boykottmaßnahmen bereits den Markt koordinierten Produktionsteilen gleich- 8 F&E steht für Forschung und Entwicklung
1950, also ein Jahr nach der Gründung der Volks- sam on the job lernen, wie der Betrieb in einem 9 „Weiße Ware“ bezeichnet elektrische Haus-
republik China, einen massiven Einbruch und ver- wettbewerblichen Marktumfeld organisiert und haltsgeräte. „Braune Ware“ bezeichnet Geräte
harrten bis in die 1970er Jahre auf einem minima- gesteuert werden musste. der Unterhaltungselektronik, da diese sich in ver-
len Niveau. Aber auch zu dem unter der Führung 5 Auf realwirtschaftlicher Ebene wurde diese gangenen Jahrzehnten oft durch braune Holzge-
der UdSSR stehenden sozialistischen Block unter- Funktion von 12 staatlichen Außenhandelsgesell- häuse auszeichneten.
hielt China nur während der 1950er Jahre inten- schaften übernommen, während die monetäre 10 ADI: Ausländische Direktinvestitionen; ODA:
sivere Austauschbeziehungen. Mit dem Bruch mit Abwicklung dieser Transaktionen von der Bank of Official Development Assistance.
Moskau 1959/60 kamen auch die Wirtschaftsbe- China abgewickelt wurde.
ziehungen zu dieser Staatengruppe zu einem 6 Dies geschah zunächst durch die Ausweisung
faktischen Stillstand. Zwischen 1960 und dem En- von 14 so genannten „geöffneten Küstenstädten“
de der 1970er Jahre war die Volksrepublik China im Jahr 1984 und die Ausweisung immer größerer
de facto kein konstituierender Bestandteil der Teile des Perlflussdeltas zu einer „geöffneten
globalen Wirtschaftsgemeinschaft und entwi- Wirtschaftsregion“ zwischen 1985 und 1988. In
ckelte sich in Hinblick auf Sektorstrukturen und den Folgejahren wurden immer größere Teile der
technologischen Entwicklungen weitestgehend Volkswirtschaft sukzessive zum Weltmarkt hin ge-
autonom von dieser. Ein Rechnungszusammen- öffnet. Es muss betont werden, dass während der
hang, über den Signale über relative Knapphei- 1980er Jahre die Auflösung des staatlichen Au-
ten zwischen China und der Weltwirtschaft hät- ßenhandelsmonopols noch nicht mit einer umfas-
ten ausgetauscht werden können, existierte senden Außenhandelsliberalisierung einherging.
nicht. Stattdessen wurde ein restriktives System von Li-

UNSER AUTOR
2 Während der ersten Hälfte der 60er Jahre zenzen, Quoten, sowie tarifären und nicht-tarifä-
wurde das internationale Umfeld als der Volksre- ren Handelshemmnissen eingeführt, das die
publik China gegenüber zunehmend feindlich Handlungsparameter stark einschränkte.
und die Möglichkeit eines neuen Krieges als sehr 7 Das Konzept „nachholenden Wachstums“ ba-
wahrscheinlich eingestuft. Mit der 3.-Front-Stra- siert auf der Idee, dass ökonomische Entwicklungs-
tegie sollte daher der traditionellen Ballung öko- prozesse bei aller Idiosynkrasie nationaler Struktu-
nomisch-industrieller Ballungszentren im strate- ren grundsätzlich ähnlichen Pfaden folgen und es
gisch ungünstigen und nur schlecht zu verteidi- somit möglich ist, dass „Nachzügler“ von fortge-
genden Küstenstreifen entgegengewirkt werden. schrittenen Volkswirtschaften und deren Akteuren
Stattdessen sollte im chinesischen Hinterland ei- lernen können. Insofern sie „ausgetretenen Pfaden“
ne neue industrielle Basis errichtet werden, die folgen, d.h. bewährte institutionelle Arrangements,
nach einer möglichen Besetzung des Küstenstrei- erprobte Technologien und Geschäftmodelle über-
fens durch feindliche Truppen einen lang gezo- nehmen sowie gezielte Investitionen in Sach- und
genen Guerillakrieg ermöglichen sollte. Zu die- Humankapital vornehmen, können diese Volkswirt-
sem Zweck wurde mit enormem finanziellen und schaften ihren ökonomischen Entwicklungsprozess Prof. Dr. Markus Taube ist Inhaber des
personellen Aufwand in Zentral- und Westchina mit einem Minimum an risikobehafteten Investitio- Lehrstuhls für Ostasienwirtschaft/China
eine neue Infrastruktur aufgebaut, die allerdings nen, d.h. einem Minimum an Ressourcen verzehren- an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fa-
mangels Güterverfügbarkeit z. T. durch den Ab- den trial-and-error Prozessen, betreiben. Dies er- kultät der Universität Duisburg-Essen
bau bestehender Eisenbahntrassen etc. in ande- möglicht grundsätzlich eine höhere Wachstumsra-
ren Landesteilen versorgt werden musste. In ähn- te als sie in Volkswirtschaften erzielt werden kann, (seit 2000) und Gründungspartner von
licher Art und Weise wurden auch bestehende die an der Spitze der weltwirtschaftlichen Entwick- THINK!DESK China Research & Consul-
Unternehmungen in Ostchina angehalten, unter lung stehen und deren weitere Entwicklung und ting, München-Shanghai, einer auf die
Abstellung eines Teils ihres Maschinenparks und Wachstum auf in hohem Maße risikobehafteten Begleitung von Investoren nach und in
ihrer Belegschaft Zweigfabriken in den 3.-Front- Investitionen in neue Technologien und Geschäfts-
Regionen zu errichten. Die 3.-Front-Strategie ver- modellen sowie, grundlegend hierfür, neuem Wis-
China spezialisierten Unternehmung
lor mit der politischen Annäherung an den Wes- sen und Humankapital basieren. Neben diesem (seit 2004). Nach dem Studium der Si-
ten in der ersten Hälfte der 1970er Jahre ihre auf reduzierten Suchkosten basierenden Impuls für nologie und Volkswirtschaftslehre in Trier
wirtschaftspolitische Sonderstellung, wurde je- beschleunigtes Wachstum können „Nachzügler“ und Wuhan (VR China) sowie der Pro-
doch erst 1979 endgültig aufgegeben. In ihrem zudem von einer potentiell sprunghaft steigenden motion an der Ruhr-Universität Bochum
wirtschaftsstrukturellen Ergebnis muss die Arbeitsproduktivität profitieren, die auf sektoralem
3.-Front-Strategie als gescheitert bewertet wer- Strukturwandel basiert und dessen Wachstumsim- war Prof. Taube zunächst als Wissen-
den. Bedingt durch das militärstrategische Primat pulse die führenden Volkswirtschaften bereits wei- schaftlicher Referent am ifo Institut für
ist es nicht gelungen, betriebs- oder volkswirt- testgehend ausgeschöpft haben. Ein weiterer Effekt Wirtschaftsforschung (München) tätig.

194
SOZIALE WIDERSPRÜCHE UND UNGLEICHGEWICHTE

Die soziale Kehrseite des chinesischen Aufstiegs


Heinrich Kreft

Exportwachstumsraten. Chinesische Die beeindruckende wirtschaftliche


Die ökonomische Entwicklung Chinas ist Firmen sind in die Weltliga aufgestie- Entwicklung Chinas hat eine weniger
zweifelsohne dem Aufbau einer „Gesell- gen und exportieren nicht nur, sondern bekannte Kehrseite. Diese ist geprägt
schaft mit bescheidenem Wohlstand“ treten auch selbst als Investoren im Aus- von großen und weiter wachsenden
näher gekommen. Allerdings hat sich land auf. Dieser ökonomische Aufstieg Herausforderungen. Auf der einen Sei-
das Ziel, eine egalitäre Gesellschaft hat zwangsläufig zu einem weiteren po- te ist es der chinesischen Führung dank
schaffen zu wollen, in den letzten Jahren litischen Aufstieg Chinas zu einer Macht 25 Jahren ununterbrochenen Wachs-
ins Gegenteil verkehrt. Die rapide Mo- mit nicht nur regionalen, sondern glo- tums gelungen, ihrem Ziel – dem Aufbau
dernisierung Chinas hat zu sozialen balen Ambitionen geführt. China ist ei- einer „Gesellschaft mit bescheidenem
Widersprüchen und gesellschaftlichen ne Weltmacht im Werden. Doch dieser Wohlstand“ – näher zu kommen. Das
Ungleichgewichten geführt. Die Un- Aufstieg hat immer sichtbarer werdende nominale Pro-Kopf-Einkommen, das
gleichverteilung der Einkommen verstärkt Schattenseiten, deren Analyse im Fokus erst im Jahr 2002 die Grenze von 1.000
die Disparitäten zwischen Stadt und dieses Beitrags steht. US-Dollar überschritten hat, liegt in-
Land, so dass der Anschluss der ländli-
chen Bevölkerung an die Wirtschaftsent-
wicklung zusehends in Gefahr gerät.
Zunehmende Landflucht, Millionen von
Wanderarbeitern, hohe Arbeitslosigkeit
sowie mangelnder Arbeits-, Unfall- und
Versicherungsschutz sind weitere Ver-
werfungen dieser ökonomischen Dyna-
mik. Hinzu kommen die Auswirkungen
des demographischen Wandels, der
auch in China die bescheidene Altersver-
sorgung kollabieren lässt. Die sozialen
Schattenseiten dieser Entwicklung haben
in den letzten Jahren zu einem Anstieg
von Massenprotesten geführt. Die politi-
sche Führung Chinas muss – so das Fazit
des Beitrags von Heinrich Kreft – geeig-
nete soziale Maßnahmen und Aufstiegs-
chancen für die Verlierer des Moderni-
sierungsprozesses schaffen, wenn sie
der wachsenden Erosion ihrer Legitimität
begegnen will. 

Die Schattenseiten der


chinesischen Erfolgsstory

Mit beeindruckender Geschwindigkeit


ist China dank seines ökonomischen
und politischen Aufstiegs von der Peri-
pherie ins Zentrum der Weltwirtschaft
und der Weltpolitik gerückt. China ist
inzwischen zur viertgrößten Volkswirt-
schaft – nach den USA, Japan und
Deutschland – aufgestiegen und hat im
Jahr 2007 mit 11,4 Prozent erneut das
mit Abstand höchste Wachstum unter
den großen Volkswirtschaften erzielt.
Trotz der von den US-Finanzmärkten
ausgehenden und auch die chinesische
Exportwirtschaft treffende globale Kon-
junktureintrübung, wird Chinas Volks-
wirtschaft auch im Jahr 2008 kräftig
wachsen. China ist inzwischen zur dritt-
größten Handelsmacht der Welt auf-
gestiegen: Sein Anteil am Welthandel
ist von unter einem Prozent vor 20 Jah-
ren auf heute fünf Prozent angestiegen Ein Wanderarbeiter bietet am Straßenrand seine Dienste als Klempner an.
– Tendenz steigend dank zweistelliger picture alliance/dpa

195
Heinrich Kreft
zwischen bei 2.360 US-Dollar. Auf der Prozent mit dem niedrigsten Einkommen Bevölkerung und für die anhaltende
anderen Seite hat die rapide Moderni- etwa das Vierfache. Dieser Unterschied Landflucht. Die ländlichen Wirtschafts-
sierung Chinas bestehende innere Wi- ist inzwischen auf fast das 13-fache ge- reformen verringerten vor allem in der
dersprüche akzentuiert und zu neuen stiegen. Verfügten die 20 Prozent mit Anfangsphase die Armut auf dem Lan-
Herausforderungen geführt. Das sich dem höchsten Einkommen im Jahr 1990 de beträchtlich. So sank – nach chine-
verschärfende innere Problempotential zu Beginn der Reformen über etwa 39 sischen Kriterien – die Zahl der absolut
besteht unter anderem in einer ständi- Prozent des Gesamteinkommens, liegt Armen von 250 Millionen in 1978 auf
gen Gratwanderung zwischen hohem dieser Wert inzwischen bei über 80 Pro- 21,5 Millionen im Jahr 2006, womit Chi-
Wachstum und Überhitzung, massiven zent. Das United Nations Development na bei der Armutsbekämpfung eines der
gesellschaftlichen Ungleichgewichten, Program (UNDP) gibt die Einkommens- erfolgreichsten Länder der Welt ist. 5 Die
bis zu 200 Millionen Wanderarbeitern diskrepanz zwischen der obersten und Armutsgrenze ist in China mit 683 Yuan
und hoher Arbeitslosigkeit sowie fortge- der untersten Zehn-Prozent-Gruppe mit (etwa 62 Euro) pro Person und pro Jahr
setzter Zerstörung natürlicher Lebens- 11 zu 1 an 2 , so dass jetzt selbst offizielle allerdings niedrig angesetzt. Weitere
grundlagen. chinesische Stellen von einer bedrohli- 35,5 Millionen Chinesen müssen mit ei-
Hinzu kommen wachsende soziale Pro- chen Ungleichverteilung der Einkommen nem Jahreseinkommen von weniger als
teste, Probleme bei der Implementie- sprechen. Da ein Großteil der Einkom- 958 Yuan (etwa 87 Euro) auskommen.
rung von Politik und modernem Recht, men statistisch nicht erfasst wird, dürf- Nimmt man die von den Vereinten Na-
sowie eine systemische Korruption. Die ten die Einkommensunterschiede in der tionen definierte Armutsgrenze von ei-
Kommunistische Partei tut sich immer Realität noch wesentlich höher sein. nem Dollar pro Tag zum Maßstab, er-
schwerer, diese Entwicklungen zu steu- Zwar geht es heute auch den 737 Millio- höht sich die Zahl der in absoluter Armut
ern und zu kontrollieren. Die Folge ist nen Bauern und der Landbevölkerung in lebenden Chinesen auf 120 bis 135 Mil-
eine wachsende Erosion der Legitimität Zentral- und Westchina besser als je zu- lionen Menschen. Auch in den Städten
der führenden Stellung der Kommunis- vor, doch mit einem durchschnittlichen leben 27,7 Millionen Menschen unter-
tischen Partei. Bis weit hinein in hohe Jahreseinkommen von 374 Euro lassen halb des Existenzminimums.
Hierarchien reichen die internen Dis- sich auch in China nur die lebensnot- Trotz des beachtlichen Wachstums der
kussionen darüber, inwieweit die Partei wendigsten Ausgaben bestreiten. Den ländlichen Einkommen geht die Einkom-
noch in der Lage ist, die Administrati- 120 bis 135 Millionen Chinesen, die mit mensschere zwischen ländlichen und
on zu dirigieren. Trotz der Erfolge und einem Dollar am Tag auskommen müs- städtischen Einkommen schon seit vielen
Anpassungsfähigkeit der Kommunisti- sen, stehen 320.000 chinesische Dollar- Jahren auseinander. Nach offiziellen
schen Partei Chinas bleibt offen, ob ein Millionäre 3 gegenüber. Dank letzterer Angaben lag das durchschnittliche Pro-
in die Weltwirtschaft integriertes Land hat sich das Land zu einem boomenden Kopf-Jahreseinkommen der städtischen
auf Dauer unter der Führung einer leni- Markt für teure Autos und andere Luxus- Bevölkerung 2007 bei 13.786 Yuan (et-
nistischen Kaderpartei möglich ist. importe entwickelt. wa 1.245 Euro), während die ländlichen
Die Unternehmensberatung McKinsey Einkommen mit 4.140 Yuan (etwa 374
kommt in einer Studie zu dem Ergebnis, Euro) nur bei weniger als einem Drittel
Wachsende soziale Differenzierung dass derzeit 22 Prozent der 190 Millio- davon lagen. Städtische und ländliche
nen städtischen Haushalte in China zur Einkommen entwickelten sich auch 2007
Im Rückblick haben die Wirtschaftsre- Mittelschicht zu zählen sind, und zwar weiter auseinander. Der vom UNDP er-
formen in China zu erheblichen sozia- 9,4 Prozent zur oberen Mittelschicht stellte Human Development Index, der
len Verwerfungen geführt. Die Früchte (40.000 bis 100.000 Yuan Jahresein- neben materieller Versorgung auch Bil-
der wirtschaftlichen Entwicklung sind kommen) und 12,6 Prozent zur unteren dungs- und Gesundheitsindikatoren mit
sehr ungleich verteilt, was sich an dem Mittelschicht (25.000 bis 40.000 Yuan einbezieht, zeigt, dass die Stadt-Land-
aktuellen Gini-Koeffizienten 1 von 0,496 Jahreseinkommen). McKinsey geht da- Disparitäten über die 1990er Jahre nicht
ablesen lässt: China hat sich innerhalb von aus, dass im Jahre 2025 59,4 Pro- verringert werden konnten und von 1997
von 25 Jahren von einer der egalitärsten zent der dann 373 Millionen städtischen bis 2002 sogar gewachsen sind. 6 Hin-
Gesellschaften zu einer der ungleichs- Haushalte zur oberen Mittelschicht und zu kommt die regionale Unausgewo-
ten entwickelt. Die reichsten zehn Pro- weitere 19,8 Prozent zur unteren Mittel- genheit der Wirtschaftsentwicklung.
zent der Bevölkerung besitzen 45 Pro- schicht gehören werden. 4 So liegt das Pro-Kopf-Einkommen in der
zent des Volksvermögens, die ärmsten am weitesten entwickelten Küstenregi-
zehn Prozent dagegen nur 1,4 Prozent. on etwa doppelt so hoch wie in Zent-
Die wachsende soziale Ungleichheit Stagnation der ländlichen ralchina. Chinas ländliche Bevölkerung
und gewaltige Einkommensunterschie- Entwicklung droht den Anschluss an die allgemeine
de zeigen sich insbesondere zwischen dynamische Wirtschaftsentwicklung zu
Stadt und Land, aber auch innerhalb Noch immer leben 56,1 Prozent der Be- verpassen. Dieses ist nicht nur mit der im
der städtischen und ländlichen Schich- völkerung auf dem Lande. Einkommens- Vergleich zu den städtischen Industrie-
ten. 1990 betrug die Einkommensdiffe- unterschiede zwischen Stadt und Land sektoren langsamer steigenden Produk-
renz zwischen den 20 Prozent der Be- sind ein wichtiger Faktor für die Unzu- tivität in der Landwirtschaft zu erklären,
völkerung mit dem höchsten und den 20 friedenheit großer Teile der ländlichen sondern auch mit dem Abbau staatlicher

Tabelle 1: Auseinanderentwicklung der Einkommen in Stadt und Land (in Yuan, pro Jahr)

1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2007


Städtische Einkommen 1.510 2.027 3.496 4.839 5.425 6.280 7.703 9.422 13.786
Ländliche Einkommen 683 784 1.221 1.926 2.162 2.253 2.476 2.936 4.140
Differenz 827 1.243 2.275 2.913 3.263 4.027 5.227 6.486 9.646

Quelle: China Statistic Year Book 2004: State Statistical Bureau: Statistical Communiqué 2007.

196
Investitionen im Agrarsektor, mit der Ver- Es wird geschätzt, dass derzeit etwa DIE SOZIALE KEHRSEITE DES
schlechterung der Terms of Trade zwi- 120 Millionen Landbewohner, d.h. 23 CHINESISCHEN AUFSTIEGS
schen Agrar- und Industrieprodukten Prozent aller ländlichen Arbeitskräfte
und auch mit der bis vor kurzem steigen- in den Städten tätig sind, weitere etwa
den Steuer- und Abgabenlast zugunsten 80 Millionen sind als Wanderarbeiter in
lokaler Regierungen. Eine weitere wichti- ländlichen Betrieben beschäftigt. Durch
ge Quelle ländlicher Unzufriedenheit ist ihren Geldtransfer tragen diese Wan- Schutz und die Rechte von Wanderar-
die Bodenfrage. Nach offiziellen Anga- derarbeiter in beträchtlicher Weise zu beitern einzusetzen. Nach Angaben
ben hat die chinesische Landwirtschaft einem Armutsabbau auf dem Lande bei. der Gewerkschaften waren mit Stand
allein im Jahr 2003 2,5 Millionen Hektar Die Wanderarbeiter leben und arbeiten vom März 2008 80 Millionen, d.h. 40
an Anbauflächen verloren, was vor allem im Vergleich zu ihren städtischen Kolle- Prozent der Wanderarbeiter, Gewerk-
auf die Umnutzung unter anderem für In- gen in prekären Verhältnissen. Sie erle- schaftsmitglied. Allerdings steht eine
dustrie- und Wohnansiedlungen sowie digen die schmutzigsten, die härtesten wirksame Reform des diskriminierenden
für Infrastrukturprojekte zurückzuführen und die gefährlichsten Arbeiten. Ihre Hukou-Systems bisher nicht auf der Ta-
ist. Diese Umnutzung ist ein besonders Arbeitswoche besteht in der Regel aus gesordnung der Regierung.
großes Einfallstor für Korruption. Bau- sieben Tagen und ihr Arbeitstag aus bis Als Folge der Landflucht hat sich der Ur-
ern erhalten häufig nur einen Bruchteil zu zwölf Stunden und das bei geringen banisierungsgrad von etwa 20 Prozent
des Gesamterlöses, was wiederholt zu Löhnen (2007 durchschnittlich etwa 108 Anfang der 1980er Jahre innerhalb von
Protesten geführt hat. Die Mehrheit der Euro) und defizitärem Arbeitsschutz. Sie nur zwei Jahrzehnten verdoppelt. Die
Bauern hat langfristige Nutzungsverträ- haben in der Regel keinerlei soziale Ab- Regierung versuchte mit nur mäßigem
ge (30 Jahre), jedoch kein Eigentum an sicherung. Nur etwa zwölf Prozent der Erfolg mittels einer dezentralen Urba-
den von ihnen bearbeiteten Flächen, die Wanderarbeiter sind gegen Berufsun- nisierungsstrategie mittelgroße Städte
sie somit auch weder beleihen noch ver- fälle versichert; fünf Prozent verfügen auf dem Lande zu schaffen, um so den
kaufen können. über eine Krankenversicherung. Da die zu groß werdenden Migrationsdruck
Die von Peking, bzw. den Provinz- Wanderarbeiter nach dem Hukou als auf die großen Ballungsräume an der
regierungen vorgegebenen Moderni- Bauern registriert sind, haben sie auch Ostküste zu senken. Die Weltbank und
sierungsziele (Infrastrukturprojekte) oh- kein Recht auf städtische Sozialleistun- auch chinesische Schätzungen gehen
ne gleichzeitiges Zurverfügungstellen gen. davon aus, dass bis 2020 weitere 300
der notwendigen Finanzmittel führten Zudem sind ihre Familien, soweit sie mit Millionen Bauern in die Städte abwan-
in den 1990er Jahren zu einer deutli- in die Städte gezogen sind, aufgrund dern werden und sich der Urbanisie-
chen Erhöhung der Steuer- und Abga- ihres nach wie vor problematischen rungsgrad damit auf 60 Prozent erhö-
benlast lokaler Unternehmen und der Aufenthaltsstatus weitgehend von Bil- hen wird.
Bauernschaft. Trotz dieser Maßnah- dungschancen ausgeschlossen. 20
men sind heute eine große Zahl Dör- Millionen Kinder von Wanderarbeitern
fer, Gemeinden und Landkreise hoch wachsen daheim auf dem Lande ohne Mangelnder Arbeitsschutz
verschuldet. Dieser Schuldenberg wird ihre Eltern bei Verwandten oder Be-
inzwischen auf umgerechnet nahezu kannten auf. Auch wenn es in China – Der Arbeitsschutz und die Sicherheit
100 Milliarden Euro geschätzt. Die mit zum Teil aufgrund rabiater behördlicher der Beschäftigten bei ihrer Berufstätig-
30 Prozent beträchtliche Besteuerung Räumungsmethoden – keine Slums gibt, keit sind in China noch stark unterent-
der bäuerlichen Einkommen hat wie- ist das soziale Gefälle in den Städten wickelt. Dieses trifft insbesondere auf
derholt zu ländlichen Unruhen geführt. augenfällig. 7Allein in Peking sollen mehr den Kohlebergbau zu. Im Jahre 2007
Die Zentralregierung hat zwar im Jahr als 3,8 Millionen und in Schanghai 3,75 kamen nach offiziellen Angaben 3.787
2004 die Abschaffung der Agrarsteuer Millionen Wanderarbeiter tätig sein. Bergleute ums Leben, doch unabhän-
beschlossen, was jedoch das Problem In China gibt es auch nach wie vor Kin- gige Beobachter schätzen die Zahl
der unzureichenden Finanzausstattung der- und Sklavenarbeit, deren Ausmaß deutlich höher ein. Damit entfallen 80
der lokalen Ebene nur verstärkt hat, da sich nur schwer abschätzen lässt. Im Mai Prozent aller Todesfälle bei Bergwerks-
keine Ausgleichszahlungen von Peking 2007 wurden in der zentralchinesischen unglücken auf China, obwohl das Land
überwiesen werden. Provinz Henan und der benachbarten mit 2,5 Milliarden Tonnen Kohle nur 40
Kohleprovinz Shanxi mehrere Fälle von Prozent der weltweiten Kohle fördert.
Kinder- und Sklavenarbeit in Ziegeleien Gemessen an der Fördermenge liegt
Hukou-System und Landflucht und Kohleminen aufgedeckt, worüber die Todesrate in chinesischen Kohle-
die chinesischen Medien ausführlich gruben siebenmal höher als in Indien
Für nahezu 50 Jahre war das Haushalts- berichteten. Über 50 entführte Kinder und Russland und 70-mal höher als in
registrierungssystem eine Besonderheit und nahezu 600 Wanderarbeiter ar- den USA.
der chinesischen Gesellschaft mit enor- beiteten dort unter sklavenähnlichen Auch in anderen Wirtschaftssektoren
men gesellschaftlichen Auswirkungen. Bedingungen bis zu 16 Stunden am Tag gehören tödliche Arbeitsunfälle und Be-
Das System unterscheidet zwischen und wurden rund um die Uhr bewacht, rufskrankheiten zur traurigen Realität.
städtischen und ländlichen Bewohnern um ihre Flucht zu verhindern. Nach Angaben der State Administrati-
wie auch zwischen landwirtschaftli- Partei und Regierung haben die von on of Work Safety starben 2007 mehr
chen und nicht-landwirtschaftlichen der Partei gelenkten Gewerkschaf- als 101.000 Menschen bei Arbeits- und
hukou. Das System untersagt Bauern, ten angewiesen, sich stärker für den Verkehrsunfällen. Rund 200 Millionen
ohne behördliche Genehmigung vom
Land in die Stadt zu ziehen. Damit sollte
die Landflucht verhindert und die Lage Tabelle 2: Todesfälle in chinesischen Kohlegruben
der Städte stabilisiert werden. Mitte der
1980er Jahre lockerte der Staat dieses 2004 2005 2006 2007
System und erlaubte den zeitweiligen
6.027 5.986 4.746 3.787
Aufenthalt ländlicher Arbeitskräfte in
den Städten. Quelle: Eigene Zusammenstellung.

197
Heinrich Kreft
Arbeiter sind laut Schätzungen des Tabelle 3: Demographische Entwicklung Chinas
chinesischen Gesundheitsministeriums
durch Berufskrankheiten gefährdet. Veränderung
30.000 erkranken jedes Jahr aufgrund 1980 1990 2000 2030
2000–2030
des Umgangs mit giftigen und anderen
Landbevölkerung
gesundheitsschädlichen Substanzen. 796 841 855 560 – 295
in Millionen
Mehr als 600.000 Menschen sollen seit
den 1950er Jahren an einer Staublunge Anteil an der
81% 74% 67% 35%
erkrankt und 140.000 davon inzwischen Gesamtbevölkerung
gestorben sein. Städtische Bevölkerung
191 302 421 1040 + 619
Die chinesische Staats- und Parteifüh- (Millionen)
rung kündigt regelmäßig eine Verbes- Anteil an der
serung der Sicherheitsvorkehrungen 19% 26% 33% 66%
Gesamtbevölkerung
und größere Anstrengungen zur Kont-
rolle der Arbeitssicherheit an. Die Zent- Gesamtbevölkerung
987 1143 1276 1600 + 324
ralregierung hat auch immer wieder die (Millionen)
Schließung von unsicheren Kohleminen Quelle: China Statistics Bureau: Estimates on 2000 and 2030 demography.
angekündigt, doch zu einer spürbaren
Verbesserung haben diese Maßnahmen
kaum geführt. Chinas Arbeitsschutzbe- Die Altersversorgung nach wie vor niedrigem Einkommensni-
hörde wirkt wie ein zahnloser Tiger, der veau. Gemäß UN-Projektionen wird zwi-
sich gegen die im Kohlebergbau weit Traditionell wurde die Altersversorgung schen 2005 und 2050 der Altersmedian
verbreitete Korruption, in der Minenbe- insbesondere auf dem Land von der Fa- um 12,2 Jahre auf fast 45 Jahre sprin-
treiber, lokale Aufsichtsbehörden und milie getragen und dort primär von den gen (in Deutschland dürfte der Wert im
Parteifunktionäre zusammenwirken, nur Söhnen, was insbesondere den Wunsch gleichen Zeitraum um 5,3 auf 47 Jahre
selten durchsetzen kann. Aufgrund des nach männlichen Nachkommen erklärt steigen). 9 Die Bevölkerung im arbeitsfä-
schnell wachsenden Energiebedarfs (und inzwischen zu einem erheblichen higen Alter 10 als Anteil an der Gesamt-
steigt die Nachfrage nach Kohle, mit Männerüberhang geführt hat). 8 Durch bevölkerung wird ihren Höhepunkt etwa
der in China sehr viel Geld zu verdie- Abwanderung der jungen Leute in die um 2010 erreichen mit 72,2 Prozent, von
nen ist. Städte und durch den wachsenden An- dort abnehmen und 2050 60,7 Prozent
teil der Alten aufgrund der steigenden erreichen. Nimmt man aber die niedri-
Lebenserwartung und als Folge der Ein- gere Pensionierungsgrenze in China zum
Demographie und soziale Sicherung Kind-Politik ist die traditionelle Alters- Maßstab (50 bis 55 Jahre bei Frauen und
versorgung auf dem Lande in hohem 60 bis 65 bei Männern), wird der Hö-
Die marktwirtschaftlichen Reformen seit Maße Not leidend. hepunkt, der dann bei nur 62,3 Prozent
Beginn der 1980er Jahre haben zu ei- Chinas demographische Entwicklung liegt, bereits zwischen 2005 und 2010 er-
ner Krise der sozialen Sicherungssyste- gleicht immer mehr der weitaus entwi- reicht und würde im Jahr 2050 auf dann
me geführt, die seit den 1950er Jahren ckelter Gesellschaften. Die chinesische 47 Prozent zurückgehen. Würde sich an
aufgebaut worden waren. Regierung, Gesellschaft altert rapide und das bei der Pensionierungsgrenze nichts ändern,
Partei und Staatsbetriebe garantierten
ihren Beschäftigen eine Absicherung
in allen Lebenslagen. Diese basierte
in den Städten vor allem auf der Ver-
sorgung der Beschäftigten durch die
Staatsbetriebe, von denen viele inzwi-
schen zusammengebrochen oder nicht
mehr in der Lage sind, für die medizi-
nische Versorgung und die Rentenzah-
lungen aufzukommen. Im Durchschnitt
haben seit 1997 etwa zehn Millionen
Arbeitnehmer jedes Jahr ihren Arbeits-
platz verloren, die mit den jährlich zehn
bis zwölf Millionen Schulabgängern
auf der Suche nach einer neuen Be-
schäftigung konkurrieren. Auch im länd-
lichen Raum, der immer im Vergleich zu
den Städten unterprivilegiert war, gibt
es einen vergleichbaren Trend. Mit der
Dekollektivierung der Landwirtschaft
sind immer mehr Menschen aus dem in
den 1960er Jahren eingeführten System
genossenschaftlicher Gesundheitsver-
sorgung heraus gefallen.
Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenver-
sicherung sind in China bisher die Aus-
nahme und weitgehend ein Privileg für
die Beschäftigten in Staatsbetrieben,
in Partei und Verwaltung sowie einigen
großen Privatunternehmen.

198
Tabelle 4: Sozialversicherte in China (Stand 2007) DIE SOZIALE KEHRSEITE DES
CHINESISCHEN AUFSTIEGS
in Millionen davon: Arbeiter davon:
Versicherung
Menschen und Angestellte Rentner
Rentenversicherung 200 150 50
Krankenversicherung 220 178 42 versorgung weitgehend zurückgezogen
Arbeitslosenversicherung 114,7 s. S. 200 und diesen Bereich nahezu vollständig
kommerzialisiert. Wer die steigenden
Quelle: Eigene Zusammenstellung. Kosten für eine ärztliche Behandlung
oder einen Krankenhausaufenthalt nicht
wa vier bis acht Prozent ihres Einkom- bezahlen kann, muss sich entweder (häu-
mens als Beitrag, der Arbeitgeber bis zu fig hoch) verschulden oder auf ärztliche
24 Prozent. Ein Rentenanspruch entsteht Hilfe verzichten. Die Aufwendungen für
kämen 2050 79 Rentner auf 100 Personen nach Ablauf von 15 Beitragsjahren. 50 das chinesische Gesundheitswesen lie-
im beschäftigungsfähigen Alter. Als Fol- Millionen Menschen beziehen in China gen bei jährlich 4,82 Prozent des Sozial-
ge des demographischen Wandels wird eine monatliche Rente, die im Durch- produkts, aber nur 17 Prozent der Mittel
die Zahl der Rentner schneller wachsen schnitt 963 Yuan (knapp etwa 87 Euro) stammen aus öffentlichen Kassen. Der
als die Zahl der beschäftigungsfähigen beträgt, was bei steigenden Lebenshal- größte Teil der Aufwendungen – etwa 55
Bevölkerung, die ab 2011 nicht mehr an- tungskosten zur Verarmung vieler Rent- Prozent – muss von den Patienten selbst
steigen wird. Ohne einschneidende Re- ner führt, bzw. diese zu Zuverdiensten aufgebracht werden. Der Rest stammt
formen dürfte die derzeit bestehende im Privatsektor zwingt. von Versicherungen. Erschwerend kommt
ohnehin bescheidene Altersversorgung Das chinesische Rentenversicherungs- hinzu, dass nur 20 Prozent der Gesund-
bald kollabieren.11 system steht vor kaum lösbaren Prob- heitsausgaben der Landbevölkerung
Mitte der 1980er Jahre haben Partei lemen: Nicht nur, dass für lediglich ein zugute kommen, d.h. 56 Prozent der Ge-
und Regierung mit dem Umbau des Fünftel der abhängig Beschäftigten samtbevölkerung.
alten Systems der staatlichen Versor- Rentenversicherungsbeiträge gezahlt Die Krankenversicherung konzentriert
gung begonnen. An seine Stelle ist ein werden, sondern auch das mit 51,2 Jah- sich bisher auf die Beschäftigten in Par-
gemeinsam von Staat, Arbeitgebern ren etwa zehn Jahre unter dem welt- tei, Verwaltung und Staatsbetrieben so-
und Arbeitnehmern finanziertes Sozial- weiten Durchschnitt liegende Renten- wie vereinzelten Privatunternehmen. In
versicherungssystem getreten, das al- eintrittsalter und der wachsende Anteil den Städten liegt der Anteil der kran-
lerdings bisher nur einem kleinen Teil der über 60-Jährigen an der Gesamt- kenversicherten Erwerbstätigen bei
der chinesischen Bevölkerung zugute bevölkerung von heute 153 Millionen etwa 64 Prozent, die zwei Prozent ih-
kommt. Von den 764 Millionen Erwerbs- auf über 400 Millionen bis zum Jahr rer Lohnsumme als Beitrag entrichten,
tätigen haben nur 20 Prozent Renten- 2050 unterminieren das System. Da während die Arbeitgeber bis zu zehn
versicherungsansprüche, etwa 23 Pro- das Rentenversicherungssystem von ei- Prozent der Lohnsumme zahlen. Für die
zent eine Kranken- und rund 15 Prozent ner Lebenserwartung von zehn Jahren 737 Millionen auf dem Land lebenden
eine Arbeitslosenversicherung. Die Ren- nach dem Eintritt in die Rente ausgeht, Menschen hat die Regierung ein eige-
tenversicherungspflichtigen zahlen et- tatsächlich aber für durchschnittlich 25 nes Kostenerstattungssystem für die
Jahre Renten gezahlt werden, entstehen Behandlung schwerer Krankheiten auf-
in der dezentral organisierten Renten- gebaut. Viele Landbewohner sind aber
versicherung riesige Defizite. gar nicht in der Lage, mit größeren Be-
trägen in Vorlage zu treten. Nach chi-
nesischen Angaben können sich 48,9
Gesundheitspolitik und Prozent der Bevölkerung im Falle einer
Krankenversicherung Krankheit keinen Arztbesuch leisten. Für
die Landbevölkerung schätzt die Welt-
Auch im chinesischen Gesundheits- gesundheitsorganisation (WHO) die-
wesen akzentuieren sich die Proble- sen Anteil auf 60 Prozent, d.h. auf 442
me. Während in Peking und den boo- Millionen Menschen.
menden Städten der Ostküste überall
private State-of-the-art-Krankenhäuser
westlichen Standards für eine zahlungs- Arbeitslosen- und Grundsicherung
kräftige Klientel entstehen, wird die ge-
sundheitliche Versorgung für die Mehr- Von Chinas 764 Millionen Erwerbstäti-
heit der Chinesen und insbesondere für gen sind nach offiziellen Angaben nur
die 737 Millionen Menschen auf dem Lan- etwa acht Millionen, d.h. vier Prozent,
de immer schlechter. Der Staat hat sich arbeitslos. Allerdings gibt dieses die
aus der Finanzierung der Gesundheits- arbeitsmarktpolitische Realität nur sehr
eingeschränkt wieder, denn die chine-
sische Statistik erfasst nur die in den
Städten registrierten Arbeitslosen und
Als Folge des demographischen Wandels auch die nur sehr ungenau. Das Deve-
wird die Zahl der Rentner auch in China lopment Research Center des Staatsrats
schneller wachsen als die Zahl der be- geht von einer Arbeitslosigkeit von etwa
schäftigungsfähigen Bevölkerung. Ohne 12 Prozent (d.h. etwa 90 Millionen) aus.
einschneidende Reformen dürfte die Allein zwischen 1998 und 2002 verlo-
ohnehin bescheidene Altersversorgung ren 77 Millionen Menschen im Zuge des
bald kollabieren. picture alliance/dpa wirtschaftlichen Umbaus ihren Arbeits-

199
Heinrich Kreft
platz.12 Auf dem Land wird die Arbeits- tet. 16 der 20 weltweit am meisten ver- gestärkt werden. Ob dieses gelingt, ist
losigkeit auf etwa 30 Prozent geschätzt. schmutzen Großstädte befinden sich in aber zweifelhaft, da die Umweltgeset-
Etwa 150 bis 170 Millionen Menschen China. In 200 chinesischen Großstädten ze (wie andere Gesetze auch) der Zent-
dürften dort ohne produktive Arbeit überschreitet der Schwebestoffgehalt ralregierung nur sehr lückenhaft in dem
oder unterbeschäftigt sein. die von der Weltgesundheitsorganisa- großen Land angewandt werden. Das
Parallel zur Renten- und Krankenversi- tion festgelegten Grenzwerte. Über 75 Problem ist auch nicht mit der Einführung
cherung hat die Regierung damit be- Millionen Chinesen leiden unter akuten moderner Umwelttechnologie in den
gonnen, eine im sozialistischen Sys- Asthmaanfällen. Ein Drittel des Landes Griff zu bekommen. Es kommt vielmehr
tem per definitionem nicht notwendige ist von saurem Regen betroffen. Chi- darauf an, die politische Kultur des Lan-
Arbeitslosenversicherung aufzubauen. na ist – in absoluten Zahlen – bereits des zu verändern, in Richtung auf mehr
Die Arbeitslosenversicherung gilt bisher der zweitgrößte Treibhausgasemittent Transparenz, bessere Regierungsfüh-
nur für die in den Städten beschäftigen der Welt und dürfte bald auch die USA rung (durch effektive Kontrollinstanzen)
Arbeitnehmer, die 0,5 bis ein Prozent ih- überholen. Bezogen auf die Pro-Kopf- vor allem auf der lokalen Ebene und ein
res Einkommens und deren Arbeitgeber Emissionen aller Treibhausgase lag Chi- unabhängigeres Rechtssystem.15
ein bis zwei Prozent der jeweiligen Lohn- na im Jahr 2000 mit knapp vier Tonnen
summe als Beiträge zahlen. Anspruch auf noch unter dem weltweiten Durchschnitt
Leistungen aus diesem Fonds erwachsen von 5,6 Tonnen, während die USA mit Wachsende Proteste
nach einem Jahr, die je nach Beitrags- 24,5 Tonnen pro Kopf im weltweiten Ver-
jahren ansteigen, aber auch nach zehn gleich an der Spitze lagen. Besorgniser- Die tief greifenden Veränderungen
Jahren wird Arbeitslosengeld nur für 18 regend ist insbesondere die Steigerung seit Beginn der Reformen Ende der
Monate gezahlt. Die Höhe des Arbeits- der chinesischen Emissionen, die allein 1970er Jahre haben zu großen sozia-
losengeldes ist von Region zu Region un- im Zeitraum von 2000 bis 2005 um etwa len Verwerfungen geführt, die für die
terschiedlich: in Peking liegt der Betrag 45 Prozent gestiegen sind. politische Führung des Landes zu einer
zwischen 337 (etwa 30 Euro) und 446 Ein großer Teil der Umweltverschmut- wachsenden Herausforderung werden.
Yuan (etwa 40 Euro) im Monat. Landes- zung wird vom Kohlebergbau und von Chinesische Berichte zeigen, dass die
weit beziehen nach Angaben des zu- Kohlekraftwerken verursacht. Während Menschen sich zunehmend gegen Will-
ständigen Ministeriums 3,27 Millionen China Öl und Gas importieren muss, kür lokaler Behörden zur Wehr setzen.
Menschen Arbeitslosenunterstützung. verfügt es über große, allerdings stark Immer mehr Menschen gehen gegen
Dieses System ist allerdings bisher nur schwefelhaltige Kohle. Aus Gründen als ungerecht empfundene Entschei-
in einigen Regionen eingeführt. Es dürf- der Energiesicherheit setzt China für dungen staatlicher Instanzen oder von
te noch lange dauern, bis ein landes- die Deckung des schnell wachsenden Parteistellen vor. Dazu werden nicht
weites Arbeitslosenversicherungssys- Energiebedarfs auf die Verstromung nur amtliche Beschwerdeverfahren ge-
tem aufgebaut ist. der heimischen Kohle. Dazu sollen bis nutzt. Die Übergabe von Petitionen,
Zeitgleich mit der Arbeitslosenversi- 2012 über 500 neue Kohlekraftwerke Sitzstreiks vor Parteibüros oder Äm-
cherung wurde auch eine Sozialhilfe gebaut werden. Wenn diese nicht mit tern gehören genauso dazu wie nicht
eingeführt. Diese Aufgabe obliegt den neuester Filtertechnologie ausgerüs- genehmigte Demonstrationen bis hin
Einwohnerkomitees in den städtischen tet und mit größtem Wirkungsgrad ge- zu Verkehrsblockaden und gewalttä-
Nachbarschaftsvierteln. Dieses in den baut werden, wird dieses über mehrere tigen Übergriffen auf Behörden- und
vergangenen Jahren in den Städten Jahrzehnte verheerende Folgen für die Parteivertreter. Gemäß offiziellen chi-
aufgebaute System einer Grundsiche- Umwelt haben.14 Zur Luftverschmutzung nesischen Quellen ist die Zahl sozia-
rung wird derzeit auch auf die Land- trägt auch der wachsende motorisierte ler Unruhen und Proteste (so genannte
bevölkerung ausgeweitet. Die derzeit Individualverkehr bei. Bis 2020 soll die „Massenvorfälle“) in den vergangenen
in den Städten an Bedürftige gezahlte Anzahl der Personenkraftwagen von Jahren deutlich gewachsen. Nach of-
Sozialhilfe liegt bei 182 Yuan (etwa 16 derzeit etwa 35 Millionen auf 100 Milli- fiziellen Zahlen des chinesischen Mi-
Euro) pro Person und Monat. Auf dem onen Fahrzeuge ansteigen. nisteriums für Öffentliche Sicherheit ist
Lande werden durchschnittlich 70 Yuan Wasserverschmutzung und Wasser- die Zahl der Fälle von „Störungen der
(etwa 6,32 Euro) pro Person und Monat mangel sind eine weitere große Her- öffentlichen Ordnung“ von 10.000 mit
gezahlt. Insgesamt erhalten 27,7 Millio- ausforderung für die Regierung. Bis zu 730.000 Beteiligte im Jahr 1993 auf
nen Bedürftige in den Städten und 35,5 700 Millionen Menschen haben keinen 87.000 im Jahr 2005 angewachsen, an
Millionen Menschen auf dem Land Zu- Zugang zu sauberem Trinkwasser. Nur denen sich schätzungsweise drei bis
schüsse zur Sicherung des Existenzmi- ein Viertel der Abwässer werden ge- zehn Millionen Menschen beteiligten.16
nimums. klärt bzw. behandelt. 70 Prozent der In 35 Prozent dieser Fälle waren Bauern
Flüsse und 90 Prozent der städtischen beteiligt. In diesen Fällen geht es zu-
Gewässer sind stark belastet. Nur ein meist um Landnutzungsrechte. Im März
Zerstörung natürlicher Fünftel der Abfälle werden umweltge- 2007 erklärte das Ministerium für Land-
Lebensgrundlagen recht entsorgt. wirtschaft und Ressourcen, dass es im
Die chinesische Regierung muss ein Regel- Jahr zuvor 96.133 Fälle illegaler Land-
Die Zerstörung der natürlichen Lebens- und Anreizsystem dafür schaffen, dass die nutzung untersucht habe, in denen laut
grundlagen hat in China inzwischen be- kurzfristigen Kosten eines effektiven Um- Schätzungen von Regierungsexperten
drohliche Ausmaße erreicht. So kommt weltschutzes von den (zumeist industriel- zwischen 540.000 und 814.000 Bau-
die Weltbank in einer Studie zu dem Er- len) Verursachern getragen werden, um ern ihr Land verloren haben dürften.
gebnis, dass sich bei Gegenrechnung damit die langfristigen volkswirtschaftli- Für das erste Halbjahr 2007 gab der
der Umweltschäden das Wirtschafts- chen Kosten weiterer, zum Teil irreparab- zuständige Minister Xu Shaoshi 24.245
wachstum halbieren dürfte.13 ler Umweltschäden zu vermeiden. neue Fälle bekannt. In 80 Prozent dieser
Gemäß inoffiziellen Zahlen sterben je- Mit der jüngsten Aufwertung der staat- Fälle seien dabei lokale Vertreter des
des Jahr 750.000 Chinesen vorzeitig lichen Umweltbehörde State Environ- Staates in illegaler Weise verwickelt.17
aufgrund der Umweltverschmutzung. mental Protection Administration (SEPA) Allerdings kam es 2005 nur in 700 (der
Die Luft in den meisten chinesischen zum Umweltministerium soll die Durch- 87.000) Fälle, d.h. in weniger als zwei
Großstädten ist in hohem Maße belas- setzung umweltpolitischer Maßnahmen Prozent, zu Zusammenstößen mit der

200
Polizei. Der schwerwiegendste bekannt zu grundlegenden politischen Reformen. DIE SOZIALE KEHRSEITE DES
gewordene Fall ereignete sich im De- Die Zentralregierung hat die Berech- CHINESISCHEN AUFSTIEGS
zember 2005 als es in Dongzhou, im tigung vieler Proteste aber anerkannt,
Südosten der Provinz Guangdong zu unter anderem durch Premierminister
Zusammenstößen von Dorfbewohnern Wen Jiabao in seiner Rede vor dem Na-
mit der Bewaffneten Volkspolizei kam, tionalen Volkskongress. In einigen Fäl-
in denen mehrere Dorfbewohner ums len revidierte die Zentralregierung auch an Unruhepotential in einer nationalen
Leben gekommen sind. Entscheidungen lokaler Behörden oder politischen Bewegung entladen könn-
bestrafte Beamte wegen des Einsatzes te, ohne dass andere soziale Gruppen,
unverhältnismäßiger Mittel. Staat und insbesondere die neue Mittelschicht,
Die Reaktion des Staates: Schaffung Partei behalten sich aber in jedem Fall Intellektuelle und Studenten sich ihr an-
einer „harmonischen Gesellschaft“ die Entscheidung darüber vor, welche schließen. Die entscheidende Heraus-
Proteste als legitim und akzeptabel gel- forderung für die kommunistische Partei-
Trotz der wachsenden Unzufriedenheit ten. Peking verfolgt insgesamt eine „Zu- führung besteht darin, ein nachhaltiges
und der zunehmenden Zahl sozialer ckerbrot-und-Peitsche“-Strategie im Um- Wirtschaftswachstum zu sichern und
Unruhen ist die Gefahr nicht sehr hoch, gang mit sozialen Protesten. gleichzeitig durch geeignete soziale
dass sich diese zu Flächenbränden aus- Schon 1999 begann die Zentralregie- Maßnahmen und der Eröffnung von Auf-
weiten und das Regime ernsthaft gefähr- rung damit, mittels der Förderung gro- stiegschancen einen möglichst großen
den könnten. Dennoch sind Regierung ßer Infrastrukturprojekte die zurückge- Teil der bisherigen Verlierer des Moder-
und Führung der Kommunistischen Partei bliebenen Westprovinzen an die boo- nisierungsprozesses einzubeziehen.
alarmiert und haben inzwischen den Fo- menden Ostprovinzen anzubinden und
kus ihrer politischen Prioritäten sichtbar die lokalen Ressourcen zu erschließen
verändert. Die Bemühungen der Zentral- – mit bisher nur mäßigem Erfolg. In 2003
LITERATUR
regierung, die Ursachen der wachsen- folgte ein zweites regionales Förder-
den sozialen Proteste anzugehen, wird programm für die Not leidende Schwer- Cai, Heping/Hua, Yingfang (2008): Sozialversi-
beeinträchtigt durch bestehende Span- industrieregion des Nordostens. cherung für Wanderarbeiter in der Volksrepublik
China/Social insurance of rural migrants in the
nungen zu den lokalen Regierungen, Seit dem Übergang von Jiang Zemin People’s Republic of China. In: China aktuell,
durch institutionelle Schwächen des zu Hu Jintao im Jahr 2002 wenden sich 1/2008 (Special issue: Flexibility and security in
Staatsapparates, inkonsistente Politik Regierung und Partei zunehmend den the People’s Republic of China), S. 181–203.
und der Unfähigkeit oder dem Unwillen Verlierern des Modernisierungsprozes- Cai, Yongshun (2008): Social conflicts and modes
ses zu. Der 11. Fünf-Jahresplan (2006– of action in China. In: The China Journal, January
2008, S. 89–109.
2010) sieht neben der Fortführung und Chan, Gerald/Lee, Pak K./Chan, Lai-ha (2008):
Verstärkung von Maßnahmen zur An- China’s environmental governance: the domes-
UNSER AUTOR

gleichung von städtischen und ländli- tic-international nexus. In: Third World Quarterly,
chen Einkommen auch eine Verstärkung 2/2008, S. 291–314.
Chan, Kam-wing/Wang, Man (2008): Remap-
der Anstrengungen im Bereich Energie ping China’s regional inequalities, 1990–2006: a
und Ökologie vor. new assessment of de facto and de jure popula-
Die politische Führung hat die Notwen- tion data. In: Eurasian Geography and Econom-
digkeit einer sozial und ökologisch aus- ics, 1/2008, S.21–56.
geglicheneren Entwicklung erkannt. Chandler, William (2007): Financing energy effi-
ciency in China. Washington D.C.
Unter der neuen Leitidee einer „harmo- Chandler, William (2008): Breaking the suicide
nischen Gesellschaft“ zeigt sich die der- pact: U.S.-China cooperation on climate change.
zeitige Partei- und Regierungsführung Washington/D.C.
entschlossen, das bisherige Modell ei- Chen, Shaofeng (2008): Motivations behind Chi-
na’s foreign oil quest: a perspective from the Chi-
Dr. Heinrich Kreft ist seit September nes Wachstums um (nahezu) jeden Preis nese government and the oil companies. In: Journal
2006 vom Auswärtigen Amt beurlaubt ohne große Rücksicht auf die sozialen of Chinese Political Science, 1/2008, S. 79–104.
und als außen- und sicherheitspolitischer und ökologischen Kosten zu korrigieren. Cheng, Joseph Y. S. (2008): A Chinese view of
Berater der CDU/CSU-Fraktion im Deut- Ähnliches gilt für Fragen der Produktsi- China’s energy security. In: The Journal of Con-
schen Bundestag tätig. 1994 trat er in cherheit, von mangelhaftem (exportier- temporary China, 55/2008, S. 297–318.
Davies, Gloria/Ramia, Gaby (2008): Governance
den deutschen diplomatischen Dienst tem) Spielzeug bis hin zum jüngsten Le- reform towards „serving migrant workers“: the local
ein mit Tätigkeiten u. a. an den deut- bensmittelskandal, bei dem aus purer implementation of central government regulations.
schen Botschaften in Bolivien, Japan Profitgier Milchprodukte mit giftigem In: The China Quarterly, 193/2008, S. 140–149.
und den USA sowie im Planungsstab Melamin angereichert wurden, die zur Economy, Elizabeth C. (2007): The great leap
backward: the costs of China’s environmental
des Auswärtigen Amtes, dessen stellver- Erkrankung und zum Tod zahlreicher crisis. In: Foreign Affairs, 5/2007, S. 38–59.
tretender Leiter er bis Ende 2005 war. Kleinkinder geführt haben. Fan, C. Cindy/Sun, Mingjie (2008): Regional in-
Er war Visiting Fellow in verschiedenen In Anbetracht der begrenzten Durchset- equality in China, 1978–2006. In: Eurasian Geog-
amerikanischen Think-Tanks in Washing- zungs- und Kontrollfähigkeit der Zent- raphy and Economics, 1/2008, S. 1–20.
ton, D.C. Heinrich Kreft hat Politikwis- rale gegenüber den Provinzen und lo- Gallagher, Kelly Sims (2007): China needs help
with climate change. In: Current History, 703/2007,
senschaften, Geschichte, Soziologie und kalen Behörden sowie Parteikadern ist S. 389–394.
Volkswirtschaft am Juniata College, PA es allerdings fraglich, ob das dringend Gilboy, George J./Read, Benjamin L. (2008): Po-
(USA), an der WWU Münster sowie am erforderliche Umsteuern überhaupt und litical and social reform in China: alive and wal-
Institut d’Etudes Politiques de Paris (I.E.P.) in der gebotenen Schnelligkeit gelingt. king. In: The Washington Quarterly, 3/2008, S.
143–164.
studiert. Schwerpunkt seiner Arbeits- Von daher ist davon auszugehen, dass Jacka, Tamara (2007): Population governance in
und Forschungstätigkeit sind Asien und wachsende Einkommensunterschiede, the PRC: political, historical and anthropological
die USA mit zahlreichen Publikationen. grassierende Korruption und das Fehlen perspectives. In: The China Journal, 58/2007, S.
Seit 1994 hat er China über zwanzig- demokratischer Institutionen auch wei- 111–128.
mal aus offiziellen Anlässen (Konsulta- terhin zu sozialen Unruhen führen wer- Jennings, M. Kent /Chen, Kuang-hui (2008): Per-
ceptions of injustice in the Chinese countryside.
tionen, Gespräche, Konferenzen, Vor- den. Allerdings dürfte es unwahrschein- In: The Journal of Contemporary China, 55/2008),
träge an Universitäten) bereist. lich sein, dass sich das aktuelle Niveau S. 319–338.

201
Kang Xiaoguang/Han, Heng (2008): Graduated below? Popular strategies for resolving griev- 3 Merril Lynch/Capgemini: World Wealth Re-
Heinrich Kreft

controls: the state-society relationship in contempo- ances in rural China. In: The China Quarterly, port 2007.
rary China. In: Modern China, 1/2008, S. 36–55. 193/2008, S. 43–64. 4 McKinsey&Company: Insights China 2008.
Keidel, Albert (2007): China’s regional dispari- Morgan, Jamie (2008): China’s growing pains: 5 Nach den strikteren internationalen Kriterien
ties: the causes and impact of regional inequali- towards the (global) political economy of domes- liegt die Zahl bei 90 Millionen; vgl. Zhang Jun-
ties in income and well-being. Washington D.C. tic social instability. In: International Politics, hua: Der Aufbau eines sozialen Sicherungssy-
Khan, Hamayoun (2007): Changing demogra- 4/2008, S. 413–438. stems in der VR China – eine kritische Betrachtung
phic trends in China. In: Strategic Studies, 2/2007, Oberheitmann, Andreas (2008): Langer Marsch (Teil 1). In: China aktuell, 3/2005, S. 55–56.
S. 152–171 . in die CO2-Freiheit: Pekings Energiepolitik zwi- 6 Vgl. UNDP: Human Development Report. 2006,
Kreft, Heinrich (2008): Chinas energische Ener- schen fossiler Energiesicherheit und Klimaschutz. S. 9ff; vgl. auch: George J. Gilboy and Eric Hegin-
giesicherungspolitik. In: Braml, Josef (Hrsg.) In: Internationale Politik, 4/2008, S. 55–61 . botham: The Latin Americanization of China? In:
(2008): Weltverträgliche Energiesicherheitspoli- Richerzhagen, Carmen/Scholz, Imme (2008): Current History, September 2004, S. 256–261.
tik. Jahrbuch Internationale Politik 2005/2006. China’s capacities for mitigating climate change. 7 Björn Alpermann: Chinas Problem bei der
München 2008, S. 234–242. In: World Development, 2/2008), S. 308–324. wirtschaftlichen Modernisierung. In: Orientierun-
Kreft, Heinrich (2008): Die Schattenseiten des Auf- Tan, Wei (2007): On the contemporary state of gen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik,
stiegs. Innere Widersprüche einer Weltmacht im environment and environmental governance in 1/2006, S.56.-61; hier: S. 58.
Werden. In: Die Politische Meinung, 464/2008, S. China. In: Verfassung und Recht in Übersee, 8 Aufgrund des medizinisch-technischen Fort-
15–18. 3/2007, S.314–328. schritts wird der Jungenüberhang immer drama-
Kreft, Heinrich (2008): Sicherheit der Energiever- Tanner, Murray Scot (2007): Chinese Communist tischer, so dass befürchtet wird, dass im nächs-
sorgung Chinas – Eine globale Herausforderung. Party strategies for containing social protest: 2nd ten Jahrzehnt bis zu 60 Millionen Frauen fehlen
In: Geographische Rundschau, 1/2008, S. 50–57. Berlin Conference on Asian Security (Berlin könnten.
Kreft, Heinrich (2007): Chinas Politik der Energie- Group). Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik. 9 United Nations: Population Division. The
und Rohstoffsicherung als Herausforderung für Wacker, Gudrun/Kaiser, Matthis (2008): Nach- World Population Prospects: The 2004 Revision.
den Westen. In: Internationale Politik und Gesell- haltigkeit auf chinesische Art: das Konzept der 10 Gemäß allgemeiner Definition die 15–64jäh-
schaft/International Politics and Society, 2/2007, „harmonischen Gesellschaft“. Berlin: Stiftung rigen als Anteil an der Gesamtbevölkerung.
S. 46–61 . Wissenschaft und Politik. 11 Tamara Trinh: China’s pension system.
Kreft, Heinrich (2006): China – Die soziale Kehr- Yang, Ming (2008): China’s energy efficiency tar- Deutsche Bank Research, 17/2006.
seite des Aufstiegs. In: Aus Politik und Zeitge- get 2010. In: Energy Policy, 2/2008, S. 561–570. 12 Vgl. China Human Development Report 2005.
schichte, 49/2006, S. 15–20. Zhao, Suisheng (2008): China’s global search for 13 The World Bank: Cost of Pollution in China.
Kreft, Heinrich (2006): China’s Energy Security energy security: cooperation and competition in Economic Estimates of Physical Damages. Was-
Conundrum. In: The Korean Journal of Defense Asia-Pacific. In: The Journal of Contemporary hington, D.C. 2007.
Analysis, 3/2006, S. 107–120. China, 55/2008, S. 207–228. 14 Heinrich Kreft: Sicherheit der Energieversor-
Kreft, Heinrich (2006): La diplomatie chinoise de gung Chinas – Eine globale Herausforderung. In:
l’énergie. In: Politique Étrangère, 2/2006, S. 349– Geographische Rundschau, 1/2008, S. 50–57.
360. ANMERKUNGEN 15 Vgl. Elizabeth C. Economy: The Great Leap
Lan, Xue/Simonis, Udo Ernst/Dudek, Daniel J. Backward? In: Foreign Affairs, September/Octo-
(2007): Environmental governance in China: re- 1 Der Gini-Koeffizient – oder auch Gini-Index ber 2007.
commendations of a task force. In: Internation- – ist ein statistisches Maß, das von dem italieni- 16 Gov.cn, Januar 19, 2006; Richard Spencer:
ales Asienforum, 3/2007, S. 293–304. schen Statistiker Corrado Gini zur Darstellung China Fears Meltdown over Social Instability. In:
Li Shantong/Xu, Zhaoyuan (2008): The trend of von Ungleichverteilungen entwickelt wurde. Der National Post (Canada), August 23, 2005;
regional income disparity in the People‘s Repub- Koeffizient kann z.B. als Kennzahl für die Un- George J. Gilboy and Benjamin L. Read: Political
lic of China. Tokio. gleichverteilung von Einkommen oder Vermögen and Social Reform in China: Alive and Walking.
Li, Lianjiang/O’Brien, Kevin J. (2008): Protest lea- eingesetzt werden. Der Wert kann beliebige Grö- In: The Washington Quarterly, Summer 2008, S.
dership in rural China. In: The China Quarterly, ßen zwischen 0 und 1 annehmen. Je näher der 143–164.
193/2008), S. 1 .23. Gini-Koeffizient an 1 ist, desto größer ist die Un- 17 George J. Gilboy and Benjamin L. Read: Po-
Mertha, Andrew C. (2008): China’s water warri- gleichheit. litical and Social Reform in China: Alive and
ors: citizen action and policy change. Ithaca/N.Y. 2 UNDP: China Human Development Report Walking. In: The Washington Quarterly, Summer
Michelson, Ethan (2008): Justice from above or 2005. Februar 2006. 2008, S. 143–164; hier: S. 151 .

J E T Z T A U F ENG LI SCH
Baden-Württemberg. A Portrait of the German Southwest
2008, 128 Seiten mit zahlreichen Abbildungen

Die „Kleine politische Landeskun- zum Kennenlernen unseres Landes,


BADEN-WÜRTTEMBERG
A Portrait of the German Southwest
de“ steht für knappe und verständ- ist ein ideales Gäste-Präsent und
liche, sachliche und ausgewogene krönt jede Auslandskorrespondenz!
6th fully revised edition 2008

Grundinformationen über das Land


Baden-Württemberg.

Jetzt auch auf Englisch ist 7.50 EUR (zzgl. Versandkosten,


„A Portrait of the German South- Staffelpreise im Internet)
west“ die einzige Schrift, die sich
Erhältlich per Fax 0711.16409977
vor allem für Städtepartnerschaften
über marketing@lpb.bwl.de oder
und Schüleraustausche, aber auch
Webshop: www.lpb-bw.de/shop
für den Englischunterricht, für
Auszubildende, Studierende und
Berufstätige eignet.

Die repräsentative, aktuelle und


reich bebilderte Broschüre motiviert

202
CHINAS NATIONALITÄTENPROBLEME

Nationalitätenprobleme in China und


die Tibet-Frage
Thomas Heberer

gen einen Anteil von 8,4 Prozent an der Die historische Dimension
Die jüngsten Unruhen in tibetischen
Gesamtbevölkerung Chinas (die „Han“, der Konflikte
Siedlungsgebieten sind nur ein Indikator die Bevölkerungsmehrheit, machten
für zunehmende Konflikte zwischen den 91,6 Prozent aus). Dabei schwanken die Die gegenwärtigen Konflikte zwischen
Nationalitäten in China. Die Volksrepu- Größenordnungen zwischen ca. 17 Mil- den Nationalitäten in China haben his-
blik ist ein nur scheinbar toleranter Viel- lionen (Zhuang) und wenigen tausend torische, politische, ökonomische, kultu-
völkerstaat. Die Mehrheitsbevölkerung (Lhoba in Tibet). China steht keineswegs relle und soziale Ursachen. Im kollekti-
(Han) hat nur ein geringes Verständnis vor einem Zerfall nach sowjetischem ven Gedächtnis der verschiedenen Na-
für die ethnischen Minderheiten; die Muster. Gleichwohl nehmen die Konflik- tionalitäten manifestiert sich die histo-
Kontrolle durch Peking ist teilweise sehr te zwischen den Nationalitäten zu. rische Dimension dieser Konfliktfelder.
rigide. Hinzu kommt, dass die Minder-
heitengebiete noch immer zu den ärms-
ten und am wenigsten entwickelten Re-
gionen Chinas zählen. Die historische
Dimension der Nationalitätenkonflikte
offenbart die Wurzeln des patriarchali-
schen Staatsverständnisses, welches
Traditionen der feudalen Vergangenheit
fortschreibt. Am Beispiel der ungelösten
Tibet-Frage zeigt Thomas Heberer, dass
China von einem anderen Nationen- und
Staatsbegriff ausgeht als die westlichen
Länder. Obwohl die bei den Tibetern
existierende Einheit von nationaler und
religiöser Identität den chinesischen Ein-
fluss in Tibet eng begrenzt, befindet sich
Peking in einer Position der Stärke. Zu-
dem wird Tibet von der internationalen
Staatengemeinschaft einhellig als Teil
Chinas betrachtet. Ein tibetischer Natio-
nalstaat ist aus chinesischer Sicht nicht
denkbar. Die Kritik des Westens wird
sich daher lediglich auf die Einhaltung
der Menschenrechte und die Wahrung
der kulturellen Autonomie beziehen.
Wenn auch in den letzten Jahren eine
Diskussion über umfangreichere Rechte
und ein Mehr an Partizipation für die
ethnischen Minoritäten in Gang gekom-
men ist, bleiben die Brisanz der Natio-
nalitätenkonflikte und das damit verbun-
dene Konfliktmanagement für Peking
eine zentrale politische Frage. 

Konflikte zwischen den


Nationalitäten nehmen zu

Die Unruhen in tibetischen Siedlungsge-


bieten Chinas im März und April 2008
und Anschläge uigurischer Separatis-
tenorganisationen zuletzt im Juli und
August 2008 haben verdeutlicht, dass
die Lage in China keineswegs stabil Die Uiguren sind eine muslimische Minderheit in China. Mit sieben Millionen sind die in
ist. Der letzten Volkszählung von 2000 der autonomen Provinz Xinjiang lebenden Uiguren die größte der 55 „nationalen Min-
zufolge hatten die 55 „nationalen Min- derheiten“ Chinas. Mit 105 Millionen Angehörigen machen diese 55 ethnischen Minder-
derheiten“ mit 105 Millionen Angehöri- heiten 8,4 Prozent der chinesischen Gesamtbevölkerung aus. picture alliance/dpa

203
Thomas Heberer
Vor dem Bergpalast des Dalai Lama in
Lhasa werden Anfang 1959 die Beschlüsse
Pekings zur Bildung einer neuen Regie-
rung verlesen. Aktuelle Nationalitätenpro-
bleme in China haben stets auch eine his-
torische Dimension. Im kollektiven Ge-
dächtnis der verschiedenen Nationen ma-
nifestieren sich historische Traumata, wie
die Demütigung, Verdrängung und blutige
Niederschlagung von Aufständen.
picture alliance/dpa

Dies bezieht sich auf historische Trau-


mata, wie die Verdrängung, Vernich-
tung oder Demütigung von Völkern wie
in der neueren Geschichte die blutige
Niederschlagung von Aufständen ver-
schiedener Völker gegen die Verdrän-
gungspolitik des Kaiserhofes und die
Unterdrückung und Ausbeutung durch
Han-Beamte. Die Miao in Guizhou etwa
waren im 18. Jahrhundert so verzweifelt,
dass sie ihre Siedlungen auflösten, teil-
weise sogar ihre Frauen und Kinder tö-
teten, um mit aller Kraft und letzter Kon-
sequenz an einem Aufstand teilnehmen
zu können, der in einer Niederlage mit
18.000 toten Miao endete. Ihr gesamtes
fruchtbares Land wurde an Han verteilt,
die Miao mussten sich tief in öde und un- Gesellschaft zugeordnet wurden. Die Autonomiegesetzes im Jahre 1984 und
fruchtbare Berggebiete zurückziehen. von der Kommunistischen Partei (KP) einer revidierten Fassung von 2001 exis-
Bei der blutigen Niederschlagung mus- formulierte Aufgabe jeder Nationali- tiert keine echte Autonomie. Bei der Ver-
limischer Aufstände im 19. Jahrhundert tät bestand darin, den großen Bruder fassung und dem Autonomiegesetz han-
haben chinesische Truppen ein derar- möglichst schnell einzuholen und sich delt es sich um „weiche“ Gesetze, weil
tiges Gemetzel angerichtet, dass sich seiner (sozialistischen) Zivilisation an- es aufgrund fehlender Rechtsinstitutio-
die Zahl der Muslime nahezu halbierte. zunähern. Der patriarchalische sozi- nen (es existieren keine entsprechenden
Dazu kommen die Traumata der Mao- alistische Staat erhielt die Aufgabe, Verfassungs- und Verwaltungsgerichte)
Ära: die grausame Niederschlagung entsprechende Schritte einzuleiten. Er und der Überordnung der Partei über
von Aufständen verschiedener Ethnien legte fest, was für die „Minderheiten“ das Recht keine rechtlichen und poli-
in den 1950er Jahren, die Zerstörung nützlich ist und welche Sitten und Bräu- tischen Instrumente zur Durchsetzung
und Schändung der Kulturgüter und re- che „gesund“ (oder fortschrittlich) und dieser Gesetze und ihrer Bestimmungen
ligiösen Stätten, der Versuch ökonomi- damit „reformierbar“ waren und welche gibt. Zudem sieht das Autonomiegesetz
scher, gesellschaftlicher und kultureller „ungesund“ (oder rückständig) sind und in wichtigen Fragen wie Einwanderung
Gleichschaltung. Allein im Verlauf des abgeschafft oder reformiert werden von Han, Industrieansiedlung, Explora-
Aufstandes von 1959 kamen 87.000 Ti- mussten. tion von Rohstoffen oder Schutz natür-
beter ums Leben und 2.690 von 2.700 Stereotypen wie die genannten stehen licher Ressourcen keinerlei Mitsprache-
tibetischen Klöstern wurden in den 60er einer ernsthaften Beschäftigung und rechte vor.
Jahren zerstört. Durch die Kulturrevolu- Auseinandersetzung der Han über die Trotz signifikanten ökonomischen Wan-
tion (1966–76) hat sich das Beziehungs- Nicht-Han-Völker und ihre Kultur im We- dels zählen viele Minoritätengebiete
gefüge zwischen den Nationalitäten ge und beeinflussen bis in die Gegen- noch immer zu den ärmsten und am we-
grundlegend gewandelt. wart hinein die Vorstellungen der Han nigsten entwickelten Regionen. Zwar
Ins kollektive Gedächtnis eingegraben von den Nicht-Han, wobei die letzteren hat das ökonomische Defizit auch his-
haben sich auch traditionelle Vorstel- zugleich ein Gefühl latenter Diskrimi- torische Ursachen und kann von daher
lungen von Hierarchisierung wie, dass nierung und entwicklungsmäßiger Un- nicht allein der gegenwärtigen Partei-
die Han schon immer „Kultur“ besessen terlegenheit entwickelt haben. Werden führung angelastet werden. Gleichwohl
hätten, deren Besitz sie von den ande- solche, im kollektiven Gedächtnis ein- hat eine an die Bedingungen jener Re-
ren Völkern unterscheide, wobei das gegrabene Erinnerungen nicht aufge- gionen nicht angepasste Entwicklungs-
politische Ziel in der „Kultivierung“ die- arbeitet, dann sind intraethnische Kon- politik seit den 50er Jahren die Kontinu-
ser Völker bestand. Kultivierung wurde flikte vorprogrammiert. ität von Rückständigkeit begünstigt, und
letztlich mit Sinisierung identifiziert. Die dies, obwohl ein Großteil dieser Gebie-
indigenen Völker galten als „Barbaren“, te aufgrund reicher Rohstoffvorkommen
die häufig mit Tieren verglichen wurden. Fehlende echte Autonomie und ein signifikantes Entwicklungspotential
Die traditionellen Vorstellungen vertru- ökonomische Disparitäten besitzt. Die Mehrheit der Menschen un-
gen sich mit dem Weltbild, das Stalin in terhalb der Armutsgrenze lebt in Min-
den 1930er Jahren für alle Völker ent- Auf politischem Gebiet bestehen die derheitengebieten, ein Fünftel der An-
worfen hatte und demzufolge auch die Kernprobleme im Fehlen echter Auto- gehörigen ethnischer Minoritäten gel-
ethnischen Minderheiten Chinas den nomie. Trotz einer Aufwertung der eth- ten als arm. Trotz aller Wachstumsraten
Stufen „primitive“, „sklavenhalterische“, nischen Minoritäten in der Verfassung auch für die autonomen Gebiete haben
„feudalistische“ oder „kapitalistische“ von 1982, der Verabschiedung eines sich die Entwicklungsunterschiede zwi-

204
schen den Siedlungsgebieten ethnischer Völkern weltweit werden diese Grup- NATIONALITÄTENPROBLEME IN CHINA
Minoritäten und den Han-Gebieten im pen durch Alkoholismus, Selbstmorde UND DIE TIBET-FRAGE
Verlauf der Reformära vergrößert. und Krankheiten dezimiert.
Verstärkte Zuwanderungen in Minoritä- Andererseits hat der Reformprozess in
tengebiete (von Händlern, staatlichen China keineswegs zu einer Angleichung
Institutionen oder Privatpersonen, die der Kulturen geführt. Der partielle Rück-
ohne Rücksicht auf die lokale Bevölke- zug des Staates bewirkt vielmehr auch den sich Tibet der Schutzmacht China
rung Wälder abholzen, nach Edelme- eine Rückkehr lokaler Kulturen. In Zeiten unterstellte. Es erkannte die Oberhoheit
tallen schürfen oder Kohle abbauen) raschen sozialen Wandels findet eine Chinas an, die Regierungsgewalt je-
verstärken die Unzufriedenheit in den Rückbesinnung auf die eigenen Tradi- doch lag beim Dalai Lama. Tibet befand
Minoritätengebieten, zumal auswärti- tionen statt, um sich selber als Grup- sich damit im Zustand der Suzeränität,
ge Händler und Handwerker einheimi- pe zu erhalten. Die Revitalisierung von nicht aber der Souveränität. Das heißt,
sche vom Markt verdrängen. Beschäf- Religion gilt nicht nur für den Islam und militärische Sicherheit und Außenpolitik
tigte, die einer ethnischen Minorität den tibetischen und mongolischen Bud- lagen beim Kaiserhof in Peking, der sich
angehören, werden oftmals schlechter dhismus, sondern auch für animistische, im Gegenzug verpflichtete, Tibet jeden
bezahlt, verrichten minderwertigere Tä- animatistische und schamanistische erdenkbaren Schutz zu gewähren. Die
tigkeiten und besitzen geringere Fort- Glaubensvorstellungen sowie das An- innere Verwaltung hingegen lag beim
bildungschancen als Han. Die Bevor- wachsen von Sekten und chiliastischen Dalai Lama und seinem Hofstaat, wie es
zugung von Han im Wirtschaftsleben Heilsbewegungen. der traditionellen Politik des Kaiserhofs
hat nicht nur mit Fähigkeiten oder Vor- entsprach. Danach wurden Siedlungs-
urteilen zu tun, sondern muss zugleich gebiete von Nicht-Han-Völkern nicht di-
als Ausdruck eines ethnischen Nepotis- Die Tibet-Frage als Teil der rekt durch chinesische Beamte verwal-
mus begriffen werden, bei dem die Han Nationalitätenfrage tet. Vielmehr erhielten in Gebieten, in
aufgrund ihrer Dominanz und der insti- denen Macht und Organisationsstruk-
tutionellen Abhängigkeit der Minoritä- Die Tibet-Frage wird im Westen in der tur der Stammesgesellschaften noch un-
ten ihre Interessen am besten durchset- Regel als Sonderfall angesehen. Ent- gebrochen waren, einheimische Führer
zen und sich gegenseitig begünstigen weder wird ein „freies Tibet“ gefordert, vom Kaiserhof erbliche Titel und Ränge
können. Modernisierungsprozesse und d.h. ein unabhängiges Staatsgebilde innerhalb der chinesischen Beamtenhie-
sozialer Wandel erzeugen ein Gefühl oder – wie die Vertreter des Dalai La- rarchie. Die so geschaffenen „Beamten“
unterschwelliger Bedrohung, weil die ma – größere Selbstverwaltungsrechte. übten ihre Befugnisse unter der Aufsicht
damit verbundene Zuwanderung von Vergessen wird dabei, dass größere Au- chinesischer „Schutzherren“ aus. Da in
Han, die Abwanderung von Angehöri- tonomierechte lediglich für die Tibeter, diesen Regionen auch die unteren Be-
gen der eigenen Ethnie, die industrielle eine mittelgroße Nationalität auf chine- amten aus den Reihen der lokalen Füh-
Erschließung der Minderheitengebie- sischem Territorium, aber nicht zugleich rer stammten, spürten die so in das chi-
te sowie die Erodierung der eigenen auch für andere Völker Chinas, von den nesische Reich integrierten Völker oder
Kultur (Geringschätzung von eigenen Letzteren als ein Akt der Diskriminierung Stämme die Oberhoheit des Kaiserhofs
Trachten, Bräuchen und Sprachen vor begriffen würde. Die Tibeter in China nicht direkt. Zu unmittelbaren Eingrif-
allem unter der Jugend) die Integration machen lediglich 0,42 Prozent der Be- fen Pekings kam es nur, wenn dessen
und Konsistenz der einzelnen Ethnien zu völkerung und 5 Prozent der ethnischen Oberhoheit in Frage gestellt wurde oder
schwächen scheint. Minderheiten aus. Wenn aber – so Stämme sich auflehnten. Nicht militäri-
würden viele Provinzen argumentieren sche Eroberung, sondern indirekte Ver-
– Siedlungsgebiete ethnischer Minder- waltung war für diese Politik kennzeich-
Zwischen Resignation und heiten größere Selbstverwaltungsrech- nend. Dementsprechend hielten sich
Widerstand te erhielten, weshalb dann nicht auch die Bevollmächtigten des chinesischen
Provinzen? Von daher reicht diese Fra- Kaiserhofs in Tibet, die Ambane, wäh-
Die Nicht-Han-Völker reagieren unter- ge weit über Tibet hinaus und betrifft rend der Qing-Dynastie bei Eingriffen in
schiedlich auf diese Lage. Bei einigen letztlich die Struktur des chinesischen innere Angelegenheiten Tibets zurück,
ethnischen Gruppen wächst das Mo- Staatsgebildes. wobei es zugleich nur eine marginale
ment der Ethnizität, d.h. das Selbstbe- Im Folgenden wollen wir zunächst auf Militärpräsenz gab. Tibet hatte sich der
wusstsein eigener ethnischer Identität; den Status Tibets vor 1950 eingehen, Oberhoheit Pekings unterstellt, und die
bei einem Teil davon schlug Ethnizität in sodann auf die Tibetpolitik Pekings und Ambane übten die Kontrolle über die lo-
Widerstand um (wie in Tibet oder Xinji- die aktuelle Problematik, ehe wir am kale Verwaltung aus.
ang), verbunden mit dem Entstehen se- Ende auf mögliche Mechanismen zur Das war jedoch kein statischer Zustand
paratistischer Bewegungen. Vor allem Lösung der Nationalitätenkonflikte in bis zur chinesischen Revolution von
bei einigen kleineren Nationalitäten China zurückkommen. Die „Tibet-Frage“ 1911. Das Vorrücken der Briten auf dem
hat sich eine Tendenz zur Resignation lässt sich von der Nationalitätenproble- indischen Subkontinent veränderte die
und der Anpassung an die Han entwi- matik Chinas nur schwer trennen. Machtverhältnisse in Asien. China wur-
ckelt. Zum Teil, wie bei den nordostchi- de selbst Opfer kolonialer Machtpoli-
nesischen kleinen Jägervölkern (Ewen- tik und erlitt eine empfindliche Schwä-
ken, Oroqen, Dahuren, Hezhe), haben Der rechtliche Status Tibets vor 1950 chung, von der auch die Schutzmacht
der von den Behörden erzwungene über Tibet berührt wurde. Der Kaiserhof
Wandel im Wirtschaftsleben (Zwangs- Ab 1723 besaß Tibet den Status eines mit bemühte sich, seine Schwäche durch ein
sesshaftmachung mit erzwungener Um- China assoziierten Gebietes. Damals energischeres Vorgehen in Nord- und
wandlung von Nomaden sowie Jägern wandten sich die Tibeter an den chinesi- Osttibet auszugleichen, um dort territo-
und Sammlern in Ackerbauern) sowie schen Kaiser mit der Bitte um militärische riale Verluste zu verhindern. Tibet sah
der Kulturschock aufgrund des Verbots Unterstützung gegen eine Invasion der sich durch die britische Unterwerfung
schamanistischer und animistischer Ri- Dsungar-Mongolen. Nach deren erfolg- Indiens und das Vorrücken der Koloni-
tuale und Praktiken diese Völker ruiniert. reicher Vertreibung schloss Kaiser Kangxi almacht an seinen Grenzen bedroht.
Nicht anders als bei anderen indigenen einen Vertrag mit dem Dalai Lama, durch Daher schloss es bereits Ende des 18.

205
Thomas Heberer
Jahrhunderts sein Gebiet für Personen unabhängig erklärt, es zugleich aber timer Rechte, die China lediglich auf-
aus „westlichen Mächten“. Da Tibet eine versäumt, die Unabhängigkeit interna- grund zeitweiliger Schwäche und Zer-
„Schutzmacht“ England ablehnte, Chi- tional abzusichern. Damit fehlten 1950 rissenheit nicht hatte ausüben können.
na jedoch diese Funktion immer weniger drei entscheidende Voraussetzungen Peking hatte demnach nichts anderes
auszuüben vermochte, bemühte sich Ti- der Unabhängigkeit: 1. eine frühere Be- getan, als einem lange missachteten
bet seit der zweiten Hälfte des 19. Jahr- teiligung am Leben der internationalen Rechtsprinzip wieder Geltung zu ver-
hunderts um Äquidistanz, d.h. es pen- Staatengemeinschaft; 2. die Fortdauer schaffen. Bei dem chinesischen Vorge-
delte zwischen beiden Seiten, um keine der Schwäche Chinas; 3. eine Schutz- hen dürfte auch die militärstrategische
von ihnen zum Eingreifen zu provozieren macht, die, nach dem Rückzug Großbri- Lage Tibets ein wichtiger Gesichtspunkt
(Norbu 1992, S. 22–30). tanniens aus Indien im Jahre 1947, die gewesen sein. Tibet verfügt über eine
Als Peking 1908/09 seine Kontrolle über gewaltsame Eingliederung durch China natürliche Grenze nach Süden. Diese
Osttibet zu verstärken und damit das hätte verhindern können. strategische Bedeutung darf, vor al-
Fundament der bisherigen Beziehun- Die tibetische Regierung hatte 1947/48 lem unter den Bedingungen des Kalten
gen zu untergraben begann, wandte vergeblich Missionen in die Hauptstäd- Krieges, nicht gering bewertet werden.
sich der Dalai Lama an Großbritan- te der wichtigsten westlichen Staaten Tibet schafft zugleich eine natürliche
nien und bat dieses um die Errichtung gesandt, um eine Anerkennung zu er- Grenze und Barriere gegenüber dem
eines Protektorats. London lehnte dies reichen. Der Widerstand der damals Rivalen Indien, mit dem nach wie vor
ab, weil Tibet, wie es in einem britischen noch von der Guomindang gestellten Grenzstreitigkeiten bestehen. Überdies
Dokument hieß, als „worthless piece of Regierung in Peking ließ deren wich- war Tibet als große, menschenleere Re-
territory“ (Norbu 1992, S. 34) betrachtet tigsten Verbündeten, die USA, das An- gion mit beträchtlichem Rohstoffpoten-
wurde. Die Kosten einer Inbesitznahme sinnen zurückweisen. Auch nach ihrer tial für China interessant.
wurden als zu hoch veranschlagt; eine Übersiedlung nach Taipeh verhinderte
Übernahme hätte zudem zu Konflik- die nicht-kommunistische Führung der
ten mit Russland geführt. Diese beiden Republik China, die noch jahrzehnte- Die Tibet-Politik nach Gründung
Mächte einigten sich bei dem Ringen um lang den Sitz im UNO-Sicherheitsrat in- der VR China
die Macht in Zentralasien darauf, Tibet nehatte, eine Änderung der westlichen
als Pufferzone zwischen ihren Einfluss- Haltung. Auch wollten sich Großbritan- 1951 zwang China der tibetischen Re-
sphären zu etablieren, vorzugsweise nien (als Kolonialmacht in Hongkong) gierung ein „17-Punkte-Abkommen“ auf.
unter chinesischer Oberhoheit. Nach und Frankreich (als Kolonialmacht in Darin erklärte sich Peking seinerseits be-
dem Ende der kaiserlichen Herrschaft dem an China grenzenden Indochina) reit, nichts am politischen System Tibets
in Peking erklärte der Dalai Lama sein auf keinen Konflikt mit Peking einlassen, zu ändern, Religionsfreiheit sowie loka-
Land 1912 für unabhängig. China er- weil dieser ihre kolonialen Interessen in le Sitten und Bräuche zu respektieren,
kannte diesen Schritt nicht an und gab Fernost hätte beeinträchtigen können. die Klostergemeinschaften und deren
seinen Anspruch auf Tibet nie auf. Dies Aus chinesischer Sicht erschien die ge- Einnahmen sowie tibetische Sprache
gilt für die Guomindang unter Sun Yat- waltsame Wiedereingliederung Tibets und Schrift zu schützen. Das bezog sich
sen, Chiang Kai-shek und dessen Nach- völlig gerechtfertigt. China ging und allerdings von vornherein nur auf die ti-
folger ebenso wie für die Kommunisten. geht von einem anderen Nations- und betische Provinz U-Zang, das heutige
Vor dem Einmarsch der Chinesen 1950 Staatsbegriff aus als die westlichen Autonome Gebiet Tibet, nicht aber auf
hatte kein Staat Tibet als selbstständi- Länder. Danach sind alle Völker, die bis die beiden anderen Provinzen des Berg-
ges völkerrechtliches Subjekt anerkannt. 1911 auf chinesischem Territorium ge- landes, Amdo und Kham, die im 18. und
Verträge zwischen Großbritannien und lebt haben, Teil des chinesischen Vol- 19. Jahrhundert chinesischen Provinzen
China bekräftigten auf allerdings wi- kes. Der in China verwendete Begriff zugeschlagen worden waren und heute
dersprüchliche Weise, dass Tibet zwar „Chinesen“ (Zhongguoren) schließt alle zu den Provinzen Qinghai, Gansu, Si-
unabhängig sei, aber chinesischer Bewohner des Landes unabhängig von chuan und Yunnan gehören.
Oberherrschaft unterstehe. ihrer Nationalität ein. Die Angehörigen Die Konflikte zwischen Chinesen und Ti-
der chinesischen Ethnie heißen „Han“ betern spitzten sich zunächst in den ti-
und gelten als eine der 56 Nationali- betischen Siedlungsgebieten zu, für die
Völkerrechtlicher Status umstritten täten des Landes. Anders als in West- das Abkommen nicht galt. Dort wurden
europa, wo im 18. und 19. Jahrhundert − wie im übrigen China − die politischen
Bei Zugrundelegung der Konvention relativ einheitliche Nationen National- Verhältnisse von Grund auf verändert.
über die Rechte und Pflichten von Staa- staaten bildeten (Übereinstimmung von Die Freiheiten der Religionsausübung
ten des Völkerbunds von 1933 (Konven- Nationalprinzip und Nationsprinzip), wurden erheblich eingeschränkt, Klös-
tion von Montevideo; 26.12.1933) wa- wird in China das Territorialprinzip zum ter enteignet bzw. geschlossen, deren
ren für die Anerkennung eines Staates Nationsprinzip gemacht. Bereits Sun Mönche einer „Umerziehung durch kör-
bestimmte Kriterien maßgebend: eine Yat-sen, der Gründer der Republik Chi- perliche Arbeit“ unterworfen. Die sich
permanente Bevölkerung, ein fest um- na, schrieb nach der Unabhängigkeits- daraus ergebenden Konflikte, eine zu-
rissenes Territorium, eine Regierung und erklärung der Mongolen (die später zur nehmende religiöse Einengung und po-
die Fähigkeit, Beziehungen zu anderen Gründung der Mongolischen Volksre- litische Gängelung sowie das Fehlen
Staaten aufzunehmen (Eide 1993, S. publik führte), auch die Mongolen seien jeder rechtlichen Gewähr für die Einhal-
13f.). Diese Erfordernisse waren im Falle und blieben Chinesen, auch wenn sie tung des „17-Punkte-Abkommens“ führ-
Tibets alle erfüllt − mit einer einzigen dies eine Zeitlang vergessen hätten. ten zum tibetischen Aufstand von 1959,
Ausnahme: Tibet war kein international Von daher stehen sich hier zwei un- in dessen Verlauf etwa 87.000 Tibeter ihr
anerkannter Staat. Die fehlende An- terschiedliche Rechtskonzepte gegen- Leben verloren und 100.000 weitere mit
erkennung durch die Staatengemein- über. Nach den Normen des heutigen dem Dalai Lama nach Indien flüchteten.
schaft, die Zuordnung zu China und der Völkerrechts war die Ausdehnung der In der Zeit nach 1959 wurden die tra-
von Peking aufrechterhaltene Anspruch chinesischen Macht auf Tibet eindeutig ditionellen Strukturen Tibets gewaltsam
lassen den völkerrechtlichen Status eine Okkupation. Nach chinesischem beseitigt. Die tibetische Elite und der
des Landes vor 1950 als nicht eindeu- Rechtsverständnis dagegen handelte Grundpfeiler der tibetischen Kultur, die
tig erscheinen. Zwar hatte Tibet sich für es sich um die Wiederherstellung legi- Klöster, wurden vernichtet. Mit der Zer-

206
störung von 2.690 bedeutenderen Klös- Japan und Vietnam − der chinesische NATIONALITÄTENPROBLEME IN CHINA
tern von insgesamt 2.700 verschwanden Einfluss in Tibet eng begrenzt blieb. Die UND DIE TIBET-FRAGE
praktisch alle Bildungs-, Kultur- und Reli- seit den 1980er Jahren zu beobachten-
gionsinstitutionen Tibets. Das lastet die de Renaissance des tibetischen Bud-
Parteiführung heute der „Kulturrevoluti- dhismus ist daher als Ausdruck eines
on“ und der „Viererbande“ an, wobei es zunehmenden ethnischen Eigen- und
zugleich heißt, auch die Han-Chinesen Selbstbewusstseins zu werten. Dabei in einer religiös festgelegten Form. Die
seien damals Opfer gewesen. Zweifel- führt die Religion nicht nur zur Rückbe- Aktivität der Mönche und Nonnen fin-
los war die Gesamtbevölkerung Chinas sinnung auf die eigene Kultur und kultu- det auch aus anderen als religiösen
von der damaligen Brutalität betroffen relle Identität, sondern dient auch der Gründen Unterstützung. In den Reihen
− allerdings mit einem gravierenden Verarbeitung des sozialen Wandels. der chinesisch sozialisierten tibetischen
Unterschied: Für Chinesen war die Kul- Die enge Verflechtung von Religion und Funktionäre sorgen Unzufriedenheit mit
turrevolution ein politischer Konflikt, von Nation zeigt sich nicht zuletzt daran, der insbesondere auch im Vergleich
dem das eigene Volk betroffen war; für dass Mönche und Nonnen führende zum übrigen China schlechten ökono-
die Tibeter dagegen handelte es sich Kräfte in der nationalen Bewegung sind. mischen Lage Tibets, mit dem ständigen
um einen nationalen Konflikt, der von Das liegt zum einen in der traditionell Zustrom von Han-Chinesen, mit der sich
Han-Chinesen ausging und sich gegen führenden politischen Rolle der Klöster ausbreitenden ökologischen Zerstö-
ein anderes Volk, die Tibeter, richtete. begründet. Zum anderen sind die Mön- rung, dem enormen Bildungsrückstand
Als der damalige Generalsekretär der che und Nonnen aufgrund ihrer geisti- im Lande und mit dem Scheincharakter
Kommunistischen Partei Chinas, Hu Yao- gen Ungebundenheit und Unbestech- der gewährten Autonomie für Aufnah-
bang, 1980 als erster Parteichef Tibet ei- lichkeit die natürlichen Bewahrer der mebereitschaft.
nen Besuch abstattete, war er erschüttert. tibetischen Kultur. Drittens muss, wer ins Die inneren und äußeren Bedingungen
Er fand eine bettelarme Region vor, deren Kloster gehen will, zahlreiche bürokrati- für den tibetischen Nationalismus ha-
Führung mit falschen Erfolgsmeldungen sche Hürden überwinden; er führt nicht ben sich in den 1990er Jahren verändert
die Parteiführung in Peking jahrzehnte- mehr − so wie früher − ein Leben in sozi- (Sautman 2006). Aus der jüngeren Ge-
lang hinters Licht geführt hatte. Daraufhin al gesicherter Umgebung und fasst dar- neration in den Klöstern und außerhalb
veranlasste Hu einen „Tibet-Beschluss“, um seinen Entschluss in Kenntnis großer derselben ist man zu organisierten For-
der weitreichende ökonomische Freihei- bevorstehender Ungewissheit um der men des Widerstands übergegangen.
ten und Sondermaßnahmen vorsah. Von tibetischen Kultur und Nation willen. Diese Generation ist unter chinesischer
nun an wurde nicht mehr wahllos alles Aufgrund des Zölibats können sich die Herrschaft aufgewachsen, kennt das tra-
Tibetische unterdrückt, vielmehr schlug Mönche und Nonnen viertens bedin- ditionelle Tibet nicht mehr und orientiert
sich die Reformpolitik in größeren wirt- gungsloser für die tibetische Unabhän- sich nicht unbedingt an Werten wie fried-
schaftlichen Freiheiten sowie kulturel- gigkeit einsetzen und größere Opferbe- lichem Widerstand. Zugleich haben die
ler und religiöser Liberalisierung nieder reitschaft an den Tag legen. Die Klöster Öffnung Chinas, die Reformpolitik und
(vgl. Heberer 2001). Aber trotz größerer bieten fünftens geistigen Freiraum, der die dadurch ermöglichte soziale Mobili-
ökonomischer Freiheiten hat sich an der unter anderem durch das liberale und tät zu einem Nachlassen der Regierungs-
politischen Rigidität wenig geändert. Die humanitäre Gedankengut der buddhis- kontrolle über die Regionen geführt. Die
Liberalisierung hat allerdings das Entste- tischen Lehre bedingt ist. Schließlich partielle Schwächung der Parteistruktu-
hen eines ethnischen Eigenbewusstseins hat das Mönchsgelübde den Einsatz für ren, vor allem in den ländlichen Regionen,
unter den Tibetern begünstigt. die Gemeinschaft − und das bedeutet lässt die tibetischen Funktionäre nicht
Einsatz für die Unabhängigkeit Tibets mehr so sehr die Interessen der Kommu-
− zum Inhalt. Wer dieses Gelübde treu nistischen Partei Chinas als vielmehr die
Von Ethnizität zum Nationalismus erfüllt und vielleicht sogar sein Leben Tibets vertreten. Im Ausland hat sich die
dafür opfert, dem ist der Lohn, die Wie- Aufmerksamkeit für Tibet verstärkt. Über-
Wenn sich der innerchinesische Na- dergeburt als menschliches Wesen im dies hat die Erfahrung, dass kleine Völ-
tionalitätenkonflikt − außer in Xinji- nächsten Leben, gewiss. Dies wieder- ker sich in anderen Ländern erfolgreich
ang/Ostturkestan − heute in Tibet am um erscheint wichtig für das Erreichen gegen übermächtige Gegner zur Wehr
schärfsten äußert, so liegt das daran, des geistlichen Endziels, des Nirwana. gesetzt haben, die Verfechter der tibeti-
dass hier ein Volk mit hohem ethnischen Daher verschmelzen für den Tibeter im schen Unabhängigkeit ermutigt.
Eigenbewusstsein in einem relativ ge- Mönchsein religiöse und nationale Zie-
schlossenen Siedlungsgebiet lebt und le (Schwartz 1994, S. 71 und 120).
sich kulturell wie historisch als nicht-chi- Zugleich manifestiert sich der nationale Oberhoheit über die Ernennung
nesische Nation versteht. Das ethnische Protest in religiösen Ausdrucksformen. religiöser Führer Tibets
Wir-Gefühl wurde durch die während Alle Demonstrationen in Lhasa in den
der Kulturrevolution versuchte Zwangs- letzten Jahrzehnten liefen nach dem Im Juli 2007 hat das Nationale Büro für
assimilierung nicht beseitigt. Doch erst gleichen Schema ab: Kleine Gruppen Religionsangelegenheiten interessan-
die Politik der Liberalisierung und Au- von Mönchen oder Nonnen umrunde- terweise die “Verwaltungsmaßnahmen
ßenöffnung ermöglichte es, dass es sich ten immer wieder den Jokhang-Tempel, für die Reinkarnation Lebender Buddhas
äußern konnte, dann angesichts des das zentrale Heiligtum Tibets, führten des tibetischen Buddhismus” erlassen,
Ausbleibens der erhofften Veränderun- die tibetische Flagge mit sich und riefen die am 1. September 2007 in Kraft tra-
gen politisierte und schließlich in ethni- Unabhängigkeitsparolen. Diese Umrun- ten (vgl. Heberer 2008).
schen Nationalismus umschlug. dung des Tempels in der Richtung, in der Die wichtigsten Klauseln der Verwal-
Die bei den Tibetern über Jahrhunderte sich die Erde dreht, ist ein sehr wichtiges tungsmaßnahmen sehen u. a. vor:
hinweg entstandene Einheit von natio- Ritual (Khorra) im tibetischen Buddhis-  Die Prozedur zur Identifizierung von
naler und religiöser Identität, die den mus. Es gilt als Mittel zur Überwindung Reinkarnationen und das Findungser-
Buddhismus nicht nur Religion, sondern von Sünden und zur Sammlung von Ver- gebnis bedürfen staatlicher Genehmi-
auch Kultur, Zivilisation und Substanz diensten zwecks besserer Wiederge- gung.
allen Lebens sein lässt, hat seit jeher da- burt (Schwartz 1994, S. 26 und 218). Das  Einmischung oder Kontrolle von Orga-
zu geführt, dass − anders als in Korea, Nationale äußert sich auf diese Weise nisationen oder Personen außerhalb

207
Thomas Heberer
des chinesischen Staatsgebietes wer- schen Interesses und politischer Macht, te für die ethnischen Minoritäten in den
den nicht toleriert. zumal die ausgewählten Reinkarnatio- Parlamenten aller Ebenen. Zwar sichert
 Unautorisierte Prozeduren sind illegal. nen einen enormen Einfluss in Tibet und dies keine Partizipation im demokrati-
Anlass für diesen Erlass ist zum einen die auf die Tibeter ausüben können. Eine schen Sinne, es weist aber auf ein gewis-
Auseinandersetzung um die Reinkarna- chinesische Sozialisierung, so die Hoff- ses Maß an Akzeptanz von Vertretungs-
tion des Panchen Rinpoche (Panchen nung Pekings, soll dazu beitragen, den rechten für Minderheiten und deren In-
Lama) und zum anderen die Regelung Antagonismus zwischen Tibetern und klusion in Entscheidungsprozesse hin.
der künftigen Reinkarnation des Dalai der chinesischen Zentralregierung zu Unabhängig von einer künftigen Ge-
Lama, der sich bekanntermaßen seit sei- entschärfen. Die größere Rolle staatli- staltung des Staatswesens könnten die
ner Flucht im Jahre 1959 im indischen cher Verwaltungsebenen und offizieller folgenden Maßnahmen zu einer Lösung
Dharamsala im Exil aufhält. Religionsorganisationen (Buddhistische der oben erwähnten Konfliktursachen
Nach dem Tod des zehnten Panchen La- Vereinigung Chinas), deren Zustimmung beitragen:
ma Anfang 1989 setzte der Dalai Lama auf allen Ebenen einzuholen ist, sollen  Anerkennung, dass es auch unter sozia-
einen Findungsprozess in Gang. 1995 die staatliche Aufsicht verstärken. listischen Bedingungen keine Interes-
wurde von einer Findungskommission, Dieses Dokument erhält zentrale Be- sensidentität von ethnischen Minderhei-
die vom Dalai Lama autorisiert worden deutung im Hinblick auf die in Zukunft ten und Staat gibt, zumal aus der Annah-
war, ein Kind namens Gedhun Ghoeki irgendwann zu erwartende Reinkar- me einer solchen Identität der Schluss
Nyima in Tibet als elfte Reinkarnation nation des 15. Dalai Lama, d.h. des gezogen wird, es gäbe keine Konflikte
des Panchen Lama identifiziert. Mehrere Nachfolgers des jetzigen Dalai Lama, und Widersprüche mehr. Die Entwicklun-
religiöse Wahrsagezeremonien bestä- der als religiöses und auch politisches gen auf dem Balkan und in der ehemali-
tigten die Auswahl. Noch im gleichen Oberhaupt der Tibeter fungiert und gen Sowjetunion haben bereits gezeigt,
Jahr erklärte die chinesische Regierung dessen Amt damit eine Schlüsselfunkti- wie fatal eine solche Annahme ist.
diese Wahl für ungültig und setzte eine on sowohl für Tibet und die Tibeter so-  Längerfristig könnte die Schaffung eines
eigene Findungskommission ein, die mit wie deren internationale Unterstützung föderativen Staates eine Lösungsmög-
Hilfe der traditionellen „Goldenen Ur- als auch für die chinesische Regierung lichkeit bieten. Eine föderalistische Re-
ne“ einen eigenen Kandidaten bestimm- besitzt. Dass sich hier eine Machtprobe gelung böte sich nicht nur für Tibet oder
te. Bei diesem Verfahren, das 1793 von zwischen dem Dalai Lama und Peking Taiwan an, sondern auch für zahlreiche
dem chinesischen Kaiser Qian Long ins abzeichnet, wird u. a. dadurch verdeut- andere Regionen, in denen Nicht-Han-
Leben gerufen worden war, wird durch licht, dass der 72 Jahre alte Dalai La- Völker leben. Eine föderalistische Struk-
Ziehung eines Namens die entsprechen- ma jüngst erklärte, er werde unter Um- tur würde nicht nur den ethnischen Ge-
de Person identifiziert (dazu unten). Das ständen nicht wiedergeboren, sondern gebenheiten entsprechen. Auch den
Kind Gyaltsen Norbu wurde als Reinkar- werde seinen Nachfolger noch zu Leb- räumlichen Bedingungen könnte auf
nation des Panchen Lama identifiziert zeiten selbst bestimmen. Von daher ist diese Weise Rechnung getragen wer-
und 1996 zur Ausbildung nach Peking absehbar, dass es nach dem Ableben den. Die Zentralregierung tut sich auf
gebracht. Die zuvor identifizierte, vom des jetzigen Dalai Lama zwei Nachfol- Grund der Größe und Vielfalt des Lan-
Dalai Lama gebilligte Reinkarnation ger geben dürfte: einen, der vom noch des seit jeher schwer, flexibel und
Gedhun Ghoeki Nyima soll mittlerweile lebenden Dalai Lama ernannt wurde sachadäquat zu handeln. Doch wenn
an einem unbekannten Ort leben. Der und in Dharamsala residiert, und einen, sich die Haltung der Chinesen gegen-
heute 17 Jahre alte Gyaltsen Norbu, die der mit Genehmigung der chinesischen über den Nicht-Han-Völkern nicht än-
von staatlichen Behörden legitimierte Behörden inthronisiert wurde und in Pe- dert, wird auch ein föderalistisches Sys-
Reinkarnation, wurde in Peking erzogen king sitzt. Die Folge dürfte eine Spal- tem die Probleme nicht lösen. Ein dauer-
und bezeichnet sich bei seinen Auftritten tung der Tibeter sein, die bereits eine haftes, stabiles föderalistisches System
als „Patriot“ und lobt die Kommunistische Doppelbesetzung im Hinblick auf den lässt sich nur auf Grund des Konsenses
Partei und ihre Religionspolitik. Panchen Lama hinnehmen mussten. zwischen allen beteiligten Völkern schaf-
Die früheren Verfahrensmodalitäten fen. Föderative Strukturen tragen zu-
ebenso wie die neuen „Verwaltungs- gleich den Unterschieden zwischen den
maßnahmen“ weisen darauf hin, dass Perspektiven für Chinas Kulturen und Regionen Rechnung und
es sich nicht nur um eine religiöse, son- ethnische Minderheiten können deren Akzeptanz erleichtern.
dern vielmehr um eine hochpolitische  Dies wiederum würde größere Rechtssi-
Angelegenheit handelt. Letztlich geht Die chinesische Nationalitätenpolitik cherheit voraussetzen, d.h. die gesetzli-
es um die Frage der politischen Auto- nach 1949 wies durchaus konstruktive che Absicherung kultureller, ökonomi-
rität und Zuständigkeit über Tibet und Ansätze auf, die für eine künftige Natio- scher und sozialer Autonomie. Autonome
den Einfluss der zentralen Behörden nalitätenpolitik fruchtbar gemacht wer- Rechte wären vor allem auch für die in-
Chinas. Lassen sich die Intentionen der den könnten. Die Volksrepublik erkannte digenen, kleineren Minoritäten wichtig,
Qing-Zeit eher als Regelungs- und Kon- in den 50er Jahren offiziell über 50 „na- um deren Überleben zu sichern. Die au-
fliktvermeidungsstrategien in einer Re- tionale Minderheiten“ und damit erst- tonomen Verwaltungseinheiten sollten
gion interpretieren, die als mit China mals deren reale Existenz an und sicher- zugleich über wichtige Fragen wie Zu-
assoziierte Region zu begreifen war, te diese Anerkennung zugleich rechtlich wanderungen, Industrieansiedlung,
so versucht Peking heute, den Einfluss ab. Es wurde ein Recht auf Autonomie Landnutzung und -vergabe, die Kontrolle
des Dalai Lama bei der Auffindung von formuliert und in Teilbereichen gewährt. über die natürlichen Ressourcen des Ge-
Reinkarnationen zurückzudrängen, um Verfassungsrechtlich gelten alle Natio- bietes oder Umwelt- und Ökologieschutz
eine befürchtete Sezession Tibets im nalitäten als gleichberechtigt. Diskrimi- selbstständig entscheiden können.
Vorfeld zu unterbinden. Das Erfordernis nierung wurde gesetzlich untersagt.  Ein institutioneller Rahmen für die Durch-
staatlicher Legitimierung des Auswahl- Auch Ansätze zur Sonderbehandlung führung und Durchsetzung von Autono-
prozesses und die Beeinflussung der sind erkennbar, wie beim Hochschulzu- mie ist also erforderlich. Dies verlangt u.
Entscheidung, wer letztlich über die In- gang, bei Geburtenplanung oder Ver- a. ein unabhängiges Gerichtswesen:
thronisierung entscheidet und wo und wendung von Sprachen und Schriften. der Mehrheit müssen rechtliche Gren-
wie der künftige Würdenträger ausge- Ferner gibt es schriftlich fixierte sowie zen gesetzt werden. Auch die Partei
bildet wird, ist letztlich eine Frage politi- prozentual festgelegte Vertretungsrech- dürfte dann nicht außerhalb des Rechts-

208
rahmens stehen und der Autonomie tiert werden und den Gesetzen zufolge NATIONALITÄTENPROBLEME IN CHINA
übergeordnet bleiben. Nicht nur Einzel- die gleichen Rechte wie die ethnische UND DIE TIBET-FRAGE
personen, sondern auch ethnischen Ge- Majorität genießen. Zudem besteht
meinschaften sollte das Recht einge- Konsens in der Notwendigkeit von Son-
räumt werden, Klage gegen Rechtsver- derbehandlung und positiver Diskrimi-
stöße zu führen. nierung. Doch wie realistisch ist über-
 Geschichte und Kultur der einzelnen haupt die Möglichkeit einer Umsetzung null. Der Verhandlungsdruck ist schwach,
Nationalitäten sowie die Geschichte des vorgeschlagenen Maßnahmenka- China befindet sich in einer Position der
der interethnischen Beziehungen soll- talogs? Es ist eine Binsenwahrheit, dass Stärke und hat insoweit die Unterstüt-
ten neu bewertet werden und zwar in in autoritären Staatswesen keine demo- zung der Staatengemeinschaft, als diese
einem offenen Diskurs von Angehörigen kratische Nationalitätenpolitik möglich einhellig Tibet als Teil Chinas betrachtet.
der verschiedenen Nationalitäten. Das ist. Immerhin ist in den letzten Jahren Die Kritik einzelner Länder bezieht sich
Konzept der Hierarchisierung von Kul- eine Diskussion über umfangreichere lediglich auf die Einhaltung der Men-
turen und Gesellschaften sollte aufge- Rechte und ein größeres Maß an Parti- schenrechte. Sollte es unter veränderten
geben und es sollte anerkannt werden, zipation für die ethnischen Minoritäten Bedingungen zu Verhandlungen kom-
dass alle Kulturen und Nationalitäten in Gang gekommen. Die Diskussion kon- men, dann läge das erste Problem in der
politisch, gesellschaftlich und kulturell zentrierte sich zunächst auf das Autono- Frage, welche Grenzen Tibet hat. Wäh-
gleichwertig sind. miegesetz sowie dessen Mängel. rend sich die tibetische Exilregierung auf
 Rechte von Minderheiten, die außerhalb Zudem hat die Parteiführung nicht zu- Großtibet bezieht, umfasst Tibet für Pe-
autonomer Verwaltungseinheiten leben, letzt aufgrund der internationalen Ent- king nur die heutige „Autonome Region“.
sollten abgesichert werden. Territoriale wicklung erkannt, welche Brisanz Nati- Die tibetischen Unabhängigkeitsforde-
Autonomie sollte zugleich von persona- onalitätenkonflikte in sich tragen. Neue rungen zielen auf einen Nationalstaat
ler begleitet sein. Die Sicherstellung und Denkansätze sind erkennbar, jedoch ab, der historische, ethnische und geo-
Durchsetzung der genannten Rechte er- nicht so weit gediehen, dass der staat- graphische Grenzen zur Deckung brin-
fordert eine organisierte und legitimierte liche Diskurs durch einen öffentlichen, gen soll. Dieses Großtibet würde mehr
Interessensvertretung der einzelnen Na- interethnischen abgelöst wird. Die Ver- als ein Fünftel des gegenwärtigen chine-
tionalitäten, zumal das Recht auf Auto- schärfung der Konflikte wie zuletzt in sischen Territoriums umfassen. Auf die-
nomie nur durch organisierte Gemein- Tibet dürfte die Frage des Konfliktma- sem Territorium, von dem über die Hälfte
schaften vertreten bzw. ausgeübt wer- nagements daher zu einer der zentralen seit 100 bis 200 Jahren nicht mehr den ti-
den kann. Dies verlangt zunächst Verei- politischen Fragen werden lassen. betischen Behörden untersteht, übertref-
nigungsfreiheit für die Minoritäten, d.h. fen zudem die Chinesen mit ihren über
soziale Gruppenbildung. sieben Millionen Einwohnern die Zahl
 Maßnahmen gegen die wachsende Die ungelöste Tibet-Frage der Tibeter erheblich. Solange die poli-
Diskriminierung von Angehörigen ethni- tische Lage in China relativ stabil bleibt,
scher Minderheiten sollten ergriffen Was die Tibet-Frage anbelangt, so wä- ist eine Unabhängigkeit Tibets nicht vor-
werden. Zwar ist offene Diskriminierung re eine Lostrennung Tibets nur bei einem stellbar. Zu groß ist die quantitative und
gesetzlich untersagt, Diskriminierung extremen Umbruch in China und mit äu- militärische Überlegenheit der Chine-
herrscht allerdings latent auch im Alltag ßerer Unterstützung denkbar. Es wäre sen. Auch die internationale Staatenge-
und nimmt besorgniserregend zu. auf jeden Fall ein Gesichtsverlust für jede meinschaft wird nicht von dem Prinzip
Solche Maßnahmen träfen in China chinesische Führung. Diese müsste zudem abgehen, dass Tibet Teil Chinas ist. Auch
durchaus auf fruchtbaren Boden, zumal befürchten, dass dadurch weitere Sezes- künftig werden die westlichen Länder nur
ethnische Minderheiten als solche for- sionsbestrebungen ermutigt werden wür- an den Menschenrechtsverletzungen in
mal anerkannt und gesetzlich respek- den. Die Tibet-Frage könnte nicht als ge- Tibet Kritik üben.
löst gelten, wenn China lediglich so wie
ab 1912 aufgrund innerer Schwäche die
Kontrolle über Tibet verlieren würde. Nach
erneutem politischem Erstarken würde Pe- LITERATUR
king dann neuerlich versuchen, Tibet ge-
Eide, Asbjorn (1993): In Search of Constructive
waltsam wiedereinzugliedern. Der Dalai
UNSER AUTOR

Alternatives to Secession. In: Tomuschat, Christi-


Lama hat bereits Ende der 1980er Jahre an (Hrsg.) (1993): Modern Law of Self-Determina-
einige Vorschläge für Verhandlungen tion. Dordrecht 1993.
unterbreitet: Umwandlung Tibets in eine Heberer, Thomas (2008): Peking erlässt die „Ver-
Friedenszone, sofortiger Stopp der chine- waltungsmethode zur Reinkarnation eines Le-
benden Buddhas im tibetischen Buddhismus“.
sischen Migration nach Tibet, Respektie- In: Zeitschrift für Chinesisches Recht, 1/2008,
rung der grundlegenden Menschenrech- S. 1–10.
te und der demokratischen Freiheiten der Heberer, Thomas Heberer (2001): Die Nationali-
Tibeter, Wiederherstellung und Schutz tätenfrage in China am Vorabend des 21 . Jahr-
hunderts. Konfliktursachen, ethnische Reaktionen,
von Natur und Umwelt, schließlich ernst-
Lösungsansätze und Konfliktprävention. In: Schu-
hafte Verhandlungen über den künftigen bert, Gunter (Hrsg.) (2001): China: Konturen einer
Professor Dr. Thomas Heberer ist Inha- Status Tibets. Prinzipiell hat er sich bei Übergangsgesellschaft auf dem Weg in das
ber des Lehrstuhls für Politik Ostasiens einem Verbleib Tibets im chinesischen 21 . Jahrhundert. Hamburg 2001, S. 81–134.
an der Universität Duisburg-Essen. Er Staatsverband ausgesprochen, wobei Ti- Norbu, Darwa (1992): Imperialism and Inner Asia
1775–1907. How British India and Imperial China
beschäftigt sich seit über 40 Jahren mit bet ein hohes Maß an Autonomie erhal- Redefined the Status of Tibet. In: Warikoo, Kulb-
China und hat viele Jahre dort gelebt ten soll. Letzteres wurde bislang jedoch hushan B./Norbu, Darwa (1992): Ethnicity and
und gearbeitet. Seine Arbeits- und For- nicht präzisiert. Politics in Central Asia, New Delhi, S. 22–30.
schungsschwerpunkte sind: politisches Die Chancen, dass dieses vom Dalai La- Sautman, Barry (Hrsg.) (2006): Contemporary
Tibet. London 2006.
System, politischer, institutioneller und ma formulierte Minimalverlangen zum
Schwartz, Ronald D. (1994): Circle of Protest. Po-
sozialer Wandel, soziale Akteure, Kor- Verhandlungsgegenstand mit Peking litical Ritual in the Tibetan Uprising. London
ruption und Nationalitätenpolitik. werden könnte, sind gegenwärtig gleich 1994.

209
DIE ALLGEGENWÄRTIGE UMWELTKRISE

Schöne neue Welt im Grauschleier. Chinas


ökologische Situation und Umweltpolitik
Eva Sternfeld

dass die durch Umweltverschmutzung der olympischen Segelwettbewerbe,


Das atemberaubende Wirtschaftswachs- und -zerstörung verursachten Schäden schaufelten zur gleichen Zeit 139.000
tum Chinas hat seine Schattenseiten. Die zwischen drei und zehn Prozent des Armeesoldaten und andere Helfer gif-
Umweltkrise ist allgegenwärtig. China Bruttoinlandsprodukts auffressen. Die tigen Algenschleim aus dem Meer. Die
sieht sich aufgrund seiner naturräumlichen Umweltschäden haben vielerorts solch chinesischen Behörden, die „grüne
Gegebenheiten mit „traditionellen“ Um- apokalyptische Ausmaße erreicht, dass Spiele“ versprochen hatten, waren in-
weltproblemen wie Dürren, Überschwem- die Sanierung selbst unter größten An- ternational blamiert.
mungen, Verlust von Biomasse, Erosion strengungen kaum gelingt. Mindestens Chinas Umweltkrise ist allgegenwärtig
und Ausbreitung der Wüsten konfrontiert. zehn Milliarden Euro wurden seit 2001 und wird sowohl von der politischen
Durch die immense Industrialisierung und allein in Umweltschutzmaßnahmen für Führung als auch von der Bevölkerung
Intensivierung der Landwirtschaft kom- die Olympiastadt Beijing (Peking) in- als einer der entscheidenden Faktoren
men „moderne“ Umweltbelastungen hin- vestiert. 2 Doch der Erfolg blieb beschei- gesehen, die den angestrebten Weg
zu: Luft- und Gewässerverschmutzung, den. Trotz Fahrverboten und Schlie- zu einer bedeutenden Wirtschafts- und
Schadstoffbelastungen in Agrarerzeug- ßung von hunderten von Industriebe- Weltmacht gefährden könnten. 3 Mit zu-
nissen und ansteigende Treibhausgas-
trieben waberte noch wenige Tage vor nehmender Sorge verfolgt die gegen-
emissionen. Die Konflikte um knappe
der Eröffnung der Olympischen Spiele wärtige Regierung, wie sich Konflikte
Ressourcen verschärfen sich. Unter volks-
grauer Smog über der Mega-Stadt, la- um knappe Ressourcen verschärfen
wirtschaftlichen Gesichtspunkten verur-
sacht die Umweltzerstörung erhebliche gen die krebserregenden Feinstaubbe- und Umweltzerstörung nicht nur gro-
ökonomische Schäden. Eva Sternfeld er- lastungen um bis das Zehnfache über ße ökonomische Schäden verursacht,
örtert die verschiedenen Dimensionen der den von der Weltgesundheitsorganisa- sondern mitunter auch zum Auslöser für
chinesischen Umweltsituation und analy- tion (WHO) empfohlenen Werten. An soziale Unruhen wird. Nie zuvor haben
siert die Wirkung der umweltpolitischen der Küste vor Qingdao, Austragungsort sich chinesische Regierungsvertreter so
Maßnahmen und Anstrengungen auf dem
Gebiet des Umweltrechts. Obwohl sich
die chinesische Regierung der Umwelt-
problematik durchaus bewusst ist, greifen
die umweltpolitischen Instrumente nur in
besser entwickelten Landesteilen und
verschärfen damit die regionalen Dispa-
ritäten. Angemahnt wird ein vermehrter
Investitionsbedarf in Umweltschutzmaß-
nahmen, ein Mehr an Transparenz im Hin-
blick auf Umweltinformationen und eine
bessere Rechtssicherheit. 

Chinas Umweltkrise ist


allgegenwärtig

Auf der ersten UN-Umweltkonferenz,


die 1972 in Stockholm stattfand, gab
sich der Vertreter des damals noch bit-
terarmen Landes optimistisch und unbe-
kümmert: „Wir werden nicht aus Angst
vor dem Ersticken das Essen aufgeben,
nicht aus Angst vor Verunreinigung der
Umwelt darauf verzichten, unsere In-
dustrie zu entwickeln.“ 1 Seither hat die
Volksrepublik China ein atemberau-
bendes Wirtschaftswachstum erlebt,
doch zu einem hohen Preis: Jeden drit-
ten Tag kommt es irgendwo im Land zu
einer größeren Umweltkatastrophe und
diese Fälle, die es in die Schlagzeilen
schaffen, sind nur die Spitze des Eis-
bergs. Schätzungen gehen davon aus,

210
häufig und offen zur Umweltkrise geäu- Umweltbelastungen mehrerer Dimen- SCHÖNE NEUE WELT IM GRAUSCHLEIER.
ßert wie Ministerpräsident Wen Jiabao sionen zugleich. In weiten Teilen des CHINAS ÖKOLOGISCHE SITUATION UND
und Parteichef Hu Jintao dies regelmä- Landes sieht sich China mit einem Teu- UMWELTPOLITIK
ßig tun. Bereits 2005 hatte der stell- felskreis von Armut der überwiegend
vertretende Umweltminister Pan Yue in ländlichen Bevölkerung und „traditio-
einem aufsehenerregenden Interview nellen” Umweltproblemen wie Dürren,
mit dem Spiegel gewarnt: „Das Wirt- Überschwemmungen, Verlust von Bio- begonnene Entwaldung des Lössberg-
schaftswunder ist bald zu Ende, denn masse, Erosion, Ausbreitung der Wüs- landes (Huangtu Gaoyuan) in Zentral-
die Umwelt hält nicht mehr mit.“4 ten konfrontiert. In der zweiten Hälfte china. Die fruchtbaren Böden werden
des 20. Jahrhunderts sind als Folge in den größten nordchinesischen Fluss
einer auf rasches Wachstum ausge- geschwemmt, der wegen der Sedimen-
Ungünstige naturräumliche richteten Industrialisierung und Inten- te den Namen „Gelber Fluss” (Huang-
Bedingungen sivierung der Landwirtschaft vor allem he) trägt. Mehrfach hat der Fluss in der
im Osten des Landes „moderne” Um- Geschichte auf Grund der Schlamm-
Die ungünstige Verteilung von nutz- weltbelastungen hinzugekommen wie frachten sein Bett verlagert und ver-
barem Ackerland und der Zugang zu Luftverschmutzung, Verschmutzung der heerende Überschwemmungen verur-
Wasserressourcen haben seit jeher die Gewässer, Schadstoffeinträge in Bö- sacht. Die Jahrhundert-Überschwem-
Menschen in China herausgefordert. den und Grundwasser, Schadstoffbe- mungen, die 1998 die Yangzi-Region
Fast zwei Drittel des Territoriums be- lastungen in Agrarprodukten, Lärmbe- und Nordostchina heimsuchten, wur-
stehen aus Wüsten und Gebirgen in lastung und beschleunigter Klimawan- den auf den Kahlschlag an den Ober-
Höhen von über 1.000 Metern, wo nur del als Folge von ansteigenden Treib- läufen der Flüsse zurückgeführt. Die
marginaler Ackerbau möglich ist. Im hausgasemissionen. Fluten, die damals mehrere tausend
übrigen Drittel, das sich überwiegend Todesopfer forderten und Sachschä-
im Osten des Landes befindet und wo den in Milliardenhöhe verursachten,
fast 90 Prozent der Milliardenbevölke- Entwaldung – ein traditionelles bewirkten eine radikale Umkehr in der
rung lebt, führt die intensive Nutzung Umweltproblem Forstpolitik. Die Regierung verfügte ein
der Böden und dichte Besiedlung zu ei- radikales Abholzverbot in den betrof-
nem starken Druck auf die natürlichen Die Abholzung von Wäldern und die fenen Flussgebieten und fördert seither
Ressourcen. damit verbundenen Umweltprobleme umfangreiche Aufforstungsprogramme.
Ressourcenknappheit im Verhältnis zur wie Erosion, Überschwemmungen, Aus- Die seit 1998 drastisch ansteigenden
Bevölkerungszahl und regionale Dis- breitung von Wüsten sind seit vielen Holzimporte nach China weisen dar-
paritäten in der wirtschaftlichen Ent- Jahrhunderten dokumentiert. Ein klassi- auf hin, dass das Abholzverbot in den
wicklung konfrontieren das Land mit sches Beispiel ist die vor Jahrhunderten betroffenen Regionen tatsächlich wirk-
sam umgesetzt wird. Sie sind jedoch
auch ein Indiz dafür, dass China nun
seine Umweltprobleme in andere Län-
der auslagert.

Degradierung des Graslandes und


Ausbreitung der Wüsten

Infolge von Klimawandel, Überwei-


dung, Bodenversalzung, Erosion und
Zerstörung durch Nagetiere sind be-
reits 90 Prozent der Steppen geschä-
digt. Jährlich vergrößern sich Chinas
Wüstenflächen um bis zu 3.000 Qua-
dratkilometer. Als Boten des durch
menschliche Aktivitäten beschleunigten
Klimawandels ereignen sich im ariden 5
Nordwestchina immer häufiger Sand-
stürme, die alljährlich im Frühjahr nicht
nur die Hauptstadt Beijing beeinträch-
tigen, sondern deren Ausläufer häufig
auch die koreanischen Nachbarn und
Dürre in Chengdu in Japan erreichen.
der Provinz Sichuan:
In weiten Teilen des
Landes sieht sich China Wassermangel und
mit einem Teufelskreis Wasserverschmutzung
von Armut und „tra-
ditionellen“ Umwelt- China ist kein wasserarmes Land, je-
problemen wie Dürren, doch sind die Ressourcen ungleich
Überschwemmungen, verteilt. Während mehr als 80 Prozent
Verlust von Biomasse, der Wasservorkommen auf die Yangzi-
Erosion, Ausbreitung der Region und den Süden entfallen, sieht
Wüsten konfrontiert. sich Nord- und Nordwestchina, wo rund
picture alliance/dpa 550 Millionen Chinesen leben, sich

211
Eva Sternfeld
Veraltete Industrie-
anlagen und
Kohlekraftwerke
sind die Haupt-
verursacher der
Luftverschmutzung.
Das Foto zeigt
eine Stahlfabrik in
Zhongyang in der
Provinz Shanxi.
picture alliance/dpa

wichtige Industriezentren sowie zwei Solch radikale Eingriffe in den natürli- stadt Beijing und die Industriemetropo-
Drittel der landwirtschaftlichen Flächen chen Wassergehalt haben Auswirkun- le Tianjin liegen. Auf mehr als der Hälfte
befinden, mit chronischem Wasserman- gen auf die Wasserqualität; so dringt seiner 2.000 Kilometer langen Strecke
gel konfrontiert. So erreichte seit den in küstennahen Gebieten Salzwasser in kann dieser Fluss als nicht anders als
1990er Jahren der Gelbe Fluss (Huang- die leer gepumpten Grundwasserleiter eine Kloake bezeichnet werden. Den-
he) mehrfach sein Mündungsgebiet in nach. Auch kommt es vielerorts durch noch ist vielerorts Oberflächenwasser
Shandong nicht mehr. Bewässerung die im Untergrund entstehenden Hohl- die einzige Ressource für Trinkwasser.
und der Einsatz von Agrarchemikalien räume zu Bodenabsenkungen, die ge- Aber auch Städte, die ihr Trinkwasser
ermöglichten eine „grüne Revolution” fährliche Schäden an Gebäuden und aus Grundwasser aufbereiten, stehen
in der nordchinesischen Tiefebene, in Straßen verursachen. vor Problemen. 90 Prozent der Grund-
der heute etwa 40 Prozent des chinesi- Gewässerverschmutzung ist einer der wasserressourcen in Stadtgebieten sind
schen Getreides angebaut werden. In ökologischen Brennpunkte. In ihrem durch Schadstoffeinträge belastet.
Ermangelung von Oberflächenwasser 2007 veröffentlichten Jahresbericht Nach offiziellen Angaben haben lan-
werden dabei Grundwasser, zuneh- stufte die nationale Umweltbehörde fast desweit 340 Millionen Menschen kei-
mend auch fossile Ressourcen, geför- 30 Prozent der chinesischen Gewässer nen Zugang zu sauberem Trinkwasser.
dert. In der Nordchinesischen Tiefebe- als hochgradig verschmutzt ein. 6 Zu den Wasserverschmutzung bedroht die
ne sinkt derzeit der Grundwasserspie- Problemflüssen gehört z. B. der Haihe, in Volksgesundheit. Auf dem Lande sind
gel im Schnitt um 1,5 Meter im Jahr. dessen Einzugsgebiet auch die Haupt- Magen- und Darmerkrankungen, die

212
SCHÖNE NEUE WELT IM GRAUSCHLEIER.
CHINAS ÖKOLOGISCHE SITUATION UND
UMWELTPOLITIK

wirtschaft, die jährlich Millionen Ton-


nen Gülle und Agrarchemikalien in die
Gewässer schwemmt, zu einem Haupt-
verursacher der Wasserverschmutzung
geworden.
In den vergangenen Jahren investier-
te China erhebliche Summen in den
Gewässerschutz. Zwischen 2000 und
2006 stieg die Zahl der städtischen
Klärwerke von 315 auf 939. 9 Nach An-
gaben des Bauministeriums können
derzeit etwa 60 Prozent der kommuna-
len Abwässer behandelt werden. Diese
beeindruckenden Angaben relativie-
ren sich jedoch, angesichts der Tatsa-
che, dass zum Beispiel in einer Provinz
wie Heilongjiang (rund. 37 Millionen
Einwohner) lediglich acht städtische
Klärwerke, in der Provinz Jiangxi für 42
Millionen Einwohner lediglich vier Klär-
werke zur Verfügung stehen.10 Aus die-
sen Zahlen wird bereits deutlich, dass
in der Regel nur Millionenstädte über
moderne Abwasserkläranlagen verfü-
gen, während in kleineren Städten und
ländlichen Regionen Abwasser bisher
in der Regel unbehandelt auf die Felder
oder in die Gewässer eingeleitet wird.
Auch schätzt das Umweltministerium,
dass mindestens hundert Klärwerke
wegen der hohen Betriebskosten und
technischer Probleme stillstehen.

Luftverschmutzung

Im Vorfeld der Olympischen Spiele


rückten die extremen Luftverschmut-
zungsprobleme Beijings ins Zentrum
des internationalen Interesses. Mit im-
mer drastischeren Fahrverboten und
Fabrikschließungen kämpften die chi-
nesischen Behörden wenige Wochen
vor der Eröffnung verzweifelt dagegen
an. In der Tat ist Luftverschmutzung
durch verschmutztes Wasser übertra- nenstadt Wuxi abgestellt werden. Der in den dicht besiedelten Landesteilen
gen werden, weit verbreitet. Nirgend- Taihu, ein See aus dem die Stadt ihr das physisch spürbarste Umweltprob-
wo anders in der Welt werden häufiger Trinkwasser bezieht, in den aber zu- lem. Ursache ist eine Energiewirtschaft,
Todesfälle infolge von Magen-, Leber- gleich auch Millionen Kubikmeter von die sich hauptsächlich auf die Nutzung
und Blasenkrebs gemeldet als im länd- ungeklärten Abwässern aus unzähligen von Kohle stützt. Zwischen 2000 und
lichen China. 7 Fabriken und landwirtschaftlichen Be- 2005 stieg der Kohleverbrauch landes-
Fahrlässig verursachte Wasserver- trieben eingeleitet werden, war durch weit um 75 Prozent. 11 Veraltete Indus-
schmutzung ist an der Tagesordnung. eine Algenplage zu einer stinkenden trieanlagen und Kohlekraftwerke sind
Internationales Aufsehen erregte der Brühe geworden. Doch sind diese Fäl- die Hauptverursacher. In Nordchina
Fall der Stadt Harbin, deren vier Mil- le nur die Spitze des Eisbergs: Der von kommen im Winter Kohleheizungen als
lionen Einwohner im November 2005 dem Journalisten Ma Jun ins Netz ge- weitere Emissionsquelle hinzu. Die re-
tagelang ohne Fließwasserversorgung stellte „Wasserverschmutzungsatlas für ge Bautätigkeit in vielen chinesischen
auskommen mussten, nachdem nach der China“ lokalisiert mehr als 5.000 Indus- Großstädten trägt zusätzlich zu der
Explosion einer Chemiefabrik der Fluss triebetriebe, die Abwässer einleiten, enormen Staubbelastung bei. Schließ-
Songhua mit 100 Tonnen krebserregen- deren Schadstoffgehalt die zulässigen lich stieg mit dem Kraftfahrzeugauf-
dem Benzol verseucht worden war. Im Grenzwerte bei weitem überschreitet. 8 kommen in den chinesischen Städten in
Sommer 2007 musste wochenlang die Neben industriellen Abfällen ist in den den vergangenen Jahren die Belastung
Trinkwasserversorgung der Zweimillio- vergangenen Jahren die Intensivland- durch Kfz-Abgase erheblich an. In den

213
Eva Sternfeld
letzten fünf Jahren wurden in Beijing, tischen Abfälle werden nach Angaben Anbau stammenden Lebensmitteln ist
der Stadt mit der höchsten Verkehrs- des Umweltministeriums ohne Belas- erheblich. Dies führte unter anderem
dichte Chinas, täglich etwa 1.000 neue tungen für die Umwelt entsorgt. Häufig dazu, dass die Europäische Union (EU)
Autos zugelassen. Mit durchschnittli- werden in stadtnahen ländlichen Ge- für zahlreiche Lebensmittel aus China,
chen Feinstaubbelastungen von 150 bieten Anbauflächen für Müllhalden unter anderem Shrimps und Honig, ei-
μg, dreimal soviel wie nach Anforde- zweckentfremdet. nen Einfuhrstopp verhängte. Verbun-
rungen der Weltgesundheitsorganisa- den mit den Exportschwierigkeiten und
tion (WHO) zulässig wäre, gehört die auch der Verunsicherung einheimischer
Olympiastadt zu den weltweiten Spit- Umweltschäden durch Konsumenten durch zahlreiche Lebens-
zenreitern mit schlechter Luftqualität. 12 Intensivlandwirtschaft mittelskandale im Inland ist aber auch
Zwei Drittel der städtischen Bevölke- ein wachsendes Interesse an integrier-
rung Chinas, d.h. zirka 400 Millionen Eine produktive Landwirtschaft stellt ten und ökologischen Anbaumethoden
Menschen, leben nach Erhebungen des sich der Herausforderung, auf einer zu beobachten.
Umweltministeriums in einer Umgebung äußerst begrenzten und sich verrin- Um Erträge zu erhöhen, wird mit gen-
mit schlechter oder sehr schlechter Luft- gernden nutzbaren Fläche eine stetig technologisch modifizierten Sorten ex-
qualität. Die Luftverschmutzung in den wachsende Bevölkerung zu ernähren. perimentiert. Offiziell freigegeben für
chinesischen Städten ist ein Gesund- Dies wird ermöglicht durch einen auch den kommerziellen Anbau ist bisher je-
heitsrisiko. Atemwegserkrankungen ge- im internationalen Vergleich giganti- doch nur die sogenannte BT-Baumwol-
hören zu den weit verbreiteten Todes- schen Einsatz an Düngemitteln, Pesti- le, der Gene des Bacillus Thuringensis
ursachen. Nach Angaben des Umwelt- ziden und Herbiziden. In China wird gegen den Baumwollkapselwurm ein-
ministeriums sterben jährlich 400.000 auf etwa einem Zehntel des weltwei- gepflanzt wurden. Inzwischen wird
Menschen vorzeitig in Folge von Krank- ten Ackerlandes 30 Prozent des welt- 30 Prozent der Baumwollernte aus BT-
heiten, die direkt auf die Luftverschmut- weit produzierten Kunstdüngers ausge- Pflanzen gewonnen.
zung zurückgeführt werden. bracht. China ist ebenfalls führend in
Infolge der hohen SO 2-Emissionen sind Produktion und Verbrauch von Pestizi-
weiterhin erhebliche Schäden an Ge- den. Doch die Technisierung der Land- Emission von Treibhausgasen und
bäuden und Vegetation durch „Sau- wirtschaft stößt an ihre Grenzen. Viel- Auswirkungen auf den Klimawandel
ren Regen“ zu beklagen. Auch Chinas fach sind die Böden durch Überdün-
Nachbarländer sind davon betroffen. gung ausgelaugt, abgespülte Dünge- Bei anhaltendem Wirtschaftswachstum
mittel und Pestizide tragen maßgeblich und erwartungsgemäß starker Abhän-
zur Verschmutzung der Oberflächen- gigkeit von Kohle als fossilem Energie-
Abfall gewässer und des Grundwassers bei. träger ist China eines der Schlüssellän-
Durch den massiven Einsatz von Ag- der, wenn es um den anthropogenen,
Aus Mangel an Rohstoffen hatte China rarchemikalien ist ein deutlicher Rück- d.h. durch Menschen verursachten An-
bereits in den 1970er Jahren das Recy- gang der Artenvielfalt zu beklagen. teil am globalen Klimawandel geht. Be-
cling von Sekundärrohstoffen verstärkt Obwohl der Einsatz von international reits 2008 hat China die USA als welt-
gefördert. Auch heute gibt es in jeder geächteten Pestiziden wie DDT inzwi- weit größter Emittent von Kohlendioxid
chinesischen Stadt Sammelstellen, die schen verboten ist, ist China eines der überholt. Im tibetischen Hochland hat
wieder verwertbare Altstoffe ankau- wenigen Länder, in denen DDT nach der Klimawandel bereits heute dramati-
fen und damit das Existenzminimum wie vor produziert wird und somit auch sche Auswirkungen: Im Quellgebiet der
der Armen sichern. Die Sammler sind zum Einsatz kommt. Die Schadstoffbe- großen asiatischen Flüsse Brahmaputra,
in der Regel auf bestimmte Materialien lastung von vielen aus konventionellem Mekong, Irrawaddy, Salween, Yangzi
spezialisiert wie Plastik, Papier, Pappe, und Huanghe (Gelber Fluss), in deren
Glas, Metall und Elektroschrott. Recy- Einzugsgebieten mehr als die Hälfte
UNSERE AUTORIN

cling ist wegen des großen Rohstoffbe- der Menschheit lebt, und das als „Dach
darfs ein blühender Industriezweig, der der Welt“ das Klima in Südasien und
sich nicht nur mit den im eigenen Lan- die Monsunsysteme prägt, schrumpfen
de anfallenden Abfallstoffen begnügt, die Gletscher in einem beängstigen-
sondern auch in großem Umfang ins- dem Tempo. Dies wird auch bei eis-
besondere Plastik sowie Metalle und und schneegekrönten Gebirgsketten in
Elektroschrott aus anderen Ländern Nordwestchina beobachtet. Es ist ab-
importiert. Umweltfreundlich ist dieser sehbar, dass innerhalb der nächsten 50
Industriezweig jedoch keineswegs. Die Jahre die Gletscher, die die Flussoasen
verbreiteten Verfahren, wie sie zum Bei- am Tarimfluss und im Gansu-Korridor
spiel in den berüchtigten Mülldörfern versorgen, vollständig abgeschmolzen
in der Umgebung von Guangzhou in Dr. Eva Sternfeld, auf Umweltthemen sein werden. Experten rechnen weiter-
kleineren Familienbetrieben zum Ein- spezialisierte Sinologin, forscht seit den hin mit stärkeren Taifunen und einem
satz kommen, sind dabei oft mit erheb- frühen 1980er Jahren zur chinesischen Anstieg des Wasserstands um bis zu
lichen Gesundheitsgefährdungen für Umweltsituation. Von 2000 bis 2008 einem halben Meter an der Küste des
die Beschäftigten sowie Belastungen war sie im Rahmen der deutsch-chinesi- ostchinesischen Meers. Wichtige Wirt-
für die Umwelt verbunden. Vor dem ra- schen Entwicklungszusammenarbeit als schaftszentren wie das Perlfluss-Delta
pide angestiegenen Aufkommen von CIM-Expertin an einem öffentlichen Um- und Shanghai wären direkt davon be-
städtischem Siedlungsabfall und neu- weltinformations- und Bildungszentrum troffen. Auch werden Rückgänge der
artigem Verpackungsmüll hat das her- des chinesischen Umweltministeriums in landwirtschaftlichen Produktion um bis
kömmliche Entsorgungssystem jedoch Beijing (Peking) beschäftigt. Seit August zu zehn Prozent innerhalb der nächs-
offensichtlich kapituliert. Umweltge- 2008 leitet sie die Arbeitsstelle für Ge- ten 50 Jahre prognostiziert. Mit Millio-
rechte Müllverbrennungsanlagen oder schichte und Philosophie der chinesi- nen von Umweltflüchtlingen ist zu rech-
Abfalldeponien sind bisher die Aus- schen Wissenschaft und Technik der TU nen. Jedoch erhofft man in China auch
nahme. Nur etwa 20 Prozent der städ- Berlin. günstigere Folgen der globalen Erwär-

214
mung wie längere Anbauperioden in binettstisch geholt wurde und den Rang SCHÖNE NEUE WELT IM GRAUSCHLEIER.
Nordostchina und feuchteres Klima in eines vollwertigen Ministeriums erhielt. CHINAS ÖKOLOGISCHE SITUATION UND
der nordchinesischen Tiefebene. UMWELTPOLITIK
China gehört zu den Unterzeichner-
staaten des Klimaschutzabkommens Umweltrecht und Umweltpolitik
von Kyoto. Auch wenn das Land wie
andere Entwicklungsländer von ei- Seit 1978 ist die Verpflichtung des Staa- stellte in den Umweltämtern auf Provinz-
ner Verpflichtung zur Reduzierung des tes zum Umweltschutz in der chinesischen und Kreisebene sowie angegliederten
Treibhausgasen bisher ausgenommen Verfassung verankert. Bereits 1979 wur- Behörden wie z.B. Überwachungsstati-
ist, spielt es bei der Umsetzung der In- de der Entwurf für das erste Nationale onen. Insbesondere auf lokaler Ebene
strumente des Klimaschutzabkommens Umweltschutzgesetz verabschiedet. Eine sind viele Beamte für ihre technisch an-
wie zum Beispiel des Cleaner Develop- überarbeitete Fassung trat 1989 in Kraft. spruchsvollen Aufgabenbereiche häu-
ment Mechanism (CDM) eine wichtige Diesem folgten im Lauf der Jahre zahl- fig nicht ausreichend qualifiziert.
Rolle. Diese Instrumente erlauben es In- reiche Einzelgesetze (Gesetze gegen Da sich lokale Umweltämter teilweise
dustrieländern, sich Investitionen in kli- Wasser-, Meeres- und Luftverschmut- über die Einnahmen aus den Emissions-
maschutzrelevante Projekte in Entwick- zung; Bodenschutzgesetz; Gesetz zur gebühren finanzieren, sind dem Interes-
lungsländern auf Verpflichtungen des Bekämpfung der Wüstenausbreitung) se, Verschmutzungsquellen zu beseiti-
eigenen Landes gutschreiben zu lassen. sowie Ressourcenschutzgesetze (u.a. gen, Grenzen gesetzt. Hinzu kam, dass
Bis August 2008 waren chinesische 251 Naturschutzgesetz, Forstgesetz). In jün- in der Vergangenheit lokale Umwelt-
CDM-Projekte beim UN-Klimasekreta- gerer Zeit verabschiedete Gesetze wie ämter zwar der Struktur der Umweltbe-
riat registriert.13 Dies entspricht etwa das Gesetz zur Förderung der „Sauberen hörden unterstanden, aber vor allem
20 Prozent aller weltweit registrierten Produktion“ (2002) sowie das Gesetz zur ihren Lokalregierungen und deren Wirt-
CDM-Projekte und 51 Prozent der aus- Umweltverträglichkeitsprüfung (2003) schaftsinteressen verpflichtet waren.
gegebenen Emissionszertifikate. betreffen Aspekte des Umweltmanage- Inwieweit die Aufwertung der Behörde
ments. Ein „Gesetz zur Förderung erneu- zum Ministerium nun auch zu größerer
erbarer Energien“ trat 2006, eine Elekt- Durchsetzungsfähigkeit auf lokaler Ebe-
Umweltpolitik roschrottverordnung im Frühjahr 2008 in ne führt, muss die Praxis erst zeigen.
Kraft. Ein Gesetz zur Kreislaufwirtschaft, Auch soll das Ministerium zusätzliche
China kann bereits auf eine gut 35-jäh- in dem Verantwortlichkeiten für Recycling Zuständigkeiten erhalten. Damit sollen
rige Geschichte der institutionalisierten und die Behandlung von Abfällen gere- Überschneidungen mit den Verantwor-
Umweltpolitik zurückblicken. Den An- gelt werden, ist in Vorbereitung. Die chi- tungsbereichen anderer Ministerien
stoß gab die erwähnte Teilnahme einer nesische Umweltgesetzgebung verfügt und Behörden, die bisher die Durchset-
chinesischen Delegation an der ers- mittlerweile über einen sehr detaillierten zung von Umweltpolitik erschwerten, re-
ten UN-Umweltkonferenz, die 1972 in Katalog von mittlerweile ca. 375 Um- duziert werden. Bisher gab es zum Bei-
Stockholm stattfand. Ein Jahr später trat welt- und Emissionsstandards, die sich spiel beim Wasserschutz ein verwirren-
dann die erste Nationale Umweltkonfe- an der internationalen Umweltschutzge- des Kompetenzgerangel zwischen den
renz zusammen, auf der sich eine minis- setzgebung orientieren. Die Standards Umweltbehörden, dem Ministerium für
terielle Führungsgruppe für Umwelt kon- werden unter anderem zur Ermittlung von Wasserressourcen, dem Bauministerium,
stituierte. 1982 wurde Umweltschutz zu- Emissionsabgaben herangezogen. Hin- dem Landwirtschaftsministerium sowie
nächst dem Zuständigkeitsbereich des zu kommen über tausend von den Um- der Verwaltung für Küstengewässer.
Ministeriums für Städtebau und ländli- weltbehörden der Provinzen und Städte Ob das Umweltministerium tatsächlich
che Entwicklung zugeordnet. 1984 er- erlassene umweltrelevante Bestimmun- schlagkräftiger als die Vorgängerbe-
hielt das dem Ministerium angeglie- gen und Verordnungen. Jedoch sind hörde sein wird, wird jedoch auch da-
derte Nationale Umweltamt (National viele Regelungen für die praktische Um- von abhängen, ob andere im Staatsrat
Environmental Protection Agency/NE- setzung noch zu wenig konkret, daher vertretene Regierungsbehörden und
PA) erstmals einen unabhängigen Sta- werden bereits in früheren Jahren erlas- staatseigene Betriebe bereit sind, mit
tus und konnte nun direkt dem Staatsrat sene Gesetze überarbeitet. So trat An- ihr zu kooperieren und sich mit ihr zu ko-
berichten. Die Behörde war zunächst fang 2008 die Neufassung des Gesetzes ordinieren. Langfristig wird der Erfolg
vorrangig für den städtischen und in- zur Kontrolle der Wasserverschmutzung der Umweltpolitik daran zu messen sein,
dustriellen Umweltschutz zuständig und in Kraft, die nun drastischere Strafen für ob sie den Umweltämtern auf Provinz-,
finanzierte ihre lokalen Behörden vor Verursacher von Wasserverschmutzung Stadt- und Kreisebene größere Hand-
allem durch Einnahmen aus den soge- vorsieht. lungsfähigkeit und Kompetenz verleiht.
nannten Schadstoffabgabegebühren. Bei der flächendeckenden Umsetzung
Die Überschwemmungskatastrophen der Umweltpolitik gibt es jedoch bis-
im Jahr 1998, die eine radikale Umkehr lang große Defizite. Zur Anwendung Umwelt-
in der Forst- und Naturschutzpolitik be- kommen Umweltgesetze vor allem in Nichtregierungsorganisationen
wirkten, führten zu einer weiteren Auf- besser entwickelten Landesteilen. Dies
wertung der Behörde und zur Auswei- führt mittlerweile dazu, dass Industrien Ein strategischer Partner für die Um-
tung der Zuständigkeiten. Die nunmehr mit hoher Umweltbelastung ins Hinter- weltbehörde bei der Artikulation sind
State Environmental Protection Admi- land ausgelagert werden. die nicht-staatlichen Umweltorganisa-
nistration (SEPA) genannte Behörde Trotz einer Fülle von Aufgaben besitzt tionen, deren Arbeit seit Beginn der
war seither auch für Naturschutz sowie das Umweltministerium bisher nur eine 1990er Jahre toleriert wird, deren Exis-
Nuklearsicherheit zuständig. Allerdings dünne Personaldecke. Die mit der Auf- tenz allerdings bislang immer noch
hatte eine im selben Jahr erfolgte Struk- wertung zum Ministerium erwartungs- nicht legalisiert ist. Zu den prominenten
turreform auch eine Halbierung des gemäß verbundene Personalaufsto- genuin chinesischen Nichtregierungs-
Personalbestands zur Folge. Es sollte ckung erfolgte bisher nur zögernd. Bis organisationen (NGOs) gehören die
weitere zehn Jahre dauern, bis im März Sommer 2008 waren lediglich 300 Be- 1993 gegründeten „Friends of Nature”
2008 die oberste Umweltbehörde dann amte in der Zentrale in Beijing beschäf- und „Global Village of Beijing” sowie
vom Katzentisch im Staatsrat an den Ka- tigt, hinzu kamen ca. 200.000 Ange- inzwischen hunderte Andere. Auch vie-

215
Eva Sternfeld
le internationale Umweltorganisationen ben, sondern den Verbrauchern auch ren. Die chinesische Führung ist sich der
(wie zum Beispiel World Wildlife Fund/ die Entsorgung der Abwässer in Rech- Problematik bewusst und adressiert sie.
WWF und Greenpeace) unterhalten in nung zu stellen Eine deutliche Anhebung Ob die Instrumente der Umweltpolitik
China Repräsentanzen. Umwelt-Nicht- der Tarife könnte sich auf die Höhe des künftig wirkungsvoller eingesetzt wer-
regierungsorganisationen in China be- Wasserverbrauchs und damit auch des den können und das Land zu einer effi-
schäftigen sich schwerpunktmäßig mit Abwasseraufkommens und der damit zienteren und nachhaltigeren Nutzung
Themen des Natur- und Artenschutzes verbundenen Belastung der Gewässer der Ressourcen gelangt, wird daran zu
sowie mit der Umweltbildung. Nur sel- auswirken. Bisher konnte sich ökoeffizi- messen sein, ob Investitionen in den
ten agieren sie konfrontativ zur offiziel- ente Bauweise in chinesischen Städten Umweltschutz deutlich erhöht werden,
len Umweltpolitik. aufgrund fehlender Anreize und gesetz- Umweltbehörden insbesondere auf lo-
licher Bestimmungen nicht durchsetzen. kaler Ebene gestärkt, die Öffentlichkeit
Allein hier liegen ungeheure Potentiale verbesserten Zugang zu Informationen
Zugang zu Informationen zur Energie- und Wassereinsparung. erhält und die Rechtssicherheit verbes-
sert wird.
Der noch immer nicht freie Zugang zu
Daten erschwert nicht nur die Beteili- Reform des Finanzsektors
gung der Öffentlichkeit an Umweltpro- LITERATUR
zessen, sondern auch die Arbeit der be- Den Umweltschutz über eine Reform
teiligten Behörden und wird nicht selten des Finanzsektors voranzubringen, ist Bundesagentur für Außenwirtschaft/BFAI (2006):
Wassertechnik und Wassermanagement in der
zum Nadelöhr bei geplanten Projekten. ein weiteres großes Projekt des Umwelt- VR China. (Verfasserin: Abele, Corinne). Köln.
Zwar werden ausgewählte Daten zur ministeriums. Eine im Februar 2008 vor- Bertelsmann Stiftung (2006): Weltmächte im 21 .
Umweltqualität inzwischen veröffent- gestellte Bestimmung macht für börsen- Jahrhundert. Gütersloh.
licht (wie zum Beispiel Daten zur städ- notierte Unternehmen die Offenlegung China Environment Yearbook (Zhongguo Huan-
jing Nianjian) (2007).
tischen Luftqualität), andere Informatio- ihrer Umweltberichten obligatorisch. Economy, Elisabeth (2004): The Rivers Runs Black.
nen (zum Beispiel hydrologische Daten, Weiterhin hat die Behörde eine Liste Ithaca/London.
genaue Kartierungen etc.) werden je- von 141 „stark verschmutzenden und Oberheitmann, Andreas (2006): Herausforderun-
doch nach wie vor wie Staatsgeheimnis- für die Umwelt gefährlichen Produkten“ gen für die Umweltpolitik. In Fischer, Doris/ Lack-
se gehandelt. Beim Zugang zu Informa- erstellt, die von Steuervergünstigungen ner, Michael (Hrsg.) (2007): Länderbericht China.
Bonn, S.72–98.
tionen spielen die chinesischen Medien und Handelsberechtigungen ausge- Pan Yue (2005): Das Wunder ist bald zu Ende. In:
dabei eine zunehmend wichtige Rolle. nommen werden sollen. Auch für die Der Spiegel, 10/2005, S. 149–150.
Auch wenn die Regierung Nachrichten Vergabe von Krediten soll die Erfüllung Schüller, Margot (2008): Wirtschaftliche Dimensi-
über Naturkatastrophen, Industrieun- von Umweltschutzauflagen zum Krite- onen der Olympischen Spiele in Beijing: Wer
werden die Gewinner sein?” In: China aktuell,
fälle und Sicherheitsrisiken kontrolliert, rium werden. So wurden 2007 bereits 2/2008, S. 126–139.
gelingt es engagierten Journalisten im- Kredite an rund 30 Unternehmen mit State of the Environment; unter: www.zhb.gov.cn/
mer wieder, diese Meldungen auch in hohem Energieverbrauch und großen plan/zkgb/05hjgb/
die Presse zu bringen. Erst seit 2005 ist Umweltbelastungen verweigert. Ein An- Stockholm Environmental Institute/UNDP (2002):
es offiziell zulässig, über Naturkatast- satz, der bei konsequenterer Durchset- China Human Development Report 2002. Making
Green Development a Choice. Stockholm.
rophen (z.B. Erdbeben) zu berichten. zung große Wirkung zeigen könnte: Die 2005 Environmental Sustainability Index Report;
Umweltbehörde hat bereits Daten von unter: www.yale.edu/esi.
30.000 verschmutzenden Unternehmen World Bank/State Environmental Protection Ad-
Ökoeffizienz an Geschäftsbanken weitergegeben. ministration (2007): Cost of Pollution in China.
Economic Estimates of Physical Damages. Wa-
Gemeinsam mit dem Finanzministerium shington D.C.
Knappe Ressourcen werden häufig ver- erarbeitet derzeit die Umweltbehörde
schwenderisch und ineffizient genutzt. einen Anforderungskatalog für chine-
Schätzungen zufolge könnten bis zu 25 sische Investitionen und Kreditverga-
Prozent des Primärenergieverbrauchs be im Ausland. In Zusammenarbeit mit ANMERKUNGEN
und des damit verbundenen CO 2-Aus- der staatlichen Versicherungskommis- 1 Peking Rundschau, 24/1972, S. 6–9.
stoßes durch Verbesserung der Ener- sion wird über eine „Umweltversiche- 2 Die Gesamtkosten der Olympischen Spiele
gieeffizienz eingespart werden. Bisher rung“ nachgedacht. Diese soll bis 2015 2008 werden nach inoffiziellen Schätzungen auf
rd. 35 Milliarden US-Dollar veranschlagt, davon
gibt es in China jedoch zu wenig Anrei- landesweit eingeführt werden und die wurden etwa 55 Prozent für Umweltschutzprojek-
ze zum sparsameren Umgang mit Res- Entschädigung von Umweltverschmut- te ausgegeben; vgl. Preuss, Holger: „Signaling
sourcen. Preise für produktionswichtige zungsopfern regeln. Growth“; zitiert bei Schüller, Margot (2008).
Rohstoffe sind stark subventioniert und 3 Laut einer 2006 von der Bertelsmann Stiftung
veröffentlichten Untersuchung hielt die Mehrheit
werden ohne Einbeziehung der Kos- der chinesischen Befragten Ressourcenknappheit
ten der Umweltbelastung kalkuliert. So Schlussfolgerungen und Umweltzerstörung für die größten Herausfor-
gelten die staatlich festgelegten Preise derungen in den kommenden Jahren. (Bertels-
einheitlich für Kohle sehr unterschied- China steht vor enormen Herausfor- mann Stiftung 2006, S. 18–20).
licher Qualität, obwohl ungewasche- derungen bei der Bewältigung seiner 4 Vgl. Der Spiegel, 10/2005, S. 149.
5 Von einem ariden Klima spricht man dann,
ne Kohle mit sehr hohem Schwefelge- Umweltprobleme. Eine Fortsetzung wenn die potentielle Verdunstung den Nieder-
halt und Staubanteilen sehr viel höhere der bisherigen nachholenden Entwick- schlag einer Region übersteigt. Dies hat eine sehr
Umweltfolgekosten verursacht. Wegen lungsstrategie, einhergehend mit In- niedrige Luftfeuchtigkeit zur Folge.
der einheitlichen Preise fehlen Anreize, kaufnahme einer erheblichen Umwelt- 6 State of the Environment, S. 7; unter: www.
zhb.gov.cn/plan/zkgb/05hjgb/.
in ökoeffiziente Technologien und Um- beeinträchtigung und einem Raubbau 7 World Bank 2007, S. 7.
weltschutz zu investieren. Die Wasser- an den vorhandenen Ressourcen, wür- 8 www.ipe.org.cn
tarife sind ebenfalls noch immer stark de in absehbarer Zeit zu erheblichen 9 China Environment Yearbook (Zhongguo Hu-
subventioniert und liegen häufig weit Einbrüchen im Wirtschaftswachstum anjing Nianjian) (2007), S. 611 .
unter den Bereitstellungskosten. Erst (bei Einbeziehung der Umweltkosten), 10 Ebenda.
11 World Bank 2007, S. XI.
neuerdings beginnen viele Städte da- möglicherweise sozialen Unruhen und 12 World Bank 2007, S. XVIII.
mit, nicht nur die Wassertarife anzuhe- fatalen Folgen für den Klimawandel füh- 13 http://cdm.unfcc.int.

216
BEVÖLKERUNGSPOLITIK UND DEMOGRAPHISCHE ENTWICKLUNG

Zu viel, zu alt, zu männlich?


Demographie und Bevölkerungspolitik
Bettina Gransow

sen zeigen, konnte diese Zielsetzung –  (1 .) die Zeit von 1979 bis 1983, in der
Chinas rigide Bevölkerungspolitik – die wenn auch nicht im ursprünglich vorge- von einer Zwei-Kind-Politik zu einer
ökonomische Lasten aus den Zeiten Mao sehenen Zeitrahmen – im Wesentlichen Ein-Kind-Politik übergegangen wurde;
Zedongs beseitigen soll – hat gravieren- erfüllt werden.  (2.) die Zeit von 1984 bis 1985, die als
de demographische Folgen. Das staatli- Von 1987 bis 2006 sank die Geburten- eine Liberalisierungsphase bezeichnet
che Programm der Geburtenplanung, rate kontinuierlich von 23 Promille auf werden kann und in der es zu einer
als so genannte Ein-Kind-Politik bekannt, 12 Promille, während die Sterberate Ausweitung von Ausnahmeregelungen
war stets umstritten und führte zu Unmut bei etwa 6,5 Promille konstant blieb für Zweitkinder kam;
und Abwehrstrategien auf Seiten der (China Statistical Yearbook 2007, S.  (3.) die Zeit von 1986 bis 1989, die
betroffenen Familien. Trotz der inzwi- 105). Allerdings war ursprünglich ge- durch einen Richtungsstreit über die
schen erreichten Verlangsamung des plant worden, dass die chinesische Fortführung der Ein-Kind-Politik ge-
Bevölkerungswachstums hat die chinesi- Bevölkerung im Jahre 2000 nicht mehr kennzeichnet war;
sche Bevölkerungspolitik eine Reihe von als 1,2 Milliarden Menschen umfassen  (4.) die Zeit von 1990 bis 1993, in der
nicht intendierten Nebenwirkungen aus- sollte. Diese Zahl wurde aber bereits die Ein-Kind-Politik bekräftigt wurde;
gelöst. So ist Chinas überalterte Bevöl- im Jahr 1995, d.h. fünf Jahre früher als  (5.) die Zeit von 1994 bis 2002, in der
kerung eine Herausforderung für die geplant, erreicht. 2006 betrug die Ge- man versuchte, die Ein-Kind-Politik
im Aufbau begriffenen sozialen Siche- samtzahl der Bevölkerung in der chine- durch diversifizierte und verbesserte
rungssysteme. Schwer wiegt auch die
sischen Volksrepublik 1,314 Milliarden Verwaltungsmaßnahmen umzusetzen;
unausgewogene Geschlechterverteilung
(ebd.). Trotzdem ist es insgesamt zu  (6.) die Zeit seit 2002, in der das Fa-
bei der Geburt, die eine deutliche Prä-
ferenz für die Geburt von Jungen und
einer deutlichen Verlangsamung des milienplanungsgesetz zur rechtlichen
die gesellschaftliche Geringschätzung Bevölkerungswachstums gekommen. Grundlage der Ein-Kind-Politik wurde,
des weiblichen Geschlechts offenbart. Schätzungen gehen davon aus, dass die praktische Ausgestaltung aber
Hinter der Ungleichverteilung von Ge- es ohne diese Politik in den letzten weiter auf der lokalen Ebene erfolgt
burten- und Sterberaten bei Jungen und drei Jahrzehnten rund 300 Millionen (Scharping 2007, S. 55f.; vgl. Gransow
Mädchen verbirgt sich eine soziale „Lo- Geburten mehr gegeben hätte (Peng 2000, S. 180; Greenhalgh/Winkler
gik“, die Frauen diskriminiert und der 2004, S. 135). Gleichzeitig führte die 2005).
zufolge nur wenig in weibliches Hu- Politik der Geburtenbeschränkung zu Umstritten war das Programm der Ge-
mankapital investiert wird. Das Phäno- demographischen Verwerfungen wie burtenplanung in der ganzen Zeit sei-
men der missing girls – so ein Fazit von insbesondere einer beschleunigten ner Anwendung und hat insbesondere
Bettina Gransow – bringt im Hinblick Überalterung und einem wachsenden in den ländlichen Gebieten Chinas im-
auf den „Heiratsmarkt“ allerdings auch Ungleichgewicht der Geschlechter. mer wieder zu Unmut und Abwehrstra-
Nachteile für die Männer mit sich. Trotz Ein weiteres Problem der Bevölkerungs- tegien auf Seiten der betroffenen Fa-
der Rufe nach einer Lockerung der Ein- entwicklung in China bezieht sich auf milien geführt. Seit den 1990er Jahren
Kind-Politik hält die chinesische Regie- das Verhältnis von Bevölkerung, Res- wurde die Ein-Kind-Politik immer mehr
rung an ihrer Politik einer Beschränkung sourcen und Umwelt. Prognosen gehen dahingehend ausgelegt, dass Ehepaa-
des Bevölkerungswachstums fest, wird davon aus, dass die chinesische Be- re in den Städten nur ein Kind haben
diese aber in absehbarer Zeit überden- völkerung noch bis etwa Mitte des 21. sollten, während Paare auf dem Lande
ken müssen.  Jahrhunderts auf 1,4 Milliarden wach- zwei Kinder haben durften, besonders,
sen wird (Zhang 2007, S. 86). Ein sol- wenn das erste Kind ein Mädchen war.
ches Bevölkerungswachstum stellt eine Zahlreiche weitere Ausnahmesituatio-
erhebliche Herausforderung für das nen ermöglichten es, ein zweites Kind
Demographische Folgen der Verhältnis von Bevölkerung und Natur- zu haben, nämlich wenn (1.) ein Eltern-
„Ein-Kind-Politik“ ressourcen dar und bedeutet eine wei- teil allein die Familienlinie seit zwei
tere Belastung für die Umwelt. Generationen fortführte, d.h. ein Ein-
Seit Beginn der 1980er Jahre verfolgt zelkind Kind eines Einzelkindes ist, (2.)
die Volksrepublik China eine rigide der Ehemann der einzige von mehreren
Politik der Bevölkerungsplanung, die Die Ein- (oder Zwei-)Kind-Politik Brüdern ist, der die Fähigkeit hat, sich
unter dem Stichwort „Ein-Kind-Politik“ fortzupflanzen, (3.) die Frau ein Ein-
bekannt geworden ist. Hintergrund wa- Angesichts dieser komplexen Situation zelkind ist und der Ehemann bei ihrer
ren die massiven Wirtschafts- und Ver- stellt man sich daher heute in China die Familie wohnt, (4.) beide Ehepartner
sorgungsprobleme, die Mao Zedongs Frage, ob es Zeit für eine Umkehr der Einzelkinder sind, (5.) einer der Ehe-
Herrschaft in der Volksrepublik China chinesischen Bevölkerungspolitik ist partner ein versehrter Veteran ist, (6.)
hinterlassen hatte und die seine Nach- oder ob diese weiterhin beibehalten die Ehefrau mit einem zurückgekehrten
folger mit Deng Xiaoping an der Spitze werden soll und wenn ja, zu welchen Auslandschinesen verheiratet ist oder
nicht nur durch ökonomische Reformen, Konditionen. (7.) es sich um einen Haushalt in ei-
sondern auch durch eine Beschränkung Das staatliche Programm der Geburten- nem Berg- oder Fischereigebiet mit er-
des Bevölkerungswachstums zu über- planung lässt sich grob in sechs Phasen schwerten wirtschaftlichen Bedingun-
winden suchten. Wie aktuelle Progno- einteilen: gen handelt (Ikels 1996, S. 124f.).

217
Bettina Gransow
Tabelle 1: Verordnungen zur Bevölkerungsplanung in den 1990er Jahren.

Gruppe Verordnungen Geltungsbereich


Ein-Kind-Politik mit wenigen Ausnahmen, die es Für alle Stadtbewohner sowie Ehepaare auf dem Lande
1
Ehepaaren erlauben, zwei Kinder zu haben in der Provinz Jiangsu und in Teilen der Provinz Sichuan
2 Zwei Kinder, wenn das erste Kind ein Mädchen ist
Für die meisten Ehepaare auf dem Lande
3 Zwei Kinder mit einem Abstand von vier Jahren
4 Zwei oder drei Kinder Für Minderheiten in Autonomen Minderheitengebieten
5 Keine zahlenmäßige Beschränkung Für die ländliche tibetische Bevölkerung
Quelle: Peng 2004, S. 136.

Zu berücksichtigen ist auch, dass die Einwände gegen Chinas gressiv und unkooperativ werden könn-
Politik der Bevölkerungsplanung auf gegenwärtige Bevölkerungspolitik ten. Inzwischen sind die ersten Jahr-
lokaler Ebene recht unterschiedliche gänge herangewachsen: Entwarnung
Formen angenommen hat. Auch wenn Ein Überdenken der Ein-Kind-Politik geben chinesische Jugendforscher im
es sich bei der chinesischen Politik zur liegt aus verschiedenen Gründen na- Hinblick auf die soziale Integration,
Geburtenplanung um ein staatliches he: Erstens wurde diese Politik in den das Selbstbewusstsein, den Lerneifer
Programm handelt, so erfolgte seine 1980er Jahren bereits mit der Maßga- und das Umweltbewusstsein der Einzel-
Umsetzung jedoch dezentralisiert. Pro- be eingeführt, dass sie nur für eine be- kinder; Schwächen werden dagegen
vinzregierungen und lokale Behörden grenzte Periode, nämlich zwanzig bis insbesondere in mangelndem Verant-
hatten daher eine gewisse Flexibilität dreißig Jahre, gelten sollte, zweitens wortungsbewusstsein und mangelnder
bei der Festlegung regional gültiger kann das hauptsächliche Ziel dieser Selbstständigkeit der Einzelkinder ge-
Verordnungen und Empfehlungen zu Politik, eine Verlangsamung des Bevöl- sehen. Dies wird damit begründet, dass
Heiratsalter, Abständen zwischen den kerungswachstums zu erreichen, als im manche Eltern ihre Kinder vorrangig
Geburten und Ähnliches. Die aktuellen Wesentlichen gelöst betrachtet werden zum Lernen anhalten und ihnen hierzu
Vorschriften lassen sich in fünf Gruppen und schließlich hat drittens diese Politik viele andere alltägliche Aufgaben ab-
unterteilen (vgl. Tabelle 1). eine Reihe von nicht intendierten Ne- nehmen. Eine solche Haltung hängt zum
Wegen all dieser verschiedenen Aus- benwirkungen ausgelöst, die zu demo- einen mit traditionell konfuzianischen
legungen und regional unterschied- graphischen und sozioökonomischen Auffassungen zusammen, wonach Bil-
lichen Verordnungen handelt es sich Problemen geführt haben. So gab es als dung die wesentliche Voraussetzung
daher streng genommen bei dem Be- Folge der Ein-Kind-Politik zu Beginn des für sozialen Aufstieg darstellt, zum an-
griff der Ein-Kind-Politik um eine Ver- 21. Jahrhunderts schätzungsweise 90 deren mit der geringen Aufnahmequote
einfachung. Hauptmittel zu ihrer Durch- Millionen Einzelkinder in China. Beglei- in die Universitäten des Landes (unter
setzung sind Sanktionen. Neben An- tet war das Auftreten dieses neuen Phä- 20 Prozent eines Jahrgangs). Deutlich ist
reizen wie günstigen Ausbildungs- und nomens von besorgten Debatten um die der erhöhte Erwartungsdruck, dem die
Versorgungsbedingungen für Einzel- Persönlichkeitsentwicklung der „kleinen Einzelkinder durch die älteren Genera-
kinder stehen Lohnabzüge und Geld- Kaiser“. Befürchtet wurde, dass sie ego- tionen sowohl im Hinblick auf zu erbrin-
strafen im Mittelpunkt dieser Politik. istisch, eigenwillig, übergewichtig, ag- gende Leistungen wie auch im Hinblick
Diese können (mit bis zu drei Jahres-
einkommen beider Ehepartner) emp- Schaubild 1: Prognose zur Alterung der chinesischen Bevölkerung (2005–2034)
findlich hoch sein. Durch eine stetig
anwachsende Einkommensschere ist
diese Politik in den letzten Jahren zu-
nehmend als sozial ungerecht in die
Kritik geraten, da wohlhabende Fa-
milien die entsprechenden Strafen für
nicht genehmigte Kinder problemlos
aufbringen können, nicht jedoch die
ärmeren Schichten. Die Ein-Kind-Politik
hat die demographische Alterung der
chinesischen Gesellschaft beschleu-
nigt, vor allem in denjenigen städti-
schen Gebieten, die sie in der Vergan-
genheit besonders konsequent durch-
gesetzt haben.
In China wird die Ein-Kind-Familie
auch als „4 : 2 : 1-Modell“ bezeichnet,
d.h. ein Kind, zwei Elternteile und vier
Großeltern. Da die Schaffung eines
umfassenden sozialen Sicherungssys-
tems – insbesondere auf dem Lande –
nur schleppend vorankommt, wird hier
eine der großen Herausforderungen
für die chinesische Bevölkerungsent-
wicklung in den nächsten Jahrzehnten
liegen. Quelle: China in Diagrams 2005, S. 78

218
auf deren spätere Versorgungsansprü- soziale Unruhen, die sich an nicht aus- ZU VIEL, ZU ALT, ZU MÄNNLICH?
che ausgesetzt sind. gezahlten oder unzureichenden Ren- DEMOGRAPHIE UND
Ein weiterer Einwand bezieht sich auf tenzahlungen entzünden (Hurst/O’Brien BEVÖLKERUNGSPOLITIK
die Tatsache, dass die Politik der Bevöl- 2002). 2 Aber noch kritischer als in der
kerungsplanung insbesondere in den Stadt sind die Verhältnisse auf dem Lan-
Städten greift und damit bei jenen Tei- de. Hier sorgen vergleichsweise gerin-
len der chinesischen Bevölkerung, die ge Erträge aus der Landwirtschaft und Unausgewogene Geschlechter-
den höchsten Bildungsstand haben. Al- die abnehmende Bedeutung familiärer verteilung bei der Geburt
lerdings wäre eine Politik, die die ohne- Sicherungssysteme durch die sinkende
hin in vieler Hinsicht privilegierte Stadt- Geburtenrate für eine zunehmend pre- Die Geschlechterverteilung bei der Ge-
bevölkerung auch noch bei der Gebur- käre Situation der älteren Landbevölke- burt 3 zeigt die Anzahl der männlichen
tenbeschränkung bevorzugt, in China rung. Einen Ausgleich schaffen allein Säuglinge im Vergleich zu den weibli-
kaum zu realisieren. Die wichtigsten die Einkommen der Land-Stadt-Migran- chen Säuglingen, die in einem bestimm-
Einwände gegen Chinas gegenwärti- ten, die zu einem guten Teil in die Her- ten Zeitraum geboren werden. Sie wird
ge Bevölkerungspolitik beziehen sich kunftsregionen transferiert werden und in der Regel durch die Anzahl der Jun-
insbesondere auf die Überalterung der die wesentlich zur Versorgung ihrer Kin- gen je 100 Mädchengeburten darge-
Bevölkerung und das zunehmend un- der und Eltern beitragen. stellt. Eine Relation zwischen 103 und
ausgeglichene Geschlechterverhältnis. Nun ist die Alterung von Bevölkerungen 107 Jungengeburten auf 100 Mädchen-
ein weltweites Phänomen – allerdings geburten wird als natürlich angesehen.
eines, das man vorrangig in hoch indu- Wenn die Geschlechterverteilung bei
Überalterung der strialisierten Ländern wie Japan oder der Geburt von der normalen Relati-
chinesischen Bevölkerung Deutschland erwartet, während Ent- on nach oben abweicht, zeigt dies ei-
wicklungs- oder Schwellenländer doch ne Präferenz für die Geburt von Jungen
Im Jahre 2000 gab es in der chinesi- eher als „junge“ Bevölkerungen gelten. und die gesellschaftliche Geringschät-
schen Bevölkerung 88 Millionen Bürger, Im Vergleich mit der Geschichte einiger zung des anderen Geschlechtes an.
die älter als 65 Jahre waren. Mit diesem europäischer Länder schreitet der Alte-
Anteil, der erstmals in der chinesischen rungsprozess der chinesischen Gesell-
Geschichte mehr als sieben Prozent schaft jedoch sehr viel schneller voran. Schaubild 2: Geschlechterverteilung
der gesamten chinesischen Bevölke- Prozesse, die hier rund hundert Jahre bei der Geburt in China
rung betrug, wurde China zu einer „al- gebraucht haben, erfolgen in China (1982–2003, ausgewählte Jahre)
ternden Gesellschaft“. 1 Shanghai bei- nun in einem Zeitraum von weniger als
spielsweise, das ja gerne als Sinnbild dreißig Jahren. Es wird ebenfalls pro- 125
119,92 121,22
des ultramodernen China präsentiert gnostiziert, dass um die Mitte des 21. 120
wird, hatte im gleichen Jahr einen Anteil Jahrhunderts Indien als bevölkerungs- 115,6
an über 65-Jährigen, der bei 13 Prozent reichstes Land China abgelöst haben 115
110,9 111,14
lag, d.h. für Shanghai kann man schon wird (Peng 2004, S. 139). 108,5
110
fast von einer „gealterten Gesellschaft“ Angesichts dieser Situation wird – wie-
sprechen. der einmal – der Ruf nach einer Locke- 105
Im Jahre 2005 hat die chinesische Be- rung der Ein-Kind-Politik laut, um eine
100
völkerung zum ersten Mal die Marke günstigere Altersstruktur zu schaffen. 1982 1987 1990 1995 2000 2003
von 1,3 Milliarden überschritten. Pro- Könnte dies nicht eine sehr einfache Jahr
gnosen zufolge wird sich der Anteil der Lösung des Problems der Alterung der
über 60-Jährigen von 13,7 Prozent der chinesischen Bevölkerung sein? Ge- Quelle: Xie 2006, S. 250, Tabelle 1 .
chinesischen Bevölkerung auf 18 Pro- genüber diesem Argument gibt der
zent im Jahre 2020 und auf 22,8 Prozent Shanghaier Bevölkerungswissenschaft- Ähnlich wie Indien, Südkorea oder Tai-
im Jahre 2034 erhöhen, während der ler Peng Xizhe zu bedenken, dass eine wan weist auch die Volksrepublik China
Anteil der 0- bis 15-Jährigen mit etwas Lockerung der Ein-Kind-Politik vor allem eine zunehmend männlich dominierte
über 19 Prozent eher gleich bleibend längerfristige Wirkungen hätte und Geschlechterrelation bei den Gebur-
sein wird. Dies bedeutet auch, dass der damit nicht in der Lage wäre, kurz- und ten auf. Betrachtet man die Statistik der
Anteil der Bevölkerung zwischen 16 und mittelfristig zur Lösung des Alterungs- Geschlechterverteilung bei der Geburt
59 Jahren – und das heißt der Anteil der problems beizutragen. Hinzu käme, für die letzten 50 Jahre in China, dann
Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter – dass kurzfristig zunächst einmal der zeigt sich, dass die Relation zwischen
im gleichen Zeitraum von 67,3 Prozent Anteil der Kinder und damit der Anteil Jungen- und Mädchengeburten vor
(2005) auf 57,9 Prozent (2034) zurück- der mit zu versorgenden Bevölkerung 1980 normal war. 1953 kamen auf 100
gehen wird. Mit anderen Worten, es gegenüber dem Anteil der erwerbstä- Mädchengeburten 104,9 Jungengebur-
wird nicht nur zu einer Erhöhung des tigen Bevölkerung anstiegen. Die heu- ten, 1964 waren es 103,8 Jungengebur-
Durchschnittsalters der chinesischen tige erwerbstätige Bevölkerung würde ten (Cai/Lavely 2003, S. 15, Tab.1; vgl.
Bevölkerung kommen, sondern gleich- damit noch stärker belastet als sie es Scharping 2003, S. 290, Tab. 32).
zeitig nimmt auch der Teil der Bevölke- ohnehin schon durch die steigende Seit den frühen 1980er Jahren ist in Chi-
rung ab, der die Jüngeren und die Älte- Zahl älterer Mitbürger ist. Außerdem na die Geschlechterverteilung bei der
ren, die noch nicht oder nicht mehr für würde längerfristig auf diese Weise Geburt immer weiter von der Norm ab-
sich selbst sorgen können, mitversorgt. wieder eine größere Bevölkerung ge- gewichen, und zwar kontinuierlich, zu-
Dies bedeutet eine außerordentliche schaffen und damit dem langfristigen nehmend und mit wachsender Verbrei-
Herausforderung für die sozialen Siche- Ziel der Bevölkerungsbeschränkung im tung. Dies hat sich in den folgenden Ent-
rungssysteme in China, die bisher noch Interesse der Schaffung einer Wohl- wicklungen manifestiert:
im Aufbau befindlich sind und erst für ei- standsgesellschaft entgegen gearbei-  Die Geschlechterverteilung bei der
ne städtische Minderheit in der Gesell- tet. Besorgt stellt man sich nun die Fra- Geburt ging im Jahre 1982 erstmals
schaft bereits heute greifen. Schon jetzt ge: „Werden wir alt bevor wir wohlha- über die normale Bandbreite von 103
gibt es immer wieder Meldungen über bend werden?“ bis 107 Jungengeburten auf 100 Mäd-

219
Bettina Gransow
chengeburten hinaus und ist seitdem Bevölkerung existieren. Die tatsächlich Lande zu finden und lassen sich nicht
immer höher als normal geblieben. fehlenden Mädchen haben dagegen einfach auf einen geringeren Entwick-
 Seit 1982 ist der Anteil der Jungenge- eine Reihe von demographischen Effek- lungsstand als Erklärungsmuster zu-
burten für mehr als 20 Jahre systema- ten, da sie niemals zur Schule gehen, rückführen. Hier spielt auch die soziale
tisch und kontinuierlich angestiegen; niemals eine Beschäftigung aufneh- Stellung der Frauen in einer seit den
es handelte sich nicht um gelegentli- men, niemals heiraten. Der wachsende 1980er Jahren immer stärker auf Mo-
che Zuwächse in einzelnen Jahren. Frauenmangel in der Bevölkerung hat dernisierung, wirtschaftliches Wachs-
 Das Ungleichgewicht ist immer größer eine Reihe von sozialen und politischen tum und Konkurrenzverhalten ausge-
geworden. Im Jahre 2000 lag die Rate Implikationen, einschließlich möglicher richteten Gesellschaft eine Rolle. Zwar
der Jungengeburten bereits fast bei Effekte auf den „Heiratsmarkt“ und an- haben die Frauen im Bildungsbereich
120 und stieg in den folgenden Jahren derer sozialer Kosten (Cai/Lavely 2003, sehr stark aufgeholt, aber was die Ein-
noch weiter an. S. 14, 21). Allein im Zeitraum zwischen kommen des weiblichen Teils der chine-
 Es handelt sich nicht um ein lokal be- 2000 und 2002 wurden 25.116 Fälle sischen Bevölkerung betrifft oder ihre
grenztes Phänomen, sondern ist weit von kidnapping und Verkauf von Frau- Repräsentanz in leitenden Funktionen
verbreitet und in den meisten Regionen en in China registriert (Department of in Politik und Wirtschaft, so hinken sie
Chinas anzutreffen, mit den Provinzen Population, Social, Science and Tech- doch noch weit hinter den Männern
Guangdong, Guangxi, Hainan, Anhui, nology 2004, S. 98). Geht man davon hinterher. So verwundert es nicht, dass
Henan und Jiangxi als Spitzenreitern. aus, dass es sich bei der männlich do- vielen Ehepaaren auch in den Städten
Hier lag die Rate der Jungengeburten minierten Geschlechterverteilung bei die Chancen für männliche Nachkom-
im Jahre 2000 bei 117 und höher. der Geburt in China um einen Lang- men in der chinesischen Gesellschaft
Eine männlich dominierte Geschlech- zeittrend handelt (und die Zensusdaten deutlich höher erscheinen als für den
terverteilung bei der Geburt kann ent- legen dies nahe), dann ist zu erwarten, weiblichen Nachwuchs (Department of
weder eine exzessiv hohe Sterblich- dass Frauenhandel zum Zwecke der Population, Social, Science and Tech-
keitsrate weiblicher Föten anzeigen, Heirat und der Zwangsprostitution in nology 2004, S. 19).
die vermutlich das Ergebnis geschlech- den nächsten Jahrzehnten voraussicht- In den Gebieten der nationalen Min-
terspezifischer Abtreibungen ist (eine lich noch zunehmen wird. derheiten 4 ist die Geschlechtervertei-
Praxis, die in China gesetzlich verbo- Überraschenderweise gilt der ausge- lung bei der Geburt relativ normal. Die
ten ist, aber technisch gesehen keine prägte Trend einer zunehmend männ- Minderheiten leben überwiegend in
besonders hohen Anforderungen stellt lich dominierten Geschlechtervertei- den fünf Autonomen Gebieten Tibet,
und daher relativ einfach unterlaufen lung bei der Geburt nicht nur auf dem Xinjiang, Innere Mongolei, Guangxi und
werden kann) oder sie kann das Ergeb- Lande, sondern auch für städtische Ningxia. Davon zeigt lediglich Guangxi
nis einer geschlechterspezifischen Un- Gebiete. Zwar ist das Problem einer mit einer Rate von 128,80 Jungengebur-
terzählung von Kindern in der Statis- ungleichen Geschlechterverteilung bei ten auf 100 Mädchengeburten ein ab-
tik bedeuten. Der Unterschied besteht der Geburt in ländlichen und klein- normes Geschlechterverhältnis. In den
darin, dass die missing girls im ersten städtischen Gebieten gravierender als anderen vier Minderheiten-Provinzen
Fall tatsächlich nicht vorhanden sind, in großen Städten, aber selbst hier hat war die Geschlechterverteilung ausge-
im Falle der Unterzählung aber nur die ungleiche Geschlechterverteilung wogen (Tibet, Xinjiang) oder nur leicht
nominell fehlen. Letzteres würde impli- bei der Geburt noch zugenommen. erhöht (Innere Mongolei, Ningxia). (Du-
zieren, dass diese Mädchen versteckt, Mit anderen Worten, patriarchalische an 2005, S. 6f.). Ob diese eher norma-
d.h. nicht registriert und informell in der Denkmuster sind nicht nur auf dem len Geschlechterverteilungen bei der
Geburt aber auf kulturelle Unterschiede
in der Bevorzugung oder Nichtbevorzu-
Tabelle 3: Geschlechterverteilung bei Kindern im Alter zwischen 0–14 Jahren gung von männlichen Nachkommen zu-
nach Provinzen (2000). rückzuführen sind 5 oder auf die locke-
reren Bestimmungen der Bevölkerungs-
Relation Jungen-/ Relation Jungen-/ planung, dies sollte noch Gegenstand
Provinz Provinz weiterer Forschungen sein.
Mädchengeburten Mädchengeburten
Beijing 108,4 Heilongjiang 106,6
Tianjin 108,9 Shanghai 107,5 Erhöhte Sterblichkeit
Hebei 108,9 Jiangsu 115,3 weiblicher Säuglinge
Shanxi 108,6 Anhui 117,4
Ein weiterer wichtiger Indikator, der das
Inner Mongolia 107,6 Zhejiang 112,0 Ausmaß und die Entwicklung des Phäno-
Liaoning 109,7 Fujian 114,7 mens der missing girls in China anzeigt,
Jilin 108,0 Jiangxi 119,0 ist neben der Geschlechterverteilung
bei der Geburt auch die Entwicklung
Shandong 111,6 Chongqing 112,5
und das Verhältnis der Sterberaten von
Henan 118,1 Sichuan 112,2 männlichen und weiblichen Säuglin-
Hubei 116,0 Yunnan 111,6 gen. Insgesamt gesehen ist es in der Zeit
Hunan 114,6 Guizhou 113,0 der Reformpolitik zu einer deutlichen
Senkung der Säuglingssterblichkeit in
Guangdong 117,2 Tibet 102,4 China gekommen, und zwar von 38 Pro-
Guangxi 120,9 Shaanxi 115,0 mille im Jahre 1981 auf 28 Promille im
Hainan 122,7 Gansu 111,2 Jahre 2000. Allerdings existiert sowohl
in ländlichen wie in städtischen Ge-
Qinghai 106,0 Ningxia 107,1
genden eine abnormal höhere Sterb-
Xinjiang 104,8 lichkeitsrate weiblicher Säuglinge im
Vergleich zur Sterblichkeit männlicher
Quelle: Banister 2004, S. 32, Tabelle 5.

220
Chinas rigide Be- ZU VIEL, ZU ALT, ZU MÄNNLICH?
völkerungspolitik DEMOGRAPHIE UND
hat gravierende BEVÖLKERUNGSPOLITIK
demographische
Folgen. Die so ge-
nannte Ein-Kind-
Politik – wie es auf vorgestellten Daten legen nahe, dass die
dem Plakat unter- Ungleichverteilung von Geburten- und
halb der Familie Sterberaten bei Jungen und Mädchen
propagiert wird – nicht einfach auf einen unzureichenden
war stets umstrit- Entwicklungsstand zurückgeführt wer-
ten und führte den kann. Kulturelle Unterschiede, ein
zu Unmut und patrilokales Heiratssystem, eine männ-
Abwehrstrate- lich dominierte politische Kultur, poli-
gien auf Seiten tische Maßnahmen, die neben inten-
der betroffenen dierten Effekten auch nicht intendierte
Familien. Folgen mit sich bringen können, all dies
picture alliance/dpa sind Faktoren, die hier in der einen oder
anderen Weise zusammenwirken.
Die Bevorzugung männlicher Nach-
kommen in China wird häufig mit einem
Mangel an sozialer Sicherung auf dem
Lande erklärt. Die Zensusdaten zeigen
jedoch, dass die Bevorzugung männ-
licher Nachkommen nicht nur für die
ländlichen Gebiete charakteristisch ist,
sondern auch in den städtischen Gebie-
ten dominiert. Was ist dann aber der
Grund für die Bevorzugung männlicher
Nachkommen in den Städten? Neben
kulturellen Erklärungen wird in der chi-
nesischen Fachliteratur auch der gerin-
gere gesellschaftliche Status der Frau-
en angeführt, der sich an Bildungs-, Ge-
Säuglinge – dies gilt für die meisten Re- Die Säuglingssterblichkeit ist auf dem sundheits-, Beschäftigungs- und Einkom-
gionen des Landes. Lande viel höher als in den Städten und mensindikatoren ablesen lässt und sich
Verglichen mit Männern sind Frauen die Benachteiligung auf dem Lande hat auch in dem geringen prozentualen An-
biologisch im Vorteil, d.h. normalerwei- sich während der Zeit der Reformpolitik teil von Frauen in verantwortlichen Positi-
se ist die Sterblichkeitsrate für weibli- noch verstärkt. onen wie hohen Regierungs- und Partei-
che Säuglinge geringer als für männli- Wie die Zensusdaten verdeutlichen, ist ämtern und Managerposten ausdrückt.
che Säuglinge. Nach dem Zensus von es auf dem Lande nicht nur zu einer rela- So argumentiert etwa der Sozialwissen-
1982 stimmte die Säuglingssterblichkeit tiven Verschlechterung der Sterblichkeit schaftler Cai Fang von der chinesischen
für weibliche und männliche Säuglinge weiblicher Säuglinge gekommen, son- Akademie der Sozialwissenschaften,
in China mit dieser Regel überein, wich dern sogar zu einer absoluten Zunahme dass die Geschlechterverteilung bei
jedoch später immer weiter von dieser der Sterblichkeitsrate von 39 Promille der Geburt in Familien von Partei- und
Regel ab. Im Jahr 2000 betrugen die Ra- (1982) auf 43 Promille (2000), während Regierungskadern in verantwortlichen
ten 24 Promille für die männlichen Säug- im gleichen Zeitraum die Sterberate Stellungen nach dem 5. Zensus (2000)
linge und 34 Promille für die weiblichen männlicher Säuglinge auf dem Lande sogar 250 betrug (Durchschnitt: 119,9;
Säuglinge; d.h. die Sterblichkeit weib- von 41 Promille (1982) auf 30 Promille normal 103–107). Dieses Ergebnis kann
licher Säuglinge lag nun zehn Promil- (2000) abnahm. Obwohl die Gleichbe- Cai zufolge bis zu einem gewissen Grad
lepunkte höher als die der männlichen rechtigung von Mann und Frau in China als Anerkennung der Tatsache interpre-
Säuglinge. Im Zeitraum von zehn Jah- als eine offizielle Staatspolitik angese- tiert werden, dass männliche Nachkom-
ren ist es hier zu dramatischen Verschie- hen wird, die in zahlreichen Gesetzen men eine bessere Ausgangsposition für
bungen zwischen den weiblichen und und Maßnahmen ihre Umsetzung findet, einen gesellschaftlichen Aufstieg mit-
männlichen Sterberaten gekommen, die macht das Beispiel der missing girls be- bringen (Cai 2005, S. 22). Die geringere
in diesem Zeitraum ungleich stärker für sonders deutlich, wie Rechtslage und soziale Stellung der Frauen führt dieser
die männlichen Säuglinge gesunken ist. Realität auseinanderklaffen können. Die Logik zufolge zu geringeren Investitio-

Tabelle 4: Säuglingssterblichkeit im ländlichen und städtischen China (in Promille) (1982, 1990, 2000).

Zensus 1982 Zensus 1990 Zensus 2000


Gesamt Männl. Weibl. Gesamt Männl. Weibl. Gesamt Männl. Weibl.
Gesamt 38 39 37 33 32 33 28 24 34
Städt. 24 25 23 13 11 15
Ländl. 40 41 39 36 30 43

Quelle: Duan 2005, S.51

221
China Statistical Yearbook (2007). Compiled by
Bettina Gransow
nen in weibliches Humankapital, zu ei- Paare, egal, ob auf dem Lande oder
National Bureau of Statistics. Beijing.
nem geringeren Bildungsniveau und zu in der Stadt. Mit anderen Worten, die China in Diagrams (2005). Compiled by the State
einer Diskriminierung von Frauen im Ar- Differenz zwischen offizieller Ein-Kind- Council Information Office. Beijing: China Inter-
beitsmarkt. Dies ist ein Circulus vitiosus, Politik (einschließlich der vielfältigen continental Press
dessen Durchbrechung spezielle Inter- Ausnahmen) und den individuellen Nor- Department of Population, Social, Science and
Technology, National Bureau of Statistics (2004):
ventionen zur Förderung von Familien men der Bevölkerung liegen eigentlich Women and Men in China. Facts and Figures.
mit Töchtern erfordert. gar nicht so weit auseinander. Mit Un- Beijing.
Solche männlich dominierten Abwei- terstützung der Vereinten Nationen und Duan Chengrong (2005): Statistical Facts and
chungen von Mustern der Normalvertei- anderer internationaler Geber werden Figures. Report about Gender Inequality. Unver-
öffentlichtes Manuskript.
lung der Geschlechter können nicht nur seit Mitte der 1990er Jahre in China lan-
Gransow, Bettina (2000): Gesellschaft. In: Stai-
Nachteile für Mädchen und Frauen mit desweite Projekte zur Bereitstellung von ger, Brunhild (Hrsg.) (2000): Länderbericht China.
sich bringen, sondern auch Nachteile Dienstleistungen im Bereich der repro- Darmstadt, S. 178–220.
für die Männer haben. Mögliche Folgen duktiven Gesundheit durchgeführt, die Gransow, Bettina (2008): Chinas missing girls –
der maskulinen Geschlechterverteilung auf freiwilliger Basis beruhen und die in- Statistische Unterzählung oder Maskulinisierung
der chinesischen Gesellschaft? In: Die Natur der
bei der Geburt werden in den nächsten dividuellen Rechte der Beteiligten beto- Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses
zwanzig Jahren für den chinesischen nen. Diese Ansätze könnten Ausgangs- der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kas-
„Heiratsmarkt“ erwartet, der durch das punkt für einen allmählichen Übergang sel 2006. Herausgegeben in deren Auftrag von
Phänomen der missing girls unter Druck zu einer Politik der Bevölkerungskontrol- Karl-Siegbert Rehberg unter Mitarbeit von Tho-
mas Dumke und Dana Giesecke, Frankfurt am
gerät. China hat bereits einen deut- le sein, die grundsätzlich auf dem Prin-
Main/New York (im Erscheinen).
lich höheren Anteil an (unfreiwilligen) zip der Freiwilligkeit beruht. Eine solche Greenhalgh, Susan/Winckler, Edwin (2005):
Junggesellen in der armen Bevölkerung, Transformation der Bevölkerungspolitik Governing China’s Population. From Leninist to
die es sich nicht leisten können, die ko- wird aber voraussichtlich noch einige Neoliberal Biopolitics. Stanford.
stenaufwändigen Hochzeitsfeiern an- Jahre in Anspruch nehmen und nur all- Hurst, William/O’Brien, Kevin (2002): China’s
Contentious Pensioners. In: China Quarterly, Nr.
gemessen auszurichten und die erwar- mählich eingeführt werden, nicht zu- 170 (June): S. 345–60.
teten Besitzstände und Geschenke in letzt, um negative Effekte eines abrup- Ikels, Charlotte (1996): The Return of the God of
die Ehe einzubringen. Während der ten Umschwungs der Bevölkerungspoli- Wealth. The Transition to a Market Economy in
Frauenhandel zum Zwecke der Heirat tik zu vermeiden. Grundsätzlich hält die Urban China. Stanford.
Lipinsky, Astrid (1996): Frauenhandel in China.
(oder Zwangsprostitution) bereits seit chinesische Regierung auch weiterhin
Aufsätze und Dokumente. Gelbe Reihe, Heft
einiger Zeit ein erhebliches Problem in an ihrer Politik einer Beschränkung des 6/1996, Terre des Femmes, Bonn.
China darstellt (Lipinsky 1996; Depart- Bevölkerungswachstums fest. Gleich- Peng Xizhe (2004): Is it Time to Change China’s
ment of Population, Social, Science and zeitig soll der freiwilligen Teilnahme an Population Policy? In: China: an International
Technology 2004, S. 98), ist angesichts entsprechenden Programmen größere Journal, 2, 1 (March), S. 135–149.
Scharping, Thomas (2003): Birth Control in China
der genannten Projektionen eine weite- Bedeutung zukommen. Ein allmählicher 1949–2000. Population Policy and Demographic
re Verschärfung dieses Problems (ein- Übergang zu einer Zwei-Kind-Politik Development. London.
schließlich einer Zunahme des grenz- nach 2010 ist zu erwarten. Scharping, Thomas (2007): Bevölkerungspolitik
überschreitenden Frauenhandels nach und demographische Entwicklung. In Fischer, Do-
ris/ Lackner, Michael (Hrsg.) (2007): Länderbe-
China hinein) zu erwarten.
richt China. Bonn, S. 50–71 .
LITERATUR Xie Zhenming (2006): Zhongguo chusheng xing-
bie bi yichang piangao de xianxiang he benzhi
Künftige Rolle der chinesischen Banister, Judith (2004): Shortage of Girls in China (Nature of the Imbalanced Sex Ratio at Birth in
Regierung in der Bevölkerungspolitik Today. In: Journal of Population Research, Heft China). In: Tan Lin (Hrsg.) (2006): 1995–2005 ni-
1/2004, S. 19–45. an: Zhongguo xingbie pingdeng yu funü fazhan
Cai Fang (2005): Zhongguo renkou yu laodong baogao (Report on Gender Equality and Women
Die Ein-Kind-Politik ist ein beständiger wenti baogao Nr.6 (2005). Renkou yu laodong Development in China (1995–2005), Funü lanpis-
Stein des Anstoßes zwischen Regierung lüpishu (Report on China’s Population and Labor hu (Green Book of Women) Beijing, S. 240–248.
und Öffentlichkeit. Zwar wurde 2002 No.6 (2005). Green Book of Population and La- Zhang Yi (2007): New Features of China’s Popu-
bor. Hrsg. von Cai Fang). Beijing (chinesisch). lation Since Reaching 1 .3 Billion. In: Ru Xin/Lu
mit dem Familienplanungsgesetz eine
Cai Yong/Lavely, William (2003): China’s Missing Xueyi/Li Peilin (Hrsg.) (2007): The China Sciety
rechtliche Grundlage geschaffen, die Girls: Numerical Estimates and Effects on Popula- Yearbook (2006). China’s Social development;
den lokalen Behörden Spielraum bei tion Growth. In: The China Review, Heft 2/2003, analysis and Forecast. Leiden, S. 83–95.
der Ausgestaltung lokaler Bedingungen S. 13–29.
ließ, aber grundsätzlich bedeutete das
Gesetz ein Festhalten an der Linie der
UNSERE AUTORIN

Ein-Kind-Politik. Die Umbenennung der ANMERKUNGEN


Staatlichen Familienplanungskommissi-
1 Nach einer Definition der Vereinten Natio-
on im März 2003 in Nationale Kommissi- nen spricht man von einer „alternden Gesell-
on für Bevölkerung und Familienplanung schaft“, wenn der Anteil der über 65-Jährigen
kann als ein Schritt zu einer deutliche- sieben Prozent der Bevölkerung übersteigt bzw.
ren Arbeitsteilung zwischen verschie- wenn mehr als zehn Prozent der Bevölkerung älter
als 60 Jahre sind.
denen gesellschaftlichen Akteuren der 2 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Günter
Bevölkerungspolitik interpretiert wer- Schucher in diesem Heft.
den. Während sich die Rolle des Staates 3 Die Darstellung dieses Abschnittes folgt
vorrangig auf die Formulierung von Pro- Gransow 2008 (im Erscheinen).
grammen und die Kapazitätsbildung zu 4 Neben der Han-Nationalität, die die Mehr-
heit der Bevölkerung bildet, gibt es noch 55 so
ihrer Umsetzung beschränken soll, sol- Prof. Dr. Bettina Gransow lehrt Sinolo- genannte Nationale Minoritäten in China, die
len Marktkräfte und Nichtregierungs- gie am Ostasiatischen Seminar der Frei- zusammen rund acht Prozent der chinesischen
organisationen stärker in die Bereitstel- en Universität Berlin. Ihre aktuellen For- Bevölkerung ausmachen. Vgl. hierzu den Beitrag
lung von Dienstleistungen im Bereich der schungs- und Publikationsschwerpunkte von Thomas Heberer in diesem Heft.
5 So zählen zum Beispiel der Zhuang-Minder-
Familienplanung einbezogen werden. sind: freiwillige und unfreiwillige Migra- heit, mehr noch als bei den Han-Chinesen, die
Heutzutage sind zwei Kinder in der Re- tion in China; soziale Risiken des chine- Mädchen weniger als die Jungen (vgl. Banister
gel die erwünschte Norm chinesischer sischen Transformationsprozesses. 2004, S. 37).

222
DIE CHINESISCHE RECHTSORDNUNG

Chinesische Rechtskultur im Wandel


sozioökonomischer Bedürfnisse
Robert Heuser

reduziert gesehen als Funktion von tungsgremien, Wirtschaftsstreitigkeiten


Während der ersten drei Dekaden der Klassenkampf, als Mittel der Kriminali- durch die in den Planbehörden ange-
Volksrepublik China stand das Recht im tätsbekämpfung und der Kontrolle von siedelten Schiedsorgane beigelegt,
Dienste der klassenkämpferisch ausge- als politisch unzuverlässig geltenden Rechtsschutz durch Gerichte spielte
richteten Parteipolitik. Im Gefolge der Bevölkerungsgruppen, wie (ehemalige) keine Rolle, Anwaltschaft und Rechts-
zunächst zögerlich eingeleiteten Reform- Grundbesitzer und Kapitalisten sowie lehre standen, soweit es sie überhaupt
politik Ende der 1970er Jahre, die als Intellektuelle. Sie wurden im Rahmen gab, im Dienste der klassenkämpferisch
Wirtschaftsreform begann, sich sodann diverser Massenkampagnen vor „Volks- ausgerichteten Parteipolitik.
zur gesellschaftlichen und politischen Re- tribunalen“ angeklagt, was in öffentli-
form entwickelte, war die Wandlung der chen Hinrichtungen oder Einlieferung
Rechtskultur und Entwicklung des Rechts- in das sofort aufgebaute System der Bedürfnisstruktur und Gesetzgebung
systems eine Notwendigkeit. Ein Strafge- Arbeitslager endete. 1 Dabei bemühte
setz und ein Strafprozessgesetz garan- man die aus der Sowjetunion bezo- Ende der 1970er Jahre leitete die
tieren – trotz aller Mängel aus westlicher gene „Theorie“, wonach das Recht als Kommunistische Partei (KP) einen Um-
Sicht – ein Mindestmaß an Sicherheit der „Ausdruck des Willens der herrschen- schwung ein, indem sie ihre Klassen-
Bürger und schaffen somit die Grundvo- den Klasse“, „Werkzeug des Klassen- kampf-Besessenheit überwand und
raussetzung für gesellschaftliche Stabili-
kampfes“, „Waffe zur Etablierung der sich intensiver den Problemen der wirt-
tät. Die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte
sozialistischen Gesellschaft“ zu begrei- schaftlichen und kulturellen Fehl- und
Chinas wäre undenkbar ohne Verände-
rungen im Wirtschaftsrecht bzw. ohne
fen ist. Einer Vorstellung, wonach dem Unterentwicklung des Landes zuwand-
eine Wirtschaftsordnung, die seit gerau- Recht die Funktion der Ausgleichung te. Die nun eingeleitete Reformpolitik
mer Zeit privatwirtschaftliche Initiativen einer Vielzahl von Interessen in einer begann als Wirtschaftsreform, erwei-
und Rechtsformen zulässt und Systeme (mehr oder weniger) ausdifferenzierten terte sich zur Gesellschaftsreform und
der sozialen Sicherung etabliert. Verbes- Gesellschaft zukommt, es also auch schreitet – wenn auch zögerlich – fort
serungen im Rechtsschutz und die Kont- mit horizontalen Beziehungen zu tun in die politische Reform. Geht man von
rolle administrativer Macht sind weitere hat, war unter der auf der Grundlage den zugrunde liegenden Bedürfnissen
Indikatoren, die – so Robert Heuser – des Staatseigentums an Produktions- aus, so ist es vom jeweiligen Schwer-
den Wandel der Rechtskultur anzeigen. mitteln vonstatten gehenden Planwirt- punkt her gesehen ein Fortschreiten
Gleichwohl kennt die chinesische Verfas- schaft, in der es Vertragsfreiheit nicht von dem Bedürfnis nach gesellschaftli-
sung keine Gewaltenteilung, d.h. für eine geben konnte, enge Grenzen gesetzt. cher Stabilität zunächst als Antwort auf
starke Judikative sind die Voraussetzun- In dieser Zeit gab es daher so gut wie die Jahre der Kulturrevolution, schnell
gen aufgrund der Machtstellung des Na- kein Bedürfnis weder für eine umfas- immer mehr auch als Antwort auf die
tionalen Volkskongresses nicht gegeben. sende Zivilgesetzgebung, noch für ein Schattenseiten des sozialen Wandels,
Insofern ist der Terminus „sozialistischer rechtsstaatlich orientiertes Strafrecht. wie Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit
Rechtsstaat“ eine Chiffre für den Über- Für die Zwecke der Herrschafts- und und Bildungsmangel, dann dem Be-
gang. Eine Chiffre, die den Suchprozess Verwaltungskommunikation bediente dürfnis nach Verbesserung des materi-
kennzeichnet, historische Ordnungsvor- man sich des flexiblen Instruments der ellen Lebens, der Überwindung der aus
stellungen und chinesisches Kulturerbe „politischen Richtlinien“, die von Regie- Klassenkampf und Planwirtschaft resul-
mit der Idee des Rechtsstaats europäi-
rungs- und/oder Parteiorganen festge- tierenden Armut, bis hin zu einem Be-
scher Prägung in Einklang zu bringen.  legt wurden. Seine ganze Verachtung dürfnis nach Kontrolle administrativer
für ein formalisiertes, weil – wie weit- Macht und justitiellem Rechtsschutz. In
gehend auch immer – beschränken- allem war der Gesetzgeber gefordert,
des, Rechtssystem drückte Mao 1958 der auf diese Bedürfnisse dadurch re-
Recht im Dienste der Parteipolitik im Ferien- und Tagungsort des Polit- agierte, dass er Vorkehrungen traf für
büros Beidaihe so aus: „Wer kann sich eine Basis-Sicherheit der Bürger ge-
Als die chinesische Partei- und Staats- so lange Paragraphen wie Zivil- und genüber der Polizeigewalt, aber auch
führung nach dem Niedergang der Strafgesetze merken? In der Ausarbei- gegenüber der Gewalt anderer Bürger,
maoistischen Wirtschafts- und Gesell- tung der Verfassung (von 1954) war ich und so die Grundvoraussetzung schuf
schaftspolitik Ende der 1970er Jahre selbst beteiligt, aber merken kann ich für gesellschaftliche Stabilität; dann
damit begann, die durch diese Politik sie mir nicht. Gesetze, das sind unsere Vorkehrungen traf zur Anziehung aus-
verursachten Zerstörungen materieller Tagungen (huiyi), auch wenn wir Ver- ländischen Kapitals und zur Umwand-
und immaterieller Werte wahrzuneh- sammlungen abhalten (kaihui), so sind lung der Plan- in eine Marktwirtschaft,
men und Reformmaßnahmen einzu- das Gesetze. Wir stützen uns also auf um so dem Bedürfnis nach Produkti-
leiten, sah sie sich bald mit der Not- Tagungen und Versammlungen, viermal vität und Verbesserung des Lebens-
wendigkeit konfrontiert, die Rolle des im Jahr, und stützen uns nicht auf Zivil- standards zu entsprechen; schließlich
Rechts in der sich entwickelnden Neu- und Strafgesetze zur Wahrung der Ord- auch Vorkehrungen zu treffen begann
ordnung zu bestimmen. Während der nung.“ 2 Konflikte zwischen den Bürgern zur Kontrolle verwaltungsbehördlicher
ersten drei Dekaden nach Gründung oder zwischen Bürgern und Kadern Willkür und zur Stärkung des Justizap-
der Volksrepublik hatte man „Recht“ wurden auf informelle Weise in Schlich- parats, um dem Bedürfnis nach good

223
Robert Heuser
In China existiert noch immer keine ideale
Strafrechtswelt im Sinne einer Annähe-
rung an den UN-Menschenrechtspakt.
picture alliance/dpa

governance (was auch ein Freiheitsbe-


dürfnis impliziert) besser zu genügen.

Basis-Sicherheit

Mit Gesetzen, die der Nationale Volks-


kongress (NVK) im Juli 1979 erließ,
wurde erstmals ein Mindestmaß an Si-
cherheit gegenüber polizeilichen Ein-
griffen und kriminellen Übergriffen ge-
währleistet: Erstmals in der Geschichte
der Volksrepublik China wurden ein
Strafgesetz und ein Strafprozessge-
setz geschaffen. Damit wurden erst-
mals Straftatbestände einigermaßen
präzise ausformuliert, eine erste Annä-
herung an das rechtsstaatliche Prinzip
„keine Strafe ohne (vor Tatbegehung
existierendes) Gesetz“ unternommen.
Erstmals wurde auch das Strafverfah-
ren von der vorläufigen Festnahme über
Verhaftung, Ermittlung und Anklage bis
zum Ablauf der Hauptverhandlung im
Sinne einer gewissen Ausbalancierung
der beteiligten Interessen normiert: der
Interessen der Öffentlichkeit an der
Strafaufklärung und der Interessen des
Beschuldigten, vor willkürlicher Straf-
gewalt geschützt zu sein.
Zwar konnten ausländische Beobach-
ter gleich die Mängel dieser Gesetzge-
bung benennen: Nur schwache Ausprä-
gung des Legalitätsprinzips (Möglich-
keit der Analogie, pauschalisierende
Straftatbestände), keine Ausformulie-
rung der Unschuldsvermutung, schwa-
che Rechtsstellung des Beschuldigten
und der Verteidigung, Möglichkeit der
Verwertung rechtswidrig (etwa durch werden dürfen, die Stellung der Vertei- nicht oder unzureichend gewährleistet
– als solche verbotene – Folter) erlang- diger prekär bleibt und polizeilich an- sind, und das Strafgesetzbuch mit dem
ter Beweismittel, Fortgeltung diverser geordnete Administrativhaft („Arbeits- Tatbestand der Subversion (§ 105: „Wer
Systeme polizeilich angeordneter Frei- erziehung“) weiterhin ein lebhaft ange- durch Verbreiten von Gerüchten und
heitsentziehung etc. Für die Chinesen wandtes Instrument des „kurzen Prozes- Verleumdungen oder in sonstiger Wei-
jener Zeit jedoch war „das Glas halb ses“ ist, sind fortexistierende Mängel, se zum Umsturz aufhetzt ...“) einem Ge-
voll“, sie sahen die Errungenschaften im für die in der Rechtswissenschaft und sinnungsstrafrecht verhaftet ist. 3
Vergleich zu der Zeit vorher. Auch griff der interessierten Öffentlichkeit darauf
die chinesische Rechtswissenschaft, gedrungen wird, sie im Sinne einer An-
die seit Mitte der 1980er Jahre in einen näherung an den UN-Menschenrechts- Wirtschaftsaufbau
sich permanent vertiefenden Kontakt pakt (Zivilpakt), dessen Ratifikation die
mit der Rechtswissenschaft zahlreicher chinesische Regierung vorbereitet, zu Es ist des Weiteren das Bedürfnis nach
westlicher Länder eingetreten war, die überwinden. Das Bedürfnis nach einem wirtschaftlicher Entwicklung, das der
genannten Defizite auf, was Mitte der Mindestmaß an Sicherheit gegenüber Rechtsordnung fundamentale Aufgaben
1990er Jahre in eine umfangreiche No- der staatlichen Strafgewalt mag so für zugewiesen und ihr damit ein völlig neues
vellierung des Straf- und Strafprozess- den Alltag und große Teile der Bevöl- Gepräge gegeben hat. Das im Rahmen
gesetzes einmündete. Dadurch wurde kerung einigermaßen befriedigt sein, der ersten Gesetzgebungswelle im Juli
immer noch keine ideale Strafrechts- für politisch kritische Bürger, deren Zahl 1979 ergangene Gesetz über Gemein-
welt hergestellt; dass die Todesstrafe allerdings in Zeiten wachsenden sozio- schaftsunternehmen mit chinesischer
sehr häufig angedroht bleibt und häu- ökonomischen Stresses rapide zunimmt, und ausländischer Kapitalbeteiligung
fig auch ausgesprochen und vollzogen ist es dies so lange nicht, wie grundle- machte klar, was für den wirtschaftli-
wird, dass illegal erlangte Beweismit- gende Menschenrechte wie Meinungs-, chen Aufbau unverzichtbar ist: die Ver-
tel gegen den Beschuldigten verwertet Religions- und Versammlungsfreiheit wendung von Kapital, technischem und

224
CHINESISCHE RECHTSKULTUR IM
WANDEL SOZIOÖKONOMISCHER
BEDÜRFNISSE

(Aktiengesellschaft) geregelt sind, des


Par tnerschaf tsunternehmensgesetzes
(1997) für Personengesellschaften (Of-
fene Handelsgesellschaft/OHG, später
auch Kommanditgesellschaft/KG) und
des Gesetzes über einzelkaufmänni-
sche Unternehmen (1999). Das Vertraut-
werden mit diesen Rechtsformen in der
Privatwirtschaft zeigte dann auch den
Weg zur Reform der Staatsunterneh-
men, die zum großen Teil ebenfalls als
Gesellschaften mit beschränkter Haf-
tung und Aktiengesellschaften reorga-
nisiert wurden.
Begleitet und recht eigentlich ermög-
licht wurde diese Pluralisierung der Un-
ternehmenslandschaft durch die 1993
durch Verfassungsänderung bestätigte
Hinwendung zu einer „sozialistischen“
(d.h. staatsgelenkten) Marktwirtschaft.
Ein vielfältiger gesellschaftlicher Wan-
del hatte die Verabschiedung der Plan-
wirtschaft schon Jahre zuvor praktisch
werden lassen: Die so genannten Dan-
weis, die Arbeits- und Lebenseinheiten
von Großunternehmen, lösten sich auf,
Wahl und Qual eigener Arbeitsplatz-
suche war an die Stelle lang üblicher
Arbeitsplatzzuweisung getreten, die
Wertschöpfung des nicht-staatlichen
Unternehmenssektors machte schon
mehr als die Hälfte des Bruttosozialpro-
dukts aus, Dorfgemeinschaften lösten
sich auf, weil ehemalige Bauern, sich
Freizügigkeit anmaßend, als Wander-
arbeiter in die Städte zogen, Schulen
und Universitäten traten miteinander in
Wettbewerb etc.
Mit der Legalisierung solcher und ande-
rer Vorgänge als Ausdruck von „Markt-
betriebswirtschaftlichem Know-how aus Inzwischen hatte sich im Bereich der Pri- wirtschaft“ war der Weg endgültig
dem Ausland. In den 80er Jahren ent- vatwirtschaft die Unternehmensland- frei für den Aufbau einer den Prinzipi-
stand ein ganzer, auf ausländische In- schaft intensiv entwickelt. Während ur- en des Marktes Raum verschaffenden
vestoren ausgerichteter Rechtskreis: Ge- sprünglich in der Verfassung (Text von Wirtschaftsrechtsordnung: Neben der
setze zu den Investitionsvehikeln (neben 1982) von „Privatwirtschaft“ noch keine erwähnten Gesetzgebung zu den Un-
Gemeinschaftsunternehmen, 100-pro- Rede war (Art. 11 ursprüngliche Fas- ternehmen (Wirtschaftssubjekten) wur-
zentige Tochterunternehmen, Reprä- sung), war 1988 durch Verfassungsän- de der gesamte Bereich der Rechte nor-
sentanten und Holdings), dann Gesetze derung „Privatwirtschaft“ als Ergänzung miert, mit denen es Unternehmen (und
zum Arbeits-, Vertrags- und Steuerrecht. (buchong) des Staatssektors legalisiert sonstige Personen) zu tun haben kön-
Währenddessen verharrten die rein bin- worden. Der Staatsrat erließ Bestimmun- nen, seien es Rechte an Grundstücken
nenchinesischen Unternehmen zunächst gen, in denen erstmals die Rechtsformen und Bauwerken (Sachenrechtsgesetz),
in nur leicht aufgelockerten planwirt- aufgeführt waren, deren sich Privatun- an gewerblichem und intellektuellem
schaftlichen Bindungen. Die 1982 erlas- ternehmer bedienen konnten: Gründung Eigentum (Patent-, Urheberschutzgeset-
sene Verfassung ging noch von der Plan- als einzelkaufmännisches Unternehmen, ze), oder an Wertpapieren (Wertpa-
wirtschaft als Grundordnung aus und als Partnerschaftsunternehmen oder als piergesetz). Auch das Medium, mit dem
maß der „Regulierung durch den Markt“ GmbH (Gesellschaft mit beschränkter solche Rechte transferiert werden, der
nur eine ergänzende Funktion bei. Die Haftung). Dies waren ganz neue Katego- Vertrag, wurde nach diversen Vorläu-
Umwandlung der Staatsunternehmen in rien in der chinesischen Rechtsordnung, fern 1999 durch das Vertragsgesetz ge-
produktive, Gewinn erzielende Akteure die der Gesetzgeber nach und nach in regelt. Schließlich wurde, zuerst durch
gestaltete sich unter diesen Umständen Spezialgesetzen verdeutlichte. So kam das Gesetz gegen unlauteren Wett-
als schwierig oder unmöglich, da sie ih- es in den 90er Jahren zum Erlass des Ge- bewerb, wesentlich später das Gesetz
ren Behördencharakter nicht abstreifen sellschaftsgesetzes (1993), in dem die gegen Wettbewerbsbeschränkungen
konnten. Kapitalgesellschaften GmbH und AG (Antimonopolgesetz), der zentrale Me-

225
Robert Heuser
chanismus der Marktwirtschaft gegen schutzes. Erste Grundlagen für ein auf zu den Justizverwaltungsbehörden und
Missbrauch zu schützen gesucht. Ein Hö- die städtischen Arbeitnehmer begrenz- ermöglichte die Schaffung eines sich
hepunkt dieser Entwicklung stellt das im tes Sozialversicherungssystem wurde in selbst verwaltenden, in privatrechtlich
Frühjahr 2007 gegen den Widerstand der zweiten Hälfte der 1990er Jahre organisierten Kanzleien tätigen Berufs-
links-konservativer Kreise zustande ge- durch Verordnungen der Zentralregie- stands zur – wie es im Gesetz heißt – „Er-
kommene Sachenrechtsgesetz (wu quan rung geschaffen, das Arbeitsgesetz von bringung juristischer Dienstleistungen.“
fa) dar, wodurch eine jahrelange Kont- 1994 sieht Grundlagen für den Arbeits- Eine nach 1979 in 20 Jahren beinahe
roverse über die Rehabilitation des Pri- vertrag und den Arbeitsschutz vor, was aus dem Nichts aufgebaute, aus vier
vateigentums an Produktionsmitteln im kürzlich durch ein Produktionssicher- Ebenen bestehende Gerichtspyramide
Sinne einer Gleichstellung des Schutzes heits- und ein Arbeitsvertragsgesetz (Grundstufen-, Mittelstufen- und Ober-
von Privat- und Staatseigentum beendet ausgebaut wurde. Auf die Bedrohung stufengericht, darüber das Oberste
wurde. Über Artikel 10 der Verfassung, der Verbraucher durch fehlerhafte Pro- Gericht) hat während der letzten Jahre
wonach an Grund und Boden nur öf- dukte reagieren die 1993 erlassenen jährlich knapp sechs Millionen Fälle be-
fentliches Eigentum möglich ist, konnte Verbraucherschutz- und Produktquali- handelt, wovon etwa 60 Prozent Zivil-
sich das Sachenrechtsgesetz natürlich tätsgesetze. Eine seit den 1980er Jah- sachen, 28 Prozent Wirtschaftssachen,
nicht hinwegsetzen, so dass es den Bau- ren fortlaufend weiterentwickelte Ge- 10 Prozent Straf- und 2 Prozent Verwal-
ern kein Eigentumsrecht an dem von ih- setzgebung zum Naturressourcen- und tungssachen betrafen. Die Zahl der An-
nen seit über 30 Jahren wieder privat Umweltschutz spiegelt das wachsende wälte ist auf über 100.000 angewach-
bewirtschafteten Land gewährt. Bewusstsein für die Notwendigkeit, die sen, große Unternehmen und Behörden
Interessen von Ökonomie und Ökologie beschäftigen Rechtsexperten, und die
allmählich besser auszubalancieren. Qualität der juristischen Ausbildung an
Gesellschaftliche Stabilität: Soziale den wichtigen Universitäten des Landes
und ökologische Sicherung hat einen Stand erreicht, der sich von
Rechtsschutz der in westlichen Staaten zunehmend
Diese auf den Aufbau von Marktwirt- weniger unterscheidet. 4 Trotz jährli-
schaft zielende Rechtsordnung stand Die zahlreichen durch die Gesetzge- chen Zuflusses gut ausgebildeter Ab-
ganz im Zeichen des die staatliche Po- bung geschaffenen Rechtspositionen solventen von Rechtsfakultäten in die
litik seit Beginn der Periode von „Re- von Bürgern und Unternehmen (die All- Gerichte und allmählicher Reduzierung
form und Öffnung“ beherrschenden gemeinen Grundsätze des Zivilrechts der während der ersten Dekaden der
Hauptziels: das Wirtschaftswachstum von 1986, so etwas wie die Kurzfas- Reformperiode dort vielfach als Richter
zu fördern. Die damit einhergehende sung eines Zivilgesetzbuchs, fassen die tätigen demobilisierten Militärange-
Auflösung der alten Industriebetriebe Vermögens- und Personenrechte unter hörigen ist die professionelle Qualität,
und die Entstehung einer neuen Klasse „zivile Rechte“ zusammen) haben das insbesondere der Gerichte außerhalb
von Privatunternehmern, die Abschaf- Bedürfnis nach verfahrensmäßig gere- der Metropolen, niedrig. Korruption ist
fung des Systems der städtischen Ar- geltem Rechtsschutz (gerichtlich oder auch unter Richtern verbreitet, Einfluss-
beitsplatzsicherheit, in den ländlichen auf andere Weise) dringlich werden nahmen von Regierungs- und Parteiins-
Gebieten die durch Entkollektivierung lassen. Dem entsprach der Gesetzge- tanzen sind verbreitet. „Klage einzule-
veranlasste Migration in die Stadtre- ber 1991 mit dem Zivilprozessgesetz gen“ (da guanzi) bedeutet in aller Regel
gionen, dann die durch überall einset- (2007 revidiert), 1993 mit dem Schieds- „Beziehungen (zu einflussreichen Per-
zende extreme Produktivitätssteigerung gesetz und 2007 mit dem Gesetz über sonen in- und vor allem außerhalb der
veranlassten Produktions- und Produkt- die Beilegung von Arbeitsstreitigkeiten. Justiz) pflegen“ (da guanxi). Anderer-
gefahren sowie Umweltdegradierung Das 1996 ergangene Rechtsanwaltsge- seits haben Anwälte auf der Basis des
führten zu ganz neuen Anforderungen setz (2007 revidiert) löste die bis dahin Rechtssystems die – immer mühsame
an die Systeme der sozialen Sicherung, als „Rechtsarbeiter des Staates“ täti- und manchmal gefahrvolle – Möglich-
des Arbeits-, Verbraucher- und Umwelt- gen Anwälte aus ihrer Zugehörigkeit keit, sich gegen den Widerstand loka-
ler Machtträger für ihre (häufig sozial
schwachen) Mandanten einzusetzen.
Da diese weiquan (Rechte wahrenden)
Anwälte im chinesischen Gesetzesrecht
angelegte, im sozialen Umfeld aber
schwer realisierbare Rechtspositionen
durchzusetzen trachten (Arbeits-, Um-
welt-, Grundstücks-, Polizei- und Straf-
recht), sehen sie sich gleichzeitig ganz
bewusst auch als Anwälte des Gemein-
wohls. 5

Ein alter Bauer mit einer Petition vor


einem Regierungsgebäude in Peking.
Nicht zuletzt der Aufschwung des Peti-
tionswesens zeigt ein wachsendes Be-
wusstsein der chinesischen Bevölkerung
für die Wahrnehmung von Rechten ge-
genüber der Staatsgewalt (vgl. auch den
Beitrag von Bettina Gransow in diesem
Heft). picture alliance/dpa
Kontrolle administrativer Macht ernden Praxis, auf der Grundlage von CHINESISCHE RECHTSKULTUR IM
Staatsratsverordnungen Verwaltungs- WANDEL SOZIOÖKONOMISCHER
Ein fünftes Bedürfnis, auf das der Ge- haft („Arbeitserziehung“) zu verhängen, BEDÜRFNISSE
setzgeber zu reagieren hatte und wei- ist dies bis auf weiteres ebenso als eine
ter zu reagieren hat, betrifft die Kontrol- Absichtserklärung zu verstehen, wie der
le administrativer Macht, zielt also auf 2004 erfolgte Verfassungszusatz: „Der
Schutz vor willkürlichen Entscheidungen Staat respektiert und gewährleistet die erlaubnis verbracht. Dort prügelten
von Verwaltungsbehörden. Auch dieses Menschenrechte“ (Art. 33 II). ihn die Polizisten derart, dass er da-
Bedürfnis ist bereits in den 80er Jahren Dafür, dass es in der Bevölkerung ein ran verstarb. Die Angelegenheit erhielt
zum Ausdruck gekommen. Gespeist wur- wachsendes Bewusstsein für die Wahr- ein intensives Medienecho, wobei zum
de es vornehmlich aus drei Bedrohungs- nehmung von Rechten gegenüber der Ausdruck gebracht wurde, dass „dieser
situationen: Aus der willkürlichen Auf- Staatsgewalt und einen wachsenden Fall jeden von uns angeht, jeder von
erlegung von Verwaltungsstrafen wie Druck in der Öffentlichkeit (Medien) uns zum Opfer eines solchen Systems
Geldbußen, Haft, Vermögensbeschlag- gibt, die Rechtsordnung an den Maß- werden kann.“ 9 Rechtsprofessoren er-
nahme oder Betriebsschließungen, zum stäben von Rechtsschutz und Men- suchten (gemäß § 90II Gesetzgebungs-
zweiten aus beliebigen Eingriffen von schenwürde fortzubilden, zeigen bei- gesetz) den Ständigen Ausschuss des
Behörden in das Management ihnen spielhaft die folgenden beiden Fälle: Nationalen Volkskongresses (NVK), die
ehemals untergeordneten, nun aber 1998 war an einem Gericht der Provinz Verfassungsmäßigkeit der 1982 erlas-
rechtlich verselbständigten Unterneh- Henan ein Fall anhängig 7, in dem ein senen Vorschriften zu überprüfen. Sie
men und zum dritten aus der Lethargie gehbehinderter Schüler gegen eine trugen vor, dass sowohl nach dem Ver-
oder Arroganz von Verwaltungsbehör- Schule wegen Verletzung seines Rechts waltungsstrafgesetz von 1996 wie nach
den gegenüber Anträgen und Eingaben auf Bildung Klage eingelegt hatte. Der dem Gesetzgebungsgesetz von 2000
aus der Bevölkerung. Das 1989 ergan- Kläger hatte an der Eingangsprüfung in die persönliche Freiheit der Bürger
gene Verwaltungsprozessgesetz eröff- für Fachhochschulen teilgenommen und nur auf der Grundlage eines vom Nati-
nete den Rechtsweg zu den Gerichten, als seine erste Priorität eine städtische onalen Volkskongress (NVK) bzw. des-
schuf für die Betroffenen ein Recht, sich Handelsschule angegeben. Obwohl er sen Ständigen Ausschuss erlassenen
gegen im Gesetz aufgezählte Eingriffe bei der Prüfung die erforderliche Punkt- Gesetzes eingegriffen werden darf (so
(insbesondere Verwaltungsstrafen wie zahl erreicht hatte, lehnte die Schule genannter Vorbehalt des Gesetzes).
Bußgeldbescheide, Verwaltungshaft, die Aufnahme des Klägers mit der Be- Bevor der Ständige Ausschuss sich mit
Betriebsschließung, Lizenzentzug, aber gründung ab, dass der Computersaal der Angelegenheit befassen konnte, er-
auch Bodenenteignung, illegale Steuer- sich im vierten Stock befinde und der ließ die Zentralregierung am 1. August
erhebung, rechtswidrige Maßnahmen Kläger nicht ohne Hilfe anderer dorthin 2003 „Verwaltungsmaßnahmen zur Un-
bei der Geburtenkontrolle u. a.) und gelangen könne. Der Kläger vertrat die terstützung nicht sesshafter städtischer
ein Untätigsein (z.B. Verweigerung ein Ansicht, dass die Schule sein aus dem Obdachloser und Bettler.“ 10 Aus den
Abschlusszeugnis auszustellen) von Be- Behindertenschutzgesetz resultieren- „Sammelstellen“ wurden „Sozialstatio-
hörden zur Wehr zu setzen, womit der des Recht auf Erziehung (jiaoyuquan) nen“, in denen nicht sesshafte Personen
Verwaltungsprozess Eingang in die chi- verletzt habe, legte Klage ein und for- für einen begrenzten Zeitraum Verpfle-
nesische Rechtsordnung gefunden hat. derte vom Gericht, die Schule zu verur- gung und Unterkunft, ferner das Geld
Obwohl es sich um einen sehr begrenz- teilen, ihn aufzunehmen. Bevor das Ge- für die Rückkehr in ihren Heimatort
ten Rechtsschutz handelt, da auch be- richt eine Entscheidung traf, revidierte erhalten können, sofern sie dies wün-
sonders schmerzhafte Eingriffe wie sie die Schule (unter dem Druck der Medi- schen; das Zwangssystem (shourong qi-
z.B. zahlreiche Bürger, die durch Abriss- en) ihren Beschluss und nahm den Klä- ansong) wurde abgeschafft. 11 Ist dieses
verfügungen und Umsiedlung belastet ger auf, so dass der Kläger seine Klage Ergebnis auch zu begrüßen, so ist es
werden, seit längerem plagen, eben- zurücknahm. Dieser Fall ist typisch für doch auf „typisch chinesische Weise“
so wenig justiziabel sind, wie etwa die einen Mentalitätswandel: Man ist nicht zustande gekommen: Die unter Druck
Ablehnung von Anträgen auf Demonst- mehr bereit, die Entscheidungen der geratene Exekutive bereinigte die Sa-
ration 6 , ist die Einführung des Verwal- Obrigkeit zu erdulden, sondern man che, bevor sie durch ein Organ der Le-
tungsprozesses in und außerhalb Chi- wendet sich mit der Erwartung an die gislative (Ständiger Ausschuss des NVK)
nas als ein Meilenstein beim Aufbau Gerichte, seinem Anliegen Öffentlich- (vielleicht) dazu aufgefordert worden
einer rechtsstaatlichen Ordnung aufge- keit zu verschaffen. 8 wäre und so dazu beigetragen hätte,
fasst worden, d.h. einer Ordnung, die Das zweite Beispiel zeigt auf Seiten ei- einen an Gewaltenteilung erinnernden
nicht nur die Bürger, sondern auch die ner kritischen Öffentlichkeit ein wach- Mechanismus in Gang zu setzen.
Staatsmacht an das Recht bindet. Durch sendes Verständnis für die Funktionswei-
Verfassungsänderung von 1999 wurde se des Rechts- und Verfassungsstaates
der im Chinesischen für „Rechtsstaat“ und für die Notwendigkeit, ihn in China Auf dem Wege zum Rechtsstaat?
stehende Begriff fazhi guojia (wörtlich: zu implantieren. Ein aus der innerchi-
„Gesetzesregulierungsstaat“) in die nesischen Provinz Hubei stammender Aus diesem kurzen Überblick zu den
Verfassung aufgenommen. Dort heißt Modedesigner war 2003 bei einem zentralen Feldern, in denen der Ge-
es: „Die VR China führt das Prinzip des Unternehmen in Guangzhou (Kanton) setzgeber auf Bedürfnisse des ge-
Regierens gemäß den Gesetzen (yi fa beschäftigt. Eines Abends machte er sellschaftlichen und wirtschaftlichen
zhi guo) durch und errichtet einen sozi- einen Spaziergang, ohne seinen Perso- Wandels reagiert, wird deutlich, dass
alistischen Rechtsstaat“ (Art. 5 I). Eine nalausweis mitzunehmen. Weil er sich dem Recht im postmaoistischen China
Konsequenz daraus ist die Regelung nicht ausweisen konnte, wurde er auf eine bedeutsame Rolle zukommen soll.
des Gesetzgebungsgesetzes von 2000, der Grundlage der 1982 von der Zen- Dabei erschöpft sich Gesetzgebung –
wonach Eingriffe in die persönliche Frei- tralregierung erlassenen „Vorschriften anders als dies während der langen
heit nur dann legal sind, wenn ein Ge- über Gewahrsam und Rückschaffung Zeiträume der chinesischen Geschich-
setz sie vorsieht, d.h. eine Genehmigung von Stadtstreichern und Bettlern“ zu te selbstverständlich war – nicht darin,
des Nationalen Volkskongresses (NVK) einer Sammelstelle für den Rücktrans- der Obrigkeit Instrumente für Kontrol-
gegeben ist. Angesichts der andau- port von Migranten ohne Aufenthalts- le und Disziplinierung bereitzustellen,

227
Robert Heuser
d.h. Gehorsam einzufordern; die seit heraus: die Blindheit der Gegenwart gen aufgeben müsste, worauf könnte
Ende der 1970er Jahre ergangenen für die Staatsverbrechen der Vergan- man am ehesten verzichten?“ Konfuzius
Gesetze artikulieren vielmehr eine Fül- genheit. „Wenn Serbien ein Rechts- sagte: „Auf die Rüstung“. Zigong weiter:
le von Rechten, die Bürger untereinan- staat sein will, muss es sich mit dem „Müsste nun wiederum eins von beiden
der – unter Umständen mit staatlicher Unrecht befassen“ hieß es vor einigen aufgegeben werden, worauf sollte man
Hilfe – geltend machen können und die Jahren in einem Leitartikel über „Recht dann noch verzichten?“ Konfuzius: „Auf
zuletzt auch eine Richtung gegenüber und Unrecht auf dem Balkan.“ 15 Auch die Ernährung. Ohne Nahrung muss
staatlichen Verwaltungsbehörden auf- die chinesische Führung ist weit davon man sterben. Doch seit jeher ist der Tod
weisen. Die Funktionstüchtigkeit dieses entfernt, die seit Beginn der 1950er das Los aller Menschen. Wenn aber das
Systems, d.h. die Umwandlung einer Jahre und bis zum Juni 1989 im Namen Volk kein Vertrauen in die Regierung
zunächst vornehmlich quantitativen in der Staatspartei durchgeführten Unter- hat, kann der Staat nicht bestehen.“ 17
eine qualitative Seinsweise 12 , hängt drückungs- und Vernichtungsaktionen Im Buch „Menzius“ heißt es: König Hui
direkt ab von der Fähigkeit der Justiz- gegen „Grundherren“, „Konterrevoluti- von Liang sprach: „Ich will gelassen Ih-
organe, Rechtsschutz zu gewähren. Da onäre“, „Rechtsabweichler“, „Kapitalis- re Belehrung annehmen“. Menzius er-
der chinesischen Verfassung das Sys- ten“ und Studenten selbstkritisch zu be- widerte: „Ob man Menschen mordet
tem der Gewaltenteilung, wonach die trachten und einer differenzierten Beur- mit einem Knüppel oder einem Mes-
drei Staatsfunktionen (gesetzgeben- teilung zu unterziehen. Stattdessen er- ser: ist da ein Unterschied?“ Der König
de, vollziehende und rechtsprechende klärt sie akademische Untersuchungen sprach: „Es ist kein Unterschied.“ „Ob
Gewalt) voneinander unabhängigen zu diesen Ereignissen, namentlich zur man sie mordet mit einem Messer oder
Staatsorganen zur Verhinderung von so genannten „Rechtsabweichlerkam- durch den Regierungsstil: ist da ein
Machtmissbrauch zugewiesen werden, pagne“ von 1957, zur „Kulturrevolution“ Unterschied?“ Der König sprach: „Es ist
nicht zugrunde liegt, stattdessen alle von 1966 und zur Niederschlagung der kein Unterschied.“ 18
Staatsgewalt im Nationalen Volkskon- Studentenbewegung von 1989, zu Ta-
gress (NVK), der von der Kommunis- buzonen.16
tischen Partei (KP) „geführt“ wird, zu- Mitte der 1980er Jahre, als der Begriff
sammenfließt, der Nationale Volkskon- „sozialistischer Rechtsstaat“ in Osteu-
gress und die lokalen Kongresse (und ropa aufkam, wurde in Polen, dessen
somit die Partei) also auch die Gerich- Volk für seinen abgründigen Humor
te überwachen, fehlt es für eine starke und trefflichen Witz gerühmt wird, die
und verlässliche Stellung der Judikative Frage nach dem Unterschied zwischen

UNSER AUTOR
an den strukturellen Voraussetzungen. einem Rechtsstaat und einem sozialisti-
In brisanteren Straf- und Verwaltungs- schen Rechtsstaat wie folgt beantwor-
prozessen werden die lokalen Regie- tet: Der sei etwa so wie der Unterschied
rungs- und Parteiorgane von den Ge- zwischen einem Stuhl und einem elek-
richten stets konsultiert, und es kommt trischen Stuhl. Dies bezeugt die Un-
zu massiver Einflussnahme. Zwar ließe glaubwürdigkeit, ja Absurdität einer
sich durch die von der Staatspartei Verbindung des Rechtsstaatskonzepts
schon seit langem angestrebte, bisher mit dem Sozialismus marxistisch-leni-
nur partiell verwirklichte „Justizreform“ nistischen Gepräges. Im Falle Chinas
(sifa gaige) 13 die Tätigkeit der Gerich- sollte „sozialistischer Rechtsstaat“ je-
te von mancherlei Unzulänglichkeit doch nicht zum Nennwert genommen,
und Störung befreien, insbesondere nicht unter europäische Begrifflichkeit Prof. Dr. Robert Heuser studierte Rechts-
was die bisher nicht selten vermissten subsumiert werden. Es handelt sich um wissenschaft, Sinologie und Philosophie
fachlichen Kompetenzen des Justizper- eine Chiffre für einen Übergang, eine in Heidelberg, Tübingen, Taibei und
sonal anbetrifft. Eine nachhaltige Fun- ergebnisoffene Suche nach einer neuen Cambridge/Mass. Nach der Tätigkeit
dierung gerichtlicher Unabhängigkeit, Identität, die die seit über einem Jahr- als Ostasienreferent am Heidelberger
wie z.B. auch die in Reformerkreisen hundert erprobten Ordnungskonzepte Max-Planck-Institut für vergleichendes
viel beschworene Fortentwicklung des (Ideen und Institutionen) des Westens öffentliches Recht und Völkerrecht und
Nationalen Volkskongresses zu einer mit einer Neuaneignung des eigenen als DAAD-Lektor für deutsches Recht an
Parlaments-Körperschaft, erforderte Kulturerbes verbindet. Ob sich daraus den Staatlichen Universitäten Osaka
jedoch eine Neubestimmung der Rol- ergibt, dass fazhi (Gesetzesherrschaft) und Kobe sowie an der Städtischen Uni-
le der Staatspartei, was aber nicht ge- sich nicht, wie in der chinesischen Anti- versität Osaka ist er seit 1992 Professor
schieht.14 Das von der Staatspartei seit ke und fortdauernd in der Gegenwart, für Chinesische Rechtskultur an der Uni-
der Verfassungsänderung von 1999 vornehmlich als autoritäre Regulierung versität zu Köln. Seine letzten Buchpub-
propagierte Konzept „sozialistischer manifestiert, sondern durch ein über- likationen sind „Einführung in die chi-
Rechtsstaat“ (shehuizhuyi fazhi guojia/ tragendes Weiterdenken alter Staats- nesische Rechtskultur“, Hamburg 1999
wörtlich: sozialistischer Gesetzesregu- klugheit sich immer mehr an einem Be- (3. Auflage 2006); „Umweltschutzrecht
lierungsstaat) dient im Gegenteil der dürfnis der Achtung der Menschenwür- der VR China“, Hamburg 2001 (zusam-
Legitimation eben der seit jeher in An- de orientierten Rechtsstaatskonzept men mit Jan de Graaf); „‚Sozialistischer
spruch genommenen Führungsposition, annähert, wird die Zukunft zeigen. Rechtsstaat’ und Verwaltungsrecht in
eine Position, die ihren sinnfälligsten In den „Gesprächen“ des Konfuzius der VR China (1982–2002)“, Hamburg
Ausdruck in Paragraph 19 des 1997 heißt es: Zigong fragte, woran man ei- 2003; „Die WTO und das neue Auslän-
verabschiedeten Gesetzes über die ne gute Regierung erkenne. Konfuzius derinvestitions- und Außenhandelsrecht
Landesverteidigung findet: „Die Streit- antwortete: „Sie muss die Ernährung der VR China“, Hamburg 2004 (zusam-
kräfte der VR China unterstehen der sichern, muss ausreichend gegen Fein- men mit Roland Klein); „Grundriss des
Führung durch die KP Chinas.“ de gerüstet sein, muss danach trachten, chinesischen Wirtschaftsrechts“, Ham-
Skepsis für eine Chance des Rechts- dass das Volk Vertrauen in die Regie- burg 2006 und „Ortsbesichtigungen:
staats fordert neben diesem strukturel- rung hat.“ Zigong frage weiter: „Wenn Chinesisches Recht im Wandel (1971–
len ein ethisch-psychologischer Befund man aber nun eines von den drei Din- 2006)“, Aachen und Heimbach 2007.

228
LITERATUR 5 Dazu besonders instruktiv Hualing Fu/Ri- CHINESISCHE RECHTSKULTUR IM
chard Cullen (2008): Weiquan (Right Protection) WANDEL SOZIOÖKONOMISCHER
Ahl, Björn (2007): Rechtsprechung und Rechts- Lawyering in an Authoritarian State: Building a BEDÜRFNISSE
wirklichkeit. In: Fischer, Doris/Lackner, M. (Hrsg.) Culture of Public-Interest Lawyering). In: The Chi-
(2007): Länderbericht China. Bonn, S. 433–445. na Journal, Nr. 59, Jan. 2008, S. 111ff.
Ahl, Björn (2006): Die neue Juristenausbildung in 6 Zum Vergleich: Wegen der Planfeststellung
der VR China. In: Verfassung und Recht in Über- des Flughafens München II sind über 5.500 Ver- insbesondere ein Zurücktreten des so genannten
see, S. 326–358. waltungsklagen anhängig gemacht worden; we- „Rechtsprechungsausschusses“ (shenpan weiyu-
Bu, Yuanshi (Hrsg.) (2008): Chinesisches Zivil- und gen des unvergleichlich umfangreicheren Projekts anhui) der Gerichte, in denen die wichtigeren
Wirtschaftsrecht aus deutscher Sicht. Tübingen. des „Drei-Schluchten-Staudamms“ keine einzi- Fälle stets vorentschieden werden, zugunsten der
Darimont, Barbara (2004): Sozialversicherungs- ge. Kammern und Einzelrichter. Fundamental ist die
recht der VR China. Baden-Baden. 7 In Renminfayuan anlixuan (Auswahl von Fäl- Frage der Richterernennung und der Finanzie-
Heuser, Robert (2006): Einführung in die chinesi- len der Volksgerichte), Bd. 25 (1998), Nr. 65. rung der Gerichte. Die größte Barriere für auch
sche Rechtskultur. 3. Aufl., Hamburg. 8 Dies eher als von den Gerichten, die nicht nur einen Ansatz von Unabhängigkeit besteht in
Heuser, Robert (2003): „Sozialistischer Rechts- den Ruf von Unabhängigkeit und Integrität genie- der Lokalisierung dieser Kompetenzen; die Lokal-
staat“ und Verwaltungsrecht in der VR China ßen, Gerechtigkeit zu erlangen. Die Mobilisie- regierungen setzen die Haushaltsmittel für die
(1982–2002). Hamburg. rung der Medien ist auch in ländlichen Gebieten Gerichte (einschließlich der Gehälter des Ge-
Heuser, Robert (2007): Ortsbesichtigungen. Chi- üblich geworden. Siehe: Kevin J. O’Brien/Lianjian richtspersonals) selbstständig fest. Um die daraus
nesisches Recht im Wandel (1971–2006). Heim- Li (2005): Seeing the Local State: Administrative resultierenden Abhängigkeiten zu überwinden,
bach/Eifel. Litigation in Rural China. In: Neil J. Diamant et al. wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur an-
Heuser, Robert/de Graaf, Jan (Hrsg.) (2001): Um- (Edts.) (2005): Engaging the Law in China. State, geregt, die Justizverwaltung von der allgemeinen
weltschutzrecht der VR China. Gesetze und Ana- Society, and Possibilities for Justice. Stanford, S. Verwaltung zu scheiden und eine eigenständige,
lysen. Hamburg. 3, 31ff., 38f. rein vertikale Justizverwaltung zu schaffen. Dieser
Heuser, Robert/Klein, Roland (Hrsg.) (2004): Die 9 Niu, Longyun (2003): „Sun Zhigang shijian“ seit langem geforderte Strukturwandel wurde
WTO und das neue Ausländerinvestitions- und yu weixian shencha zhidu (Der „Sun Zhigang- vom ersten Fünf-Jahresprogramm noch nicht um-
Außenhandelsrecht der VR China. Gesetze und Fall” und das System der Überprüfung von Ver- fasst, wird im derzeit laufenden Reformprogramm
Analysen. Hamburg. fassungswidrigkeit). In: Liaowang (Peking), Nr. aber aufgegriffen. Es heißt dort (Ziffer 37), dass
Luo, Wei (2005): Chinese Law and Legal Re- 22/2003, S. 50f. „ein Mechanismus der Auswahl und Ernennung
search. Buffalo/N.Y. 10 Guowuyuan gongbao (Amtsblatt des Staats- errichtet (werden soll), der den Besonderheiten
Peerenboom, Randall (2002): China’s Long March rats), 2003, Nr. 21 . des Richterberufs gerecht wird.“ Dazu soll zu-
Toward Rule of Law. Cambridge. 11 Dass die Staatspartei mehr dem Druck der nächst „im Rahmen bestimmter Regionen die
Pißler, Knut B. (2004): Chinesisches Kapitalmarkt- Öffentlichkeit nachgegeben als aus eigener Ein- Durchführung eines Systems einheitlicher Rekru-
recht. Tübingen. sicht gehandelt hat, zeigt allerdings das Nach- tierung und Stellenzuweisung von Richtern zum
Staiger, Brunhild/Stefan, Friedrich/Schütte, spiel: Zwar wurden zwei der an dem Totschlag Dienst in Grundstufengerichten erprobt werden.“
Hans-Wilm (Hrsg.) (2008): Das große China-Lexi- Beteiligen zum Tode (einer mit zweijährigem Voll- Was hier zurückhaltend „einheitlich“ genannt
kon. Darmstadt. Stichworte: Gesetzgebung, streckungsaufschub) und zehn weitere zu Frei- wird, zielt auf die zentrale Richterernennung und
Menschenrechte, Rechtskultur, Rechtspflege, heitsstrafen zwischen drei Jahren und lebenslang -besoldung durch das Oberste Gericht, statt, wie
Strafrecht, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, verurteilt, aber auch für die Journalisten der Gu- bisher (vgl. § 11 Richtergesetz) durch die Lokalge-
Wirtschaftsrecht, Zivilrecht (jeweils mit weiteren angzhouer Tageszeitung, die als erste den Fall an richte. Dieser Programmpunkt führt die Justizre-
Nachweisen). die Öffentlichkeit gebracht hatten, wurden form an einen Scheideweg: Weg von der Abhän-
The China Quarterly (2007): Special Issue – Straftatbestände ausfindig gemacht (illegale Ein- gigkeit der Gerichte von den Lokalverwaltungen,
China’s Legal System: New Developments, New nahmen, Bestechung), so dass sie zu Freiheitsstra- hin zu einer rein vertikalen und so professionellen
Challenges. London. fen von über zehn Jahren verurteilt werden konn- Zuständigkeit, was den ersten – und ganz unver-
Die Zeitschrift für chinesisches Recht (ZchinR), he- ten. zichtbaren – Schritt in Richtung Unabhängigkeit
rausgegeben von der Deutsch-Chinesischen Ju- 12 Manche Äußerungen, die chinesische Politi- der Gerichte bedeutet.
ristenvereinigung e.V., informiert regelmäßig über ker, aber auch Rechtswissenschaftler, zum Zu- 14 Typisch dafür, dass bei den im Übrigen
neue Entwicklungen. stand des Rechtssystems von sich geben, schei- durchaus fundierten Überlegungen zur Gestal-
nen den Schluss zuzulassen, dass sie Qualität als tung einer rechtsstaatlichen Ordnung die Rolle
Quantität begreifen. So wenn etwa aufgezählt der KP ignoriert wird, ist z.B. Cheng Jie (2003):
wird, dass seit Beginn der Reformen gut 300 Ge- Congressional Supremacy or Judicial Control:
setze, fast 800 Staatsratsverordnungen und über The Development and Debate of Rule of Law in
ANMERKUNGEN 5.000 lokale Rechtbestimmungen in Kraft getre- China. In: Zeitschrift für chinesisches Recht, Heft
1 Dazu Klaus Mühlhahn (2007): “Repaying ten seien. Dieser Quantitätsorientiertheit ist eine 1/2003, S. 17ff. Die Kritik bezieht sich aber durch-
Blood Debt” – State Violence and Mass Crimes gewisse Neigung zum Formalismus verbunden, aus auf die fehlende Gewaltenteilung. Die „lang
during the 1950s in China. In: Mechthild Leutner die sich z.B. darin gefällt, die im Juni 2002 durch propagierte Vorstellung von der ‚Einheit von Be-
(Ed.) (2007): Rethinking China in the 1950s. Müns- Beschluss des Obersten Gerichts für die Gerichte schluss und Durchführung’ (yi xing heyi)“ sei recht
ter (Berliner China-Hefte, Vol. 21), S. 35ff. und eingeführten Hammer, wie er in den US-Gerich- eigentlich „ein feudalistisches System der Macht-
Jean-Louis Margolin (1998): China: Ein langer ten üblich ist, wie folgt zu kommentieren: „The konzentration, Ausdruck feudalen Absolutismus“.
Marsch in die Nacht. In: Stéphane Courtois u. a. judicial hammer is the latest step in bringing the Verglichen mit der „Teilung der drei Gewalten“
(Hrsg.) (1998): Das Schwarzbuch des Kommunis- Chinese legal system up to international stan- (san quan fenli) oder der „Gewaltenteilung durch
mus. München, S. 511ff. dards“ (China Daily vom 3.6.2002). checks and balances“ (fenquan zhi-heng) westli-
2 Zitiert bei Zhang Zhengde (1995): Lun Deng 13 1999 erließ das Oberste Gericht ein erstes, cher Staaten handele es sich dabei „um ein völlig
Xiaoping jianli fazhi shehui de sixiang (Über die 2006 ein zweites Fünf-Jahres-Programm für die überholtes und rückständiges politisches System.“
Etablierung des Gedankens einer durch Gesetze Gerichtsreform. Ziel ist die Herstellung einer sau- So Lü, Taifeng (1998): Xianfaxue jiben lilun yanjiude
geleiteten Gesellschaft durch Deng Xiaoping). In: beren und transparenten Justiz. Sauber soll sie ruogan sikao (Einige Überlegungen zur Grund-
Zhongguo faxue, Nr. 5/1995, S. 8ff., 14. dadurch werden, dass die Professionalisierung theorie der Verfassungsrechtswissenschaft). In:
3 So wie es im Frühjahr 2008 der Journalist Hu des Gerichtspersonals weiter vorangetrieben Faxue yanjiu, Nr. 3/1998, S. 142.
Jia (geb. 1973) zu spüren bekam. Er hatte einen wird. So finden seit 2002 jährlich landeseinheitli- 15 Neue Zürcher Zeitung vom 14./15.7.2001 .
offenen Brief „Das wahre China und Olympia“ che Justizprüfungen (sifa kaoshi) statt. Sie müssen 16 Dazu Mark Siemons (2007): Intellektuellen-
veröffentlicht, in dem es heißt: „Wenn Sie zu den jetzt von allen bestanden werden, die einen juris- opferung. Über Maos Jagd auf Rechte darf heute
Olympischen Spielen nach Peking kommen, wer- tischen Beruf anstreben (Richter, Staatsanwälte, niemand mehr reden. In: FAZ vom 16.7.2007.
den Sie Wolkenkratzer, geräumige Straßen, mo- Rechtsanwälte). Erfolgreich sind weniger als 10 17 Konfuzius (Lun-yu). Übersetzt von Ralf Moritz.
derne Stadien und enthusiastische Menschen Prozent der Teilnehmer. Vorsitzende Richter wer- Stuttgart 1998, XII/7.
sehen. Sie werden die Wahrheit sehen, aber nicht den jährlich beurteilt, die anderen Richter in län- 18 Mong Dsi. Übersetzt von Richard Wilhelm.
die ganze Wahrheit, so als sähen Sie nur die Spit- geren Zeitabständen. Das Richtergesetz soll da- Jena 1916, S. 4 und James Legge (1892): The Four
ze eines Eisberges. Sie werden möglicherweise hingehend geändert werden, dass ohne gesetz- Books, The Works of Mencius. Oxford 1892, S.
übersehen, dass die Blumen, das Lächeln, die lichen Grund Entlassung, Versetzung und Pensio- 133.
Harmonie und der Wohlstand auf einem Unter- nierung nicht möglich sind, dass also die persön-
bau aus Leid, Tränen, Gefängnishaft, Folter und liche Unabhängigkeit der Richter gestärkt wird.
Blut ruhen.“ (Henrik Bork in: Süddeutsche Zeitung Transparenz der Rechtsprechung soll durch Öf-
vom 19.3.2008). fentlichkeit der Hauptverhandlung für das allge-
4 Im Jahre 2005 studierten an fast 600 Hoch- meine Publikum und für Berichterstattung durch
schulen rund 200.000 Jurastudenten im BA-Kurs, die Medien gefördert werden. Dies erfordert al-
66.000 im MA-Kurs. lerdings eine Änderung der Verfahrensweise,

229
CHINAS MENSCHENRECHTSVERSTÄNDNIS

China und die Menschenrechte


Gunter Schubert

friedliche Weise opponieren zu kön- einer olympischen Sportanlage ange-


Bei aller berechtigten westlichen Kritik an nen. Als genauso wichtig wird die Ga- meldet hatten. Ausländische Olympia-
der Menschenrechtssituation in China rantie der Religionsfreiheit eingestuft, Touristen, die Solidaritätsfahnen für Ti-
wird allzu oft übersehen, dass China die ebenfalls ein Recht, das gegen den bet entrollten oder – so etwa auf dem
Grundidee der Menschenrechte nach- Staat geltend zu machen ist. Weiterhin Platz des Himmlischen Friedens – die
drücklich befürwortet, jedoch eine ei- geht es für den Westen bei der Frage chinesische Tibetpolitik anprangerten,
gene Position entwickelt hat. Chinesische der Menschenrechte in China um den wurden umgehend verhaftet und bald
Politiker unterstreichen angesichts der umfassenden Schutz der ethnischen ausgewiesen.
westlichen Rhetorik immer wieder, dass in Minderheiten, also um deren Recht auf
einem „Sozialismus mit chinesischen Be- echte wirtschaftliche, politische und
sonderheiten“ ein anderes Verständnis kulturelle Autonomie. Diese Forderung Schrittweise Verbesserung der
der Menschenrechte herrsche. Wichtiger konzentriert sich vor allem auf die La- Menschenrechtslage
als die von westlicher Warte aus rekla- ge in Tibet, eine für die chinesische Re-
mierten individuellen Rechte seien in Chi- gierung seit Jahrzehnten offene Flanke Nach Abschluss der Olympischen Spie-
na immer die kollektiven, d.h. die wirt-
gegenüber der westlichen Menschen- le waren sich viele Beobachter einig:
schaftlichen und sozialen Rechte gewesen.
rechtskritik. Als im Vorfeld der Olympi- Nicht von besseren Aussichten für den
Trotz einer schrittweisen Verbesserung
der Menschenrechtslage, die von interna-
ade Unruhen in der Autonomen Region Schutz der Menschenrechte könne man
tionalen Menschenrechtsorganisationen Tibet sowie den angrenzenden Provin- sprechen; vielmehr stehe zu befürchten,
durchaus konstatiert wird, zeigt die aktu- zen ausbrachen und diese alsbald nie- dass sich die durch die Olympiade an-
elle Bestandsaufnahme der chinesischen dergeschlagen wurden, brach in der
Menschenrechtslage von Gunter Schu- westlichen Öffentlichkeit erneut eine
bert, dass die zivilen und politischen Welle der Entrüstung über den chine-
Rechte nur unzureichend verwirklicht sischen Staat herein. Man fühlte sich
sind. Ausgehend von der offiziellen Men- getäuscht. China, so die überwiegen-
schenrechtskonzeption Chinas, wie sie im de in den Medien verbreitete Meinung,
so genannten Weißbuch niedergelegt ist, sei eben ein autoritäres, gar totalitäres
stellt sich die Frage der Positionierung des Land, von dem in Sachen nachhaltiger
Westens. Wirksame Strategien sind mit- Menschenrechtsschutz nichts zu erwar-
hin eine stete Gratwanderung zwischen ten sei. Regimekritikern, religiös An-
„stiller“ Diplomatie bzw. bilateralen Dia- dersdenkenden, den ethnischen Min-
logen und einer Thematisierung der welt- derheiten, aber auch dem einfachen
weiten Menschenrechtsverletzungen in Bürger, der sich gegen die Enteignung
internationalen Foren.  seines Bodens oder den Abriss seines
alten Wohnviertels, gegen Behörden-
willkür und korrupte Kader zur Wehr
setze, drohten willkürliche Verhaftung,
Westliche Hoffnungen – Folter, Arbeitslager oder langjährige
Chinesische Wirklichkeiten Internierung ohne jedes rechtsstaat-
liche Verfahren. Im Verlauf der Olym-
Eine mit der Vergabe der Olympischen piade konnten sich die Kritiker Chinas
Spiele nach Beijing (Peking) verbunde- bestätigt fühlen: So wurde etwa zwei
ne und offen artikulierte Hoffnung auf über achtzigjährigen Frauen eine In-
Seiten des Westens war, dass diese haftierung in Aussicht gestellt, weil sie
Entscheidung positive Auswirkungen auf formal korrektem Weg einen lega-
auf die Menschenrechtssituation in len öffentlichen Protest wegen des Ab-
China haben möge. Denn ein Land, so bruchs ihrer alten Behausungen nahe
die Argumentation, das der Welt seine
Offenheit und Modernität präsentieren
und damit seinen Anspruch auf eine füh-
rende Rolle in der internationalen Ge-
meinschaft untermauern wolle, werde Demonstration in Hongkong anlässlich
sich einer nachhaltigen Verbesserung des zehnten Jahrestages des Tiananmen-
des Menschenrechtsschutzes für seine Massakers. Dieses Massaker war der
Bürgerinnen und Bürger nicht verschlie- Tiefpunkt des chinesischen Umgangs mit
ßen können. Dazu gehört aus der Per- den Menschenrechten. Der seitdem vor-
spektive des Westens und chinesischer anschreitende Transformationsprozess
Regimekritiker vor allem die umfassen- Chinas hat sich durchaus positiv auf den
de Gewährung der Meinungs- und Schutz der Menschenrechte ausgewirkt –
Vereinigungsfreiheit, letztlich also das wenngleich China für sich eine vom
Recht, gegen das bestehende Regime Westen abweichende Menschenrechts-
der Kommunistischen Partei (KP) auf konzeption reklamiert. picture alliance/dpa

230
gestoßene Perfektionierung des chine- 1989 mit der brutalen Niederschla- CHINA UND DIE MENSCHENRECHTE
sischen Sicherheitsapparates nun noch gung der studentischen Protestbewe-
effizienter gegen die chinesische Zivil- gung bezeichnet zweifellos den Tief-
bevölkerung richten würde. punkt des chinesischen Umgangs mit
China, das wurde in den Monaten vor den Menschenrechten. Doch seitdem
und nach Olympia deutlich, mag für ist der gesellschaftliche Transformati- international, Human Rights Watch u.
seinen wirtschaftlichen Aufstieg be- onsprozess des Landes mit hoher Ge- a.) durchaus gesehen. So bemüht sich
wundert werden. In politischer Hin- schwindigkeit vorangeschritten. Dies die chinesische Regierung, ungeachtet
sicht jedoch wird es im Westen von hat sich durchaus positiv auf den Men- aller mit der Einparteiherrschaft ver-
vielen Menschen gefürchtet. Denn was schenrechtsschutz in China ausgewirkt. bundenen Restriktionen, seit Jahren um
ist zu halten von einem Land, dessen So bekennt sich die chinesische Regie- mehr Rechtstaatlichkeit und eine effek-
Führung sich kompromisslos gegen rung seit der Wiener Weltmenschen- tivere Kontrolle über die Kaderbüro-
die parlamentarische Demokratie und rechtskonferenz von 1993 zur weltwei- kratie, um ihre Bürgerinnen und Bürger
ein Mehrparteiensystem ausspricht, ten Geltung der Menschenrechte und besser vor administrativer Willkür und
am historisch als anachronistisch ein- unternimmt – ungeachtet vieler an- Rechtsbeugung zu schützen. Auf lokaler
gestuften Sozialismus festhält und die derslautender Behauptungen – gerade Ebene hat man die Möglichkeiten direk-
Menschenrechte in derart krasser Wei- nicht den Versuch, eine eigene kulturel- ter politischer Partizipation ausgebaut.
se missachtet? Niemand wird bestrei- le Partikularität kategorisch gegen den Auch ist China inzwischen Signatar-
ten, dass der Menschenrechtsschutz in Universalitätsanspruch der Menschen- staat vieler wichtiger Menschenrechts-
China mangelhaft ist – sogar die chi- rechte auszuspielen. Vielmehr hat man pakte und -konventionen, darunter die
nesische Regierung hat dies wieder- sich die schrittweise Verbesserung der beiden Pakte der Vereinten Nationen
holt öffentlich eingestanden. Dennoch Menschenrechtslage im eigenen Land (VN) über wirtschaftliche, soziale und
greift es zu kurz, diesen Tatbestand aus nach Maßgabe globaler Vereinbarun- kulturelle Rechte sowie über zivile und
dem historischen Kontext bzw. der poli- gen auf die Fahnen geschrieben. Erfol- politische Rechte von 1966 (letzterer ist
tischen und gesellschaftlichen Entwick- ge in dieser Richtung werden von den allerdings noch immer nicht ratifiziert).
lung dieses Landes, vor allem der letz- einschlägigen internationalen Men- Mit der Europäischen Union (EU) unter-
ten 20 Jahre, herauszulösen. Das Jahr schenrechtsorganisationen (amnesty hält die chinesische Regierung eben-
Gunter Schubert
so einen Menschenrechtsdialog wie gegen Rechtsanwälte und Journalisten; Die Anwendung der Folter stößt auf
mit der deutschen Bundesregierung. massive Einschränkungen der Religi- die schärfste Kritik von Beobachtern
Bei alledem pocht sie jedoch auf eine onsfreiheit für jene Chinesen, die ihren der chinesischen Menschenrechtsla-
eigene Menschenrechtskonzeption, die Glauben jenseits der staatlich zugelas- ge: „Fußtritte, Schläge, Elektroschocks,
die Verwirklichung der wirtschaftlichen senen Kirchen praktizieren; eine anhal- das Aufhängen an den Armen, das
und sozialen Rechte der chinesischen tende religiöse und politische Unterdrü- Anketten in schmerzhaften Positionen,
Bürger gegenüber den zivilen und po- ckung der uighurischen Volksgruppe in Verbrennungen mit Zigaretten sowie
litischen Rechten privilegiert. Kollektive der Provinz Xinjiang sowie der Tibeter; Schlaf- und Nahrungsmittelentzug“,
Rechte werden insofern über Individu- und eine weiterhin exzessive Verhän- so berichtet amnesty international im
alrechte gesetzt – wiederum nicht pri- gung der Todesstrafe, die die Behörden Jahresbericht 2007, „gehörten zu den
mär aus Gründen einer so behaupteten auch im Falle von Wirtschaftsdelikten gängigen Foltermethoden“. Sie werden
kulturellen Andersartigkeit Chinas, son- und anderen Straftaten ohne direkte vor allem in örtlichen Polizeistationen
dern wegen des „besonderen“ histori- Gewalteinwirkung aussprechen. angewendet, um inhaftierte Bürger im
schen Entwicklungsweges des Landes, Als besonders besorgniserregend gilt Vorfeld eines Gerichtsverfahrens oder
der sich von dem des Westens unter- in jüngerer Zeit die Lage vieler chine- eines Haftvorführungstermins einzu-
scheide. Somit strebt das offizielle Chi- sischer Rechtsanwälte, die in der Fol- schüchtern. Aber auch in chinesischen
na langfristig durchaus eine Umsetzung ge ihres sehr mühevollen Kampf für die Gefängnissen und anderen staatlichen
aller Menschenrechte an, am Ende al- Belange einfacher Bürger zunehmend Einrichtungen, so z.B. in psychiatri-
so auch der Individualrechte, und be- selbst Opfer von Menschenrechtsver- schen Anstalten oder den notorischen
hauptet mitnichten, dass diese in China letzungen sind. So werden diese Bür- Umerziehungslagern, soll es nach zu-
keinen Platz hätten. Allerdings wider- gerrechtler nicht nur in ihrer juristi- verlässigen Informationen regelmäßig
sprechen der Herrschaftsanspruch der schen Arbeit behindert, sondern sind zur Folter gegen Insassen kommen. Die
Kommunistischen Partei und die Ver- zunehmend vom Entzug ihrer Anwalts- Einweisung in diese Lager unter der
pflichtung der chinesischen Verfassung lizenzen, permanenter Observierung, beschönigenden Bezeichnung „Umer-
auf den „Sozialismus mit chinesischen Hausarrest, Verhaftung und Gefängnis ziehung durch Arbeit“ (laojiao) – die so
Besonderheiten“ dem Postulat univer- bedroht. Immer wieder kommt es zur genannte Administrativhaft – wird in-
saler, gegen jeden staatlichen Zugriff rechtskräftigen Verurteilung von Anwäl- ternational ebenfalls scharf verurteilt.
geschützter Menschenrechte. Insofern ten, die gegen illegale Enteignungen Hunderttausende Chinesen, oftmals
sind der Verwirklichung umfassender von Boden oder Wohnraum, Zwangs- Kleinkriminelle und Drogenabhängige,
Menschenrechte in China zumindest umsiedlungen, Umweltschutzverstöße sollen in solchen Lagern einsitzen, meist
solange unverrückbare systemische oder andere Formen korrupten Verwal- unter lebensunwürdigen Bedingungen
Grenzen gesetzt, wie die derzeitige tungshandelns klagen und sich damit und ständig der Gefahr von Folter und
chinesische Führung an ihrem Macht- den Unmut lokaler Behörden und Kader Misshandlung ausgesetzt. Wiederholt
monopol festhält. zuziehen. Dabei wirkt sich die fehlen- sind Vorwürfe erhoben worden, dass
Im Folgenden soll zunächst eine aktu- de institutionelle Unabhängigkeit der dort profitorientierte Zwangsarbeit ge-
elle Bestandsaufnahme der Menschen- örtlichen Gerichte, die den lokalen Re- leistet wird. Auch Anhänger verfolgter
rechtslage in China vorgenommen und gierungen untergeordnet sind und von Religionsgemeinschaften, politisch ak-
die von den internationalen Menschen- diesen kontrolliert werden, besonders tive Angehörige der ethnischen Min-
rechtsorganisationen als besonders negativ auf einen effektiven Schutz der derheiten, Regimekritiker, Dissidenten
drängend bezeichneten Probleme des Menschenrechte aus. und „einfache“ Bürger, die sich gegen
Landes dargestellt werden. Danach Die Unterdrückung spiritueller oder re- Behördenwillkür wehren und die lokale
wird die offizielle Menschenrechtskon- ligiöser Gruppen wie der protestanti- Kaderbürokratie rechtlich zur Verant-
zeption der chinesischen Regierung er- schen „Hauskirchen“, der vatikantreuen wortung ziehen wollen, sitzen nach al-
örtert. Schließlich sollen die Aussichten katholischen Gemeinden oder der Fa- len verfügbaren Informationen in diesen
für umfassend geschützte Menschen- lungong-Bewegung wird in jedem Dos- Straflagern ein. Besonders problema-
rechte in China und die Grenzen einer sier über die chinesische Menschen- tisch an dieser Institution ist die fehlen-
externen Einflussnahme kurz diskutiert rechtslage verurteilt. Zwar garantiert de richterliche Kontrolle. So dürfen die
werden. die Verfassung der Volksrepublik China lokalen Polizei- und Ordnungsbehör-
die Religionsfreiheit, doch beschränkt den aus eigener Autorität eine Einliefe-
der Staat diese auf die Glaubensaus- rung in die Lager bis zu einer Dauer von
Die derzeitige Lage der übung im Rahmen eines Systems offi- insgesamt vier Jahren vornehmen; erst
Menschenrechte in China ziell registrierter und genau kontrol- nach seiner Inhaftierung kann der Häft-
lierter Kirchen, Moscheen, Klöster und ling eine richterliche Überprüfung be-
Es sind seit Jahren fast immer dieselben Tempel. Er behält sich damit das Recht antragen – meistens vergeblich. Zwar
Probleme, die von den internationalen vor, im Einzelfall über die Legalität reli- hat die chinesische Regierung schon
Menschenrechtsorganisationen im Zu- giöser Gemeinschaften zu entscheiden vor einigen Jahren bekräftigt, dass sie
sammenhang mit China vorgetragen und nonkonformistische Gruppen, die dieses System reformieren wolle – etwa
werden. Dabei liegt der Schwerpunkt sich der Kontrolle des Staates entzie- durch eine Verkürzung der Haftzeiten
der Kritik auf der unzureichenden Ver- hen wollen, entsprechend zu sankti- und eine bessere richterliche Aufsicht;
wirklichung der zivilen und politischen onieren. So kommt es nach Berichten an eine Abschaffung der laojiao denkt
Rechte, also der Bürgerrechte. Aber der internationalen Menschenrechtsor- sie hingegen bisher nicht.
auch die soziale und kulturelle Diskrimi- ganisationen immer wieder zu faden- Hart kritisiert wird auch die chinesische
nierung von bestimmten Bevölkerungs- scheinig begründeten Verhaftungen Minderheitenpolitik, vor allem mit Blick
gruppen wird deutlich zur Sprache ge- der Mitglieder solcher Gruppen bis auf die bereits erwähnten muslimischen
bracht. So konstatiert etwa der Jahres- hin zu körperlicher Misshandlung und Uighuren und die Tibeter. Beide Volks-
bericht 2007 von amnesty international systematischer Folter, um sie zu „Ge- gruppen, zumindest aber ihre in China
(ai), der hier beispielhaft zitiert werden ständnissen“ von Rechtsverletzungen als illegal eingestuften politischen Ver-
soll, eine Zunahme von Repressalien, zu zwingen und danach auf „legale“ tretungen, bezichtigt die chinesische
Inhaftierungen und Gefängnisstrafen Weise aburteilen zu können. Regierung des Separatismus bzw. Ter-

232
rorismus und reagiert mit der strafrecht- gegen China erhoben Vorwürfe von CHINA UND DIE MENSCHENRECHTE
lichen Verfolgung von Aktivisten sowie fundamentalen Menschenrechtsverlet-
erheblichen Einschränkungen der Re- zungen ist lang. Sie werden, wie schon
ligionsfreiheit der jeweiligen Bevölke- erwähnt, auch nicht durchweg von der
rungen. Vorgeworfen wird dem chine- chinesischen Regierung zurückgewie-
sischen Staat zudem, durch eine ziel- sen. Vielmehr ist diese sich bewusst,
gerichtete Förderung der Ansiedelung dass es an vielen Fronten dringenden Ebene offensiv gegen die westliche
von Han-Chinesen in Xinjiang und der Handlungsbedarf gibt. So wurde bei- Menschenrechtskritik zu argumentieren
Autonomen Region Tibet den Uighuren spielsweise 2007 verfügt, dass zukünf- und ihre eigenen Leistungen bei der
und Tibetern ihre wirtschaftliche Basis tig sämtliche Todesurteile durch den Verwirklichung der Menschenrechte in
und kulturelle Identität zu rauben und Obersten Gerichtshof überprüft und den Vordergrund zu rücken.
sie damit auch politisch zu entmündi- bestätigt werden müssen, bevor sie
gen. rechtskräftig werden. Man erwartet
Als problematisch gilt die Behandlung sich davon nicht nur einen Rückgang Die offizielle chinesische
der zirka 100 bis 150 Millionen Wan- der Zahl der verhängten Todesurteile, Menschenrechtskonzeption
derarbeiter aus den ländlichen Regio- sondern auch eine Reduzierung feh-
nen. Diese gestalten den Aufschwung lerhafter Verfahren. Die Todesstrafe Das Postulat einer weltweit anerkann-
der chinesischen Wirtschaftsmetropo- selbst steht jedoch nicht zur Dispositi- ten Universalität der Menscherechte
len zwar entscheidend mit, sind jedoch on. Auch die rechtliche Basis der Ad- ist im so genannten Menschenrechts-
einer Vielzahl von sozialen und recht- ministrativhaft sowie die gesetzliche regime der Vereinten Nationen (VN)
lichen Benachteiligungen ausgesetzt. Kontrolle über die lokalen Verwaltun- verankert. Zentrale Dokumente dieses
Obwohl es in den letzten Jahren eini- gen und Ordnungsbehörden sollen Regimes sind die Allgemeine Erklärung
ge Verbesserungen in dieser Richtung verbessert werden. All dies steht im der Menschenrechte von 1948 und die
gegeben hat, diskriminiert das in der Zusammenhang mit dem Bestreben des beiden Internationalen Pakte von 1966
maoistischen Ära eingeführte System Staates, ein „sozialistisches Rechtssys- über bürgerliche und politische Rechte
der Haushaltsregistrierung (hukou) mit tem“ zu etablieren und damit auch die einerseits sowie über wirtschaftliche,
seiner kategorischen Unterscheidung verfassungsmäßig garantierten Rechte soziale und kulturelle Rechte anderer-
zwischen Stadt- und Landbewohnern der Bürgerinnen und Bürger besser zu seits. Die in diesen Verträgen nieder-
die Wanderarbeiter in besonderer schützen. So wurde auf der Ebene des geschriebenen individuellen und kol-
Weise. Weil diese in der Regel keinen Straf- und Strafprozessrechts sowie des lektiven Rechte, die sich zudem in An-
städtischen hukou erwerben können, Verwaltungs- und Verwaltungsprozess- spruchsrechte gegenüber dem Staat
besitzen sie nicht die gleichen Rech- rechts seit Mitte der 1990er Jahre mehr und staatliche Gewährleistungsrechte
te wie registrierte Stadtbewohner. So prozessurale und inhaltliche Klarheit differenzieren, müssen prinzipiell als
genießen viele Wanderarbeiter keinen geschaffen, auf die sich der einzelne Gesamtheit gesehen werden und ste-
ausreichenden Krankenversicherungs- Bürger in Rechtsstreitigkeiten mit den hen nicht in einer bestimmten Rang-
schutz und bleiben von der sozialen staatlichen Bürokratien heute durchaus ordnung zueinander. Dennoch leiten
Daseinsfürsorge in den Städten weit- erfolgreich beruft. die Staaten aus dem Menschenrechts-
gehend ausgeschlossen. Zudem haben Aus historischer Perspektive hat jeder regime der Vereinten Nationen unter-
ihre Kinder keinen freien Zugang zum Chinese heute zweifellos mehr Rechte schiedliche Menschenrechtskonzep-
urbanen Schulsystem und müssen da- gegenüber dem Staat als je zuvor in tionen ab, d.h. sie hierarchisieren die
her auf dem Land verbleiben – oder der Geschichte des Landes, und dies Wertigkeit einzelner Menschenrechte
aber ohne angemessene Ausbildungs- nicht nur auf der rechtsformalen, de- in eigenen Präferenzordnungen. So
möglichkeiten mit ihren Eltern in der klaratorischen Ebene. Diese erfreuli- stehen für den Westen seit Verabschie-
Stadt leben. Auch werden die Löhne che Entwicklung muss man bei jeder dung der Allgemeinen Erklärung der
der Wanderarbeiter häufig nicht recht- punktuellen Bestandsaufnahme der Menschenrechte die individuellen Frei-
zeitig oder gar nicht ausgezahlt, ohne chinesischen Menschenrechtssituati- heitsrechte eindeutig im Zentrum des
dass diese mit besonderer Aussicht auf on mitdenken. Genauso klar ist aber: Universalitätspostulats, während die
Erfolg dagegen angehen könnten. Die Menschenrechte haben aus Sicht sozialistischen Staaten des Ostblocks
des chinesischen Staates keinen ab- in der Ära des Kalten Kriegs allein die
soluten, die gesamte Rechtsordnung wirtschaftlichen und sozialen Gewähr-
Chinesische Regierung gesteht durchziehenden und prägenden Wert. leistungsrechte des Staates betonten
Handlungsbedarf ein Sie sind vielmehr instrumenteller Natur, und die politischen und bürgerlichen
an Pflichten gebunden und stehen also Rechte aus ideologischen Gründen
Die Gewalt gegen und soziale Diskri- im Dienst des Staates und seiner Ziel- ablehnten. Dies widersprach sicherlich
minierung von Frauen, die Ausbeutung bestimmung der Aufrechterhaltung von dem Geist des Menschenrechtsregimes
der Arbeitskraft von Kindern in Indust- Stabilität und Ordnung. Damit sind sie der Vereinten Nationen. Die Volksrepu-
rie und Landwirtschaft, die Verfolgung letztlich dem Fortbestand der Einpar- blik China, die bis heute am Sozialismus
und Misshandlung von illegal auf chi- teiherrschaft verpflichtet. Daneben tritt festhält, vertritt demgegenüber eine
nesischem Boden lebenden nordko- eine spezifische Menschenrechtskon- VN-konforme Menschenrechtskonzep-
reanischen Flüchtlingen, die rigide zeption der chinesischen Regierung, tion, die sich allerdings ebenfalls vom
Internetzensur und das willkürliche die die zivilen und politischen (also Ansatz des Westens unterscheidet und
Vorgehen gegen unliebsame Journa- individuellen) Rechte den wirtschaft- sich wie folgt zusammenfassen lässt:
listen, die Drangsalierung der chine- lichen, sozialen und kulturellen (also  Die westliche Position, dass das Univer-
sischen Arbeiterschaft und das Verbot kulturellen) Rechten nachordnet und salitätspostulat auf der Idee vorstaat-
der Gründung unabhängiger Gewerk- diese sodann der liberalen Menschen- lich-abstrakter, also naturrechtlich oder
schaften, die Vertreibung und Zwangs- rechtskonzeption des Westens mit dem vernunftethisch begründeter und inso-
umsiedlung von großen Bevölkerungs- Anspruch auf Gleichberechtigung ent- fern dem staatlichen Zugriff prinzipiell
gruppen im Zuge der innerchinesischen gegensetzt. Dieses Vorgehen erlaubt entzogener Menschenrechte beruht, ist
Modernisierungspolitik – die Liste der es der Regierung, auf internationaler nicht haltbar. Vielmehr ist die Verwirkli-

233
Gunter Schubert
chung der Menschenrechte stets an den Weißbücher als Belege für politischen Systems, die staatlichen
historischen Kontext gebunden und ver- schrittweise Erfolge Transferzahlungen und Hilfsprogram-
läuft im Gleichschritt mit der wirtschaft- me zum Zwecke der forcierten wirt-
lichen und sozialen Entwicklung inner- Ausgehend von dieser Positionierung schaftlichen Entwicklung der von den
halb einer Gesellschaft. Träger und in der Menschenrechtsfrage hat die Minderheiten bewohnten Autonomen
Gestalter dieser Entwicklung ist notwen- chinesische Regierung seit 1991 eine Regionen, die Verbesserung des Zu-
digerweise der Staat, der somit auch Reihe von „Weißbüchern“ veröffent- gangs zu Bildung und Ausbildung so-
Tempo und Umfang der Verwirklichung licht, in denen sie ihre Erfolge bei der wie spezielle Maßnahmen zur Erhal-
der Menschenrechte bestimmt. Men- innerstaatlichen Umsetzung des Men- tung der Kulturen der Minderheiten
schenrechte werden somit vom Staat schenrechtsschutzes auflistet. Im jüngs- sowie ihrer natürlichen Umwelt. Kapitel
gewährt und sind gleichzeitig an Pflich- ten, 2005 veröffentlichten und sich auf VI widmet sich den staatlichen Anstren-
ten des einzelnen Bürgers gebunden. das Vorjahr beziehende Weißbuch, gungen zur Verbesserung des Loses
 Voraussetzung für die Implementierung geschieht dies in insgesamt sieben der Behinderten. Abschließend stellt
der Menschenrechte, und vor allem der Kapiteln, deren Reihenfolge auch die das Weißbuch die Beteiligung Chinas
Bürgerrechte, ist die Unantastbarkeit derzeit gültige Präferenzordnung der auf dem Feld der internationalen Men-
der einzelstaatlichen Souveränität in chinesischen Regierung widerspiegelt: schenrechtskooperation heraus und
Verbindung mit dem Recht auf Entwick- Kapitel I steht unter dem Obertitel „Die unterstreicht, dass die Verwirklichung
lung, das vom Staat zu garantieren ist. Rechte des Volkes auf Subsistenz und der Menschenrechte ein integraler Be-
Damit stehen die wirtschaftlichen und Entwicklung“ und fasst die Erfolge der standteil des chinesischen Modernisie-
sozialen Rechte im Zentrum des Univer- chinesischen Politik unter anderem bei rungsprogramms ist.
sitätspostulats und gehen der Verwirkli- der Armutsbekämpfung, der individuel- Man kann angesichts der eingangs
chung der individuellen Freiheitsrechte len Einkommensentwicklung (vor allem aufgezählten Menschenrechtsverlet-
voraus. Nur Bürgerinnen und Bürger ei- auf dem Land), der Versorgung der Be- zungen in China über die Bedeutung
nes Staates, deren wirtschaftliche und völkerung mit preisgünstigem Wohn- eines solchen Weißbuchs trefflich
soziale Grundbedürfnisse befriedigt raum, dem Ausbau der sozialen Siche- streiten. Für chinakritische Beobachter
sind, können überhaupt zivile und poli- rungssysteme (inklusive der Etablierung haben diese Dokumente stark apolo-
tische Rechte wahrnehmen. einer nationalen Krankenversicherung) getische Züge und werden schnell als
 Vor diesem Hintergrund ist die westliche und der allgemeinen Ernährungssicher- Rechtfertigungspropaganda eines au-
Menschenrechtskritik an China strikt zu- heit zusammen. Kapitel II bezieht sich toritären Regimes abgetan. Vor allem
rückzuweisen, sofern sie die chinesische alsdann explizit auf die „zivilen und die Auflistung ziviler und politischer
Menschenrechtskonzeption infrage politischen Rechte“ und erwähnt dar- Freiheiten erscheinen in einem Land,
stellt. Denn eine solche Haltung igno- unter insbesondere Reformen des Sys- in dem Oppositionsparteien verboten
riert, dass jede Gesellschaft auf der tems der Nationalen Volkskongresse sind und die ideologische bzw. politi-
Grundlage ihrer historischen Erfahrun- (die chinesischen Parlamente auf den sche Suprematie der Kommunistischen
gen (inklusive kultureller Traditionen) verschiedenen Verwaltungsebenen), Partei (KP) nicht angetastet werden
sowie ihrer spezifischen sozioökonomi- Verbesserungen bei der dörflichen Di- darf, als hohle Phrasen. Auf chinesi-
schen Entwicklung einen jeweils eige- rektdemokratie und eine Reform des scher Seite will man hingegen den
nen Weg zur Verwirklichung der Men- staatlichen Petitionswesens. Fragwür- exklusiven Herrschaftsanspruch der
schenrechte beschreitet. Wiederum dig erscheinen aus westlicher Perspek- KP keineswegs verschleiern. Vielmehr
hängt diese von der Souveränität der tive jene Teile dieses Kapitels, die eine sollen die Weißbücher den Anspruch
einzelnen Staaten ab, denn nur diese zunehmende Dynamik bei der Entste- des Westens auf eine normative Über-
können Menschenrechte effektiv garan- hung unabhängiger Gewerkschaften legenheit in der Menschenrechtsfrage
tieren. Kritik von außen untergräbt die und Fortschritte bei der staatlichen konterkarieren. Der Schutz universaler
staatliche Souveränität und leistet des- Garantie der Religionsfreiheit behaup- Menschenrechte, so die chinesische
halb den Menschenrechten einen Bä- ten. Kapitel III beschäftigt sich mit den Botschaft, hängt nicht von der Art des
rendienst. In Wahrheit geht es dem jüngsten Rechtsreformen und stellt da- politischen Systems ab, sondern von
Westen deshalb auch gar nicht um den bei unter anderem die Fortschritte bei bestimmten wirtschaftlichen, sozialen
weltweiten Schutz der Menschenrechte, der gesetzlichen Formalisierung von und rechtlichen Rahmenbedingungen,
sondern um die Universalisierung seines Strafverfolgung, Anklageerhebung und wie sie auch im „Sozialismus mit chi-
Demokratiemodells bzw. seiner eigenen Gerichtsverfahren sowie bei der Be- nesischen Besonderheiten“ geschaf-
Menschenrechtskonzeption. Diesen kämpfung von administrativer Willkür fen werden können. Insofern führt
„Hegemonismus“ lehnt China ab. und Kaderkorruption heraus. Interes- China keinen Rechtfertigungsdiskurs,
 China ist bereit und willens, auf der sant ist, dass in diesem Weißbuch erst sondern sieht sich an vorderster Front
Grundlage des Menschenrechtsre- danach die wirtschaftlichen, sozialen beim Kampf um die Verwirklichung
gimes der Vereinten Nationen und auf und kulturellen Rechte in den Blick ge- der Idee universaler Menschenrech-
dem Weg zwischenstaatlicher Dialoge nommen werden (Kapitel IV) – ein Zei- te. Diese Haltung entspricht dem chi-
über die allmähliche Umsetzung welt- chen dafür, dass die Bürgerrechte für nesischen Selbstbewusstsein, dessen
weit geltender Menschenrechte, auch die chinesische Regierung zumindest Quelle der ökonomische und politische
in China, zu reden und diesen Prozess auf der deklaratorischen Ebene in den Aufstieg des Landes seit dem Ende der
aktiv mitzugestalten. Diese Haltung letzten Jahren an Bedeutung gewon- maoistischen Ära ist. Sie wird gestützt
wird durch Chinas Engagement im nen haben. In diesem Kapitel geht es von einem internationalen Menschen-
Menschenrechtsrat der Vereinten Nati- vor allem um den verbesserten Schutz rechtsregime, das aus rechtsformalen
onen und die Unterzeichnung zahlrei- von Arbeitnehmerrechten (inklusive der Gründen, aber auch angesichts der in-
cher VN-Menschenrechtskonventio- Rechte der Wanderarbeiter) sowie der ternationalen Kräfteverhältnisse nicht
nen, aber auch durch die 2004 erfolgte Rechte von Frauen. Kapitel V konzent- fordern kann, den Schutz der Men-
explizite Aufnahme des Menschen- riert sich auf die Rechte und den spe- schenrechte an die Einführung einer
rechtsschutzes als Staatszielbestim- ziellen Schutz der ethnischen Minder- liberalen Demokratie westlichen Mus-
mung in Artikel 33 der chinesischen heiten und betont die Mitwirkung von ters zu binden. Immerhin kann aber
Verfassung hinreichend dokumentiert. deren Vertretern auf allen Ebenen des gesagt werden, dass die chinesische

234
Regierung es sich offensichtlich weder Kaderbürokratie unterwerfen muss, CHINA UND DIE MENSCHENRECHTE
leisten kann noch will, die internationa- stößt dort an eine Grenze, wo das
le Debatte über die Menschenrechte zu Machtmonopol der Kommunistischen
ignorieren, Kooperation und Dialog zu Partei gefährdet wird. Auch kann die
verweigern und nicht auf eine Verbes- richterliche Unabhängigkeit nicht ab-
serung des Menschenrechtsschutzes im solut sein, wenn sie einem letzten, ab-
eigenen Land hinzuwirken. soluten Herrschaftsanspruch unterwor- „Reich der Mitte“. Mehrfach hat Merkel
fen bleibt. Insofern stößt die Verwirk- betont, Menschenrechtsverletzungen
lichung der Bürgerrechte in China auf beim Namen nennen und niemanden
Perspektiven eine derzeit noch unverrückbare syste- schonen zu wollen. Innerhalb des Ka-
mische Grenze: Das Universalitätspos- binetts stößt sie mit dieser Haltung auf
Die Erfolge der chinesischen Regierung tulat kann nicht dazu führen, dass sich den entschlossenen Widerstand des
bei der Verwirklichung der wirtschaft- das Regime dem demos übereignet und Auswärtigen Amts unter Frank-Walter
lichen und sozialen Rechte der von ihr damit seinen historischen Abgesang Steinmeier. Aber auch führende Wirt-
regierten Bevölkerung können nicht einleitet. schaftsvertreter mahnen an, deutsche
bestritten werden. Der in diesem Land Bevor dieser Punkt einmal erreicht wer- Interessen in China nicht durch eine
über die letzten dreißig Jahre erreich- den könnte, besteht jedoch noch viel nutzlose symbolische Politik zu gefähr-
te Armutsabbau ist historisch ohne je- Spielraum für eine Verbesserung der den. Darin kommt implizit die Meinung
des Beispiel. Gerade weil die sozialen Menschenrechtslage in China. Die sys- zum Ausdruck, dass die chinesische
Disparitäten im Zuge des voranschrei- temimmanenten Reformen zur stärke- Menschenrechtsentwicklung tatsäch-
tenden Transformationsprozesses in- ren Bürgerbeteiligung an politischen lich ihr eigenes Tempo gehe und von
zwischen wieder zunehmen und die und administrativen Prozessen auf der außen lediglich durch eine Strategie
Einkommensschere immer weiter aus- lokalen Ebene; das Petitionswesen; der der Einbindung in internationale Ko-
einanderklafft, bleibt die Fokussierung voranschreitende Ausbau des Rechts- operationsstrukturen positiv begleitet
Chinas auf die wirtschaftlichen und so- systems in Verbindung mit einer – zu- und angestoßen werden könne. Diplo-
zialen Rechte seiner Bürger richtig und mindest partiell beobachtbaren – kon- matischer Druck führt aus dieser Sicht
wichtig. Fraglich ist allerdings, ob dies sequenteren Implementierung gesetz- lediglich zu einer Verschlechterung
in Zusammenhang mit den Anstrengun- licher Bestimmungen; die Entstehung der bilateralen Beziehungen zu China,
gen des chinesischen Staates zur Re- eines Anwaltstandes; die allmähliche verringert dessen Bereitschaft zur Teil-
formierung des Rechtssystems zu einer Formierung einer chinesischen Zivilge- nahme an internationalen Menschen-
nachhaltigen Verbesserung der Bürger- sellschaft, unter anderem auf dem Ge- rechtsdialogen, leiste zudem einem
rechte führen wird. Der exklusive Herr- biet des Umweltschutzes sowie der un- anti-westlichen chinesischen Nationa-
schaftsanspruch der Kommunistischen abhängigen Rechtshilfe und -beratung; lismus Vorschub und werfe im schlimms-
Partei verlangt von der chinesischen die Veränderungen auf dem Medien- ten Fall die positiven Entwicklungen
Führung, kompromisslos gegen jene markt mit der Entstehung eines inves- beim innerstaatlichen Menschenrechts-
vorzugehen, die nach einem anderen tigativen Journalismus und einer sich schutz zurück.
politischen System verlangen – oder deutlicher artikulierenden öffentlichen An dieser Position ist die Botschaft rich-
die solcher Ziele verdächtigt werden. Meinung; nicht zuletzt die explizite tig, dass Menschenrechtspolitik immer
Auch wird der Staat weiter jene zivil- Verpflichtung der chinesischen Regie- genau abwägen muss, wie groß ihre
gesellschaftlichen Kräfte an die kurze rung auf eine sukzessive Umsetzung Reichweite ist und wo die Grenzen ih-
Leine nehmen, die das gegenwärtige ihrer internationalen Menschenrechts- rer Wirksamkeit liegen. Im chinesischen
System auf „schleichende“ Weise ver- verpflichtungen – all dies dürfte auch Fall ist der externe Einfluss sicherlich
ändern könnten, indem sie sich immer innerhalb des bestehenden Systems dort am größten, wo man kritisch auf
mehr Freiräume für ein autonomes Han- langfristig zu qualitativen Fortschritten den von China selbst erhobenen An-
deln erobern. Auch das Ziel, ein Rechts- beim Schutz der zivilen und politischen spruch auf eine zivilisatorische Vorbild-
system zu schaffen, dem sich auch die Rechte in China beitragen. rolle und eine Mitgliedschaft Chinas in
den Reihen der auch in moralischer
Hinsicht „großen“ und anerkannten
Wie soll sich der Westen Nationen hinweisen kann. Denn der
positionieren? umfassende Schutz der Menschenrech-
UNSER AUTOR

te muss der entscheidende Maßstab für


Umstritten ist, wie sich der Westen zu eine Bewertung der Legitimität solcher
dieser Entwicklung stellen soll. Inner- Ansprüche sein. Dies gebietet zunächst
halb der deutschen Bundesregierung eine kritische Sicht auf die eigene Leis-
galt es lange Zeit als geboten, auf eine tungsbilanz, aber sicherlich auch eine
Strategie des „Wandels durch Handel“ selbstbewusste Thematisierung von
sowie des „stillen Dialogs“ zu setzen weltweiten Menschenrechtsverletzun-
und von einer öffentlichen Menschen- gen in öffentlichen Foren – auch in der
rechtskritik an China so weit wie mög- Auseinandersetzung mit China.
lich abzusehen. Von dieser Position ist
die derzeitige Regierung unter Ange-
Prof. Dr. Gunter Schubert ist Professor für la Merkel insofern abgerückt, als dass
Greater China Studies am Asien-Ori- die Kanzlerin eine insgesamt stärker
ent-Institut der Eberhard Karls Univer- wertorientierte Außenpolitik vertritt als
sität Tübingen. Forschungsgegenstand ihr Vorgänger Schröder und dies auch
an diesem Lehrstuhl ist das moderne China spüren lässt. So empfing sie im
Chinesentum in seinen politischen, so- September 2007 demonstrativ den
zialen, wirtschaftlichen und kulturellen Dalai Lama im Bundeskanzleramt und
Dimensionen. sorgte damit für starke Irritationen im

235
DIE CHINESISCHE PETITIONSBEWEGUNG

Das Petitionswesen in China –


ein Instrument sozialer Gerechtigkeit?
Bettina Gransow

ern vorwarf. Im März 1995 wurden vier bau und Stärkung zu beeinträchtigen.
Das Instrument der Petition gab es schon Kader aus Xulou für schuldig befunden, Wie die Revision der Petitionsverord-
im kaiserlichen China. Es trug zur Lösung Chen Zhongshun im Sommer 1994 er- nung gezeigt hat, hat die chinesische
von Konflikten auf lokaler Ebene bei, mordet zu haben. Sie wurden zum Tode Regierung es letztlich vorgezogen, das
vermittelte dem Kaiser zugleich Informa- verurteilt und exekutiert. Als Reaktion Petitionswesen zu stärken und auszu-
tionen über lokale Verhältnisse und die auf diesen Zwischenfall gab die politi- bauen, es jedoch gleichzeitig zu präzi-
dortige Beamtenschaft. 1949 besann sche Führung in Peking Anweisung, dem sieren und kontrollierbarer zu machen.
sich die Regierung der Volksrepublik Petitionswesen mehr Gewicht beizu- Vor dem Hintergrund dieser anhalten-
China erneut auf dieses alte Instrument, messen (Lam 1999, S. 138). Damit wur- den Debatte stellt sich die Frage, ob
welches eine Ventilfunktion einnehmen, de auf ein Instrument zurückgegriffen, das Petitionswesen als ein Instrument
das Ansehen der Kommunistischen Par- das es bereits im kaiserlichen China zur Erlangung sozialer Gerechtigkeit
tei verbessern und analog zur histori- gegeben hatte und das es den Bauern angesehen werden kann und weiter,
schen Funktion im alten China Informati- erlaubte, hunderte oder gar tausende welche gesellschaftlichen Rahmenbe-
onen über regionale Verhältnisse, soziale von Kilometern in die Hauptstadt zu dingungen hierzu erfüllt sein müssten.
Probleme an der Basis und lokale Kader reisen, um dort Petitionen einzureichen
bereitstellen sollte. Seit den 1990er Jah- und sich über lokale Herrscher zu be-
ren erlebt das Petitionswesen einen Auf-
schweren. Die Rückbesinnung auf das Das Petitionswesen
schwung. Allerdings belegen Untersu-
System der Eingaben und seine Wie- im kaiserlichen China
chungen zur Lage des Petitionswesens
einen Vertrauensschwund in die unteren
derentdeckung in den 1990er Jahren
Ebenen von Partei und Regierung und sollte zum einen als Ventilfunktion für Das aktuelle Petitionswesen in der Volks-
zeigen deutlich, dass die an Petitionen die zunehmende Unzufriedenheit ver- republik China ist eng verknüpft mit
gebundenen Erwartungen, soziale Ge- schiedener Gruppen von Reformver- historischen Formen vor und nach der
rechtigkeit zu erfahren, aufgrund jahre- lierern dienen und zugleich das Image Gründung der Volksrepublik. Das Recht
langer und komplexer Interaktionen zwi- der Kommunistischen Partei Chinas als auf Beschwerden im kaiserlichen China
schen Staat, Bürgerinnen und Bürgern einer Partei, die nationale Traditionen war weniger ein spezielles Rechtsinstru-
oft erheblich gedämpft werden. Auch hochzuhalten weiß, aufpolieren. ment und eher ein Instrument der Regie-
die revidierte Petitionsverordnung aus Petitionen können als Form der Kommu- rungsführung, das mehrere Zielsetzun-
dem Jahre 2005 änderte wenig an die- nikation der Bürgerinnen und Bürger mit gen in sich vereinte und vorrangig zur
ser Situation. Bettina Gransow zeigt am ihrem Staat angesehen werden. Es han- Sicherstellung einer effektiven Verwal-
Beispiel einer bäuerlichen Petitionsbe- delt sich um ein Instrument zur Bewälti- tung im Herrschaftsgebiet des Kaisers
wegung aus dem Gebiet des Drei- gung von Konflikten, insbesondere zwi- dienen sollte. Die lokalen Beamten, die
Schluchten-Staudamms, welche Eigen- schen Bürgern und Verwaltung. Mehr Aufgaben der Rechtssprechung vor Ort
dynamik eine solche, über viele Jahre noch: hinter den Petitionen steht häufig erledigten, waren keine professionellen
andauernde Bewegung in der Praxis ent- das Empfinden, ungerecht behandelt Richter, sondern erfüllten diese Aufgabe
falten kann. Größere und im Hinblick worden zu sein – mit der Petition wird neben anderen – wie insbesondere die
auf ihre Zahl wachsende, durch qualifi- daher nicht nur die Erwartung konkreter der Überwachung lokaler Steuerein-
zierte Anführer organisierte Petitions- Problemlösung geäußert, sondern auch nahmen, der Regulierung von Arbeits-
bewegungen lassen auf das Entstehen
die Erwartung, soziale Gerechtigkeit zu diensten und der Aufrechterhaltung der
zivilgesellschaftlicher Strukturen auch in
erfahren. Seit den 1990er Jahren erleb- öffentlichen Ordnung. Es gab eine Rei-
China schließen. Somit erfährt das Peti-
tionswesen einen Bedeutungszuwachs,
te das Petitionswesen in China einen he von Mechanismen, durch die betrof-
weil es nicht nur der Herrschaftsaus- erheblichen Aufschwung und es kam zu fene Parteien ihrer Meinung nach unge-
übung von oben nach unten dienlich ist, einem regelrechten Petitionstourismus rechtfertigte Urteile auf lokaler Ebene
sondern auch von Bewegungen an der in Richtung Peking. Um diesen Ansturm bei höherer Stelle anfechten konnten.
Basis genutzt werden kann.  besser bewältigen zu können, wurden Sie wandten sich beispielsweise an kai-
im Frühjahr 2005 die rechtlichen Rah- serliche Zensoren, die über die lokalen
menbedingungen der Petitionen refor- Bedingungen und das Verhalten der lo-
miert. Diese Reform war begleitet von kalen Regierungsbeamten nach oben
einer kontroversen Debatte um die Fra- berichteten. Ohnehin wurden Strafen,
Einleitung: Das Instrument ge, ob das Petitionswesen weiter aus- die über die Verhängung von Stock-
der Petition gebaut werden sollte, um die Vielzahl schlägen hinausgingen, routinemäßig
der Eingaben und Beschwerden effek- überprüft. Die betroffenen Parteien
Von 1992 bis 1994 reichte Bauer Chen tiver abarbeiten zu können, oder ob es konnten sich aber auch direkt an den
Zhongshun aus dem Dorf Xulou in der – gerade umgekehrt – eingeschränkt kaiserlichen Thron wenden. In extremen
chinesischen Provinz Henan immer und in der Bedeutung herabgestuft Fällen konnten Beschwerdeführer versu-
wieder bei höheren Stellen Petitionen werden sollte, um zu vermeiden, mit chen, die Aufmerksamkeit des Kaisers
gegen die Dorfverwaltung ein, der er der Ausweitung des Petitionswesens selbst zu erregen, indem sie vor einer
illegale Landnutzung, exzessive Abga- einen Bypass zum regulären Rechtssys- kaiserlichen Prozession oder vor den To-
benforderungen und Angriffe auf Bau- tem zu legen und damit dessen Aus- ren des Palastes niederknieten. In jedem

236
Fall ging es darum, höhergestellte Be- se Kontrolle der lokalen Ebenen durch DAS PETITIONSWESEN IN CHINA – EIN
amte oder den Kaiser selbst dazu zu ge- die kaiserliche Bürokratie und das Prü- INSTRUMENT SOZIALER GERECHTIGKEIT?
winnen, sich ihrer Sache anzunehmen. fungssystem gab und wo weder unab-
Hierzu wurden zumeist Memoranden hängiger Adel noch Bourgeoisie einen
verfasst, die die Probleme beschrieben entsprechenden Druck ausübten, blie-
und Vorschläge zur Lösung machten. ben Rechtssprechung und Verwaltung
Für die Zensoren, die mit solchen Fäl- miteinander verwoben und es bildete anzunehmen. Gleichzeitig sollen sie die
len befasst waren, ging es immer auch sich keine unabhängige Justiz heraus öffentliche Ordnung aufrechterhalten.
um die Korrektur oder Verbesserung (Minzner 2006, S. 111–114, 171). In der Realität dienen die Petitionsbüros
der Regierungstätigkeit insgesamt und eher dazu, die Aufmerksamkeit der po-
nicht (nur) um die Lösung eines individu- litischen Führung auf ausgewählte Fäl-
ellen Rechtsfalles. Zugleich waren die Das chinesische Petitionswesen heute le zu lenken, die möglicherweise Mas-
Beschwerden ein Informationskanal für senaktionen 1 nach sich ziehen könnten
den Kaiser, der Wissen über soziale Pro- Nach 1949 wurden in der chinesischen und eine soziale Destabilisierung be-
bleme im Volke lieferte und als ein Mittel Volksrepublik Petitionsinstitutionen ins fürchten lassen. Heutzutage gibt es Pe-
zur Überwachung von Entscheidungen Leben gerufen, die an kommunistischen titionsbüros in allen Partei- und Regie-
lokaler Beamter diente. Bei inkorrekten Praktiken anknüpften und der Verbin- rungs- und Justizeinrichtungen 2 .
Urteilen drohten diesen selbst Bestra- dung zwischen der neuen Volksregie- Die Petitionsbüros haben für die kom-
fungen, und zwar unabhängig davon, rung und den Massen dienen sollten. munistische Führung in Peking – ebenso
ob es sich um beabsichtigte oder nicht 1950 bildete der Allgemeine Verwal- wie zuvor für den Kaiser – die Funktion
beabsichtigte Fehlurteile handelte. Zu- tungsrat (Vorläufer des Staatsrats) ei- eines Instrumentes der Informationsge-
sammenfassend lässt sich festhalten, ne Arbeitsgruppe zum Umgang mit winnung über die lokalen Verhältnisse
dass das Beschwerdewesen den Kai- Beschwerden der Bürgerinnen und und über mögliches Fehlverhalten loka-
ser bei seinen Regierungsgeschäften Bürger. 1951 ordnete der Allgemeine ler Kader. In den zahllosen politischen
unterstützte, indem es eine zusätzliche Verwaltungsrat an, dass alle Regierun- Kampagnen der Mao-Zeit waren die
Informationsquelle bildete, zur Lösung gen auf Kreisebene und darüber Bü- Petitionsbüros ein Mittel, um Beschwer-
individueller Fälle beitrug, Wissen über ros für Briefe und Besuche der Massen den und Tipps aus der Bevölkerung
lokale Verhältnisse und das Verhalten einrichten sollten. Damit entstand die über politisch suspekte Aktivitäten und
von lokalen Beamten bereitstellte, und Grundlage für ein landesweites Peti- Personen zu erhalten. Beschwerden aus
damit insgesamt zu einer verbesserten tionssystem. Dieses wurde in den fol- der Bevölkerung können aber auch auf
Regierungsführung beitrug. genden Jahren auf die Provinzen und illegales Verhalten von Beamten hin-
Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Zentrale ausgeweitet, so dass Pe- weisen. Statistiken über die Anzahl, die
das Beschwerdewesen so ausgewei- titionsbüros auf verschiedenen Ebenen Gründe und die regionale Herkunft von
tet, dass es bereits „Beschwerde-Spe- der Bürokratie und bei verschiedenen Petitionen sind insbesondere für Beam-
zialisten für die Hauptstadt“ gab, die Institutionen von Partei und Regierung te in höheren Positionen von Interesse,
als Berater für Personen auftraten, die entstanden. da sie Hinweise auf inhaltliche und re-
Petitionen in Peking einreichen wollten. Im Chinesischen sind gegenwärtig gionale Schwerpunkte von Problemen
Zwar gab es Beschränkungen insofern, zwei Begriffe üblich zur Beschreibung geben. Das Interesse lokaler Beamter
als gewöhnliche zivile Angelegenhei- des Petitionswesens: shangfang und besteht dagegen eher darin, Eingaben
ten eigentlich nicht vorgebracht wer- xinfang. Shangfang heißt „sich an eine und Beschwerden bei höheren Stellen
den durften und auch dadurch, dass höhere Ebene wenden, höheren Orts zu vermeiden, da dies möglicherweise
Beschwerden zunächst an die unteren vorstellig werden“ oder auch „an ei- unliebsame Konsequenzen für sie nach
Ebenen der Verwaltung zu richten wa- ne höhere Instanz appellieren“. In den sich ziehen kann. Gerade hier liegt eine
ren, aber diese Einschränkungen wur- chinesischen Medien wird shangfang der großen Ungereimtheiten und Unzu-
den in der Praxis häufig nicht beachtet. als übergreifender Ausdruck für das länglichkeiten des gegenwärtigen Pe-
Das Unvermögen der Zentralregierung, Petitionswesen verwendet. Der Begriff titionssystems in China: Je besser das
das Beschwerdewesen einzudämmen, umfasst sowohl formelle wie auch in- System seine Funktion erfüllt, die zent-
führte bis zum Ende des 19. Jahrhun- formelle Aspekte des Petitionswesens rale politische Führung über Fehlverhal-
derts zu dessen massiver Ausweitung und trägt historische Konnotationen, ten lokaler Kader zu informieren, um so
und überstieg die Kapazitäten der kai- die auf eine entsprechende Praxis im größer werden die Anreize für letztere,
serlichen Institutionen bei weitem. Ob- kaiserlichen China verweisen. Der Aus- mit allen Mitteln zu verhindern, dass
gleich dies aus der Perspektive eines ef- druck xinfang, der soviel bedeutet wie Petenten mit ihren Beschwerden an
fektiven Rechtssystems wenig einleuch- „Briefe und Besuche“, verweist auf die höchster Stelle vorstellig werden kön-
tet, wurde das Beschwerdewesen nicht eigens eingerichteten Annahmestellen nen. Da es zur Zeit noch möglich ist,
beschränkt. Eine Einschränkung des Pe- von Partei und Regierung, die Petitions- auf dem Wege polizeilicher Verwal-
titionssystems war deshalb so schwie- schriften entgegennehmen und Bitt- tungsmaßnahmen Strafen in Form von
rig für die kaiserlichen Beamten, weil steller empfangen. Der Begriff bezieht „Umerziehung durch Arbeit“ zu verhän-
es seiner Natur nach ein Herrschafts- sich auf die Institution und Praxis dieser gen, ohne dass der oder die Betroffe-
instrument darstellte, das den Kaiser Büros seit Gründung der Volksrepublik ne vor der Verhaftung das Recht auf
bei seiner persönlichen Herrschaft China. Verteidigung hätte, fangen lokale Po-
über das Reich unterstützen sollte und lizeikräfte Bittsteller vor den Petitions-
keine spezialisierte Rechtseinrichtung büros zentraler Regierungsstellen ab
bildete. Hinzu kommt, dass die sozio- Petitionsbüros bei Partei-, und versuchen, diese nach dem Prinzip
politischen Konstellationen in China Regierungs- und Justizbehörden „Zuckerbrot und Peitsche“ mit Geld und
andere waren als in Europa, wo die Versprechungen oder auch gewaltsam,
Widersprüche zwischen zentraler und Aufgabe der Petitionsbüros soll es sein, von ihrem Vorhaben abzubringen (vgl.
lokaler Herrschaft zur Herausbildung die individuellen Rechte der Beschwer- Yu 2008). Ein Gesetzentwurf zur Been-
juristischer Institutionen führten. In Chi- deführer zu schützen und sich ihrer im digung dieser jahrzehntelangen Praxis
na dagegen, wo es bereits eine gewis- Falle der Verletzung ihrer Bürgerrechte wurde 2007 vorgelegt (Wu 2007).

237
Bettina Gransow
Petitionsreisen von Bauern delt: mehr als die Hälfte der Neuan- mit auch der Druck vermindert werden,
nach Peking kömmlinge 3 war nun der Meinung, die der hierdurch an die Zentralregierung
Zentrale fürchte die Bauern, die Petiti- weitergegeben werde. Gleichzeitig
An der chinesischen Akademie der So- onen einreichten (58,9 Prozent) und sie würde ein Herunterspielen der Bedeu-
zialwissenschaften wurde von Mai bis könne Vergeltung üben und die Bau- tung der Petitionen auch die (übertrie-
Oktober 2004 eine Untersuchung zur ern schlagen (44,7 Prozent). Die Zahl bene) Erwartungshaltung an die prakti-
Lage des Petitionswesens durchge- derjenigen, die glaubten, mit offenen schen Problemlösungskapazitäten des
führt. Hierzu gehörten unter anderem Armen empfangen zu werden, war Petitionswesens dämpfen und damit zu
die Auswertung von mehr als 20.000 nach einer Woche Pekingaufenthalt einem Rückgang des auf Peking aus-
Petitionsschreiben und die Befragung auf 39,3 Prozent gesunken (Yu 2004, gerichteten „Petitionstourismus“ führen.
von Bauern, die eigens nach Peking S. 214). Die Hauptgründe für die Be- Eine Reform mit dem Ziel der Stärkung
gekommen waren, um hier an höchster schwerden werden aus Tabelle 2 er- des Petitionssystems wäre demgegen-
Stelle ihre Beschwerden vorzutragen. sichtlich. Neben Korruption und über- über nicht in der Lage, die anschwel-
Wie Tabelle 1 zeigt, lässt die zuneh- höhten Abgaben wurden insbesondere lende Petitionsflut einzudämmen und
mende Konzentration von Petitionen Probleme, die mit der Beschlagnahme die hierdurch aufgeworfenen Probleme
an höchster Stelle einen Vertrauens- von Boden und Umsiedlungen im weite- zu lösen. Umgekehrt sieht Yu ein ge-
schwund in die unteren Ebenen von ren Sinne zusammenhängen, zu einem stärktes Petitionswesen letztlich als ei-
Partei und Regierung vermuten. Da es wichtigen Gegenstand von Beschwer- ne Gefahr für die öffentliche Ordnung
an einem einheitlichen System der ver- den. Die Tabelle zeigt zugleich, dass an. Nur eine Stärkung der Justizorga-
schiedenen Petitionsinstitutionen man- das Beschwerdewesen selbst und die ne, ihrer Fähigkeiten und ihrer Verant-
gelte, wurden die Petenten hin und her teilweise menschenunwürdige Behand- wortlichkeiten, sich der Fälle der Bürger
geschoben. Die in Peking befragten lung von Beschwerdeführern nun ih- anzunehmen und diese zu behandeln,
Bauern hatten im Schnitt sechs Institu- rerseits wieder zur Ursache neuer Be- könnte diejenigen Stellen entlasten, die
tionen und mehr besucht, einige sogar schwerden werden. Gefragt, was sie gegenwärtig mit den Petitionen befasst
bis zu 18. Darunter insbesondere das tun wollten, falls sie mit dem Ergebnis und damit überlastet seien. Eine solche
Staatliche Petitionsbüro, das Petitions- der Petition nicht zufrieden wären, ant- Lösung von Problemen durch die of-
büro des Ständigen Komitees des Nati- worteten 91,2 Prozent der Befragten, fiziellen Kanäle der Justiz wäre auch
onalen Volkskongresses, des Obersten dass sie fortfahren wollten, Eingaben geeignet, die Autorität der Justiz ins-
Gerichtshofes, des Ministeriums für Öf- zu machen. 68,2 Prozent stimmten zu, gesamt zu stärken und langfristig die
fentliche Sicherheit etc. Bei denjenigen eine Organisation gründen zu wollen, Bedeutung des Petitionswesens zu ver-
Bauern, die zum ersten Mal nach Peking um die legalen Rechte der Bauern zu mindern. Hierzu könnten weiterhin die
kamen, um eine Petition einzureichen, schützen, 53,6 Prozent wollten etwas Eingabestellen bei den verschiedenen
war die Erwartungshaltung sehr hoch unternehmen, um die Kader das Fürch- Ebenen der Volkskongresse konzentriert
und überwiegend wurde die Annahme ten zu lehren (Yu 2004, S. 217). werden, statt wie gegenwärtig in den
geteilt (94,6 Prozent der Neuankömm- Vor dem Hintergrund der Ergebnisse verschiedensten Institutionen von Partei
linge), dass sie mit ihrem Anliegen mit dieser Studie sprach sich ihr Leiter Yu und Regierung eigene Annahmestellen
offenen Armen empfangen würden. Jianrong für eine Abschwächung der für Petitionen zu unterhalten. In der De-
Nachdem sie aber schon eine Woche Rolle des Petitionswesens aus. Nur so batte um die Reform des Petitionsrech-
lang in Peking bei verschiedenen Peti- könne der Druck, der durch die Vielzahl tes konnte sich Yus Position eines Ab-
tionsbüros vorstellig geworden waren, der Petitionen auf den Lokalregierun- baus des Petitionswesens jedoch nicht
hatte sich das Bild erheblich gewan- gen laste, verringert werden, und da- durchsetzen, und im Mai 2005 trat eine

Tabelle 1: Wie hoch ist auf dem Dorf das Prestige der folgenden Regierungsebenen? (Angaben in Prozent)

durch- ziemlich sehr schwer keine


sehr hoch hoch
schnittlich gering gering zu sagen Antwort
Zentralkomitee und Staatsrat 37,6 11,9 22,6 6,8 8,2 8,5 4,4
Partei und Regierung auf Provinzebene 1,8 22,8 15,6 12,8 33,9 7,6 5,5
Partei und Regierung auf Stadtebene 0,4 4,1 17,5 12,2 53,2 8,1 4,5
Partei und Regierung auf Kreisebene 1,4 0,3 3,3 13,6 66,5 9,3 5,6
Partei und Regierung auf Gemeindeebene 0 0,7 2,1 3,8 76,1 12,1 5,2
Quelle: Yu 2004, S. 213; n = 632.

Tabelle 2: Welches Problem spiegelt sich in Ihrer Petition? (Angaben in Prozent)

Problem stimme zu stimme nicht zu keine Antwort


Korruption 84,5 11,1 4,4
Prügel und Inhaftierung von Anführern bäuerlicher Petitionen 56,2 37,5 6,3
Ungerechtfertigte Abgaben, die die Lasten der Bauern erhöhen 71,5 22,7 5,8
Gemeinde- und Kleinstadtregierungen, die Druckmittel benutzen,
69,6 25,8 4,6
um Steuern zu erheben und Geldmittel zu beschaffen
Probleme durch Beschlagnahme von Boden 73,2 24,5 2,3
Quelle: Yu 2004, S. 215.

238
revidierte Petitionsverordnung in Kraft, auf. Zwar wurden mit der Revision der DAS PETITIONSWESEN IN CHINA – EIN
die gerade umgekehrt für eine Position Verordnung einige von deren Normen INSTRUMENT SOZIALER GERECHTIGKEIT?
der Stärkung des Petitionswesens stand übernommen, z.B. die Begrenzung der
(Nanfang zhoumo 18.11.2004). Verfahrensdauer, die Festlegung von
Zuständigkeiten und die Verpflichtung
zur schriftlichen Benachrichtigung der
Die Petitionsverordnung von 2005: Beschwerdeführer, jedoch sind die Nach einem System von Disziplinar-
Konfliktmanagement zwischen Staat, Rechtselemente im Petitionswesen eher maßnahmen können Beamte, in deren
Bürgerinnen und Bürgern als Bestandteile eines umfassenderen Verwaltungsbezirk es zu Massenpetiti-
Instruments der Regierungsführung an- onen kommt, hierfür zur Verantwortung
Die Revision der Petitionsverordnung zusehen. gezogen werden, bis hin zur Suspen-
sollte dazu dienen, das Petitionswe- dierung. Dieses Verantwortungssystem
sen effektiver zu machen. Darunter entspricht im Grunde konfuzianischen
wurde eine verstärkte Klarheit und Anreize zur Ausweitung von Prinzipien, denen zufolge die Aufrecht-
Abgrenzung der Zuständigkeiten und Petitionsaktivitäten erhaltung oder der Mangel an sozi-
Entscheidungsbefugnisse verstanden, aler Ordnung abhängig ist von den
eine verstärkte Informationspflicht ge- Im Unterschied zu der verbreiteten An- mehr oder minder ausgeprägten mo-
genüber den Bürgerinnen und Bürgern, nahme, dass es sich bei den Petitionen ralischen Qualitäten ihrer Führer. Im
die Petitionen einreichen, und ein grö- um unkoordinierte Aktionen schlecht positiven Fall kann dies dazu führen,
ßerer Entscheidungsspielraum auf der informierter Personen handelt, die ein- dass Beamte vor Ort lokale Unstimmig-
lokalen Ebene, um eine überproporti- fach die Regeln des formalen Rechts keiten auf legalem Wege beseitigen,
onale Konzentration von Eingaben an nicht verstehen, ist das Petitionswesen im negativen Falle kann dies zur akti-
zentrale Stellen zu vermeiden bzw. ab- das Ergebnis komplexer Interaktionen ven, ja sogar gewaltsamen Unterdrü-
zubauen. Ein Mehr an Flexibilität auf zwischen Staat und Gesellschaft mit ckung von abweichenden Meinungen
lokaler Ebene sollte zur Effektivität bei einem eigenen Satz von Spielregeln. führen, bis hin zur Unterbindung von
der Lösung von Konflikten beitragen. Diese Regeln haben nur zum Teil mit Petitionsanstrengungen. Durch dieses
Die revidierte Petitionsordnung zielt auf der oben beschriebenen Verordnung Verwaltungssystem werden Anreize
ein breites Aufgabenspektrum ab. Peti- zu tun und sind geprägt von Regeln geschaffen, die im Prinzip größere und
tionen können Informationen über eine interner Parteidisziplin, die ausschlag- besser organisierte Petitionsbewegun-
bestimmte Situation bereitstellen, sie gebend sind für den Umgang der Be- gen, die sich an höhere Instanzen oder
können Vorschläge unterbreiten, Mei- amten mit den Petitionen der Bürger. 4 an die Zentrale in Peking direkt wen-
nungen vortragen, Beschwerden führen
oder Handlungen einklagen, die von
Verwaltungsorganen ausgeführt wer- Flussdiagramm: Petitionen der Bürgerinnen und Bürger
den müssten, und sie können schließlich
die Umsetzung von Entscheidungen der
Verwaltung ablehnen.
Zu den konkreten Aufgaben der Petiti-
onsbüros gehört
 die Annahme und Weitergabe der Pe-
titionen an die zuständige Verwaltung
oder Behörde;
 der Umgang mit Petitionen, die aus-
drücklich an höhere Ebenen gerichtet
sind;
 Verhandlungen bei „wichtigen“ Petitio-
nen;
 die Untersuchung der Lösung von Pro-
blemen (durch andere Einheiten);
 die Untersuchung von Petitionstrends
und die Erstellung von Statistiken hier-
zu;
 Politikberatung zur Verbesserung der
Regierungstätigkeit;
 die Anleitung der Petitionsbearbeitung
auf unteren Verwaltungsebenen (Arti-
kel 16, 21 .3; Xinfang 2006).
Petitionen sollen in aller Regel bei
den unteren Verwaltungsebenen ein-
gereicht werden. Die Forderung nach
einem regulären Berichtssystem an hö-
here Verwaltungsstellen stärkt die Funk-
tion der Informationssammlung.
Zusammenfassend stellt sich das ge-
genwärtige Petitionssystem als ein In-
strument der Regierungsführung dar,
das mehrere Zwecke erfüllen soll. Ziele
und Inhalte weisen Überschneidungen
mit den formalen Rechtsinstitutionen Quelle: Xinfang 2006, S. 29.

239
Bettina Gransow
den, belohnen. Dies steht scheinbar im gewonnen werden. So ist insbeson- Beispiel einer bäuerlichen
Gegensatz zum Inhalt der revidierten dere bei kollektiven Umweltpetitionen Petitionsbewegung
Petitionsordnung, die ja gerade darauf das Internet schon erfolgreich genutzt
abzielt, die Anzahl der Repräsentanten worden (Yang 2005, S. 64). Eine be- Vor 1979 gab es nur selten kollektive Ein-
einer Petitionsbewegung klein zahlten. sondere Rolle bei kollektiven Petitionen gaben. Aber mit der neuen politischen
Da sich aber die Höhe der Disziplinar- spielen ihre Anführer. Sie müssen eine Landschaft, die nach Auflösung des Sys-
strafen für lokale Beamte nach der Zahl Reihe von Qualifikationen mitbringen, tems der Volkskommunen entstand, er-
der Petenten und der Ebene, bei der die z.B. politisch manövrieren können und hielten auch die Bauern und die lokalen
Petition eingereicht wurde, richtet, wer- den Zusammenhalt der Petitionsbewe- Regierungen mehr Spielräume, um ihre
den Anreize geschaffen, die Petitions- gung gewährleisten. Nicht alle Anfüh- jeweiligen Interessen zu verfolgen. Bei-
aktivitäten auszuweiten, um damit über rer agieren friedvoll und stützen sich spielsweise begannen Bauern, die Jahre
ein wirksameres Druckmittel zu verfü- auf Gesetze und Regeln. Einige benut- zuvor an weit entfernte Orte umgesiedelt
gen. Bei Massenpetitionen kann durch zen Gewalt und Einschüchterung, be- worden waren, Petitionskampagnen mit
eine erhöhte Anzahl an Petitionsunter- stechen Familien, damit sie mitmachen, dem Ziel, in ihre ursprünglichen Heimat-
stützern oder durch eine Eingabe bei oder führen die Bauern, besonders sol- gegenden zurückkehren zu dürfen.
höherer Stelle mehr Druck auf die Lokal- che, die nicht lesen und schreiben kön- An einem Beispiel aus dem Gebiet des
regierung erzeugt werden. Eine wach- nen, über die Zielsetzung der Petition Drei-Schluchten-Staudammes am Jangs-
sende Tendenz zu immer größeren und hinters Licht. te hat der Sozialwissenschaftler Ying
immer besser organisierten Petitionen Anführer kollektiver Proteste erfüllen Xing verdeutlicht, welche Eigendynamik
ist daher möglicherweise auf die An- im Wesentlichen vier Funktionen: Ers- eine solche über viele Jahre andauern-
reize zurückzuführen, die sich aus dem tens bündeln sie die individuellen Be- de Petitionsbewegung entfalten kann.
Petitionssystem für die lokalen Beam- schwerden der Betroffenen zu kollek- Nach dem Bau eines ersten Wasser-
ten ergeben. Dies würde eine Auswei- tiven Ansprüchen. Die Anführer sind in kraftwerkes kam es hier bereits Mitte der
tung von Petitionsaktivitäten erwarten der Lage, die Kritik der Bauern lokalen 1970er Jahre zu Konflikten, weil als Folge
lassen. Verfügbare Daten bestätigen Verletzungen allgemeiner Gesetze und des Baus Ackerland weggeschwemmt
dies für den Zeitraum zwischen 1995 Regelungen zuzuordnen und damit ei- wurde und die Bauern hierfür keine ad-
und 2000. Hier hat sich die Anzahl der ne wichtige Voraussetzung zu schaffen, äquate Entschädigung erhielten. Vertre-
Petitionen, die auf Ebenen oberhalb um das Interesse der Zentralregierung ter der betroffenen Produktionsgruppen
des Kreises eingereicht wurden, mehr auf das Fehlverhalten lokaler Kader zu beschwerten sich vergeblich bei der Lei-
als verdoppelt. Im Schnitt werden jähr- richten. Zweitens können sie Aktivisten tung des Wasserkraftwerkes, der Kom-
lich 11,5 Millionen Petitionen in China rekrutieren und die Öffentlichkeit mo- munenleitung, dem Kreis und der Präfek-
eingereicht. Allein beim Petitionsbüro bilisieren. Hierzu ist die Verankerung tur. Die Präfektur hatte den Dammbau
des Nationalen Volkskongresses ge- in ausgedehnten sozialen Netzwerken seinerzeit zwar veranlasst, die Verant-
hen jährlich 100.000 Briefe ein; beim eine günstige Bedingung. Drittens spie- wortung für die Bodenbeschlagnahme
Obersten Gerichtshof wurden 2001 len die Anführer eine wichtige Rolle bei und die Umsiedlungen aber an die un-
152.557 Briefe bearbeitet (Xie 2006, S. der Entwicklung und Koordinierung kol- teren Regierungsebenen abgegeben,
169; Minzner 2006, S. 160; vgl. Schu- lektiver Aktionen. Hier ist insbesondere denen es jedoch an den hierzu nötigen
cher 2006, S. 49ff.). Seit der Reform der Kreativität gefragt bei der Anwendung Ressourcen mangelte.
Petitionsverordnung 2005 ist die Zahl von Taktiken, die rechtlich nicht anfecht- Ohne die betroffenen Bauern hiervon in
der Petitionen zurückgegangen, aller- bar sind und die für die lokalen Kader Kenntnis zu setzen, geschweige denn,
dings kann dies durchaus mit der oben nicht sofort durchschaubar sind. 5 Vier- sie in die Verhandlungen mit einzu-
erwähnten Praxis des „Abfangens“ von tens schließlich sind die Anführer dafür beziehen, kam es 1977 zu einem Deal
Petenten durch lokale Beamte zusam- verantwortlich, sich über mehrere Orte zwischen Kommune und Präfektur, wo-
menhängen. und einen längeren Zeitraum hinweg nach 150 Haushalte mit einer Summe
zu organisieren. Dies kann die Grün- von 300.000 Yuan entschädigt werden
dung von formellen Organisationen sollten. Die Kommune erhielt das Geld,
Kollektive Petitionen und mit Namen wie „Gesellschaft zur Redu- investierte dieses jedoch nicht wie ver-
ihre Anführer zierung der Lasten“ oder „Anti-Korrup- abredet nur zu einem Drittel in den Bau
tions-Gruppe“ bedeuten oder auch nur einer Kalkfabrik, sondern verwendete
Kollektive oder Massenpetitionen kön- die Etablierung informeller Netzwerke die gesamte Summe hierfür. 6
nen eine Reihe von Ursachen haben, (Li/O’Brien 2008, S. 5ff.). Im Sommer 1979 verschlimmerte sich
auf dem Lande z.B. überhöhte Steuern, Charakteristisch für solche Petitionsbe- die Bodensituation durch eine Flutka-
Misshandlung durch Dorfkader oder wegungen ist häufig das Fehlen eines tastrophe noch weiter und die Bauern
die Beschlagnahme von Land. In den klaren Ausgangs. Teilweise dauern Be- wandten sich an den Parteisekretär, der
Städten waren es in den letzten Jah- schwerden viele Jahre, sogar Jahrzehn- sie an das Wasserkraftwerk verwies. In
ren vor allem Wohnungseigentümer, te. Gruppen von Petitionsunterstützern ihrer Not nahmen die Bauern dies wört-
also Vertreter der neuen Mittelschich- bündeln ihre Ressourcen, um ihren Re- lich, marschierten in großer Zahl zum
ten, die sich mit dem Mittel der Peti- präsentanten den Besuch in der Kreis- Wasserkraftwerk, besetzten die Kanti-
tionen gegen die Beschlagnahme von oder Provinzstadt zu ermöglichen. ne und erklärten: „ Solange unser Prob-
Boden, gegen Umsiedlungen und un- Auch können sich die Gründe für eine lem nicht gelöst ist, werden wir von jetzt
zureichende Entschädigungszahlungen Beschwerde über die Jahre hinweg än- an jeden Tag zum Essen herkommen!“
zur Wehr setzten (Cai 2007, S. 182ff.). dern: Was als eine Beschwerde über Durch diese Aktion machten die Bauern
Mit der durch die revidierte Petitions- Korruption von lokalen Kadern begann, die Erfahrung, dass sie Aufmerksamkeit
verordnung eröffneten Möglichkeit, per kann in neuen Ärger umschlagen, wenn erregen mussten, um überhaupt gehört
E-Mail eine Beschwerde einzureichen, dieselben Kader z.B. als Kandidaten zu werden. Von da an mehrten sich ih-
sind neue Möglichkeiten für Massen- für die Dorfwahlen aufgestellt werden, re Aktionen. Allerdings handelte es sich
petitionen eröffnet worden. Durch oder in Proteste, wenn die Anführer ei- dabei um eine Gratwanderung: Denn
das Internet können heutzutage gro- ner Massenpetition in Haft genommen nicht immer konnten solche Aktionen
ße Zahlen von Petitionsunterstützern werden. unter Kontrolle gehalten werden. Kam

240
es aber zu Störungen im Kraftwerksbe- Inhalts von der lokalen Poststation nie- DAS PETITIONSWESEN IN CHINA – EIN
trieb oder wurde Kommuneneigentum mals weiter befördert. In den folgenden INSTRUMENT SOZIALER GERECHTIGKEIT?
beschädigt, dann setzte die Lokalregie- Jahren fuhren Schneider Wang und an-
rung die Staatsmaschinerie in Gang, um dere Vertreter der Bauern noch mehrere
die Unruhen niederzuschlagen und die Male nach Peking, zufällig auch am 15.
„Rädelsführer“ zu verhaften. April 1989, dem ersten Todestag von Hu
Mitte der 1980er Jahre war die Gruppe Yaobang, des reformorientierten Politi- verschwindend gering ist, so implizieren
auf mehr als 1.000 Bauern angewach- kers, zu dessen Gedenken die Pekinger Petitionen doch zumindest die Möglich-
sen und mit einer Verzögerung von rund Studenten Demonstrationen am Tianan- keit, dass der Willkür von Verwaltungs-
acht Jahren war die Kreisregierung nun men-Platz veranstalteten. Obgleich die handeln Einhalt geboten und soziale
endlich bereit, eine Untersuchungskom- Bauern von Shanyang nichts davon Gerechtigkeit hergestellt werden kann.
mission einzusetzen. Diese verfasste ei- wussten, bekam die Sache allein wegen Neben den praktischen Problemlö-
nen Bericht mit Empfehlungen zur Um- des Datums einen politischen Anstrich sungskapazitäten des Petitionswesens
verteilung der Entschädigungsgelder. und die Lokalregierung schaltete erst spielt hier vor allem seine symbolische
Unzufrieden mit den Ergebnissen des recht auf „stur“. Bedeutung eine Rolle, die Vorstellung,
Berichtes spaltete sich die Gruppe in Dieses Beispiel zeigt anschaulich, dass dass auch in scheinbar hoffnungsloser
zwei Richtungen: eine pragmatische es sich in der Praxis der Petitionen zum Situation noch ein Ausweg möglich ist
Richtung, der es um eine möglichst ra- Teil um Jahre und Jahrzehnte dauern- und die Option, dass man sich hierzu
sche Auszahlung der Entschädigungs- de Geschichten handelt, die eine ganz direkt an eine höhere oder sogar höchs-
gelder ging, und eine Richtung unter eigene Dynamik entfalten. Insbesonde- te Stelle wenden kann. Hinzu kommt das
der Leitung von Lehrer Xu, die aus eher re bei kollektiven Petitionen bilden sich Selbstverständnis des Petitionswesens
prinzipiellen Erwägungen das Problem Fronten zwischen den Petenten auf der als eines Partizipationsinstrumentes in
der Korruption und des Fehlverhaltens einen Seite und den Lokalregierungen Form einer direkten politischen Kommu-
der lokalen Kader betonte. Die Sache und/oder anderen lokalen Institutio- nikation zwischen Bürgerinnen, Bürgern
schaukelte sich in der Folgezeit weiter nen auf der anderen Seite heraus. Es und Staat 7 (wie es auch in der ehema-
hoch, als das Wasserkraftwerk zusätzli- entstehen komplexe Handlungszusam- ligen DDR existierte). Diese Sichtweise
ches Land für den Bau von Wohnheimen menhänge, die nicht mehr auf den ur- ist allein schon deshalb problematisch,
in Anspruch nehmen wollte. Die Verant- sprünglichen Grund der Beschwerde weil sich die politische Elite in China in
wortung hierfür wurde zwischen Kraft- beschränkt bleiben, sondern sich zu der Regel aus anderen Quellen infor-
werk und Lokalregierung hin und her ge- multiplen Beschwerdegründen auswei- miert und die Informationen, die in den
schoben. Das Kraftwerk drohte mit der ten können, z.B. weil die Anführer inhaf- Petitionen mitgeteilt werden, eher selek-
Unterbrechung der Stromversorgung, tiert werden und dies nun selbst wieder tiv wahrgenommen werden. Man könn-
die Lokalregierung drohte daraufhin zum Gegenstand einer Petition wird. te höchstens von einer indirekten Form
mit der Verweigerung des Zugangs zu Beide Parteien machen im Laufe der der Partizipation sprechen insofern als
Krankenhäusern und Schulen für die Be- Jahre Lernprozesse durch und entwi- die Petitionen unter bestimmten Bedin-
schäftigten des Kraftwerks. Das Kraft- ckeln spezifische Handlungsstrategien gungen politische Handlungen auslö-
werk schaltete die Präfekturregierung im Umgang miteinander. sen können. Hier hängt jedoch sehr viel
ein, für die es eine wichtige Einnahme- vom politischen und gesellschaftlichen
quelle bildete. Umfeld des Petitionsgeschehens ab.
1984 ging bei starken Regenfällen wei- Schlussbetrachtung: Andererseits sind die mit der Praxis der
teres Land verloren und erneut zogen Perspektiven des Petitionswesens Petitionen verbundenen Probleme zahl-
die Bauern zum Kraftwerk. Als Vermittler reich und es besteht ein offensichtli-
zwischen dem Kraftwerk und den Bau- Wie gezeigt wurde, erfüllt das Petiti- cher Widerspruch zwischen verschie-
ern trat nun Schneider Wang auf den onswesen in China mehrere Funktionen denen Anreizsystemen, nämlich zum
Plan. Unter seiner Leitung machte sich gleichzeitig, nämlich als einen Anreize, die für die Petenten dar-
im Herbst 1984 erstmals eine Gruppe  ein Instrument der Informationsgewin- in bestehen, möglichst kollektive Einga-
von Bauern auf, um in Peking ihre Sache nung über soziale Probleme an der ben mit vielen Unterstützern vorzulegen
vorzubringen. Ihre Beschwerden hat- Basis für die politische Führung; und dies gegebenenfalls auch medien-
te der Vater von Schneider Wang, der  ein Instrument der Kontrolle der Ver- wirksam zu vertreten, und zum anderen
sich auf Kalligraphie verstand, auf ein waltungstätigkeit (oder auch der Be- Anreize für die lokalen Verwaltungen,
weißes Stück Stoff geschrieben – ganz völkerung selbst); Petitionen möglichst zu verhindern, weil
groß das Zeichen für Ungerechtigkeit  ein Instrument der politischen Kommu- ihre eigene Beurteilung durch höhere
(yuan) und in etwa 100 Zeichen die nikation zwischen Bürgerinnen, Bür- Verwaltungsstellen und damit ihre per-
wichtigsten Beschwerden (Ying 2001, S. gern und Staat; sönliche Karriere von einer möglichst
123). Die beteiligten Dörfer fügten ihre  ein Instrument zur praktischen Lösung geringen Zahl an Petitionen abhängt.
Stempel hinzu. Allerdings flog die Sa- von Konflikten; Das politische Modell, das in der revi-
che schon vorher auf, da es unter den  ein spezielles Rechtsinstrument; dierten Petitionsverordnung von 2005
Bauern unterschiedliche Ziele gab und  ein Instrument von symbolischer Be- aufscheint, unterscheidet sich deutlich
sie auch über unterschiedliche Bezie- deutung zur Erlangung sozialer Ge- von liberalen Demokratiemodellen. An-
hungen zu den Beamten der Lokalre- rechtigkeit. statt den gleichen Schutz individueller
gierung verfügten. Bereits am Bahnhof Vor dem Hintergrund dieses komplexen Rechte zu betonen, zielt die Verord-
wurde Schneider Wang verhaftet. Als Charakters des Petitionswesens würde nung eher auf einen reibungslosen In-
man – zwei Wochen später – in Wangs seine radikale Abschaffung zum gegen- formationsfluss zwischen Bürgern und
Heimatdorf davon erfuhr, schickte sein wärtigen Zeitpunkt wohl kaum als ein Si- Beamten ab, die bei der Verbesserung
Bruder ein Telegramm an die Polizei- gnal im Sinne der Stärkung des Rechts- der Regierungsführung miteinander ko-
station des Pekinger Bahnhofs und er- systems aufgefasst, sondern vielmehr operieren. Auf einer praktischen Ebe-
mutigte Wang, die Sache unbedingt zu als eine Beschneidung zustehender ne dient die Petitionsverordnung den
Ende zu bringen. Das Telegramm wurde Rechte verstanden werden. Auch wenn Informations- und Herrschaftsbedürf-
allerdings wegen des aufrührerischen die praktische Problemlösungsquote nur nissen einer autoritären Regierung, für

241
Bettina Gransow
die soziale Stabilität höchstes Ziel ist. LITERATUR ANMERKUNGEN
Gleichzeitig stellt sie Regeln für das
Konfliktmanagement zwischen dem Cai Yongshun (2007): Civil Resistance and Rule of 1 Vgl. hierzu den Beitrag von Günter Schucher
Law in China: The Defense of Homeowners’ in diesem Heft.
Staat und seinen Bürgern auf. Rights. In: Perry, Elizabeth/Goldman, Merle 2 Der Anhang der revidierten Petitionsver-
Die wachsende Zahl kollektiver Petiti- (Hrsg.) (2007): Grassroots Political Reform in ordnung von 2005 enthält eine Übersicht mit Kon-
onen (mit einer Vielzahl von Unterstüt- Contemporary China. Cambridge, S. 174–195. taktadressen von 33 verschiedenen Büros, ange-
zern) kann als Charakteristikum des chi- Lam, Willy Wo-lap (1999): The Era of Jiang Zemin. fangen von der Staatlichen Abteilung für Briefe
Singapur. und Besuche (Guojia xinfang ju) über die Büros
nesischen Petititonswesens bezeichnet
Li Lianjiang/O’Brien, Kevin (2008): Protest Lea- bei verschiedenen Ministerien wie Bildung, Öf-
werden und in diesem Sinne kann man dership in Rural China. In: The China Quarterly, fentliche Sicherheit, Zivile Angelegenheiten, Land
durchaus von einer Petitionsbewegung Nr. 193 (März), S. 1–23. und Ressourcen, Bauwesen, Landwirtschaft, Ge-
sprechen. Auch wenn durch die Petiti- Minzner, Carl F. (2006): Xinfang: An Alternative to sundheit etc. und bei Massenorganisationen
onsverordnung von 2005 die Zahl der Formal Chinese Legal Institutions. In: Stanford Jour- wie dem Frauenverband bis hin zu den entspre-
nal of International Law, Bd. 42, Nr. 1, S. 103–179. chenden Büros auf Provinzebene (Xinfang tiaoli
Repräsentanten, die bei einem Eingabe- Mühlberg, Felix (2004): Bürger, Bitten und Behör- 2006).
büro vorstellig werden darf, auf fünf Per- den. Geschichte der Eingabe in der DDR. Berlin. 3 Hierzu wurde 56 Bauern befragt, die zum
sonen beschränkt wurde, so sind doch Schucher, Günter (2006): Ein Gespenst geht um in ersten Mal nach Peking gekommen waren, um
mit dem Internet, mit E-Mail und Mobilte- China – das Gespenst sozialer Instabilität. In: Petitionen einzureichen.
China aktuell, Nr. 5, S. 47–63. 4 Vorsicht ist daher geboten bei vorschnellen
lefonen (einschließlich SMS) ganz neue
Wu Jiao (2007): New Law to Abolish laojiao Sys- Vergleichen mit westlichen Institutionen wie dem
kommunikationstechnische Möglichkei- tem. In: China Daily vom 1 .3.2007; unter: http:// Ombudsmann oder Samisdat (Minzner 2006,
ten entstanden, um das Instrument der www.chinadaily.com.cn/china/2007–03/01/ S. 140ff.)
Petitionen zur Durchsetzung von Inter- content_816358.htm (Aufgerufen am 15.12.2007). 5 So teilte sich eine Gruppe von Hunderten von
essen verschiedener gesellschaftlicher Xie Yue (2006): Dangdai Zhongguo zhengzhi Petenten, die 2004 aus der Provinz Hebei nach
goutong (Politische Kommunikation im heutigen Peking reiste, um sich über die Lokalregierung zu
Gruppen in Stadt und Land und zur Her- China). Shanghai. beschweren (weil diese es zugelassen hatte, dass
stellung von Öffentlichkeit zu nutzen. Xinfang tiaoli (Petitionsverordnung) (2006). Her- eine private, unterfinanzierte Firma ein großes
Hier kommt den chinesischen Massen- ausgegeben vom Rechtsbüro des Staatsrates. Stück Ackerland für ihre Zwecke verwenden konn-
medien (auch wenn es sich nicht um eine Peking. te, ohne die versprochene Entschädigung an die
Yang Guobin (2005): Environmental NGOs and betroffenen Bauern zu zahlen), in kleine Grüpp-
freie Presse im westlichen Sinne handelt)
Institutional Dynamics in China. In: The China chen von Radfahrern auf und entschlüpfte so den
eine besondere Bedeutung zu. Durch Quarterly, Nr. 181 (März), S. 46–66. lokalen Polizeikräften, die an den Fahrkarten-
Medienberichte wird gesellschaftliche Ying Xing (2001): Dahe yimin shangfang de gushi schaltern von Eisenbahnen und Überlandbussen
Aufmerksamkeit allgemein und die Auf- (Die Petitionsgeschichte der Umsiedler vom gro- stationiert wurden, um die Petenten abzufangen
merksamkeit der politischen Elite im Be- ßen Fluss). Peking. (Li/O’Brien 2008, S. 9).
Yu Jianrong (2004): Xinfang zhidu diaocha ji gai- 6 Von diesen 300.000 Yuan sollten 100.000 zur
sonderen erregt – dies zieht weitere Me- ge silu (Untersuchung und Überlegungen zur Re- Befestigung des Flussufers durch lokale Arbeits-
dienberichte nach sich und die Anliegen form des Petitionssystems). In: Ru Xin/Lu Xueyi/Li kräfte verwendet werden, 60.000 Yuan für Land-
kollektiver Petitionen werden auf diesem Peilin (Hrsg.) (2004): Blue Book of China’s Society. gewinnungsprojekte, 100.000 zum Aufbau einer
Wege nicht selten zu öffentlichen The- Analysis and Forecast on China’s Social Deve- Kalkfabrik verwendet werden und mit den restli-
lopment (2005). Peking, S. 212–219. chen 40.000 Yuan sollte eine Reserve gebildet
men. Damit sind die Voraussetzungen
Yu Jianrong (2008): Who Bears the Cost of Inter- werden.
und auch ein öffentlicher Druck zu poli- cepting Petitioners?; unter: http://en.chinaelec- 7 Auch in der ehemaligen DDR wurde das Peti-
tischem Handeln geschaffen. Dies kann tions.org/newsinfo.asp?newsid=18648 (Aufge- tionswesen als ein universelles Beschwerderecht
bis zu einem politischen Richtungswech- rufen am 18.8.2008). verstanden (vgl. Mühlberg 2004, S. 25).
sel führen (vgl. Xie 2006).
Vor dem Hintergrund zahlreicher neu-
er Gesetze, die die Rechte der chine-
sischen Bürger stärken, einer vielfälti-
ger und organisierter werdenden Zi-
vilgesellschaft sowie einer Presse, die
trotz aller Beschränkungen zunehmend
auch die Anliegen der Bürger aufgreift,
erfährt das Petitionswesen einen Be-
deutungsgewinn im Sinne eines Instru-
mentes, das nicht nur zur Herrschafts-
ausübung von oben nach unten genutzt
werden kann, sondern das sich auch
UNSERE AUTORIN

Bewegungen an der Basis zunutze ma-


chen. Wie umkämpft das Instrument der
Petitionen gegenwärtig ist, zeigen die
taktischen Manöver, mit denen kollekti-
ve Petitionsbewegungen und lokale Be-
amte einander zu überlisten versuchen.
Abschließend ist von der Erwartung aus-
zugehen, dass das Petitionswesen in der
Volksrepublik China zu mehr und größe-
ren Konflikten führen wird, deren Inhal-
te auch zu öffentlichen Themen werden
können. Allerdings bedeutet dies nicht Prof. Dr. Bettina Gransow lehrt Sinolo-
unbedingt eine Gefährdung des poli- gie am Ostasiatischen Seminar der Frei-
tischen Systems, da nach Spielregeln en Universität Berlin. Ihre aktuellen For-
verfahren wird, die von allen beteiligten schungs- und Publikationsschwerpunkte
Konfliktparteien akzeptiert werden, wo- sind: freiwillige und unfreiwillige Migra-
durch das politische System selbst eher tion in China; soziale Risiken des chine-
einen Legitimationsschub erhält. sischen Transformationsprozesses.

242
DIE NEUE ALTE ZAUBERFORMEL DER „HARMONISCHEN GESELLSCHAFT“

Böses Erwachen?
Chinas Traum von der sozialen Harmonie
Günter Schucher

oder auch gewalttätige Unruhen und wang z.B. sprach in ihrer Ausgabe vom
Konfuzius, der einst als reaktionär diffa- Kämpfe zwischen verschiedenen Natio- 8. September 2008 von über 90.000
mierte Philosoph, erlebt ein Comeback. nalitäten. Im folgenden Jahr soll die Zahl Vorfällen im Jahr 2006, mit steigender
Das von Staats- und Parteichef Hu Jintao dann dank der neuen „wissenschaftli- Tendenz. Und die gewöhnlich gut infor-
propagierte Konzept einer „Harmoni- chen Entwicklungspolitik“, die Harmonie mierte Hongkonger Zeitschrift Zheng-
schen Gesellschaft“ lehnt sich an die in der Gesellschaft anstrebt, um rund 20 ming veröffentlichte im Februar 2007 In-
Lehre von Konfuzius an. Diese neue alte Prozent abgenommen haben. Dies wird terna einer Nationalen Sicherheitskon-
Zauberformel ist mithin eine Reaktion allerdings von vielen Beobachtern, auch ferenz, wonach es 2006 sogar 112.655
auf die sozialen Folgeerscheinungen von chinesischen Wissenschaftlern, be- Massenaktionen gegeben haben soll,
des chinesischen Wirtschaftswunders. zweifelt. Die chinesische Zeitschrift Liao- darunter knapp 41.000 in den Städten
Das immer größer werdende Einkom-
mensgefälle und die daraus erwachsen-
de Unzufriedenheit äußern sich in offe-
nen und zum Teil gewaltsamen Protesten.
Die von Günter Schucher vorgestellten
Beispiele verdeutlichen die vielfältigen
Ursachen der Proteste, von denen inzwi-
schen kein Landesteil mehr verschont
bleibt. Umwelt- und Landprobleme, so-
ziale und arbeitsrechtliche Ungerechtig-
keiten, Machtmissbrauch sowie die Kor-
ruption politischer Eliten führen zu
Protesten, die letztlich den Herrschafts-
anspruch der Kommunistischen Partei in
Frage stellen. Die chinesische „Doppel-
strategie“ der Regierung und Partei setzt
in den letzten Jahren zum einen auf so-
zialen Ausgleich, auf die „nachholende“
Entwicklung ländlicher Räume und die
Etablierung verbesserter Sozialgesetze
und Rechtswege, scheut aber anderer-
seits auch vor „harten“ Maßnahmen und
Überwachungsstrategien nicht zurück.
Eine Schlüsselrolle bei der sozialen Be-
friedung kommt den lokalen Behörden
zu, die zwar durch konkrete Einzelmaß-
nahmen in ihrer Verantwortung gestärkt
werden sollen, angesichts uneindeutiger
Direktiven und aus Angst vor der Zent-
ralregierung nach wie vor aber unange-
messen auf Konflikte reagieren. 

Wachsende Unzufriedenheit und


öffentliche Massenproteste

An jedem Tag des Jahres 2005 sollen


nach Angaben des Ministeriums für öf-
fentliche Sicherheit rund 250 Mal unzu-
friedene Chinesen zum Mittel des offe-
nen Protestes gegriffen haben. Das Mi-
nisterium sprich von „Massenvorfällen“
(quntixing shijian), ein Sammelbegriff,
der das ganze Aktionsspektrum protes-
tierender Gruppen ab ca. 15 Personen Gründe für Massenproteste gibt es viele: Arbeitslosigkeit und Lohnrückstände, katastro-
einschließt: Sit-ins und Petitionen eben- phale Arbeitsbedingungen, vorenthaltene Löhne für Wanderarbeiter, der Verlust so-
so wie Demonstrationen, Straßenblo- zialer Sicherungsleistungen, ungeklärte Eigentumsrechte. Das Bild zeigt einen Wander-
ckaden, Belagerungen von Gebäuden arbeiter auf Arbeitssuche. picture alliance/dpa

243
Günter Schucher
und 72.000 auf dem Lande. An diesen ein aus Beijing angereister Rechtsan- zumal die Fabrik nur 1,5 Kilometer von
Aktionen sollen sich insgesamt 12,3 Mil- walt, der die Bauern in Taishi während der nächsten Siedlung entfernt liege,
lionen Chinesen beteiligt haben – 2005 der Wochen in ihrer Sache unterstützt wo sich in den letzten Jahren Bürger
waren es laut einer chinesischen Quelle und sich selbst an der Hungerstreikak- mit höherem Einkommen angesiedelt
nur über acht Millionen. tion beteiligt hatte. Die Behörden des haben. Wie erst im Juli bekannt wur-
Gegen die Abnahme der Proteste spricht übergeordneten Verwaltungsbezirks de, reagierten die Behörden auf die
indirekt auch, dass das Ministerium für Panyu unternahmen unterdessen zahl- Demonstration u. a. mit der Verhaftung
öffentliche Sicherheit seit 2006 keine reiche Anstrengungen, um die Abberu- einiger Demonstranten, die sie der Or-
Zahlen mehr bekannt gibt. Angeblich fung Chens zu verhindern. So erklärte ganisation der Aktion beschuldigten.
sei man nicht zuständig. Das Verschwei- eine Untersuchungskommission die Kor- Am 2. Juli 2007 berichtete Xinhua (Nach-
gen des wahren Ausmaßes der Unzu- ruptionsvorwürfe für nicht stichhaltig. richtenagentur der Regierung der VR
friedenheit lässt eher die große Sorge Mitglieder eines von den Antragstel- China), dass die Polizei in der Provinz
der chinesischen Regierung erkennen, lern gewählten siebenköpfigen Komi- Guangdong vier Personen verhaftet
dass dadurch am Ende auch ihre Legiti- tees wurden eingeschüchtert und traten hatte, weil sie am 30. Juni Wanderar-
mität in Frage gestellt wird – eine Sorge, zurück. Durch persönliche Besuche von beiter mit Spaten und Stahlrohren ver-
die spätestens seit der Demokratiebe- Distriktvertretern gelang es außerdem, prügelt haben, die am Bau eines Was-
wegung von 1989 bei allen größeren 396 der 584 Antragsteller dazu zu be- serkraftwerks in der Stadt Heyuan be-
Protesten immer mitschwingt. Während wegen, ihre Unterschriften zurückzuzie- teiligt waren. Unter den Verhafteten
die Staats- und Parteiführung keine Ge- hen, sodass die gesetzlichen Vorausset- befanden sich auch der Leiter des Si-
legenheit auslässt, auf die Bedeutung zungen für den Antrag auf Abberufung cherheitsteams der Entwicklungsgesell-
sozialer Stabilität hinzuweisen, und Chens nicht mehr erfüllt waren. Augen- schaft sowie drei Manager. Die rund
nicht unerhebliche Anstrengungen un- zeugen berichteten von einer lähmen- 300 streikenden Arbeiter hatten seit
ternimmt, die soziale Komponente ihrer den Angst unter der Bevölkerung vor vier Monaten keinen Lohn erhalten (ins-
Politik sowie auch konkrete Konfliktlö- weiteren Vergeltungsmaßnahmen. gesamt rund fünf Millionen RMB Yuan)
sungsmechanismen zu stärken, scheint Internationale Aufmerksamkeit erreg- und befanden sich im Streit mit der Ge-
dennoch das Vertrauen der Bevölke- te der Protest gegen eine Chemiefab- sellschaft sowie der auftragnehmenden
rung in konsensuale und rechtliche Ins- rik in der Hafenstadt Xiamen (Provinz Firma, die nicht zahlte, weil sie ihrerseits
titutionen nur begrenzt zu wachsen. Die Fujian). Am 1. Juni 2007, einem Freitag noch Zahlungen der Baugesellschaft
folgenden Beispiele zeigen anekdo- und damit Werktag, und an den beiden ausstehen hatte. Während Streikende
tisch einige der wesentlichen Konflikt- folgenden Tagen demonstrierten rund begannen, Einrichtungen zu deinstallie-
ursachen; sie machen deutlich, wie sich 10.000 oder sogar bis 20.000 Men- ren, wandten sich über 100 Arbeiter mit
Proteste entzünden, wer daran beteiligt schen gegen den Bau einer Chemiefa- einer Petition an die Stadtregierung. Bei
ist und wie die Regierungen auf ver- brik durch die Stadt – trotz öffentlicher dem Angriff, an dem ca. 200 Schläger
schiedenen Ebenen darauf reagieren. Missbilligung. Sie befürchteten durch beteiligt waren, wurde ein Migrant le-
die stadtnahe Produktion von offiziell bensgefährlich, sieben andere schwer
800.000 Tonnen Paraxylen pro Jahr (in- verletzt. Eventuell hatte die Kommunal-
Massenproteste terne Papiere der Umweltagentur sol- regierung mit der Baugesellschaft sogar
len von elf Millionen Tonnen sprechen) abgesprochen, den Streik gewaltsam zu
Im Sommer 2005 geriet Chen Jinshen, Umwelt- und Gesundheitsschäden für beenden; zumindest stritt sie zunächst
Vorsteher des 2.075 Einwohner zäh- sich und ihre Kinder. Die nationalen den Angriff ab und sprach nur von Zu-
lenden Dorfes Taishi (im Einzugsgebiet Umweltbehörden hatten das Projekt sammenstößen. Möglicherweise im Zu-
Guanghous, Hauptstadt der Südprovinz ohne Auflagen genehmigt, was eine sammenhang mit der Verabschiedung
Guangdong), unter Verdacht, im Zusam- Mitinitiatorin der Kampagne auch mit eines neuen Arbeitsvertragsgesetzes
menhang mit der Vergabe von Landnut- Korruption erklärte. Die Stadtregierung forderte in diesem Fall sogar der Baumi-
zungsrechten rund 100 Millionen RMB 1 hatte ihrer Ansicht nach so hohe wirt- nister Wang Guangdao schriftlich die
Yuan veruntreut zu haben. 584 Bewoh- schaftliche Wachstumsraten im Blick, entsprechende Behörde der Provinz zur
ner unterzeichneten daraufhin einen dass sie nicht auf die Vorgaben der Aufklärung auf.
Antrag zur Abberufung Chens, womit Zentralregierung für ein ausgewoge- Ehemalige Offiziere der Volksbefrei-
die gesetzliche Bedingung erfüllt war, nes Wachstum eingehen wollte. Unruhe ungsarmee haben vor den Feierlichkei-
wonach ein entsprechender Antrag die wegen des Baus gab es seit Monaten, ten zum 80. Gründungstag der Armee (1.
Unterstützung von mindestens einem aber die Präsentation einer Petition in August 2007) ihre Unzufriedenheit über
Fünftel der Wahlberechtigten benötigt. Beijing war erfolglos geblieben. Später ihre unzureichende soziale Absicherung
Um die kommunalen Rechnungsbücher wurden Diskussionsbeiträge in Chat- (Lebensunterhalt, Wohnung, Kranken-
zu bewachen, die nach Überzeugung Räumen und in Blogs von der Stadtre- und Rentenabsicherung) kundgetan.
der Bauern den Nachweis für die Kor- gierung blockiert. Doch selbst die Kont- Mehrere größere Protestaktionen soll es
ruption des Dorfvorstehers enthielten, rolle der elektronischen Kommunikation in den letzten Monaten in Beijing sowie
besetzten die Protestierenden den Sitz und Entlassungsdrohungen gegen Be- in den Provinzen Guangdong und Shan-
der Dorfregierung. Zur Untermauerung amte konnten die Aufrufe per SMS zu dong gegeben haben, darunter in Yan-
ihres Anliegens traten einige Bauern in einem „Spaziergang“ nicht verhindern. tai mit 2.000 Veteranen. Die Beijinger
den Hungerstreik. Die Lage eskalierte, Nicht einmal ein in letzter Minute am Gruppe ist seit 2004 aktiv, Höhepunkt
als die amtierende Dorfregierung sich 30. Mai verkündetes Einfrieren des Pro- war ein Sit-in von rund 1.600 Uniformier-
weigerte, auf die Rücktrittsforderungen jekts hielt die Menschen vom Demonst- ten aus 20 Provinzen vor den Toren der
einzugehen und stattdessen bewaffne- rieren für die Aufgabe des Projekts ab. Politischen Abteilung der Armee im April
te Sicherheitskräfte entsandte. Als am In den SMS wurde der Bau der Fab- 2005 in Beijing. Immer wieder hat die
12. September über 1.000 Polizisten den rik mit dem Abwurf einer Atombombe Regierung Sondermittel für die pensi-
Regierungssitz stürmten, kam es zu hef- auf die 2,3-Millionen-Stadt verglichen. onierten Soldaten versprochen, aber
tigen gewalttätigen Zusammenstößen Leukämie und Missbildungen bei Neu- nie kam etwas bei ihnen an. Für Solda-
mit den Bauern. Mehrere Dutzend Pro- geborenen seien zu befürchten (daher ten, die vor 2001 aus dem Dienst aus-
testierende wurden verhaftet, darunter die Demonstration am Welt-Kindertag), schieden, sind die lokalen Regierungen

244
zuständig, nach 2001 ist es die Armee bisweilen auch gewaltsamen Protestes BÖSES ERWACHEN? CHINAS TRAUM
selbst. Die Polizei, die die Gruppe oh- greift. Generell ist kein Landesteil mehr VON DER SOZIALEN HARMONIE
nehin beobachtet, setzt sie speziell bei von Protesten verschont. Gründe für
großen Ereignissen wie den Nationalen Unzufriedenheit gibt es sehr viele: Ar-
Volkskongressen im März jeden Jahres beitslosigkeit und Lohnrückstände, ka-
unter Druck, sich ruhig zu verhalten. tastrophale Arbeitsbedingungen und
Die wahrscheinlich größten und gewalt- Arbeitsunfälle (vor allem im Kohleberg- nehmen und meistbietend zu veräußern.
tätigsten Massenproteste der letzten bau), vorenthaltene Löhne für ländliche Nach Ansicht chinesischer Experten er-
vier Jahre ereigneten sich im Juni 2008 in Wanderarbeiter, Probleme bei der Ar- halten die Bauern nur rund zehn Prozent
der rund 460.000 Einwohner zählenden beitsplatzsuche von Hochschulabsol- des Marktwertes an Kompensationen.
Gemeinde Weng’an in der südwestli- venten, der Verlust sozialer Sicherungs- Nach Angaben des Arbeitsministeriums
chen Provinz Guizhou. Zwischen 10.000 leistungen durch Firmenbankrotte oder verloren 40 Millionen Bauern in der letz-
bis 30.000 Bewohner versammelten nicht erfolgte Anpassung der Siche- ten Dekade ihr Land durch Urbanisie-
sich am 28. Juni vor der Lokalregierung, rungsleistungen an die wirtschaftliche rung, weitere 15 Millionen werden ihres
kippten auf ihrem Marsch Polizeiautos Entwicklung, die quasi gescheiterten in den nächsten fünf Jahren verlieren.
um und setzten schließlich das Gebäu- Reformen im Gesundheits- und Renten-
de des örtlichen Büros für öffentliche Si- bereich, ungeklärte Eigentumsrechte im
cherheit in Brand. Ausgangspunkt der Wohnungswesen, Zwangsmaßnahmen Protestdynamiken
Unruhen war der Tod eines 16-jähri- in der Familienplanung, willkürlich er-
gen Mädchens, den die Behörden als hobene ländliche Gebühren oder auch Die Brisanz der Umwelt- und Landpro-
Selbstmord deklariert hatten. Die Fami- ethnische und religiöse Spannungen. bleme zeigt sich daran, das bis zur
lie bezweifelte dies und beantragte eine Eine wichtige Rolle spielt das große und Hälfte der Massenvorfälle auf dem
Autopsie. Ein Onkel geriet mit der Polizei weiter steigende Einkommensgefälle. Lande stattfindet und sich rund 20 Pro-
in Streit und wurde auf dem Heimweg Der Gini-Koeffizient 2 , ein Index für Ein- zent an Umweltfragen entzünden; die
von Unbekannten schwer zusammenge- kommensungleichheit, ist seit 1978 kon- Zahl umweltbedingter Proteste steigt
schlagen. Als die Polizei die Familie am tinuierlich gestiegen und belegt, dass dabei nach Angaben der Staatlichen
Morgen des 28. aufforderte, die Leiche sich China von einer weitgehend egali- Umweltagentur jährlich um 30 Prozent.
zu bestatten, hatte sich bereits das Ge- tären Gesellschaft zu einem der Länder Die Regierung sieht bereits die kritische
rücht weit verbreitet, das Mädchen sei in der Welt mit der größten Ungleich- Grenze an Agrarland erreicht, bei de-
von Jugendlichen mit guten politischen heit entwickelt hat. Chinesische Zeitun- ren Unterschreitung die Lebensmittel-
Verbindungen vergewaltigt und ermor- gen sprechen von einem regelrechten versorgung der Bevölkerung gefährdet
det worden, und die Menge, die sich um „Hass“ der Bevölkerung auf Neureiche wäre. Sie erließ daher zum 1. Juni 2008
den aufgebarten Leichnam versammelt und auf soziale Ungerechtigkeit. Für neue „Methoden zur Bestrafung von
hatte, geriet in Wut. Auf ihrem Weg zum das erste Halbjahr 2006 wird der Gini- Verletzungen der Regeln zum Landma-
Sitz von Partei und Regierung schwoll Index von chinesischen Sozialwissen- nagement“. Völlig unerwartet scheint
sie immer mehr an. Beschwichtigungs- schaftlern mit 0,496 angegeben, d.h. sie die Veröffentlichung von Erklärun-
versuche fruchteten nicht und schließ- die oberen 20 Prozent der Bevölkerung gen im Internet getroffen zu haben, in
lich brach die Gewalt los. erhalten 58 Prozent der Einkommen, die denen im Dezember 2007 Bauern aus
Als ein Immobilienfonds, der über die unteren 20 Prozent nur drei Prozent. vier verschiedenen chinesischen Pro-
letzten drei Jahre unter dem Verspre- Hervorzuheben sind weiterhin Umwelt- vinzen ankündigten, sie hätten ihr Land
chen hoher Zinsen rund drei Milliarden schäden und konkrete Umweltkatast- privatisiert. Die Organisatoren – eine
RMB Yuan von Tausenden Einwohnern rophen sowie der Verkauf bäuerlichen Gruppe von ca. zehn Journalisten, Aka-
der Präfektur Xiangxi in der Provinz Hu- Landes an Entwicklungsgesellschaften, demikern und politischen Aktivisten –
nan erhalten hatte, seine Zusagen nicht durch den die betroffenen Bauern von hatte zwei Jahre lang im ganzen Land
einhalten konnte, forderten finanziell lokalen Kadern ihrer Lebensgrundlage in den Dörfern geworben und soll nach
betrogene und zum Teil ruinierte Ge- beraubt werden. Landnahmen, darun- eigenen Angaben 40.000 Bauern in 20
ber in Panik ihre Einlagen zurück, bega- ter vielfach illegale, haben sich in den Provinzen für ihre Erklärung gewonnen
ben sich am 3. September 2008 (1.000 letzten Jahren zu einem der größten haben. Die Regierung zeigte sich der
nach Beijinger, 10.000 nach Hongkon- Konfliktherde in China entwickelt und Forderung nach Privatisierung nicht ge-
ger Quellen) zum Sitz der Präfektur in machen damit den ländlichen Raum wogen und unterdrückte diese Ansätze
der Stadt Jishou und verursachten dort auch weiterhin zu einem Hort der Un- einer Bewegung rasch durch Verhaf-
an den beiden folgenden Tagen Stra- ruhe, selbst nachdem die Regierung die tung von Bauern und Organisatoren.
ßenblockaden und Verkehrsstaus und Bauern von den Steuer- und Gebühren- Beobachter registrieren seit einigen
schließlich auch die Einstellung des lasten weitgehend befreit hat, die sie Jahren Anzeichen für eine Veränderung
Zugverkehrs. Die Regierung soll neben früher auf die Dorfstraße brachten. Im im Protestverhalten, z.B. dass die Pro-
bewaffneter Polizei auch die Armee ein- Jahr 2006 verzeichnete China durch teste im Trend immer mehr Teilnehmer
gesetzt haben, um sie zu zerstreuen. Ein Naturkatastrophen und Umweltschä- haben, organisierter werden, länger
ähnlicher Vorfall ereignete sich nur 15 den einen Nettoverlust an Agrarland im dauern und immer häufiger konfronta-
Tage später in der Stadt Lishui in der Umfang von 3.082 Quadratkilometer. tiv ablaufen, wobei die Gewaltbereit-
Provinz Zhejiang. Dies machte 55 Prozent des Gesamt- schaft zu steigen scheint. Zum Teil wer-
verlustes aus, weitere 33 Prozent gingen den auch das Auftreten von „Protestlei-
durch die Baumaßnahmen verloren, bei tern“, also Aktivisten, und Ansätze einer
Ursachen der öffentlichen denen die Bauern nicht selten nur un- Vernetzung verzeichnet.
Massenproteste zureichend für das ihnen genommene Grundsätzlich aber ist weiterhin von
Land entschädigt werden. Hintergrund der Fragmentierung der Proteste auszu-
Wie diese wenigen Beispiele anschau- dafür sind die ungeklärten Eigentums- gehen: Zum einen aufgrund der immer
lich zeigen, gibt es in China keine Be- rechte an Boden, die es den Lokalregie- noch prägenden ehemaligen sozialen
völkerungsgruppe mehr, die nicht ir- rungen ermöglichen, das von ihnen „kol- Organisation in zellularen Einheiten wie
gendwann zum Mittel des offenen und lektiv“ verwaltete Land den Pächtern zu Unternehmen und Nachbarschaften,

245
Günter Schucher
Eine vor kurzem ar-
beitslos gewordene
Chinesin mit einer
Petition, in der
sie ihren Unmut
äußert. Das immer
größer werdende
Einkommensgefälle
und die daraus er-
wachsende Unzu-
friedenheit äußern
sich in offenen Pro-
testen, die Zweifel
am chinesischen
Rechtssystem und
Regime ausdrücken.
picture alliance/dpa

zum anderen aus taktischen Erwägun- Agitation auch ökonomische Probleme 3,3 SMS, was 58,6 Milliarden SMS im
gen, um den Staat nicht zu reizen. Vor in politische Forderungen münden, wie Monat ausmachte. Auch über Internet-
allem aber entzündet sich der größte die Interneterklärung zur Privatisierung seiten – China hat derzeit 123 Millio-
Teil der Proteste an konkreten Einzelfra- von Agrarland gezeigt hat. nen Internetnutzer – kann zu Aktionen
gen, die in engem Zusammenhang mit Diese Aktion der Bauern sowie die Mo- aufgerufen werden, wie z.B. zu den
der (im Grunde positiven) wirtschaftli- bilisierung zum Bürgerspaziergang in Blockaden gegen den französischen
chen Entwicklung stehen, in deren Ver- Xiamen belegen außerdem anschau- Handelskonzern Carrefour nach den
lauf es zu Interessenkonflikten kommt. lich die wachsende Bedeutung der Angriffen auf die olympischen Fackel-
Am ehesten könnten – auch angesichts modernen Kommunikationsmittel für träger in Paris im April dieses Jahres.
der vielen Nichtregierungsorganisatio- die Mobilisierung, womit die Möglich- Dass die Regierung diese Kommunika-
nen in diesem Bereich – Aktivitäten zum keiten der Regierung zur Verhinderung tionsmittel nur begrenzt kontrollieren
Schutz der Umwelt als Teile einer sich und Kontrolle von Protesten kompli- kann, zeigen das Entstehen und die
herausbildenden gesellschaftlichen Be- zierter werden. Ende März 2008 wa- Zunahme von „flash mob“-Aktionen, bei
wegung begriffen werden. Allerdings ren über 574 Millionen Mobiltelefone denen sich Menschen scheinbar spon-
können bei ausreichendem Leidens- in China in Benutzung und jeden Mo- tan und kurzzeitig zu (noch) politisch
druck und deutlichem Fehlverhalten der nat nehmen sie um knapp zwei Prozent harmlosen und anscheinend sinnlosen
Behörden sowie bei entsprechender zu. Jeder Besitzer verschickte pro Tag Anlässen versammeln.

246
Gefährdungspotential für die vateigentümern in der Partei geschafft BÖSES ERWACHEN? CHINAS TRAUM
Herrschaft der KP zu haben scheint, diese in die Entschei- VON DER SOZIALEN HARMONIE
dungsprozesse einzubeziehen. Darauf
Der Spaziergang in Xiamen kann als ei- dass sie dennoch Bedenken hat, ob dies
ne neue Form des Protestes gelten. Hier ausreicht, könnten die Diskussionen um
traten wohlhabendere Bürger der Mit- mehr innerparteiliche Demokratie und
telschicht mit bewusst friedlichen Mit- die Ausweitung der konsultativen De- fener, wie sie oben in dem Beispiel aus
teln für den Erhalt ihrer Wohn- und Le- mokratie im Staat hinweisen. Weng’an deutlich wird. Das Gerücht,
bensbedingungen ein, bevor diese ver- ein Verbrechen werde von den Behör-
schlechtert wurden. Schon seit länge- den geleugnet, um politisch einflussrei-
rem wurden diese Schichten öffentlich Arbeitskonflikte und Arbeitsproteste che Täter zu decken, führte zum Aufruhr
als „Wohnungseigentümer“ aktiv, wenn Zehntausender, deren Unzufriedenheit
ihre Wohnrechte durch Stadtentwick- Andere sehen denn auch in den Arbei- mit den lokalen Kadern seit Jahren ge-
lungsmaßnahmen direkt bedroht wur- tern die gefährlichere Gruppe, ausge- wachsen war. Diese hatten auf Kosten
den. Jetzt aber protestierten sie gegen hend von deren früherer – zumindest der Bevölkerung die Ausbeutung lokaler
die allgemeine Bedrohung durch eine propagandistischer – Position als politi- natürlicher Ressourcen vorangetrieben
mögliche Gesundheitsgefährdung. Dies sche Avantgarde im sozialistischen Chi- und dafür immer wieder Bewohner oh-
wiederholte sich inzwischen in Shang- na und ihrem höheren Organisations- ne ausreichende Entschädigung umge-
hai, wo Bürger gegen eine Verlängerung grad im Vergleich zu anderen Gruppen siedelt. Sie handelten in enger Kumpa-
der Magnetschwebebahn auf die Stra- wie z.B. den Bauern. Arbeitskonflikte nei mit den Mineneignern und nutzten
ße gingen, sowie in Chengdu (Provinz und -proteste dürften auch unter dem kriminelle Banden, die aufbegehrende
Sichuan) und Gulei, wo es ebenfalls um Gesichtspunkt der Akteursgruppen den Einwohner drangsalierten. Die hohe Ra-
die Ansiedlung von Chemiefabriken geht relativ größten Teil der Proteste ausma- te nicht aufgeklärter Verbrechen deutet
– Gulei liegt im Süden von Fujian und soll chen. Aber auch sie sind in der Regel weiterhin auf korrumpierende Bezie-
der neue Standort der zuvor in Xiamen spontan und unorganisiert und entzün- hungen zur lokalen Polizei hin.
geplanten Fabrik werden. Die Aktions- den sich vornehmlich an wirtschaftli- Machtmissbrauch, „Gangsterkapitalis-
form war jeweils ausdrücklich friedlich, chen Forderungen. Selbst wenn der mus“ und Korruption der politischen Elite
in Chengdu lautete der Aufruf im Inter- Anteil kollektiver Konflikte (zumindest Chinas sowie des Gefühl sozialer Unge-
net: „Am 4. Mai von 15 bis 17 Uhr, Spa- an der Zahl der Beteiligten gemessen) rechtigkeit sind es, die immer häufiger
ziergang zwischen Jiuyan Brücke und hoch ist, entsteht dennoch keine „kol- dafür sorgen, dass sich nicht direkt Be-
Wangjiang Turm. Keine Transparente, lektive Macht“, die Auseinandersetzun- troffene dem Protest anderer anschlie-
keine Slogans, keine Ansammlung, keine gen bleiben sporadisch und voneinan- ßen und diesen eskalieren. Der chinesi-
Demonstration“. Wie auch bei anderen der isoliert. Arbeiter versuchen sogar, sche Wissenschaftler Yu Jianrong spricht
Protesten zu beobachten, berufen sich den Eindruck einer „Bewegung“ gezielt weiterhin vom Versagen der Regierung,
die Beteiligten auf vorhandene Rechte zu vermeiden und beschränken sich in ein gerechtes System zur institutionali-
(„rightful resistance“), hier wegen der ihren Aktionen auf das eigene Unter- sierten Beilegung von Konflikten zu ins-
Bedrohung erworbenen Wohnungsei- nehmen, um so die Erfolgschancen ih- tallieren, das zu dem Besorgnis erregen-
gentums auf das kürzlich verabschiede- res Protestes zu erhöhen. den Aufstauen unspezifischer Wut führt,
te Gesetz zum Schutz von Privateigen- Allerdings werden auch die Konflikte die sich bei geeigneter Gelegenheit Luft
tum. „We are careful not to talk about im Arbeitsbereich zunehmend konfron- macht. Er sieht denn auch einen Trend zu
politics, only our health and our homes“, tativ, wofür u. a. spricht, dass immer we- gewalttätigem „Aufruhr zum Dampf ab-
wird ein chinesischer Geschäftsmann in niger Konflikte auf Unternehmensebe- lassen“ (anger-venting riots). Diese Tumul-
der Financial Times zitiert. Dieses Phäno- ne gelöst werden und dass Schlich- te zeichnen sich dadurch aus, dass sie
men wird daher auch als Nimbyismus tungsbemühungen auf allen Ebenen relativ schnell eskalieren und sich sehr
bezeichnet: „Not-In-My-Backyard“. der institutionellen Skala (Schlichtung, bald von dem eigentlichen Anlass ent-
Manche Kommentatoren halten die ver- Schiedsverfahren, Gerichtsverfahren) fernen, aber auch unorganisiert und oh-
stärkten Aktivitäten von Angehörigen immer häufiger ergebnislos bleiben. Ein ne Führung sind, da sie nur auf so emp-
der Mittelschicht für die gefährlichste wesentlicher Grund dürfte dabei auch fundene Ungerechtigkeiten reagieren.
Entwicklung, was die soziale Stabili- sein, dass die chinesischen Gewerk- Während sich Proteste, in denen Betrof-
tät und die Herrschaft der Kommunisti- schaften aufgrund ihrer Nähe zum Staat fene ihre (meist gesetzlich verbrieften)
schen Partei (KP) betrifft. Noch sei sie von keiner der beiden Konfliktparteien Rechte einklagen, an konkrete Adressa-
zu klein und aus taktischen Gründen als Interessenvertreter anerkannt sind. ten richten und vom Vertrauen in das po-
noch zu sehr mit den politischen Macht- Ohnehin agieren die Gewerkschaften litische System geprägt sind, drückt die-
habern verbandelt, um deren Macht hauptsächlich als Vermittler. Arbeiter se neue Art von Protesten Zweifel an der
wirklich bedrohen zu können, aber dies nehmen lieber die Hilfe von Rechtshil- Effizienz des Rechtssystems und Miss-
werde sich mittelfristig ändern. Wenn festellen in Anspruch als dass sie sich trauen gegen ein diffuses „Oben“ aus
die Definitionen auch abweichen, so an die Gewerkschaften wenden, um und richtet den Ärger an das Regime als
sind sich doch alle einig, dass die Mit- ihre Rechte einzuklagen. Diese sollen solches. Diesem Trend muss die Regie-
telschichten in den nächsten Jahren sie „Parasiten der Verwaltung“ nennen, rung entschieden entgegentreten, wenn
rapide wachsen werden. Grundlage „die durch die gleichen Nasenlöcher sie die Unterminierung ihrer Legitimität
der Gefährdungsprognose ist die The- atmen wie der Generalmanager“. verhindern will.
se, dass Mittelschichten unvermeidlich Eine ebenso beunruhigende Entwicklung
die Forderung nach Partizipation, also könnte der Schulterschluss zwischen An-
nach mehr Demokratie aufstellen wer- Proteste drücken Zweifel am gehörigen der Mittelschichten und „be-
den. Erwiesen ist dies nicht, und die Ent- Rechtssystem und Regime aus nachteiligten Gruppen“ wie Bauern und
wicklung in China lässt auch manchen Wanderarbeitern in gemeinsamen Pro-
wieder daran zweifeln, zumal es die Sehr beunruhigend aus Sicht der Regie- testaktionen sein. Anlass dazu bieten
Kommunistische Partei (KP) durch die Er- rung ist vor allem ein anderes Phänomen: Fälle wie der geplatzte Immobilienfonds,
möglichung der Mitgliedschaft von Pri- die Beteiligung scheinbar Nicht-Betrof- in den nicht nur Wohlhabende inves-

247
Günter Schucher
tiert haben, sondern auch Bauern, die der Eingrenzung und Isolierung verfol- die Landnahmen, eindämmen zu kön-
ihr Land an Entwicklungsfirmen verkauft gen, statt durch brutale Unterdrückung nen. Zwar wurde das Land im kollekti-
hatten und mit der Spekulation ihren Le- noch weitere Sympathisanten auf den ven Besitz gelassen und nicht den Bau-
bensunterhalt sichern wollten. Das Glei- Plan zu rufen. Grundsätzlich soll eine ern übergeben, aber die Kompensatio-
che gilt für Aktiengeschäfte, mit denen ausgewogene Politik, die neben wirt- nen sollen künftig höher sein. Außerdem
130 Millionen chinesische gumin (Aktio- schaftlichen auch ökologische und so- forderte Ministerpräsident Wen die Re-
näre) ihr Glück versuchen und die ange- ziale Ziele verfolgt, die Widersprüche gierungen auf, die Größe des für Bau-
sichts der Kurseinbrüche seit Ende 2007 abschwächen und zur gesellschaftli- vorhaben genutzten Landes streng zu
viele Verlierer hervorgebracht haben. chen Harmonie führen. Konkrete Ein- kontrollieren, den Schutz von Agrarland
zelprogramme sollen die Einkommens- zu verstärken und dessen Nutzung für
unterschiede verringern, das in der Entwicklungsvorhaben ohne Genehmi-
Die „Doppelstrategie“ der Entwicklung abgehängte Land durch gung zu verbieten. Mindestens 1,8 Mil-
chinesischen Regierung vermehrte Investitionen gegenüber den liarden Mu 3 Agrarland (120 Millionen
Städten aufholen lassen, durch Gebüh- Hektar) müssten erhalten bleiben.
Die Verhinderung bzw. die richtige Be- renerlasse für Geringerverdienende Tatsächlich zeigen Untersuchungen,
handlung von Massenvorfällen gilt in mehr Bildungsgerechtigkeit ermögli- dass sich immer mehr Chinesen der
China als wichtiger Test für das Regie- chen oder auch dafür sorgen, dass die Rechtsmittel bedienen, um ihre Inte-
rungsgeschick der Kommunistischen Wanderarbeiter regelmäßig ihren vol- ressen einzuklagen, sogar gegenüber
Partei (KP). Partei und Regierung haben len Lohn erhalten. den Behörden selbst. Zu einem Gutteil
in den letzten Jahren ihren Umgang mit Mit der gezielten Ausweitung der Sozi- wurden sich die Betroffenen durch die
sozialen Protesten verändert und ver- algesetze will sich die Regierung mehr neuen Gesetze auch erst ihrer Rechte
feinert. Seit ihrem Amtsantritt legt die auf „die Verbesserung der Lebensbe- bewusst. Zugleich weisen statistische
Partei- und Staatsführung unter Hu Jin- dingungen des Volkes konzentrieren“ Angaben aber darauf hin, dass die Lö-
tao und Wen Jiabao einerseits großen und „eine solide gesetzliche Basis für sung von Konflikten im Schlichtungs- und
Wert darauf, sich als Advokat sozialer eine harmonische Gesellschaft schaf- Schiedsverfahren sowie vor Gerichten
Interessen – vor allem auch benach- fen“, erklärte Parlamentspräsident Wu immer komplizierter zu werden scheint.
teiligter Gruppen – zu präsentieren, Bangguo den Delegierten des Natio- So werden zwar über 90 Prozent der
scheut andererseits aber auch nicht nalen Volkskongresses (NVK). China Schiedsverfahren von Arbeitnehmern
vor „harten“ Maßnahmen zurück. Kern- dürfe nicht länger auf einem langen angestrengt, diese gewinnen aber nur
bestandteile dieser „Doppelstrategie“ wirtschaftlichen und einem kurzen so- weniger als die Hälfte der Verfahren.
sind das Eingeständnis, dass soziale zialen Bein humpeln. Tatsächlich kann Dies erklärt, warum ebenfalls immer
Widersprüche im Prozess der Moder- der X. Nationale Volkskongress in sei- mehr Betroffene diese Institutionen ent-
nisierung unvermeidlich sind, der Aus- ner Amtszeit von 2003 bis 2007 dies- weder gar nicht erst anrufen oder bei
bau des Rechtssystems und die Aus- bezüglich auf eine positive Bilanz zu- deren Ineffizienz auf die Straße gehen.
weitung institutionalisierter Wege zur rückblicken. Während vorher nur zwei Dass dies noch verstärkt auf dem Lan-
Konfliktaustragung, die Verstärkung bis sechs Prozent der neuen Gesetze de geschieht, könnte andererseits die
des Polizeiapparates, vor allem an der sozialen Fragen galten, aber 60 Pro- Hoffnung nähren, dass mit dem Ausbau
Basis, eine differenzierte Presse- und zent wirtschaftlichen, hat sich der An- des Rechtswesens, größerer Professio-
Informationspolitik sowie die bewuss- teil Ersterer in diesen fünf Jahren auf 20 nalisierung der Gerichte sowie mehr Bil-
te Übertragung der Verantwortung für Prozent erhöht, auf Provinzebene und dung und Rechtsbewusstsein (wie in den
die Beilegung der Konflikte auf die Lo- darunter sogar auf 40 Prozent. Im Be- Städten) doch mehr Konflikte auf „lega-
kalregierungen. reich des Arbeitsrechts verabschiedete lem“ Wege gelöst werden können.
Mit dem Programm zur Errichtung einer der Nationale Volkskongress im Jahr
harmonischen Gesellschaft, das am 2007 das Arbeitsvertragsgesetz und
11. Oktober 2006 vom Zentralkomitee das Beschäftigungsförderungsgesetz Geänderte Polizeistrategien
verabschiedet wurde und Teil des neu- sowie schließlich am 29. Dezember das
en „wissenschaftlichen Entwicklungs- Gesetz über Schlichtung und Schieds- Mit der Erkenntnis unter Sicherheits-
konzepts“ der Partei ist, reagierte die verfahren bei Arbeitsstreitigkeiten, das experten in China, dass die schnel-
Hu-Führung auf die sich immer stärker am 1. Mai 2008 wirksam wurde. Durch le Unterdrückung aller Proteste nicht
abzeichnenden sozialen Folgen des den Wegfall der Gebühren und die mehr möglich sei, die sich seit Ende
rein auf Wirtschaftswachstum setzen- Verlängerung der Antragsfrist sollen der 1990er Jahre durchsetzte, begann
den Kurses ihres Vorgängers Jiang Ze- mehr Arbeitnehmer in die Lage versetzt auch ein Umdenken hinsichtlich der
min. Diese Resolution ist das erste grö- werden, die Schlichtungs- und Schieds- Polizeistrategien und entsprechender
ßere Parteidokument, das sich zu der stellen anzurufen; durch verkürzte und Trainingsprogramme. Deren Hauptbe-
Frage der Massenvorfälle äußert. Das eindeutige Fristen soll verhindert wer- standteile sind, Proteste möglichst klein
Eintreten für die eigenen Interessen ist den, dass sich Streitfälle – auch unter zu halten, d.h. nicht durch eigenes ag-
danach kein feindlicher Akt mehr und dem Einfluss der Arbeitgeber und mit gressives Auftreten Passanten zu Sym-
schon gar nicht primär von feindlichen, ihnen verbündeter Lokalkader – end- pathisanten zu machen, und sie lokal
meist ausländischen Kräften gesteuert. los hinziehen; und durch die gestärk- zu begrenzen, d.h. möglichst überre-
Bei unrechtmäßiger Reaktion der ver- te Rechtskraft der Urteile, vor allem in gionale Berichterstattung und Kom-
antwortlichen Regierungen, vor allem Lohnfragen und bei der Erstattung me- munikation ebenso zu verhindern wie
auf lokaler Ebene, ist es sogar gerecht- dizinischer Kosten nach Arbeitsunfäl- die Entsendung von Delegationen in
fertigt, diese Interessen kollektiv und len, soll die Entschädigung der Arbeit- die Provinzhauptstädte oder gar nach
mit dem Mittel des offenen Protestes nehmer gewährleistet werden. Beijing. Größere Toleranz und Über-
zu vertreten. Entsprechend sollen Ak- Auch die Verabschiedung des Geset- zeugungsarbeit gegenüber den Teil-
tionen, bei denen keine staatsgefähr- zes zum Schutz des Privateigentums nehmern an Protesten soll mit dem He-
denden Ziele vertreten werden, auch auf dem Nationalen Volkskongress im rausgreifen einzelner Verantwortlicher
toleriert und friedlich gelöst werden. März 2007 erfolgte mit der Hoffnung, gekoppelt werden, das aber möglichst
Und die Polizei soll eher eine Strategie die Hauptursache ländlicher Proteste, erst nach den Aktionen erfolgen soll,

248
um eine Radikalisierung der Teilnehmer im Internet zu blocken oder zu löschen, BÖSES ERWACHEN? CHINAS TRAUM
zu vermeiden. die „die Staatssicherheit gefährden, VON DER SOZIALEN HARMONIE
In den letzten 20 Jahren, vor allem Staatsgeheimnisse preisgeben, zum
nach Tiananmen 4 , ist die Zahl der Po- Sturz der Regierung aufrufen“ oder „die
lizei- und Sicherheitskräfte ständig soziale Ordnung stören“, so das Infor-
gestiegen. In Reaktion auf die Zunah- mationsministerium. Zugleich hat sich in
me von Protesten wurde zusätzlich zur der Vergangenheit aber immer wieder kann eine gewisse Autonomie der unte-
Professionalisierung in ganz China die gezeigt, dass die Regierung durch das ren Ebenen darüber hinaus der Spitze
Präsenz der Sicherheitskräfte in der Zurückhalten von Informationen durch zusätzlichen Handlungsspielraum ver-
Öffentlichkeit erhöht sowie verstärkt lokale Behörden bei deren letztendli- schaffen und Schuldzuweisungen für
spezialisierte Anti-Aufruhr- und Anti- chem Bekanntwerden in noch größe- Ungerechtigkeiten von ihr ablenken.
Terror-Einheiten aufgebaut. Außerdem re Bedrängnis kommt. Beispiele sind Während sie Unruhen, die das Regime
wurden im Zuge der Lokalisierungsstra- die SARS-Krise 2003 und kürzlich der nicht unmittelbar bedrohen, schein-
tegie Polizeikräfte auf die Stadtbezirks- Milchpulverskandal. Insofern blitzt von bar toleriert und deren Regelung unter
und Dorfebene verlagert; die lokalen Zeit zu Zeit in der Führung die Erkennt- bestimmten Bedingungen der lokalen
Polizeistationen gelten als die wichtigs- nis auf, dass die Presse auch eine Kon- Ebene überträgt, kann sie sich selbst
ten Basiseinheiten, die in den Kreisen trollfunktion ausüben könnte und eine auf die begrenzte Zahl größerer Vor-
künftig über 85 Prozent der Sicherheits- umfangreichere kritischere Berichter- fälle konzentrieren.
kräfte stellen sollen. Ende Juni 2007 stattung eventuell auch die Eskalation Eine Untersuchung Beijinger Journalis-
hatten die Sicherheitsbehörden über von Problemen vermeiden helfen kann ten ergab allerdings, dass viele lokale
56.000 Bezirkswachen eingerichtet mit – wie z.B. nach dem verheerenden Erd- Kader nicht in der Lage sind, angemes-
rund 100.000 Polizisten sowie knapp beben in Sichuan im Mai 2008. So rief sen auf Konflikte zu reagieren. Man-
88.000 Dorfwachen mit ebenso vielen Parteichef Hu zu Anfang des Jahres gelnde Analysefähigkeit, langsames
Polizisten. Diese Maßnahmen sollen 2008 die Propagandafunktionäre zu Reagieren, gepaart mit der Anweisung
das Verständnis der Polizei für die ört- mehr Realitätssinn und mehr Volksnähe von oben, keine Massenvorfälle entste-
lichen Probleme erhöht, ihre Kommuni- auf; denn die Zufriedenheit des Volkes hen zu lassen, bzw. der Angst vor Kritik
kation mit der Bevölkerung verbessert, sei ein Maßstab für die Arbeit der Par- führen dann zu der Schlussfolgerung,
ihr öffentliches Ansehen gesteigert und tei. Und im Juni erklärte er bei einem soziale Stabilität sei schlicht das Nicht-
so die Zahl der Unruhen verringert ha- Besuch in der Redaktion der Volkszei- stattfinden von Protesten („no trouble
ben. tung, dem Sprachrohr der Partei, dass is good performance“). Im praktischen
sich die Medien zur Beeinflussung der Handeln ist das Ergebnis häufig die
öffentlichen Meinung in attraktiverer Unterdrückung von Protesten oder
Überwachungssysteme und und innovativerer Weise präsentieren die Verschleierung von Vorfällen. Die
Maßregelung der Medien müssten. Beobachter schlossen daraus, Zentralregierung hat daher ihre An-
dass sich die Partei zu mehr Transpa- strengungen in der Kaderausbildung
Damit gehen die Verbesserung von renz entschlossen habe. Zugleich sieht verstärkt und die Qualitätsstandards
Überwachungssystemen und die Schaf- aber das „Gesetz zur Reaktion auf Not- für Behörden- und Parteivertreter er-
fung eines Informationsmanagements fälle“, das im November 2007 in Kraft neuert. Durch regelmäßige Treffen mit
für die mobile ländliche Bevölkerung trat, vor, dass Medien, die ungeneh- Beschwerdeführern sollen die lokalen
einher. Dies schließt die Einrichtung von migt über Naturkatastrophen, Epide- Beamten zudem deren Sorgen besser
Überwachungssystemen im großen Stil mien oder größere Störungen der öf- verstehen lernen. Wenn die Zentralre-
ebenso ein wie die schärfere Kontrolle fentlichen Ordnung berichten, mit bis gierung allerdings einerseits das Recht
des Internets. In vielen Städten – darun- zu 100.000 RMB Yuan Strafe zu rech- zum Vorbringen von Beschwerden be-
ter in Beijing im Vorfeld der olympischen nen haben. tont, andererseits aber wie vor den
Spiele – wurden Kameras und Videosys- Olympischen Spielen alle Behörden
teme installiert, vornehmlich zur Kont- dazu aufruft, keine Petitionäre mehr
rolle des Verkehrsflusses, aber auch in Lokale Verantwortung nach Beijing kommen zu lassen, dann
Banken, auf Märkten und in abgelege- sind dies im besten Fall „gemischte“ Si-
nen Straßen. Alle Hostels in Distriktstäd- Eine wesentliche Dimension im Umgang gnale, die wenig geeignet scheinen,
ten sollten Ende 2007 an das polizeili- mit Protesten ist das Verhältnis zwischen die Verlässlichkeit der Behörden zu
che Informationssystem angeschlossen der zentralen Führung und den lokalen steigern und Machtmissbrauch zu ver-
sein. Als Prinzip gilt: „die jeweilige Ein- Beamten und die Übertragung der Ver- hindern.
heit ist verantwortlich, die Regierung antwortung für die Konfliktbewältigung Ohnehin ist die Angst der Lokalkader
überwacht“. Insgesamt ist die Über- auf die Lokalregierungen. Zwar ist die vor Fehlverhalten nicht ganz unberech-
wachungsdichte allerdings noch weit Umsetzung zentraler Leitlinien auf der tigt; denn nach den Anweisungen des
geringer als in europäischen Städten, lokalen Ebene schwer zu kontrollieren Ministerium für Sicherheit sind die Leiter
aber die Polizei will auch Informanten in und vor allem die untersten Kader und von Basiseinheiten ihres Postens zu ent-
Religionsgemeinschaften und anderen direkten Adressaten neigen eher zur heben und disziplinarisch zu bestrafen,
aus ihrer Sicht potentiell gefährlichen Unterdrückung als zu Verhandlungen. wenn es aufgrund der falschen Behand-
Gruppen und Organisationen platzie- Auch kann die lokale Unterstellung lung von Massenvorfällen zu schweren
ren und kann auch – wie nicht zuletzt die der Polizei leicht zur Kumpanei mit den Verlusten kommt, wenn Vorfälle ernsthaft
Olympiade gezeigt hat – auf Freiwillige örtlichen Behörden führen, die sie für eskalieren, wenn sie illegale Aktivitäten
in der Bevölkerung bauen. ihre Belange einsetzt. Aber durch die nicht untersuchen, darüber nicht berich-
Meldungen über die Kontrolle und Stärkung der lokalen Verantwortung ten und dadurch Unruhen verlängern
Maßregelung der Medien gibt es im- kann das frühzeitige Erkennen einer und wenn durch Folter, missbräuchli-
mer wieder, und China gilt zu Recht als Lösung vereinfacht und eine mögliche chen Waffeneinsatz oder Gewalt Men-
weltweit größtes Gefängnis für kriti- Eskalation verhindert werden. In einem schen sterben. Die lokalen Regierungen
sche Journalisten. Eine „Great Firewall“ hierarchischen politischen System mit sollen den Gebrauch von Gewalt ein-
soll helfen, unliebsame Informationen Autoritäten auf verschiedenen Ebenen schränken und „zwischen kollektiven

249
Günter Schucher
Hilferufen an die höheren Autoritäten aus dem Traum von der Harmonie ge- Schucher, Günter (2007): Chinas Streben nach
und Gesetzesverletzungen“ unterschei- ben wird, muss vorläufig offen bleiben. Harmonie: Wunsch und Wirklichkeit. In: China
aktuell, Nr. 5/2007, S. 40–69.
den. Polizei soll nur eingesetzt werden, Ein wichtiger Faktor dabei wird das Ver- Schucher, Günter (im Erscheinen): Chinas neues
wenn bei Massenvorfällen die Gesetze hältnis zwischen Zentral- und Lokalre- Arbeitskonfliktgesetz. In: China Aktuell, Nr. 4/
verletzt werden. gierung sein. Die Zentralregierung ist 2008.
In Abhängigkeit von der Größe des Pro- bei der Verwaltung des Landes auf die Tanner, Murray Scot/Green, Eric (2007): Princi-
testes fordert die Zentralregierung ihre lokalen Behörden angewiesen und ver- pals and Secret Agents: Central versus Local
Control Over Policing and Obstacles to ‘Rule of
mehr oder weniger schnelle und direk- sucht durch verschiedenste Maßnah- Law’ in China. In: The China Quarterly, Nr.
te Benachrichtigung. Unter Beschwer- men – von der Neustrukturierung der 191/2007, S. 644–670.
deführern ist nicht zuletzt deshalb die Behörden, Ausbildungsmaßnahmen und Wacker, Gudrun/Kaiser, Matthias (2008): Nach-
Schlussfolgerung verbreitet: „Kleiner Beförderungsrichtlinien für die Beamten haltigkeit auf chinesische Art. Das Konzept der
‚harmonischen Gesellschaft’. (SWP-Studie). SWP,
Aufruhr kleine Lösung, großer Aufruhr über die Beschränkung ihrer Machtbe- Berlin, 26 S.
große Lösung, kein Aufruhr keine Lö- fugnisse durch Verwaltungsgesetze bis Yu, Jianrong (2008): Emerging Trends in Violent
sung“ (xiao nao xiao jiejue, da nao da hin zu härterem Vorgehen gegen Kor- Riots. In: China Security 4, Nr. 3/2008, S. 75–81 .
jiejue, bu nao bu jiejue). Denn die Regie- ruption und Machtmissbrauch – diese
rung bleibt so für die Bevölkerung stets zur verlässlichen Umsetzung der po-
der „letzte Rettungsanker“. Wenn Unru- litischen Leitlinien zu veranlassen. Zu-
ANMERKUNGEN
hen aus dem Ruder laufen, greift sie ein gleich bleiben viele Anreize vage und
und maßregelt durchaus auch die loka- doppeldeutig und im Zweifelsfall orien- 1 Der Renminbi (RMB) ist die Währung der
len Kader. Im Fall Weng’an sollen Par- tieren sich die Lokalkader an den Kriteri- Volksrepublik China. Die internationale Abkür-
zung ist CNY, in China wird die Abkürzung RMB
teichef Hu und das für Sicherheit zustän- en Wirtschaftswachstum und Stabilität verwendet. Die Währung wird in Yuan, Jiao und
dige Politbüromitglied Zhou Yongkang und setzen diese mit ihren eigenen Mit- Fen unterteilt. Ein Yuan entspricht 10 Jiao bzw. 100
selbst „wichtige Anweisungen“ gege- teln um. Die daraus resultierenden Kon- Fen.
ben haben, die sehr schnell zu Einrich- flikte erhöhen den Druck auf die Zent- 2 Der Gini-Koeffizient – oder auch Gini-Index
tung einer Untersuchungsgruppe und ralregierung, da sie in der Konsequenz – ist ein statistisches Maß, das von dem italieni-
schen Statistiker Corrado Gini zur Darstellung
dann zur Absetzung der lokalen Füh- das Vertrauen in die politischen Institu- von Ungleichverteilungen entwickelt wurde. Der
rungsriege führten. Zugleich wurde in tionen zerstören können. Mit ihrem di- Koeffizient kann z.B. als Kennzahl für die Un-
und vor der Presse relativ offen über den rekten Eingreifen wiederum riskiert die gleichverteilung von Einkommen oder Vermögen
Fall berichtet und das Recht der Massen Zentralregierung, dass sich im Falle der eingesetzt werden. Der Wert kann beliebige Grö-
ßen zwischen 0 und 1 annehmen. Je näher der
zur Überwachung betont. Damit machte Erfolglosigkeit das Misstrauen gegen Gini-Koeffizient an 1 ist, desto größer ist die Un-
die Regierung nebenbei auch allen üb- sie selbst und gegen das politische Sys- gleichheit.
rigen Lokalregierungen ihre Entschlos- tem im Ganzen richtet. 3 Mu ist ein chinesisches Flächenmaß (1 MU =
senheit im Kampf für gesellschaftliche 1/15 Hektar = 6,67 Ar).
Harmonie deutlich. 4 Auf dem Tiananmen-Platz (dem Platz [vor
dem Tor] des himmlischen Friedens) fand am 4.
Die Regierung nutzt das vorhandene Juni 1989 ein Massaker statt, in dessen Folge Hun-
LITERATUR
hohe Vertrauen in ihre sozialpolitische derte von Menschen, vornehmlich Studenten,
Aufrichtigkeit und ihren wirtschaftlichen Cai, Yongshun (2008a): Power Structure and Re- vom chinesischen Militär getötet wurden.
Erfolgskurs, um sich selbst als fähig und gime Resilience: Contentious Politics in China. In:
gerecht darzustellen und die Schuld British Journal of Political Science, Nr. 38/2008,
S. 411–432.
für Ungerechtigkeiten auf die lokalen
Cai, Yongshun (2008b): Social Conflicts and
Kader abzuwälzen. Während die Hu- Modes of Action in China. In: The China Journal,
Wen-Führung einerseits fiskalische Auf- Nr. 59/2008, S. 89–109.
gaben wieder rezentralisiert hat, lastet Chen, Yali (2008): Protest and Policing: Chal-
sie andererseits den Lokalregierungen lenges for the Beijing Olympics. In: China Secu-
rity, Nr. 2/2008, S. 59–71 .

UNSER AUTOR
die Schattenseiten des Wirtschaftsauf- Chung, Jae Ho, et al. (2006): Mounting Chal-
schwungs an. Diese Strategie soll zur lenges to Governance in China: Surveying Col-
politischen Stabilisierung beitragen. lective Protestors, Religious Sects and Criminal
Organizations. In: The China Journal, Nr. 56/
2006, S. 1–31 .
Fewsmith, Joseph (2008): An “Anger-Venting”
Böses Erwachen? Mass Incident Catches the Attention of China’s
Leadership. In: China Leadership Monitor, Nr. 26/
Die chinesische Regierung hat nicht nur 2008, S. 1–10.
durch ihre neue Programmatik, sondern Fewsmith, Joseph (2007): Assessing Social Stabil-
ity on the Eve of the 17th Party Congress. In: China
auch durch praktische Maßnahmen, Leadership Monitor, Nr. 20/2007, S. 1–22.
darunter die umfangreichste Arbeitsge- Hurst, William (2004): Understanding Conten-
setzgebung seit Beginn der Reformen, tious Collective Action by Chinese Laid-Off Dr. Günter Schucher hat in Hamburg
gezeigt, dass sie die unsozialen Aus- Workers: The Importance of Regional Political und Tianjin (China) Sinologie und Ge-
Economy. In: Studies in Comparative Internation-
wüchse des marktwirtschaftlichen Ent- schichte studiert. Er ist Senior Research
al Development, Nr. 2/2004, S. 94–120.
wicklungskurses bereinigen will. Dabei Hurst, William/O’Brien, Kevin J. (2002): China’s Fellow am GIGA Institut für Asien-Studi-
lässt sie weitgehend unausgesprochen, Contentious Pensioners. In: The China Quarterly, en in Hamburg. Seit vielen Jahren arbei-
was konkret „Harmonie“ in ihrem Ge- Nr. 170/2002, S. 345–360. tet er über soziale Fragen in der Volks-
sellschaftskonzept bedeutet. Rekurse Minzner, Carl (2007): Social Instability in China. republik China, mit dem Schwerpunkt
Causes, Consequences, and Implications. In: The
auf den Konfuzianismus machen aber China Balance Sheet in 2007 and Beyond, edited auf der Entwicklung des chinesischen
deutlich, dass es dabei nicht um Gleich- by C. Fred Bergsten, Bates Gill, Nicholas R. Lardy Arbeitsmarkts. Außerdem forscht er
heit, sondern eher um Gerechtigkeit and Derek J. Mitchell: Online Publication, S. 55– zu den europäisch-taiwanisch-chinesi-
geht – um „Verschiedenheit in Eintracht“, 77, Unter: http://www.chinabalancesheet.org/ schen Beziehungen. Er ist Geschäftsfüh-
Documents/03SocialInstability.pdf. (25.6.2007)
wie Ministerpräsident Wen Jiabao Kon- rendes Vorstandsmitglied der Deutschen
O’Brien, Kevin J./Li, Lianjiang (2006): Right-
fuzius zitierte. Ob ihr dies gelingen wird ful Resistance in Rural China. Cambridge u. a. Gesellschaft für Asienkunde und Her-
oder ob es doch ein „böses Erwachen“ 179 S. ausgeber der Zeitschrift ASIEN.

250
CHINA IN SCHULE UND UNTERRICHT

China – ein marginales Thema im Unterricht?


Werner Spaeth

Januar, die weltweite Diskussion über aus. Um den quantitativen wie qualita-
China gewinnt immer mehr an Bedeu- den Tibetkonflikt im Frühjahr und die tiven Engpässen bei der Nahrungsmit-
tung, Wissen und Kenntnisse über das Erdbebenkatastrophe im Mai in der telversorgung und den stagnierenden
Land nehmen aber nicht in gleichem Ma- chinesischen Provinz Sichuan, die mit Einkommen der ländlichen Bevölke-
ße zu. Vielmehr ist unser Bild von China fast 70.000 Todesopfern eine welt- rung zu begegnen, wurde den Bauern
rudimentär und allzu häufig von Ängsten weite Anteilnahme erfuhr. Unmittelbar mehr Verantwortung übertragen, die
geprägt. Der rasante Wandel des Lan- danach waren es die anhaltenden Pro- letztlich auch mit höheren Einnahmen
des und seine wirtschaftliche Verfloch- teste während des vorolympischen Fa- verbunden war. Durch gezielte Maß-
tenheit mit Europa – nicht zuletzt auch ckellaufs, die über mehrere Wochen für nahmen leitete Deng Xiaoping damit
mit dem exportorientierten Land Baden- Gesprächsstoff sorgten. den Beginn einer neuen Ära im gesam-
Württemberg – legen im Grunde eine Die größte öffentliche Aufmerksam- ten chinesischen Wirtschaftssystem ein,
intensive unterrichtliche Beschäftigung keit erregten jedoch die Olympischen d. h. den Übergang von einem plan-
mit China nahe. Wenn man nun die Bil- Sommerspiele 2008 in Peking. Für die wirtschaftlichen in ein marktwirtschaft-
dungs- und Lehrpläne genauer in den
chinesische Regierung bildete die Aus- liches System. Dabei erwiesen sich die
Blick nimmt, so stellt man fest, dass zwar
richtung der Olympischen Spiele einen positiven Erfahrungen in der Landwirt-
hehre Ziele formuliert werden, die realen
Gegebenheiten jedoch einiges zu wün-
willkommenen Anlass, um der Welt die schaft als Katalysator für den Ausbau
schen übrig lassen. Der curriculare Stel- Erfolge von 30 Jahren Reform- und Öff- von nichtlandwirtschaftlichen Betrie-
lenwert des Themas und das zur Verfü- nungspolitik zu präsentieren. Mit einer ben. Vor allem in den wirtschaftlich
gungen stehende Zeitkontingent lassen spektakulären Eröffnungsfeier und ar- höher entwickelten Küstenprovinzen
eine differenzierte Auseinandersetzung chitektonisch beeindruckenden Sport- und im Einzugsbereich der Großstäd-
mit dem „Reich der Mitte“ in Schule und stätten wurden neue Maßstäbe gesetzt. te ergaben sich Gelegenheiten, beste-
Unterricht oftmals nicht zu. Sieht man Die Resonanz der internationalen Pres- hende kleinindustrielle Strukturen zu
von modellhaften Projekten, die unter se fiel jedoch trotz der hervorragenden fördern oder solche zu gründen.
anderem einen regen Kulturaustausch organisatorischen Durchführung relativ In Folge kam es Anfang der 1980er Jahre
pflegen, einmal ab, so ist China ein verhalten aus. Viel zu sehr wurde das in den Küstenprovinzen zur Einrichtung
eher randständiges Thema im Unterricht. Großereignis durch unzählige Auflagen von Sonderwirtschaftszonen, in denen
Mehr noch: Schulbücher und audio-visu- und Regeln eingeengt, um in den Medi- vor allem ausländische Investoren will-
elle Unterrichtsmedien lassen eine aus- en als rundum gelungen apostrophiert kommen waren, zumal dies auch mit
gewogene Betrachtung der wichtigsten zu werden. Vielfach drängte sich die besonderen Privilegien verbunden war.
Inhalte in ökonomischer, ökologischer, Frage auf: Was ist das eigentlich für ein Der Großraum Shanghai, das Perlfluss-
sozialer, historischer und politischer Land? Oder anders gesagt: Was wis- Delta, die Metropolen des Landes und
Hinsicht vermissen. Im Rahmen der Leh- sen wir eigentlich über dieses Land? die Küstenprovinzen sind die Gewinner
rerfortbildung – so ein Fazit von Werner des Reformprozesses in der VR China.
Spaeth – liegt vieles im Argen. Ziel und Das rasante Wachstum in den Küsten-
Aufgabe von Schule und Unterricht müss-
Ein Land im rasanten Wandel regionen und Großstädten veranlasste
te es vielmehr sein, eine differenzierte
viele Bauern, in die Wachstumszentren
Darstellung und unterrichtliche Behand-
lung anzustreben, um so der Bedeutung
Ausgehend von der Gründung der VR zu ziehen, um sich dort als Wanderar-
des Landes gerecht zu werden.  China im Jahr 1949 war es vor allem beiter zu verdingen. So wurden zwar
Mao Zedong, der über Jahrzehnte die ca. 300 Millionen Menschen aus ihrer
geschichtliche Entwicklung des Landes Armut befreit, aber ergänzende rechtli-
prägte. Ohne die Kenntnis dieser his- che Maßnahmen für deren Schutz erst
torischen Phase sind viele neuzeitliche wesentlich später eingeleitet.
Geschehnisse nur schwer nachvollzieh- Gewachsen sind aber nicht nur die
Was wissen wir eigentlich bar. Wirtschaft, die Einkommen, das Selbst-
über China? Es dauerte fast 30 Jahre bis das chi- bewusstsein und auch eine gewisse
nesische Volk eine Entwicklung erfuhr, Freiheit. Gewachsen sind auch die Pro-
Die Volksrepublik (VR) China spielt un- die bis in die Gegenwart anhält und bleme wie die Landflucht, die rasante
bestritten mit ihren 1,3 Milliarden Men- sich mit großer Wahrscheinlichkeit in Urbanisierung, die grassierende Um-
schen eine bedeutende Rolle in der glo- den nächsten Jahren fortsetzen wird. weltverschmutzung, die wirtschaftliche
balisierten Welt. Sie hat in den letzten Verbunden mit dem Namen Deng Xiao- Überhitzung und vor allem die räumli-
drei Dekaden einen Wandel vollzogen, ping („werdet reich“) hat die VR China chen und sozialen Disparitäten. Letzte-
der in der Geschichte der Menschheit seit Ende 1978 eine Reformpolitik ein- re äußern sich verstärkt in Form von Pro-
in dieser Größenordnung ohne Beispiel geleitet, die zur „sozialistischen Markt- testen und Ausschreitungen, begleitet
ist. Kein Zweifel: Chinas Aufstieg verän- wirtschaft chinesischer Prägung“ führ- von einer noch weitgehend mangelhaft
dert die Welt. te und vor allem den wirtschaftlichen ausgebildeten Rechtssicherheit für die
Fast täglich finden sich über dieses Sektor zu einer entscheidenden Deter- Betroffenen.
Land Meldungen unterschiedlicher Art minante des Wandels im chinesischen Inzwischen hat man erkannt, dass rund
in den Medien. Mehr denn je rückte Kulturraum werden ließ. 30 Jahre nach dem Beginn des Reform-
gerade in diesem Jahr das „Reich der Die weitreichenden wirtschaftlichen prozesses die alten Konzepte zuneh-
Mitte“ in den Fokus der Weltöffentlich- Veränderungen ab Ende der 1970er mend weniger funktionieren, da die
keit: Das unerwartete Schneechaos im Jahre gingen von der Landwirtschaft gegenwärtigen Wirtschaftsdaten unter

251
Werner Spaeth

dem Einfluss der weltweiten Finanzkrise schulen. Die wichtigste Machtbasis der Arbeitsmarkt haben und damit auf die
auf einen Rückgang des prozentualen chinesischen Regierung ist jedoch der angestrebte Harmonisierung der Ge-
Wachstums hinweisen. Die politische wirtschaftliche Erfolg. Wenn dieser Er- sellschaft.
Führung weiß auch, dass China als „Bil- folg zunehmend ausbleibt, könnte diese
ligmanufaktur“ langfristig keine Zukunft Situation zu einer Destabilisierung in-
hat und dass es den Schritt zu einer In- nerhalb der neuen städtischen Mittel- Bildungspolitische Rahmenvorgaben
dustrie mit höherer Wertschöpfung (Au- schicht und der Bauern führen.
tomobilproduktion, Software, Biotech- In den Griff bekommen will die Regie- Die Dynamik der wirtschaftlichen Trans-
nologie etc.) vollziehen muss. Die jüngs- rung dieses Problem durch die im Okto- formation und der damit verbundene
ten Äußerungen von Hu Jiantao gehen ber 2006 vom Zentralkomitee beschlos- Wandel in der VR China haben oh-
in diese Richtung, wenn er sagt: „Wir sene „Errichtung einer harmonischen ne Zweifel auch direkte Auswirkungen
sind bereit, für einen Platz am Tisch der Gesellschaft“, die sich vom konfuziani- auf das wirtschaftliche Geschehen in
High-Tech-Nationen zu kämpfen.“ schen Harmoniebegriff leiten lässt und Deutschland. Insbesondere ein Bundes-
Aber nicht nur wirtschaftlich steckt sich damit an traditionelle Strukturen an- land wie Baden-Württemberg mit sei-
die chinesische Regierung hohe Ziele. knüpft. nen weltwirtschaftlichen Verflechtungen
Auch das Bildungssystem wird seit Jah- Die derzeit kursierende globale Finanz- dürfte ein verstärktes Interesse daran ha-
ren von Grund auf den aktuellen Tenden- krise lässt zwar bisher die chinesische ben, die Entwicklungs- und Wandlungs-
zen angepasst, um Kreativität, Initiative Führung noch in einem relativ positi- prozesse in der Volksrepublik seinen Leh-
und Forscherdrang zu fördern. Erreichen ven Licht erscheinen, aber sie könnte, renden und Lernenden zu vermitteln.
will man dies beispielsweise durch neue bedingt durch die sinkende Nachfra- So streben die im Jahre 2004 heraus-
Methoden zur Steigerung der Bildungs- ge in den USA und Europa, ernsthaf- gegebenen Bildungspläne für die all-
qualität an den chinesischen Hoch- te Auswirkungen auf den chinesischen gemein bildenden Schulen in Baden-

252
Ein Schüler der CHINA – EIN MARGINALES THEMA
7. Klasse für Hoch- IM UNTERRICHT?
begabte vom
Friedrich-Schiller-
Gymnasium in
Marbach am
Neckar schreibt Lernziele vorgeben. Übergreifendes Ziel
im Rahmen des der Umstrukturierung ist die Verwirkli-
Chinesischunter- chung einer nachhaltigen Lernkultur.
richts Schriftzeichen Im Rahmen der durch die Bildungsplä-
in sein Heft. ne vorgegebenen Fächerverbünde hat
picture alliance/dpa das Fach Geographie immer noch eine
wichtige Funktion, da es zu einem gro-
ßen Teil die Grundlagen für die Aus-
stattung, Inwertsetzung und Nutzung
eines Lebensraumes sowie den damit
verbundenen Problemen liefert. Ergänzt
werden diese Grundlagen durch poli-
tische und soziale Inhalte des Faches
Gemeinschaftskunde und durch grund-
legende ökonomische Aspekte.
Ziel ist der mündige Bürger, der unter
anderem in der Lage sein soll, sozio-
ökonomische Situationen und Problem-
stellungen zu bewältigen. Die Kompe-
tenzen hierzu sollen in einem Prozess
der Komplexitätssteigerung und der zu-
nehmenden Differenzierung in den je-
weiligen Jahrgangsstufen altersgemäß
umgesetzt werden.

Der curriculare Stellenwert des


Unterrichtsthemas

Hier gilt es zu prüfen, inwieweit die un-


terrichtliche Behandlung des bevölke-
rungsreichsten Landes und viertgrößten
Volkswirtschaft der Erde den hochge-
steckten Zielen der Bildungs- und Lehr-
pläne gerecht wird und welcher Stellen-
wert dieser Thematik eingeräumt wird.
Die Hauptschule beschränkt sich im Fä-
cherverbund „Welt-Zeit-Gesellschaft“
(WZG) beim Thema China weitgehend
auf die Vermittlung ausgewählter Basis-
informationen, wie beispielsweise „Asi-
Württemberg das Ziel an, dass „die mehrperspektivisch zu erschließen und en – Kontinent der Rekorde“ oder „Chi-
wachsende Komplexität unserer heuti- – basierend auf gesicherten fachlichen na – bevölkerungsreichstes Land der
gen Welt (…) einer über die Fachsyste- Kenntnissen – in einen übergreifenden Erde“. Auch ist die Erstellung eines Län-
matik hinausgehenden ganzheitlichen Sinnzusammenhang zu stellen. derprofils anhand typischer Merkmale
Betrachtungsweise bedarf.“ Ergänzt Der Unterschied der Bildungspläne zu vorgesehen.
wird diese Zielvorgabe durch die Aus- den bisherigen Lehrplänen besteht darin, Ein etwas differenzierteres Vorgehen
sage von Hartmut von Hentig, dass „in dass diese den Lehrenden größere päd- zeichnet sich in der Realschule im Fä-
einer sich schnell verändernden Welt agogische Handlungsspielräume ver- cherverbund „Erdkunde-Wirtschaft-Ge-
(…) gerade die Einrichtungen zu auf- schaffen. Ergänzt wird diese Maßnahme sellschaft“ (EWG) ab. Die beteiligten Fä-
merksamer Beobachtung und sorgfäl- an den allgemein bildenden Gymnasien cher sind inhaltlich und thematisch mitei-
tiger Berücksichtigung der Entwicklung durch die Einführung einer Kontingent- nander verflochten. Das Thema China ist
verpflichtet sind, denen die Gesellschaft stundentafel, über deren Gestaltung zwar schwerpunktmäßig in den Themen-
beides aufgetragen hat: Die Wahrung die Schule selbst entscheiden darf, und bereich „Welthandel und Globalisie-
der Kontinuität und die Ermöglichung durch die Einbeziehung schulspezifischer rung“ integriert, erfährt aber quantitativ
von Wandel.“ Akzente, die der qualitativen Weiterent- wie qualitativ relativ wenig Beachtung.
Aufgabe der Schule ist es in diesem Zu- wicklung schulischer Arbeit dienen. Themenschwerpunkte wie „China – ein
sammenhang unter anderem, den Ler- Die übrigen Schularten, vor allem im Drache erwacht“ oder „China – die Ent-
nenden vernetztes Denken zu vermitteln. beruflichen Bereich (Berufsschule, Be- wicklung in der Stadt und auf dem Land“
Methodisch-didaktisch unterstützt wird rufsfachschule und berufliche Gymna- liefern im Rahmen der zur Verfügung ste-
die Vorgehensweise durch neu eingeführ- sien), orientieren sich weiterhin an den henden Unterrichtszeit nur wenig Einbli-
te Fächerverbünde, die es ermöglichen, seitherigen fachbezogenen Lehrplänen, cke in die Besonderheiten und die Prob-
geeignete Themen und Fragestellungen die wie bisher üblich, exakt formulierte leme des Landes.

253
Werner Spaeth
Der Fächerverbund „Geographie-Wirt- Die in Adelsheim angesiedelte China- Bei diesem Fach wird das Thema China
schaft-Gesellschaft“ (GWG) an den Akademie und die Science Academy nur an den Wirtschaftsgymnasien im
allgemein bildenden Gymnasien strebt streben das Ziel an, chinesischen und Rahmen der Lehrplaneinheit 5 „Natur-
in den Jahrgangsstufen 6, 8, 10 und in deutschen Jugendlichen einen Kultur- und Wirtschafträume“ ausgewiesen. Der
der Kursstufe insgesamt eine ganzheit- austausch zu ermöglichen. Langfristig Fachlehrer hat dabei die Möglichkeit, bei
liche Betrachtungsweise an, das heißt wird dabei eine Kooperation deutscher einem Zeitrichtwert von 12 Unterrichts-
die Vernetzung von Ökologie, Ökono- Begabtenförderprojekte mit chinesi- stunden sich zwischen den Schwerpunk-
mie sowie von sozialen, politischen und schen Schulen angestrebt, wobei die ten Europa, Nordamerika und China als
kulturellen Zusammenhängen. Auswahl der Teilnehmerinnen und Teil- Wachstumsregion zu entscheiden.
Während in der Sekundarstufe I unter nehmer über die Schulen läuft. Gute In dem 35-seitigen Lehrplan (März 2006)
anderem Grundkenntnisse über sozio- Englischkenntnisse, eine naturwissen- für das Fach Wirtschaft (Schulversuch am
ökonomische Systeme wie Landwirt- schaftliche Orientierung und die Be- beruflichen Gymnasium) bleibt das The-
schaft, Industrie und Dienstleistungen reitschaft zur kulturellen Begegnung ma China völlig unerwähnt. Es erfolgt
vermittelt werden, steht in der Kursstufe sind Voraussetzung für die Teilnahme. zwar ein Hinweis auf die Lehrplanein-
die Förderung von vernetztem Denken Die so genannte Science Academy, heit 4 „Globalisierung der Wirtschaft“
und von praxisnaher Wissensanwen- die jährlich von der Junior Akademie in im Fach Global Studies. Ein Hinweis auf
dung in unterschiedlichen Kontexten Adelsheim veranstaltet wird, richtet sich die Lehrplaneinheit 5 „Natur- und Wirt-
zur Förderung der Gesamtqualifikation an besonders begabte und leistungs- schafträume“ unterbleibt jedoch.
an. Auch die Fähigkeit zum Dialog, zur bereite Schüler der Klassen 8 und 9 an Neu im Bildungsangebot der beruf-
Selbstreflexion, zur Lösung von Konflik- Realschulen und Gymnasien. Sechs in- lichen Gymnasien ist, beginnend im
ten und zum kooperativen Arbeiten so- tensive Kurse, wie beispielsweise „Un- Schuljahr 2008/2009, das Wahlfach
wie der Erwerb einer raumbezogenen sichtbares Licht“, „Philosophie“, „Mole- Chinesisch, das an sechs Wirtschafts-
Handlungskompetenz, die Förderung kularmedizin“ und „Mikrogravitation“ gymnasien angeboten wird. Die Schü-
eines interkulturellen Verständnisses standen dieses Jahr auf dem Programm. ler können ab der Eingangsklasse Chi-
und die Wertschätzung gegenüber an- Untergebracht sind die chinesischen nesisch als zweistündiges Fach bele-
deren Lebens- und Wirtschaftsformen Teilnehmer bei Gastfamilien, die über gen und dieses in der Jahrgangsstufe
sind zentrale Anliegen des gymnasialen ganz Baden-Württemberg verteilt sind. 1 und 2 weiterführen. Damit können die
Unterrichts. Beides sind Projekte, die mit ihrer inhalt- Kurse für die allgemeine Hochschulreife
Das Thema China wird in dieser Schul- lichen und methodischen Konzeption angerechnet und das Fach Chinesisch
art wesentlich stärker gewichtet als Zukunft haben dürften. als mündliches Abiturfach gewählt wer-
in den übrigen Schularten. Dienlich den. In den drei Schuljahren erwerben
ist hierbei sicher auch die Freiheit der die Schüler Kompetenzen in mündli-
schulspezifischen inhaltlichen Gestal- China als Unterrichtsthema der cher Kommunikation sowie in Lese- und
tung und Gewichtung der zur Verfü- beruflichen Schulen Schreibfertigkeit, die sie in die Lage
gung stehenden Kontingentstunden. versetzen, sich mündlich und schriftlich
Im Bereich der beruflichen Schulen in Situationen des persönlichen Lebens-
wird nur noch am Wirtschaftsgymna- bereichs und des beruflichen Alltags zu
Modellhafte Projekte und sium das Fach Wirtschaftsgeographie verständigen. Ein Schüleraustausch mit
Kulturaustausch angeboten, wenn nicht Informations- China wird bei den beruflichen Schu-
oder Finanzmanagement als Pflichtfach len Baden-Württembergs bisher nur
Vor allem durch die Bereitstellung inte- gewählt wurde. Wirtschaftgeographie von der Max-Weber-Schule in Freiburg
grativer Module (z. B. „Globale Heraus- kann ohnehin nicht mehr als Prüfungs- praktiziert.
forderungen und Zukunftssicherung – fach im mündlichen Abitur gewählt wer-
das Beispiel China“) kommt man den in den, da es nur noch in den Jahrgangs-
den Bildungsplänen angestrebten Zie- stufen 12 und 13 unterrichtet wird. China im Schulbuch
len wesentlich näher. Förderlich ist da- Der noch gültige Lehrplan vom Dezem-
bei sicherlich auch, dass das Erlernen ber 1998, der im Vergleich mit seinem Ein häufig verwendetes Arbeitsmittel im
der chinesischen Sprache sich im gym- Vorgänger von 1991 inhaltlich nur ge- Unterricht ist für Lehrer wie für Schüler
nasialen Bereich zunehmender Beliebt- ring verändert wurde, weist bei einem immer noch das Schulbuch, das einer-
heit erfreut. Über 30 baden-württem- Zeitrichtwert von 15 Unterrichtsstunden seits der Informationsvermittlung dient,
bergische Gymnasien pflegen zum Teil das Thema China nicht explizit aus. Es andererseits aber auch die Lernprozes-
seit Jahren einen Schüleraustausch oder bleibt also dem zuständigen Fachleh- se steuert, die zur Bewusstseinsbildung
haben Kontakt mit chinesischen Partner- rer überlassen, welche Inhalte er beim beitragen. In einer aktuellen Analyse
schulen. Außer diesen Kontakten gibt es Rahmenthema „Globale Disparitäten zum Chinabild in den derzeit häufig
weitere Ansätze zu einer intensiveren und Verflechtungen“ auswählt. verwendeten Geographie-Lehrbüchern
Beschäftigung und Auseinanderset- Der 28-seitige Lehrplan (Juli 2005) kam Dieter Böhn (Universität Würz-
zung mit der fremden Kultur. Hervorzu- des Fachs „Global Studies“, das ge- burg) zu folgenden Ergebnissen:
heben ist dabei vor allem ein Projekt mit genwärtig als Schulversuch an ausge-  der Schwerpunkt der Behandlung liegt
dem Titel „China – Sprache, Wirtschaft, wählten beruflichen Gymnasien Ba- auf sozioökonomischen Entwicklungen;
Kultur“, das an drei allgemein bilden- den-Württembergs unterrichtet wird,  aktuelle kritische Fragestellungen wer-
den Gymnasien im Großraum Stuttgart verfolgt tendenziell ähnliche Ziele wie den nur teilweise aufgegriffen;
(Heinrich-Heine-Gymnasium in Ostfil- der Bildungsplan in der Kursstufe des  Probleme werden ansatzweise be-
dern, Stiftsgymnasium in Sindelfingen allgemein bildenden Gymnasiums. Die nannt und bewertet;
sowie Ferdinand-Porsche-Gymnasium Schüler sollen durch die Auseinander-  die Autoren sind um eine objektive Dar-
in Stuttgart) initiiert wurde. Im Rahmen setzung mit komplexen gesellschaftli- stellung bemüht;
dieses Projekts werden in Arbeitsge- chen und interkulturellen Fragestellun-  Chinas wirtschaftlicher Aufstieg wird
meinschaften außer der Sprache vertie- gen, Problemen und Zusammenhängen betont und insgesamt positiv bewertet.
fende Kenntnisse über den Wirtschafts- über eine entsprechende Fach-, Metho- Bemerkenswert ist auch ein in der Re-
und Kulturraum China vermittelt. den- und Sozialkompetenz verfügen. gel höherer Anteil visueller Elemente

254
gegenüber dem reinen Textteil, was Lehrbücher in den Schulen aus Kosten- CHINA – EIN MARGINALES THEMA
letztlich zu einer Reduktion auf Kos- gründen im Umlauf sind, erübrigt sich IM UNTERRICHT?
ten der Fakten und Wissensvermittlung die Frage nach der Aktualität der In-
führt. Verstärkt wird diese Vorgabe halte.
noch dadurch, dass Lehrkräfte, die sich Auch bei der Gestaltung neuerer Lehr-
mit dem aktuellen Geschehen in der VR bücher ist die thematische Aktualität
China nicht beschäftigt haben, die zu oftmals nicht gegeben. So beinhaltet Angebot nutzt, über Auswahlkriterien
vermittelnden Inhalte oftmals unreflek- ein Wirtschaftsgeographie-Lehrbuch verfügt, die eine zeitnahe Vermittlung
tiert übernehmen und entsprechend an für die Oberstufe aus dem Jahr 2000 voraussetzt.
ihre Schülerinnen und Schüler weiter- eine ausführliche Behandlung Nigerias
geben. Diese werden dadurch kaum auf zehn Doppelseiten. Den Schwellen-
befähigt, sich ein kritisches Urteil über ländern im asiatisch-pazifischen Raum Wie ist es um die fachliche
dieses Land zu bilden oder ein solches sind dem gegenüber nur drei Doppel- Kompetenz bestellt?
abzugeben. So tragen auch gekürz- seiten vorbehalten.
te, aus dem Zusammenhang gerissene Ein weiterer wichtiger Bestandteil bei
Zeitungsbeiträge, die in Schulbüchern der Behandlung und Auseinanderset-
sehr verbreitet sind, in der Regel wenig Wie aktuell sind audio-visuelle zung mit dem Thema China ist die fach-
zu einer differenzierten Meinungsbil- Unterrichtsmedien? liche Kompetenz der Lehrenden. Gera-
dung bei. de in einem Themenbereich, der einer-
Durch die Einführung der Fächerver- Erwähnenswert ist in diesem Zusam- seits angesichts seiner Komplexität und
bünde im Schuljahr 2004/2005 an all- menhang auch der unterrichtliche Ein- problematischen Zugänglichkeit hohe
gemein bildenden Schulen liegen zwar satz audio-visueller Medien, die ohne Anforderungen an die sachliche wie
Schulbücher vor, die über ein relativ Zweifel ein integraler Bestandteil von didaktisch-methodische Kompetenz
neues Datenmaterial verfügen, inhalt- Bildung sind. Massenmedien formen der Lehrkräfte stellt und der anderer-
lich der Erfüllung der Zielvorgaben zwar einen beträchtlichen Teil des in seits einem raschen Wandel unterliegt,
in den Bildungsplänen aber nur teil- den Köpfen verankerten Chinabildes, sind Qualifikationen erhaltende und
weise gerecht werden können. In den werden aber bei der Auswahl des zur ergänzende Maßnahmen der Lehrer-
dem Fächerverbund vorausgegange- Verfügung stehenden Materials oft- fortbildung erforderlich.
nen Geographie-Lehrbüchern, die auf mals von Kriterien geleitet, die dem In mehreren Bundesländern müssen die
den damaligen Lehrplänen basierten, realen Geschehen im Land nicht un- Lehrerinnen und Lehrer ihre Fortbildun-
waren zum Teil in der Jahrgangsstufe bedingt gerecht werden. Umso mehr gen nachweisen. In Baden-Württem-
9 in der Realschule noch sieben Dop- sollte in der unterrichtlichen Praxis die berg wird die Weiterbildung jedoch
pelseiten (zum Beispiel „China unter Mediennutzung ein Bild vermitteln, das den Betroffenen weitgehend selbst
der Lupe“) für die Behandlung des The- der Realität zumindest nahe kommt. überlassen. Dass die Lehrerinnen und
mas vorgesehen. Wenn dann in einem China ist ein Beispiel für einen Raum mit Lehrer sich in Eigenverantwortung um
Schulbuch, das im Fächerverbund „Erd- großer Vielfalt und raschen Verände- ihre Weiterbildung kümmern müssen,
kunde-Wirtschaft-Gesellschaft“ (EWG) rungen. Bei den heterogenen Struktu- hat sicher Vor- wie Nachteile. Im Falle
in der Realschule gegenwärtig einge- ren, die sich von Region zu Region oder „China“ werden die interessierten ba-
setzt wird, nur noch zwei Doppelseiten von Provinz zu Provinz voneinander un- den-württembergischen Lehrkräfte je-
für die Behandlung des Themas China terscheiden können, führt der Blick auf doch ziemlich allein gelassen. Bei der
vorgesehen sind, kann dies angesichts die Makroebene leicht zu falschen oder Recherche an den gängigen Lehrerfort-
der Komplexität der Thematik nicht aus- vereinfachenden Schlussfolgerungen. bildungsstätten des Landes stellte sich
reichend sein für einen differenzierten Von daher empfiehlt es sich, bei der heraus, dass das Thema China in den
Kompetenzerwerb. Denn die im integ- visuellen Vermittlung der naturräumli- letzten acht bis zehn Jahren äußerst
rierten Fächerverbund zum Teil quanti- chen Gestaltung und der gegenwär- gering bis gar nicht vertreten war. Die
tativ reduzierten fachlichen Inhalte füh- tigen sozioökonomischen Wandlungs- einzige Institution, die gelegentlich in
ren dabei nicht unbedingt zum qualita- prozesse exemplarisch vorzugehen. ihrem Programm auf China bezogene
tiv gleichen Ergebnis. Es besteht eher Eine Medienrecherche zum Thema Chi- Themen anbot, war das Studienhaus
die Gefahr, was vielfach von Betroffe- na beim Landesmedienzentrum Baden- Wiesneck (Institut für politische Bildung
nen angesprochen wurde, dass bei der Württemberg zeigt ein nicht rundum Baden-Württemberg) in Buchenbach
unterrichtlichen Vermittlung der Inhalte erfreuliches Ergebnis. Das liegt vor al- bei Freiburg. Wie die Leitung des Hau-
eher der Schwerpunkt auf den Fach- lem auch daran, dass es mitunter meh- ses mitteilte, waren es vor allem Veran-
bereich gelegt wird, mit dem sich die rere Jahre dauert, ähnlich wie bei den staltungen, die für gymnasiale Fachleh-
Lehrkraft während des Studiums ausei- Schulbüchern, bis aktuelles Bildmateri- rer und ihre Schülerinnen und Schüler
nandergesetzt hat. al zur Verfügung steht. Dies entspricht konzipiert waren, wobei nach Aussage
Da jedoch nicht in allen Schularten der im Zeitalter einer zunehmend digita- des Direktors der Institution das Inter-
Fächerverbund eingeführt wurde, kur- lisierten Welt nicht dem Stand einer esse am Thema China von Schülerseite
sieren in der schulischen Praxis auch modernen Wissens- und Kommunika- sehr groß gewesen sei.
noch Lehrbücher, die sich an den be- tionsgesellschaft. Den angebotenen Wenn man bedenkt „dass das Bil-
stehenden Lehrplänen orientieren. Be- Medien wird zwar teilweise ergänzen- dungssystem auch der Ort ist, an dem
sonders auffällig ist dabei in einigen des Arbeits- und Informationsmaterial die Lebens- und Berufschancen jedes
Schulbüchern der so genannte time- beigegeben (z. B. SESAM); es ändert heranwachsenden Bürgers hergestellt
lag zwischen fachwissenschaftlichem aber nichts an der Tatsache, dass die werden“ (vgl. Lothar Späth 2006),
Erkenntnisstand und den dargelegten Informationen oftmals nicht mehr dem kommt der Weiterbildung der Lehrkräf-
Lehrbuchinhalten. aktuellen Geschehen entsprechen und te eine besonders wichtige Funktion zu,
Bis sich die aktuellen Geschehnisse in daher nicht mehr zeitgemäß sind. Ein zumal im Zeitalter der Globalisierung
den Lehrbüchern niederschlagen, kön- verantwortungsbewusster, kritischer eine einzige Ausbildung zu Beginn des
nen mehrere Jahre vergehen. Wenn Umgang mit dem Medienmaterial setzt Erwerbslebens längst nicht mehr aus-
man zudem bedenkt, wie lange manche also voraus, dass die Lehrkraft, die das reicht, um über einen längeren Zeit-

255
Werner Spaeth
raum in bestimmten Themenbereichen Wenn man die Bildungs- und Lehrpläne und die Schüler als „Mitgestalter von
kompetent zu sein. Ulrich Druwe, Rektor kritisch analysiert, stellt man fest, dass Unterricht“ sieht, dann gibt es hier eine
der Pädagogischen Hochschule Frei- zwar hohe Ziele formuliert werden, Gelegenheit, die es wahrzunehmen gilt,
burg, fordert in einem aktuellen Bei- aber dass die Rahmenbedingungen zumal dies mit einer optimierten Lernef-
trag der Badischen Zeitung sogar, dass nicht die optimalen Voraussetzungen fizienz verbunden ist.
die wissenschaftliche Weiterbildung in für das Erreichen der angestrebten Zie- Letztlich würde diese Vorgehensweise
der Fachwissenschaft, der Fachdidak- le erfüllen und zum Teil noch sehr ver- auch zum erstrebenswerten Ziel füh-
tik und der Schulpraxis obligatorisch besserungsbedürftig sind. Beim Thema ren, die Volksrepublik China nicht als
werden muss, da die Lehrerinnen und China fehlt es beispielsweise an einer „Angstgegner“ zu empfinden, sondern
Lehrer eine entscheidende Rolle für den ausgewogenen Betrachtung der wich- auf Grund eines besseren Informations-
Schulerfolg der Schüler spielen. tigsten Inhalte (ökologisch, sozial, öko- austausches in Form von Kooperation
Die Lehrerfortbildung zum Thema China, nomisch, politisch, historisch), die für und Dialog als langfristig gleichwerti-
ausgenommen die methodisch-didak- eine ganzheitliche Betrachtungsweise gen und vertrauenswürdigen Partner.
tischen Fortbildungsmaßnahmen, die unerlässlich sind.
den Chinesisch-Unterricht betreffen, ist So ergab eine aktuelle repräsentative
nach wie vor höchst unzureichend. Lehr- Meinungsumfrage im Auftrag des Bun-
LITERATUR
erfortbildung ist hier sporadisch und zu- desverbandes deutscher Banken An-
fällig. Es ist kein Konzept erkennbar. fang 2008, dass ca. zwei Drittel der Blume, Georg (2008): China ist kein Reich des
deutschen Bevölkerung die Entwick- Bösen. Trotz Tibet muss Berlin auf Peking setzen.
Hamburg.
lung in China, wie sie derzeit abläuft, Böhn, Dieter (2008): Zum aktuellen Chinabild in
Schlussfolgerungen als drohende Gefahr empfinden. Auch deutschen Geographielehrplänen und -werken.
Gunter Schubert (Universität Tübingen) Unveröffentlicht.
In der abschließenden Pressekonfe- äußerte in einem Radiointerview sinn- Druwe, Ulrich (2008): Auch Lehrer müssen lernen.
renz zum Dresdner Bildungsgipfel im gemäß, dass der Umgang mit China In: Badische Zeitung, 12.09.2008.
Fischer, Doris/Lackner, Michael (Hrsg.) (2007):
Oktober 2008 äußerte sich der Minis- durch unsere mangelnde Kenntnis über Länderbericht China. Bonn.
terpräsident des Freistaates Sachsen, das Land und seine moderne Entwick- Hüther, Michael (2008): Hektik in der Schulpolitik.
Stanislaw Tillich, derart, dass Konsens lung erschwert wird. In: Handelsblatt, 24.10.2008.
über die Notwendigkeit der Wirt- Demgegenüber ergab eine repräsenta- Landesinstitut für Schulentwicklung Baden-Würt-
temberg (2006): Schule entwickeln – Qualität
schafts- und Praxisorientierung in der tive Umfrage, die im Frühjahr 2008 an 28 fördern. Stuttgart.
Schule bestehe. Darüber hinaus stell- baden-württembergischen Schulen (Se- Landeszentrale für politische Bildung Baden-
te er fest, dass Bildung kein statischer, kundarstufe I und II) durchgeführt wur- Württemberg (Hrsg.) (2008): Politik & Unterricht,
sondern ein dynamischer Prozess sei. de, dass das Schülerinteresse am The- Heft 1/2008 (China – Eine neue Weltmacht?).
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel ma China groß ist, insbesondere an den Stuttgart.
Messner, Dirk (2008): China könnte zum Stabili-
betonte, dass Bildung unser wichtigs- allgemein bildenden Gymnasien und tätsanker werden. In: Handelsblatt, 18.10.2008.
ter Rohstoff und der Schlüssel dafür an den Wirtschaftsgymnasien. Wenn Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-
sei, dass wir unseren Wohlstand erhal- das Landesinstitut für Schulentwicklung Württemberg (2004): Bildungsplan Hauptschule
ten können. in der Broschüre „Schule entwickeln – Baden-Württemberg. Stuttgart.
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-
Beim Thema China dürfte die Notwen- Qualität fördern“ eine stärkere „Orien- Württemberg (2004): Bildungsplan Realschule
digkeit der Vermittlung im Rahmen des tierung an den Lernenden“ propagiert Baden-Württemberg. Stuttgart.
Bildungsprozesses unbestritten sein, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-
denn die wirtschaftlich dynamischste Württemberg (2004): Bildungsplan Allgemein
Region der Welt ist derzeit der ostasi- bildendes Gymnasium Baden-Württemberg.
Stuttgart.
atische Raum, dessen Entwicklung die Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-
UNSER AUTOR

weltwirtschaftliche Struktur entschei- Württemberg (1998): Lehrplan Wirtschaftsgeo-


dend verändern wird. Zudem zeichnen graphie. Berufliches Gymnasium: Wirtschaftswis-
sich Tendenzen ab, dass der Westen senschaftliche Richtung (WG). Stuttgart.
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-
das Monopol zur Führung der Welt Württemberg (2005): Lehrplan Global Studies.
verlieren wird. Beispielsweise forder- Berufliches Gymnasium: (Schulversuch) AG, BTG,
ten beim Treffen der 20 größten Wirt- EG, SG, TG, WG. Stuttgart.
schaftsnationen Anfang November Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-
2008 in Sao Paulo vor allem die BRIC- Württemberg (2006): Lehrplan Wirtschaft 2006.
Berufliches Gymnasium WG (Schulversuch).
Schwellenländer (Brasilien, Russland, Schnaas, Dieter (2008): Chinas wahres Gesicht
Indien, China) eine stärkere Einbindung – Warum wir den Drachen nicht mehr fürchten
in die weltwirtschaftliche Verantwor- müssen. In: Wirtschaftswoche, 29.7.2008.
tung. Auch die gegenwärtige globale Werner Spaeth studierte Geographie, Schucher, Günter (2007): Chinas Streben nach
Harmonie: Wunsch und Wirklichkeit. In: China
Finanzkrise verschiebt zunehmend die Germanistik und Soziologie an der aktuell, Heft 5/2007, S. 40–69.
globalen Gleichgewichte. Universität Freiburg. Unterrichtliche Tä- Späth, Lothar (2006): Priorität für die Bildung. In:
Wir stehen in Deutschland somit ge- tigkeiten am Beruflichen Gymnasium Handelsblatt, 29.11.2006.
genwärtig nicht vor völlig neuen Her- (WG). Derzeitig Doktorand an der Späth, Lothar (2008): Wohlstand braucht Bildung.
ausforderungen, sondern vor Heraus- Universität Freiburg mit einem Disserta- In: Handelsblatt, 22.10.2008.
Spaeth, Werner (2008): Umfrage an baden-würt-
forderungen, die zum Teil bereits seit tionsthema über die gegenwärtige tembergischen Schulen (Sek. I und II) zum geo-
mehreren Jahren bekannt sind, und auf Entwicklung in der VR China. Arbeits- graphischen Interesse von Schülern am Beispiel
die wir die Lernenden vorbereiten müs- schwerpunkte: Seit über 25 Jahren der VR China. Unveröffentlicht.
sen. Diese Vermittlung sollte aber nicht Beschäftigung mit sozioökonomischen Willman, Katrin (2006): Neue Methoden zur
Steigerung der Bildungsqualität an chinesischen
allein dem Engagement einzelner Schu- Entwicklungsstrukturen und Prozessen in Hochschulen. In: China aktuell, Heft 4/2006,
len und engagierten Lehrerinnen und Entwicklungsländern (Schwerpunkt VR S. 66–80.
Lehrer überlassen werden, denn hierbei China und Indien); interkulturelle und Wirtschaftswoche global (2008): China 2008 –
ist auch das staatliche Bildungssystem wirtschaftsethische Fragestellungen; Bil- Die neue Partnerschaft. Sondernummer vom
in der Pflicht. dungspolitik. 4.10.2008.

256
China im Überblick
Fläche 9.574.028 km 2

Bevölkerung 1.313.552.038 Einwohner = 137,2/km 2 (Berechnung 2008)


Hauptstadt Beijing (Peking) 11,94 Mio. Einw.; Shanghai 15,58 Mio. Einw.;
Chengdu 10,43 Mio. Einw.; Harbin 9,54 Mio. Einw.; Tianjin (Tientsin) 9,26 Mio.
Städte
Einw.; Guangzhou (Kanton), 7,25 Mio. Einw.; Qingdao (Tsingtau), 7,20 Mio. Einw.;
Xi’an (Sian) 7,16 Mio. Einw.
Standard-Hochchinesisch (Putonghua) ist Amtssprache; verschiedene chinesische
Sprachen Dialekte (Yue, Wu, Minbei, Minnan, Xiang, Gan, Hakka); Sprachen der nationalen
Minderheiten (Tibetisch, Uigurisch, Mongolisch).
Buddhismus (rd. 130 Mio.), Daoismus (rd. 30 Mio.), Islam (rd. 20 Mio.), Protestantis-
Religionen
mus (rd. 15 Mio.), Katholizismus (rd. 4 Mio.) sind offiziell anerkannt.
Lt. Volkszählung 2000 bei 36%; die UN gaben für Mitte 2007 42,2% an, wobei
Urbanisierungsrate
die ca. 150 Millionen Wanderarbeiter nicht berücksichtigt wurden.
Human Development Index / HDI Rang 81 (177 erfasste Staaten); Wert: 0,777 (2005)

BIP pro Kopf (PPP) 5.870 US-Dollar (Schätzung 2008)

Währung 1 Renminbi Yuan = 10 Jiao; 1 Euro = 10,32 RMB


UNO und UN-Sonderorganisationen, Asia-Pacific Economic Cooperation (APEC),
Mitgliedschaft in internationalen Asia-Europe Meeting (ASEM), Asia Development Bank (ADB), Shanghaier Organi-
Organisationen sation für Zusammenarbeit (SCO), World Trade Organization (WTO), G-77, Block-
freie (Beobachter)

Landesnatur und Klima und in einigen Landesteilen die Zer- arbeit erledigt, gehören 161 Mitglie-
siedelung verschärfen die ökologische der an; das Präsidium des Nationalen
China ist nach Russland, Kanada und Problematik (vgl. auch den Beitrag von Volkskongresses hat 14 Mitglieder.
den USA der viertgrößte Staat der Erde Eva Sternfeld in diesem Heft). Die Führungskader der KP sitzen an al-
(Nord-Süd-Ausdehnung rd. 4.200 Kilo- len wichtigen Schaltstellen der Politik
meter; Ost-West-Ausdehnung rd. 4.500 und Gesellschaft. Charakteristika des
Kilometer). Vom hoch gelegenen Wes- Politik politischen Systems sind:
ten (Zentralasien) fällt das Land in Stu-  eine zentralisierte Hierarchie von Par-
fen zum Tiefland am Pazifik im Osten ab. Die am 1. Oktober 1949 gegründete teiorganen mit strikten Unterordnungs-
33 Prozent der Gesamtfläche sind Ge- Volksrepublik China versteht sich als verhältnissen in allen Bereichen von
birge, die von West nach Ost verlaufen. sozialistischer Staat unter Führung der Politik, Verwaltung, Justiz, Militär, Poli-
Das Qinghai-Tibet-Plateau (bis 5.000 Kommunistischen Partei (KP) Chinas. zei, Wirtschaft und Gesellschaft;
Meter Höhe) gilt als „Dach der Welt“. Nach heftigen Linienkämpfen, die in  die von der KP kontrollierte Rekrutierung
Während Hochlandregionen und Ge- der 1966 ausgelösten „Kulturrevoluti- und Beaufsichtigung von Führungskräf-
birge im Westen liegen, prägen Hügel- on“ gipfelten, trat das Land unter Deng ten in staatlichen Organen sowie in
länder (10%) und fruchtbare Tiefebenen Xiaoping 1978 in eine Phase der Öff- Wirtschaftsunternehmen und anderen
(12%) den Osten und Nordosten. Hier nung ein (vgl. den Beitrag von Christoph gesellschaftlichen Organisationen;
liegen auch die Unterläufe des Gelben Müller-Hofstede in diesem Heft). 1993  Kampagnen zur ideologischen Indokt-
Flusses (Huanghe; 5.464 Kilometer Län- wurde der Übergang zu einem System rinierung und Bekämpfung politischer
ge) und des Langen Flusses (Jangste; der „sozialistischen Marktwirtschaft“ in Abweichungen innerhalb der Partei
6.300 Kilometer Länge). Beide Flüsse der Verfassung niedergeschrieben. sowie ein striktes Verbot der Bildung
sind für die Bewässerung wichtig. Staatsoberhaupt und Generalsekre- innerparteilicher Gruppierungen;
Große Klimascheiden verlaufen zwi- tär der KP Chinas ist Hu Jintao, der am  parteigelenkte Massenpropaganda
schen Nord und Süd bzw. zwischen Ost 15. März 2008 vom Nationalen Volks- und selektive Vermittlung von Informa-
und West. Im Sommer sind kaum Tem- kongress für eine zweite fünfjährige tionen gegenüber der Bevölkerung
peraturunterschiede zu verzeichnen, im Amtszeit mit 2.956 Ja-Stimmen (bei drei sowie Lenkung der öffentlichen Mei-
Winter hingegen gibt es krasse Gegen- Nein-Stimmen und fünf Enthaltungen) nung mittels politisch kontrollierter Me-
sätze zwischen Nord und Süd. Die Nie- gewählt wurde. dien (vgl. Heilmann, S. 22ff.).
derschlagsmengen sinken (unter ande- Der am 5. März 2008 zusammengetre-
rem wegen unterschiedlicher Monsun- tene XI. Nationale Volkskongress als
einwirkungen) stufenweise von Südost Einkammerparlament zählt 2.987 Ab- Verwaltung
(1.500-2.000 Millimeter pro Jahr) nach geordnete. Die Abgeordneten werden
Nordwest (zum Teil unter 50 Millime- für fünf Jahre indirekt über die Volkskon- Das Verwaltungssystem der Volksrepu-
ter). Aufgrund der starken Schwankun- gresse der Provinzen und gleichgestell- blik China umfasst sechs Ebenen:
gen von Jahreszeit zu Jahreszeit bzw. ten Gebiete sowie die Armee gewählt.  (1 .) die zentrale Ebene mit den politi-
von Jahr zu Jahr droht ständige Dürre- Der Nationale Volkskongress tritt ein- schen Führungsorganen der KP, dem
bzw. Hochwassergefahr. Das rasante mal jährlich zusammen. Dem Ständigen Staatsrat und Ständigen Ausschuss
Industriewachstum, Bevölkerungsdruck Ausschuss, der die laufende Parlaments- des Nationalen Volkskongresses;

257
China im Überblick
Landhöhen in Meter: 90° 105° 120° 135°E
Barnaul Amur
überS 5000
R U S S L A N D

ch
4000 - 5000 Baikalsee

w arz
3000 - 4000 Irkutsk

er
2000 - 3000

Irty
1000 - 2000 Chövsgöl
h

sc
500 - 1000 Nuur

n ga
200 - 500
Uvs Nuur

Chin
0 - 200 4374 Chjargas
Depression Saissan- Nuur Hulun
ULAN BATOR Chabarowsk

ßer
Höhenpunkt see Nur
(Ulaanbaatar) Man Amu
r
c

Gro
Char Us
75°
Qiqihar h u

A
4362 Nuur
KASACHSTAN ta rul
e n r

l
i Ke Daqing

ei
- G
Balchasch-
see
Alakul
e birg MONGOLEI Harbin Jixi
Shihezi e Mudanjiang
45°
Chankasee
Almaty
Yining Urumqi Changchun
(Gulja) )
(Schamo
7439 Gobi Jilin Yanji Wladiwostok
Pik Pobedy an -154 Turpan-
Shenyang
BISCHKEK Issyk-Kul Sh Depression
Hohhot
an
Bosten Hu
Zhangjiakou Fuxin
KIRGISTAN
Ti
Tarim He
Yumen
Datong Anshan NORD-
Kashi Lob Nur Baotou
BEIJING Tangshan KOREA Japanisches
7719 (Kaschgar)
Ta r i m b e c k e n Yinchuan (PEKING) PJÖNGJANG Meer
an Tianjin Dalian
Kongur Shan
n Sh Qaidam-
Qilian Shan
TAJIK. 7723 tu Becken Shijiazhuang Baoding Yantai SEOUL
Al Quinghai
Muztag Taiyuan He Dongying Gelbes
8611
S h a n
Hu SÜD-
K u n l u n
ng Zibo Tsingtau
K2 Xining Lanzhou u a
KOREA KobeKyoto
HulbaenrgF He Luoyang Jinan (Qingdao)

H
s
(G
e lus
Xianyang Zhengzhou
u

Tibet-
H

s)
Hiroshima
In d

Xi'an Xuzhou Meer Osaka


PAK. Srinagar Plateau
Han Jiang Huainan
i

ISLAMABAD Fukuoka
m Nanjing
JAPAN
Mianyang Hefei
Lahore a Nu J
ian
Chengdu
Wuhan
Hangzhou
Shanghai
l a Nam Co Lhasa 7756 Ningbo Ost-
g

Chongqing
Delhi NEPAL 8848
y a Yar n lu g
5881
Neijiang
ng tse
k iangChangde Dongting
Hu
Nanchang chinesisches
30°

KATHMANDU Ja Poyang Hu
NEU-DELHI
Mt Everest THIMPHU Hkakabo Razi Changsha Wenzhou Meer
Ortsgrößen / Administration: Panzhihua Zhaotong
BHUTAN Hengyang Fuzhou
über 5 000 000 Ew. putra Guiyang
Gange
s Brahma Baoshan
1 000 000 - 5 000 000 Ew. Qujing Shaoguan Xiamen TAIPEH
500 000 - 1 000 000 Ew. BANGLA- Kunming Liuzhou Kanton Pazifischer
IN DIE N
i

(Guangzhou)
ad

unter 500 000 Ew. DHAKA Shantou TAIWAN Nördl. Wendekreis


Ira w

Me

Shenzhen 3997
Hauptstädte von Staaten sind Kolkata
ko

DESCH Nanning
Ozean
ng

in Großbuchstaben dargestellt. (Kalkutta) Mandalay 3143 Macao Hongkong Kaohsiung


Staatsgrenze V.R. China MYANMAR HANOI (Aomen) (Xianggang)
andere Staatsgrenzen VIET- Haikou Süd-
Mumbai Golf von NAM 0 500 1000 km
umstrittene Grenzen
(Bombay) Bengalen VIENTIANE 1867 chinesisches © V. Schniepp, Univ. Heidelberg,
Grenze autonome Region LAOS Hainan Meer PHILIPPINEN Geographisches Institut

 (2.) die Provinzebene mit 22 (einschließ- bar. Geburten- und natürliche Wachs- Prozent und der tertiäre Sektor (Dienst-
lich Taiwan 23) Provinzen, fünf Autono- tumsraten zeigten in der letzten Dekade leistungen) 39,1 Prozent. Die Industrie
men Regionen, vier provinzfreien, der einen kontinuierlichen Abwärtstrend. ist weiter der Motor der Wirtschaft (vgl.
Zentralregierung unmittelbar unterstell- Die politische Führung der Volksrepublik die Beiträge von Xuewu Gu und Markus
ten Städten und zwei Sonderverwal- China will an der strikten Geburtenkont- Taube in diesem Heft). Nach Angaben
tungszonen (Hongkong und Macau); rolle festhalten (vgl. den Beitrag von Bet- der Bundesagentur für Außenwirtschaft
 (3.) die Bezirksebene mit 50 Regierungs- tina Gransow in diesem Heft). (bfai) verzehnfachte sich der Anteil der
bezirken und 283 kreisfreien Städten; Die Han-Chinesen stellen mit 91,6 Pro- Volksrepublik China am Welthandel in
 (4.) die Kreisebene mit 2.860 Verwal- zent (Volkszählung von 2000) die größ- den Jahren von 1978 bis 2006 von 0,8
tungseinheiten; te Bevölkerungsgruppe der Volksrepu- Prozent auf 8,0 Prozent. Im Jahr 2007
 (5.) die Gemeindebene mit 15.316 Ge- blik China dar. Die übrigen 8,4 Prozent wuchs er um 23,5 Prozent auf 2.173,8
meinden, 19.369 Kleinstädten sowie setzen sich aus Zhuang (16,2 Mio.), Milliarden US-Dollar. Das Exportwachs-
6.355 Stadtteilen (Stand 2006); Mandschu (10,7 Mio.), Hui (9,8 Mio.), tum übertraf mit 25,7 Prozent wiederum
 (6.) die Ebene begrenzter Selbstver- Miao (8,9 Mio.), Uiguren (8,4 Mio.) Tu- das der Importe, so dass der Handels-
waltung (ca. 640.000 Dörfer und städ- jia (8,0 Mio.), Yi (7,8 Mio.), Mongolen bilanzüberschuss auf 262,2 Milliarden
tische Straßenzüge). (5,8 Mio.), Tibetern (5,4 Mio.) und wei- US-Dollar anstieg. Im gesamten Welt-
In allen Einheiten hat ein KP-Komitee teren ethnischen Gruppen zusammen. handel liegt China auf dem dritten
mit einem Parteisekretär an der Spitze China ist ein nur scheinbarer toleranter Platz, bei den Exporten noch knapp
die politische Führung. Mit Ausnahme Vielvölkerstaat. Die Mehrheitsbevölke- hinter Deutschland auf Platz zwei. Je
der letzten Ebene haben alle Verwal- rung der Han hat nur ein geringes Ver- abhängig von den Auswirkungen der Fi-
tungseinheiten eigene Volksvertretun- ständnis für die ethnischen Minderhei- nanzkrise des Jahres 2008 ist damit zu
gen (Volkskongresse) und Regierungen ten; die Kontrolle durch Peking ist teil- rechnen, dass die Volksrepublik China
(Volksregierungen), die vom Volkskon- weise sehr rigide (vgl. den Beitrag von die Bundesrepublik bei den Exporten im
gress gewählt werden (tatsächlich aber Thomas Heberer in diesem Heft). kommenden Jahr überholen wird.
werden sie in der Regel von KP-Komitees
über das Nomenklatursystem bestimmt).
Wirtschaftslage QUELLEN

Bevölkerung und Ethnien Die Wirtschaft der Volksrepublik China Der Fischer Weltalmanach 2008. Zahlen, Daten,
wuchs 2007 im sechsten Jahr in Folge in Fakten. Frankfurt am Main.
Heilmann, Sebastian: Charakteristika des politi-
Das durchschnittliche jährliche Bevöl- zweistelliger Höhe. Das Bruttoinlands- schen Systems. In: Bundeszentrale für politische
kerungswachstum betrug von 1995 bis produkt (BIP) stieg 2007 nach vorläu- Bildung (Hrsg.): Informationen zur politischen Bil-
2000 0,9 Prozent; von 2000 bis 2005 0,8 figen amtlichen Angaben real um 11,4 dung, Heft 2898 (Volksrepublik China). Bonn
Prozent. Schätzungen zufolge beträgt Prozent. Der Beitrag des primären Sek- 2005, Seite 22-32.
das Bevölkerungswachstum von 2005 tors (Land- und Forstwirtschaft, Tierhal- Landeszentrale für politische Bildung Baden-
Württemberg (Hrsg.): Politik & Unterricht, Heft
bis 2010 0,6 Prozent. Als Folge der Bevöl- tung, Fischerei) zum BIP betrug 11,7 Pro- 1-2008 (Volksrepublik China. Eine neue Welt-
kerungspolitik macht sich auch in China zent, der sekundäre Sektor (Bergbau, macht?). Stuttgart.
der demographische Wandel bemerk- Industrie und Handwerk) stellte 49,2 Munzinger Archiv Online.

258
BUCHBESPRECHUNGEN
Sand und Seide – eine „Landschaften und Routen“, „Pilgern
Sammelrezension zur Seidenstraße und Propheten“ oder über „Kunst und
Erfindergeist“ bändigt Höllmann das im Jahr 399 von Chang’an nach Indien
Thomas A. Höllmann: Risiko, in einer abenteuerlichen Wis- aufbrach und mit 150 buddhistischen
Die Seidenstraße. sensflut über verschiedene Vegetati- Reliquien und mehr als 650 Schriften
C.H.Beck Verlag, München, 2. Auflage 2007, onszonen, Epochen und Kulturräumen heimkehrte. Oder Ibn Battuta – der im
128 Seiten, 7,90 Euro. orientierungslos unterzugehen. Mit 14. Jahrhundert für die islamische Welt
Sinn für wissenswerte Details folgt er bedeutete, was Marco Polo für das
Geschichtsmagazin DAMALS in so den Sprachbarrieren entlang der christliche Abendland repräsentierte –,
Zusammenarbeit mit der Wissenschaft- Seidenstrasse, skizziert die ethnische der auf seinen Reisen von Marokko bis
lichen Buchgesellschaft (hrsg. von): Vielfalt und zieht Rückschlüsse auf die nach Indien mehr als 100.000 Kilometer
Fernhandel in Antike und Mittelalter. besonderen Fähigkeiten der Überset- zurücklegte und dessen Beschreibun-
Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2008, zer und ihre Schlüsselfunktion für die gen etwa der Umstände von Witwen-
127 Seiten, 24,90 Euro. Kaufleute, die in Etappen handelten verbrennungen von großer Präzision
und sich in Karawansereien trafen, um zeugen.
Bruno Baumann: Waren und Wissen zu tauschen. Brü- Licht auf die im Dunkel der Vergan-
Abenteuer Seidenstraße. cken seien häufig iranische und türki- genheit verlaufenen Reisespuren wirft
Auf den Spuren alter Karawanenwege. sche Sprachen gewesen – der Begriff Thomas Hellmann mit einer inhaltlich
Herbig Verlag, München, 2. Auflage 2007, Dolmetscher beispielsweise leitet sich übersichtlichen Struktur sowie Tabellen,
288 Seiten, 19,90 Euro. ab vom türkischen dilmaƤ. Archäologi- Handelslisten, Übersichtskarten und
sche Funde an der Seidenstrasse wie Zeittafeln. Eingestreut sind einzelne Bil-
Seit mehr als 2000 Jahren gilt die Felsinschriften, Schriftrollen, Fragmen- der und Zeichnungen. Besonders auf-
Seidenstraße als ein Symbol für wirt- te aus Palmblättern, Birkenrinde, Seide schlussreich ist das Kapitel zum Wissens-
schaftlichen und kulturellen Austausch und Pergament bezeugen die enorme transfer. Der Kompass beispielsweise
zwischen Asien und Europa. Über Jahr- Vielfalt an Sprachen, denen im Grunde gelangte nach dem 12. Jahrhundert
hunderte war sie die wichtigste Han- drei Schriftmodelle zugrunde liegen: von China aus in die arabisch-persische
delsroute von China bis zum Mittelmeer. das Aramäische, von rechts nach links Welt. Auch Neuerungen im Schiffbau
Lange Zeit also bevor die „Globalisie- geschrieben, Brahmi von links nach wie die Konstruktion von Schotten, den
rung“ zum Begriff wurde, befand sich rechts und das von oben nach unten quer zur Kiellinie verlaufenden Trenn-
die weltumspannende Verflechtung angeordnete Chinesische. wänden für den Fall eines Lecks, wurden
zivilisatorischer Zentren schon voll im Einige Jahrzehnte nach dem Tod Dschin- in China erfunden und gelangten im 18.
Gange. Auf der Seidenstrasse gelang- gis-Khans (gestorben 1227) umfasste Jahrhundert, rund tausend Jahre später,
ten kostbare Waren, religiöse Vorstel- das Weltreich der Mongolen beinahe nach Europa. Chinesischen Alchemisten
lungen und Veränderung verheißende das gesamte landgestützte Routen- ist auch die Entdeckung des Schießpul-
Erfindungen von Ost nach West und netz, die Pax Mongolica. Wenngleich vers zuzuschreiben, denn die Erfindung
umgekehrt. Dabei müsste man eigent- dieser Verbund recht bald wieder zer- von Schusswaffen geht dorthin und auf
lich von „den Seidenstrassen“ sprechen, brach, war es unter den Weltreichen das 12. Jahrhundert zurück – in Europa
denn die transkontinentale Verbindung der Menschheitsgeschichte das bislang wurden die übernommenen Erkenntnis-
bestand nicht aus einem einzigen Kara- größte geschlossen kontrollierte Terri- se weiterentwickelt.
wanenweg, sondern aus einem riesigen torium. Die erfolgreichen Kriegszüge Abschließend begibt sich der Autor auf
Netz von Handelsrouten über landge- Dschingis-Khans und gesellschaftlichen eine Tour d’Horizon durch die aktuelle
stützte Trassen und Seewege. Der Rei- Neuerungen, wie etwa die Regelung Situation in Ländern entlang der Sei-
sende vergangener Jahrhunderte muss- der sozialen Stellung nicht mehr durch denstrasse. Hier sei heute so manches
te die Unwägbarkeiten der Natur mit Abstammung sondern durch Leistung, Pulverfass aufgestellt, so Höllmann
einem aus heutiger Sicht bescheidenen hatten hierzu die Grundlage geschaf- und verschließt die Augen nicht vor
Equipment bestehen. „Nach allen Rich- fen. In der nachfolgenden Generation den Schatten der Globalisierung. Un-
tungen ausspähend, so weit das Auge wurden wichtige administrative Grund- ter dem Titel „Öl und Opium“ lenkt er
reicht, um den rechten Weg zu finden, lagen geschaffen wie die Ausgabe von die Aufmerksamkeit auf Machtkollisio-
findet man nichts anderes als die aus- Papiergeld, der Bau von Brunnen und nen und Spannungspotentiale in zahl-
gebleichten Gebeine toter Menschen, Speichern und die Schaffung eines reichen Regionen Zentralasiens, die mit
die den Weg bezeichnen“ – so schil- Kurierdienstes. Von Marco Polo, dem den einseitigen Absichten globaler Ak-
dert der buddhistische Mönch Faxian venezianischen Kaufmannssohn, der teure im Blick auf Pipelinebau und Ener-
seinen Weg durch die Takla Makan- Vater und Onkel nach Peking begleite- gieversorgung oftmals eng verflochten
Wüste im vierten Jahrhundert. te, sind zahlreiche Schilderungen des sind. Die Geschäfte mit dem Krieg pro-
Aber nicht allein für Reisende ferner mongolischen Imperiums überliefert. Es sperieren, wie der boomende Schlaf-
Jahrhunderte birgt die Seidenstrasse waren aber vor allem Pilger im Dienste mohnanbau in dem von Armut geplag-
unwägbare Risiken. Auch das Vorha- ihrer Religion, die ihre Eindrücke schrift- ten Afghanistan bezeugt. Zeitweise
ben, die Geschichte des Wegenetzes lich festhielten, denn der Mehrzahl der sei die Produktion so ergiebig gewe-
auf ein paar hundert Seiten zusam- Kaufleute war im Sinne der Geschäfte sen, dass mit dem daraus hergestellten
menzufassen – vom sicheren Schreib- wenig daran gelegen, ihre Erfahrungen Heroin drei Viertel des Weltmarktes
tisch aus über Gefahren räsonierend weiter zu vermitteln. Bedeutende Pilger versorgt werden konnten. Für den Ex-
–, stellt ein Wagnis dar. Dies betont der Weltreligionen Christentum, Bud- port der Drogen würden vor allem alte
der Münchner Sinologe und Ethnologe dhismus und Islam sowie berühmte For- Routen der Seidenstrasse genutzt. So
Thomas A. Höllmann im Vorwort seines scher und Abenteurer erfasst Höllmann gleicht die Seidenstrasse in manchen
hundertseitigen Taschenbuches Die Sei- übersichtlich in eigenen Abschnitten: Abschnitten eher einem Schmuggler-
denstrasse. In sieben Kapiteln, etwa zu Faxian, der buddhistische Mönch, der pfad als einem Handelsweg.

259
BUCHBESPRECHUNGEN

Ort zugleich. Dem Leser bietet Folker dem heutigen Yunnan. Nach der Ge-
aus dem komplexen Themenspektrum burt seines Kindes legte sich der Vater
Von fernen Ländern und reichen Händ- einzelne Schlüsselthemen dar und demnach für 40 Tage mit dem Säug-
lern berichtet der Band Fernhandel in verknüpft diese in gut lesbarem Stil. ling ins Bett und wurde von der Mutter
Antike und Mittelalter, der in Zusammen- Welch tiefe Wurzeln der Jahrhunder- rundum versorgt. In Tibet seien junge
arbeit von Wissenschaftlicher Buchge- te lange Kultur- und Handelsaustausch Mädchen den durchreisenden Frem-
sellschaft und dem Geschichtsmagazin geschlagen habe, zeige sich etwa an den für die Nacht überlassen worden,
DAMALS herausgegeben wurde. Die dem arabischen Wort atlas zaituni für um sie vor ihren späteren Ehen mit ei-
Frühgeschichte der Globalisierung, die aus fernen Landen exportierten nem statthaften Erfahrungsschatz zu
wirtschaftliche und kulturelle Grenz- Seidenstoffe. Als „Satin“ ging es in die wappnen: Wenn die Reisenden wie-
überschreitungen stehen im Zentrum europäischen Sprachen ein und blieb der aufbrachen „gehört es sich, dass
dieses Bandes – neben der Seiden-stra- bis heute erhalten. Der Begriff „Seiden- sie den jungen Frauen, mit denen sie
ße florierten einst weitere Handelsnet- straße“ selbst ist nicht sehr alt. Er geht die Nächte verbrachten, ein Schmuck-
ze wie Bernsteinstraße, Pelzstraße und auf den deutschen Geographen Fer- stück oder ein Andenken geben, damit
Weihrauchstraße. Im 7. Jahrhundert dinand von Richthofen zurück, der mit diese bei einer zukünftigen Heirat ihre
profitierte der altorientalische Fern- dem Auftrag Bodenschätze zu explo- Liebeserfahrungen beweisen können.
handel von Lapislazuli, Glas und Gold. rieren, zwischen 1868 und 1872 quer Es ist Sitte, dass jedes Mädchen mehr
Der von Griechen, Phöniziern und spä- durch China reiste. Auch von den Rei- als zwanzig solcher Andenken an sei-
ter Römern betriebene Güteraustausch sen Marco Polos wird berichtet. Dass nem Hals trägt, um zu zeigen, wie viele
verband Knotenpunkte der klassischen dieser bis 1292 insgesamt 17 Jahre Männer schon Vergnügen mit ihr ge-
Mittelmeerwelt, und beim Handel zwi- im Dienste des Großkhans gestanden habt haben. Die Frau mit dem reichsten
schen Arabien und Süd- und Ostasien habe, vier Fremdsprachen und ebenso Halsschmuck ist die beste und begehr-
spielten der Seeweg und muslimische viele Schriftarten beherrschte und im teste; die Tibeter sagen, sie sei begna-
Händler eine große Rolle. Auf der Reise Gefolge des Großkhans an Kriegszü- det wie keine andere.“ (Seite 52) Mit
in eine andere Welt beschreibt Folker Rei- gen teilgenommen habe. Zu den Selt- solchen und anderen Anekdoten gibt
chert, Historiker an der Yokohama Na- samkeiten, die Marco Polo überlieferte, Folkert die Begegnungen der Völker
tional University in Japan, die Seiden- gehört etwa die Schilderung des Män- durch die Jahrhunderte hindurch zum
straße als Handelsweg und mythischen nerkindbetts in der Provinz Zardandan, Besten und zeigt, wie der Kontakt zwi-
schen den Wirtschaftsräumen an kultu-
relle Selbstverständnisse rührte.
Dass die Seidenstraße vom Handels-
volumen her gesehen im Schatten des
Landeszentrale trauert um Güteraustausches zwischen der ara-
ihren Gründungsdirektor Theo Götz bischen und asiatischen Welt stand,
darauf verweist Stephan Conermann,
Die Landeszentrale für politische Bildung trauert um ihren ersten Direktor Islamwissenschaftler der Rheinischen-
Theo Götz, der am 15. September 2008 im Alter von 77 Jahren verstorben ist. Friedrich-Wilhelms Universität Bonn, in
seinem Beitrag Unter dem Einfluss des
Theo Götz war vom 1.4.1973 bis 16.5.1976 Direktor der Landeszentrale für Monsuns. Über Jahrhunderte hinweg,
politische Bildung Baden-Württemberg und hat sich um die politische Bildung bis zu den Entdeckungsreisen der Portu-
in hohem Maße verdient gemacht. Die Demokratie und die politische Bildung giesen, dominierten muslimische Händ-
waren ihm stets ein Herzensanliegen. Seine fortwährende Verbundenheit mit ler die Seewege zwischen Arabien
der Landeszentrale für politische Bildung hat er auch dadurch gezeigt, dass und Südostasien. Historische Entwick-
er bis in sein letztes Lebensjahr hinein gern gesehener Gast unserer Weih- lungen, politische Konstellationen und
nachtsfeiern und zahlreicher Veranstaltungen war. Aufgrund seines breiten die Transportbedingungen innerhalb
ehrenamtlichen Engagements in vielen Bereichen wusste er um die Anliegen des Handelsraumes werden in Zügen
der Menschen und vertrat deren Interessen mit großem Einfühlungsvermö- nachgezeichnet. Bereits im 8. Jahrhun-
gen. Das Wirken von Theo Götz, Träger des Bundesverdienstkreuzes Erster dert fanden muslimische Kaufleute ihren
Klasse und der Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg, hat in Weg über den Indischen Ozean, in Ost-
vielen Bereichen sein Umfeld geprägt. Hauptsächlich den drei Säulen Politik, afrika kam es im 9. Jahrhundert zu musli-
Schule und Sport galt sein besonderer Einsatz. Neben seiner Tätigkeit als mischen Siedlungen. Zwischen dem 10.
Gemeinderat der Stadt Pfullingen war er als Mitglied des Kreistages und als und dem 15. Jahrhundert verlagerten
Landtagsabgeordneter Teil des öffentlichen Lebens. Beinahe 20 Jahre stand sich die interregionalen Haupthandels-
Theo Götz als Schulleiter dem Friedrich-Schiller-Gymnasium in Pfullingen routen von Bagdad und Damaskus hin
vor und hat die Geschicke der Schule engagiert und dynamisch bestimmt. nach Kairo und Aden. Mit der territo-
Als Vorsitzender des Sportkreises und als Landesvorsitzender der Deutschen rialen Ausdehnung des Delhisultanates
Olympischen Gesellschaft gestaltete er maßgeblich den Sport mit. im 14. Jahrhundert gerieten auch die
Häfen der indischen Westküste unter
Durch den Tod von Theo Götz verliert die Landeszentrale einen treuen Freund muslimischen Einfluss und zur gleichen
und langjährigen Weggefährten. Wir werden ihm in Dankbarkeit ein ehren- Zeit breitet sich der Islam auf dem indo-
des Gedenken bewahren. nesischen Archipel weiter aus. Zu den
transkontinentalen Handelgütern der
östlichen Zivilisationen gehörten vor al-
Lothar Frick Christine Kuntzsch lem Seide, Porzellan, Pfeffer und San-
Direktor Personalratsvorsitzende delholz, die gegen Weihrauch, Gum-
miarabikum, Harz, reinrassige Pferde,

260
BUCHBESPRECHUNGEN

Elfenbein, Baumwollstoffe und Metall- begründete, von der sich der heutige
waren getauscht wurden. Conermann Name „China“ ableitet. In Shihuangdis
erläutert ökonomische Grundlagen Regierungszeit wurden mit dem Bau von Augen, muten dem Leser im heimischen
des Handelssystems wie Münzpolitik, Straßen und Befestigungsanlagen so- Sessel derartige Grenzerfahrungen
den Umgang von Währungshütern mit wie der Vereinheitlichung von Maßen höchst befremdlich an. Anschaulich
unautorisierten Münzprägungen und wichtige Weichen für die Entwicklung aber wird hier das enorme Risikopoten-
die Notwendigkeit von Preisindizes zur der Seidenstraße gestellt. Bereits zu tial, dem sich auch jene reisenden Kauf-
Wertbestimmung von Waren. Ein Exkurs Lebzeiten begann Shihuangdi mit dem leute, Gelehrte und Mönche aussetzen,
gilt den Besonderheiten islamischen Bau eines monumentalen Grabmales, die den Ruhm und die Bedeutung der
Rechts, das prinzipiell alle Geschäfte das ihm, gottgleich, über den Tod hin- Seidenstraße vor tausenden von Jahren
ausschloss, die mit Alkohol, Rauschmit- aus Macht und Reichtum sichern sollte. mitbegründeten.
teln, Prostitution oder unrein geschlach- Im Jahr 1974 stießen Archäologen im Danja Bergmann
tetem Fleisch zu tun hatten. Die Ableh- Umland der Stadt Xian auf die weltbe-
nung des Korans gegenüber Zinsnah- rühmte Armee der Tonkrieger, die einst
me bei Schuldverschreibungen wurde den Auftrag hatte, ihren Kaiser über China: ein Land im Umbruch
in der Auslegung jedoch recht unter- den Tod hinaus zu bewachen. 6.000
schiedlich betrieben. Aufschlussreich der vermuteten 7.600 Tonsoldaten sind Regina Meier / Ulrike Reisach (Hrsg.):
ist der Abschnitt zu den reichen nauti- mittlerweile ausgegraben und kein Aufbruch im Land des Drachen.
schen Traditionen des Mittleren Ostens Krieger gleicht einem anderen, wonach
und Indiens im 16. Jahrhundert, die in die echte Armee des Kaisers Modell ge- Arbeiten und Leben in China zwischen
mathematischen Methoden zur exak- standen zu haben scheint. Als achtes Konfuzianismus, Sozialismus und
ten Bestimmung von Breitengraden und Weltwunder bezeichnet Baumann die Globalisierung.
Sternenhöhe gründeten. Unterschiedli- Terrakotta-Armee, deren Kopien bereits Casimir Katz Verlag, Gernsbach 2008,
che Methoden der Navigation erläutert durch die Museen der Welt gewandert 192 Seiten, 24,80 Euro.
Conermann ebenso wie das ausgefeilte sind, mit Blick auf die Vermarktung im
Schiffhandwerk. Der transkontinentale Souvenir-Handel. Mit seinen Beschrei- China gewinnt immer mehr an Bedeu-
Seehandel lief komplementär zum zen- bungen vergangener Völker, Religionen tung, Wissen und Kenntnisse über das
tralasiatischen Karawanenhandel und und Staatsformen trägt Baumann ein Land nehmen aber nicht in gleichem
vor dem 16. Jahrhundert hingen glo- buntes Kaleidoskop kultureller Vorstel- Maße zu. Vermutlich müssen wir uns
baler Handelsrhythmus und weltweites lungs- und Lebenswelten zusammen. mit der Vorstellung anfreunden, dass
Handelvolumen davon ab, dass diese Lebendige Sprache vermittelt wertvol- die nacholympische Ratlosigkeit nur ein
beiden Güterkreisläufe funktionierten, les Grundlagenwissen. Der Leser wird bisschen kleiner ist, als es die vorolym-
so Conermann. Beeinträchtigten poli- aufgeklärt über den Siegeszug der Sei- pische war. Unser Bild von China ist ru-
tische Schwierigkeiten den Warenaus- de, die zum Namensgeber der weltbe- dimentär und allzu häufig von Ängsten
tausch über Land, gewann an seiner rühmten Handelsrouten wurde, auch geprägt. So ergab eine repräsentative
Stelle der Seehandel an Bedeutung und über die hohe Kunst ihrer Herstellung, Meinungsumfrage im Auftrag des Bun-
umgekehrt. Hier schließt sich der Kreis dessen Geheimnis in China viele Jahr- desverbandes deutscher Banken An-
zur Seidenstraße. Anhand der beiden hunderte lang bewahrt wurde, um die fang 2008, dass zirka zwei Drittel der
exemplarisch besprochenen Beiträge Monopolstellung zu wahren. Von den Deutschen die rasante ökonomische
bleibt festzuhalten, dass der mit einer Bedingungen der Seidenraupenzucht Entwicklung Chinas als eine drohende
Fülle an Abbildungen – Bildern, Mini- bis zum Abwickeln des mehr als einem Gefahr empfinden. Es hat mithin den
aturen und Fotografien – sorgfältig il- Kilometer langen Seidenfadens vom Ko- Anschein, dass das Schlagwort von der
lustrierte Band den Leser zu einer reich- kon des echten Seidenspinners. Im Chi- „Gelben Gefahr“ bis heute das China-
haltig informierenden und zugleich na der Han-Dynastie, die zeitgleich mit bild des Westens prägt.
unterhaltsamen Reise durch die Wirt- dem Römischen Reich zur Großmacht Der rasante Wandel des Landes und
schaftsgeschichte entführt. Komplexe aufstieg, wurde die Seide zu einem seine wirtschaftliche Verflochtenheit
Zusammenhänge werden hier von Fach- Wertgegenstand wie Gold, Silber oder mit Europa jedoch – nicht zuletzt auch
leuten fundiert vermittelt, auch für den Kupfer und erlangte den Status einer Art mit dem exportorientierten Land Baden-
thematisch Unvorgebildeten. Der kom- Leitwährung. Württemberg – legen eine intensive und
pakte Literaturanhang jedenfalls lädt Der besondere Reiz des Buches liegt unvoreingenommene Beschäftigung mit
zu weiter gehender Lektüre ein. in der Verknüpfung von Vergangenheit China geradezu nahe. Das von Regina
Dem Abenteuer Seidenstraße. Auf den und Gegenwart, der Leser wird eben- Meier und Ulrike Reisach herausgege-
Spuren alter Karawanenwege folgt der so mit Geschichte wie mit aktuellen Um- bene, opulent und stimmig zum Textteil
österreichische Abenteurer, Schriftstel- weltproblemen oder Konfliktfällen wie bebilderte Buch macht es sich zur Auf-
ler und Filmemacher Bruno Baumann seit zwischen der KP Chinas und der Falun- gabe, eine größere Leserschaft bes-
mehr als einem Jahrzehnt. Die Impres- Gong-Bewegung konfrontiert. Mit sei- ser mit dem „Reich der Mitte“ vertraut
sionen aus den Regionen Zentralasiens ner Schilderung der Durchquerung der zu machen. Die zwölf bzw. dreizehn
und Chinas gehen weit über eine reine Alashan-Wüste hebt sich Baumann von – allesamt von ausgewiesenen Exper-
Reisereportage hinaus; sie sind einge- dem heutigen Heer um die Welt reisen- ten verfassten – Beiträge des biblio-
bunden in historische Hintergrundbe- der Backpacker auf der Suche nach philen Sammelbandes beantworten
richte zu den Reiseetappen von Xian Selbsterfahrung deutlich ab. Der aben- eine Vielzahl von Fragen: Wie kam es
bis Samarkand und immer wieder in Be- teuerliche Sologang durch den gefähr- dazu, dass China auf dem Parkett der
zug zur Gegenwart gestellt. Im Fall des lichsten Sandbereich der Wüste Gobi Weltwirtschaft eine derart bedeuten-
ersten chinesischen Kaisers etwa, Qin war von extremem Durst, Halluzinatio- de Rolle spielt? Wo liegen die Motive
Shihuangdis, der zwischen 221 und 206 nen und totaler Erschöpfung begleitet. und Wurzeln für diesen Hunger nach
vor Christus die kurze Dynastie der Qin Den seidenen Faden des Lebens vor Höchstleistung? Wer sind die Gewinner

261
BUCHBESPRECHUNGEN

einmaligen Wachstums- und Entwick- Der gewaltige ökonomische Boom bie-


lungsprozess des Landes, dem nicht nur tet hiesigen Unternehmen Chancen, den
und Verlierer dieser rasanten Entwick- in den Gebäuden anfangs noch der riesigen Absatzmarkt China zu erschlie-
lung? Denken Chinesen anders? Wie ist „Desinfektionsgeruch des Sozialismus“ ßen. An diesem wettbewerbsintensiven
es um das Leben und Arbeiten in China (Klaus P. Wild) anhaftete und das unter Standort, der bereits mehr ist als nur die
bestellt? Vor allem unter (alltags-)prak- den von Mao Zedong und seiner Füh- „Werkbank der Welt“, wollen ausländi-
tischen Gesichtspunkten geht das Buch rungsriege geschaffenen sozialen und sche Investoren teilhaben.
zwei weiteren Fragen nach: Wie berei- ökonomischen Hypotheken litt. „Vom Erfolgreiche und tragfähige Geschäfts-
tet man sich als Tourist oder Mitarbeiter Westen lernen – Chinesen bleiben!“ – beziehungen setzen nicht nur markt- und
eines Unternehmens, das geschäftliche so der chinesische Leitspruch, der den volkswirtschaftliche Analysefähigkeiten
Beziehungen zu China anstrebt oder Weg vom „Staatskonglomerat zum chi- voraus, sondern verlangen auch Kennt-
hat, angemessen auf einen Aufenthalt nesischen Multi“ (Ulrike Reisach) und nisse über die Menschen. Die weiteren,
in diesem Land vor? Welche „kleinen die damit einhergehende Modernisie- lesenswerten und von ausgewiesenen
Strategien für den Alltag“ (Dirk Seyfert, rung Chinas in allen gesellschaftlichen China-Kennern geschriebenen Beiträge
S. 168ff.) gilt es zu bedenken und zu be- Segmenten treffend beschreibt. Gera- (z.B. „Studieren in China – Gestern und
achten? de der Beitrag von Ulrike Reisach zeigt heute“ von Stefan Geiger; „Chinas sozi-
Eigentlich besteht das Buch aus drei- augenfällig, dass Geschichte und Po- aler Kitt: Von innerfamiliären zu gesell-
zehn Einzelbeiträgen. Der allen Beiträ- litik spannend und verständlich für ei- schaftlichen Verpflichtungen“ von The-
gen vorangestellte, im Jahre 1967 im ne interessierte Leserschaft aufbereitet resia Tauber; „Wenn aus Expats Locals
„Rheinischen Merkur“ veröffentlichte Ar- werden können. Überaus lesenwert ist werden“ von Christian Sommer) konzen-
tikel „Rotchina auf dem Wege zur Wirt- auch der von Markus Taube geschrie- trieren sich daher auf die verschiedenen
schaftsmacht“ aus der Feder von Casi- bene Beitrag „Von Mao zu Machiavel- Facetten des chinesischen (Arbeits-)All-
mir Catz, dem im Frühjahr verstorbenen li“ (S: 170ff.), weil er den Wandel einer tags und beschreiben – so der Unterti-
Verleger, schafft eine Spannungsbogen einstmals Egalität anstrebenden Ge- tel des Buches – „Arbeiten und Leben in
zwischen den vor gut vierzig Jahren an- sellschaft zu einer Zwei-Klassen-Ge- China zwischen Konfuzianismus, Sozia-
gestellten Prognosen und den zwischen- sellschaft prägnant beschreibt und die lismus und Globalisierung“. Auch und
zeitlich eingetretenen Wandlungen und Verlierer des Modernisierungsprozes- gerade der höfliche und angemessene
Entwicklungen. Die ersten beiden Ab- ses benennt, die nicht oder nur sehr un- Umgangsformen wahrende Dialog mit
handlungen von Klaus P. Wild (S. 16ff.) terproportional am chinesischen „Wirt- dem „Manager als Parteigenosse“ (Ul-
und Ulrike Reisach (S. 30ff.) schildern schaftswunder“ teilhaben, sondern rike Reisach) will gelernt sein. Aus den
die im Jahre 1978 einsetzende Öffnung, auch dessen ökologische und soziale vielfältigen, gelegentlich mit (lehrrei-
die Veränderungen und den historisch Kosten schultern müssen. chen) Eposiden angereicherten Einblik-

262
BUCHBESPRECHUNGEN

ken in die Alltags- und Lebenswelt der sitz, privaten Sammlungen und öffent-
Chinesen lässt sich durchaus ein kleiner lichen Archiven, die in den Publikatio-
„Knigge“ ableiten für alle jene, die pri- nen nachzulesen sind. Sie schildern (zwischen 35 Prozent und 26 Prozent)
vate oder berufliche Verbindung zum und dokumentieren, in Beiträgen von Anteil jüdischer Einwohner. Die jüdi-
„Reich der Mitte“ haben oder suchen. unmittelbaren Beteiligten (Zeitzeugen) schen Händler, Viehhalter, Landwirte,
Überhaupt macht die Bebilderung, wie von Außenstehenden (Historikern, Kleinunternehmer waren die eigentli-
macht die ganze graphische Gestal- Archivaren, Kommunalpolitikern), mit chen Modernisierer im Dorf. Sie stell-
tung des Buches, die gleichrangig zu zum Teil bisher unveröffentlichten Kar- ten die meisten Arbeitgeber, betrieben
den Texten steht, den Hauptreiz aus. ten, Fotos, Tagebuchaufzeichnungen die private Omnibusgesellschaft, lie-
Das Buch besticht durch seine zahlrei- und in Interviews mit Ausgewanderten ßen die ersten Telefonleitungen legen,
chen Fotografien, die nicht nur einzel- und deren Nachkommen, die Geschich- trieben die Wasserversorgung voran,
ne Aussagen und Textstellen unterstrei- te und Gegenwart der jüdischen Sied- sorgten für eine Postagentur. Einblicke
chen und überaus gelungen illustrieren. lung Shavei Zion (= Rückkehr nach Zion) in die in früheren Jahrhunderten weni-
Die Bilder können auch für sich alleine in Westgaliläa nördlich von Akkon von ger getrübten Beziehungen zwischen
stehen. Sie spiegeln das ländliche und 1938 bis 2008. Anlass der Veröffentli- christlichen und jüdischen Bewohnern,
städtische Alltagsleben, die Gleichzei- chung war die Feier der siebzigjährigen die mit den Begriffen Distanz (in den
tigkeit von Tradition und Moderne wider Gründung der Siedlung und diejeni- Bereichen Religion, Erziehung, Heira-
und vermitteln einen Eindruck von der ge des sechzigjährigen Bestehens des ten, später auch in den Sportvereinen)
Schönheit, den kulturellen Besonder- Staates Israel. Der Katalog „Zuflucht und Kooperation (im Gemeinderat, dem
heiten und der Faszination des riesigen und Verheißung“ erschien anlässlich Feuerwehrverein, bei militärischen Ge-
Landes. Der Band überzeugt nicht zu- der Wanderausstellung, die zwischen denktagen) beschrieben werden könn-
letzt durch die redaktionelle und verle- 2008 und 2010 in Rexingen bei Horb am ten. Traurig stimmende, bekannte Einbli-
gerische Sorgfalt. Mithin ein Buch, dem Neckar (Baden-Württemberg), woher cke dann in die seit den 1930er Jahren
man viele Leserinnen und Leser wünscht. die Mehrzahl der jüdischen Auswande- zunehmende, besonders von Außen-
Siegfried Frech rer stammte, in Shavei Zion, Jerusalem, stehenden und von der NS-Presse ge-
Berlin, Stuttgart und New York gezeigt schürte antijüdische Hetzpropaganda,
wurde bzw. wird. Das Heft der Landes- die ab etwa 1936 eine Gruppe von jün-
Shavei Zion – Jüdische Flüchtlinge zentrale „Vom Neckar ans Mittelmeer“ geren Rexinger Juden bewog, eine Aus-
aus Schwaben in Galiläa basiert auf den dort gezeigten Materi- wanderung nach Palästina zu erwägen,
alien. Erarbeitet wurde die Ausstellung nach dem einzigen Land, „in das Juden
Heinz Högerle/Carsten Kohlmann/ vom Förderverein Ehemalige Synagoge aus Deutschland mit der Aussicht ein-
Barbara Staudacher (Hrsg.): Rexingen in Zusammenarbeit mit dem wandern können, sofort Arbeit und ein
Ort der Zuflucht und Verheißung. Gemeindearchiv Shavei Zion, gefördert auf Dauer freies Leben zu führen (...)“.
Shavei Zion 1938-2008. wurde das gesamte Projekt u. a. von der Schon in diesen Auftaktkapiteln zeigt
Theiss Verlag, Stuttgart 2008. Landesstiftung Baden-Württemberg. sich, dass es den Herausgebern, Auto-
178 Seiten deutsch, 142 Seiten hebräisch, Im Mittelpunkt beider Publikationen ren gelungen ist, Bekanntes mit weniger
25,00 Euro. steht, mit Blick auf die beiden Jubiläen, Bekanntem zu verbinden, ebenso Lo-
die Gründung und Entwicklung der jüdi- kal-, Regional-, Landesgeschichtliches
Landeszentrale für politische Bildung Ba- schen Siedlung, eingebettet in die Ge- mit der Allgemeingeschichte, und zwar
den-Württemberg/Trägerverein Ehemali- schichte des britischen Mandatsgebiets auf neuestem Forschungstand.
ge Synagoge Rexingen e.V.: Palästina (1920-1948) und des Staates Diese Gruppenauswanderung und An-
„Vom Neckar ans Mittelmeer“. Jüdische Israel. Nun mögen manche angesichts siedelung war ein einzigartiges Expe-
Flüchtlinge aus dem schwäbischen Dorf der zahlreichen Veröffentlichungen von riment, war die beschwerliche, minu-
Rexingen gründen 1938 eine neue Erinnerungen, Biografien, Monografien tiös vorbereitete, alle Kräfte und Mut
Gemeinde in Galiläa. Ein Lese- und zu den Themen Nationalsozialismus, erfordernde, alle Schwierigkeiten im
Arbeitsheft. Judentum, Verfolgung und Shoa, auch Deutschen Reich und in Palästina über-
Reihe Materialien, LpB Stuttgart 2008. zum Thema jüdische Emigration und windende Organisation einer gemein-
44 Seiten, Schutzgebühr. zur Geschichte des Staates Israel fra- samen Auswanderung, die gelingen
gen, was an diesen beiden Publikatio- konnte, weil sich auch Familien und Ein-
„Anfang 1937, nach vielen langen Bera- nen hervorzuheben sei, was, gerade im zelpersonen aus anderen Gemeinden
tungen, beschlossen wir, die jungen Leu- Hinblick auf den umfangreichen, zwei- anschlossen; es war die Gründung einer
te, ledig, verheiratet und solche mit klei- sprachigen Katalog, die große Mühe neuen Gemeinde mit einem bis dahin
nen Kindern, auszuwandern – alle zu- rechtfertigen mag, eine relativ kleine im britischen Mandatsgebiet Palästina
sammen, als eine Gemeinschaft – nach Gemeinde in den Mittelpunkt einer Aus- nicht bekannten Konzept des Zusam-
Palästina, dem Land unserer Vorfahren. stellung, eines Buches und eines Lese- menlebens und Zusammenarbeitens: ei-
Wir wollten siedeln, das Land bebau- und Arbeitsheftes zu stellen? ne Mischung aus genossenschaftlichen
en und eine neue Gemeinde gründen, Gleich vorneweg: Schon die Beiträ- und privatwirtschaftlichen Elementen
ein neues Leben für uns selbst und für ge zur Vorgeschichte dieser Gruppen- auf traditionell-religiöser Basis – eine
unsere Kinder. Wir waren so voll von auswanderung lassen diesbezügli- neue Siedlungsform, die in Israel von
Begeisterung und Idealen. Wir wollten che Fragen verstummen. Wir erhalten, vielen Siedlungen übernommen wur-
zusammen arbeiten und alles teilen, au- in einer Mischung aus Autorentexten, de. Shavei Zion war der erste „Moshav
ßer unserem Familienleben, das privat Primär- und Sekundärquellen nüchter- schitufi“ in Palästina, entworfen als „Re-
gehalten werden sollte.“ ne, aber auch bewegende Einblicke in xinger Richtlinien“ von den zur Auswan-
Dies ist nur eine der vielen persönlichen die Lebens- und Arbeitsverhältnisse in derung Entschlossenen ein Jahr vor der
Erinnerungen, eine der zahlreichen einer vorwiegend katholischen Land- Auswanderung; eine Mischform aus
wertvollen Quellen aus Familienbe- gemeinde mit vergleichsweise hohem Kollektivwirtschaft der Kibbuzim und

263
BUCHBESPRECHUNGEN

mat im Ort der „Rückkehr nach Zion“ ge- Geschichts- und Gemeinschaftskunde-
funden. unterricht aller Schularten zu empfeh-
der Individualwirtschaft der Moscha- Die ersten Besuche in ihrer alten Hei- len; für Schulen in anderen Orten, auch
vim, d.h. gemeinsame wirtschaftliche mat Rexingen waren schwierig und außerhalb Baden-Württembergs, kann
Produktion, genossenschaftliche Arbeit, schmerzhaft für die Ausgewanderten. die Broschüre als nachahmenswertes
Bezahlung nach sozialen Bedürfnissen, Und noch schwerer war die Wieder- Beispiel dienen, als Anstoß für Recher-
jedoch, im Unterschied zum Kibbuz, pri- begegnung, wenn sie Sätze hörten wie chen am eigenen Ort nach dem Schick-
vater Haushalt der Familien mit eigenem „Da sage ich meine Wahrheit. Wir ha- sal ehemaliger jüdischer Bewohner,
Haus, Garten und, neben der Schule, ben nichts gewusst.“ oder „Der Alois hat auch als Wegweiser für den Besuch ei-
private Kindererziehung. das Haus gekriegt vom Lemberger, das ner von deutschen Juden gegründeten
Besondere Aufmerksamkeit werden si- war weniger wert als das vom Löwen- Siedlung in Israel.
cher auch all jene Beiträge erfahren, gart.“ Inzwischen sind dank der Initia- Der Katalog wurde im Auftrag des För-
die sich der jüdischen Einwanderung tive und des Engagements auf beiden dervereins herausgegeben, die Beiträge
im Allgemeinen widmen, den Land- Seiten von einzelnen Privatpersonen, sind von Fördervereinsmitgliedern, von
verhältnissen im damaligen britischen von Historikern, Theologen, Archivaren, Bewohnern Shavei Zions, von Freunden
Mandatsgebiet Palästina, den speziel- Kommunalpolitikern, Journalisten die der Gemeinde in Israel und Deutschland
len Rechtsverhältnissen im Gebiet des persönlichen und offiziellen Beziehun- geschrieben. Auch die Kurzbiografien
heutigen Shavei Zion, den ersten Ta- gen zwischen Shavei Zion und Rexin- einzelner weiblicher und männlicher
gen und Jahren der Siedlung und dem gen/Horb wie auch Stuttgart weniger „Pioniere“ sowie der Personen, die sich
mehr und weniger gelungenen Aufbau problematisch und freundlicher gewor- um Gründung, Aufbau und Entwicklung
einzelner Wirtschaftszweige (anfangs den. Die Landeszentrale für politische des Ortes verdient gemacht haben, ma-
Rinderzucht, später Blumen- und Ge- Bildung Baden-Württemberg macht chen den Katalog – wie auch das Mate-
müseanbau, schließlich Aufbau einer während ihrer jährlichen Israelreise in rialienheft – zu einer nachdenklich stim-
modernen Plastikfirma); ebenso wie Shavei Zion einige Tage Station. menden, lebendigen Lektüre. Und wer
diejenigen Kapitel, die sich mit dem Das Lese- und Arbeitsheft der Landes- noch mehr erfahren möchte, dem sei ein
Krieg 1947/48 und der Gründung des zentrale erstellten Autorinnen und Au- Besuch in Rexingen/Horb und eine Teil-
Staates Israel aus der Feder der Be- toren, die im Träger- und Förderverein nahme an einer Bildungsreise nach Is-
wohner befassen. Zu den Land- und Ehemalige Synagoge Rexingen enga- rael mit einem Aufenthalt in Shavei Zion
Rechtsverhältnissen, über die doch giert sind. Das Materialienheft der LpB ans Herz gelegt.
weit verbreitete ungenaue, oft falsche ist eher für Schulen gedacht, für den Walter-Siegfried Kircher
Vorstellungen anzutreffen sind, ist für
die Siedlung Shavei Zion festzuhalten:
Grund und Boden wurden 1934 von ei-
ner arabischen Witwe an eine jüdische
Käufergruppe veräußert und dann über Landeszentrale trauert um Xaver Fiederle
offizielle jüdische Institutionen letztlich
an die Rexinger weiter verkauft. Die Wit- Die Landeszentrale für politische Bildung trauert um ihren Förderer, Freund und
we, nach dem Kaufvertrag verpflichtet, Ideengeber Prof. Dr. Xaver Fiederle, der am 30. September 2008 im Alter von
die arabischen Pächter, welche einen 74 Jahren verstorben ist.
Teil der Böden bewirtschafteten, zu
entschädigen, unterließ dies nach dem Xaver Fiederle gehörte zu den kreativen, innovativen und führenden Köp-
Erhalt der Kaufsumme und versuchte fen der politischen Bildung in Baden-Württemberg und in Deutschland. Er
so, Grenzziehung und Grundbuchein- wirkte als methodischer und didaktischer Ideengeber, als überzeugter und
tragung zu verhindern. Ein britisches überzeugender Vermittler demokratischer Werte, als politisches Vorbild und
Gericht in Akkon bestätigte jedoch die belebendes Element vieler Gesprächskreise und Diskussionsrunden. Mit der
Rechte der Käufer. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg pflegte er ein en-
Die ersten Tage der Besiedelung verlie- ges und konstruktives Verhältnis, insbesondere mit unserer Außenstelle in
fen vergleichsweise ohne große Bedro- Freiburg. Einigen Mitarbeitern der Landeszentrale für politische Bildung war
hung durch die arabischen Nachbarn. er über berufliche Kontakte hinaus privat als Freund, Förderer und Ausbilder
Sie nahm mit den Monaten zu, wurde verbunden. Wir verdanken ihm zahlreiche inhaltliche Ideen und neue me-
während des Zweiten Weltkriegs wie- thodische Ansätze, die unsere Arbeit heute prägen und noch lange prägen
der geringer (starke britische Truppen- werden. Er war einer der ersten, die die politische Bildung für spielerische
präsenz). Im arabischen Aufstand 1948 Zugänge öffneten, Pionier einer politischen Bildung, die von den Menschen
waren die Siedlungen in Galiläa erneut aus gedacht war anstatt sich an den großen Entwürfen zu orientieren, ein
in ihrer Existenz gefährdet – die erst mit Praktiker mit Überzeugungskraft, ein Idealist mit Bodenhaftung, ein Päda-
dem Sieg der jüdischen Truppen und der goge mit Einfühlungsvermögen für Menschen jedes Alters und theoretischer
Unabhängigkeitserklärung Israels am Fundierung zugleich.
14. Mai 1948 einigermaßen gesichert
war. Der Boden der geflohenen arabi- Xaver Fiederles Tod bedeutet für uns einen schmerzlichen Verlust. Wir wer-
schen Dorfbewohner ging in den Besitz den ihm und seinen Überzeugungen und Idealen mit unserer Arbeit ein eh-
Shavei Zions über. Genossenschaft und rendes Andenken bewahren.
Siedlung konnten neue Mitglieder auf-
nehmen, aus Israel, Ägypten, Nordaf- Lothar Frick Werner Fichter Dr. Michael Wehner
rika, Südamerika. Auch Flüchtlinge aus Direktor Leiter der Leiter der
Europa, Überlebende der Shoa haben Stabsstelle Marketing Außenstelle Freiburg
nach Ende des Krieges eine neue Hei-

264
BUCHBESPRECHUNGEN

(Kleine) Geschichte Badens Deutsche Gesellschaftsgeschichte


und Württembergs
Hans-Ulrich Wehler: und arbeitet sich an den Achsen Wirt-
Reinhold Weber: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. schaft, politische Herrschaft und Kultur,
Kleine Geschichte der Länder Baden Band 5: Bundesrepublik und DDR, ergänzt um die „Querachse“ soziale
und Württemberg 1918–1945. 1949–1990. Ungleichheit ab. Es ist ein streng ana-
DRW-Verlag Weinbrenner, C.H. Beck Verlag, München 2008. lytisches Konzept, das die Epochen der
Leinfelden-Echterdingen 2008. 529 Seiten, 34,90 Euro. deutschen Geschichte strukturiert und
256 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, innerhalb der fünf Bände Vergleiche er-
16,90 Euro. Wie ein erratischer Block steht sie da laubt. Bisweilen ist es aber auch ein en-
Der aktuelle Band der landeskundli- – schon physisch beeindruckend mit ih- ges Korsett, das thematisch einschnürt.
chen Reihe der „Kleinen Geschichte…“ ren 4.800 Seiten und über 1.200 legen- Generell aber überwiegt auch in die-
nimmt erstmals die südwestdeutsche dären, weil teilweise seitenlangen An- sem fünften Band, was für den gesam-
Geschichte von 1918 bis 1945 in den merkungen in kleinster Schrift, in denen ten „Wehler“ gilt: Es ist ein in der Tat
Blick. Der Autor Reinhold Weber, bei der Kollegen bisweilen gelobt, öfter aber Ehrfurcht gebietendes Werk und ein
Landeszentrale für politische Bildung abgekanzelt werden. Kein Student und intellektuelles Lesevergnügen, infor-
Baden-Württemberg verantwortlich für kein Universitätslehrer werden auf Dau- mationsgesättigt und von der schier
die Buchreihe „Schriften zur politischen er an ihr vorbeikommen, der berühmte unglaublichen Belesenheit des Autors
Landeskunde Baden-Württembergs“, er- historische Laie wird sie eher selektiv zeugend. Dabei erzählt der Autor kei-
liegt dabei nicht der Gefahr, sich haupt- lesen oder auf leichter Verdauliches zu- nesfalls nur deskriptiv die großen Linien
sächlich der politischen Geschichte der rückgreifen. der deutschen Geschichte nach. Ganz
1919 begründeten „freien Volksstaaten“ Kein Zweifel: Der fünfte Band, der die im Gegenteil: Er geht streng analytisch
Baden und Württemberg zu widmen, „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ vor und bietet scharfsinnige Interpreta-
sondern gibt auch den Bereichen Wirt- von Hans-Ulrich Wehler abschließt, ist tionen. Absolut unverständlich also Kri-
schaft, Gesellschaft, Kultur und Wissen- das Buchereignis des Jahres 2008. Die tiken wie die von Franz Walter in der
schaft ihren eigenen Raum und zeigt gesamten fünf Bände – nun beim Beck- „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, solch
damit – in der gebotenen und vorgege- Verlag auch im Taschenbuchformat im ein Buch könne „mit Hilfe einer guten
benen kurzen Form – eine komprimierte Schuber erschienen – sind ein gerade- amerikanischen Universitätsbibliothek“
Gesamtschau der Geschichte des Süd- zu monumentales Werk eines deutschen auch „ein begabter Grönländer schrei-
westens zwischen der Novemberrevo- Gelehrten, das zurecht immer wieder in ben“. Nein, man muss es mehrmals beto-
lution von 1918 mit ihren tiefgreifenden einem Zug mit den großen deutschen nen: Auch wer den Interpretationen und
Umbrüchen in allen Bereichen und dem Nationalgeschichten von Franz Schna- Meinungsäußerungen Wehlers im Ein-
Ende des Zweiten Weltkriegs – mit noch bel, Heinrich von Treitschke, Heinrich zelnen nicht immer zustimmen kann, der
tiefgreifenderen Umbrüchen. von Sybel und anderen genannt wird. In muss diesem Werk trotzdem und unein-
Der Autor zeichnet die Entwicklungen über zwanzig Jahren hat der streitba- geschränkt das Prädikat „monumental“
in Baden und Württemberg in ihrer Ver- re politische Intellektuelle aus dem Teu- zubilligen. Da hilft es auch nicht, wenn
schiedenartigkeit nach und stellt immer toburger Wald etwas geschafft, was mancher Rezensent in den fast 5.000
wieder den Bezug zum Reich her. Beson- andere erst gar nicht versucht haben Seiten ein paar kleinere sachliche Fehl-
ders nachdrücklich wird die wirtschaftli- oder woran sie früh gescheitert sind. informationen findet und sich freut, dass
che Belastung Badens nach dem Ersten Die einzige Ausnahme ist vielleicht der er dem „großen“ Wehler ein paar Flüch-
Weltkrieg dargestellt, die das Land mit 1992 viel zu früh verstorbene Münche- tigkeitsfehler nachweisen kann, die so-
Problemen konfrontierte, die im benach- ner Historiker Thomas Nipperdey, der wieso eher Sache des Lektors gewesen
barten Württemberg in dieser Schärfe allerdings seine „Deutsche Geschichte“ seien.
nicht existierten. Der Autor beschreibt mit dem Ersten Weltkrieg enden ließ. Nein, es sind andere Punkte, die bei die-
den Untergang der Demokratie 1933 Hans-Ulrich Wehler wollte es alleine sem fünften Band auffallen. Zuerst zum
und den Aufstieg der NSDAP als nicht machen: Eine große sozialgeschicht- generellen Duktus des Buches. Es ist
unausweichlich. Am Ende des Bandes liche Synthese, welche die Bielefelder bekannt: Während Thomas Nipperdey
bietet er einen Ausblick auf die unter- Vorstellungen einer theoriegeleiteten der Historiker des „Sowohl-als-auch“
schiedlichen Ausgangspositionen der in Sozialgeschichte paradigmatisch um- war, des klugen und argumentativen
der NS-Zeit zu „Parteigauen“ herabge- setzt. Die ersten beiden Bände sind Abwägens und ausgewogenen Urtei-
sunkenen Staaten in der Besatzungszeit, 1987 erschienen und umfassen den Zeit- lens, ist Hans-Ulrich Wehler der politi-
als die Länder von Besatzungsgrenzen raum 1700–1845/49, der dritte Band mit sche Historiker und der Zeitgenosse, der
zerschnitten wurden und mühsam um ihr dem „langen“ 19. Jahrhundert bis 1914 richtet. Dort, wo er beispielsweise seine
Überleben, aber auch um eine neue de- erschien 1995, der vierte, veröffentlicht eigene Generation geradezu verherr-
mokratische Identität kämpften. 2003, führte die Leserschaft bis an die licht und andererseits die „68er“ abur-
Reinhold Weber gelingt es, den komple- Gründung der beiden deutschen „Neu- teilt, geht das „Richten“ immer wieder zu
xen Stoff überzeugend zu ordnen und zu staaten“, wie Wehler die Bundesrepu- weit, weil es schlicht und ergreifend un-
gliedern. Seine Bewertungen sind aus- blik Deutschland und die DDR nennt. wissenschaftlich wird. Es ist erstaunlich,
gewogen und fundiert. Man kann das in Der nun erschienene fünfte und letzte weil Wehler immer wieder großartige
ansprechendem Stil geschriebene Buch Band beginnt mit der Doppelstaatlich- Argumentationen und Interpretationen
von Anfang bis Ende durchlesen, weil keit Deutschlands und endet mit der anbietet – etwa bei der Erklärung der
es beinahe den Charakter eines Hand- unerwarteten deutschen Wiederver- Gründe für das „deutsche Wirtschafts-
buchs hat. Als Einstieg in das Thema ist einigung. Dabei geht Wehler in jedem wunder“ –, andererseits aber Polemiken
es vor allem für Lehrer, Schüler und Stu- Band streng kategorisch nach den von über Migranten („ethnisches Subprole-
denten nachdrücklich zu empfehlen. Max Weber vorgegebenen sozialhisto- tariat, das, assimilations- und bildungs-
Frank Raberg rischen Untersuchungskategorien vor fern, in seinen ghettoähnlichen Wohn-

265
BUCHBESPRECHUNGEN

hätten sich ja die „feinen Unterschiede“ beit im Bürgerbräukeller angebrachte


herausarbeiten lassen können. Auch in „Höllenmaschine“ hatte auf die Minu-
quartieren, in denen der Einfluss eines den anderen vier Bänden waren die Ka- te pünktlich funktioniert. Da war Elser
fundamentalistischen Islamismus um pitel zur Kultur schon recht knapp. Das der ganz typische „schwäbische Tüft-
sich greift, den Aufenthalt in einer ab- hat sicherlich seine teilweise berechtig- ler“. Der Zündmechanismus hatte eine
geschotteten Subkultur der Integration ten Gründe und Wehler legitimiert dies Detonation ausgelöst, die genau über
vorzieht“; S. 438.) oder über die „68er“, auch im Vorwort. Aber es scheint doch der Stelle, an welcher der „Führer“ ge-
ihre angebliche Leistungsverweigerung so zu sein, dass er sich mit allem schwer sprochen hatte, die Decke herabstür-
und Schuld an der PISA-Katastrophe tut, was nicht quantifizierbar ist. Ein Kul- zen ließ und Hitler zweifelsohne unter
in regelmäßigen Abständen über das tur-Kapitel, das letztlich nur die Kirchen, einem Trümmerberg begraben hätte.
Buch verteilt, die in einem Standard- die Schulen, die Universitäten, die Ver- Georg Elser war seinem Ziel, Hitler und
werk für Studierende eigentlich nichts lagslandschaft und teilweise noch die seine Paladine zu töten, denkbar nahe
zu suchen haben. Hier hätte ein Abwä- Medien behandelt, ist doch recht wenig gekommen – ebenso nahe wie fast fünf
gen der Argumente dem Leser mehr ge- angesichts der zweifellos immer wichti- Jahre später der Attentatsversuch des
holfen als manch spitz formulierte und ger werdenden Themen wie Populärkul- 20. Juli 1944. Was wäre der Welt er-
immer wieder fast suggestiv wiederhol- tur, Musik oder „Lebensstil“ als gesell- spart geblieben, wenn dieser einfache
te Wortsequenz. schaftliche Kategorie. Mann aus dem Volk schon 1939 erfolg-
Zum Zweiten geht es aber auch um kon- Trotz aller Kritik, mancher analytischer reich gewesen wäre?
zeptionelle Punkte und um die größeren Schwäche und mancher unnötigen Po- Lange Jahre wurden Georg Elser und
Interpretationslinien. Denn bei aller Be- lemik, die ein jeder Rezensent auch die Attentäter um Claus Schenk Graf
wunderung bleiben bei der Lektüre den- anders gewichten wird, ist der „neue von Stauffenberg nicht in einem Atem-
noch verwunderte Gesichtsausdrücke Wehler“ dennoch eine beeindruckende zug genannt. Der Einzeltäter aus dem
zurück. So sind manche Kapitel schlicht- Leistung und eine überaus lohnenswer- Volk passte lange Zeit nicht in die nach-
weg zu knapp geraten. Wenn es etwa te Lektüre. Reinhold Weber kriegsdeutschen Erinnerungsschemata,
unter der Rubrik „Die neue Politische denn Georg Elser ist ein frappierendes
Kultur“ (S. 275 ff.) fast ausschließlich um Beispiel dafür, dass auch der „einfache
die großen Auseinandersetzungen in- Georg Elser – der einsame Attentäter Mann“ den terroristischen Charakter
nerhalb der Historikerzunft geht (die Fi- der NS-Herrschaft erkennen konnte,
scher-Kontroverse in den 1960er Jahren Peter Steinbach/Johannes Tuchel: dass Gerechtigkeitssinn und Zivilcoura-
und der Historikerstreit der 1980er), so Georg Elser. ge zur unmittelbaren Tat – zum Tyran-
dürfte das schlichtweg zu wenig zum ei- be.bra wissenschaft verlag, Berlin 2008, nenmord – führen konnten, und dass es
gentlichen Thema sein. Ob sich die ge- 270 S., 32,00 Euro. in der Diktatur viel mehr Handlungsopti-
gen Heinrich August Winkler gerichte- onen gab, als man in der bundesrepub-
te These Wehlers, Deutschland sei „bis 13 Minuten! Nur 13 Minuten zu früh ver- likanischen Gesellschaft lange glauben
1914 immer ein unbestrittener Teil der ließ Adolf Hitler an jenem 8. November (machen) wollte. Aber selbst für Gegner
westlichen Welt gewesen, ehe es seit 1939 den Saal des Münchner Bürger- des NS-Staates wie Martin Niemöller
dem Ersten Weltkrieg, vollends dann bräukellers, wo er – seit 1933 alljähr- war die Tat Elsers so unglaublich, dass
seit 1933, aus seinem Kulturkreis“ (S. 424 lich – vor „alten Kämpfern“ redete und sie noch lange nach 1945 ein Werkzeug
f.) ausgeschieden sei, durchsetzt, dürfte wo die Nationalsozialisten nach streng der SS in ihm sahen.
mehr als fraglich sein. Was war denn festgelegtem Ritual die pseudoreligiöse Im September 2008 hat nun die Berliner
dann die „Weimarer Republik“, fragt Verbrämung des misslungenen Putsch- Ernst Freiberger-Stiftung auf der „Stra-
sich der Leser verdutzt. versuches von 1923 zelebrierten. Denn ße der Erinnerung“ am Spreebogen
Schließlich eine der Kernthesen des Bu- von hier aus war am frühen Morgen des dem nur wenige Wochen vor Kriegs-
ches, wonach auch die Bundesrepublik 9. November 1923 der Marsch zur Feld- ende im KZ Dachau umgebrachten Wi-
Deutschland noch immer ein Klassen- herrnhalle gestartet, vor der die größte derstandskämpfer ein Denkmal in Form
staat sei. Wehler verteidigt hier gegen Schießerei des Putschversuches stattge- einer Büste gesetzt. Es ist die erste Wür-
alle fachwissenschaftliche Skepsis und funden hatte, und hier wurde im Februar digung Elsers dieser Art in Deutschland
fast hartleibig den Klassenbegriff, der 1925 die seither verbotene NSDAP wie- überhaupt. Mit ihren Denkmälern erin-
ja doch stark ökonomistisch geprägt ist. dergegründet. Jedes Jahr war der Pro- nert die Ernst Freiberger-Stiftung an he-
Gleichzeitig bemüht er – nicht zu Un- grammablauf im Bürgerbräukeller der- rausragende Persönlichkeiten aus Poli-
recht – die „feinen Unterschiede“ und selbe gewesen, nur dieses Jahr, im No- tik, Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft,
das „symbolische Kapital“ im Sinne von vember 1939, in dem die Welt im Bann die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-
Pierre Bourdieu, um die Stratifikations- des wenige Wochen zuvor von Deutsch- derts als „Helden ohne Degen“ gewirkt
ordnung der bundesrepublikanischen land entfesselten Krieges stand, verließ haben. Georg Elser ist die sechste Per-
Gesellschaft, das bürgerliche Bildungs- der „Führer“ wegen schlechten Wetters son der Zeitgeschichte, deren Büste die
monopol, die hohen Raten der Selbst- den Saal früher, um noch nach Berlin zu- „Straße der Erinnerung“ säumt. Er steht
rekrutierung in zahlreichen Berufen, die rück zu kommen. Um genau zu sein: Er damit in einer Reihe mit dem Computer-
eklatanten Unterschiede im Gesund- verließ den Saal 13 Minuten früher. Pionier Konrad Zuse, dem von den Na-
heitswesen oder auch das exklusive Kein Zweifel – wäre Hitler und sein Stab tionalsozialisten ermordeten Schrift-
Heiratsverhalten des deutschen Bürger- jene 13 Minuten länger geblieben, hät- steller Albrecht Haushofer, mit Walther
tums zu erklären. Schade nur, dass er – te die Weltgeschichte einen anderen Rathenau, Ludwig Mies van der Rohe,
weil offensichtlich kaum messbar – die- Lauf genommen. Die von Georg Elser, Thomas Mann und Edith Stein.
se feinen soziologischen Kriterien kaum dem einfachen Handwerker aus dem Zu jeder geehrten Persönlichkeit veröf-
irgendwo näher ausführt. Schade auch, ostwürttembergischen Königsbronn, fentlicht die Ernst Freiberger-Stiftung ei-
dass gerade das Kapitel zur Kultur sehr in mühevoller Detailarbeit konstruierte nen Begleitband – und zum Band über
knapp gehalten ist. Denn gerade hier und in monatelanger akribischer Ar- Georg Elser hätte sie keine besseren Au-

266
BUCHBESPRECHUNGEN

toren finden können als Peter Steinbach der Tat Elsers, seiner Motive und sei-
und Johannes Tuchel, zwei der besten ner Handlungen. Heute gilt er als einer
Kenner des „Dritten Reiches“ und des der konsequentesten Gegner der NS- Den größten Raum in Eva-Maria Neu-
Widerstandes gegen das NS-Regime. Diktatur, als der „wahre Antagonist Hit- manns lesenswertem, ja packendem
Peter Steinbach ist seit langen Jahren lers“ (Joseph P. Stern), als der „einsame Buch nehmen die Haftschilderungen ein.
wissenschaftlicher Leiter der Gedenk- Attentäter“ (Peter Steinbach) oder als Im Laufe der Vernehmungen im Untersu-
stätte Deutscher Widerstand in Berlin „einsamer Zeuge“ (Klemens von Klem- chungsgefängnis der Staatssicherheit in
und seit 2007/08 Professor für Neuere perer). Wie es zu dieser Entwicklung Leipzig leidet sie unter systematischem
und Neueste Geschichte an der Uni- der Erinnerung und Würdigung des In- Schlafentzug. Die Stasi möchte die Ge-
versität Mannheim. Johannes Tuchel ist dividualisten aus Königsbronn gekom- fangenen mit allen möglichen Mitteln
Leiter der Gedenkstätte Deutscher Wi- men ist, das ist höchst spannend und gefügig machen. Sie versucht sogar,
derstand und applizierter Professor am anschaulich zugleich in dem Band von Neumann als Inoffizielle Mitarbeiterin
Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Zusam- Peter Steinbach und Johannes Tuchel (IM) anzuwerben. „Einzelhaft, Isolation,
men haben beide Autoren auch schon beschrieben, der auf lange Jahre hin- Erpressung übelster Art, Ungewissheit
die sehenswerte Ausstellung konzipiert, aus das Standardwerk zu Georg Elser über alles und jedes sind probate Mit-
die in Königsbronn in der Georg-Elser- sein wird. Reinhold Weber tel, jemanden kleinzukriegen“, schreibt
Gedenkstätte zu sehen ist. die Autorin. Mindestens eine Spionin ist
Es ist fürwahr ein Prachtband, den die auf Neumann angesetzt. Aber bei all
beiden Autoren zusammen mit dem Unrechtsregime DDR dem nimmt sie auch Lichtblicke wahr. Ei-
be.bra verlag geschaffen haben. Groß- nen Wärter, von den Häftlingen wegen
formatig und übersichtlich gestaltet bie- Eva-Maria Neumann: seiner roten Wangen „Apfelbäckchen“
tet er auf rund 270 Seiten einen konzisen Sie nahmen mir nicht nur die Freiheit. genannt, sowie später eine Ärztin im
Überblick rund um das Thema „Georg Pendo Verlag, München/Zürich 2007. Haftkrankenhaus charakterisiert sie als
Elser“: Dem detaillierten „Lebensbild“ 301 Seiten, 20,50 Euro. freundlich und menschlich.
des Attentäters folgt ein Kapitel über Den Strafvollzug erlebt sie in verschie-
„Wahrnehmungen und Deutungen“ des Die dramatischen Ereignisse, die Aus- denen Gefängnissen, auch zusammen
Anschlags, bevor – und das ist überaus gangspunkt dieses Buches sind, ereig- mit Kriminellen. „Solche Frauen habe ich
verdienstvoll – in einem Dokumenten- neten sich vor über dreißig Jahren. In noch nie gesehen. Fast alle sind sehr jung,
anhang neben zahlreichen höchst inte- Leipzig besteigt eine junge Familie einen dick und unvorstellbar ungepflegt, einige
ressanten Quellen auch die wichtigste Mercedes mit westdeutschem Kennzei- auffällig tätowiert.“ Sanktionierungen
Quelle für die Biographie Georg Elsers chen. Ziel ist die innerdeutsche Gren- erfolgen hier so, dass die Gefangenen
abgedruckt wird: das im November 1939 ze. Im engen Kofferraum versteckt, sol- ihren Kopf in die Toilette halten müssen,
in Berlin entstandene Protokoll seiner len drei Personen in die Bundesrepublik während die Aufseherinnen die Spülung
Vernehmungen, das der Historiker Lothar geschleust werden. Das Kleinkind, mit betätigen. Dann kommt Neumann in das
Gruchmann Anfang 1964 in den Akten einem Baldrian-Fenchel-Cocktail beru- berüchtigte Frauengefängnis Hoheneck
des ehemaligen Reichsjustizministeriums higt, schläft bald ein. Es folgt eine quä- nach Stollberg im Erzgebirge. „Lieber
im Bundesarchiv gefunden hatte. lend lange Fahrt auf der Transitstrecke. zehn Mörderinnen als eine Politische“, ist
Besonders hervorzuheben ist aber der Plötzlich hält der Wagen an, fährt wei- dort die Devise. Angesichts der Zustän-
zweite Teil des Bandes, der die „Wahr- ter, stoppt und setzt sich wieder in Be- de in den Arrestzellen im Keller – bei-
nehmungen und Deutungen“ des An- wegung. Im Kofferraum herrscht Erleich- spielsweise müssen die Frauen auf dem
schlags behandelt. Er liest sich als ei- terung. Ist es geschafft? Dann bleibt der nackten Boden schlafen; tagsüber sind
ne Geschichte der Geschichtspolitik, Mercedes erneut stehen. Lange passiert manche an das Gitter ihrer Zelle gekettet
die um das Münchner Attentat gemacht gar nichts. Schließlich wird der Koffer- – notiert sie: „So etwas hätte ich in unse-
wurde, aber auch als eine Geschichte raum geöffnet. Und die Insassen sehen rem ‚aufgeklärten’ Jahrhundert nicht für
der schwierigen Erinnerung an den Ein- sich umzingelt von schwer bewaffneten möglich gehalten, allenfalls in irgend-
zeltäter, die erst in den 1990er Jahren Grenzsoldaten. welchen fernen Militärdiktaturen.“ Auch
die Wendung zum heutigen Stand ge- Es ist der 19. Februar 1977. Für die Violi- zwischen den Häftlingen ist die Gewalt
nommen hat. Steinbach und Tuchel be- nistin Eva-Maria Neumann, den Musik- alltäglich. Die Autorin berichtet von eini-
schreiben hier minutiös, aber dennoch pädagogen Rudolf Neumann und ihre gen lesbischen Kriminellen, die ein Mäd-
bestens verständlich die nationalsozi- dreijährige Tochter Constanze endet chen mit einer Toilettenbürste verge-
alistischen Deutungen, die lange das der Fluchtversuch in den Westen um waltigt haben, so dass es mit schweren
Bild Elsers geprägt haben, die Wahr- 22.15 Uhr am Grenzübergang Hirsch- inneren Verletzungen ins Krankenhaus
nehmung des Attentats in der Bevölke- berg. Die Neumanns wollten dem Sys- eingeliefert werden muss.
rung, die Deutungen, die Politiker im Exil tem der Unfreiheit, Bespitzelung und Schon vor der Haft hat Neumann
vornahmen, und schließlich die Nach- Ausgrenzung, in dem die Menschen zur Schmerzen in den Händen. Im Gefängnis
kriegsdeutungen, bevor sie die Würdi- Lüge erzogen werden, endlich entkom- verschlimmert sich der Zustand, so dass
gungen Elsers behandeln. men. Nun werden sie die DDR erst richtig schließlich Gelenkrheuma diagnosti-
Dass Georg Elser im Selbstverständ- kennen lernen. Nach sechsmonatiger ziert wird. Als sie deswegen ins Haft-
nis der Bundesrepublik Deutschland so Untersuchungshaft erfolgt im August krankenhaus eingeliefert wird, erweisen
lange keine Bedeutung hatte und im 1977 die Verurteilung wegen staats- sich die Verhältnisse als haarsträubend:
Bewusstsein der Deutschen kaum Platz feindlicher Verbindungsaufnahme und „Die Frischoperierten werden direkt wie-
gefunden hat, mag sicherlich daran lie- versuchtem Grenzübertritt: dreieinhalb der in ihre Zellen geschoben, danach
gen, dass er sich keiner politischen oder Jahre Haft für ihn, drei Jahre für sie. Die kümmert sich kaum jemand um sie; nur
weltanschaulichen Gruppierung genau Tochter kommt zunächst in ein Kinder- das Allernötigste wird gemacht.“ Besse-
zuordnen lässt. Heute aber, so betonen heim, darf dann aber zu ihren Großel- rung steht so kaum zu erwarten.
die Autoren, gibt es ein gesichertes Bild tern nach Leipzig.

267
BUCHBESPRECHUNGEN

wir unsere Freiheit auf dem Markt der sächlich über einen Kamm scheren?
Möglichkeiten verramschen und damit Wen meint er eigentlich damit? Und:
Dann kommt endlich die erlösende Nach- wieder verspielen könnten. Freiheit ist Gehör(t)en die rot-roten Regierungen
richt. Nach eineinhalbjähriger Haft wer- ein viel zu kostbares Gut, als dass es sich von Berlin und Mecklenburg-Vorpom-
den Eva-Maria und Rudolf Neumann in nicht lohnte, dafür zu kämpfen“, lautet mern auch dazu?
die Bundesrepublik Deutschland entlas- das Fazit dieses lesenswerten Buches. Um solche Fragen zu beantworten,
sen, das heißt von der Bundesregierung Ralf Altenhof dürften historische Grundkenntnisse
freigekauft. Ihre Tochter darf erst sechs von Vorteil sein. „Eines der herausra-
Monate später nachkommen. Sie hat zu genden Merkmale der ‚modernen’ Po-
diesem Zeitpunkt ihre Eltern über zwei Agitprop statt Analyse litikergeneration ist ihre Unkenntnis der
Jahre nicht gesehen. Vor dem „fremden Geschichte und geschichtlicher Zusam-
Mann“, der sie am Bahnhof erwartet, Ulrich Maurer: menhänge“, erfahren wir. Deshalb kön-
fürchtet sie sich. Es ist ihr Vater! Eiszeit. Staatsstreich des Kapitals oder nen wir uns glücklich schätzen, dass uns
Im Westen fühlen sich die Neumanns auf Renaissance der Linken. der Hobby-Historiker Maurer an seinen
Anhieb sehr wohl, endlich frei. Auch Ar- Riemann Verlag, München 2006. Erkenntnissen teilhaben lässt. „Gewis-
beit findet sich bald. Die Neumanns tun 285 Seiten, 18,00 Euro. se Probleme in der politischen Ausei-
das, was andere zuvor für sie getan ha- nandersetzung unserer Tage sind von
ben: Sie setzen sich für politische Gefan- Alle reden von der Klimaerwärmung – jenen, die in der Antike diskutiert wur-
gene im Ostblock ein, informieren über nur einer nicht. Ulrich Maurer, den ei- den, nicht wesentlich verschieden.“ Und
unhaltbare Zustände. Doch ihre Aktivi- nige als erfolglosen Wahlkämpfer der so wird der Untergang des Römischen
täten werden in der Bundesrepublik oft SPD in Baden-Württemberg kennen, Reiches an die Wand gemalt angesichts
als störend für die Entspannungspolitik kehrte ob der Politik Gerhard Schröders der auch heutzutage anzutreffenden
empfunden. Ihre Erlebnisse passen nicht den Sozialdemokraten 2005 den Rü- Kapitalkonzentration, „Feudalisierung“
in das verbreitete Bild einer weichge- cken und trat der Linkspartei bei, deren und Entstaatlichung.
spülten DDR. Als Rudolf Neumann bei Parlamentarischer Geschäftsführer er Zurück in unserer Epoche firmiert das
einer Veranstaltung auf Menschen- heute im Deutschen Bundestag ist. Jahr 2007 als „Krisenjahr“, weil durch
rechtsverletzungen in der Sowjetunion Wir lebten in einer Eiszeit, konstatiert die erhöhte Mehrwertsteuer die „Stran-
aufmerksam macht, verunglimpft man Maurer. Angesichts von Massenarbeits- gulierung der Binnenwirtschaft“ be-
ihn als „Kriegstreiber“. Auch als „Fa- losigkeit und Kinderarmut, sinkenden fürchtet wird. An anderer Stelle heißt es
schisten“ müssen sie sich bisweilen be- Reallöhnen und Rentenkürzungen sei in gar, „2007 droht zum Jahr des Desasters
zeichnen lassen. Zu Recht fragt Eva-Ma- Deutschland der Niedergang eingeläu- zu werden.“ Davon war 2007 allerdings
ria Neumann: „Warum sind die meisten tet. „Sowohl der wertorientierte Konser- nichts zu spüren, ganz im Gegenteil.
Menschen hier entweder auf dem rech- vatismus als auch der radikale gesell- Freilich steht Maurer mit dieser Fehl-
ten oder dem linken Auge blind? Kann schaftliche Veränderungsanspruch von prognose nicht alleine da. Er plädiert
und muss man denn nicht gegen linke links, der in der Achtundsechziger-Be- für starke Gewerkschaften, bemängelt
und rechte Extremisten und ihre Ideolo- wegung formuliert wurde, sind vor der aber, dass sich diese bisher ausschließ-
gien gleichermaßen protestieren?“ vermeintlichen Allmacht des globali- lich auf die SPD verlassen hätten, ohne
Die Haft hat Spuren hinterlassen. Bei der sierten Marktmodells in die Knie gegan- deren Politik nennenswert zu beeinflus-
Autorin bleibt das Gefühl der Schuld, gen.“ Die Zukunft werde durch Zynismus, sen. Das Angebot an die Gewerkschaf-
die Tochter im Stich gelassen zu haben. Nihilismus und Sozialdarwinismus cha- ten ist unverkennbar: Mit der Linkspartei
„Noch Jahre später werden wir abends rakterisiert – gäbe es nicht den Retter in gibt es einen neuen potentiellen Bünd-
das Haus nicht verlassen können, weil der Not: die Linken. nispartner.
Constanze Angst hat, dass wir nicht Doch was dem Leser geboten wird, ist Doch wie rückständig der sozialisti-
wiederkommen.“ Neumanns rheumati- ein wilder Rundumschlag. Die These, sche Ideenhaushalt anmutet, zeigen
sche Erkrankung ist so schwerwiegend, wonach „das System“ Arbeitslosigkeit Maurers „Prinzipien linker Erneuerung“.
dass sie – mit 27 Jahren – Erwerbsun- bewusst produziere, erinnert eher an Dabei wird unter anderem postuliert:
fähigkeitsrente auf Zeit bezieht. Später verschwörungstheoretisches Denken als „Ein moderner Sozialismus bejaht und
wird sie wegen psychischer Beschwer- an eine fundierte Analyse. Mit letzterer verteidigt die Pluralität politischer Par-
den erneut Erwerbsunfähigkeitsrentne- steht der Autor ohnehin auf Kriegsfuß. teien sowie die Meinungs-, Versamm-
rin, diesmal für fünf Jahre. Die Verelendung in der Dritten Welt wird lungs- und Pressefreiheit.“ Für andere
Was Neumanns Schicksal so beeindru- selbstverständlich, wo kämen wir sonst politische Parteien in Deutschland –
ckend macht, ist die Tatsache, dass sie ei- hin, dem globalen Kapitalismus in die ob Christdemokraten, Liberale, Grüne
ne „ganz normale DDR-Bürgerin“ war, kei- Schuhe geschoben. Apodiktisch heißt es oder Sozialdemokraten – ist das gera-
neswegs eine Oppositionelle. Sie wollte kurzerhand: „Kapitalismus ist Barbarei.“ dezu selbstverständlich. Es muss nicht
lediglich in Freiheit leben, ohne Überwa- Schon mit seiner Wortwahl disqualifi- mehr eigens gefordert und parteiintern
chung und Gängelung. Nicht zuletzt ist ziert sich Maurer über weite Strecken. durchgesetzt werden, zumal damit fun-
Eva-Maria Neumanns Geschichte ein Da ist vom „Terror der Freiheit“ die Rede. damentale Prinzipien des Grundgeset-
Mosaikstein einer Familiengeschichte – Die Entwicklung zur Wiedervereinigung zes beschrieben sind. Ohnehin stellt sich
einer Familie, die unter zwei deutschen wird als „Annexion“ beschrieben, also die Frage, worin das Vertrauen in eine
Diktaturen zu leiden hatte: Ihr Großvater einer gewaltsamen bzw. unter Andro- Partei begründet sein sollte, die – von
war Jude und starb in Auschwitz. hung von Gewalt vollzogenen Aneig- der Geschichte der SED-Diktatur ganz
„Wir trafen 1976 die Entscheidung, die nung fremden Territoriums. Mehrmals abgesehen – offen linksextremistische
DDR zu verlassen. Das Leben hat es uns spricht Maurer in einer längst für über- Gruppierungen wie das Marxistische
nicht gekostet, aber die Folgen waren wunden geglaubten Agitprop-Sprache Forum oder die Kommunistische Platt-
gravierend und reichen bis in unsere Ta- schlichtweg von „den Herrschenden“. form in den eigenen Reihen akzeptiert
ge. (...) Mich treibt die Sorge um, dass Lassen sich „die Herrschenden“ tat- und bewusst fördert.

268
BUCHBESPRECHUNGEN

Maurers ökonomische Schlussfolge- tion des Nachkriegsanarchismus (1986)


rungen bestätigen diese Deutung. „Die oder Ulrich Klan und Dieter Nelles mit
betriebswirtschaftliche Logik einzel- einer regionalgeschichtlichen Arbeit dikalistischer Arbeiterbewegung fragt.
ner Unternehmen findet ihre Schranke über den rheinischen Anarcho-Syndika- Ein weiterer Aspekt der Arbeit ist die
in der demokratischen Bewertung ih- lismus (1986). Diese Auflistung ließe sich These vom Arbeitersyndikalismus als
res gesamtgesellschaftlichen Nutzens“, mit weiteren veröffentlichten und un- Kulturbewegung.
schreibt er mit kaum zu überbietender veröffentlichten Examensarbeiten bzw. Den „Höchststand“ erreichet die FAUD
Klarheit. Hier wird die Katze aus dem Dissertationen bis heute fortsetzen und in Württemberg Mitte der 1920er-Jahre
Sack gelassen. Denn wenn ökonomische weist die Richtung der Anarchismusfor- mit 15 Ortsvereinen und 1.200 Mitglie-
Entscheidungen sich nicht innerhalb des schung: Sie besteht überwiegend aus dern. Döhring erfasst die soziologische
vom Gesetz vorgegebenen Rahmens einem singulären Forschungsinteresse, Zusammensetzung, ihre Arbeitsstruktu-
bewegen müssen, sondern den Nütz- das über eine nur geringe Kontinuität ren, Berufsgruppen, Wohnbezirke und
lichkeitserwägungen der Politik unter- und längerfristige Systematik verfügt. die Entwicklung der betrieblichen und
liegen, ist Gefahr im Verzuge. Mit sozi- Zu den „großen“ Themen der Forschung außerbetrieblichen Organisationen.
aler Marktwirtschaft hat das jedenfalls zählte der Anarchismus in Deutsch- Seine diesbezüglichen und dokumen-
nichts mehr zu tun. land nie und wird es vermutlich auch tierten Recherchen in Archiven sind um-
Vielleicht lässt sich Maurer ja noch eines nicht werden. Vielleicht ist dafür auch fassend und penibel. Die vielfältigen
Besseren belehren. „Offenbar“, kommen- das immer noch weit verbreitete Bild und unterschiedlichen außerbetriebli-
tiert er einmal kapitalismus- und CDU-kri- vom Anarchisten als dem „Schwarzen chen Organisationsstrukturen, wie z.
tische Positionen von Norbert Blüm und Mann“ mit Vollbart und Bombe in der B. die „Gilde freiheitlicher Bücherfreun-
Heiner Geißler, „ist das Ausscheiden aus Manteltasche verantwortlich, das seit de“, die „Gemeinschaft proletarischer
der aktiven Politik für einige mit einem er- Ende des 19. Jahrhunderts in der Öf- Freidenker“, die „Syndikalistisch-Anar-
staunlichen Erkenntnisschub verbunden.“ fentlichkeit und den Medien verbreitet chistische Jugend Deutschlands“ oder
Mithin besteht für Ulrich Maurer noch wurde und sich bis heute – nicht nur in Siedlungs- und Schulprojekte machen
Hoffnung. Ralf Altenhof Deutschland – gehalten hat. deutlich, dass der Arbeitersyndikalis-
In diesem Forschungskontext erschien mus auch als eine Kulturbewegung be-
nun erstmals eine Studie über den wertet werden kann.
Schwäbischer Anarchismus württembergischen Anarchismus 1918 Die Arbeit ist allerdings keine umfassen-
bis 1933, die aus einer Magisterarbeit de Ideengeschichte des Arbeitersyndi-
Helge Döhring: an der Universität Bremen hervorging. kalismus. Sie ist organisationssoziolo-
Syndikalismus im „Ländle“. Die Freie Dieser Zeitraum zählt insgesamt zu einer gisch und sozialgeschichtlich orientiert.
Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) in Blütezeit des deutschen Anarchismus, Zwei Fragestellungen stehen im Mittel-
Württemberg 1918 bis 1933. und insbesondere des Anarcho-Syndi- punkt: (1.) Unter welchen Bedingungen
Verlag Edition AV, Lich 2006, kalismus (Freie Arbeiter-Union Deutsch- entsteht der organisierte Arbeitersyndi-
219 Seiten, 16,00 Euro. lands - FAUD), der in den 1920er-Jahren kalismus? (2.) Wie kommt es zu der Ent-
deutschlandweit bis zu 200.000 Mit- wicklung von einer politischen Bewe-
Als Teil der Arbeiterbewegung ist der glieder hatte. Auf der Grundlage ei- gung zu einer Kulturbewegung?
Anarchismus in Deutschland nach wie nes freiheitlichen Sozialismus und einer Entscheidend für die Entwicklung des
vor ein marginales Forschungsgebiet. föderalistischen Organisationsstruktur Syndikalismus scheint der Grad der In-
Im Gegensatz zum angelsächsischen kann die FAUD gleichermaßen als ei- dustrialisierung und der Organisation
Raum halten sich die deutschsprachi- ne Gewerkschafts-, Kultur- und Politik- der Arbeiterschaft zu sein. Der Arbeiter-
gen Geistes- und Sozialwissenschaften bewegung definiert werden. Es gelingt syndikalismus fand keine Resonanz, wo
bei diesem historischen, politikwissen- dieser Arbeit erstmals, die Spuren und bereits Partei- und Organisationsstruk-
schaftlichen und staatsphilosophischen die Bedeutung des organisierten Anar- turen der SPD oder KPD bestanden. So
Thema eher zurück und verfügen nach chosyndikalismus in und für Württem- gab es beispielsweise in Ulm und Stutt-
1945 nur über eine begrenzte For- berg aufzuzeigen. Sie zeigt, dass der gart keine FAUD-Strukturen. Begründet
schungstradition, die darüber hinaus Syndikalismus in der Arbeiterbewegung wird dies vom Autor damit, dass in Ulm
lediglich eine eingeschränkte interna- Süddeutschlands durchaus einen Platz Industriestrukturen fehlten und in Stutt-
tionale Anschlussfähigkeit erlebt. Zu neben Kommunisten, Sozialdemokraten gart eine starke SPD vorhanden war. In
den wenigen wegweisenden und her- und Gewerkschaftlern hatte. Döhring Tuttlingen und Pliezhausen konnten sich
ausragenden deutschen Anarchismus- schließt hier eine deutliche Wissens- dagegen nach 1918 syndikalistische
forschern, die sich ab Mitte der 1960er- lücke in der Erforschung der Arbeiter- Strukturen entwickeln, da es keine or-
Jahre mit diesem Thema (erneut) befas- bewegung in Baden-Württemberg und ganisierten Arbeiter gab und ein ent-
sten, zählen z. B. Ulrich Linse, Peter Lö- bietet eine überzeugende Analyse und sprechender Grad an Industrialisierung
sche, Hans G. Helms, Günter Bartsch, Recherche, die in künftigen Betrach- vorhanden war. Für heute folgert Döring
Hans M. Bock oder Erwin Oberländer. tungen Berücksichtigung finden wird. daraus, dass vor allem in Schwellen-
Zu diesen „Klassikern“ kam ab Ende der Obwohl es zwischenzeitlich eine gan- und Billiglohnländern der Nährboden
1970er-Jahre eine jüngere Generation ze Reihe von Regionalstudien zur an- für einen Syndikalismus vorhanden sein
von Wissenschaftlern hinzu, die daran archistischen Arbeiterbewegung gibt, müsste, da der Organisationsgrad der
anschloss bzw. neue und differenzierte fehlte bislang eine über den württem- Arbeiter einerseits relativ gering und
Aspekte bearbeitete. Zu nennen sind bergischen Raum. Neben der regiona- andererseits die Industrialisierung bzw.
die Arbeiten von Angela Vogel über len und historischen Perspektive ist die Globalisierung vorangeschritten ist.
den Syndikalismus (1977), Wolfgang Arbeit auch sehr stark durch eine sy- Hinsichtlich seiner These und Fragestel-
Haug über Erich Mühsam (1979), Gert stematische Fragestellung geprägt, die lung zum Arbeitersyndikalismus als Kul-
Holzapfel über den „Neo-Anarchis- nach den Rahmenbedingungen erfolg- turbewegung kann Döring belegen, dass
mus“ (1984), Holger Jenrich zur Rezep- reicher bzw. weniger erfolgreicher syn- er sich in Württemberg im untersuchten

269
BUCHBESPRECHUNGEN

band vor, der genau diese öffentliche che Aggressivität Polens als Kriegsursa-
Auseinandersetzung in Politik, Wissen- che. Der Historiker Stefan Scheil schreibt,
Zeitraum von einer gewerkschaftlichen schaft und Bildungsarbeit mit Fakten und „sensationelle Archivfunde belegen krie-
Interessenorganisation zu einer Kultur- Analysen zu Programmatik, Inhalten und gerische polnische Expansionsgelüste
organisation entwickelt hat. Autoren der Zeitung befördern will. Die schon zu Zeiten der Weimarer Repub-
Bei einer Gesamtbetrachtung des Arbei- Herausgeber und 15 weitere Autoren, in lik“ und meint ein „nationalistisch- völki-
tersyndikalismus in Württemberg kann der Regel ausgewiesene Experten der sches Expansionsprogramm“ Polens zu
festgehalten werden, dass er in Form Rechtsextremismusforschung aus dem erkennen. JF-Autor Klaus Wippermann
der FAUD nicht über den Status einer journalistischen und wissenschaftlichen schreibt, nicht Hitler-Deutschland, son-
Ideenorganisation mit gewerkschaftli- Bereich, darunter Wolfgang Gessenhar- dern „Polen wurde zum aggressivsten
chem Anspruch hinausgekommen ist. Je- ter, Anton Maegerle, Michael Pechel, Al- Staat Europas der zwanziger und dreißi-
doch: Obgleich die FAUD bis 1933 eine bert Scherr, Thomas Schlag und Fabian ger Jahre“. Wehrmachtssoldaten hätten,
Randerscheinung in der Arbeiterbewe- Virchow, analysieren im ersten Teil des so wiederum Scheil, gar keine rassistisch
gung blieb, zeigt die Studie, dass es in Bandes die Positionierung des Blatts motivierten Ressentiments gegen Polen
Württemberg eine anarchistische Bewe- im Grenzraum der Verfassung und be- pflegen können, weil ausdrücklich auch
gung nach 1918 gab, die in verschiede- leuchten im zweiten Teil dessen Akteure, das polnische Volk „als arisch eingestuft
nen Städten und vor allem unter Arbeite- Kunden und Kampagnen, bevor sie im war“. Derselbe Stefan Scheil, Träger des
rinnen und Arbeitern auf eine zaghafte Schlussabschnitt konkrete Vorschläge Gerhard-Löwenthal-Preises dieser Zei-
Resonanz stieß. Die Arbeit verdient in für den öffentlichen Diskurs sowie die au- tung, bestreitet die Verantwortung der
diesem Sinne Beachtung als eine organi- ßerschulische und schulische Bildungs- Wehrmacht am Massensterben von drei
sationssoziologische Regionalstudie zur arbeit unterbreiten. Millionen sowjetischen Kriegsgefange-
Arbeiterbewegung in Württemberg und Erfreulicherweise sind die Beiträge nen: „Alle Gefangenen sollten ausrei-
als Beleg für den politischen und kulturel- durchweg sehr sachlich gehalten, ohne chend ernährt werden.“ Und der Heraus-
len Charakter des Anarchosyndikalismus jeden falschen Eifer. So wird nüchtern geber der Zeitung, Dieter Stein, beklagt,
in der Weimarer Zeit. Ulrich Klemm die Frage gestellt, ob denn die „Junge den Meinungsführern in Deutschland sei
Freiheit“, auch wenn sie sich in dreißig nichts mehr heilig, „nicht die Fahne, nicht
Jahren vom alle zwei Monate erschei- die Ehre der Nation, der Familie, der Re-
Ein zutiefst rückwärtsgewandtes nenden 8-Seiten-Blatt zur Berliner Wo- ligion“. Am Pranger stehen für den He-
Geschichtsverständnis chenzeitung mit „demokratischem Out- rausgeber und viele Autoren der JF die
fit“ und – nach eigenen Angaben – einer „68er“, deren linke Vertreter die Partei-
Stephan Braun / Ute Vogt (Hrsg.): Druckauflage von 25.000 Exemplaren en und Redaktionsstuben beherrschten.
Die Wochenzeitung „Junge Freiheit“. entwickelt hat, über eine entsprechende Zum Niederhalten politischer Konkurrenz
Kritische Analysen zu Programmatik, Reichweite bei den Lesern verfügt. Doch diene die Gedankenpolizei der Political
Inhalten, Autoren und Kunden. nicht zuletzt ihre Vernetzung mit einer Correctness, die Begriffe wie Nation,
VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden Vielzahl rechtsextremer Blätter, ihre u.a. Nationalstolz, Patriotismus ebenso wie
2007, 362 Seiten, 39,90 Euro. bei dem führenden Online-Lexikon Wi- Elite oder Ausländerkriminalität gegen
kipedia durchaus erfolgreichen Internet- Deutsche mit Verboten belege und unter
Bei ihrem Internetauftritt präsentiert sich kampagnen, bei denen ihre Vertreter die Faschismusverdacht stelle. Nun gelte es,
die „Junge Freiheit“ (JF) unter der Rub- Diskussion dominieren, und ihr Erfolg bei diese Werte von den herrschenden Denk-
rik „Wir über uns – Selbstverständnis“ der Gewinnung prominenter Interview- verboten zu befreien und so das ideelle
als Wochenzeitung, welche „die gro- partner verschaffen ihr eine beachtliche Fundament einer selbstbewussten Nation
ße kulturelle und geistige Tradition der Akzeptanz. zu schaffen. Nur so könnten die aktuellen
deutschen Nation in Ehren hält“. Ihre Bei- Durch eine Fülle von Belegen wird nach- weltpolitischen Herausforderungen der
träge werden oft und gerne von offen- gewiesen, dass die „Junge Freiheit“ das deutschen Nation gemeistert werden, ei-
sichtlich rechtsextremistischen Blättern wichtigste Publikationsorgan der Neu- ner Nation, die, so JF-Herausgeber Stein,
wie „Nationalzeitung“ oder „Nation und en Rechten darstellt, deren Vertreter in „geopolitisch schon Kraft seiner Existenz
Europa“ zitiert. Über Jahre hinweg war der Tradition der so genannten Konser- Hegemonie ausübt“. Der natürliche Wi-
die Zeitung selbst in Verfassungsschutz- vativen Revolution stehen, die als star- derpart seien die USA und diesen könnte
berichten als tendenziell rechtsextremis- ke antidemokratische Bewegung die nicht die bestehende EU, sondern ein Euro-
tisch geführt worden. Dagegen klagte Weimarer Republik untergrub und dem pa der Nationalstaaten mit Deutschland
die „Junge Freiheit“ und 2005 errichtete Erstarken des Nationalsozialismus Vor- als Kernstaat Paroli bieten. Um Deutsch-
das Bundesverfassungsgericht im Inter- schub leistete. Als überragender geis- land aus seiner militärischen Ohnmacht
esse der Pressefreiheit hohe Hürden, um tiger Vordenker, der geradezu hero- zu befreien, müsse die Geschichte von
die „negative Sanktion einer Veröffentli- isch überhöht wird, gilt der Zeitung der den angeblichen Verbrechen der Wehr-
chung in den Verfassungsschutzberich- „Kronjurist“ der Nationalsozialisten, macht entkriminalisiert und die Bundes-
ten zu ergreifen“. Eine „bloße Kritik an Carl Schmitt, der den autoritären star- wehr zur militärischen Wahrnehmung
Verfassungswerten“ reiche dazu nicht ken Staat mit klarem Feindbild forder- nationaler Interessen befähigt werden.
aus. In der Tat gilt die Pressefreiheit auch te und die im Grundgesetz verankerten Es ist das Verdienst der Herausgeber und
für potentielle Feinde der Freiheit. Die Menschenrechte als „unveräußerliche Autoren dieses Sammelbandes, Selbst-
öffentliche Auseinandersetzung über In- Eselsrechte“ verspottete. verständnis und inhaltliche Programmatik
halte und Ziele dieser Zeitung ist einer Zahlreiche Artikel der „Jungen Freiheit“ der „Jungen Freiheit“ nicht nur offenge-
Demokratie eher würdig denn die Re- vermitteln ein zutiefst rückwärtsgewand- legt, sondern mit Hunderten stichhaltiger
pression. tes Geschichtsverständnis, das eine offe- Nachweise zudem gut – teilweise sogar
Die baden-württembergische SPD-Politi- ne Flanke zum Geschichtsrevisionismus spannend – lesbar der öffentlichen Dis-
kerin Ute Vogt und ihr Landtagskollege aufweist. Autoren wie Klaus Wippermann kussion zugänglich gemacht zu haben.
Stephan Braun legen nun einen Sammel- und Stefan Scheil betonen die angebli- Wigbert Benz

270
DER BÜRGER IM STAAT, 58. JAHRGANG, 2008

Inhaltsübersicht

Heft 1: Klimawandel und Klimapolitik


Stefan Rahmstorf Die globale Erwärmung 4
Ursula Fuentes / Harald Kohl / Die Klimakatastrophe, eine noch aufhaltsame Katastrophe 12
Michael Müller
Wolfram Krewitt Szenarien eines klimaverträglichen Energiesystems 18
Sascha Müller-Kraenner Vor einer neuen Energiekrise? 25
Imme Scholz China, Indien und die Bewältigung des Klimawandels 32
Tilman Santarius Emissionshandel und globale Gerechtigkeit 38
Susanne Dröge Die EU-Klimastrategie 44
Michael von Hauff Von der öko-sozialen zur nachhaltigen Marktwirtschaft 49
Susanne Böhler / Daniel Bongardt Klimaschutz – Wohin steuert der Verkehr? 57
Tanja Gönner Klimaschutz konkret: Von Zielen in die Umsetzung 66
Andreas Dietrich Ablass, lass nach! 69
Nico Stehr / Marian Adolf Moralisierte Märkte und postrationale Konsumenten 72

Heft 2: Kuba
Heinrich Pachner Kuba: Entwicklungspotentiale einer Karibikinsel aus natur- und
kulturgeographischer Sicht 85
Hans-Joachim König Kuba: Vom Objekt zum Subjekt im historischen Prozess?
Ein historischer Überblick 94
Hans-Jürgen Burchardt Fidel Castro: Der alte Mann und das Meer 108
Stefan Reith Von Fidel Castro zu Raúl – die Demokratie auf Kuba muss warten 114
Bert Hoffmann Vom Dritte-Welt-Sozialismus zur großen Krise – und der schwierigen Reform
von heute 122
Nikolaus Werz Deutschland, Lateinamerika und Kuba – Außenpolitische Beziehungen 128
Bettina Hoyer Lost in Transition: Kubanisches Schattentheater 136
Arne Birkenstock / Eduardo Blumenstock Santería, Son und Revolution – eine kurze Geschichte der
kubanischen Musik 145
Wolfgang Rössig Kuba im Spiegel der Literatur 154

Heft 3/4: Volksrepublik China


Christoph Müller-Hofstede Die Geschichte der chinesisch-westlichen Beziehungen: ein Überblick 172
Xuewu Gu Chinas Aufstieg als Global Player 180
Markus Taube Grundlagen, Triebkräfte und Perspektiven des wirtschaftlichen Aufstiegs 186
Heinrich Kreft Die soziale Kehrseite des chinesischen Aufstiegs 195
Thomas Heberer Nationalitätenprobleme in China und die Tibet-Frage 203
Eva Sternfeld Schöne neue Welt im Grauschleier. Chinas ökologische Situation
und Umweltpolitik 210
Bettina Gransow Zu viel, zu alt, zu männlich? Demographie und Bevölkerungspolitik 217
Robert Heuser Chinesische Rechtskultur im Wandel sozioökonomischer Bedürfnisse 223
Gunter Schubert China und die Menschenrechte 230
Bettina Gransow Das Petitionswesen in China – ein Instrument sozialer Gerechtigkeit? 236
Günter Schucher Böses Erwachen? Chinas Traum von der sozialen Harmonie 243
Werner Spaeth China – ein marginales Thema im Unterricht? 251
Siegfried Frech China im Überblick 257

271
DER BÜRGER IM STAAT, 38. JAHRGANG, 2008

Buchbesprechungen
Marion Reiser Zwischen Ehrenamt und Berufspolitik. Professionalisierung der Kommunalpolitik
in deutschen Großstädten 77
Wilhelm German „Ätsch Gäwele“. Allerhand Lustichs und andres aus’m Frankenland 77
Wilhelm German „Haller Doovelich“. Geschichte und Geschichten von früher in hällischer
Mundart 77
Andreas Cser Kleine Geschichte der Stadt und Universität Heidelberg
Thomas Leif Beraten und verkauft. McKinsey & Co. – der große Bluff der
Unternehmensberater 79
Harald Falckenberg Kuba – Bilder einer Revolution. Mit Texten von Boris Groys und Klaus Honnef 162
Martin Hüfner Europa. Die Macht von morgen 163
Ernst Wolfgang Becker Theodor Heuss, Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945–1949 163
Sandra Kalniete Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee. Die Geschichte meiner Familie 164
Roman Herzog Jahre der Politik. Die Erinnerungen 165
Klaus Schnellenkamp Geboren im Schatten der Angst. Ich überlebte die Colonia Dignidad 166
Jürgen Schreiber Meine Jahre mit Joschka. Nachrichten von fetten und mageren Zeiten 167
Christoph Linzbach u.a. Globalisierung und Europäisches Sozialmodell 167
Thomas A. Höllmann Die Seidenstraße 259
Geschichtsmagazin DAMALS Fernhandel in Antike und Mittelalter 259
Bruno Baumann Abenteuer Seidenstraße. Auf den Spuren alter Karawanenwege 259
Regina Meier / Ulrike Reisach Aufbruch im Land des Drachen 261
Heinz Högerle u.a. Ort der Zuflucht und Verheißung. Shavei Zion 1938–2008 263
Landeszentrale für politische Bildung „Vom Neckar ans Mittelmeer“. Jüdische Flüchtlinge aus dem schwäbischen Dorf
Baden-Württemberg / Trägerverein Rexingen gründen 1938 eine neue Gemeinde in Galiläa.
Ehemalige Synagoge Rexingen e.V. Eine Lese- und Arbeitsheft
Reinhold Weber Kleine Geschichte der Länder Baden und Württemberg 1918–1945 265
Hans-Ulrich Wehler Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 5: Bundesrepublik und DDR,
1949–1990 265
Peter Steinbach / Johannes Tuchel Georg Elser 266
Eva-Maria Neumann Sie nahmen mir nicht nur die Freiheit 267
Ulrich Maurer Eiszeit. Staatsstreich des Kapitals oder Renaissance der Linken 268
Helge Döhring Syndikalismus im „Ländle“. Die Frei Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) in
Württemberg 1918–1933 269
Stephan Braun / Ute Vogt Die Wochenzeitung „Junge Freiheit“. Kritische Analysen zu Programmatik,
Inhalten, Autoren und Kunden 270


Wenn Sie DER BÜRGER IM STAAT abonnieren möchten, erhalten Sie die Zeitschrift für nur a 12,80, vier Hefte im Jahr, frei Haus.
Schicken Sie diesen Abschnitt zurück an:
Verlagsgesellschaft W.E. Weinmann mbH, Postfach 1207, 70773 Filderstadt.
Sollten Sie jeweils drei Monate vor Ablauf des Kalenderjahres nicht abbestellt haben, läuft das Abonnement weiter.
Hiermit erteile ich widerruflich die Abbuchungsermächtigung
für den Jahresbezugspreis in Höhe von a 12,80.
Name, Vorname bzw. Organisation

Straße, Hausnummer Geldinstitut

PLZ, Ort Konto-Nr. BLZ

Datum, Unterschrift Datum, Unterschrift

Rechtlicher Hinweis:
Ich kann diese Bestellung binnen 14 Tagen widerrufen. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung
(Poststempel) an: Verlagsgesellschaft W.E. Weinmann mbH, Postfach 1207, 70773 Filderstadt.
Ich habe von meinem Widerspruchsrecht Kenntnis genommen.

Datum, Unterschrift

272
LANDESZENTRALE FÜR POLITISCHE
BILDUNG BADEN-WÜRTTEMBERG
Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart
Telefon 0711/164099-0, Service -66, Fax -77
lpb@lpb-bw.de, www.lpb-bw.de

Direktor: Lothar Frick -60 Außenstellen


Referenten des Direktors: Regionale Arbeit
Sabina Wilhelm/Thomas Schinkel -62 Politische Tage für Schülerinnen und Schüler
Stellvertretender Direktor: Karl-Ulrich Templ -40 Veranstaltungen für den Schulbereich

Stabsstelle Marketing Außenstelle Freiburg


Leiter: Werner Fichter -63 Bertoldstraße 55, 79098 Freiburg
Öffentlichkeitsarbeit: Joachim Lauk -64 Telefon: 0761/20773-0, Fax -99
Leiter: Dr. Michael Wehner -77
Abteilung Zentraler Service Jennifer Lutz -33
Abteilungsleiter: Günter Georgi -10
Haushalt und Organisation: Gudrun Gebauer -12 Außenstelle Heidelberg
Personal: N.N. -13 Plöck 22, 69117 Heidelberg
Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich -14 Telefon: 06221/6078-0, Fax -22
Siegfried Kloske, Haus auf der Alb, Tel.: 07125/152-137 Leiter: Wolfgang Berger -14
Alexander Ruser -13
Abteilung Demokratisches Engagement
Abteilungsleiter/Gedenkstättenarbeit: Konrad Pflug* -30 Außenstelle Tübingen
Landeskunde und Landespolitik: Dr. Iris Häuser -20 Haus auf der Alb, Hanner Steige 1,
Jugend und Politik: Angelika Barth* -22 72574 Bad Urach
Bürgerschaftliches Engagement, Ehrenamt, Telefon: 07125/152-133, -148, Fax -145
Zivilgesellschaft: Dr. Jeannette Behringer -23 Leiter: Rolf Müller -135
Schülerwettbewerb des Landtags: Monika Greiner* -25 Klaus Deyle -134
Thomas Schinkel* -26
Frauen und Politik: Beate Dörr/Sabine Keitel -29/-32
Freiwilliges Ökologisches Jahr: Steffen Vogel* -35
Anke Schütze*/Charlotte Becher* -36/ -34 * Bürositz: Paulinenstraße 44-46, 70178 Stuttgart
Stefan Paller* -37 Telefon: 0711/164099-00, Fax -55

Abteilung Medien und Methoden


Abteilungsleiter/Neue Medien: Karl-Ulrich Templ -40
Politik & Unterricht/Schriften zur politischen Landes-
kunde Baden-Württembergs: Dr. Reinhold Weber -42
Deutschland & Europa: Jürgen Kalb -43
Der Bürger im Staat/Didaktische Reihe:
Siegfried Frech -44
Politische Bildung Online: Jeanette Reusch-Mlynárik,
Haus auf der Alb, Tel.: 07125/125-136 LpB-Shops/Publikationsausgaben
Internet-Redaktion: Klaudia Saupe -49
Bad Urach Hanner Steige 1, Telefon 07125/152-0
Abteilung Haus auf der Alb Montag bis Freitag
Tagungsstätte Haus auf der Alb, 8.00–12.00 Uhr und 13.00–16.30 Uhr
Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach
Freiburg Bertoldstraße 55, Telefon 0761/20773-10
Telefon 07125/152-0, Fax -100
Dienstag und Donnerstag 9.00–17.00 Uhr
www.hausaufderalb.de
Heidelberg Plöck 22, Telefon 06221/6078-11
Abteilungsleiter/Gesellschaft und Politik: Dienstag 9.00–15.00 Uhr
Dr. Markus Hug -146 Mittwoch und Donnerstag 13.00–17.00 Uhr
Schule und Bildung/Integration und Migration:
Robert Feil -139 Stuttgart Stafflenbergstraße 38,
Internationale Politik und Friedenssicherung/ Telefon 0711/164099-66
Integration und Migration: Wolfgang Hesse -140 Montag und Donnerstag 14.00–17.00 Uhr
Europa – Einheit und Vielfalt: Dr. Karlheinz Dürr -147
Bibliothek/Mediothek: Gordana Schumann -121 Newsletter „einblick“
Hausmanagement: Erika Höhne -109 anfordern unter www.lpb-bw.de/newsletter

Das könnte Ihnen auch gefallen