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DER BÜRGER

IM STAAT

54. Jahrgang Heft 4 2004

Die neuen Kriege


Herausgegeben von der
Landeszentrale für politische Bildung
DER BÜRGER Baden-Württemberg

IM STAAT
Redaktion:
Siegfried Frech
Redaktionsassistenz:
Barbara Bollinger
Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart
Fax (0711) 164099-77
siegfried.frech@lpb.bwl.de
54. Jahrgang Heft 4 2004 barbara.bollinger@lpb.bwl.de

Inhaltsverzeichnis

Die neuen Kriege


Herfried Münkler Aus unserer Arbeit 229
Die neuen Kriege 179
Buchbesprechungen 230
Volker Matthies
Eine Welt voller neuer Kriege? 185

Peter Lock
Ökonomie der neuen Kriege 191

Sven Chojnacki
Gewaltakteure und Gewaltmärkte:
Wandel der Kriegsformen? 197

Paul Russmann
Kindersoldaten 205

Catherine Götze
Humanitäre Hilfe – Das Dilemma
der Hilfsorganisationen 210

Peter I. Trummer
Genozid: Lehren aus dem Einzelbestellungen und Abonnements bei der
20. Jahrhundert und Herausforderungen Landeszentrale (bitte schriftlich)
für das 21. Jahrhundert 217
Impressum: Seite 229
Christian Büttner / Magdalena Kladzinski Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel
Krieg und Medien – Zwischen mit dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte
Information, Inszenierung und Zensur 223 Kunden-Nr. an.
Die neuen Kriege

KINDERSOLDATEN GEHÖREN ZU DEN AKTEUREN DER NEUEN KRIEGE. DER EINSATZ VON KINDERSOLDATEN FOLGT DER LOGIK PRIVATISIERTER, ENTSTAATLICHTER KRIEGE: KINDERSOLDATEN
SIND KOSTENGÜNSTIG, LEICHT REKRUTIERBAR UND „EFFIZIENT“ EINSETZBAR. picture alliance / dpa

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Die neuen Kriege
– nur wenige wissenschaftliche Fachbegriffe Der Wandel der Kriegsformen, die Ökonomie der
wurden so schnell von einer breiten Öffent- neuen Kriege und die Missachtung von völ-
lichkeit aufgegriffen wie der von den „neuen kerrechtlichen und humanitären Grundsätzen
Kriegen“. Der von Mary Kaldor in einer Studie werfen – auch und gerade vor dem Hintergrund
über die Kriege im ehemaligen Jugoslawien ver- gescheiterter UN-Operationen – Fragen nach
wendete Begriff, als Gegenüberstellung zu den den Reaktionsmöglichkeiten der internationa-
„alten“ zwischenstaatlichen Kriegen gemeint, len Staatengemeinschaft und nach angemesse-
verdankt seine Karriere im deutschsprachigen nen Formen humanitärer Hilfe auf.
Raum nicht zuletzt dem im September 2002 er- Die neuen Kriege spielen sich an den Rändern
schienenen Buch „Die neuen Kriege“ von Her- der Wohlstandszonen, hauptsächlich in der so
fried Münkler. Ihm kommt das Verdienst zu, eine genannten Dritten Welt, ab. Unsere Wahrneh-
wissenschaftliche Kontroverse über Begriffe, mung aktueller Kriege und Konflikte wird daher
Typen und Erklärungsansätze des Krieges unter entscheidend von den Medien geprägt. Unter
veränderten (welt)politischen Rahmenbedin- dem Zwang hoher Einschaltquoten folgt die
gungen auf den Weg gebracht zu haben. Schon Kriegsberichterstattung häufig den medialen
bald nach Erscheinen des Buches entwickelte Spielregeln einer dramatischen Inszenierung.
sich eine kontroverse Debatte über den Gestalt- Krieg wird publikumswirksam als „Abenteuer für
wandel kriegerischer Gewalt, die sich auch in das Auge“ inszeniert, bedient somit vorschnell
dieser Ausgabe der Zeitschrift „Der Bürger im Interessen und weckt Emotionen. Die mediale
Staat“ widerspiegelt. Darstellung des weltweiten Kriegsgeschehens
Die Debatte über die „neuen Kriege“ ist ein Indiz provoziert stets die Frage, wie es um das Ver-
für den Formenwandel bewaffneter Gewalt. Es hältnis von Information, Inszenierung und Zen-
gibt Aspekte kriegerischer Auseinandersetzun- sur in der Berichterstattung bestellt ist.
gen, die in den Kriegen zu Zeiten des Ost-West- Trotz dieser offensichtlichen Kennzeichen ist die
Konflikts weniger deutlich in Erscheinung tra- These vom Wandel der Kriegsformen in der Kon-
ten. Der erste Golfkrieg, die Zerfallskriege Ju- flikt- und Friedensforschung umstritten. Der mit
goslawiens und vor allem die Kriege in Afrika of- dem Ende des Ost-West-Konfliktes verknüpfte
fenbarten eine neue Erscheinungsform und bis Gestaltwandel des Krieges ist – einigen Konflikt-
dahin unbekannte Grammatik des Krieges. und Friedensforschern zufolge – keineswegs so
Neben zentral geführten Kampfverbänden gibt deutlich, wie unterstellt wird. Ist dieser Gestalt-
es in Kriegen und Konflikten der letzten Jahre wandel also im Grunde ein altes Thema: die An-
vermehrt dezentral und auf eigene Rechnung passung des „Chamäleon Krieg“ (Clausewitz) an
operierende Gewaltakteure. Die Finanzierung veränderte politische, soziale und ökonomische
der Kriege erfolgt einerseits durch Plünderung Bedingungen? Kritische Stimmen mahnen des-
und Ausbeutung der lokalen Bevölkerung und in halb auch an, dass die gegenwärtige Debatte
verstärktem Maße durch die Erpressung von über die neuen Kriege den Blick auf notwendige
Hilfsorganisationen. Andererseits erfolgt die Diskussionen über Konflikt- und Krisenpräven-
Ressourcen- und Geldbeschaffung über Märkte, tion verstellt. Konflikt- und Friedensforschung
auf denen die Trennlinien zwischen legalen, in- sollte sich nicht nur um den Formenwandel krie-
formellen und kriminellen Sektoren der Ökono- gerischer Gewalt kümmern, sondern auch für
mie verwischt werden. Allen diesen Kriegen ist friedens- und sicherheitspolitische Konsequen-
gemeinsam, dass die jeweiligen Kriegswirt- zen sensibilisieren.
schaften in hohem Maße in die globale Waren- Die Autorinnen und Autoren wollen mit ihren
und Finanzzirkulation eingebunden sind. Die Beiträgen detaillierte Informationen vermitteln,
Gewaltakteure, die auf eben diesen Gewalt- zur Versachlichung der Diskussion beitragen
märkten tätig sind, verfolgen eher ökonomische und Fakten bereitstellen, die für das Verständnis
Motive als ideologische Interessen. des komplexen Themas wichtig sind. Allen Auto-
Der Formenwandel des Krieges hat gravierende rinnen und Autoren sowie meinem Kollegen
Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. Durch Peter Trummer, der mit fachlichem Rat zum
brutale Exzesse der Gewaltanwendung wird sie Entstehen dieses Heftes beigetragen hat, sei an
in das Kriegsgeschehen einbezogen. Die eindeu- dieser Stelle gedankt. Dank gebührt auch dem
tige Trennlinie zwischen Zivilisten und Kombat- Schwabenverlag für die stets gute und effiziente
tanten löst sich auf. Dazu gehört unter anderem Zusammenarbeit.
die systematische Zwangsrekrutierung von Kin-
dern und Jugendlichen. Siegfried Frech

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KRIEGE HABEN IHRE GESTALT FUNDAMENTAL VERÄNDERT

Die neuen Kriege


HERFRIED MÜNKLER

moderner Industrie- und Dienstleistungsge- FRIEDENSPOLITISCHE FORTSCHRITTE


Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes sellschaften. Beides zusammengenommen IN EUROPA …
verbreitete sich die trügerische Erwar- hatte zur Folge, dass zwischenstaatliche
tung, dass Kriege der Vergangenheit an- Kriege in jedem Fall mehr kosteten als ein- Im Ersten Weltkrieg trat dann genau dies ein,
gehören würden. Die Ära des klassi- brachten und deswegen ihre Attraktivität als und in gewisser Hinsicht war Europa bis in die
schen zwischenstaatlichen Krieges ging Chance zur gewaltsamen Vergrößerung und 1990er-Jahre hinein damit beschäftigt, die
zwar zu Ende und in Europa zeitigten Bereicherung von Staaten wie als politischer Folgen dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhun-
friedenspolitische Fortschritte der letz- Problemlöser verloren hatten. Doch auch das derts“ wegzuräumen und zu bearbeiten. Damit
ten 50 Jahre ihre Wirkung. Jedoch ließ war keine unbedingt neue Erkenntnis: Schon sich so etwas wie der Erste Weltkrieg nicht
sich dieses europäische „Erfolgsmodell“ am Ende des 19. Jahrhunderts waren so unter- wiederholen könne, haben die Europäer nach
nicht globalisieren. Der erste Golfkrieg, schiedliche Beobachter, wie der preußische dem Zweiten Weltkrieg eine Reihe von Vorkeh-
die Zerfallskriege Jugoslawiens und vor Generalstabschef Helmuth von Moltke, der rungen getroffen, die von der Montanunion
allem die Kriege in Afrika offenbarten polnische Bankier und Publizist Johann von und der Europäischen Wirtschaftsgemein-
eine neue Erscheinungsform und bis da- Bloch und der deutsch-englische Industrielle schaft (EWG), also der Entflechtung politischer
hin unbekannte Grammatik des Krieges. und Revolutionär Friedrich Engels zu dem und wirtschaftlicher Grenzen, bis zur Konfe-
Besonders an den Rändern der Wohl- Ergebnis gelangt, ein in Europa ausgetragener renz für Sicherheit und Zusammenarbeit in
standszonen hat sich der Kreis von Ak- Krieg werde ungeheuere Erschütterungen zur Europa (KSZE) reichten. Mit der Weiterent-
teuren, die zur Kriegführung fähig sind, Folge haben und die soziale und politische wicklung der EG zur Europäischen Union (EU),
dramatisch ausgeweitet. Der Gestalt- Ordnung des Kontinents tiefgreifend um- deren Osterweiterung und der Umwandlung
wandel des Krieges ist durch eine krimi- wälzen. der KSZE in die OSZE wurden diese Siche-
nelle Gewaltökonomie, durch verän-
derte Gewaltmotive, brutale Gewalt-
strategien und durch zahlreiche private
Gewaltakteure charakterisiert. Gerade
das Zusammenspiel dieser Merkmale
lässt sich an drei Typen des Krieges, die
das 21. Jahrhundert bestimmen werden,
verdeutlichen: Ressourcenkriege, Pazifi-
zierungskriege und terroristisch moti-
vierte Verwüstungskriege. Red.

EINE TRÜGERISCHE HOFFNUNG

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts hatte


sich die Erwartung verbreitet, dass Krieg und
Kriegsdrohung von nun an der Vergangenheit
angehören würden, die Menschheit den alten
Traum vom dauerhaften, wenn nicht ewigen
Frieden verwirklichen werde und schon kurz-
fristig eine beachtliche Friedensdividende
durch die Senkung der Militärausgaben einge-
strichen werden könne. Diese Erwartung
schloss an die Prognosen zahlreicher Gesell-
schaftstheoretiker an, von Auguste Comte bis
zu Joseph Schumpeter, die die Orientierung an
Krieg und Militär als Disposition einer Elite be-
griffen, die mit dem Vordringen von Industrie
und Kapitalismus allmählich verschwinden
werde. Auch Immanuel Kants Schrift „Zum
ewigen Frieden“ fußt auf der Vorstellung, dass
der Geist des Handels und der Geist des Krie-
ges auf Dauer nicht zusammen bestehen kön-
nen. Nach der Blockierung dieser Entwicklung EXPERTEN SUCHEN IN
durch Nationalismus und Totalitarismus wür- EINEM MASSENGRAB IN
den nunmehr, so die von Vielen Anfang der BOSNIEN NACH OPFERN.
1990er-Jahre gehegte Erwartung, die Ent- UNTER DEN OPFERN
wicklungstendenzen zum Tragen kommen, die WAREN NACH ANGABEN
den Krieg zum Verschwinden brächten.1 AUCH FRAUEN UND
Aber diese Erwartung trog. Was zu Ende ging, KINDER. DIE JUGOSLAWI-
war die Ära des klassischen zwischenstaatli- SCHEN ZERFALLSKRIEGE
chen Krieges, nicht des Krieges generell. Vor HABEN DAS VERTRAUEN
allem infolge der technologischen Entwick- IN DIE FRIEDENSPOLI-
lung waren Staatenkriege unführbar gewor- TISCHEN FORTSCHRITTE
den – einerseits infolge der Vernichtungskraft EUROPAS ZUTIEFST
von Nuklearwaffen und andererseits infolge ERSCHÜTTERT.
der dramatisch gestiegenen Verletzlichkeit picture alliance / dpa

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HERFRIED MÜNKLER

EIN US-SOLDAT BEOBACHTET IN BAJI (IRAK) VON EINEM


GELÄNDEFAHRZEUG AUS DIE UMGEBUNG. AUFGRUND
DER MILITÄRISCH-TECHNOLOGISCHEN ÜBERLEGENHEIT
SIND DIE USA DIE EINZIGE MACHT, DIE IM GLOBALEN
RAHMEN NOCH KRIEGFÜHRUNGSFÄHIG SIND.
picture alliance / dpa

rungssysteme von den Bedingungen des Kal-


ten Krieges unabhängig und bilden seitdem
die Grundtextur der politischen und wirt-
schaftlichen Ordnung Europas. Diese kann mit
einiger Sicherheit versprechen, dass der Krieg
kein politisches Instrument europäischer Poli-
tik mehr sein wird. Bereits zu Beginn der
1990er-Jahre haben die europäischen Staaten
durch die Senkung ihrer Verteidigungsausga-
ben eine beachtliche Friedensdividende einge-
strichen.

… LASSEN SICH NICHT GLOBALISIEREN

Aber die europäische Entwicklung hat sich


nicht globalisieren lassen, ja sie hat nicht ein-
mal ganz Europa erfasst, sondern dessen süd-
östliche Flanke, den Balkan, ausgespart. Mitte
der 1990er-Jahre spätestens war die Erwar-
tung verflogen, das Ende des Ost-West-Kon-
flikts werde auch das Ende des Krieges einlei-
ten. Inzwischen nämlich hatte eine Reihe von
Kriegen stattgefunden, die allesamt keine
Kriege im klassischen Sinn, aber doch Kriege der UN oder der OAU (Organisation der Afrika- steht seine Deregulierung gegenüber, und
mit großer Gewaltintensität und weitreichen- nischen Einheit) einem Massaker freien Lauf zwar dergestalt, dass in zunehmendem Maße
den Folgen waren.2 Als erstes ist der Golfkrieg ließ, dem knapp eine Million Menschen zum Akteure in das Kriegsgeschehen eintreten, die
von 1990/91 zu nennen, bei dem irakische Opfer fielen. sich weder um die Bestimmungen der Haager
Truppen Kuwait besetzten, der besetzte Staat Landkriegsordnung noch die der Genfer Kon-
dann durch den Irak annektiert wurde und ventionen scheren, sondern ihre Operations-
schließlich eine amerikanisch geführte Mili- DER KRIEG HAT SEINE fähigkeit gerade daraus gewinnen, dass sie
tärkoalition mit UN-Mandat Kuwait befreite ERSCHEINUNGSFORM GEÄNDERT sich asymmetrischer Kampfweisen bedienen:
und das alte Regime wieder einsetzte. Als Sie ziehen die Zivilbevölkerung in die Kampf-
zweites zu nennen sind die jugoslawischen Der Krieg war mit dem Ende des Ost-West- handlungen hinein, indem sie diese als De-
Zerfallskriege, von denen der Krieg um Slowe- Konflikts also nicht verschwunden, sondern ckung und logistisches Rückgrat benutzen
nien am kürzesten und unblutigsten war, der hatte nur seine Erscheinungsform gewechselt. oder sie machen eben diese Zivilbevölkerung
Krieg zwischen Serbien und Kroatien bereits Clausewitz hat in seinem Buch „Vom Kriege“ zum Hauptziel ihrer Angriffe. Der Terrorismus
von Massakern und ethnischen Säuberungen den Krieg als ein Chamäleon bezeichnet, das als eine globale Strategie ist der vorläufige
begleitet war und der Bosnienkrieg schließlich sich fortgesetzt seinen Umweltbedingungen Endpunkt einer Entwicklung, in deren Verlauf
zu einem Exzess der Gewaltanwendung vor al- anpasst.3 In diesem Sinne ist auch die Ent- sich der Krieg aus einer Konfrontation profes-
lem gegen die Zivilbevölkerung wurde, der das staatlichung eine Anpassung des Krieges an sioneller Militärapparate in eine Abfolge von
Vertrauen in die friedenspolitischen Fort- veränderte Umweltbedingungen. An die Stelle als Zivilisten getarnten Kämpfern an Zivilisten
schritte Europas zutiefst erschütterte. Vor al- des Krieges zwischen regulären Armeen, die veranstalteten Massakern verwandelt hat. Die
lem zeigte Bosnien die Grenzen der europäi- sich gegenseitig niederzuringen suchten, um wichtigste Errungenschaft des Kriegsvölker-
schen Zuversicht, die Anwendung militäri- den politischen Willen der Gegenseite wehrlos rechts, die Unterscheidung zwischen Kombat-
scher Gewalt lasse sich grundsätzlich durch zu machen und zur Kapitulation zu zwingen, tanten und Nicht-Kombattanten, ist damit
diplomatische Verhandlungen und finanzielle ist ein diffuses Gemisch unterschiedlicher Ge- hinfällig geworden.
Anreize ersetzen. Es waren schließlich ameri- waltakteure getreten, das von Interventions-
kanische Luftbombardements, die den Bos- kräften mit dem Mandat internationaler Orga-
nienkrieg beendeten. Um eine Wiederholung nisationen bis zu lokalen Warlords reicht, de- MILITÄRISCHE REVOLUTIONEN
der bosnischen Gräuel im Kosovo zu vermei- nen es um die Sicherung von Macht und Ein- VERÄNDERN DIE KRIEGFÜHRUNG
den, entschloss sich die NATO zu einer bis da- fluss innerhalb eines begrenzten Gebietes
hin beispiellosen militärischen Intervention, geht. Folgenreich daran ist, dass sich die klas- Die skizzierten Entwicklungen waren für ei-
bei der durch ein mehrwöchiges Bombarde- sische Trennlinie zwischen Staaten- und Bür- nige Beobachter des Kriegsgeschehens Grund
ment militärischer und infrastruktureller Ziele gerkrieg, zwischenstaatlichen Kriegen und mit genug, von prinzipiell neuen Formen der
die serbische Armee und Polizei zum Rückzug Gewalt ausgetragenen innergesellschaftlichen Kriegführung und demgemäß dann von neuen
aus dem Kosovo gezwungen und dieses in ein Konflikten aufgelöst hat und beide Kriegsty- Kriegen zu sprechen.4 In der Militär- und
Protektorat der NATO bzw. EU verwandelt pen zunehmend diffundieren. Gleichzeitig hat Kriegsgeschichte ist schon früher immer wie-
wurde. Als drittes schließlich sind – freilich nur die militärische Gewalt durch die Entsendung der von militärischen Revolutionen die Rede
als Beispiel für viele weitere – die Kriege in So- multinationaler Streitkräfte mit dem Auftrag gewesen: So wurden etwa militärorganisatori-
malia und Ruanda zu nennen, wobei in Soma- der Friedenserzwingung eine normative Legi- sche wie militärtechnologische Innovationen
lia eine UN-mandatierte Militärintervention timierung erhalten, die Krieg und Polizeiaktion zum Anlass genommen, von einer grundle-
den Bürgerkrieg nicht beenden konnte, son- einander so sehr angenähert hat, dass beide genden Umwälzung der Kriegführung zu spre-
dern dramatisch scheiterte, während in Ru- oft kaum noch voneinander zu unterscheiden chen, etwa im 16. Jahrhundert, als durch den
anda das Ausbleiben einer Militärintervention sind. Dieser „Verpolizeilichung“ des Krieges zunehmenden Einsatz von Artillerie im Bela-

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Die neuen Kriege

substaatlichen und quasi-privaten Akteure, KRIEGE AN DEN RÄNDERN DER


die zuvor das Kriegsgebiet bevölkert hatten, WOHLSTANDSZONEN
vom Feudalritter bis zum geschäftstüchtigen
Kriegsunternehmer, dem Condottiere, ver- Gleichzeitig aber hat seit den 1980er-Jahren
schwanden aus dem Kriegswesen oder wur- auch eine gegenteilige Entwicklung einge-
den mitverstaatlicht. Es war, um mit Max We- setzt: In den zahllosen Kriegen an den Rändern
ber zu sprechen, die Trennung von Produzent der Wohlstandszonen wird nicht teures, war-
und Produktionsmittel, die zur Verstaatli- tungsintensives und nur von hoch qualifizier-
chung des Kriegswesens in der Frühen Neuzeit ten Spezialisten zu bedienendes Großgerät
geführt hatte: Die neuen Waffen waren zu eingesetzt, sondern diese Kriege werden mit
teuer, als dass sie ein Einzelner sich hätte leis- billigen, tendenziell von jedermann und jeder-
ten können, um mit ihnen seinem Lehnsherrn frau zu bedienenden Waffen geführt: automa-
Gefolgschaft zu leisten oder auf den Rekrutie- tischen Gewehren, Landminen, leichten Rake-
rungsplätzen zu erscheinen und seine Leis- tenwerfern und schließlich Pick-ups als Trans-
tung für die Dauer eines Krieges gegen Hand- port- und schnelles Gefechtsfahrzeug in ei-
geld und Sold zur Verfügung zu stellen. Oben- nem. Auch das Personal, mit dem diese Kriege
drein mussten die Truppen für die neuen Ge- geführt werden, besteht in der Regel nicht aus
fechtsformationen gedrillt werden, und das professionalisierten Soldaten, sondern aus ei-
war nicht möglich, wenn sie erst mit Kriegsbe- lends rekrutierten Kriegern, verschiedentlich
ginn unter Vertrag genommen wurden. Sie gar Kindern, für die der Krieg zu einer Art Le-
mussten kaserniert und diszipliniert werden, bensunterhalt und Form des Prestigegewinns
und die Kleidung, die sie trugen, sowie die geworden ist. Diese Kriege sind für die, die sie
Waffen, die sie führten, waren nicht länger ihr führen, relativ billig, und dadurch hat sich der
Eigentum, sondern das des Staates. So wurde Kreis der kriegführungsfähigen Parteien dra-
der Staat zum Herrn des Krieges, und die Ju- matisch vergrößert. Oftmals genügen nur ein
risten in seinem Gefolge haben diese Entwick- paar Millionen Dollar, um einen Krieg zu be-
lung in rechtliche Formen gegossen. ginnen, und dieses Geld kann von Emigranten-
gemeinden, größeren Wirtschaftsunterneh-
men, verdeckt agierenden Nachbarstaaten,
MILITÄRTECHNOLOGISCHE Clanführern und schließlich als Gewaltunter-
ÜBERLEGENHEIT DER USA nehmer auftretenden Privatleuten leicht auf-
gebracht werden. Die Schwelle der Kriegfüh-
gerungskrieg, bald aber auch in der offenen In dem, was als neue Kriege bezeichnet wor- rungsfähigkeit ist dadurch in einer Weise ab-
Feldschlacht, zunächst der Festungsbau und den ist, lässt sich in mancher Hinsicht eine gesenkt worden, dass sie von zahllosen Grup-
dann die Gefechtsaufstellung der Heere Fortsetzung dieser Entwicklung, in anderer pierungen überschritten werden kann.
grundlegend verändert wurde.5 Die viel be- dagegen deren Umkehrung und Rückgängig- Die Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte
schworene „Revolution in Military Affairs“ am machung beobachten. Die bereits erwähnte bietet somit ein verwirrendes, zutiefst wider-
Ausgang des 20. Jahrhunderts, also die Ein- Revolution in Military Affairs, aus der sich die sprüchliches Bild. Auf der einen Seite ist der
führung so genannter intelligenter Waffen, militärische Überlegenheit der USA auch und Kreis der kriegführungsfähigen Akteure weiter
die Optimierung der Treffsicherheit von Dis- gerade im Bereich der konventionellen Krieg- eingeschränkt worden, wobei in manchen Be-
tanzwaffen sowie die Beschleunigung des In- führung entwickelt hat, setzt den Prozess der reichen nur noch die USA übrig geblieben sind,
formationsflusses auf dem Gefechtsfeld durch Einschränkung kriegführungsfähiger Akteure während er sich auf der anderen Seite drama-
den Einsatz der Mikroelektronik hat den USA durch Verteuerung des Kriegsgeräts fort. Tat- tisch ausgeweitet hat. Einerseits ist es zu einer
eine Überlegenheit verschafft, die den Ent- sächlich sind die USA die einzige Macht, die im weiteren Verrechtlichung des Gebrauchs krie-
wicklungsschüben der Military Revolution am globalen Rahmen noch kriegführungsfähig gerischer Gewalt gekommen, und andererseits
Beginn der Neuzeit mindestens vergleichbar sind. Bis zu Beginn der 1990er-Jahre ist dies ist in vielen Kriegen die Gestalt des Soldaten
ist. Neue Kriege meint aber mehr als nur eine tendenziell auch die Sowjetunion gewesen, durch die eines Kriegers abgelöst worden, der
Veränderung des Militärwesens und der Krieg- aber da sie nicht mehr die Ressourcen aufzu- sich weder dem Ethos der Ritterlichkeit noch
führung, sondern bezieht auch die politischen bringen vermochte, die für die mikroelektroni- den Bestimmungen des Kriegsvölkerrechts ver-
und sozialen Rahmenbedingungen, unter de- sche Aufrüstung ihrer Streitkräfte erforderlich pflichtet fühlt, sondern Gewalt in der Form an-
nen Armeen aufgestellt und Kriege geführt waren, schied sie als ernst zu nehmender Kon- wendet, wie sie ihm gerade zweckmäßig und
werden, in den Fokus der Aufmerksamkeit mit kurrent der USA aus. Zum Symbol dieses Aus- zielführend erscheint. So haben sich schließlich
ein. scheidens wurde der Verlauf des Golfkrieges weltpolitische Regionen herausgebildet, in de-
Tatsächlich ist beides, Kriegführung und poli- von 1991, als es den amerikanischen Truppen nen der Krieg kein ernstlich in Erwägung gezo-
tisch-soziale Ordnung, sinnvollerweise nicht binnen 48 Stunden gelang, die mit sowjeti- genes Instrument der Politik mehr darstellt, wie
voneinander zu trennen, wiewohl es in der schem Material ausgerüstete und nach sow- in Europa etwa, und andererseits große Gebiete,
Forschung immer wieder voneinander ge- jetischer Strategie geführte irakische Armee in denen im Gefolge von Staatszerfall der Krieg
trennt behandelt worden ist. So hat die Re- zu zerschlagen, ohne dabei größere Verluste endemisch geworden ist und die Perspektive ei-
volutionierung des Militärwesens in der Frü- hinnehmen zu müssen. Von da an war auch nes Friedensschlusses aufgrund der Vielzahl der
hen Neuzeit auch die politischen Rahmen- den Marschällen in Moskau klar, dass sich die am Krieg beteiligten Akteure, ihrer organisato-
bedingungen der Kriegführung fundamental USA militärisch in einer eigenen Liga beweg- rischen Diffusität und schließlich der Verbin-
verändert. Durch den zunehmenden Gebrauch ten. Die einzigen, die ihnen von ihren techno- dung von Kriegsökonomie mit internationaler
der Artillerie, die damit verbundene Entwer- logischen Fähigkeiten und ihren wirtschaftli- Kriminalität nicht besteht. Viele der neuen
tung von Burgen und Stadtmauern und den chen Ressourcen dorthin folgen könnten, sind Kriege dauern nicht Monate oder auch Jahre,
Bau großer Festungsanlagen, schließlich den die (West-)Europäer, aber die haben politisch sondern Jahrzehnte.
Zwang über alle drei Waffengattungen, Infan- keinerlei Interesse daran, in einen Rüstungs-
terie, Kavallerie und Artillerie, zu verfügen, um wettlauf mit den USA einzutreten. Die globale
sie in die Schlacht in verbundener Fechtweise Interventionspolitik der USA, von der Karibik TRIFFT DIE KRITIK DEN KERN
zum Einsatz zu bringen, kam es zu einer ge- über den Balkan bis nach Zentralasien, stützt DES PROBLEMS?
waltigen Verteuerung des Kriegswesens, in de- sich auf ihre militärtechnologische Überlegen-
ren Gefolge der Staat, aber eigentlich auch nur heit und den Umstand, dass sie dabei mit kei- Von den Kritikern des Begriffs der neuen
der größere Territorialstaat, zum Monopolis- nem gleichartigen, d.h. symmetrischen Kon- Kriege ist sehr bald eingewandt worden, dass
ten der Kriegführung aufstieg. Die zahllosen trahenten rechnen müssen. vieles von dem, was hier als neu etikettiert

181
HERFRIED MÜNKLER

werde, so neu gar nicht sei, sondern eigentlich KINDER SPIELEN AUF EINEM BAUM IM FLÜCHTLINGSLAGER
immer schon als ein Begleiter des Kriegsge- NYARASHISHI NAHE DER GRENZE ZU ZAIRE. NACH DEM
schehens beobachtet werden könne. Außer- BÜRGERKRIEG IN RUANDA, IN DESSEN VERLAUF INNER-
dem sei der Gegenbegriff der alten Kriege zu HALB VON 100 TAGEN 800.000 MENSCHEN GETÖTET
europazentrisch und lasse die außereuropäi- WURDEN, SCHÄTZTE DIE UN DIE ZAHL DER FLÜCHTLINGE
sche Kriegführung der europäischen Kolonial- INNERHALB UND AUSSERHALB DES LANDES AUF 1,5 MIL-
mächte außer Betracht. Schließlich ist geltend LIONEN. EIN MERKMAL DER NEUEN KRIEGE IST DIE SYS-
gemacht worden, Begriff und Konzept der TEMATISCHE GEWALTANWENDUNG GEGEN DIE ZIVILBEVÖL-
neuen Kriege widmeten der fortbestehenden KERUNG UND EINE POLITIK ETHNISCHER VERTREIBUNG.
nuklearen Bedrohung zu wenig Aufmerksam- picture alliance / dpa
keit und überschätzten die weltpolitische Be-
deutung des Terrorismus. Auch wird die Be-
fürchtung geäußert, der Begriff der neuen
Kriege befördere eine Anthropologisierung des Art die gegeneinander kämpfenden Akteure
Kriegskonzepts, bei der man hinter die Vorstel- sind, welches die maximalen Zwecke sind, die
lung einer politischen Lenkung des Krieges zu- sie verfolgen können, usw. Der Begriff der
rückfalle und nur noch einzelne Phänomene neuen Kriege besagt, dass es hier und vor allem
des Krieges in den Blick nehme.6 hier zu einer grundlegenden Veränderung ge-
An diesen Einwänden ist im Detail sicherlich kommen ist. Um mit Clausewitz zu sprechen:
vieles richtig und unbestreitbar. Freilich tref- Die Grammatik des Krieges hat sich fundamen-
fen sie als Einwände selten das Konzept der tal geändert, er wird also nach anderen Regeln
neuen Kriege als Ganzes, sondern immer nur generiert als früher.
einzelne Autoren und andere gar nicht. Ins-
gesamt verfehlen sie jedoch den Kern des
Problems. Über der Aufzählung von Details DIE GRAMMATIK DES KRIEGES
und der Abarbeitung von Statistiken schaffen HAT SICH VERÄNDERT
sie es selten, sich auf die zentrale Frage zu
konzentrieren: Hat sich das Modell, nach dem Aber sind diese anderen Generierungsregeln
Kriege geführt werden, geändert oder nicht? nicht in den außereuropäischen Kriegen schon
Kann das Modell der – zugegebenermaßen – immer zur Anwendung gekommen? Das ist
europäischen Kriege, die auf einer prinzipiel- wohl unbestreitbar, aber dennoch gab das eu-
len Symmetrie zwischen den Akteuren beruh- ropäische Modell in Amerika wie Asien Perspek-
ten und diese Symmetrie für die ethische wie tive und Rhythmus der politischen wie militä-
rechtliche Regulierung des Krieges nutzten, rischen Entwicklung vor. Selbst Staaten, die ihre
noch plausibel zur Beschreibung und Analyse Unabhängigkeit in einem Partisanenkrieg er-
der gegenwärtigen Kriege angewandt werden kämpft hatten, stellten Streitkräfte nach euro-
oder nicht? Diese Frage ist mit Ja oder Nein zu päischem Vorbild auf. Die Aufnahme in den
beantworten. Details und statistische Daten Kreis der honorigen Staaten erfolgte auf der Ba-
geben Aufschluss über die Varianz eines Mo- sis tendenzieller Verteidigungsfähigkeit nach
dells, nicht aber über den Modellwechsel. dem europäischen Modell. Die Verwandlung
von Partisanengruppen in reguläre Streitkräfte
und die Transformation von Untergrundkämp-
FUNDIERTE URTEILE BENÖTIGEN fern in Soldaten zeigt, dass mit dem Eintritt in
MODELLTHEORETISCHE ANNAHMEN die volle Staatlichkeit die asymmetrischen Ur-
sprünge des neuen Staates zum Verschwinden
Aber ist die Frage des Kriegsmodells überhaupt gebracht und der Anspruch auf reziproke Aner-
von Relevanz? Allerdings, und zwar ganz ent- kennung durch die Fähigkeit zu symmetrischer
scheidend, da das Modell über die Kreativität, Kriegführung unterstrichen werden sollte.
Rationalität und Legitimität des strategischen Offenbar hat diese Anerkennungsperspektive
Handelns der Akteure entscheidet. Nur inner- heute ihre prägende Kraft verloren, denn kaum
halb modelltheoretischer Annahmen kann ein einer der zahlreichen Warlords in den halbpri-
Agieren als kreativ oder herkömmlich, eine mit vatisierten Kriegen an der Peripherie der Wohl-
Gewaltanwendung verbundene Perspektive als standszonen ist bestrebt, die zeitweilige Kont-
rational oder irrational und schließlich ein Ent- rolle, die er über ein Gebiet zum Zwecke DAS ENTSCHEIDEND NEUE AN DEN
schluss als legitim oder illegitim bzw. legal oder ökonomischer Ausbeutung hergestellt hat, in NEUEN KRIEGEN
illegal bewertet werden. Ohne diesen modell- eine staatliche Ordnung zu verwandeln, und
theoretischen Rahmen lassen sich weder ein auch die netzwerkartig organisierten Terror- Das entscheidend Neue an den neuen Kriegen
Entschluss noch eine Perspektive noch ein gruppen unternehmen keine erkennbaren An- ist das Zusammenkommen mehrerer Faktoren,
Agieren angemessen beurteilen – außer sie strengungen, die Gestalt territorial fixierter die für sich genommen oft gar nicht so neu
werden einem allen kulturellen Prägungen und Staatlichkeit anzunehmen. Mit gutem Grund sind, die aber in ihrer Kombination zu einer
politischen Konstellationen überhobenen mo- im Übrigen, denn dann wären sie ein leicht zu drastischen Veränderung nicht nur des Kriegs-
ralischen Urteil unterworfen. Das ist natürlich bezwingender Gegner für die Mächte, denen sie geschehens, sondern auch der Wahrnehmung
möglich, aber für eine politikwissenschaftliche in entterritorialisierter, nichtstaatlicher Gestalt von Bedrohungen führen. Asymmetrie und die
Analyse wenig produktiv, weil Urteile dieser Art erheblichen Schaden zufügen können. Die ge- Reaktion der Asymmetrierung sind nicht neu:
in der Regel feststehen. Außerdem sind sie ohne legentlich zu hörende Auffassung, es handele Wahrscheinlich ist kriegsgeschichtlich asym-
weitere Kenntnis der spezifischen Umstände sich bei den neuen Kriegen um Staatsbildungs- metrische Kriegführung sehr viel öfter anzu-
und Rahmenbedingungen möglich. Es sind Ur- kriege, wie sie auch im Europa des 16. und 17. treffen als symmetrische Kriege.8 Auch das
teile, bei deren Zustandekommen Wissenschaft Jahrhunderts stattgefunden haben, steht da- Auftreten substaatlicher bzw. semiprivater
in der Regel nicht erforderlich ist. Wissen- rum auf schwachen Beinen. Eher schon handelt Kriegsakteure ist nicht neu, sondern in der Ge-
schaftlich fundierte Urteile sind nur auf der es sich um Staatszerfallskriege. Die Ausbrei- schichte des Krieges immer wieder anzutref-
Grundlage modelltheoretischer Annahmen tung der neuen Kriege und der Anstieg zerfal- fen. Die italienischen Condottieri des 15. und
möglich: ob es sich um symmetrische oder lender Staaten gehen jedenfalls miteinander 16. Jahrhunderts sind die wohl bekanntesten
asymmetrische Kriege handelt,7 von welcher Hand in Hand. Repräsentanten dessen in Europa, und der

182
Die neuen Kriege

gen des Westfälischen Systems10 entwickelt Europa gepflegten Kriegführung hatte es eben-
hat. Im 20. Jahrhundert ist jedoch die Binde- falls schon lange davor gegeben. Es war die
kraft dieses Systems erodiert. Die ersten gro- Kombination dieser Faktoren, ihre Prägekraft
ßen Bevölkerungsverschiebungen fanden am für alle an dem System Beteiligten und schließ-
Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem Balkan lich die von dieser Kombination ausgehende
und in Kleinasien statt.11 Norm- und Regelbildung, die damals zu einer
Das entscheidend Neue an den neuen Kriegen neuen Form des Krieges geführt hat. Und
ist also das Zusammentreffen dieser drei Ent- selbstverständlich ist der Westfälische Frieden
wicklungen bei einer gleichzeitigen drasti- von 1648 nur das Symbol dieses Wandels, der
schen Abschwächung der Präge- und Orien- mehrere Jahrzehnte in Anspruch genommen
tierungskraft des klassischen Kriegsmodells. hat. Die Veränderungen waren oft unmerklich,
Das heißt nicht, dass dem Modell des klassi- weil eher untergründig. Aber am Ende dieser
schen zwischenstaatlichen Krieges nachge- Entwicklung hatte der Krieg eine andere Gestalt
trauert werden soll. Dieser Krieg hatte schon angenommen. In ähnlicher Form spielen sich
vor seiner Blockierung durch die Atombombe auch die gegenwärtigen Veränderungen ab. Ein
eine solche Intensität an Zerstörungskraft verbreiteter Vorwurf gegen die, die mit dem Be-
entwickelt, dass er für hochentwickelte In- griff der neuen Kriege arbeiten, lautet, sie wür-
dustriestaaten nicht mehr führbar war, jeden- den die Veränderungen überzeichnen. Das mag
falls in der Konfrontation untereinander, also sein, aber genau dies ist erforderlich, wenn man
als symmetrischer Krieg. Das hatte bereits der diese Veränderungen frühzeitig (bzw. politisch
Erste Weltkrieg, vor allem aber der Zweite rechtzeitig) wahrnehmen will. Wissenschaft
Weltkrieg gezeigt. Die klassischen Staaten- kann nicht darin bestehen, eine Veränderung
kriege, die auch nach 1945 noch geführt wur- erst dann zu konstatieren, wenn sich ein jeder
den, waren Kriege an der Peripherie der Wohl- mit ihr bereits arrangiert hat.
standszonen, in denen Staaten gegeneinander
kämpfen, die ohne die Lieferung von Waffen
und Material aus den fortgeschrittenen In- RESSOURCENKRIEGE AN DER PERIPHERIE
dustrieländern nicht kriegführungsfähig ge-
wesen wären. Sie hatten dementsprechend Lassen sich auf der Grundlage des Theorems
auch nicht die hochgradige Verletzlichkeit der neuen Kriege prognostische Aussagen be-
fortgeschrittener Industriestaaten und ver- züglich der Kriege des 21. Jahrhunderts for-
fügten nicht über eine eigene Industrie, die mulieren? Es dürften drei Typen des Krieges
auf Waffenproduktion und Kriegswirtschaft sein, die das Gewaltgeschehen des neuen
hätte umgestellt werden können. Die ver- Jahrhunderts bestimmen werden:13 Zunächst
heerenden Folgen zwischenstaatlicher Kriege sind die Ressourcenkriege zu nennen, die vor
nach der industriellen Revolution kamen hier allem an der Peripherie der Wohlstandszonen
also nur bedingt zum Tragen. Was von diesen stattfinden und in denen, wie man dies seit
Kriegen blieb, waren die große Zahl von Gefal- den 1990er-Jahren beobachten kann, sub-
lenen und Verwundeten, also eine Delle im de- staatliche bzw. semiprivate Kriegsakteure ge-
mographischen Aufbau der Gesellschaft, und geneinander um die Kontrolle rohstoffreicher
die riesigen Schuldenlasten. Die letzten dieser Gebiete und der in ihnen lebenden Bevölke-
klassischen zwischenstaatlichen Kriege waren rung kämpfen. Der Zweck dieser Kriege ist die
die Kriege zwischen dem Irak und Iran (1980- Kapitalisierung leicht auszubeutender Roh-
1988) sowie zwischen Äthiopien und Eritrea. stoffvorkommen, ihr Ziel die militärische Kon-
Im Gegensatz zu den Partisanenkriegen in der trolle des Territoriums, in dem diese Rohstoffe,
Epoche der Entkolonialisierung haben diese von Erdöl und Diamanten bis zu Edelmetallen
symmetrischen Kriege nur begrenzte Auswir- und Tropenhölzern, zu finden sind. Das Mittel
kungen auf die internationale Ordnung ge- dazu besteht zumeist in der Errichtung eines
habt: Es wurden Grenzen verschoben oder be- Schreckensregimes über die Bevölkerung, die
stätigt, mehr nicht. Sieht man vom Ersten und als möglicher Konkurrent um die aus den Roh-
Zweiten Weltkrieg einmal ab, die auch nur in stoffen bezogenen Renteneinkommen ausge-
begrenztem Sinn als symmetrische Kriege schaltet und deren Arbeitskraft in eine zusätz-
klassifiziert werden können, so haben klassi- liche Einkommensquelle der Bewaffneten ver-
Dreißigjährige Krieg war ein Krieg, in dem sche Staatenkriege eher konservative Effekte wandelt werden soll. In diesen Kriegen wird
diese privatökonomischen Interessen an der für die internationale Ordnung; buchstäblich vor allem Wasser eine große Bedeutung als
Fortführung des Krieges erheblichen Einfluss umwälzende Effekte haben dagegen asymme- strategische Ressource erlangen, weniger frei-
erlangt hatten.9 Auch das dritte Merkmal der trische Kriege;12 In ihnen kommen nicht nur lich im Hinblick auf den Austausch mit der
neuen Kriege, die Entmilitarisierung der Ge- völlig neue Akteure ins Spiel, sondern es wer- OECD-Welt denn als Kontroll- und Beherr-
waltorganisation und die Konzentration auf den auch die Normen und Regeln der beste- schungsmittel gegenüber der Bevölkerung in
nichtmilitärische Ziele bei Anwendung nicht- henden Ordnung angegriffen und aufgelöst. der Region. Diese Ressourcenkriege finanzie-
militärischer Methoden ist ebenfalls nicht neu. ren sich durch so genannte offene Kriegs-
Bereits die Assyrer, namentlich Tiglatpileser ökonomien, also ihre Verknüpfung mit den Ka-
III., haben sich beim Aufbau und der Sicherung DIE GESCHICHTE DES KRIEGES IST pital- und Warenströmen der Weltwirtschaft.
ihres Reichs aller Methoden der Verbreitung KEINESWEGS AM ENDE Die Folge dessen ist, dass diese Kriege nicht in-
des Schreckens und der „ethnischen Säube- folge wirtschaftlicher Erschöpfung zu Ende
rungen“ bedient. Neu war eher, dass es zeit- Die Ära des klassischen Staatenkrieges dürfte gehen bzw. die an ihnen Beteiligten mit wach-
weilig gelungen ist, die Kriegführung von sys- zu Ende gegangen sein. Aber die Geschichte des sender Erschöpfung friedensbereit werden,
tematischer Gewaltanwendung gegen die Krieges ist damit keineswegs zu Ende. Das be- sondern der auf kleiner Flamme geführte Krieg
Zivilbevölkerung und einer Politik systemati- sagt das Theorem der neuen Kriege. Dass es vie- (low intensity war) selbst das ökonomische
scher ethnischer Vertreibung freizuhalten. les von dem, was diese neuen Kriege kennzeich- Schwungrad darstellt. Die Beteiligten brau-
Diese Konzentration der Gewalt auf das Mili- net, bereits in der Vergangenheit gegeben hat, chen den Krieg, um im Geschäft zu bleiben,
tärische ist kennzeichnend für das Kriegsmo- ist kein Einwand gegen den Begriff der neuen und das ist auch der Grund, warum diese
dell, das sich in Europa unter den Bedingun- Kriege. Die meisten Elemente der nach 1648 in Kriege so lange dauern und es nahezu unmög-

183
HERFRIED MÜNKLER

lich ist, sie durch einen Friedensschluss zu be- VERWÜSTUNGSKRIEGE GEGEN die Terroristen zugleich Mittel und Ziele des
enden. Bis auf weiteres dürfte der Kongo da- DEN NORDEN Angriffs geworden. Was sie aber eigentlich an-
für das wichtigste Beispiel bleiben. greifen, ist die labile psychische Infrastruktur
Weil diese Kriege ihre Energie aus der Verbin- In den im Gefolge solcher Kriege entstande- vor allem der westlichen Welt, über die sie den
dung mit der Weltwirtschaft ziehen, wird es nen Regionen zerfallener Staatlichkeit nisten politischen Willen des angegriffenen Landes
auch immer wieder Versuche internationaler sich freilich Gruppierungen ein, die eine ermatten und erschöpfen wollen. Dabei setzen
Organisationen geben, sie durch die Verhän- zunehmende strategische Angriffsfähigkeit sie vor allem auf die psychischen Effekte der
gung von Wirtschaftssanktionen auszutrock- gegenüber den Wohlstandszonen der OECD- Gewalt, also den Schrecken, der umso intensi-
nen. Diese Sanktionen werden jedoch nur eine Welt entwickeln und eine neue Form von Ver- ver verbreitet wird, je größer die mediale
beschränkte Wirkung haben: Zunächst, weil wüstungskrieg gegen den reichen Norden be- Dichte des angegriffenen Landes ist. Ziel die-
die Kriegsakteure längst enge Verbindungen ginnen. Das Mittel, dessen sie sich dabei bedie- ser Gewaltstrategie ist der ökonomische Scha-
zur internationalen Kriminalität aufgebaut nen, ist der Terrorismus.14 Im Unterschied zum den, der durch die Erzeugung von Schrecken
haben und Rohstoffe wie Kapital über die Ka- Partisanenkrieg als einer der herkömmlichen bewirkt wird, also die wirtschaftliche Verwüs-
näle der Schattenglobalisierung transportie- Formen asymmetrischer Kriegführung ist der tung des Angegriffenen, und wenn diese ein
ren, so dass Sanktionsregimes sie kaum tref- Terrorismus in der Lage, die Gewalt bis weit für ihn nicht mehr zu ertragendes Maß er-
fen. Sollte dies doch der Fall sein, so sorgen die in das Territorium des angegriffenen Gegners reicht hat, wird er, so das terroristische Kalkül,
Warlords dafür, dass die Folgen dieser Sank- hineinzutragen. Ist der Partisanenkrieg die einlenken und beigeben. In diesem Sinne ist
tionen vor allem die örtliche Zivilbevölkerung prinzipiell defensive Variante einer Asymme- auch der religiös motivierte Terrorismus eine
treffen, worüber sie anschließend die Welt- trierung des Krieges aus der Position des Strategie der Gewalt, die eine der Kriegsfor-
presse berichten lassen. Die meisten der Sank- Schwächeren heraus, so ist der Terrorismus als men des 21. Jahrhunderts darstellen wird.
tionsregimes geraten auf diese Weise unter so politisch-militärische Strategie zumindest in
großen moralischen Druck, dass sie mit Aus- der Lage, offensiv zu agieren, und da er auf ANMERKUNGEN
nahmeregelungen durchlöchert werden und diese Weise zuletzt beachtliche Effekte erzielt 1
Dazu ausführlich Münkler, H.: Ist Krieg abschaffbar? –
damit ihren Zweck, die ökonomische Aus- hat, wird man davon ausgehen müssen, dass Ein Blick auf die Herausforderungen und Möglichkeiten
trocknung des Krieges, verfehlen. Die Ressour- dies in Zukunft in erhöhtem Maße der Fall sein des 21. Jahrhunderts. In: Wegner, B.: Wie Kriege enden.
Wege zum Frieden von der Antike bis zur Gegenwart. Pa-
cenkriege gehen dann unbeschränkt weiter. wird. Der Partisanenkrieg ist von der Unter- derborn u.a. 2000, S. 347–375.
Obendrein können sich die regionalen War- stützung der kleinen, verstreut operieren- 2
Eine zusammenfassende, auch statistisch aufbereitete
Darstellung dieser Entwicklung findet sich bei Schreiber,
lords dadurch politische Legitimität verschaf- den Gruppen durch die Zivilbevölkerung des W.: Die Kriege in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
fen, dass sie ethnische, religiöse oder kultu- Operationsgebiets abhängig, die ihre Logistik und danach. In: Das Kriegsgeschehen 2000. Hrsg. von Th.
relle Trennlinien in dem von ihnen kontrollier- übernimmt und ihnen Deckung gewährt. Par- Rabehl und W. Schreiber. Opladen 2001, S. 11–46.
3
Clausewitz, C. von: Vom Kriege. 19. Aufl., hrsg. von W.
ten Gebiet nutzen, um ihre Gewaltanwendung tisanenkriege sind nur führbar, wenn die Gue- Hahlweg. Bonn 1980, S. 212.
als Befreiungs- oder Widerstandskrieg darzu- rilleros sich auf die Unterstützung durch die 4 Exemplarisch sind zu nennen Creveld, M. van: Die Zu-
stellen. Mehrheit der Bevölkerung verlassen können. kunft des Krieges. München 1998; Kaldor, M.: Neue und
alte Kriege. Frankfurt am Main 2000; Münkler, H.: Die
Partisanen können nur dort operieren, wo sie neuen Kriege. Reinbek bei Hamburg 2002.
diesen Rückhalt haben. Wo sie ihn nicht haben 5 Vgl. Parker, G.: Die militärische Revolution. Die Kriegs-
PAZIFIZIERUNGSKRIEGE oder aufgrund eigener Fehler bzw. des Ge- kunst und der Aufstieg des Westens. Frankfurt am Main/
New York 1990.
schicks der Gegenseite verlieren, verlieren sie 6
Mit unterschiedlicher Akzentuierung ist diese Kritik
Diese ideologische Aufladung von Ressour- auch den Krieg. Das ist bei Terroristen nicht vorgetragen worden von Gantzel, K.J.: Neue Kriege?
cenkriegen, gelegentlich aber auch das Inte- der Fall: Sie haben die Unterstützung von Neue Kämpfer? Arbeitspapier 2/2002 der Forschungs-
stelle Kriege, Rüstung und Entwicklung der Universität
resse an der strategischen Kontrolle dieser Seiten der Bevölkerung des Operationsgebiets Hamburg; Knöbl, W.: Krieg, „neue Kriege“ und Terror:
Ressourcen ist der Grund dafür, warum sich durch die Nutzung der zivilen Infrastruktur Sozialwissenschaftliche Analysen und „Deutungen“ der
immer wieder Mächte aus der Wohlstands- des angegriffenen Landes ersetzt. Die Vo- aktuellen weltpolitischen Lage. In: Soziologische Revue,
27. Jg., 2004, S. 186-200; Kahl, M./Teusch, U.: Sind die
zone, an ihrer Spitze die USA, verschiedentlich raussetzung dafür ist die strikte Beachtung „neuen Kriege“ wirklich neu? In: Leviathan, 32. Jg., 2004,
in Ressourcenkriege einmischen und sie zu be- der Klandestinitätsregeln. Fluglinien, Mas- Heft 3, S. 382-401; Chojnacki, S.: Wandel der Kriegsfor-
men – Ein kritischer Literaturbericht. In: ebd., S. 402–424.
enden bzw. einer Seite zum Sieg zu verhelfen sentransportmittel, Kommunikationssysteme, Dagegen eher zustimmend Heupel, M./Zangl, B.: Von „al-
versuchen. Diese Interventionen, die auch die Massenmedien und Urlaubszentren sind für ten“ und „neuen“ Kriegen – Zum Gestaltwandel kriegeri-
scher Gewalt. In: Politische Vierteljahresschrift, 45. Jg.,
Abrüstung eines Kriegsakteurs oder die Ver- 2004, Heft 3, S. 346–369.
hinderung der Proliferation von Atomwaffen 7
Dazu Münkler, H.: Symmetrische und asymmetrische
zum Ziel haben können, sind zusammenfas- Kriege. In: Merkur, 58. Jg., 2004, Heft 8, S. 649–659
8 Dazu Schröfl, J./Pankratz, Th. (Hrsg.): Asymmetrische
send als Pazifizierungskriege zu bezeichnen. UNSER AUTOR Kriegführung – ein neues Phänomen der internationalen
Bei diesen militärischen Interventionen spie- Politik? Baden-Baden 2004.
len geostrategische, wirtschaftliche und hu- Prof. Dr. Herfried 9
Dazu ausführlich Münkler: Die neuen Kriege (vgl. Fuß-
manitäre Motivationen ineinander, wobei oft Münkler, geb. 1951 note 4), S. 59ff.
10 Als Westfälisches System wird die politische Ordnung
nicht zu entscheiden ist, welcher dieser Fak- in Friedberg/Hes- bezeichnet, die sich in Europa nach dem Frieden von
toren ausschlaggebend für die Interventions- sen, studierte Poli- Münster und Osnabrück, dem so genannten Westfäli-
entscheidung ist. Das Problem dieser Interven- tikwissenschaft, schen Frieden, entwickelt hat. Diese Ordnung ist dadurch
gekennzeichnet, dass die Staaten nicht nur die rechtli-
tionen ist jedoch, dass sie nur von kurzer Germanistik und chen Monopolisten des Krieges, sondern auch die fakti-
Dauer sein und nach Möglichkeit die interve- Philosophie in schen Monopolisten der Kriegführungsfähigkeit sind.
11
Dazu Diner, D.: Das Jahrhundert verstehen. Eine uni-
nierenden Mächte keine größeren Opfer kos- Frankfurt am Main. versalhistorische Deutung. München 1999, S. 195ff.
ten dürfen. Das time lag zwischen langen Seit 1992 hat Her- 12 Eine ausführliche Auseinandersetzung damit findet

Ressourcen- und kurzen Pazifizierungskriegen fried Münkler eine sich bei Daase, C.: Kleine Kriege – große Wirkung. Wie
unkonventionelle Kriegführung die internationale Politik
ist eine der Ursachen dafür, warum diese In- Professur für den verändert. Baden-Baden 1999.
terventionen selten von einem nachhaltigen Lehrbereich „Theo- 13
Vgl. hierzu und zum folgenden Münkler, H.: Kriege
Erfolg gekrönt sind. In vielen Fällen handelt es rie der Politik“ an der Humboldt-Universität im 21. Jahrhundert. In: Reiter, E. (Hrsg.): Jahrbuch für in-
ternationale Sicherheitspolitik 2003. Hamburg u.a. 2003,
sich ohnehin um ein Nachgeben gegenüber zu Berlin inne. Seit Dezember 1992 ist er S. 83–97.
einem von NGOs und Medien erzeugten mo- Mitglied der Berlin-Brandenburgischen 14 Vgl. hierzu und zum folgenden Münkler, H.: Clause-

ralischen Druck, der über Berichte von hu- Akademie der Wissenschaften. Zur Zeit hat witz und die neuen Kriege. Über Terrorismus, Partisanen-
krieg und die Ökonomie der Gewalt. In: Heitmeyer, H./
manitären Katastrophen hergestellt wird. Im er eine Forschungsprofessur am Wissen- Soeffner, H.-G. (Hrsg.): Gewalt. Entwicklungen, Struktu-
Grundsatz dürften die postheroischen Gesell- schaftszentrum zu Berlin (WZB) inne. Der ren, Analyseprobleme. Frankfurt am Main 2004, S. 362–
schaften Westeuropas aber dazu neigen, die Begriff „neue Kriege“ verdankt seine Karriere 380, sowie ders.: Ältere und jüngere Formen des Terroris-
mus. Strategie und Organisationsstruktur. In: Weidenfeld,
Ressourcenkriege sich selbst zu überlassen im deutschsprachigen Raum nicht zuletzt W. (Hrsg.): Herausforderung Terrorismus. Wiesbaden
und nur deren Folgen mit humanitären Hilfs- dem im September 2002 erschienen Buch 2004, S. 29–43.
leistungen zu lindern. „Die neuen Kriege“ von Herfried Münkler.

184
DER VERNACHLÄSSIGTE BLICK AUF DEN FRIEDEN

Eine Welt voller neuer Kriege?


VOLKER MATTHIES

Obwohl die Beschäftigung mit dem Phä-


nomen Krieg nicht neu ist, hat man den
Eindruck, dass das „Gerede von Krieg und
Kriegsgeschrei“ (Goethe) die öffentliche
und akademische Kommunikation be-
herrscht. Nicht zuletzt die Rückkehr des
Krieges nach Europa in Gestalt der Bal-
kankriege hat zu einer „Wiederentde-
ckung“ des Krieges beigetragen. Volker
Matthies resümiert in einer kritischen Be-
standsaufnahme die Debatte über neue
Kriege und kommt zu dem Schluss, dass
der Gestaltwandel des Krieges im Grun-
de ein altes Thema ist: die Anpassung des
„Chamäleon Krieg“ (Clausewitz) an neu-
artige politische, soziale und ökonomi-
sche Bedingungen. Die gegenwärtige
Diskussion über neue Kriege verstellt je-
doch den Blick auf notwendige Debat-
ten über Gewalt-, Konflikt- und Krisen-
prävention sowie über die Beendigung
der Kriege und Friedenskonsolidierung.
Volker Matthies plädiert deshalb, dem
Nicht-Krieg und damit der Friedensursa-
chenforschung (wieder) größere Auf-
merksamkeit zu schenken. Dies meint
auch ein Nachdenken darüber, wie den
EINE ÄLTERE MOSLEMISCHE FRAU MACHT IN DER NÄHE EINES MINEN-WARNSCHILDES AN DER STRASSE NACH STANIC
Szenarien der neuen Kriege durch Ge-
RIJEKA (50 KM WESTLICH VON TUZLA) EINE KURZE PAUSE UND ATMET TIEF DURCH. IN DER UMGEBUNG DES DORFES
walt- und Konfliktprävention und durch
VERLIEF DIE FRONTLINIE ZWISCHEN SERBEN UND MOSLEMS. UNTER DEM EINDRUCK DES KRIEGES IM EHEMALIGEN
eine Agenda sicherheits- und friedens-
JUGOSLAWIEN SCHWANDEN DIE HOFFNUNGEN AUF EINE WELTWEITE „FRIEDENSDIVIDENDE“ NACH DEM ENDE DES OST-
politischer Global Governance wirksam
WEST-KONFLIKTES. picture alliance / dpa
Einhalt geboten werden kann. Red.

spezialisten, die sich intensiv mit einzelnen dieser Studien zu Kriegen in der Ära des Ost-
Kriegen beschäftigten und ebenso Konfliktfor- West-Konflikts thematisierten bereits manche
scher, die, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Problemaspekte, die später unter der Rub-
BESCHÄFTIGUNG MIT DEM PHÄNOMEN des Biafra/Nigeria-Krieges 1967–1970, so ge- rik „neue Kriege“ besondere Beachtung fan-
KRIEG IST NICHTS NEUES nannte „ethnische Konflikte“ zum Gegenstand den: unter anderem die empirische Dominanz
ihrer Forschungen machten. Auch widmeten von Bürgerkriegen, die irreguläre Kriegfüh-
„Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- und sich Strategieforscher und Vertreter der Dis- rung nicht-staatlicher Akteure, deren ökono-
Feiertagen, als ein Gespräch von Krieg und ziplin Internationale Beziehungen einzelnen mische Basis und internationale Kontexte, der
Kriegsgeschrei“, so heißt es bei Goethe im „Krisenherden der Weltpolitik“ sowie weltpoli- gezielte Gewalteinsatz gegen die Zivilbevölke-
„Faust“. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat man tisch brisanten anti-kolonialen Befreiungs- rung und das Phänomen der Kindersoldaten
den Eindruck, als beherrsche das Gerede von kämpfen und sozialrevolutionären Guerilla- (siehe Heuser 2005 und für Afrika Ellis 2003).
Krieg und Kriegsgeschrei bereits die alltägliche kriegen (unter anderem dem Koreakrieg, der
Kommunikation. Hierzu gehört auch die Rede Kongo- und Kubakrise, dem Nahostkonflikt
von den neuen Kriegen und die seit dem 11. Sep- sowie dem Indochina- und Algerienkrieg). Da- DIE „WIEDERENTDECKUNG“ DES KRIEGES
tember 2001 intensivierte massenmediale Be- bei wurde bereits sehr frühzeitig die Proble-
richterstattung über terroristische Anschläge. matik des innerstaatlichen oder Bürgerkriegs Das Ende des Ost-West-Konflikts machte dann
Selbst Teile der Friedens- und Konfliktfor- („internal war“) thematisiert (Eckstein 1964; in Teilen der Öffentlichkeit und auch der Wis-
schung sind offenkundig der „unheimlichen Rosenau 1964). In den 70er- und 80er-Jahren senschaft zunächst einer gewissen Friedens-
Faszination des Krieges“ (Stefan Zweig) erlegen, wandten sich weitere Wissenschaftler der Be- euphorie Platz. Doch unter dem Eindruck nicht
da sie sich mittlerweile mehr mit dem Krieg als standsaufnahme und Analyse gegenwärtiger rechtzeitig verhüteter gewaltsamer Staatszer-
mit ihrem eigentlichen Gegenstand, dem Frie- Kriege zu. Hierzu trugen vor allem die Ver- fallsprozesse, Bürgerkriege und Völkermorde
den, zu befassen scheinen. Wie ist dies nun zu schärfung des Ost-West-Konflikts („Neuer wie in Jugoslawien, Somalia und Ruanda
erklären? Denn die Beschäftigung mit dem Phä- Kalter Krieg“), die mit diesem verbundenen schwanden die Hoffnungen auf eine welt-
nomen des Krieges ist ja keineswegs neu. „Stellvertreterkriege“ und „Regionalkonflikte“ weite „Friedensdividende“ rasch dahin. Insbe-
Seit vielen Jahrzehnten schon befassten sich in der Dritten Welt sowie die akuten Kriege sondere die Rückkehr des Krieges nach Europa
etliche Wissenschaftler mit der empirischen zwischen Iran und Irak („Erster Golfkrieg“), in Gestalt der Balkankriege hatte mit seiner
Bestandsaufnahme und analytischen Erfas- Argentinien und Großbritannien um die Falk- Schockwirkung ein immenses Interesse der
sung der Kriege nach dem Ende des Zweiten lands/Malwinen, im Libanon, im südlichen Öffentlichkeit und der Wissenschaft an den
Weltkrieges (als „Pionierforscher“ seien hier Afrika, am Horn von Afrika, in Südostasien und Kriegen der Gegenwart zur Folge. Der optimis-
Istvan Kende und nachfolgend die unter Lei- in Zentralamerika bei. Nunmehr wurden ins- tische Ruf „Nie wieder Krieg!“ machte der pes-
tung von Klaus Jürgen Gantzel stehenden Mit- besondere die Kriege in der „Dritten Welt“ zu simistischen Frage „Immer wieder Krieg?“
arbeiter der „Hamburger Arbeitsgemeinschaft einem prominenten Untersuchungsgegen- Platz. Im Kontext einer veränderten Wahrneh-
Kriegsursachenforschung“/AKUF genannt). In stand (z. B. Khan/Matthies 1981; Matthies mungslogik und Interessenlage nach dem
den 50er- und 60er-Jahren gab es Regional- 1988; Gantzel 1988; Senghaas 1989). Etliche Ende des Ost-West-Konflikts kam es nun

185
VOLKER MATTHIES

„SCHMUTZIGE KRIEGE“ GAB ES SCHON IMMER:


DIES GILT INSBESONDERE FÜR DIE EUROPÄISCHEN
KOLONIALKRIEGE, DIE SICH DURCH AUSSERORDENTLICHE
BRUTALITÄT BIS HIN ZUM VÖLKERMORD AUSZEICHNETEN.
DIE ABBILDUNG AUS DEM PETIT JOURNAL ILLUSTRIERT
DEN HERERO-AUFSTAND IN DEUTSCH-SÜDWESTAFRIKA
1904/5. SOZIALDARWINISMUS UND RASSISMUS
DIENTEN ALS RECHTFERTIGUNG FÜR EINE KOLONISIERUNG
MIT „FEUER UND SCHWERT“.
picture alliance / dpa

gleichsam zu einer „Wiederentdeckung“ des


Phänomens „Krieg“ (Pradetto 2004). Allerdings
rückte gegenüber dem empirisch in den Hin-
tergrund getretenen „klassischen“ Staaten-
krieg nunmehr der innerstaatliche Krieg oder
„Bürgerkrieg“ in den Mittelpunkt des öffentli-
chen und wissenschaftlichen Interesses. Poli-
tikwissenschaftler, Historiker, Soziologen, Eth-
nologen und Ökonomen erforschten insbe-
sondere seit Mitte der 90er-Jahre Kriege „nie-
driger Intensität“, „kleine Kriege“, den Beginn
und das Ende von Kriegen, die Eigendynamik
von Bürgerkriegen, „Ordnungen der Gewalt“,
„Gewaltmärkte“ und Bürgerkriegsökonomien.
Um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert
schließlich machten verschiedene Studien auf
einen sich abzeichnenden fundamentalen his-
torischen Formenwandel kriegerischer Gewalt
aufmerksam (Creveld bereits 1991!), den sie
teilweise auf den Begriff der „neuen Kriege“
brachten (vor allem Kaldor 2000; Münkler
2002). Dabei war allerdings nicht immer klar,
was denn das originär „Neue“ sein sollte. War
der Typus dieser Kriege neu, traten sie zeitlich
und regional neu auf, hatten sie neue Ursa-
chen, Hintergründe und Entstehungsbedin-
gungen, oder wiesen sie besondere, bislang
nicht bekannte Merkmale auf?
Gemeinsam ist den meisten dieser Studien,
dass sie innerstaatliche Kriege thematisieren,
deren Grundmerkmale herausstellen und zu- Als ein Hauptmerkmal der neuen Kriege wird traditionalen Strukturen aufsetzende kommu-
nächst auf die Unterscheidung zu dem als „alt“ deren Entstaatlichung und Privatisierung an- nitäre („gemeinschaftlich“ verfasste) Akteure
angesehenen Typ des zwischenstaatlichen geführt. Die Staaten hätten ihr „Monopol der (Böge 2004). Andererseits ist heutzutage zu-
Krieges zielen. Das Attribut „neu“ soll diese Kriegsgewalt“ verloren und seien nicht länger mindest eine Proliferation und Ausdifferenzie-
Kriege von den für eine frühere Epoche typi- die „Herren des Krieges“ (Münkler). Demgegen- rung sowie ein erhöhter politischer Stellenwert
schen Kriegsformen abgrenzen. Als wesentli- über sei ein wesentliches Element der neuen nicht-staatlicher Akteure unverkennbar;
che Merkmale des behaupteten Formenwan- Kriege die wachsende Beteiligung und Zu-
dels gelten den meisten Autoren vor allem die nahme nicht-staatlicher Gewaltakteure, eine
Entstaatlichung, Privatisierung, Ökonomisie- Art von „Globalisierung privater Gewalt“ in Ge- REDUKTION AUF ÖKONOMIE
rung und Brutalisierung des Krieges. Die seit stalt von Kriegsherren, Gewaltunternehmern, IST ZWEIFELHAFT
den terroristischen Anschlägen vom 11. Sep- Rebellen, Guerilleros, Banditen, Milizen, Söld-
tember 2001 teilweise erfolgende Verknüp- nern, Terroristen und organisierten Kriminellen Als ein weiteres Hauptmerkmal der neuen
fung der Debatte über neue Kriege mit der De- (Mair 2002). Doch setzt die Rede von der „Ent- Kriege gilt deren Ökonomisierung und impli-
batte über den internationalen Terrorismus staatlichung“ des Krieges ja voraus, dass es vor zite Entpolitisierung. Denn aus ökonomischer
verlieh der ersteren auch eine erhebliche si- dem Krieg eine durchsetzungsfähige staatliche Sicht stellen sich diese – in Abwandlung des
cherheitspolitische Relevanz. Zentralgewalt überhaupt gegeben hat. Dies berühmten Clausewitz-Diktums vom „Krieg
war und ist jedoch für einen erheblichen Teil der als Fortsetzung der Politik mit anderen Mit-
Staatenwelt vor allem in den außereuropäi- teln“ – als eine „Fortsetzung der Ökonomie
ZUR KRITIK DER REDE VON DEN schen Regionen nicht der Fall. Gleichwohl blieb mit anderen Mitteln“ dar. Sie glichen eher
NEUEN KRIEGEN und bleibt die Staatlichkeit und die Erringung wirtschaftlichen Raubzügen und Formen or-
der Staatsmacht ein wichtiger Bezugsrahmen ganisierter Wirtschaftskriminalität als genuin
Mittlerweile sind wesentliche Punkte der Kritik und ein wichtiges Ziel vieler kriegerischer politischen Unternehmungen und militäri-
an der These eines fundamentalen Formen- Auseinandersetzungen. Zudem ist zumindest schen Feldzügen. Mit anderen Worten: „Der
wandels kriegerischer Gewalt bekannt und eine Teil-Entstaatlichung und Teil-Privatisie- Homo Economicus zieht in den Krieg“ (Cramer
konzise zusammengefasst. Hier sollen sie rung des Krieges alles andere als neu, da diese 2002). Der Krieg gilt als Mittel der ökonomi-
unter Anlehnung an einige aktuelle kritische Phänomene ja den bereits seit 1945 dominan- schen Reproduktion und der Reichtumsaneig-
Bestandsaufnahmen der Debatte über neue ten innerstaatlichen Kriegen inhärent waren. nung; er wird zum Selbstzweck und Instru-
Kriege (Chojnacki 2004; Kahl/Teusch 2004; Schließlich handelt es sich bei etlichen nicht- ment ökonomischer Zweckrationalität. Doch
Pradetto 2004) nochmals kurz und bündig ab- staatlichen Gewaltakteuren keineswegs um wenn auch der kriegsökonomische Blickwinkel
gehandelt werden: „neue“ und „private“ Akteure, sondern um auf dazu beiträgt, die Dynamik mancher gegen-

186
Eine Welt voller neuer Kriege?

wärtiger Kriege besser zu verstehen, so bleibt ALLZU SCHLICHTE KONTRASTIERUNG litischer Gewalt ist im Entstehen, von der noch
die Reduktion des generellen Kriegsgesche- nicht klar ist, ob sie noch Krieg ist, oder schon
hens auf wesentlich ökonomische Gesichts- Kritikwürdig ist insgesamt die allzu schlichte etwas anderes, ein gefärbtes Chamäleon oder
punkte dennoch zweifelhaft. Denn Unklarheit Kontrastierung idealtypisch stilisierter „alter“ bereits ein anderes Wesen“ (Daase 2002, 6).
besteht oft darüber, ob es sich bei den ökono- und „neuer“ Kriege, die der Vielfalt und den
mischen Interessen von Gewaltakteuren um Kontinuitäten im vergangenen und gegenwär-
die primären Ursachen der Kriege handelt oder tigen Kriegsgeschehen kaum gerecht wird. SIND HISTORISCHE ANALOGIEN PLAUSIBEL?
eher um sekundäre Begleiterscheinungen und Doch räumen Vertreter der Rede von den neuen
Folgen kriegerischer Gewalt. Eine Ausblen- Kriegen durchaus begriffliche und sachliche Die vernachlässigte Berücksichtigung älterer
dung der sozialen Dimension von Kriegen Unzulänglichkeiten ein, führen diese jedoch kriegshistorischer und ethnologischer Studien,
würde zudem wesentliche Gründe ihrer Ent- auf „die unübersichtliche und in einer kohären- regionalwissenschaftlicher Untersuchungen so-
stehung und Dynamik übersehen. Problema- ten Begrifflichkeit, geschweige denn Theorie wie empirischer Befunde und Forschungs-
tisch ist ferner, mit der Entstaatlichung und kaum zu erfassende Gemengelage der jünge- stränge der Friedens- und Konfliktforschung
Ökonomisierung des Krieges zugleich auch ren Entwicklung des Kriegsgeschehens“ zurück hat jedoch in der Debatte über neue Kriege
dessen Entpolitisierung anzunehmen. Denn (Münkler 2002, 47). Gleichwohl wäre eine sehr deutlich zu einer eurozentrischen Verzerrung,
selbst wenn die Politik ihrer staatlichen For- viel stärkere typologische Ausdifferenzierung unzulässigen Verallgemeinerung und Über-
men entledigt ist, bilden sich vielfach alterna- von „klassischen“ zwischenstaatlichen, „her- zeichnung des „Neuen“ im gegenwärtigen
tive gesellschaftliche Netzwerke und eigen- kömmlichen“ innerstaatlichen und „neuen“ sub- Kriegsgeschehen beigetragen. Problematisch
ständige Formen von politischer Autorität, Le- staatlichen Kriegen sowie vielfältigen Misch- erscheinen auch die (von Historikern wie Peter
gitimität und Machtausübung jenseits über- formen kriegerischer Gewalt angebracht. Denn Englund, Eric Hobsbawm und auch von Herfried
kommener Staatlichkeit heraus. Insgesamt die komplexe Realität des beobachtbaren Münkler) herangezogenen Analogien zu der
dürfte daher wohl eine komplexe und dynami- weltweiten Kriegsgeschehens ist ja gerade Kriegführung und den Verwüstungen des Drei-
sche Wechselbeziehung zwischen Krieg, Öko- durch eine Vielzahl kriegerischer Konflikte und ßigjährigen Krieges („Rückkehr der Warlords“;
nomie und Politik bestehen. Hybridformen gekennzeichnet, die vormo- „Mutter-Courage-Landschaften“ in Afrika etc.),
derne und moderne Gewaltelemente in unter- um Parallelen mit den heutigen „neuen“ Kriegen
schiedlichen Kombinationen entlang einer dy- aufzuweisen. Denn ob diese eurozentrisch ge-
„SCHMUTZIGE KRIEGE“ GAB ES namischen Zeitachse in sich vereinen. Studien, prägte historische Analogie, so plausibel sie für
SCHON IMMER welche durch die komparative Analyse einer einen deutschen und mitteleuropäischen Be-
Auswahl von Fällen die empirische Evidenz trachter auch sein mag, tatsächlich hilfreich ist,
Als ein zusätzliches Merkmal der neuen Kriege neuer Kriege aufweisen wollen (Heupel/Zangl um heutige Gewaltkonflikte namentlich in au-
gilt ihre „Regellosigkeit“, „Enthegung“, „Entzi- 2003, 2004), weisen zwar in die richtige Rich- ßereuropäischen Regionen besser zu verstehen,
vilisierung“ oder „Barbarisierung“. Diese Kriege tung, stehen jedoch vor dem Problem ihrer Se- mag bezweifelt werden. Hier wäre der Blick auf
seien brutaler und grausamer als herkömmliche lektionskriterien und der Generalisierbarkeit ältere, historische Formen der Kriegführung in
Kriege und würden selbst Mindestnormen des ihrer Befunde. Denn die Untersuchung einer diesen Regionen selbst (z.B. am Horn von Afrika)
humanitären Völkerrechts missachten und die anderen Auswahl von Fällen gegenwärtiger womöglich nützlicher (Matthies 2005).
Gewaltanwendung gegen Zivilisten zu einem Kriege würde womöglich zu einem abweichen- Viele der Schlussfolgerungen zum Wandel des
strategischen Instrument der Kriegführung den oder gar gegenteiligen Befund kommen. Krieges basieren letztlich „doch eher auf Illust-
machen. Die klassische Unterscheidung zwi- rationen und anekdotischen Evidenzen (...), we-
schen „Kombattanten“ und „Nicht-Kombattan- niger auf empirisch und historisch vergleichen-
ten“ sei in den neuen Kriegen aufgehoben. DAS „CHAMÄLEON KRIEG“ den Analysen (...). Damit wird die These ‚neuer‘
Nicht mehr die offene Entscheidungsschlacht Kriege einerseits ohne fundierte empirische Ba-
zwischen Kombattanten stünde im Zentrum Abschließend kann festgehalten werden, dass sis verallgemeinert; andererseits werden diffe-
der Gewaltausübung, sondern die Terrorisie- der Begriff der „neuen Kriege“ weniger auf eine renzierbare Gewaltphänomene (Krieg, Terroris-
rung von Zivilisten und das Massaker an der Zi- zeitliche (Neu-)Bestimmung von Krieg im mus) und Teilphänomene (Ökonomisierung,
vilbevölkerung. Doch muss hier angemerkt engeren Sinne verweist, sondern eher „auf kon- Brutalisierung, Resexualisierung und Asymme-
werden, dass das Regelwerk des humanitären zeptionellen Überlegungen hinsichtlich klassi- trisierung des Krieges) theoretisch überbewer-
Völkerrechts für den inneren Krieg schon immer fizierbarer neuartiger Elemente des gewalt- tet oder gar fehlinterpretiert. Und angesichts
eine weitaus geringere Dichte und Durchset- samen Konfliktaustrags“ beruht, der vor allem der empirischen Trends im globalen Kriegsge-
zungsfähigkeit aufwies als für den klassischen durch einen qualitativen Wandel auf der Ak- schehen (...) wäre es ohnehin verfrüht, ‚alte‘
Staatenkrieg. Auch kamen schon in früheren teursebene (Entstaatlichung und Privatisie- innerstaatliche Kriege zu vernachlässigen oder
Kriegen unvorstellbare Grausamkeiten, Kriegs- rung des Krieges) sowie in der Ablaufdynamik zwischenstaatliche Kriege gar als historisches
verbrechen und Massentötungen von Zivilisten (Verstetigung von Kriegssituationen durch Ge- Auslaufmodell anzusehen“ (Chojnacki 2004,
und damit gravierende Regelverstöße gegen waltmärkte und Kriegsökonomien) gekenn- 418). Der beobachtbaren „Vielfalt von Gewalt-
Mindestnormen einer „zivilisierten“ Kriegfüh- zeichnet ist (Chojnacki 2002, 40). Insgesamt of- konflikten“ (Kurtenbach/Mehler 2002) wird
rung vor. Dies gilt insbesondere für die euro- fenbart sich in der Debatte über neue Kriege die hierdurch nicht angemessen Rechnung getra-
päischen Kolonialkriege, die sich durch außer- „Neu-Entdeckung“ eines „alten“ Themas: näm- gen. Deutlich wird insbesondere auch, dass die
ordentliche Brutalität bis hin zum Völker- lich des ständigen historischen Wandels und eurozentrische Fixierung auf den scheinbar his-
mord auszeichneten. Heidenmission, Sozial- der ständigen Anpassung des „Chamäleon torischen „Normalfall“ des zwischenstaatlichen
darwinismus und Rassismus dienten als Krieg“ (Clausewitz) an neuartige politische, so- Krieges den Blick auf die universalgeschichtli-
willkommene Legitimationsmuster für eine Ko- ziale und ökonomische Herausforderungen che Dominanz des nicht-staatlichen Krieges
lonisierung mit „Feuer und Schwert“. Die Kolo- und Bedingungen. Auf diesem Hintergrund ist und den „europäischen Sonderweg“ in der
nialvölker galten moralisch und rechtlich den der Gegenstand und Begriff des Krieges selbst Kriegführung zwischen dem Dreißigjährigen
Europäern nicht gleichgestellt; europäische ins Gerede gekommen. Verständlicherweise Krieg und dem Ersten Weltkrieg, der zumindest
Kriegskonventionen wurden hier nicht aner- warf daher Herfried Münkler die Frage auf, ob in Europa über Jahrhunderte zu einer „histo-
kannt. Der Krieg der „Zivilisierten“ untereinan- es angesichts der „neuen substaatlichen For- risch einmaligen Einhegung des Krieges“ führ-
der war an gewisse Regeln gebunden, während men der Gewalt“ überhaupt noch sinnvoll sei, te, lange verstellt hat (Herberg-Rothe 2003).
der Kampf gegen die „Wilden“ dagegen alle Mit- „am Begriff des Krieges als einer zusammen-
tel erlaubte. In der spät- und nachkolonialen fassenden Bezeichnung großräumig organi-
Ära galten namentlich Guerilla- und Anti- sierter Gewalt festzuhalten?“ (Münkler 2002, DAS VERDIENST DER REDE VON
guerillakriege im Kontext von anti-kolonialen 11). Und Christopher Daase konstatierte: „Der DEN NEUEN KRIEGEN
Unabhängigkeits- und sozialrevolutionären klassische Krieg, wie wir ihn aus der europäi-
Befreiungskriegen geradezu sprichwörtlich als schen Militärgeschichte kennen, ist im Ver- In Teilen ist die Rede von den neuen Kriegen
„schmutzige Kriege“. schwinden begriffen und eine neue Form po- mit ihrer großen Popularität in der Öffentlich-

187
VOLKER MATTHIES

keit, in der Politik und im Militär auch ein aufmerksam gemacht, dass die große Mehr-
„deutsches“ Phänomen, das eng mit dem Kon- heit aller Länder der Erde „weder in der roten
text „neuer“ Orientierungen in der deutschen Zone der Kriegsökonomien, noch in der golde-
Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik nen Nische der Globalisierungsgewinner lo-
verknüpft ist (Brzoska 2004). Bei aller berech- kalisiert“ ist, „sondern in einer Grauzone ge-
tigten Kritik besteht das Verdienst der Rede fährdeter Erfolge, fragiler Stabilität und un-
von den neuen Kriegen jedoch vor allem darin, abgeschlossener Modernisierungsprozesse“;
eine wissenschaftliche Debatte über die Prob- zudem verdecke die Konzentration der wissen-
lematik und einen möglichen Gestaltwandel schaftlichen und öffentlichen Aufmerksam-
gegenwärtiger Kriege angestoßen sowie eine keit auf chronische Kriegsregionen, exzessive
breitere Öffentlichkeit für diese Thematik sen- Krisengesellschaften und gewaltsame Staats-
sibilisiert zu haben. Letztendlich sollte es auch zerfallsprozesse „den Blick auf die Erfolge, die
gar nicht darum gehen, ob die kontrovers er- viele Länder unter schwierigen Bedingungen
örterten Merkmale und Merkmalskombinatio- erzielen konnten“ (Ehrke 2002, 23).
nen tatsächlich NEU sind oder nicht, sondern Wo, warum und wie formieren sich womöglich
WIE sie sind. Denn nur eine realitätsgerechte über (West-)Europa und die OECD-Welt hinaus
Kenntnis gegenwärtiger Gewaltkonflikte er- neue, eigenständige „Friedenszonen“ und Mus-
möglicht es, angemessene sicherheits- und ter einer friedlichen Koexistenz? Warum ist es
friedenspolitische Gegenstrategien zu entwer- in der Welt der Entwicklungsgesellschaften
fen. Die Entstaatlichung des Krieges hat eine Asiens, Afrikas und Lateinamerikas sowie in der
beträchtliche Entwertung herkömmlicher dip- Welt der postkommunistischen Transforma-
lomatisch-staatlicher Formen der Konfliktbe- tionsländer, die oft pauschal als Zonen der
arbeitung und Krisenbewältigung zur Folge. chronischen Gewalt gelten, nicht überall
Die Ökonomisierung des Krieges verweist auf gleichermaßen zu (Bürger-)Krieg und Staats-
die dringende Notwendigkeit einer innovati- zerfall gekommen? Warum wurden einige
ven Entwicklung neuer finanz,- wirtschafts- Gesellschaften in der gleichen Region von ver-
und entwicklungspolitischer Konzepte und In- heerenden Kriegen heimgesucht (wie z.B. El
strumente. Leider geben die bisherigen Stu- Salvador, Guatemala und Nicaragua in Zentral-
dien zu den neuen Kriegen (abgesehen von amerika; Angola, Mosambik und Kongo im sub-
Mary Kaldors „kosmopolitischer Alternative”) saharischen Afrika) und andere (wie etwa Costa
aber kaum brauchbare Hinweise zur Klärung Rica oder Botswana und Tanzania) nicht? Wa-
dieser drängenden Fragen. Im Wesentlichen rum blieben großflächige Länder mit enormen
finden sich allgemeine Aufrufe zum Erhalt sozialen Spannungen und/oder ethnisch-kul-
bzw. zur (Wieder-)Herstellung von effektiver turellen Zerklüftungen – wie beispielsweise
Staatlichkeit oder aber Plädoyers für mehr Brasilien, Indien oder Malaysia (bislang?) von
oder minder humanitär bzw. interessenpoli- umfassenden Bürgerkriegen und Staatszer-
tisch begründete militärische Interventionen fallsprozessen verschont? Was macht den „Kitt“
in bereits existente Kriege. Die umfangreichen aus, der heterogene Gesellschaften trotz viel-
Debatten über Gewalt-, Konflikt- und Krisen- fältiger Zerreißproben zusammenhält? Zur Be-
prävention sowie über Kriegsbeendigung und antwortung solcher Fragen müssten Aspekte
Friedenskonsolidierung hingegen werden bis- der Legitimations- und Funktionsproblematik
lang kaum zur Kenntnis genommen. nachkolonialer Staaten thematisiert werden,
ferner sozio-ökonomische Verteilungsmecha-
nismen und kulturelle Identitätsprobleme, Be-
VERNACHLÄSSIGTER BLICK AUF stimmungsfaktoren sozialer Integration sowie einem solchen Szenario Einhalt geboten wer-
NICHT-KRIEG UND FRIEDEN die Einbindung von Gesellschaften in Prozesse den könnte. Wie lässt sich der gewaltsamen
der Globalisierung. Insgesamt bedürfte es einer Eskalation von Konflikten durch Früherken-
Dies hat offensichtlich auch damit zu tun, dass regional und typologisch differenzierenden, nung und tatkräftiges Handeln beizeiten vor-
Phänomene kriegerischer oder terroristischer komparativen friedenswissenschaftlichen Un- beugen und wie können nach dem Ende von
Gewalt und der Unordnung für die öffentliche tersuchung, die aber bis heute leider kaum in Kriegen wieder einigermaßen trag- und funk-
Wahrnehmung einen größeren Attraktions- Ansätzen stattgefunden hat (Matthies 1997; tionsfähige staatliche und gesellschaftliche
wert haben als deren Gegenteil, der Nicht- Senghaas 2004). Strukturen sowie stabile und friedliche Ver-
Krieg und die geordnete, friedliche Koopera- hältnisse geschaffen werden? Eigentlich ist
tion. Die Forschung über Kriege gibt ja eigent- die Vernachlässigung von Prävention durch
lich nur das „Negativ eines Konflikt-Welt- NACHDENKEN ÜBER GEWALT- UND die Politik ein großer öffentlicher Skandal. Ab-
bildes“ wieder, während die Abbildung von KONFLIKTPRÄVENTION gesehen von den Schrecken und Nöten der
erhaltenem oder gesicherten Frieden dessen unmittelbar betroffenen Gesellschaften und
„Positiv-Abzug“ wäre. Doch ist der Nicht-Krieg Ebenso sollte aus friedenspolitischen Gründen Menschen trägt der Bürger und Steuerzahler
für die Kriegsforschung kein relevantes Ereig- den seit über einem Jahrzehnt anhaltenden in den westlichen Industriegesellschaften die
nis, denn „nach wie vor werden Konflikte, Diskursen über die Möglichkeiten und Erfolgs- Kosten und Lasten für verpasste Präventions-
Kriege und Gewalt als die einzigen Ereignisse bedingungen von Gewalt- und Konfliktprä- chancen, zahlt für humanitäre Nothilfe, zu-
verstanden, die operationalisiert werden kön- vention (z.B. Matthies 2000; Hampson/Malone strömende Flüchtlinge, teure Militäreinsätze
nen. Frieden wird jedoch weiterhin als ein sta- 2002; Carment/Schnabel 2003; Lund 2004) und umfangreiche Wiederaufbauhilfen. Doch
tistisches Nicht-Ereignis aufgefasst, das nicht sowie von post-konfliktiver Wiederaufbauar- sind wesentliche Voraussetzungen für die Prä-
operationalisierbar ist und damit auch nicht beit, Staaten- und Nationenbildung (z.B. Fer- vention der politische Wille und die konzeptio-
einer der Gewaltforschung entsprechenden dowsi/Matthies 2003; Rotberg 2003; Hippler nelle, materielle und instrumentelle Fähigkeit
systematischen und vergleichenden Friedens- 2004) weit mehr Beachtung geschenkt wer- diverser Akteure zu vorbeugendem Handeln.
ursachenforschung zugänglich wird“ (Rohloff/ den, bei aller berechtigten Skepsis über die da- Der Erfolg von Prävention ist jedoch vor allem
Schindler 2000, 291). Doch sollte der Frage, bei bislang gewonnenen Erkenntnisse und auch von den Kontextbedingungen vor Ort ab-
warum eigentlich nicht immer und überall auf empirisch nachweisbaren „Erfolge“. Statt wei- hängig, also von den gesellschaftlichen Ver-
der Welt gleichermaßen Krieg herrscht, eine tere „neue Kriege“ zu prognostizieren, sollte hältnissen und Konfliktdynamiken in den Kri-
weit größere Aufmerksamkeit zuteil werden. man sich lieber der schwierigen Aufgabe des senregionen. Im Interesse einer realistischen
Manche Forscher haben daher zu Recht darauf Nachdenkens darüber unterziehen, wie denn Einschätzung von Präventionschancen müs-

188
Eine Welt voller neuer Kriege?

HUNDERTTAUSENDE FLIEHEN 1999 VOR EINEM NEUEN


KRIEG IN ANGOLA. IN EINEM FLÜCHTLINGSLAGER WER-
DEN RUND 27.000 FLÜCHTLINGE VON DER DEUTSCHEN
WELTHUNGERHILFE VERSORGT. LETZTLICH TRAGEN DIE
WESTLICHEN INDUSTRIENATIONEN DIE KOSTEN UND
LASTEN FÜR VERPASSTE PRÄVENTIONSCHANCEN.
picture alliance / dpa

schung eine wesentliche Voraussetzung für


Friedensforschung. In diesem Sinne ist auch
die derzeitige Debatte über neue Kriege bzw.
über einen fundamentalen Formenwandel
kriegerischer Gewalt durchaus berechtigt.
Doch sollte diese Debatte letztendlich in eine
umfassende Friedenserfahrungs- und Frie-
densursachenforschung einmünden. Denn
wenn Kriegsforschung auch wichtig ist, so
bleibt sie dennoch „unzulänglich, wenn
die Kernfrage der FRIEDENSURSACHENFOR-
SCHUNG (Hervorh. i.O.) beantwortet werden
soll, nämlich welche Rahmenbedingungen
und Voraussetzungen für die ‚Architektur‘ ei-
nes dauerhaften und stabilen (…) Friedens,
also eines Friedens, der sich durch Nachhaltig-
keit auszeichnet, erforderlich sind“ (Senghaas
2004, 14). Selbst wenn man den Optimismus
jener Forscher nicht teilt, die analog zum UN-
Milleniums-Programm zur Halbierung der ab-
soluten Armut auf der Welt bis zum Jahre
2015 auch eine Halbierung der Zahl der Bür-
gerkriege auf der Welt für möglich halten, so-
fern heute schon friedenspolitisch tatkräftig
gehandelt würde (Collier u.a. 2003), so sollte
man bei allem nüchternen Realismus die Er-
fordernisse und Möglichkeiten einer globalen
Friedenspolitik dennoch etwas positiver ein-
schätzen, als es die in Teilen dramatisierende
Debatte über neue Kriege tut. Denn manche
Protagonisten der Rede von den neuen Krie-
gen „verbinden ihre Analyse mit einer außer-
ordentlichen Skepsis, ja mit großem Pessimis-
mus in Bezug auf die Chancen einer globalen
sen daher die Phänomene des Staatszerfalls, ser zunehmend eine strategische Ressource mit Friedenspolitik“ (Kahl/Teusch 2004, 401). Dies
neuartiger Kriegsformen sowie transnationa- hoher Konfliktträchtigkeit werden wird. Doch deckt sich in starkem Maße mit nach dem
ler Gewaltmärkte und auch Kriegsökonomien statt über „Kriege um Wasser“ zu räsonieren, Ende des Kalten Krieges weit verbreiteten Vor-
schärfer als bisher in den Blick genommen sollte man lieber darüber nachdenken, wie der stellungen und Unterstellungen von „Chaos“,
werden. Hierzu haben Forschung wie politi- sich tatsächlich verschärfenden globalen Was- „Anarchie“ und „Unordnung“ in den interna-
sche Praxis in den letzten Jahren vielfältige Er- serkrise konstruktiv, kooperativ und friedens- tionalen Beziehungen. Doch waren und sind
kenntnisse zu Konzepten, Ansätzen, Instru- verträglich zu begegnen wäre: unter anderem diese Einschätzungen zum Teil übertrieben,
menten und Strategien effektiven präventiven durch ein wirksames Wassermanagement in empirisch nicht durchgängig fundiert, zu pau-
und post-konfliktiven Handelns zusammen- den Krisenländern, durch den Bau von kleinen schal und zu wenig raum-zeitlich differen-
getragen. Beispielsweise gibt es mittlerweile Bewässerungssystemen, durch die Unterstüt- ziert. Yahya Sadowski entlarvte in seinem
differenzierte Vorschläge zur größeren Zielge- zung der Bemühungen der internationalen Ge- Buch von 1998 eindrucksvoll den „Mythos des
nauigkeit und Effektivität von Sanktionen (so meinschaft, bis zum Jahre 2015 den Anteil Globalen Chaos“. Ein prominentes US-ameri-
genannte „intelligente Sanktionen“). Zudem der Weltbevölkerung ohne Zugang zu saube- kanisches Sammelwerk zur konstruktiven Be-
wird intensiv über verbesserte Maßnahmen rem Trinkwasser zu halbieren, sowie durch den arbeitung von Konflikten, dessen erste Auflage
zur „Austrocknung“ von Finanzierungsquellen Ausbau und die Stabilisierung internationaler 1996 noch unter dem negativ akzentuierten
neuer Kriege sowie zur Stärkung von eigen- Verträge und Regime, die zu einer gerechten Titel „Global Chaos: Sources of and Responses
ständigen Friedenspotenzialen in den Krisen- Nutzung gemeinsamer Wasserressourcen bei- to International Conflict“ erschien, brachte
gesellschaften selbst nachgedacht. Insbeson- tragen sollen. denn auch im Jahre 2001 eine Neuauflage un-
dere sollten namentlich auch weithin unstrit- ter dem nunmehr positiver akzentuierten Titel
tige, zumindest tendenzielle „Erfolgsgeschich- „Turbulent Peace: The Challenges of Managing
ten“ konstruktiver Konfliktbearbeitung wie KRIEGSFORSCHUNG IN International Conflict“ (Crocker/Hampson/Aall
etwa Südafrika, Mosambik, Mali(-Nord), So- FRIEDENSPOLITISCHER ABSICHT 2001) heraus.
maliland, das Baltikum oder Mazedonien eine Angesichts der Rede von den neuen Kriegen
weit größere Beachtung und Würdigung er- Zweifellos setzt die Suche nach konstruktiven warf der erfahrene Kriegsursachenforscher
fahren als bisher. Konfliktbearbeitungsstrategien und Friedens- Gantzel daher nicht ganz zu Unrecht die Frage
Ähnlich steht es auch mit dem seit Jahren an- politiken voraus, dass man eine realistische auf, ob denn die „Neuentdecker dieser Kriege
haltenden modischen und populären Gerede Kenntnis von den Formen, Ursachen und Dy- (…) bewusst oder unbewusst, zumindest unbe-
über künftige Ressourcen- und insbesondere namiken gegenwärtiger (und möglichst auch dacht – nicht einer tieferen Strömung zu
„Wasserkriege“. Niemand bestreitet, dass Was- künftiger) Kriege hat. Insofern ist Kriegsfor- Diensten sind. Ihre generalisierenden Darstel-

189
VOLKER MATTHIES

lungen einer unmenschlichen Kriegswelt we- selbst bedrohen und (abgesehen von terroris- Ferdowsi, M. A./Matthies, V. (Hrsg.): Den Frieden gewin-
nen. Zur Konsolidierung von Friedensprozessen in Nach-
cken diffuse Bedrohungsgefühle, die geeignet tischen Attacken) kaum die der Menschen in kriegsgesellschaften. Bonn 2003
sind, einer sich bis in die Privatzonen hinein- den westlichen Industriegesellschaften. Eher Gantzel, K.J. (Hrsg.): Krieg in der Dritten Welt. Theoreti-
fressenden Sicherheitspolitik den Weg zu eb- sind es ja Teile eben dieser Gesellschaften, die, sche und methodische Probleme der Kriegsursachenfor-
schung-Fallstudien. Baden-Baden 1988
nen“ (Gantzel 2002, 16). Eine solche Einstel- wie gerade die neuere Forschung insbeson- Gantzel, K. J.: Neue Kriege? Neue Kämpfer? Arbeitspapier
lung kann dann auch dazu beitragen, den Wil- dere zu den ökonomischen Dimensionen der 2/2002 der Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Ent-
len zu einer tatkräftigen und konsequenten neuen Kriege deutlich gemacht hat, etwa wicklung des Instituts für Politische Wissenschaft der
Universität Hamburg 2002
Friedenspolitik zu lähmen und sich auf eine durch macht- und interessenpolitische Einmi- Hampson, F. O./Malone, D. M. (eds.): From Reaction to
rein den eigenen Sicherheitsinteressen die- schungen und Beteiligungen an der rohstoff- Conflict Prevention. Opportunities for the UN System.
nende defensive Grundhaltung zurückzuzie- politischen Ausplünderung von Kriegsgebie- Boulder-London 2002
Herberg-Rothe, A.: Der Krieg – Geschichte und Gegen-
hen. In den westlichen Gesellschaften werden ten, auf außerordentlich destruktive Weise zu wart. Frankfurt am Main 2003
die neuen Kriege vielerorts zunehmend als Be- den Schrecken und Zerstörungen dieser Kriege Heupel, M./Zangl, B.: Die empirische Realität des „Neuen
drohung der eigenen Sicherheit wahrgenom- beitragen. Dies gilt auch für die langjährige Krieges“. In: IIS-Arbeitspapiere Nr.27/2003, Universität
Bremen
men. Dies hat bereits zu einer Politisierung des Unterstützung repressiver Regime und die To- Heupel, M./Zangl, B.: Von „alten“ und „neuen“ Kriegen –
entwicklungspolitischen Diskurses sowie zu lerierung krass ungerechter Gesellschaftsord- Zum Gestaltwandel kriegerischer Gewalt. In: Politische
dessen tendenzieller Verschmelzung mit dem nungen sowie für die mangelnde Konsequenz Vierteljahresschrift, 3/2004, S.346–369.
sicherheitspolitischen Diskurs geführt (Duf- internationaler Menschenrechtspolitik ange- Heuser, B.: Wars Since 1945. An Introduction. In: Zeit-
historische Forschungen 1/2005
field 2001). Hierzu trägt sicher auch die prob- sichts dominanter ökonomischer Interessen. Hippler, J. (Hrsg.): Nation-Building. Ein Schlüsselkonzept
lematische Verknüpfung der Debatte über Hier friedenspolitisch anzusetzen, wäre die für friedliche Konfliktbearbeitung? Bonn 2004
neue Kriege mit der Debatte über den transna- vornehmste Aufgabe einer Kriegsforschung, Kahl, M./Teusch, U.: Sind die „neuen Kriege“ wirklich
neu? In: Leviathan, 3/2004, S. 382–401.
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Demgegenüber wäre eine Agenda sicherheits- Böge, V.: Muschelgeld und Blutdiamanten. Traditionale waltkonflikten. Analysen aus regionalwissenschaftlicher
Konfliktbearbeitung in zeitgenössischen Gewaltkonflik- Perspektive. Hamburg 2002
und friedenspolitischer Global Governance ten. Hamburg 2004 Lund, M. S.: Operationalizing the Lessons from Recent
vonnöten, die das Prinzip der multilateralen Brzoska, M.: „New Wars“ Discourse in Germany. In: Jour- Experience in Field-Level Conflict Prevention Strategies.
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Cramer, C.: Homo Economicus Goes to War: Methodo-
lisierungsprojekt verfolgt (Nuscheler/Weller logical Individualism, Rational Choice and the Political Münkler, H.: Die neuen Kriege. Reinbek bei Hamburg 2002
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sollte Friedensforschung daher „als Horizont Creveld, M. van: Die Zukunft des Krieges. München 1998 Sicherheitspolitik. In: Friedensgutachten 2002. Münster
aufhellende Langzeitaufgabe“ betrieben wer- (engl. Ausgabe 1991: The Transformation of War. New u.a. 2002, S. 205-214.
den (Rittberger 2004, 12). Man sollte auch York) Pradetto, A.: Neue Kriege. In: Gareis, S./Klein, P. (Hrsg.):
Crocker, C./Hampson, F. O./Aall, P. (eds.): Turbulent Handbuch Militär und Sozialwissenschaft, Wiesbaden
nicht übersehen, dass einige der in den letzten Peace. The Challenges of Managing International Con- 2004
Jahren vielzitierten Prototypen neuer Kriege flict. Washington, D.C. 2001 Rittberger, V.: Herausforderungen für die Friedensfor-
mittlerweile wieder zu Ende gegangen sind Daase, C.: „Der Krieg ist ein Chamäleon”. Zum Formen- schung zu Beginn des 21. Jahrhunderts. In: Deutsche
wandel politischer Gewalt im 21. Jahrhundert. In: Forum Stiftung Friedensforschung. Impulse für Friedensfor-
oder zumindest in ihrer Intensität nachgelas- Loccum 21, 4/2004 schung und Politik. Forum DSF, 2/2004, S. 7ff.
sen haben (u.a. die Balkankriege, die Kriege in Duffield, M.: Global Governance and New Wars. The Rohloff, C./Schindler, H.: Mit weniger Gewalt in die Zu-
Angola, Sierra Leone, Somalia), wenngleich Merging of Development and Security. London 2001 kunft – Debatten und Befunde aus der empirischen
Eckstein, H. (ed.): Internal War. London 1964 Friedens- und Konfliktforschung. In: Die Friedens-Warte,
auch nicht unbedingt in jedem Fall mit der 3–4/2000, S.289-307.
Ehrke, M.: Zur politischen Ökonomie post-nationalstaat-
Perspektive eines dauerhaften Friedens. Zu- licher Konflikte. Ein Literaturbericht. Friedrich-Ebert- Rosenau, J. (ed.): International Aspects of Civil Strife.
dem hat es allein zwischen 1988 und 1998 Stiftung, Bonn 2002 Princeton, N.J. 1964
Rotberg, R. I. (ed.): State Failure and State Weakness in a
insgesamt 38 formale Friedensabkommen zur Ellis, S.: The Old Roots of Africa´s New Wars. In: Interna-
Time of Terror. Washington, D.C. 2003
tionale Politik und Gesellschaft, 2/2003, S.29-43.
Beendigung von Bürgerkriegen in 33 Ländern Senghaas, D. (Hrsg.): Regionalkonflikte in der Dritten Welt:
European Centre for Conflict Prevention: People Building
gegeben, die keineswegs alle als gescheitert zu Peace. 35 Inspiring Stories from Around the World. Autonomie und Fremdbestimmung. Baden-Baden 1989
betrachten sind. Will man also mögliche „Aus- Utrecht 1999 Senghaas, Dieter: Zum irdischen Frieden. Frankfurt am
Main 2004
wege aus dem Bürgerkrieg“ in den Blick neh- WSP International: Overcoming Conflict, Building Last-
men, sollte man sich denn auch nicht von alar- ing Peace, War-torn Societies Project. Annual Report
mistischen Zeitdiagnosen leiten lassen, son- 2003. Genf 2004
dern vielmehr über diejenigen Konfliktfälle UNSER AUTOR
berichten, „in denen (…) leidliche Lösungen
gefunden wurden und praktiziert werden“ Prof. Dr. Volker
(Schneckener 2002, 9f). Das in der Regel wenig Matthies ist Dozent
beachtete beharrliche und oft auch erfolgrei- für Politische Wis-
che Bemühen um konstruktive Konfliktbear- senschaft an der
beitung rund um den Globus sollte friedens- Führungsakademie
politischer Stoff für „inspirierende Geschich- der Bundeswehr
ten“ sein (European Centre for Conflict Pre- Hamburg. Er hat zu-
vention 1999; WSP 2004). Zudem sollte auch dem eine Honorar-
immer wieder betont werden, dass die neuen professur für Politi-
Kriege ja vornehmlich die Sicherheit und die sche Wissenschaft
Wohlfahrt der direkt betroffenen Menschen an der Universität
und Gesellschaften in den Krisengebieten Hamburg inne.

190
SCHATTENGLOBALISIERUNG, ÖKONOMIE UND KRIEG

Ökonomie der neuen Kriege


PETER LOCK

Allen neuen Kriegen ist gemeinsam, dass


die jeweiligen Kriegswirtschaften in ho-
hem Maße in die globale Waren- und Fi-
nanzzirkulation eingebunden sind. Die
Frage, wie sich die Kontrahenten in sol-
chen Konflikten wirtschaftlich reprodu-
zieren, kann nur auf dem Hintergrund
einer gewandelten Kriegsökonomie be-
antwortet werden. Mit dem Ende des
Kalten Krieges haben sich die Rahmenbe-
dingungen für die Parteien bewaffneter
Konflikte – vor allem in der so genannten
„Dritten Welt“ – grundlegend geändert.
Die Polarisierung in Arm und Reich, ge-
sellschaftliche Segmentierung, ein tief
greifender sozialer Wandel und der Zer-
fall der staatlichen Ordnungsmacht ha-
ben dazu geführt, dass die Akteure der
neuen Kriege auf andere und neue For-
men der wirtschaftlichen Reproduktion
zurückgreifen. Nicht mehr der reguläre
Sektor der Weltwirtschaft allein ist maß-
gebend. Vielmehr bekommt der infor-
melle und kriminelle Sektor ein hohes
Gewicht für die logistische und wirt-
schaftliche Grundlage der Kriegführen-
den. Erfolgreiche Kriegsparteien müssen POLIZEIBEAMTE
BEWACHEN IN BOGOTA
zunächst erfolgreiche „Unternehmer“
BESCHLAGNAHMTES
sein. Dies verlangt von den Akteuren,
dass sie sowohl auf regulären als auch auf DROGENGELD. DER
informellen und kriminellen Märkten HANDEL MIT ILLEGALEN
Ressourcen anbieten und nachfragen. DROGEN IST EIN BEISPIEL,
WIE SICH IM SCHATTEN
Wenn die Merkmale der Kriegsökono-
DER GLOBALISIERUNG
mien auch in Staaten, in denen kein Krieg
WELTWEIT INFORMELLE
oder militärischer Konflikt herrscht, zu
konstatieren sind, so ist dies ein brisantes UND KRIMINELLE SPHÄREN
ENTWICKELN, DIE DURCH
Indiz für den Gestaltwandel von Gewalt,
der sich weit gehend unbeobachtet von TAUSCHBEZIEHUNGEN
UND TRANSAKTIONSKETTEN
der (Welt)Öffentlichkeit vornehmlich in
MIT DER REGULÄREN
weniger entwickelten Regionen voll-
zieht. Red. ÖKONOMIE IN VERBIN-
DUNG STEHEN.
picture alliance / dpa

DER STELLENWERT DER FRAGESTELLUNG Politikwissenschaft, taten sich sehr schwer, für Konflikte zu erforschen. Damit rückte die enge
diese letztlich unerwartete Entwicklung in der Verknüpfung von Ökonomie und Krieg in den
Die verbreiteten Erwartungen, dass das Ende politischen Praxis belastbare Erklärungen an- Mittelpunkt internationaler Debatten, die der
des Kalten Krieges zu einer neuen friedlicheren zubieten, die Strategien der Einhegung und Titel einer Veröffentlichung der Vereinten Na-
internationalen Ordnung führen und eine Prävention anleiten können. tionen zugespitzt auf den Punkt brachte: Gier
mächtige „Friedensdividende“1 zur globalen Der internationalen Diskussion weit vorausei- oder sozialer Missstand (als Konfliktursache)?5
Bekämpfung von Armut freisetzen würde, ha- lend hatten Francois Jean und Jean-Christophe Ein zentraler, statistisch vergleichend ermittel-
ben sich nicht erfüllt. Stattdessen setzten die Rufin bereits 1996 eine Sammlung von Fallstu- ter Befund Colliers, der große Beachtung fand,
Vereinigten Staaten auf eine Fortschreibung dien unter dem Titel „Ökonomie der Bürger- besagt, dass die Verfügbarkeit von weltmarkt-
einseitiger absoluter militärischer Überlegen- kriege“3 in Frankreich veröffentlicht, in dem die tauglichen Ressourcen deutlich die Wahr-
heit, während die meisten Staaten weniger für wirtschaftlichen Abläufe im Verlauf bewaffne- scheinlichkeit erhöht, dass es in einem Land zu
ihre Streitkräfte aufgewendet haben, weil ent- ter Konflikte untersucht wurden. Allen unter- bewaffneten Konflikten kommt, während unter
weder die Kassen leer waren oder aber bewusst suchten Konflikten war gemeinsam, dass die je- anderem die Hypothese ethnischer Diversivität
eine Umsteuerung der Staatsausgaben betrie- weiligen „Kriegswirtschaften“ in hohem Maße als Ursache verworfen wurde.
ben wurde. Zugleich aber werden mit ermüden- von ihrer Einbindung in die globale Waren- und
der Regelmäßigkeit scheinbar unverständlich Finanzzirkulation abhängig waren, wenngleich
brutal ausgetragene bewaffnete Konflikte2 und auf unterschiedlichste Weise. „NEUE KRIEGE“ UND WIRTSCHAFTLICHE
daraus folgende humanitäre Schreckensbilder Etwa zur gleichen Zeit sah die Weltbank ihr ur- REPRODUKTION
hautnah in den Medien präsentiert. Überwie- eigenes Betätigungsfeld der Entwicklungsför-
gend handelt es sich dabei um innerstaatliche derung zunehmend durch die zahlreichen be- 1999 bzw. 2002 schließlich präsentierten Mary
Konflikte, die auf niedrigem militärtechnischen waffneten Konflikte gefährdet. Sie setzte eine Kaldor6 und Herfried Münkler7 das Paradigma
Niveau ausgetragen werden. Die Sozialwissen- ganze Forschungsabteilung unter Leitung von „neue Kriege“. Sie haben damit eine breite so-
schaften insgesamt, insbesondere aber die Paul Collier4 darauf an, die Ursachen dieser zialwissenschaftliche Debatte ausgelöst. Ei-

191
PETER LOCK

nigkeit besteht lediglich darüber, dass die für Seite hegemoniale Einflusssphären verlieren
Kriege als typisch erachteten Merkmale, die wollte, tendierten diese Konflikte dazu, über
vor allem im 20. Jahrhundert zu einer Kodifi- viele Jahre ohne Entscheidung oder Friedens-
zierung im Völkerrecht führten, ganz oder teil- schluss geführt zu werden.
weise in den heutigen bewaffneten Konflikten Lediglich im Konflikt zwischen Israel und den
fehlen. Das mühsam entwickelte Kriegsvölker- Palästinensern hat dieser Konflikttypus das
recht wird von den Akteuren systematisch Ende des Kalten Krieges überlebt. In diesem
missachtet. Um diese Transformation kriegeri- Konflikt fahren beide Seiten seit Jahrzehnten
scher Gewalt deutlich zu machen, spricht man unverändert eine wirtschaftlich bedeutsame
von „neuen Kriegen“. Trotz aller Beredsamkeit „Kriegsrente“ in Form von nicht rückzahlungs-
der Debattenteilnehmer verrät jedoch die pflichtigen Zuflüssen verschiedenster Art ein.
Kennzeichnung „neu“, dass über den geneti- Die politischen Machtverhältnisse auf beiden
schen Kode dieser Kriege bislang wenig gesi- Seiten gründen auf diesen politischen Renten-
cherte Erkenntnisse vorliegen. Er bleibt weiter einkommen. Die Aufrechterhaltung andauern-
eine der wichtigsten Herausforderungen für der Bedrohung garantiert jeweils die Fortset-
die sozialwissenschaftliche Forschung. zung externer Unterstützung. Da in diesem
Nicht zuletzt weil einige dieser sehr lange an- Falle der militärische Sieg einer Seite den Kon-
dauernden Konflikte offensichtlich fast schon flikt nicht beenden kann, ist eine bilaterale Be-
zu einer besonderen Produktionsweise mutiert endigung dieser kriegerischen Auseinander-
zu sein scheinen, kommt der Beantwortung setzung nicht wahrscheinlich.
der Frage große Bedeutung zu, wie sich die
Kontrahenten in solchen Konflikten wirt-
schaftlich reproduzieren. Ohne genaue Kennt- GEÄNDERTE RAHMENBEDINGUNGEN
nis der Waren- und Geldzirkulation, die zu AM ENDE DES 20. JAHRHUNDERTS
großen Teilen der globalen Schattenwirtschaft
zuzurechnen ist, sind externe Interventionen Mit dem Ende des Kalten Krieges änderten sich
und wohlmeinende Hilfsprogramme während die Rahmenbedingungen für die Parteien in
und nach solchen Konflikten zum Scheitern bewaffneten Konflikten in der Dritten Welt
verurteilt. Denn die Gefahr ist groß, dass die grundlegend. Der hegemonialen Interessen
Hilfe in die bestehende Zirkulation integriert geschuldete Zugang zu Waffen und anderen
wird und die kriegs- und schattenwirtschaftli- Ressourcen fand ein abruptes Ende. An die
chen Machtkonstellationen stabilisiert werden Stelle einer stillschweigenden Duldung syste- zehn Jahren ist die urbane Bevölkerung in der
und damit eine Transformation von Gesell- matischer Misswirtschaft aus strategischen Dritten Welt um 36 Prozent gewachsen. Die
schaft und Wirtschaft unterbleibt. Interessen in vielen Entwicklungsländern trat Internationale Arbeitsorganisation (Interna-
der so genannte „Washingtoner Konsens“, mit tional Labour Organization/ILO) schätzt, dass
dem die wichtigsten Industrienationen eine etwa vier Milliarden Menschen dem informel-
WANDEL VON KRIEGSÖKONOMIEN rigorose Durchsetzung von Strukturanpas- len Sektor zuzurechnen sind. Die Zahl der in
IM 20. JAHRHUNDERT sungsmaßnahmen vereinbarten. Die neolibe- Slums lebenden Menschen hat eine Milliarde
raler Ideologie geschuldete Diagnose lautete, überschritten. Sie wird nach Schätzungen der
Um nun die Frage nach den Ökonomien „neuer ausufernde Staatsapparate sowie große staat- Vereinten Nationen auf zwei Milliarden bis
Kriege“ zu beantworten, bedarf es zunächst lich kontrollierte Wirtschaftssektoren und die 2030 anwachsen.8 Man kann diese Entwick-
einer knappen Skizze der Veränderungen von damit einher gehende Korruption sind für die lung als Urbanisierung der Armut bezeichnen.
Kriegsökonomien im 20. Jahrhundert, um zu wirtschaftliche Misere vor allem in Afrika und In vielen Ländern sichern die Rücküberweisun-
bestimmen, was denn das Neue an den wirt- Lateinamerika verantwortlich. Sie verhindern gen legaler und illegaler Arbeitsmigranten den
schaftlichen Abläufen im Kontext gegenwärti- Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Lebensunterhalt großer Teile der verarmten
ger innergesellschaftlicher Kriege ist. Märkten, die als entscheidender Motor für Bevölkerung. Sie sind dort inzwischen der
Typisch für die meisten Kriegsökonomien des Entwicklung ausgemacht wurde. größte Posten in der Außenwirtschaftsbilanz
20. Jahrhunderts war eine staatlich gelenkte Tatsächlich wurde mit den monetären Dau- und übertreffen das Volumen ausländischer
Mobilisierung der Wirtschaft durch massi- menschrauben des Internationalen Wäh- Investitionen und Entwicklungshilfe deutlich.
ve Forschungsanstrengungen, Intensivierung rungsfonds (IWF) und programmatischen An- Die Strukturanpassungsprogramme haben den
und Expansion der Produktion unter anderem geboten der Weltbank eine breite Tendenz der Migrationsdruck weiter erhöht. Daran wird
vermittels Berufstätigkeit von Frauen bis hin Öffnung von Märkten in Ländern der Dritten sich schon allein aufgrund der Altersstruktur
zu Zwangsarbeit. Die Eroberung und Inwert- Welt eingeleitet. Mit den Erlösen der „erzwun- nichts ändern, denn zumeist ist über die Hälfte
setzung von zusätzlichen Wirtschaftsräumen genen“ Privatisierung von staatlichen Unter- der Bevölkerung unter 25 Jahre alt. Die Mehr-
war integraler Bestandteil kriegsökonomi- nehmen konnte zudem der häufig bevorste- heit dieser Generation wird ohne Chance auf
scher Strategien. Das wichtigste Steuerungs- hende Staatsbankrott abgewendet und wieder einen regulären Arbeitsplatz ihr Leben organi-
mittel war staatliche Nachfragesteigerung, Schuldendienste geleistet werden. Die als kor- sieren müssen. Sie träumen zwangsläufig von
weshalb man auch von „Kriegskeynesianis- rupt diagnostizierten staatlichen Bürokratien Migration in die medial allzeit präsente Welt
mus“ spricht, der freilich durch mehr oder we- wurden finanziell ausgetrocknet und stark re- des Massenkonsums in Industrieländern.
niger massive zentralverwaltungswirtschaftli- duziert. Militär und Polizei waren davon
che Eingriffe ergänzt wurde. Die Außenwirt- ebenso betroffen. International nicht wettbe-
schaft unterlag vollständig staatlichen Kont- werbsfähige Industrien mussten schließen. POLARISIERUNG IN ARM UND REICH
rollen. Subventionen wurden abgebaut, auch und ge-
Für die Jahre des Kalten Krieges galt, dass die rade im Bereich der Grundversorgung der Be- Diese globale Entwicklung schlägt sich in einer
meisten Parteien in bewaffneten Konflikten völkerung, was in vielen Ländern zu massiven beschleunigten Polarisierung der Einkommen
auf häufig massive materielle Unterstützung Protesten und Unruhen führte. zwischen den westlichen Industrienationen
und Waffenlieferungen entweder vom Westen Das als Ergebnis von Strukturanpassungs- und weiten Teilen der Dritten Welt nieder. Die-
oder der Sowjetunion rechnen konnten. Das maßnahmen erwartete hohe Wirtschafts- ser Prozess verdoppelt sich jeweils innergesell-
Kriegsgeschehen war weit gehend von diesen wachstum stellte sich nicht ein. In den meis- schaftlich. Das Ergebnis ist eine sich weltweit
Ressourcenzuflüssen bestimmt und weniger ten Fällen wuchs die Arbeitslosigkeit. Der vertiefende gesellschaftliche Segmentierung in
von der Leistungsfähigkeit der betreffenden langfristige Trend zur Informalisierung der Arm und Reich. Sie führt zu einem tief greifen-
Volkswirtschaften, die häufig im Gefolge des Wirtschaft bei gleichzeitig rasanter Urbanisie- den Wandel sozialer Strukturen, der sich seit
Kriegsgeschehens stark zurückging. Da keine rung beschleunigte sich. Allein in den letzten dem Ende der weltweiten systemischen Kon-

192
Ökonomie der neuen Kriege

KINDER UND JUNGE Konflikten nahezu zwangsläufig auf die glei-


MÄNNER BETRACHTEN DAS chen Methoden zurückgreifen, mit denen sich
ANGEBOT AN AUTOMATI- Warlords typischerweise reproduzieren. Die
SCHEN WAFFEN AUF EINEM Bühne, auf der Parteien bewaffneter Konflikte
MARKT IN MOGADISCHU, um des Überleben willens eine Rolle finden
DEM GRÖSSTEN WAFFEN- müssen, ist die Weltwirtschaft.
MARKT IN AFRIKA. DA DIE
WARLORDS MITTLERWEILE
WAFFEN MIT GROSSER DREI SEKTOREN DER WELTWIRTSCHAFT
REICHWEITE BEVORZUGEN,
IST EINE AK 47 BEREITS Die Lebenssphären der Hälfte der Weltgesell-
FÜR 200 US-DOLLAR ZU schaft sind von Unsicherheit gekennzeichnet.
HABEN. DIE LOGISTIK DER Sie sind weder Teil der regulären Weltwirt-
NEUEN KRIEGE IST AUF schaft noch haben sie angemessenen Zugang
INTERNATIONALE WAREN- zu öffentlichen Gütern. Dieser Zustand reflek-
STRÖME, ZUM BEISPIEL tiert einen tiefgreifenden sozialen Wandel in
MUNITION UND WAFFEN, der Weltgesellschaft. Er wird bei Fortschrei-
ANGEWIESEN. bung der gegenwärtigen Rahmenbedingun-
picture alliance / dpa gen seinen Höhepunkt erst in zwei oder drei
Jahrzehnten erreichen. Diese schattenökono-
misch geprägten Lebensräume liegen weit ge-
hend außerhalb der Reichweite staatlicher
Ordnungsmacht und entwickeln ihre eigenen
Gewaltordnungen. Sie fungieren als dynami-
sche globale Netzwerke und sind damit auch
Teil unserer Lebenswirklichkeit. Das breite, alle
regulären Preise unterbietende Angebot von
informellen Dienstleistungen und illegalen
Transfers ist längst selbstverständlicher Teil
unseres Alltags und erhöht unseren Lebens-
standard. Im Schatten neoliberaler Regulie-
kurrenz zwischen West und Ost beschleunigt Eine Kriegspartei kann nur dann erfolgreich rung der Weltwirtschaft, der Öffnung von
und die Transformationsländer einschließt. sein, wenn ihre militärischen Handlungen mit Märkten und monetärer Deregulierung haben
Die gesellschaftliche Kohäsion, die sich ideal- den wirtschaftlichen Reproduktionserforder- sich viele rasch wachsende, außerordentlich
typisch in einem Sozialkontrakt manifestiert, nissen der Akteure vereinbar sind. flexible ökonomische Sphären entfaltet, die
der sich in der Ausbildung von Staatlichkeit, der Man kann diese Anforderung so formulieren: man aufgrund ihrer Reichweiten als Schatten-
Organisation öffentlicher Güter, darunter ins- Ein General muss ein erfolgreicher Unterneh- globalisierung bezeichnen kann. Sie ist omni-
besondere Sicherheit, niederschlägt, zerfällt in mer sein, um ein erfolgreicher General zu sein. präsent, aber von permanenten Tauschbezie-
diesem Prozess. Ersatzweise gewinnen sehr un- Denn Kriegsökonomien sind komplexe Kon- hungen mit der regulären Ökonomie abhän-
terschiedliche substaatliche Bezugsgruppen an strukte, die den Akteuren abverlangen, sowohl gig. Augenfällig wird dies am Beispiel der
(über-)lebensstrategischer Bedeutung, die in souverän illegale Geschäfte in der Sphäre der Transaktionsketten im Handel mit illegalen
Abgrenzung zu anderen scharfe ideologische Schattenglobalisierung abzuwickeln als auch Drogen. Bei der Herausbildung dieser Struktu-
Profile ihrer Identität entwickeln. auf regulären Märkten zu agieren. Allein die ren spielten zunächst Drogen eine Schritt-
Die weltweiten Waren-, Dienstleistungs- und Logistik militärischer Operationen, auch sol- macherrolle. Inzwischen gibt es kaum mehr
Finanzströme beschleunigen sich und sind chen auf niedrigem Niveau, ist auf internatio- ein volkswirtschaftliches Segment, in das
durch eine Gleichzeitigkeit von Globalisierung nale Warenströme, zum Beispiel Munition, keine schattenökonomischen Waren- und
und Schattenglobalisierung und deren oft angewiesen. Verlässlichkeit und Vertragssi- Dienstleistungsströme reichen.
symbiotische Verknüpfung gekennzeichnet. cherheit sind dabei unerlässlich. Dies erfordert Mit einem vereinfachten heuristischen Modell
Die Öffnung von Märkten bedingt gleichzeitig, zuverlässige soziale Kontrolle aller an der Ge- der Weltwirtschaft lassen sich diese komplexen
dass landwirtschaftliche Produktion immer nerierung von Ressourcen und den Trans- globalen Interaktionen beleuchten, die auch
stärker auf globale Märkte ausgerichtet wird. aktionen Beteiligten. Die Instrumentalisierung Kriegsökonomien mit unseren individuellen Le-
Damit wird sozialer Wandel in ländlichen Räu- von Identitätsideologien, die sich typischer- benssphären verbinden. Dieses Modell geht von
men beschleunigt, kleinbäuerlich diversifi- weise im Verlauf von Konflikten radikalisieren, drei asymmetrisch interagierenden Sphären
zierte Produktionsweisen verschwinden. Die ist ein wirkungsvolles und zugleich wirt- aus, die sich in unterschiedlichen Mengenver-
bislang in wirtschaftlichen Krisen Überleben schaftliches Mittel sozialer Kontrolle. Der „Ge- hältnissen in allen Volkswirtschaften identifi-
sichernde Elastizität kleinbäuerlicher Lebens- neral-Unternehmer“ als Führer einer Konflikt- zieren lassen. Die diffuse Ausbreitung von Ge-
welten geht unwiederbringlich verloren. partei muss sich daher auch als Agitator be- waltstrukturen und das Auftreten von bewaff-
währen, denn soziale Kontrolle allein auf Basis neten Konflikten in der gegenwärtigen Phase
klientelistischer Korruption führt rasch zur Er- der Globalisierung wird so nachvollziehbar. Vor
ÖKONOMISCHE VORAUSSETZUNGEN schöpfung der verfügbaren Ressourcen. allem werden so die Lebenswelten der ausge-
KRIEGERISCHER GEWALT Auch wenn diese typologische Skizze eher schlossenen Hälfte der Weltgesellschaft jenseits
das Profil eines Warlords, eines territorialen von Staatlichkeit und neoliberalen Wachstums-
Kriegsökonomien, d.h. wirtschaftliche Strate- Kriegsherrn, beschreibt, so ist der Handlungs- apologien in die Analyse einbezogen.
gien zur Sicherung der für bewaffnete Kampf- rahmen der wie auch immer verfassten politi-
handlungen notwendigen Ressourcen, müssen schen Führung in geschwächten oder weit ge-
sich in dem hier skizzierten sich dynamisch ver- hend gescheiterten und meist extrem armen DIE REGULÄRE SPHÄRE GLOBALER
ändernden globalen Umfeld als leistungsfähig Staaten sehr ähnlich. Meist sind es solche Län- ÖKONOMIE
erweisen. Das gilt sowohl für die staatliche Seite der, in denen gegenwärtig bewaffnete Kon-
als auch für die nicht-staatliche Seite in Kon- flikte ausgetragen werden. Informalisierung Die reguläre Sphäre der globalen Ökonomie ist
flikten. Kriegerische Gewalt, ganz gleich mit und Kriminalisierung der Wirtschaft haben durch rechtliche Ordnungen gekennzeichnet,
welcher Motivation, kann sich nur dann ent- dort der Staatlichkeit längst die reproduktiven die Transaktionen für alle Marktteilnehmer be-
falten, wenn die Akteure die ökonomischen Grundlagen entzogen. Daher muss die Füh- rechenbar machen. Es besteht ein Sozialkon-
Voraussetzungen verlässlich schaffen können. rung der staatlichen Partei in bewaffneten trakt aufgrund dessen Steuern zur Reproduk-

193
PETER LOCK

tion von Staatlichkeit gezahlt werden. Aller- Milliarden US-Dollar geschätzt, wovon knapp deren Staatsoberhäupter die kriegsökonomi-
dings nimmt die Steuerleistung als Folge welt- die Hälfte auf Drogengeschäfte entfällt. schen Bereicherungschancen wahrnahmen
weiter Standortkonkurrenz teilweise stark ab. Aus der Perspektive nationaler Volkswirtschaf- und als Hehler bei Diamantenverkäufen und
Die Wachstumsraten der regulären Ökono- ten betrachtet, sind diese drei Sphären jeweils Waffenlieferungen fungierten.
mien halten global nicht Schritt mit dem in eigenständige globale Zirkulationsprozesse Die Möglichkeit, einen bewaffneten Konflikt
Wachstum der Weltbevölkerung im erwerbs- integriert. Dabei bilden informelle und krimi- auszutragen, hängt vom Zugang zu marktfähi-
fähigen Alter und der sich daraus ergebenden nelle Ökonomien insofern den logischen Schat- gen Ressourcen und der Möglichkeit der Aneig-
zusätzlichen Nachfrage nach Arbeit. Gleich- ten der gegenwärtig die Globalisierung prägen- nung finanzieller Ressourcen auf legalem Wege
wohl findet mit den Ausgeschlossenen ein den neoliberalen Regulationsdoktrin als sie die oder mit kriminellen Mitteln ab. Dies gilt so-
massiver, jedoch ungleicher Tausch statt, am ausgeschlossene Hälfte der Weltgesellschaft wohl für staatliche als auch für nicht-staatliche
sichtbarsten mit illegalen Dienstleistungen. repräsentieren. Die dynamische Transnationa- Konfliktparteien. In der Literatur zu den Ökono-
Die inzwischen allgemeine Akzeptanz dieser lität informeller und krimineller Netzwerke, al- mien der bewaffneten Konflikte der Gegenwart
Schwarzarbeit, bei der illegale Migrantinnen len voran der Drogenökonomie, entzieht sich richtet sich das Augenmerk vor allem auf die
eine große, stetig wachsende Rolle spielen, notwendig statistischer Erfassung und bleibt nicht-staatliche Seite, die mangels völkerrecht-
hebt den Wohlstand in der regulären Sphäre. deshalb in Analysen der Weltwirtschaft weit licher Anerkennung per definitionem illegal,
Alle regulären Ökonomien sind an ihren Rän- gehend ausgeblendet. Bis zu den Terroran- d.h. schattenökonomisch agieren muss.
dern weit offen für Korruption und profitable, schlägen in den USA hat man über alles hinweg-
aber wirtschaftskriminelle Transaktionen. gesehen, was die scheinbar heile Welt der
vorherrschenden neoliberalen Regulationside- WICHTIGE REPRODUKTIONSQUELLEN
ologie stören könnte. Das hat sich geändert, seit
DIE INFORMELLEN SPHÄREN man erkannt hat, dass die Netzwerke der Schat- Als wichtigste Quellen der Reproduktion wer-
tenglobalisierung zugleich als Operationsraum den die Produktion und Vermarktung von Roh-
In den informellen Sphären der Wirtschaft von Terrorgruppen fungieren. stoffen, wie Diamanten, Coltan, Edelhölzer,
gelten rechtsstaatliche Regeln nur sehr be- Keine Gesellschaft ist von dem Nebeneinander Edelsteine und andere mehr genannt. Gemein-
grenzt; die Versorgung mit öffentlichen Gü- und der gleichzeitigen Verschränkung staat- sames Merkmal dieser Güter ist, dass ihre Pro-
tern, darunter Sicherheit, erfolgt unzurei- lich regulierter, rechtlich geordneter Weltwirt- duktion im Wesentlichen durch wenig qualifi-
chend bis überhaupt nicht. Akteure, die un- schaft und schattenwirtschaftlichen transna- zierte Arbeitskräfte bewerkstelligt und der
kontrolliert Gewalt anwenden und so mit tionalen Lebenswelten ausgenommen. Migra- Export gewährleistet werden kann. Kapitalin-
einiger Glaubwürdigkeit drohen können, kon- tion dient als Hefe dieser Lebenswelten. Legale tensive Produktionsanlagen sind in bewaffne-
kurrieren mit rudimentären Ansätzen kommu- und illegale Migration verdichten und erwei- ten Konflikten schwer zu schützen und würden
nitärer Selbstorganisation, um das lokale bzw. tern die jeweiligen Operationsräume von Netz- bei geringer Luftüberlegenheit bei der ersten
territoriale Gewaltmonopol. Die Bildung und werken. Das Humankapital dieser Netzwerke Gelegenheit zerstört werden. Finanzielle Zu-
Verstärkung von Identitätsgruppen (Klan, Her- ist Vertrauen aufgrund von Gruppenidenti- flüsse unterschiedlicher Art spielen ebenfalls
kunftsort, Religion bzw. Sekten, Ethnie, Ju- täten. Es schafft kostengünstig die operativen eine große Rolle, in erster Linie freiwillige, ge-
gendbanden u.a.m.) als Überlebensressource Voraussetzungen für illegale Transaktionen. legentlich aber auch erzwungene Zahlungen
transformieren die informellen Sphären zu ei- der Diaspora und gelegentlich von Nachbar-
nem Konglomerat von oft hermetisch vonein- staaten, die ein Interesse entweder an Destabi-
ander abgeschotteten sozialen Zellen. Die Be- KRIEGSÖKONOMIEN IN DER lisierung oder aber am Zugriff auf ausbeutbare
teiligung an der Reproduktion von Staatlich- WELTWIRTSCHAFT Ressourcen haben. Gemeinhin unterschätzt
keit durch Zahlung von Steuern ist denkbar wird der Umfang, in dem humanitäre Hilfe in
gering. Entsprechend ist weltweit die Bevölke- In dem beschriebenen weltwirtschaftlichen Konfliktregionen von Kriegsakteuren in Mittel
rungsmehrheit völlig unzureichend mit öf- Umfeld ist es auch für nicht-staatliche Akteure zur Alimentierung des bewaffneten Kampfes
fentlichen Gütern, wie Schulen, Gesundheit in bewaffneten Konflikten als Anbieter von transformiert wird. Schließlich eröffnet die
und Infrastrukturen, versorgt. Denn es gilt, möglicherweise geraubten Waren und Dienst- manchmal auch grenzüberschreitende territo-
ohne Steuern kein Staat und ohne Staat keine leistungen, als Erpresser von illegalen Steuern riale Kontrolle den Kriegsparteien umfängliche
öffentlichen Güter. Außerhalb der Reichweite oder als Anbieter krimineller Dienstleistungen Einkommen durch Schmuggel, Menschenhan-
von Rechtsstaatlichkeit angesiedelt, sind diese möglich, einerseits die notwendigen Devisen zu del, Kontrolle des Drogenhandels und Organi-
Menschen sogar permanent gefährdet, von erwirtschaften, um auf den internationalen sation illegaler Migration. Insgesamt besteht
gewaltkriminellen Akteuren kontrolliert und Schwarzmärkten die Versorgung mit dem be- die wirtschaftliche Zirkulation vorwiegend aus
ausgebeutet zu werden. nötigten Kriegsgerät sicherzustellen und ande- asymmetrischen Tauschbeziehungen, bei de-
rerseits auch eine individuelle Bereicherung der nen nicht der Markt, sondern die nachhaltige
Führungsclique auf Auslandskonten zu ermög- Drohung des „General-Unternehmers“ mit Ge-
KRIMINELLE SPHÄREN ALS lichen. Voraussetzung ist die verlässliche Kon- walt die Wertrelationen determiniert.
PARASITÄRE GEBILDE trolle eines zugänglichen Territoriums. Sieht In der Literatur wird selten darauf verwiesen,
man einmal von der Nachfrage nach Waffen ab, dass die staatliche Seite in den neuen Kriegen
Die Akteure krimineller wirtschaftlicher Betäti- unterscheiden sich Kriegsakteure nicht von an- in der Regel geschwächt ist und im Verlauf des
gung schließlich haben sich im Windschatten deren Teilnehmern an der dynamischen schat- Konfliktes weit gehend ihre je bescheidene
von Marktöffnung und Globalisierung ex- tenökonomischen Waren- und Geldzirkulation, Steuerbasis verliert. Mangels anderer Mög-
pandierende, global vernetzte Zirkulations- die keine territorialen Grenzen kennt. Embargo- lichkeiten muss sie auf die gleichen Verfahren
sphären geschaffen. Anstelle rechtsstaatlicher versuche der Vereinten Nationen oder die Maß- zur Generierung der benötigten Ressourcen
Regelungen bilden latente und manifeste nahmen zur Bekämpfung des Drogenkonsums setzen wie die nicht-staatlichen Akteure. Sie
Gewaltverhältnisse die Geschäftsgrundlage. auf der Angebotsseite können lediglich die Ri- hat wegen ihres völkerrechtlichen Status da-
Steuern zur Reproduktion des Staates werden siken illegaler Ströme und damit aber auch bei in der Regel größere Möglichkeiten. So ha-
nicht gezahlt. Bei der kriminellen Sphäre han- Preise und Gewinnmargen erhöhen. Aber das ben Regierungen in Afrika private Militärun-
delt es sich um ein parasitäres Gebilde, das in- Ziel einer Unterbindung ist angesichts der Dy- ternehmen in ihre Dienste gestellt und als
formelle Lebenswelten ausbeutet und auf namik der Schattenglobalisierung als Ausdruck Zahlung unter anderem Lizenzen zur Ausbeu-
Tausch mit der regulären Ökonomie angewie- geschwächter oder gänzlich fehlender Reich- tung von mineralischen Rohstoffen erteilt.
sen ist. Kriminelle Akteure agieren zugleich in weite staatlicher Ordnungsfunktionen unrea-
den informellen und regulären Sphären der listisch. Die Anstrengungen in den Neunziger-
Weltwirtschaft. Dies macht eine eindeutige de- jahren, die UNITA in Angola wirtschaftlich zu PRIVATISIERUNG VON SICHERHEIT
finitorische Abgrenzung nicht immer leicht. isolieren, hatten zur Folge, dass sich das Netz
Dennoch wird das globale „BKP“ (Bruttokrimi- profitabler illegaler Diamantenvermarktung Eine weiteres Element in der Gleichung bewaff-
nalprodukt) grob auf inzwischen jährlich 1.500 auf zahlreiche afrikanische Staaten ausdehnte, neter Konflikte sind Unternehmen, zumeist

194
Ökonomie der neuen Kriege

IM RÜCKSPIEGEL EINES
FAHRZEUGES WERDEN IN
GUATEMALA STADT EIN
POLIZIST MIT ABSPERRBAND
UND EINE ZUGEDECKTE LEICHE
REFLEKTIERT. NACH ANGABEN
DER POLIZEI OPERIEREN
DERZEIT ETWA 435 GANGS
IN GUATEMALA, DENEN RUND
80.000 JUGENDLICHE ANGE-
HÖREN. DIE GEWALTBEDINGTEN
TODESRATEN SIND MIT DENEN
BEWAFFNETER KONFLIKTE
VERGLEICHBAR UND MITHIN
EIN INDIZ FÜR DIE DIFFUSION
VON GEWALT.
picture alliance / dpa

große internationale Konzerne, die ihre Pro- litisch mit dem Ziel agiert, ihre Märkte auszu- Die weltweite Ausbreitung und das Volumen
duktionsanlagen durch private Militärunter- dehnen, indem sie Kriminalitätsängste schürt. der Schattenglobalisierung leisten es prob-
nehmen schützen lassen oder aber das nicht Aber es gilt dabei zu bedenken, dass die in lemlos, die ökonomischen Bedarfe von Kriegs-
oder schlecht bezahlte Militär zum Schutz ihrer dieser Branche erbrachten wirtschaftlichen akteuren allerorten in die bestehenden welt-
Anlagen informell in Sold nehmen. So entste- Leistungen nicht zur primären Wohlfahrt der weiten illegalen Waren- und Finanzströme zu
hen politisch nicht legitimierte Sicherheitsex- Gesellschaft beitragen. Sie sind ungleich, d.h. assimilieren. Dies gilt auch für die an sich
klaven zum Beispiel auf Ölfeldern, entlang von einkommensabhängig verteilt, und markieren streng überwachte, auf wenige Länder be-
Erdölleitungen oder um Bergbaubetriebe. Es ist die Abwesenheit von gesellschaftlicher Kohä- schränkte Fertigung und den Export von
eine Reaktion auf staatliches Versagen, Sicher- sion. Es handelt sich um hohe wohlfahrtsmin- Kriegswaffen, zumal der Schwarzmarkt auf
heit zu gewährleisten, die ihrerseits die Auflö- dernde gesellschaftliche Transaktionskosten. große überschüssige Altbestände in Ländern
sung von Staatlichkeit befördert, weil sie eine Dies gilt auch für die staatlichen Aufwendun- mit schwachen staatlichen Kontrollen und die
wichtige wirtschaftliche Aktivität faktisch de- gen für Sicherheit, wenn die Leistungen aus- Zusammenarbeit mit korrupten Regierungen
territorialisiert und aus dem nationalen ge- schließlich zugunsten sozialer Eliten erbracht in schwachen Staaten zurückgreifen kann. In
samtwirtschaftlichen Zusammenhang heraus- werden. Dieser Rückzug des Staates schafft der politischen Praxis bedeutet dies, dass die
löst. Dies erschwert die spätere Rekonstruktion Operationsräume für kriminelle territoriale Ge- Hoffnungen nicht sehr realistisch sind, allein
eines leistungsfähigen Staates. waltmonopolisten und befördert so die Schaf- durch Embargomaßnahmen, die in der regulä-
Die Leistungsfähigkeit von Staatlichkeit als fung von Räumen, in denen sich die Schatten- ren Ökonomie verlässlich überwacht werden
notwendiger Rahmen demokratischer Rechts- ökonomie dynamisch entwickeln kann. können, bewaffnete Konflikte austrocknen zu
staatlichkeit wird durch das jeweilige Mi- können.
schungsverhältnis regulärer, informeller und Es drängt sich daher die Frage auf, ob die Dicho-
krimineller Sphären der Ökonomie bestimmt. DIFFUSION BEWAFFNETER KONFLIKTE? tomie Krieg bzw. bewaffneter Konflikt10 versus
Das jeweilige Mischungsverhältnis bestimmt Abwesenheit eines bewaffneten Konfliktes nach
die soziale Topographie und die Organisations- Prüft man nun, ob sich die als typisch kriegs- wie vor eine sinnvolle Unterscheidung ist, wenn
form von individueller und kollektiver Sicherheit ökonomisch diagnostizierten Merkmale auch das erkenntnisleitende Interesse menschliche
der jeweiligen Gesellschaften. Ein niedriger dort beobachten lassen, wo sich nach herr- Sicherheit für alle Menschen ist. Aus Zentrala-
Anteil des Staates am wirtschaftlichen Aufkom- schender Lesart kein bewaffneter Konflikt er- merika wird übereinstimmend berichtet, dass
men und damit schwache Ausprägung staatli- eignet, so finden sich zahlreiche Länder, die die gewaltbedingten Todesraten nach Beendi-
cher Leistungen und gesellschaftliche Polarisie- viele als kriegsökonomisch identifizierte Merk- gung der bewaffneten Konflikte gleich geblie-
rung schlagen sich weltweit in aufwändiger male aufweisen. Dazu zählen so bedeutende ben oder sogar angestiegen sind. Die entspre-
Kommodifizierung von Sicherheit, Substitution Länder wie Nigeria, Pakistan, Indonesien, Kenia chenden Raten in und um Megastädte wie Rio
öffentlicher Sicherheit durch private Dienstleis- und andere mehr. Riesige Schattenökonomie, de Janeiro, Sao Paulo, Mexiko City, Johannes-
tungen und extremer sozialräumlicher gesell- Korruption und illegitime Gewalt als Mittel der burg, Durban, Mumbai und viele andere mehr
schaftlicher Segmentierung nieder. All dies ma- Regulation wirtschaftlicher Abläufe sind dort sind mit bewaffneten Konflikten vergleichbar.
nifestiert sich in der universellen Ausbreitung augenfällig. Die Erhebungen der Weltgesund- Allein aufgrund der Daten der Weltgesundheits-
von „Gated Communities“. Das öffentliche Gut heitsorganisation9 über die Zahlen gewaltbe- behörde zu den gewaltbedingten Todesraten
Sicherheit wird zur Ware bzw. zu privatwirt- dingter Todesfälle verweisen darauf, dass in muss man die Hypothese verwerfen, dass aus-
schaftlicher Dienstleistung, die sich viele nicht diesen und zahlreichen anderen Ländern die schließlich Kriege hohe Raten verursachen.
leisten können. Daher bedeutet Armut immer gewaltbedingten Todesraten ähnlich hoch In ähnliche Richtung zielt auch eine For-
auch verstärkte Unsicherheit. oder sogar höher als in Kriegsregionen sind. schungsnotiz der Weltbank, die lokale Kon-
Kompensatorisch zum weltweiten Imperativ Selbst in Kolumbien ist nur der kleinere Teil ge- flikte in Indonesien zum Gegenstand hat.11 Sie
der Reduktion von Staatstätigkeit als Folge der waltbedingter Todesfälle dem bewaffneten nimmt die über das ganze Land verbreitete
herrschenden Regulationsdoktrin hat sich die Konflikt zwischen Regierung, einschließlich hohe und gewalttätige Konfliktivität zum An-
private Sicherheitsindustrie zu einer boomen- paramilitärischen Formationen und zwei Gue- lass, die Frage zu stellen, ob die Forschungen
den Branche entwickelt, die selbst ständig po- rillagruppen zuzurechnen. unter Leitung von Collier (s.o.) über die „Kon-

195
PETER LOCK

fliktfalle“, deren Ausgangspunkt die dicho- SCHLUSSFOLGERUNGEN zeichnen. Allerdings können auch die Leistun-
tomische Unterscheidung von bewaffnetem gen der humanitären Industrie Kriegführung
Konflikt und „Frieden“ war, nicht dringend er- Die hier angestellten Überlegungen zur Öko- ohne den völligen Exodus der Bevölkerung er-
gänzt werden müssten. Es wird vorgeschlagen, nomie neuer Kriege verweisen auf eine enge möglichen. Im Falle des Krieges im Irak zum
vergleichende Studien über weltweit zu beob- Verschränkung der militärischen Parameter Beispiel hat das Programm „Öl-für-Nahrungs-
achtende niedrigschwellige lokale gewalttäti- bewaffneter Konflikte mit den jeweiligen wirt- mittel“ der Vereinten Nationen durch mehr-
gen Konflikte anzustellen. Denn diese Konflik- schaftlichen Reproduktionsbedingungen, de- wöchige Vorabverteilung der Lebensmittelra-
te werden zunehmend ebenso wie bewaffnete nen die Akteure unterliegen und die die Para- tionen an die Bevölkerung diesen kurzen Krieg
Konflikte als massive Störung des zentralen meter ihrer militärischen Operationen bestim- ohne Exodus der Bevölkerung ermöglicht.12
Geschäftsfeldes der Weltbank, der Entwick- men. Dennoch sind die externen Einflussmög- Dieser Sachverhalt bedeutet jedoch keines-
lungsförderung, wahrgenommen. Menschli- lichkeiten auf bewaffnete Konflikte vermittels wegs, dass Gewalt zur Durchsetzung politi-
che Sicherheit wird möglicherweise durch wirtschaftlicher Sanktionen begrenzt, da die scher und wirtschaftlicher Ziele abnimmt.
diese gewalttätigen Konflikte in weit größe- kriegswirtschaftlichen Ressourcen überwie- Vielmehr nimmt solche Gewalt zunehmend
rem Maße gefährdet, als dies im Rampenlicht gend in schattenwirtschaftlichen Sphären er- diffusere Gestalten an und lässt sich nicht
der internationalen Aufmerksamkeit stehende wirtschaftet werden, die sich ungeachtet be- mehr als Krieg beschreiben. Die Rolle der Ge-
Kriege tun. stehender Grenzen durch hohe Flexibilität und walt bei der Schattenglobalisierung bildet den
logistische Leistungsfähigkeit auszeichnen. einen Pol dieser Diffusion. Der andere wird von
Außerdem gibt es viele Indizien dafür, dass innovativen Doktrinen gebildet, die unter dem
WIE IST DIE DIFFUSION VON GEWALT sich sozialstrukturell bedingt gegenwärtig ein Arbeitstitel „Militärische Operation anders als
ZU ERKLÄREN? tief greifender Formenwandel des Einsatzes Krieg“13 vor allem in den USA entwickelt wer-
von Gewalt zur Durchsetzung politischer und den und sich in der überproportionalen Aus-
Es bieten sich verschiedene Hypothesen zur wirtschaftlicher Ziele vollzieht. Zunächst fällt weitung von besonderen Truppen (Special For-
Erklärung dieser beobachteten breiten Diffu- auf, dass bewaffnete Konflikte, die in der öf- ces) für verdeckte Operationen zur Durchset-
sion von Gewalt an. Einerseits könnte ein Zu- fentlichen Wahrnehmung als Kriege geführt zung von politischen und wirtschaftlichen
sammenhang zwischen der offensichtlichen werden, überwiegend auf wenig entwickelte Zielen unterhalb der Schwelle von Krieg nie-
Diffusion von Gewalt und Regulierungserfor- Länder beschränkt sind. Das könnte damit zu- derschlagen.
dernissen in der Sphäre der Schattenglobali- sammenhängen, dass moderne, hochgradig
sierung bestehen, die implodierte Staatlichkeit arbeitsteilige Lebensformen, die sich in Urba-
und Verlust des staatlichen Monopols legiti- nisierung und Industrialisierung der Landwirt- ANMERKUNGEN
mer Gewalt anzeigt. Andererseits gibt es Un- schaft niederschlagen, gegenüber Störungen 1
Der UN-Bericht zur menschlichen Entwicklung von
tersuchungen zu den Gewaltformen auf loka- der wirtschaftlichen Infrastruktur und damit 1992 (United Nations Development Programm/UNDP:
ler Ebene, die eher soziale Anomie in den Zo- der Sicherung der Basisversorgung extrem an- Human Development Report) schätzte, dass in der letz-
ten Dekade des 20. Jahrhunderts zehn Billionen Dollar
nen weltweiter Armutsapartheid als Ursache fällig geworden sind. Ländliche Räume haben Friedensdividende verfügbar würden.
für die hohe Gewalttätigkeit vermuten. mit der Ausrichtung auf internationale Märkte 2 Diese Wahrnehmung hat freilich die europäischen
Kriege des 20. Jahrhunderts ausgeblendet, die von der
Der „General-Unternehmer“ oder Warlord geht ihre Kapazität als sichere Rückzugsräume, in Gleichzeitigkeit von Modernität und genozidärer Barba-
in der Regel mit der Ressource Gewalt zur Re- denen die Bevölkerung im Krisenfall überleben rei gekennzeichnet waren.
gulierung seiner Kriegsökonomie sparsam um, kann, verloren. In ihren bisherigen Erschei- 3 Eine deutsche Übersetzung der Studie von Francois
Jean und Jean-Christophe Rufin ist 1999 unter dem Ti-
um zu vermeiden, dass die sensiblen Tausch- nungsformen lösen Kriege daher in kürzester tel „Ökonomie der Bürgerkriege“ im Verlag Hamburger
sphären, die ihn mit dem Weltmarkt verbinden, Zeit absolute humanitäre Katastrophen aus, Edition erschienen.
in das Fadenkreuz staatlicher Aufmerksamkeit die nicht mehr beherrschbar sind. Das gilt für 4
Dieser Forschungsschwerpunkt wurde mit einer pro-
grammatischen Studie im vergangenen Jahr abgeschlos-
geraten. Gleiches gilt für die organisierte Kri- moderne Industriestaaten ebenso wie für die sen. Vgl. World Bank: Breaking the Conflict Trap: Civil
minalität allgemein. Allerdings trifft auch zu, meisten Regionen der Dritten Welt, deren Me- War and Development Policy. Washington, D.C. 2003.
5
dass unkontrollierte Eskalation von Gewalt ge- gastädte mit ihren riesigen Armutsgürteln sich Mats Beradl/David M. Malone (eds.): Greed and Grie-
vance Economic Agendas in Civil Wars. Boulder and Lon-
radezu typisch für niedrigschwellige militäri- bei gestörter Warenzirkulation in kurzer Zeit in don 2000.
sche Konfrontationen ist. Das Konfliktgesche- Infernen verwandeln. 6
Mary Kaldor: Alte und neue Kriege. Organisierte Ge-
hen verselbstständigt sich regelmäßig und ist Daraus leitet sich die These ab, dass Kriege nur walt im Zeitalter der Globalisierung. Frankfurt am Main
1999.
dann nicht mehr in politische oder wirtschaft- noch in Regionen führbar sind, in denen die 7
Herfried Münkler: Die neuen Kriege. Reinbek bei Ham-
liche Zielsetzungen der Konfliktakteure einge- Modernisierung noch nicht sehr weit fortge- burg 2002.
bunden. Das ist unter anderem auf die Rah- schritten ist und die Gesellschaften sich noch 8 Zahlen laut: United Nations Human Settlements Pro-
gramme: The Challenge of Slums. Global Report on Hu-
menbedingungen in den meist wirtschaftlich durch eine hohe Überlebenselastizität aus- man Settlements 2003. London 2003.
unterentwickelten Kriegsgebieten zurückzu- 9 World Health Organization: World Report on Violence
führen. Ideologische Radikalisierung und and Health. Geneva 2002.
10
Kindersoldaten kompensieren den Mangel an UNSER AUTOR Üblicherweise definiert als Auseinandersetzung um
Territorium oder Regierungsgewalt zwischen bewaffne-
leistungsfähigen Waffen und ausgebildeten ten Formationen, von denen eine Seite den Staat reprä-
Soldaten. Dr. Peter Lock, Stu- sentiert und bedingt durch Kampfhandlungen 1.000 Per-
sonen in einem Jahr umgekommen sind. Siehe: Stock-
Ebenso sind Gewalthandlungen in den schat- dium der Soziologie holm International Peace Research Institut: SIPRI Year-
tenökonomisch strukturierten Zonen nicht und Volkswirt- book 2004. Oxford University Press 2004, S. 144.
notwendig der Durchsetzung ökonomischer schaft, Auslands- 11
The World Bank: Local Conflict in Indonesia: Incidents
and Patterns. Social Development Notes, No. 19/July
Ziele geschuldet. Angesichts der Perspektivlo- tätigkeit in Latein- 2004.
sigkeit, mit der junge Menschen in weiten Tei- amerika, ab 1972 12
Die internationale humanitäre Industrie hatte freilich
len der Dritten Welt leben müssen, verlieren an der Forschungs- mit einem Exodus der Bevölkerung gerechnet und
Flüchtlingslager in den Nachbarländern errichtet, die un-
soziale Normen und bestehende informelle stelle der Vereini- benutzt blieben.
Autoritäten an verhaltenssteuernder Wirkung. gung Deutscher 13 Military Operations Other Than War (MOOTW).

Nichtige Konflikte eskalieren in Gewalt und Wissenschaftler


münden zum Beispiel in nächtliche Schieße- (VDW), Forschung
reien zwischen jungen Männern typischer- und Lehre an den LITERATUR
weise an Wochenenden, die man in den Ar- Universitäten Hamburg, Berlin und Kassel, Kurtenbach, Sabine/Lock, Peter (Hrsg.): Schattenglobali-
menvierteln brasilianischer Metropolen regis- Beratungstätigkeiten im Rahmen der Verein- sierung, Kriegsökonomien und Inseln der Zivilität. Bonn
2004
triert hat. Es sind Manifestationen situativer ten Nationen; derzeit Koordinator der Euro-
Pugh, Michael/Cooper, Neil: War Economies in a Regio-
Gewalt, die den Verlust sozialer Kontrolle pean Association for Research on Transfor- nal Context. Challenge of Transformation. Boulder, Lon-
durch akzeptierte Normen anzeigen. mation e.V. und freier Sozialwissenschaftler; don 2004 (dort umfassender Nachweis der angelsächsi-
schen Literatur zum Thema.)
Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Mili-
tär und Gesellschaft, Rüstungsökonomie.

196
NEUE KRIEGE ODER SUBSTAATLICHE KRIEGE?

Gewaltakteure und Gewaltmärkte:


Wandel der Kriegsformen?
SVEN CHOJNACKI

Die Frage ist jedoch, ob die Veränderungen auf NICHT-STAATLICHE GEWALTAKTEURE


Der gegenwärtig diskutierte Formen- der Akteursebene und bei den Gewaltmotiven
wandel kriegerischer Gewalt beruht auf bzw. deren Rahmenbedingungen (Kriegsöko- Dass sich das Akteursspektrum in vielen Krie-
zwei wichtigen Annahmen: Die Privati- nomien) die simple Unterscheidung in „alte“ gen der Gegenwart erheblich ausgeweitet
sierung und Entstaatlichung des Krieges und „neue“ Kriege rechtfertigt bzw. inwieweit und ausdifferenziert hat, lässt sich nicht leug-
erklärt sich einerseits durch Veränderun- diese Dimensionen Bestandteile eines über- nen. Rein quantitativ hat sich in Räumen be-
gen auf der Ebene der Gewaltakteure greifenden Wandels der Kriegsformen sind. Um grenzter Staatlichkeit, insbesondere im sub-
und andererseits durch die Ökonomisie- eine Antwort zu finden, wird in einem ersten saharischen Afrika und in Zentralasien, die
rung des Krieges. Der Beitrag von Sven Schritt der Wandel der Gewaltakteure skizziert Anzahl gewaltbereiter Konfliktgruppen erhöht.
Chojnacki geht der Frage nach, ob diese und der Stellenwert nicht-staatlicher Akteure Diese Entwicklung resultiert vor allem aus der
Veränderungen die Unterscheidung in bewertet. Zweitens wird die These der Ökono- mangelhaften Fähigkeit des Staates, Sicher-
„alte“ und „neue“ Kriege rechtfertigt. In misierung des Krieges einer kritischen Prüfung heits- und Schutzbedürfnisse der Gesellschaft
einem ersten Schritt wird daher der unterzogen. Im Mittelpunkt steht das Problem, (Schutz vor internen und externen Gefährdun-
Wandel der Gewaltakteure skizziert und
bewertet. Des Weiteren wird die These
der Ökonomisierung des Krieges einer
kritischen Prüfung unterzogen. Auf der
Folie dieser Erörterung und Bewertung
wird für einen systematischeren Um-
gang mit dem Wandel der Kriegsformen
plädiert. Im Schlussteil wird sodann eine
Kriegstypologie vorgestellt, die am poli-
tischen Status der Konfliktakteure an-
setzt und „klassische“ Kriegsformen um
den Typus des „substaatlichen“ Krieges
erweitert. Red.

ZUR LEHRE VON DEN „NEUEN“ KRIEGEN

Die These vom Wandel der Kriegsformen, ins-


besondere die Lehre von den „neuen Kriegen“,
beruht auf zwei zentralen und miteinander
verknüpften empirischen Behauptungen: Zum
einen werden auf vielen Kriegsschauplätzen AUF VIELEN KRIEGS-
der Gegenwart zunehmend nicht-staatliche, SCHAUPLÄTZEN WERDEN
private Akteure für die Eskalation und Versteti- ZUNEHMEND NICHT-
gung von Gewaltkonflikten verantwortlich ge- STAATLICHE AKTEURE
macht. Vor allem lokale oder regionale Kriegs- FÜR DIE ESKALATION UND
herren (Warlords) und private Militär- bzw. VERSTETIGUNG VON
Sicherheitsagenturen gelten als Protagonisten GEWALTKONFLIKTEN VER-
der Privatisierung und Entstaatlichung des ANTWORTLICH GEMACHT:
Krieges (Kaldor 1999; Münkler 2002). Zum an- KÄMPFER DER AFGHANI-
deren wird dieser Akteurswandel in Bezie- SCHEN NORDALLIANZ,
hung zur Ökonomisierung des Krieges ge- EINE ART POLIZEITRUPPE,
setzt, erkennbar an der Entstehung und Struk- FAHREN AUF EINEM
tur transnationaler Gewaltmärkte und ökono- PICK-UP AM 13.11.2001
mischer Handlungslogiken. Die Herausbildung IN KABUL EIN.
von nicht-staatlichen Gewaltordnungen und picture alliance / dpa
global vernetzten Kriegswirtschaftssystemen
transformiere nicht nur die Gewaltmotive und
Handlungslogiken der Konfliktakteure, sondern
habe auch veränderte Gewaltdynamiken zur ob ökonomische Handlungsrationalitäten und gen, Sicherheit der physischen Existenz) hinrei-
Folge (vgl. u.a. Elwert 1999; Kaldor 1999). In be- ein Wandel von Finanzierungspraktiken quasi chend zu befriedigen. Bei Extremfällen des
wusster Paraphrasierung von Clausewitz sind automatisch zu einem Verlust des Politischen Staatszerfalls oder Staatskollapses verliert der
für den Politökonomen David Keen viele heu- am Kriege führen und Indizien für eine „neue“ Staat teilweise oder völlig die Kontrolle über das
tige Kriege gar die „Fortsetzung der Ökonomie Kriegsform sind. Auf der Folie dieser Debatte Gewaltmonopol und die damit verbundenen
mit anderen Mitteln“ (Keen 1998, 11; vgl. auch wird im Fazit für einen systematischeren Um- physischen Zwangsmittel (Zartman 1995; Hol-
Lock 2001). Auf einen einfachen Nenner ge- gang mit dem Wandel der Kriegsformen plä- sti 1996). In den von fehlender Legitimität, Kor-
bracht, sehen die Vertreter der „neuen Kriege“ diert und eine Kriegstypologie vorgestellt, die ruption und territorialem Zerfall betroffenen
(Kaldor 1999; Münkler 2002) in diesen Trans- am politischen Status der Konfliktakteure an- Räumen beschränkt sich dann das rudimentäre
formationsprozessen die Kernelemente des setzt und „klassische“ Kriegsformen um den Ty- staatliche Gewaltmonopol oftmals nur noch
Übergangs von „alten“ zu „neuen“ Kriegen. pus des „substaatlichen“ Krieges ergänzt. auf die Hauptstadt oder einzelne Provinzen,

197
SVEN CHOJNACKI

während in weiten Teilen des Landes substaat-


liche Akteursgruppen alternative, territorial ab-
gegrenzte Gewaltapparate etablieren und auch
hoheitliche Aufgaben wahrnehmen. Bei zuneh-
mender Fragmentierung politischer Herrschaft
wächst der Einfluss von paramilitärischen
Einheiten (teilweise abtrünnige Einheiten re-
gulärer Truppen) und von lokal oder regional
agierenden Kriegsfürsten, die mit staatlichen
Gewaltakteuren um die strategische Kontrolle
von Territorien, den Zugang zu ökonomischen
Ressourcen und um politischen Einfluss kon-
kurrieren. In vielen Krisenzonen hat zudem die
Akteurskomplexität durch Abspaltungen und
interfraktionelle Kämpfe drastisch zugenom-
men (unter anderem in Myanmar, Somalia und
der Demokratische Republik Kongo). Das Auf-
treten nicht-staatlicher Gewaltakteure und die
damit verbundene fehlende Gewährleistung
interner Sicherheitsfunktionen haben außer-
dem dazu geführt, dass vermehrt private Mi-
litär- und Sicherheitsfirmen von außen in das
Konfliktgeschehen eingreifen. Kommerzielle
Unternehmen im internationalen Umfeld bie-
ten Sicherheit und militärische Dienstleistun-
gen als Ware an (vgl. Leander 2002; Musah/
Fayemi 2000; Singer 2003).
Für den Trend der Privatisierung von Sicherheit
gibt es neben der Unfähigkeit zahlreicher Herr-
schaftssysteme, Sicherheitsfunktionen befrie-
digend wahrzunehmen, zwei weitere Gründe:
Erstens spielt hier der technologische Wandel
der Kriegführung hinein (gesteigerter Bedarf an zen zum Einsatz kamen (Coalition to Stop the und Sezessionsbewegungen auch darin, dass
hochqualifizierter Expertise in beratender, aus- Use of Child Soldiers 2004). Kinder werden sie ihre Ziele nicht mehr ausdrücklich an der
führender und logistischer Tätigkeit). Zweitens meist zwangsrekrutiert, in Flüchtlingslagern Eroberung des staatlichen Herrschaftsappara-
hat sich mit dem Ende des Ost-West-Konflikts angeworben oder durch ökonomische Margi- tes – und damit des Gewaltmonopols – bzw.
der Markt für qualifizierte Militärs und verfüg- nalisierung ihres sozialen Umfelds zum Ein- an der Loslösung von bestehenden staatlichen
bare Waffensysteme auf dem privaten Sektor satz gezwungen (Hofmann 2004). Dies folgt Strukturen ausrichten. Für viele private Ge-
geöffnet. Das Anwachsen des globalen Marktes der Logik privater Gewaltakteure, für die Kin- waltunternehmer ist staatliche Souveränität
für Sicherheits- und Militärfirmen wird wiede- der eine kostengünstige Ressource darstellen. vielmehr eine strategische Ressource neben
rum beeinflusst durch das Verhalten westlicher Sie sind nicht nur leicht „rekrutierbar“, son- anderen. Exemplarisch ist hierfür die Figur des
Staaten und internationaler Organisationen dern Dank der großen Verfügbarkeit leichter Warlords, der politische, ökonomische und mi-
(strategische Interessen, Aufrechterhaltung re- Handfeuerwaffen auch „effizient“ einsetzbar litärische Logiken vereint (Münkler 2002, 161)
lativer Stabilität in Konfliktregionen), die Be- und mit Hilfe von Drogen leicht kontrollierbar. und Gewalt in gewinnbringend organisierter
dürfnisse humanitärer Organisationen (Sicher- Tatsächlich „neu“ ist in diesem Zusammen- Form für die Kontrolle von Märkten und sozi-
heit im humanitären Raum) sowie durch die hang, dass Mädchen zunehmend aktiv in alen Beziehungen einsetzt (Riekenberg 1999,
Kalküle multinationaler Konzerne (Sicherheit Kampfhandlungen eingesetzt werden (Hof- 188ff).1 Viele Gruppen bekämpfen sich gegen-
beim Ressourcenabbau). Während letztere teil- mann 2004). seitig, um ihr Überleben als Organisation und
weise strategische Allianzen mit Gewaltunter- den Zugang zu Ressourcenvorkommen, der
nehmern eingehen und über komplexe Netz- eine kontinuierliche Gewaltanwendung erst
werke mit Sicherheitsfirmen verbunden sind, QUALITATIVER WANDEL DER AKTEURE ermöglicht, zu sichern. Diese Koexistenz diver-
stellen sich für die Staaten die Fragen, inwie- ser Gewaltakteure resultiert letztlich aus den
weit sie selbst durch das Outsourcing von Si- Neben den quantitativen Veränderungen ist ökonomischen Anreizstrukturen, die gewalt-
cherheitsfunktionen den Trend der Privatisie- auch ein qualitativer Wandel der Akteure zu offene Räume bieten. Je schwächer dabei die
rung verstärken (etwa im Irak) und welches beobachten. Dieser betrifft die Vergesellschaf- Staatsgewalt ist, desto geringer werden auch
Interesse sie überhaupt an der Regulierung des tungsform der Gewaltakteure, ihre Ziele und die Kosten für die Aufrechterhaltung einer
privaten Sicherheitssektors haben. ihr Konfliktverhalten. Zum einen haben in wirksamen Rebellion. So können militärisch
Räumen begrenzter Staatlichkeit der Staat auf und politisch eher schwache Konfliktparteien
der einen Seite und hierarchisch organisierte überleben. Gleichzeitig zeigt sich, dass auch
KINDERSOLDATEN Rebellenorganisationen auf der anderen Seite andere Gruppen wie lokale/ethnische Milizen,
ihr „Duopol“ auf die Kriegführung – im Sinne Selbstverteidigungsgruppen oder Paramilitärs,
Eine weitere Akteursgruppe, die als ein Indiz abgrenzbarer, konkurrierender Gewaltappa- die im „klassischen“ Krieg eher Instrumente
für den Wandel der Kriegsformen herangezo- rate –verloren. Zum anderen treten Akteure größerer staatlicher oder nicht-staatlicher
gen wird (u.a. Münkler 2002), ist die der Kin- auf, deren Organisations- und Professionali- Gewaltorganisationen waren, in Räumen be-
dersoldaten. Allerdings handelt es sich bei die- sierungsgrad ebenso gering ist wie ihre politi- grenzter Staatlichkeit weitgehend autonom
ser Akteursgruppe nicht um unabhängige sche Legitimation. Man könnte hier auch von agieren können. Derart fragmentierte, konkur-
Kriegsakteure im engeren Sinne, sondern eher einer Kommunalisierung des Krieges sprechen. rierende und sich überlappende Herrschafts-
um eine Form der Instrumentalisierung durch Für die nicht-staatlichen Konfliktparteien ver- ansprüche durch staatliche und substaatliche
bestehende Kriegsparteien. Empirisch ist der liert nicht nur die strategische Orientierung Akteure sind dann in hohem Maße instabil und
Trend, Kinder im Krieg einzusetzen, ungebro- am „regulären“ Krieg an Bedeutung, die noch störungsanfällig gegenüber äußeren Einflüs-
chen. Es wird geschätzt, dass 2001 weltweit die politische und militärische Praxis der „klas- sen. Die Akteursformationen sind jedoch kei-
mehr als 300.000 Kinder und Jugendliche un- sischen“ Guerillagruppen prägte. Sie unter- neswegs per se asymmetrisch, wie Münkler
ter 18 Jahren in mehr als 30 Kriegsschauplät- scheiden sich von den „klassischen“ Rebellen- nahe legt (2002). Gerade in Konflikträumen, in

198
Gewaltakteure und Gewaltmärkte: Wandel der Kriegsformen?

EMPIRISCH IST DER TREND, KINDER IN KRIEGEN manitärer Hilfsleistungen alles andere als un-
EINZUSETZEN, UNGEBROCHEN. ES WIRD GESCHÄTZT, problematisch. Der Privatisierung der Kriegs-
DASS 2004 WELTWEIT MEHR ALS 300.000 KINDER UND führung steht hier nämlich – zumindest an-
JUGENDLICHE IN MEHR ALS 30 KRIEGSSCHAUPLÄTZEN satzweise – eine Teilprivatisierung der Frie-
ZUM EINSATZ KAMEN. DIE BEIDEN EHEMALIGEN densschaffung bzw. der Friedenssicherung ge-
KINDERSOLDATEN ALEX JOHNSON UND RON TSCHANN genüber. Besonders sichtbar wurde diese
ZEIGEN IHRE KALASCHNIKOW, AUFGENOMMEN AM Entwicklung im letzten Irakkrieg (2003), in
19.11.2003 IN MONROVIA. picture alliance / dpa dem sich das Verhältnis von eigenen Soldaten
und angeworbenen Spezialkräften auf Seiten
der US-amerikanischen Interventionsstreit-
macht drastisch zugunsten privater Militär-
organisierten Kriminellen, die teilweise eine Li- und Sicherheitsanbieter verändert hat.
aison eingehen, brüchig. So waren in der west- Eine weitere Dimension des qualitativen Wan-
afrikanischen Krisenregion um Liberia und dels von Gewaltakteuren und Gewaltstrate-
Sierra Leone in den 1990er-Jahren die Gren- gien liegt dort vor, wo Interventionsstaaten
zen zwischen staatlich besoldeten Soldaten zur Einhegung inner- und substaatlicher Krie-
und kriminellen Gruppen fließend. Letztlich ist ge auf „lokale Bodentruppen“ zurückgreifen.
dies Ausdruck der Auflösung der zivil-militäri- So haben sich etwa die USA multinationaler
schen Beziehungen, deren Regelung im Sinne Koalitionen im Kosovokrieg und bei der Be-
der Eindämmung interner Gewalt und legalen kämpfung der Taliban in Afghanistan mit der
Ausübung polizeilicher und militärischer Ge- UCK (Kosovo) und der Nordallianz (Afghanis-
walt als ein „Kernstück des modernen Staates“ tan) örtlicher Streitkräfte bedient und diese
angesehen werden kann (Daase 1999, 53). logistisch unterstützt. So werden die morali-
schen und politischen Kosten des Einsatzes
von eigenen Bodentruppen, die gerade in De-
KOMMERZIALISIERUNG VON GEWALT mokratien die Debatten über die Entscheidung
UND SICHERHEIT zum Kriegs- oder Interventionseinsatz mit-
bestimmen, reduziert und die militärischen Ri-
Neben der Kommunalisierung des Krieges lässt siken auf nicht-staatliche Gewaltakteure ab-
sich auch eine Kommerzialisierung von Gewalt gewälzt. Doch indem einzelne Staaten aus
und Sicherheit beobachten. Beeinflusst wird strategischen Erwägungen heraus auf lokale
dieser Prozess ganz wesentlich von modernen Kriegsunternehmer oder verstärkt auf private
denen staatliche Akteure sukzessive von priva- Sicherheitsagenturen, den „Corporate War- Sicherheitsagenturen setzen, reagieren sie auf
ten Gruppen verdrängt werden wie in Soma- riors“ (Singer 2003), die hochgradig professio- die Herausforderungen der Privatisierung des
lia, Liberia, Afghanistan oder der Demokrati- nalisiert, organisiert und legal registriert sind. Krieges ihrerseits mit einer Strategie der Priva-
schen Republik Kongo, gleicht sich der Status Dies unterscheidet sie nicht nur von anderen tisierung von Sicherheit.
der Akteure ebenso an, wie sie über annähernd privaten Gewaltunternehmern wie den War-
gleiche Machtressourcen verfügen und For- lords, sondern auch von klassischen Söld-
men von Reziprozität entwickeln (Reno 1998), nern.2 Operativ bewegen sich Sicherheits- PRIVATISIERUNG UND ENTSTAATLICHUNG
so dass wir es hier eher mit Symmetrisierungs- agenturen entlang einem Spektrum, das von SIND NICHT NEU
prozessen zu tun haben. legalen Aktivitäten, die kompatibel mit dem
internationalen Völkerrecht sind (Unterstüt- Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Di-
zung von Friedensmissionen, Sicherungsauf- mensionen des Wandels gibt es keinen Grund,
AUCH REGULÄRE TRUPPEN VERLIEREN gaben bei humanitären Notsituationen), über die offensichtlichen Veränderungen in der
IHREN CHARAKTER eine nichtregulierte oder nur schwer erfass- Quantität und Qualität nicht-staatlicher Ge-
bare Grauzone (militärische Ausbildung, Ent- waltakteure zu vernachlässigen. Konflikttheo-
Mit den Prozessen der Kommunalisierung und sendung von „Experten“), bis hin zu eindeutig retisch und friedenspolitisch von Bedeutung
Autonomisierung der Gewalt in Räumen be- illegalen Aktivitäten reicht (Beteiligung an be- sind vor allem die Prozesse der Kommunalisie-
grenzter Staatlichkeit verlieren auch die regu- waffneten Konflikten auf Seiten der Kriegs- rung, Autonomisierung und Kommerzialisie-
lären Truppen in vielen Gewaltkonflikten ihren parteien oder zur Sicherung der Interessen rung nicht-staatlicher Gewalt, die sich dann
Charakter als legitime Kriegsakteure und kön- externer Staaten und multinationaler Unter- auch nicht mehr ausschließlich als gegen-
nen häufig kaum noch von paramilitärischen nehmen; Waffenverkäufe an Rebellengrup- staatliche Gewalt interpretieren lässt. Ein wei-
oder privaten Kampfeinheiten unterschieden pen oder lokale Kriegsherren). Entlohnt wer- terer Unterschied zum meist recht überschau-
werden. Dies trifft in einigen Fällen auch für den Sicherheitsagenturen von den beteiligten baren Akteursspektrum „klassischer“ Anti-Re-
staatliche Interventionsstreitkräfte zu. So wa- Kriegspartien häufig mit Förderlizenzen zum gimekriege besteht in den komplexen Interak-
ren Truppenteile der ECOWAS-Friedensmis- Abbau von wertvollen Ressourcen. So werden tionsmustern zwischen den staatlichen und
sion in Liberia zu Beginn der 1990er-Jahre sie zugleich Akteure der Kriegsökonomien nicht-staatlichen sowie zwischen lokalen, re-
selbst an Gräueltaten gegen die Zivilbevöl- (siehe unten) – und profitieren von der Ge- gionalen, transnationalen und internationalen
kerung und an Plünderungen beteiligt. Als waltstruktur ebenso wie sie zu ihrer Verste- Akteuren. Vor allem in Räumen begrenzter
Konsequenz dieser Entwicklungen verlieren tigung beitragen. Dass dann der Einsatz von Staatlichkeit steigt die Dichte und der Grad
die Zivilisierung und Professionalisierung des Militärspezialisten und modernsten Waffen- der Informalität transnationaler Beziehungen
kämpfenden Soldaten sowie die Institutionali- systemen strategische Bedeutung für militäri- bzw. die Bedeutung von „Transboundary for-
sierung des Militärs, die charakteristisch für sche und politische Kräfteverhältnisse hat, ist mations“, d.h. Kriegsparteien in gewaltoffenen
die Verstaatlichung des Krieges waren (Münk- mehr als eine plausible Annahme (vgl. Shearer Räumen begrenzter Staatlichkeit werden zu-
ler 2002), in vielen substaatlichen Kriegen ih- 1998). Darüber hinaus gibt es einen engen Zu- nehmend in transnationale Gewaltnetzwerke
ren Charakter. Die Fragmentierung von Kon- sammenhang zwischen privaten Militärfirmen integriert. Die Transnationalisierung und Frag-
fliktparteien wiederum erschwert die Diffe- und der Proliferation von Kleinwaffen in Kon- mentierung vieler Konfliktparteien ist letztlich
renzierung einzelner Gruppen, was vor allem fliktregionen, was wiederum Einfluss auf den sowohl ein Resultat als auch ein Verstärker für
zur schwierigen, mitunter unmöglichen Un- Charakter der Kriegführung hat. Und schließ- Motiv- und Interessenverlagerungen.
terscheidung zwischen Zivilisten und Kombat- lich ist auch der Einsatz von Militärfirmen Auf der anderen Seite ist aber vor voreiligen
tanten führt. Gleichzeitig wird in vielen ge- bzw. Sicherheitsagenturen im Rahmen mi- Schlüssen zu warnen. Erstens ist der Staat in
genwärtigen Kriegen die Grenzziehung zwi- litärischer Interventionen, multilateraler Frie- den meisten Kriegen der Gegenwart immer
schen Soldaten/Polizisten und Banditen bzw. densmissionen oder bei der Absicherung hu- noch ein zentraler und aktiver Akteur (vgl.

199
SVEN CHOJNACKI

Schreiber 2003; Chojnacki 2004). Im heutigen dient. Andererseits wird ein Wandel der Finan- samkeit erhöht, sondern auch das Interesse
innerstaatlichen Krieg (Anti-Regimekrieg, Se- zierungspraktiken, ein Bedeutungszuwachs der Friedens- und Konfliktforschung ge-
zessionskrieg), der nach wie vor der dominante ökonomisch motivierter Interessengruppen schärft. Die verschiedenen Formen der Kriegs-
Kriegstyp ist, stehen sich immer ungleich ver- (z.B. multinationale Unternehmen, private Mi- finanzierung werden in Abbildung 1 zusam-
gesellschaftete Akteure gegenüber: ein staatli- litär- und Sicherheitsfirmen) und damit ein mengefasst.
cher und mindestens eine nicht-staatliche Form- und Bedeutungswandel von „Kriegs-
Konfliktpartei. Anders formuliert: die Teil-Pri- wirtschaften“ postuliert: von zentralisierten,
vatisierung und tendenzielle Entstaatlichung territorial begrenzten Gewaltökonomien hin RESSOURCEN UND KRIEGSRISIKO
vieler Kriege ist alles andere als neu (Gantzel zu offenen, transnational vernetzten Kriegs-
2002; Matthies 2003). Zweitens unterscheiden wirtschaftssystemen (Jean/Rufin 1999; Kaldor Das Kriegsrisiko dürfte dann dort besonders
sich private Gewaltakteure auch untereinander 1999; Keen 2000). Im Gegensatz zu den ge- hoch sein, wo Bodenschätze oder andere Gü-
(Interessen, Strategien) und in ihrem Verhältnis schlossenen und lokal begrenzten Kriegsöko- ter (wie etwa Tropenholz) besondere Einkom-
zu staatlichen Akteuren. Drittens wissen wir, nomien „klassischer“ Guerilla- oder Wider- menschancen versprechen und wo unter-
dass die meisten Gewaltakteure, die als Pro- standsgruppen, die nur über örtlich begrenzte schiedliche Konfliktgruppen um die Ausbeu-
tagonisten und Motoren des Wandels der Ressourcen verfügten und im Wesentlichen auf tung wertvoller Ressourcen konkurrieren. Die-
Kriegsformen gelten (Warlords, Söldner, lokale einer agrarische Subsistenzwirtschaft aufbau- ser These ist empirisch-systematisch vor allem
Milizen, Selbstverteidigungsgruppen, Kinder- ten (Rufin 1999, 16f.; Münkler 2002, 165f.), die Weltbankgruppe nachgegangen (Collier
soldaten), historisch gesehen keine völlig bietet der Übergang zu offenen, entgrenzten 2000). Sie unterstellen dabei, dass ökonomi-
neuen Erscheinungen sind. Während Warlords Kriegsökonomien nicht nur einen größeren sche Motive der „Gier“ (Greed) sowohl den
schon im chinesischen Bürgerkrieg in der ersten militärischen Aktionsradius, sondern schafft Ausbruch als auch die Dauer innerstaatlicher
Hälfte des 20. Jahrhunderts das Bild des Krie- alternative ökonomische Abschöpfungsquel- Kriege besser erklären als politische Unzufrie-
ges prägten, ist das Söldnertum so alt wie der len über die Unterstützung finanzstarker denheit (Grievance). In einer empirisch-quan-
Krieg selbst und spielte in der Phase der Ent- Diasporagruppen und den Verkauf von natür- titativen Analyse kommen Collier und Hoeffler
kolonialisierung eine nicht unerhebliche Rolle. lichen Ressourcen und legalen wie illegalen (2001, 16f.) zum Ergebnis, dass Indikatoren,
Darüber hinaus sind nicht-staatliche Ge- Gütern an transnationale Netzwerke (Rufin die mit günstigen Finanzierungsmöglichkeiten
waltakteure, wie Volker Böge (2003) plausibel 1999, 19ff). (Rohstoffexport, Diaspora, preiswerte Kämp-
argumentiert, nicht allein „neue“ private Ge- Zu den besonders attraktiven Ressourcen zäh- fer, Verfügbarkeit von Waffen) und/oder güns-
waltakteure, sondern auf traditionalen Struk- len neben Gold, Diamanten und Kupfer oder tigen Gefechtsbedingungen (Gebirge, dispa-
turen aufbauende kommunitäre Akteure. Und tropischen Edelhölzern auch strategische rate Bevölkerungsdichte) in Zusammenhang
schließlich erhöht die Erosion herrschaftlicher Rohstoffe wie Uran oder Kobalt sowie beson- stehen, einen deutlich höheren Erklärungs-
Kontrolle zumindest temporär immer das Risiko dere Mineralien (etwa Tantalit, das in der Welt- wert aufweisen als Indikatoren, die klassi-
des Krieges und das Auftauchen privater Ge- raumtechnologie eingesetzt wird). Ressourcen scherweise für die Erklärung des Ausbruchs
waltunternehmer, die dann auch ökonomische wie Diamanten sind nicht nur eine Tausch- von Bürgerkriegen herangezogen werden (un-
Interessen haben. quelle zwischen Kriegsakteuren und privaten ter anderem ungleiche Reichtums- oder Land-
Militärfirmen, sie leiten auch die ökonomi- verteilung, fehlende Partizipation, gesell-
schen Interessen der Sicherheitsfirmen selbst schaftliche Polarisierung). Insbesondere einem
DIE POLITISCHE ÖKONOMIE DER GEWALT an, die hier einen ertragreichen Markt sehen.3 hohen Primärgutanteil an den Gesamtexpor-
Sowohl für Warlords, Paramilitärs als auch für ten eines Landes wird eine hohe Erklärungs-
Die Entstehung und Verstetigung von Kriegs- herrschende Eliten bietet Ressourcenverfüg- kraft zugesprochen (Collier/Hoeffler, 2001;
ökonomien wird als ein weiterer wesentlicher barkeit einen Ausgleich für das Wegbrechen Collier, 2000). Staaten, die wirtschaftlich von
Beleg für den Wandel der Kriegsformen und für von Einkünften aus legalen Erwerbsmöglich- natürlichen Ressourcen abhängig sind, wären
die relative Schwäche von alten Erklärungskon- keiten einerseits, den Wegfall internationaler demzufolge einem erhöhten Kriegs- bzw. Re-
zepten herangezogen (Berdal/Malone 2000, 2). Militärhilfen der bipolaren Systemkonfronta- bellionsrisiko ausgesetzt. In einem weiteren
Dahinter stehen im Wesentlichen zwei Argu- tion und ihrer abgeleiteten Stellvertreterkriege Vergleich der Argumente „Opportunity“ vs.
mentationslinien. Einerseits wird generell eine der Supermächte andererseits (Rufin 1999). „Grievance“ kommt die Weltbankgruppe zum
wirksame Verschiebung im Verhältnis von Po- Eine internationale Dimension hat die Unter- Ergebnis, dass vor allem Ressourcenverfüg-
litik und Ökonomie unterstellt (Kaldor 1999; stützung durch Diasporagemeinschaften, die barkeit sowie die Kosten der Rebellion und die
Lock 2001; Münkler 2002). „Ökonomisierung“ finanzielle Abschöpfung von humanitären militärischen Vorteile eine hohe Erklärungs-
verweist dabei auf einen Transformationsvor- Hilfsmitteln sowie der Ressourcenzufluss und kraft für das Eintrittsrisiko von Bürgerkriegen
gang, bei dem die Anwendung und Aufrechter- Warenaustausch legaler und illegaler Güter. beanspruchen können: „We find that a model
haltung von kriegerischer Gewalt zunehmend Berichte über den illegalen Abbau und Trans- that focuses on the opportunities for rebellion
dem Erwerb, der Sicherung, Produktion, Mobi- port wertvoller Rohstoffe (Diamanten-, Dro- performs well, whereas objective indicators
lisierung und Verteilung von ökonomischen genhandel), den Missbrauch humanitärer Hilfe of grievance add little explanatory power“
und politischen Ressourcen und damit den par- und „Finanzhilfen“ von Diasporagemeinschaf- (Collier/Hoeffler 2001, 16). Die Erklärungskraft
tikularen Interessen der Kriegsunternehmer ten haben nicht nur die öffentliche Aufmerk- ökonomischer Variablen unterlegt Collier mit
dem rationalistischen Argument, dass sich
Rebellion – als Sezessionen oder gewaltsamer
ABBILDUNG 1: FORMEN DER KRIEGSFINANZIERUNG Regimewechsel – dann lohnt, wenn der er-
wartbare Nutzen hoch genug ist, und ergänzt
Form der Kriegsfinanzierung Ressourcen dies um das Argument, dass greed-motivierte
Abschöpfung von Humankapital Menschenhandel, Sklavenarbeit, Prostitution, Entführungen, Rebellionen auch nicht von Collective-action-
Erpressungen Problemen wie dem Trittbrettfahrer- und Ko-
ordinationsproblem betroffen sind (Collier
Abschöpfung von Werten Kriegssteuern, Schutzgelder, Plünderung, Raub, Kontrolle von
2000, 100).
Märkten
Jenseits einzelner empirischer Plausibilität ist
Bodenschätze Gold, Diamanten, Kupfer, Tantalit, Erdöl sowie die Vergabe von der Weltbankansatz jedoch methodisch und
Schürfrechten bzw. Ölexplorationsrechten theoretisch problematisch, weil er die Entste-
Legale und illegale Agrargüter Drogen, Kaffee, Tropenholz etc. hung und Dauer von Kriegen auf die Verfüg-
Humanitäre Hilfe internationale humanitäre Hilfe und Entwicklungshilfe barkeit materieller Ressourcen reduziert und
(Nahrungsmittelhilfe) sich eindimensional am Motiv der „Gier“
orientiert (siehe zur Kritik Cramer 2002; Ehrke
Finanzhilfen ausländische Regierungen, Diaspora (die zugleich auch als 2002; Herbst 2000). Die krude Trennung von
Mobilisierungs- und Rekrutierungsbasis dient) Greed und Grievance beim Weltbankansatz

200
Gewaltakteure und Gewaltmärkte

ökonomische Motiv des materiellen Profits


dominiert“ (Elwert 1997, 87f.). Mit diesem
breiter angelegten Konzept erfasst Elwert ge-
nerell gewaltgestützte Ordnungssysteme, die
in vielen deformierten Staaten anzutreffen
sind und die auch nicht zwingend zum Krieg
eskalieren müssen. Voraussetzung ist der De-
fekt eines staatlichen Gewaltmonopols und
die Entstehung „gewaltoffener“ Räume, in de-
nen die Ausübung von Gewalt weder durch
traditionelle Kontexte noch sonstige Einhe-
gungs-, Ordnungs- oder Routinemechanis-
men reguliert wird. Das Eigentum an Gütern
oder Dienstleistungen wird nicht freiwillig ge-
tauscht, sondern durch Gewalt angeeignet.
Ihr Entstehen ist dort besonders wahrschein-
lich, wo „gewaltoffene Räume“ auf marktwirt-
schaftliche Strukturen treffen. Gehandelt wer-
den nicht nur Waren bzw. Güter, sondern auch
Ideologien, die dann besonders lukrativ sind,
wenn sie zur Gewinnung ausländischer Un-
terstützung eingesetzt werden (vgl. dazu auch
Kaldor 1999).
Ähnlich wie auch Keen (1998, 2000) hebt sich
Elwert (1997, 1999) von der irreführenden an-
thropologischen Sichtweise ab, die viele Kriege
der Gegenwart mit Irrationalität gleichsetzt,
und geht in seinem Konzept des Gewaltmark-
tes von der Zweckrationalität der Gewaltan-
wendung aus. Soziologische, ökonomische wie
politikwissenschaftliche Studien belegen im-
mer wieder, dass Gewalt gegen die Zivilbevöl-
kerung durchaus rationalen Handlungskalkü-
len folgt und den individuellen oder kollektiven
Interessen der Ressourcen- und Machtakku-
mulation dient (Elwert 1997; Keen 1998; von
Trotha 1999). Theoretisch postuliert Elwert,
dass es weniger die ökonomischen Motive per
se sind, die das „Neue“ in der Erklärung von Ge-
waltkonflikten aufweisen. Vielmehr biete diese
Perspektive die systematisch-fundierte Durch-
dringung von sich selbst perpetuierenden
DIE GEWALTSAME ANEIGNUNG VON GÜTERN IST BESONDERS DORT WAHRSCHEINLICH, WO „GEWALTOFFENE RÄUME“ Kriegswirtschaftssystemen jenseits scheinbar
AUF MARKTWIRTSCHAFTLICHE STRUKTUREN TREFFEN. EIN IRAKISCHER PLÜNDERER, DER EINEN KÜHLSCHRANK TRÄGT, GEHT chaotischer Bürgerkriegssituationen – zumal
IN DEM ARMENVIERTEL SADDAM-CITY IM NORDOSTEN BAGDADS AN EINEM MANN VORBEI, DER AUF EIN ZERRISSENES auch nur so das Phänomen der extremen Dauer
BILD DES IRAKISCHEN PRÄSIDENTEN EINSCHLÄGT. AUGENZEUGEN BERICHTETEN, DASS ES ZUM ZEITPUNKT DER AUFNAHME dieser Gewaltkonflikte erklärt werden könne
(9.4.2003) KEINE ZEICHEN EINER PRÄSENZ VON POLIZEI ODER UNIFORMIERTEN MEHR AUF DEN STRAßEN GAB. (Elwert 1999, 88). Im Unterschied zur Welt-
picture alliance / dpa bankgruppe werden ökonomische Elemente
dann auch nicht als potenziell erklärungskräf-
tigste ursächliche Faktoren konzeptualisiert.
übersieht, wie diese Elemente miteinander in- also der Wandel der internen und externen Vielmehr argumentiert Elwert, dass mit der zu-
teragieren, insbesondere wie soziale Miss- strukturellen Rahmenbedingungen heutiger nehmenden Dauer von Gewaltkonflikten eine
stände durch Gier manipuliert werden (Cramer Gewaltkonflikte, die Kosten-Nutzen-Kalküle Situation entsteht, die die Akteure zu einer Öko-
2002, 1853; Keen 2000). Das Verhältnis von der Gewaltunternehmer beeinflussen, wird nomisierung ihrer Handlungslogik verleitet
Greed und Grievance wie auch die Motivatio- nur bedingt oder gar nicht reflektiert. bzw. zwingt (Elwert 1999, 85ff.). Nicht-ökono-
nen der Gewaltanwendung können dann wie- mische Konfliktfaktoren wie ethnische Identi-
derum ohne einen Bezug auf den Mangel bzw. täten werden über den Ansatz der „sekundären
die Verknappung an physischer und ökonomi- GEWALTMÄRKTE FOLGEN Motivation“ integriert. Dahinter steht die Idee,
scher Sicherheit in zerfallen(d)en Staaten RATIONALEN KALKÜLEN politische oder kulturelle Identitäten zu mobi-
nicht verstanden werden (vgl. Herbst 2000, lisieren und zu verstetigen, um so den unge-
275; Keen 2000, 35). Verwirft man den Welt- Einen eher strukturellen Ansatz, der ähnlich schützten zyklischen Schwankungen, denen
bankansatz dann wiederum nicht völlig, so wie die Weltbankgruppe aus einer ökonomi- gewaltoffene Räume ausgesetzt sind, zu um-
kommt man ironischerweise zu dem Schluss, schen Perspektive heraus argumentiert und gehen. Dieser Ansatz ist jedoch nicht unprob-
dass ökonomische Motive nicht allein ein Phä- von Zweck-Mittel-Rationalitäten ausgeht, prä- lematisch, reduziert er doch Identitäten auf
nomen „neuer“ Kriege sind, sondern auch in sentiert Elwert (1997, 1999) mit seinem Kon- den Status symbolischer Ressourcen und ver-
„klassischen“ innerstaatlichen Kriege von pro- zept des Gewaltmarkts und der damit verbun- einfacht sie im Sinne eines instrumentellen
minenter Bedeutung sind, da sich das For- denen Annahme der Kommerzialisierung von Einsatzes. Weil jedoch neben politischen und
schungsdesign Colliers explizit am Konzept Gewalt. Allgemein definiert er Gewaltmärkte ideologischen Aspekten auch ethnische und
von Staatlichkeit und herkömmlichen inner- als „Bürgerkriege, Kriegsherrensysteme oder kulturelle Fragen für Gewaltunternehmer im-
staatlichen Kriegen (Sezession, Regimewech- Räubertum bezeichnete Konflikte, bei denen mer von Relevanz bleiben, schränken diese „die
sel) orientiert. Inwieweit Fragmentierungs- unter der Oberfläche weltanschaulicher und fiktiv unterstellte Freiheit unternehmerischer
und Desintegrationsprozesse einerseits, Trans- machtpolitischer Ziele oder vorgeblich tradi- Entscheidungen von vornherein ein“ (Münkler
nationalisierungstendenzen andererseits, d.h. tionell bestimmter Kampfverpflichtungen das 2002, 163).

201
SVEN CHOJNACKI

DAS KONZEPT DER WARLORD-POLITIK und Verstetigung von Kriegsökonomien quasi und strategische Ressourcen konkurrieren
automatisch zu einem Verlust des Politischen (z. B. in Angola oder Nigeria); (3.) im Prozess
Einen alternativen Erklärungsansatz bietet das am Kriege führen, wie einige Autoren und Au- des Konfliktes „umkippende“ Handlungslogi-
Konzept der Warlord-Politik von Reno (1998; torinnen suggerieren (Münkler 2002; Eppler ken (wie in Kolumbien). Beeinflusst wird dies
2000). In den Mittelpunkt rücken konkurrie- 2002; Heupel/Zangl 2003). sowohl von den Kalkülen und Strategien der
rende Eliten, Militärs und Warlords, für die die Theoretisch beinhalten Kriegsökonomien nicht Konfliktakteure als auch von den jeweiligen
Sicherung einer lokal begrenzten Kriegswirt- nur materielle Reproduktionsbedingungen ökonomischen, politischen und kulturellen
schaft und die Etablierung netzwerkartiger, in- und reflektieren die ökonomischen Interessen Rahmenbedingungen, die spezifische Hand-
formeller Politikpraktiken zur einzigen Alter- diverser Gewaltunternehmer, sie kompensie- lungsoptionen gewaltbereiter Akteure ermög-
native wird, Macht- und Legitimitätsverlust zu ren auch den Macht- und Legitimitätsverlust lichen. Beispielsweise schafft Ressourcen-
kompensieren. Neben der Reflektion kurzfris- politischer Eliten, verändern Loyalitätsbezie- reichtum eine spezifische Motivation für die
tiger Machtinteressen und der Berücksichti- hungen und produzieren und reproduzieren Anwendung von Gewalt und die Möglichkeit
gung langfristiger Identitäten bezieht Reno die sozialen Rahmenbedingungen (Clapham zur Fortführung von Kämpfen (Aust 2003).6
auch externe Regierungen und transnationale 1998; Reno 1998). Gerade in entstaatlichten Darüber hinaus gibt es zum einen Feedbacks
Konzerne konzeptionell ein. Seine Überlegun- Räumen werden Ökonomisierungstendenzen zwischen der Form materieller Bereicherung
gen stützen sich auf empirische Analysen zur begleitet von der Herausbildung multipler und der Logik der Gewaltanwendung. So folgt
Warlord-Politik in Liberia, Sierra Leone, Nigeria Muster von politischer Autorität und netz- der Abbau wertvoller Bodenschätze (z. B. von
und der Demokratischen Republik Kongo werkartiger, informeller politischer Praktiken Diamanten in Sierra Leone oder von Coltan in
(Zaire) und knüpfen mit der Frage, inwieweit (Reno 1998, 217ff; Duffield 2001, 175ff). Ge- der Demokratischen Republik Kongo) anderen
die unterschiedlichen Akteurskonstellationen waltunternehmer tragen, bewusst oder unbe- Handlungslogiken und Zwängen als die Aus-
einerseits zur Erosion institutioneller Struktu- wusst, zur Institutionalisierung der Gewalt plünderung der Zivilbevölkerung durch maro-
ren beitragen, andererseits auch von politi- einerseits, zu neuen politischen, sozialen und dierende Banden, Rebellengruppen oder regu-
scher Instabilität und Unsicherheit profitie- ökonomischen Strukturen jenseits klassischer läre Soldaten. Zum anderen variieren die poli-
ren, an die Debatten zu zerfallender bzw. Staatlichkeit andererseits bei. Zugleich wird tischen wie gesellschaftlichen Konsequenzen
defekter Staatlichkeit an. Kriegsökonomien die Transformation herrschaftlicher Struktu- je nach Art bzw. Quelle der Kriegsfinanzierung.
stehen demzufolge in einer engen Wechselbe- ren und die Steuerung von Gewaltmärkten Anstatt dann Ökonomisierung mit Entpoliti-
ziehung mit schwachen bzw. zerfallenden meistens begleitet von Prozessen extremer Po- sierung gleichzusetzen, stellt sich empirisch
Staaten und bieten Gewaltunternehmern wie litisierung und Militarisierung ethnischer Ka- stets die Frage, welchen politischen, sozialen
Warlords oder konkurrierenden Eliten eine tegorien (Kaldor 1999, Kap. 4; Senghaas 2003, und ökonomischen Regeln Gewaltkonflikte
Kompensation des Machtverlusts. Ganz ähn- 133). Damit verwandeln kriegswirtschaftliche folgen, welche Eigendynamiken sie entfalten
lich spricht Riekenberg (1999, 190ff) in diesem Gewaltordnungen zwar die vormals dominie- und inwieweit dies eine Überprüfung von In-
Zusammenhang auch von Warlordfiguratio- renden Politikpraktiken, sie bedeuten jedoch terventions- und Präventionsstrategien nach
nen, die als außerstaatliche, kriegerisch-so- nicht die Auflösung von politischer Ordnung sich ziehen muss.7
ziale Systeme jenseits gewohnter Bürger- oder politischen Agenden schlechthin.
kriegssysteme auf eine Verstetigung der Ge- Auch die Annahme, dass die „Ökonomisie-
waltanwendung für ihre Reproduktion und rung“ des Krieges bzw. die ökonomischen Kal- DER KRIEG WANDELT SICH
Selbststabilisierung angewiesen sind, die Her- küle der Kriegsparteien allein für die Perpetu-
stellung von Angst und Unsicherheit nutzen ierung der Gewalt und die lange Dauer vieler Der Krieg wandelt sich – und dies gleich in mehr-
sowie eine Ökonomisierung des Krieges bei Gewaltkonflikte verantwortlich seien, greift facher Hinsicht: Erstens ist Krieg als Institution
gleichzeitigem Ausbau logistischer Ressour- konflikttheoretisch zu kurz. Zum einen dient des Konfliktaustrags nicht statisch, sondern dy-
cen und einer Ausdifferenzierung von Kom- die wiederholte Anwendung der Gewalt immer namisch mit den Strukturen und dem Wandel
munikationssystemen forcieren.4 auch der Verbesserung von Verhandlungsposi- interner und externer gesellschaftlicher Rah-
tionen. Zum anderen erhöhen Faktoren wie menbedingungen verkoppelt. Damit unterliegt
die Fraktionierungen der Kriegsparteien, die er selbst als soziale und politische Praxis vielfäl-
FÜHREN KRIEGSÖKONOMIEN ZUM Intervention staatlicher und nicht-staatlicher tigen, historisch kontingenten Veränderungs-
VERLUST DES POLITISCHEN? Gruppierungen (Nachbarstaaten, Großmäch- prozessen. Zweitens kann sich ein einzelner
te, private Sicherheitsfirmen) sowie die Ver- Krieg verändern, indem neue interne oder ex-
Vor dem Hintergrund dieser Debatten und Er- bindungen zu transnationalen kriminellen terne Akteure hinzutreten und/oder sich die
kenntnisse ist es unstrittig, dass sich die Fi- Netzwerken die ohnehin vorhandene Konflikt- Motive der Konfliktparteien bzw. die Formen
nanzierungspraktiken vieler Kriege unter den komplexität und damit auch den Grad physi- der Kriegsfinanzierung verschieben. Drittens
Bedingungen entstaatlichter Räume und un- scher und ökonomischer Unsicherheit. In der schließlich verändern sich auch unsere sozialen
ter den Vorzeichen der Globalisierung und ih- Konsequenz erschwert dies sowohl die interne wie wissenschaftlichen Deutungen vom Krieg,
rer Schattenseiten der transnationalen orga- politische Steuerung als auch externe Ansätze die die erfahrene Realität bzw. ihren Wandel er-
nisierten Kriminalität verändern (Waffen- und der Konfliktbearbeitung. fassen und strukturieren. Auf einen einfachen
Drogenhandel, illegaler Ressourcenabbau). Nenner gebracht: der Wandel des Krieges ist
Kritiker der These „neuer“ Kriege zweifeln auch multidimensional und alles andere als unge-
nicht daran, dass „Gewaltmärkte“ zur Verlän- KRIEG, POLITIK UND ÖKONOMIE – wöhnlich. Für die Friedens- und Konfliktfor-
gerung von Kriegen beitragen und dass es EIN KOMPLEXES WECHSELVERHÄLTNIS schung bedeutet dies die ständige Überprüfung
private Gewaltakteure gibt, die bewusst die ihrer zentralen Parameter.
Kontrolle von Märkten, Ressourcenvorkom- Letztlich stehen Krieg, Politik und Ökonomie
men und Handelsverbindungen anstreben – immer in einem komplexen Wechselverhältnis,
und auch Motive der „Gier“ zeigen (Gantzel das sich im Konfliktverlauf durchaus ver- WIRD DIE AKTUELLE DEBATTE DEN
2002; Schlichte 2002). Und schließlich lassen ändern kann.5 So wie jeder Krieg seine Kriegs- VERÄNDERUNGEN GERECHT?
sich auch die empirisch-quantitativen Er- ökonomie hat, beeinflussen verfügbare Res-
kenntnisse der Weltbankgruppe, dass die sourcen immer auch die Kalküle der Konflikt- Die populäre Debatte über die „alten“ und
wirtschaftliche Abhängigkeit von Primär- akteure. Theoretisch gibt es unterschiedliche „neuen“ Kriege wird den skizzierten Verände-
gütern Opportunitätsstrukturen generieren, Pfade bzw. Klassen der Ökonomisierung: (1.) rungen nur bedingt gerecht. Das Etikett „neu“
die das Gewaltrisiko erhöhen, nicht völlig von Gewaltkonflikte, die von der „Gier“ einzelner ist besonders trügerisch, weil es suggeriert,
der Hand weisen (Ballentine/Sherman 2003). Gewaltunternehmer angefacht werden (z. B. dass eine klare zeitliche Bestimmung bzw. Ein-
Problematisch wird die Ökonomisierungsthese Charles Taylor in Liberia); (2.) eine Variante grenzung des Kriegsgeschehens in „alte“ und
erst dann, wenn sie zur neuen Orthodoxie nicht-ideologischer „Stellvertreterkriege“, in „neue“ Kriege möglich sei. Zum anderen legt es
degeneriert oder zu Fehldeutungen verleitet. denen externe Interessengruppen (Staaten, die mögliche Fehldeutung nahe, „alte“ Kriege
Fraglich ist insbesondere, ob die Entstehung multinationale Konzerne) um ökonomische empirisch wie theoretisch als bedeutungslos

202
Gewaltakteure und Gewaltmärkte: Wandel der Kriegsformen?

anzusehen. Angesichts der empirischen Trends felhaften Schlussfolgerungen, weil auf der DIE AUSPLÜNDERUNG DER ZIVILBEVÖLKERUNG DURCH
im globalen Kriegsgeschehen (Sarkees et al. Grundlage einer unscharfen Begriffsbildung MARODIERENDE BANDEN, REBELLENGRUPPEN ODER RE-
2003; Schreiber 2003; Chojnacki 2004) ist es bisher nur eine Zusammenschau anekdoti- GULÄRE STREITKRÄFTE FOLGT ÖKONOMISCHEN KALKÜLEN
konflikttheoretisch wie friedenspolitisch je- scher Einzelfälle vorliegt. Das empirische Ma- UND HINTERLÄSST TRAUER UND ELEND: DIE FOTOS UND
doch verfrüht, „alte“ innerstaatliche Kriege zu terial mag dabei durchaus zur Illustration ein- NAMEN VERMISSTER ELTERN SIND AN GROSSEN TAFELN
vernachlässigen oder zwischenstaatliche Krie- zelner Thesen dienen, es produziert aber eben IN DEM FLÜCHTLINGSCAMP JAH TONDO IN DER NÄHE
ge gar als historisches „Auslaufmodell“ anzu- noch keine empirisch triftigen Evidenzen und VON MONROVIA ANGEBRACHT (FOTO VOM 14.11.2003).
sehen (Münkler 2002; van Creveld 2001). bietet damit keine Grundlage für die Erfassung picture alliance / dpa
Selbst im 19. Jahrhundert fallen die meis- globaler Trends oder für die Identifikation
ten der politischen Gewaltformen außerhalb zentraler Wirkungsmechanismen. Die Über-
des Einzugsbereiches des zwischenstaatlichen strapazierung und Überpointierung des „Neu- Gewaltakteure. Dahinter steht die theoreti-
Krieges: die Daten des Correlates of War-Pro- en“ dürfte dabei sowohl auf die veränderte sche Annahme, dass Konfliktstrukturen und
jekts für begonnene Kriege in den einzelnen Wahrnehmungslogik des globalen Konflikt- Kriegsformen mit dem Vergesellschaftungs-
Dekaden seit 1816 zeigen, dass innerstaatliche geschehens seit dem Ende des Ost-West- muster der Akteure zusammenhängen (Daase
Kriege hier im direkten Vergleich – mit einer Konflikts als auch auf die Aufmerksamkeits- 1999). Wird dementsprechend zur Typologie-
Ausnahme (1930-39) – immer überwiegen und Attraktivitätsfalle des wissenschaftlichen bildung explizit am politischen Status der Ak-
(Sarkees et al. 2003, 61). Der Staat ist zwar Marktes zurückzuführen sein. Mary Kaldor teure angesetzt, dann ergeben sich aus heuti-
nicht mehr der „selbstverständliche Monopo- (1999) und Herfried Münkler (2002) kommt ger Sicht nicht zwei, sondern vier Kerntypen
list des Krieges“ (Münkler 2002, 7ff), faktisch dabei freilich das Verdienst zu, eine wissen- kriegerischer Gewalt:
wird jedoch die Mehrzahl der Kriege – dies schaftliche Kontroverse über Begriffe, Typen ■ zwischenstaatliche Kriege (zwischen min-
sind vor allem Anti-Regime- und Sezessions- und Erklärungsansätze des Krieges unter ver- destens zwei souveränen Staaten);
kriege – weiterhin konventionell und staats- änderten Vorzeichen und Rahmenbedingun- ■ extrastaatliche Kriege (zwischen Staaten
zentriert geführt. Gegen die These vom „Aus- gen auf den Weg gebracht zu haben – und und nicht-staatlichen Akteuren jenseits be-
laufmodell“ spricht auch das Problem, dass eine breitere Öffentlichkeit für den Formen- stehender Staatsgrenzen wie bei Dekoloni-
Gewaltkonflikte, Sicherheitsdilemmata und wandel kriegerischer Gewalt und die damit sationskriegen);
Rüstungsspiralen zwischen den Staaten nach verbundenen friedens- und sicherheitspoliti- ■ innerstaatliche Kriege (zwischen staatli-
wie vor Probleme regionaler und internationa- schen Konsequenzen sensibilisiert zu haben. chen und nicht-staatlichen Akteuren inner-
ler Politik sind (vor allem im Nahen und Mitt- halb bestehender Grenzen) sowie
leren Osten sowie in Südasien). Viele der ge- ■ substaatliche Kriege (zwischen nicht-staat-
genwärtige Kriege sind zudem hochgradig in- SUBSTAATLICHE KRIEGE lichen Gewaltakteuren innerhalb oder jen-
ternationalisiert, was teilweise (wie in West- seits formaler Staatsgrenzen).
und Zentralafrika) zu komplexen regionalen Anstatt den hier skizzierten quantitativen und Der vierte Kriegstyp reflektiert die Debatte
Konfliktsystemen führt (vgl. Debiel 2002). qualitativen Wandel auf der Akteursebene als über den Formenwandel des Krieges und
Die These vom übergreifenden Wandel des ein schlichtes Indiz „neuer“ Kriege zu interpre- orientiert sich explizit am Kriterium der Verge-
Krieges sind dann auch methodisch proble- tieren, stellt sich die Frage, wie die Kriege der sellschaftungsform der Akteure.8 Er postuliert
matisch, weil die zugrunde gelegten Kriterien Gegenwart jenseits der populären Grobunter- aber eben keine völlig neue Kriegsform, son-
für die Erfassung „neuer Kriege“ in hohem scheidung erfasst werden können. Ein Ansatz- dern ergänzt aus Sicht der Konfliktforschung
Maße willkürlich, intersubjektiv nur schwer punkt, auf den die Kriegsursachenforschung ein fehlendes Puzzleteil in der Kombination
nachvollziehbar und konflikttheoretisch kaum immer wieder zurückgreift, ist der politische staatlicher und nicht-staatlicher Akteurskons-
begründet sind. Dies führt wiederum zu zwei- Status bzw. die Vergesellschaftungsform der tellationen.

203
SVEN CHOJNACKI

Die ökonomische Handlungslogiken und der 3 Die im Sammelband von Musah und Fayemi (2000) Daase, C.: Kleine Kriege - Große Wirkung, Baden-Baden
zusammengestellten Fallstudien zu Angola, Sierra Leone 1999
Wandel von Finanzierungspraktiken sind dann und zur Demokratischen Republik Kongo „indicate a clear Debiel, T.: Haben Krisenregionen eine Chance auf tragfä-
nicht allein Phänomene substaatlicher Kriege, and consistent correlation between the activities of the higen Frieden? In: ders. (Hrsg.): Der zerbrechliche Frieden.
mercenaries outfits and the rising fortunes of mineral Krisenregionen zwischen Staatsversagen, Gewalt und
sondern sind auch bei den anderen Kriegsty- prospecting and distribution corporations in these war- Entwicklung. Bonn 2002, S. 20-63.
pen zu beobachten. So wie jeder Krieg seine torn countries“ (Musah/Fayemi 2000, 24). Duffield, M.: Global Governance and New Wars. The Mer-
Kriegsökonomie hat, können sich die Formen 4 Riekenberg grenzt Warlordfigurationen bewusst von ging of Development and Security. London 2001
herkömmlichen Bürgerkriegen (Guerilla- und Anti-Re-
der Finanzierung und die Umfeldbedingungen gime-Kriege) ab, die dadurch gekennzeichnet sind, dass
Ehrke, M.: Zur politischen Ökonomie post-nationalstaat-
licher Konflikte. Ein Literaturbericht. Arbeitspapier der
wandeln. Ökonomische Bereicherungsmotive wenigstens zwei Gruppen unvereinbare Machtansprüche Friedrich-Ebert-Stiftung Abt. Frieden und Sicherheit.
tragen zwar zur Transformation von einzelnen haben (1999, 194f.). Warlordgebilde dagegen treten ide- März 2002. Bonn/Berlin. Internet: http://www.fes.de/in-
altypisch an die Stelle von Staatlichkeit oder neben den dexaktuelles.html (April 2002)
Kriegen und gesellschaftlicher Beziehungen Staat (Riekenberg 1999, 195).
Elwert, G.: Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckra-
bei, sie führen aber nicht quasi automatisch zu 5 Dass die Beziehung von Politik und Ökonomie alles tionalität der Gewalt. In: Trotha, T. von (Hrsg.): Soziolo-
einer Entpolitisierung von Konfliktbeziehun- andere als natürlich ist, zeigt Cater (2003) an den Fallbei- gie der Gewalt. Kölner Zeitschrift für Soziologie und So-
spielen Angola, Sierra Leone und Zaire/Demokratische zialpsychologie, Sonderheft 37, Opladen 1997, S. 6-101.
gen und Ordnungsstrukturen. Der postulierte Republik Kongo.
Elwert, G.: Markets of Violence. In: Sociologus: A Jour-
Trend der Ökonomisierung des Krieges sowie 6 Empirisch-vergleichende Studien belegen, dass von nal for Empirical Ethno-Sociology and Ethno-Psychology
die damit in Verbindung gebrachten Verände- den natürlichen Ressourcen insbesondere die Verfügbar- Supplement 1. Berlin 1999, S. 85-102.
keit über Diamanten und Drogen (Opium) für private Ge-
rungen globaler Rahmenbedingungen (Glo- waltunternehmer attraktiv ist und mit der Entstehung wie Eppler, E.: Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt?
auch Verstetigung von Gewaltkonflikten verbunden wer- Frankfurt am Main 2002
balisierung, Transnationalisierung) schaffen Gantzel, K. J.: Neue Kriege? Neue Kämpfer? Arbeitspapier
den kann (Ross 2003).
dann nicht nur Anreize für nicht-staatliche 7 Nach wie vor mangelt es dabei an Hypothesen und Nr. 2/2002, Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Ent-
Akteure, sondern auch für Staaten bzw. herr- Analysen zur Wechselbeziehung zwischen ökonomischen, wicklung, Universität Hamburg
politischen und kulturellen Faktoren einerseits, zum Zu- Herbst, J.: Economic Incentives, Natural Resources and
schende Eliten – die Entwicklungen gehen so- Conflict in Africa. In: Journal of African Economies,
sammenhang von Kriegsökonomien und Konfliktdynami-
gar teilweise von diesen aus. Die Ökonomisie- ken andererseits. 3/2000, S. 270-294.
rungsthese enthält dann auch theoretischen 8 Die Vergesellschaftungsmuster und Akteurskonstella- Hoffmann, K.: Kindersoldaten: Opfer und Täter in „neuen
tionen lassen sich hier nicht mehr auf den Staat und mehr Kriegen“. Diplomarbeit. FU Berlin 2004
Zündstoff, weil Teile der Konflikt- und Kriegs-
oder weniger gut organisierte Rebellengruppen reduzie- Holsti, K. J.: The State, War, and the State of War. Cam-
ursachenforschung in längst überwunden ge- ren. Im Mittelpunkt steht vielmehr ein disparates Spek- bridge 1996
glaubte monokausale Orthodoxien zurückzu- trum unterschiedlicher quasi-staatlicher, substaatlicher Jean, F./Rufin, J.-C. (Hrsg.): Ökonomie der Bürgerkriege.
und transnationaler Gewaltakteure. Hamburg 1999
fallen drohen, indem sie politische wie nor-
Kaldor, M.: New and Old Wars. Organized Violence in a
mative Motive vernachlässigen oder gar aus- Global Era. Cambridge 1999
blenden. Dabei ist die Systematisierung der LITERATUR Keen, D.: The Economic Function of Violence in Civil
vorhandenen Forschungsergebnisse auf die- Wars. In: Adelphi Paper 320/1998
sem Gebiet genauso defizitär wie die bisheri- Aust, B.: ‚Feindliche Übernahmen’. Ökonomische Interes- Keen, D.: Incentives and Disincentives for Violence. In:
sen und militärisches Unternehmertum im Kongo. In: Az- Berdal, M./Malone, D. M. (Hrsg.): Greed and Grievances.
gen Erklärungsstränge nicht zu einer Theorie zellini, D./Kanzleiter, B. (Hrsg.): Das Unternehmen Krieg. Economic Agendas in Civil Wars. Boulder (Col.) 2000, S.
der politischen Ökonomie des Krieges geführt Berlin u.a. 2003, S. 143-160. 19-41.
Ballentine, K./Sherman, J.: The Political Economy of Ar- Lock, P.: Ökonomien des Krieges. Ein lange vernachläs-
haben. Daher ist auch die Frage völlig offen, med Conflict. Beyond Greed and Grievance. Boulder and sigtes Forschungsfeld von großer Bedeutung für die po-
wie sich Kriegswirtschaften und Konfliktdy- London 2003 litische Praxis. Vortragsskript für den Konstituierungs-
namiken wechselseitig beeinflussen, welches Berdal, M./Malone, D. (Hrsg.): Greed and Grievances. Eco- workshop der DVPW-Arbeitsgruppe „Ordnungen der Ge-
nomic Agendas in Civil Wars. Boulder, CO 2000 walt“. 2001
die entscheidenden Kausalmechanismen sind, Matthies, V.: Eine Welt voller neuer Kriege? Wider das Ge-
Böge, V.: Neue Kriege und traditionale Konfliktbearbei-
und inwieweit unterschiedliche Eskalations- tung. INEF Report, Heft 74/2004, Institut für Entwick- rede „von Krieg und Kriegsgeschrei.“ In: Fues, T./Hippler,
prozesse und Pfadabhängigkeiten identifi- lung und Frieden, Universität Duisburg-Essen J. (Hrsg.): Globale Politik. Entwicklung und Frieden in der
Cater, C.: The Political Economy of Conflict and UN In- Weltgesellschaft. Bonn 2003, S. 236-255.
ziert werden können. Trotz dieser kritischen Münkler, H.: Die neuen Kriege. Berlin 2002
tervention: Rethinking the Critical Cases of Africa. In:
Bestandsaufnahme, bietet diese Perspektive Ballentine, K./Sherman, J.: The Political Economy of Ar- Musah, A.-F./Fayemi J. K. (Hrsg.): Mercenaries. An African
einen durchaus fruchtbaren Ansatzpunkt med Conflict. Beyond Greed and Grievance. Boulder and Security Dilemma. London 2000
London 2003, S. 19-45. Reno, W.: Warlord Politics and African States. Boulder,
zum besseren Verständnis von ökonomischen
Chojnacki, S.: Anything New or More of the Same? Types CO. 1998
Handlungslogiken und Konfliktdynamiken jen- of War in the Contemporary International System, Prepa- Reno, W.: Shadow States and the Political Economy of Ci-
seits scheinbar chaotischer Bürgerkriegssitua- red for the 5th Pan-European International Relations vil War. In: Berdal, M./Malone, D. M. (Hrsg.): Greed and
Conference ‘Constructing World Orders’. The Hague. Sep- Grievances. Economic Agendas in Civil Wars. Boulder
tionen (Elwert 1999, 88; Matthies 2003, 244). tember 9-11/2004 (Col.)/London 2000, S. 43-68.
Für die zukünftige Forschung bedeutet dies Clapham, C.: Africa and the International System. The Po- Riekenberg, M.: Warlords. Eine Problemskizze. In: Com-
dann vor allem, die Wechselbeziehung von litics of State Survival. Cambridge (UK) 1996 parativ, 5/6 –1999, S. 187-205.
Ökonomisierungstendenzen und De- wie Re- Coalition to Stop the Use of Child Soldiers: Child Soldiers Ross, M. L.: Oil, Drugs, and Diamonds: The Varying Roles
Global Report 2004. London 2004 of Natural Resources in Civil War. In: Ballentine, K./Sher-
politisierungsprozessen (etwa in Kolumbien, Collier, P.: Doing Well out of War. In: Berdal, M./Malone, man, J.: The Political Economy of Armed Conflict. Be-
Liberia, Angola oder Afghanistan) stärker un- D. (Hrsg.): Greed and Grievance: Economic Agendas in Ci- yond Greed and Grievance. Boulder and London 2003, S.
vil War. Boulder, CO 2000, S. 91-111. 47-70.
ter die Lupe zu nehmen und theoretisch in den
Collier, P./Hoeffler, A.: Greed and Grievance in Civil War. Rufin, J.-C.: Kriegswirtschaft in internen Konflikten. In:
Griff zu bekommen. Notwendig sind dazu in World Bank 2001 Jean, F./Rufin, J.-C. (Hrsg.): Ökonomie der Bürgerkriege.
Zukunft sowohl ein Blick auf die Mikroebene, Collier, P./Sambanis, N.: Understanding Civil War: A New Hamburg 1999, S. 15-46.
die Aufschluss über die interne Logik von Agenda. In: Journal of Conflict Resolution, 1/2002, S. Sarkees, M. R./Waman, F. W./Singer, J. D.: Inter-State, In-
839-853. tra-State, and Extra-State Wars: A Comprehensive Look
Handlungszusammenhängen und Entschei- Cramer, C.: Homo Economicus Goes to War: Methodolo- at Their Distribution over Time, 1816-1997. In: Interna-
dungsprozessen gibt, als auch komparative gical Individualism, Rational Choice and the Political Eco- tional Studies Quarterly 47/2003, S. 49-70.
Studien zum Wandel des Verhältnisses von nomy of War. In: World Development, 11/2002, S. 1845- Schlichte, K.: Neues über den Krieg? Einige Anmerkun-
1864. gen zum Stand der Kriegsforschung in den Internationa-
Krieg, Politik und Ökonomie. In dem Maße, wie len Beziehungen. In: Zeitschrift für Internationale Bezie-
dann das Politische nicht verworfen werden hungen, 1/2002, S. 112-138.
kann, ist keineswegs sicher, dass die Tage des Schreiber, W.: Das Kriegsgeschehen 2002. Daten und Ten-
UNSER AUTOR denzen der Kriege und bewaffneten Konflikte. Opladen
Clausewitzschen Kriegsverständnisses gezählt 2003
sind. Dr. Sven Chojnacki ist wissenschaftlicher Senghaas, D.: Die Konstitution der Welt – eine Analyse
aus friedenspolitischer Sicht. In: Leviathan, 1/2003, S.
Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin 117-152.
für Sozialforschung (WZB) und Lehrbeauf- Shearer, D.: Private Armies and Military Intervention.
ANMERKUNGEN tragter an der Freien Universität Berlin. Sein Adelphi Paper 316, New York 1998
Lehr- und Forschungsinteresse gilt den In- Singer, P. W.: Corporate Warriors: The Rise of the Privat-
1 Gegenüber klassischen Warlords haben sich die Gewalt- ized Military Industry. Ithaca 2003
unternehmer der Gegenwart dann ebenso modernisiert, ternationalen Beziehungen, insbesondere von Trotha, T.: Formen des Krieges. Zur Typologie krie-
wie sie sich von den sozio-ökonomischen und politischen der Konflikt- und Kriegsursachenforschung gerischer Aktionsmacht. In: Neckel, S./Schwab-Trapp, M.
Ausgangsbedingungen emanzipiert haben (Münkler 2002, (Hrsg.): Ordnungen der Gewalt. Beiträge zu einer politi-
172f.; Riekenberg 1999). sowie regionaler und globaler Sicherheitspo-
schen Soziologie der Gewalt und des Krieges. Opladen
2 Der klassische „Glücksritter“ ist jedoch keine ausge- litik. Ein aktueller Schwerpunkt liegt auf dem 1999, S. 71-95.
storbene Spezies, wie die Kriegsschauplätze auf dem Bal- von der Deutschen Stiftung Friedensfor- Zartmann, W.I.: Posing the Problem of State Collapse. In:
kan, in Zentralasien und in Afrika belegen. Die Umfeld- ders. (Hrsg.): Collapsed States. Londen 1995, S. 1–11.
bedingungen und Organisationsstrukturen haben sich je- schung (DSF) geförderten Projekt „Neue For-
doch fundamental geändert. men der Gewalt im internationalen System“.

204
KINDERSOLDATEN ALS AKTEURE DER NEUEN KRIEGE

Kindersoldaten
PAUL RUSSMANN

WAS SIND KINDERSOLDATEN? Schulen indoktriniert (vgl. Global Report on


Kindersoldaten wurden schon im Drei- Child Soldiers 2001).
ßigjährigen Krieg, im Mittelalter und Als Kindersoldaten werden alle Jungen und Wie viele Kindersoldaten es wirklich gibt, die
im Zweiten Weltkrieg eingesetzt. Doch Mädchen bezeichnet, die (1.) jünger als 18 von Rebellenverbänden, Milizen oder Privatar-
erst seit Anfang der 90er-Jahre des letz- Jahre alt sind und die (2.) innerhalb von Ar- meen ins Feuer geschickt werden, lässt sich
ten Jahrhunderts werden ihre Probleme meen oder bewaffneten Gruppierungen so- kaum feststellen. Einerseits registrieren viele
von Hilfsorganisationen, Medien und wohl militärisch als auch zivil eingesetzt Kriegsherren (Warlords) 14- oder 15-jährige
in der Forschung stärker beachtet. Kin- werden. Das internationale Kinderhilfswerk Rekruten nicht gesondert, da sie diese als
dersoldaten gehören zu den Akteuren UNICEF schätzt, dass weltweit 300.000 Kinder „Selbstverständlichkeit“ betrachten. Anderer-
der so genannten neuen Kriege. Der als Soldaten missbraucht werden. Mädchen seits leugnen Regierungen und Rebellenbe-
Einsatz von Kindersoldaten als Kriegs- wie Jungen sind in den Streitkräften und be- wegungen, dass sie überhaupt Kindersoldaten
akteure folgt der Logik privatisierter, waffneten Oppositionsgruppen von mehr als rekrutieren. Viele der heute erwachsenen Sol-
entstaatlichter Kriege: Kinder(soldaten) 36 Ländern als Soldaten im Kampfeinsatz. In daten wurden schon als Kinder eingezogen.
sind kostengünstig, leicht rekrutierbar, Birma soll ein Viertel der 350.000 Mann star- Olara Otonnu, Sonderbeauftragter des UN-
„effizient“ einsetzbar und ohne größere ken Regierungstruppen unter 18 Jahre alt Generalsekretärs für den Arbeits- und Aufga-
Probleme kontrollierbar. Paul Russmann sein. Es gibt die „Kleinen Bienen“ in Kolum- benbereich „Kinder in bewaffneten Konflikten“
schildert in seinem Beitrag die Lebens- bien und die „Babybrigaden“ auf Sri Lanka, schätzt, dass zwischen 1990 und 2000 zwei
bedingungen und den Kriegsalltag der Charles Taylors gefürchtete „Small Boys“ in Li- Millionen Kindersoldaten gefallen sind. Sechs
oftmals zwangsrekrutierten Kinder und beria. Allein auf dem afrikanischen Kontinent Millionen Kindersoldaten seien zu Invaliden ge-
Jugendlichen. Gerade die körperlichen kämpfen über 120.000 Kinder, vor allem in worden, über zehn Millionen Kinder hätten
und seelischen Auswirkungen erschwe- Angola, Burundi, der Demokratischen Republik schwere seelische Schäden erlitten.
ren die Rehabilitation dieser Kinder in Kongo, in Elfenbeinküste, Liberia, Ruanda,
befriedeten Gesellschaften. Aufgezeigt Sierra Leone, Sudan und Uganda. In der De-
wird auch, wie schwierig es auf interna- mokratischen Republik Kongo werden bis zu WANN WERDEN KINDERSOLDATEN
tionaler Ebene ist, den Einsatz von Kin- 30.000 Kinder für den Kriegseinsatz miss- EINGESETZT?
dersoldaten zu ächten. Red. braucht. Einige Milizen im Osten des Landes
bestehen bis zu 60 Prozent aus Kindern (vgl.: Je länger sich ein bewaffneter Konflikt hinzieht,
www.unicef.de). umso wahrscheinlicher ist es, dass Kinder an
Darüber hinaus gibt es Kindersoldaten in Af- ihm aktiv teilnehmen. Für die meisten Kriege gilt
ghanistan, Indonesien, Birma, Nepal, auf den die Faustregel: Je länger ein Krieg dauert, desto
Philippe war sieben. Oder acht. Jedenfalls hol- Philippinen, sowie in Israel und in den Palästi- mehr Kinder werden rekrutiert. Je mehr Kinder
ten sie ihn, als der Journalist Jens Voigt im nensergebieten. Noch immer sind etwa 6.000 rekrutiert werden, um so jünger werden die Kin-
Zentralgefängnis von Kigali nach dem jüngs- Soldaten der britischen Streitkräfte minder- der. Nicht selten kommt es zu einem „Wettlauf“
ten Kriegsverbrecher fragte. Man schob ihn jährig. Und auch im Irak starben, wie schon im der Kriegsparteien bei der Rekrutierung von Kin-
vor eine Kamera, die Gefängniswärter riefen: Ersten Golfkrieg und im Falklandkrieg, 17-jäh- dern: Die Kinder werden nicht nur eingezogen,
„Cheese“. Aber Philippe lächelte nicht. rige englische Jungen an der Front. Weltweit weil eine Kriegspartei die Kinder für den Kampf
erhalten Millionen Kinder militärisches Trai- braucht, sondern auch, um dem Gegner zuvor-
„Warum bist du hier, fragte der Dolmetscher. ning und werden in Jugendbewegungen und zukommen (vgl. www.kindersoldaten.de).
Ich habe Menschen getötet.
Wie viele?
Ich weiß nicht, sechs oder acht.
Womit hast du sie umgebracht?
Mit dem Buschmesser oder mit Knüppeln,
meist mit dem Messer. Ich war der Anführer.
Wen hast du getötet?
Solche, die kleiner waren als ich. Die Großen
wurden von den Erwachsenen getötet. Zwei-
mal durfte ich mithelfen.
Mithelfen?
Beim Zerhacken, mit dem Buschmesser.
Warum hast du getötet?
Die Großen haben es mir gesagt.“
(Voigt 2000)

JUGENDLICHE MILIZIONÄRE FAHREN MIT EINEM PICKUP


AN DIE FRONT IM NORDOSTEN LIBERIAS (27.8.2003).
DER SONDERBEAUFTRAGTE DER UN FÜR DEN
ARBEITSBEREICH „KINDER IN BEWAFFNETEN KONFLIKTEN“
SCHÄTZT, DASS ZWISCHEN 1990 UND 2000 ZWEI
MILLIONEN KINDERSOLDATEN GEFALLEN SIND.
SECHS MILLIONEN KINDERSOLDATEN SEIEN ZU
INVALIDEN GEWORDEN, ZEHN MILLIONEN HÄTTEN
SCHWERE SEELISCHE SCHÄDEN ERLITTEN.
picture alliance / dpa

205
PAUL RUSSMANN

WIE WERDEN KINDERSOLDATEN Kleinwaffen, hauptsächlich Maschinengeweh-


EINGESETZT? re und Pistolen, im Umlauf.

Während viele Kinder direkt an der Front


kämpfen müssen, arbeiten andere als Spione, WIE WERDEN KINDER REKRUTIERT?
Boten, Wächter, Träger, Diener oder werden als
Sexsklaven missbraucht. Kinder müssen Minen Es gibt verschiedene Formen, Kinder zu rekru-
verlegen und räumen. Man zwingt sie, Grau- tieren:
samkeiten zu begehen, oftmals sogar gegen
die eigene Familie und Nachbarschaften. Die ■ Rekrutierung über die Wehrpflicht: In vie-
meisten Kindersoldaten werden in der Armee len Ländern gibt es eine allgemeine Wehr-
körperlich misshandelt. In Extremfällen wer- pflicht. In manchen Ländern beginnt die
den sie in den Selbstmord getrieben oder Wehrpflicht bereits im Alter unter 18 Jah-
selbst zu Mördern, wenn sie die Misshandlun- ren. Damit sind die Rekrutierten laut UNI-
gen nicht länger ertragen können. CEF Kindersoldaten.
Auch wenn die meisten Kindersoldaten im ■ Die Zwangsrekrutierung: Zwangsrekrutie-
Durchschnitt 15 Jahre alt sind, wird vereinzelt rung bedeutet, Menschen gegen ihren Wil-
über erst siebenjährige Kinder berichtet, die len zum „Waffendienst“ zu zwingen. In vie-
sich an Kämpfen beteiligt haben. Die Interna- len Kriegsgebieten werden Kinder mit vor-
tionale Arbeitsorganisation (International La- gehaltener Waffe gezwungen, sich einer
bour Organization/ILO) berichtete, dass Kinder Bürgerkriegspartei (Rebellen, Paramilitärs,
mit Ästen und Stöcken die Straßen fegen mus- Guerillaeinheiten) anzuschließen. Es han-
sten, um Minen zu entdecken oder zur Explo- delt sich also um Entführungen. Weit ver-
sion zu bringen. breitet waren oder sind Zwangsrekrutie-
Sobald die Kinder stark genug sind, um Sturm- rungen im Norden Ugandas, im Kongo, in
gewehre oder halbautomatische Waffen zu Sierra Leone, Angola und Kolumbien.
bedienen (normalerweise mit zehn Jahren), ■ Freiwilligkeit: Nicht immer werden Kinder-
werden sie als Frontkämpfer eingesetzt. Ein soldaten zwangsrekrutiert. Manche Kinder
ehemaliger Kindersoldat aus Burundi erzählt: schließen sich freiwillig einer der bewaff-
„Wir verbrachten schlaflose Nächte mit dem neten Gruppen an.
Warten auf den Feind. Meine erste Aufgabe
war es, eine Lampe für die älteren Rebellen zu religiösen oder anderen Gründen verfolgt
tragen. Später wurde mir gezeigt, wie man WIE „FREIWILLIG“ IST FREIWILLIG? werden. Viele Kinder haben miterlebt, wie El-
Handgranaten einsetzt. Etwa nach einem Mo- tern oder Verwandte ermordet wurden, und
nat trug ich ein AK-47, danach bekam ich so- Die Studie „Jugendliche – Warum sie Soldat wollen ihre Angehörigen nun rächen. Das ei-
gar ein deutsches G-3“ (Global Report on Child werden“ (2004), die von terre des hommes und gene Gewehr und die Zugehörigkeit zu einer
Soldiers 2001). der Quäker-Hilfe Stiftung in Auftrag gegeben bewaffneten Gruppe verschaffen eine gewisse
wurde, stellt fest, dass auch die Freiwilligkeit Sicherheit und auch das Gefühl von Macht. Bei
von Jugendlichen, die weder verschleppt noch den „Freiwilligen“ handelt es sich nicht selten
KLEINWAFFEN – PERFEKTE WAFFEN zwangsrekrutiert werden, oft keine ist. Es gibt um Kinder in besonders schwierigen Lebenssi-
FÜR KINDERHÄNDE keine eindeutigen Erklärungen, warum Heran- tuationen. Sie leiden unter extremer Armut,
wachsende freiwillig in die bewaffneten Grup- sind Straßenkinder ohne Eltern oder Flücht-
Auch wenn zwölfjährige Trommler die Truppen pen gehen. Die meisten Jugendlichen befinden lingskinder ohne Hoffnung und Perspektive:
im amerikanischen Bürgerkrieg in die Schlacht sich in einer Situation, die ihnen kaum eine „Viele Kindersoldaten erträumen sich einen
führten und Admiral Nelson seine Karriere als andere Möglichkeit lässt. Der wichtigste Fak- anderen, einen westlichen Lebensstil, so wie
Schiffsjunge auf einem Kriegsschiff begann – tor ist der Krieg selbst. Ein weiterer Grund ist sie ihn aus dem Fernsehen kennen. Mit ihrem
erst im zwanzigsten Jahrhundert konnten Kin- Armut. Oft herrscht in den Kriegsgebieten Eintritt in eine der Rebellengruppen hoffen sie,
der zu gefürchteten Soldaten werden. Vor der Hunger, da Ernten vernichtet und Vorräte ge- einen Sprung in die Moderne zu tun, in der sie
Erfindung des Schießpulvers wäre es ohne- plündert werden. In der Truppe hoffen die Kin- freilich nie ankommen. Allein der Wert ihrer
hin vollkommen unsinnig gewesen, Kinder in der, dass sie etwas zu essen bekommen und Ausrüstung – automatisches Gewehr, Muni-
die Schlacht zu schicken: Mit dem ersten vor Feinden beschützt werden. tion, Drogen – entspricht in etwa dem jährli-
Schwertstreich hätte ein Ritter noch das ge- Andere Gründe für eine „freiwillige“ Rekrutie- chen Pro-Kopf-Einkommen ihrer Eltern. Und
schickteste Kind umgebracht. Auch die frühen rung sind eine fehlende Schul- und/oder Be- die Kinder, die in Monrovia vor irgendwelchen
Gewehre waren zu schwer und unhandlich für rufsausbildung sowie fehlende Arbeits- und Jeeps posieren, könnten ohne weiteres in ei-
Kinder. Doch die nahezu rückstoßfreie M-16 Einkommensmöglichkeiten. Kinder ohne Fa- nem MTV-Video auftreten: Militia-Look und
der Amerikaner und die AK-47 der Sowjets, die milien sind besonders gefährdet, eingezogen lässige Freizeitkleidung verfließen, ihr Gebaren
mit ihrem Aluminiumgehäuse nicht mehr als zu werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie imitiert das gestische Repertoire der Hip-Hop-
drei Kilogramm wiegen, sind mit ihren 600 ständig oder nur zeitweise von ihrer Familie Choreographien. In diesem Zusammenhang
Schuss pro Minute selbst in der Hand eines getrennt sind. Andererseits werden Kinder bezeichnend sind die Namen, die sich die Kin-
untrainierten, unterernährten Mädchens eine auch von manchen Familien ermutigt, sich di- derkrieger geben und die allesamt nach denen
tödliche Waffe (Rühle 2003). Viele Kleinwaffen rekt oder indirekt am bewaffneten Kampf zu von Actionhelden oder Rapstars klingen: Go
passen perfekt in Kinderhände, und schon beteiligen. Von Kindern, die aus Militärfamilien easy, G-Pox, Captain Bull, Earthquake Baby,
Achtjährige können automatische Waffen ab- stammen (ob aus regulären Streitkräften oder Captain Cobra, Rebel King“ (Rühle 2003).
feuern. Die Handhabung der Kleinwaffen ist in bewaffneten Gruppen) wird die Beteiligung
kürzester Zeit erlernbar, sie sind „kinderleicht“ möglicherweise erwartet, ohne dass sie in be-
zu bedienen und zu transportieren. Kleinwaf- sonderer Weise von der Familie dazu gedrängt WARUM WERDEN KINDER ALS
fen wie die russische Kalaschnikow AK 47 oder werden. SOLDATEN EINGESETZT?
das deutsche G-3-Gewehr lassen sich prob- Manche Mädchen hingegen wollen Gleich-
lemlos warten, reparieren und nachladen und wertigkeit mit ihren Brüdern beweisen und Viele Regierungen und bewaffnete Opposi-
sind deshalb geeignet, von Kindern und Ju- melden sich deshalb. Die meisten Kinder su- tionsgruppen geben an, dass sie Kinder einset-
gendlichen als Tötungswaffe benutzt zu wer- chen Schutz und Unterstützung bei den be- zen, um einen Mangel an erwachsenen Solda-
den (Bangert 2004). Weltweit sind schät- waffneten Gruppen, weil sie, ihre Eltern oder ten auszugleichen. Kinder werden vor allem in
zungsweise zwischen 500 und 800 Millionen Gemeinschaften aus ethnischen, politischen, lang andauernden Konflikten rekrutiert, in de-

206
Kindersoldaten

BEWAFFNET BEWACHEN waltigt und sexuell versklavt. Allerdings wird


KINDERSOLDATEN EINE auch über Jungens berichtet, denen dies wi-
STRASSE IN BUNIA derfährt. Die 14-jährige Concy A. wurde aus
(KONGO). NACH Kitgum in Uganda von der Lord Resistance
UN-ANGABEN VOM Army (LRA) in den Sudan verschleppt und er-
30.6.2003 ÜBERFALLEN zählte: „Ich wurde einem Mann zugeteilt, der
REBELLEN IN DEN gerade seine Frau ermordet hatte. Ich bekam
AFRIKANISCHEN BÜRGER- kein Gewehr, half aber bei den Entführungen
KRIEGSLÄNDERN LIBERIA und den Lebensmittelplünderungen der Dorf-
UND KONGO GEZIELT bevölkerung. Mädchen, die sich weigerten und
SCHULEN UND KRANKEN- keine LRA- Frauen werden wollten, wurden zur
HÄUSER, ENTFÜHREN Abschreckung öffentlich hingerichtet“ (Global
MÄDCHEN UND Report an Child Soldiers 2001). Auch in Ko-
ZWINGEN JUNGEN ZUM lumbien werden Mädchen in den bewaffneten
KRIEGSDIENST. Gruppen oftmals sexuell missbraucht. Die ko-
picture alliance / dpa lumbianische Guerillabewegung (Fuerzas Ar-
madas Revolucionarias de Colombia/FARC)
vertritt eine Politik der „sexuellen Freiheit“. Es
wird von jungen Mädchen berichtet, denen
zwangsweise ein Pessar eingesetzt wurde. Eine
15-jährige Kindersoldatin war schwanger, als
sie im Kampf getötet wurde.
Sogar in den Streitkräften der industrialisier-
ten Länder kommt es vor, dass junge Rekruten
und besonders Mädchen schikaniert und miss-
braucht werden. In den vergangenen Jahren
wurden Rekruten unter 18 Jahren in der Briti-
schen Armee schikaniert und erniedrigt, dies
schloss Scheinhinrichtungen, Simulation von
Vergewaltigungen, „Regimentsbäder“ in Er-
brochenem und Urin und das erzwungene Es-
nen es schwieriger wird, erwachsene Personen die Wehrbereitschaft oder die Rekrutenzahlen sen von Schlamm ein. Im August 1997 wurde
als Soldaten zu rekrutieren. Oftmals werden gesteigert werden. Tausende von irakischen eine 17-jährige Rekrutin der Britischen Armee
Kinder jedoch ganz bewusst eingezogen, weil sie Kindern zwischen 10 und 15 Jahren waren Mit- während eines Manövers von einem betrunke-
Kinder sind: Kinder sind die billigsten Kämpfer. glied im Ashbal Saddam („Saddams Löwen- nen Ausbilder zu sexuellen Handlungen genö-
Sie essen weniger als Erwachsene und können klub“). In der nach dem Golfkrieg 1991 gegrün- tigt und vergewaltigt. Sie erklärte dem Richter,
ohne Sold in den Krieg geschickt werden. So sind deten Jugendbewegung standen das Training „dass sie nicht geschrieen hat, weil er ein Ser-
die Hälfte der Kämpfer in manchen kolumbiani- an Kleinwaffen, Nahkampfübungen und Unter- geant war und einen höheren Dienstgrad
schen Rebellen- und Partisanenverbänden Kin- richt in Infanterietaktik auf dem Programm. hatte. Man darf den Boss nicht missachten“
der und Jugendliche. Aber nicht nur in Rebellen- In den Vereinigten Staaten gibt es vom Militär (Global Report on Chield Soldiers 2001).
gruppen, sondern auch in Regierungsarmeen in durchgeführte Programme für Kinder ab acht
über 30 Staaten der Welt kämpfen Kinder. Jahre. In den „Young Marines“ tragen Jungen
Kinder können leicht dazu gebracht werden, und Mädchen im Alter von acht bis 18 Jahren AUSWIRKUNGEN AUF DIE KINDER
bedingungslos zu gehorchen und alle Befehle Uniformen, haben militärische Dienstgrade
auszuführen. Oft sind die Kinder noch sehr und nehmen an Exerzierübungen teil. Meist leiden die Kinder(soldaten) ihr Leben
jung, wenn sie Soldat werden. Ihre Persönlich- lang unter ihren Taten. Es ist schwer, sie wie-
keit ist noch lange nicht gefestigt und sie ha- der in die Gesellschaft einzugliedern. Durch
ben noch keine ausgeprägten Moralvorstel- MÄDCHEN ALS KINDERSOLDATINNEN das jahrelangen Leben in einem gewalttätigen
lungen. Das macht sie zu leichten Opfern von Umfeld sind sie in ihrem Sozialverhalten oft
Manipulation und Gehirnwäsche. „Kleine Jun- In vielen Ländern werden auch Mädchen als schwer gestört. Kindersoldaten verlieren ihre
gen machen Sachen, zu denen ausgewachsene Soldaten eingesetzt. Nach Angaben von terre Kindheit, Ausbildungs- und Entwicklungs-
Männer nicht in der Lage wären. Sie haben nie de hommes sollen in manchen Kriegsgebieten möglichkeiten. Sie riskieren zudem körperliche
gelernt, ein Gefühl für Gerechtigkeit zu entwi- 30 Prozent aller Kindersoldaten Mädchen sein. Verletzungen, psychische Traumata und sogar
ckeln“, sagt eine UNICEF-Mitarbeiterin aus Li- Beispielsweise werden in Sri Lanka seit Mitte den Tod (vgl. Steutdner 2001).
beria. Auf der Suche nach Vorbildern möchten der 1980er-Jahre junge tamilische Mädchen, Die Kinder, die als Soldaten rekrutiert werden,
sie den Erwachsenen gefallen. In angespann- oftmals Waisen, systematisch von den opposi- verlieren oft jeden Bezug zu ihrem früheren Le-
ten Situationen gelten sie als „schießfreudi- tionellen „Befreiungstigern für Tamil Eelam“ ben. Besonders belastend für die betroffenen
ger“. Die Unreife der Kinder kann dazu führen, (LTTE) rekrutiert. Als „Birds of Freedom“ be- Kinder ist die Trennung von den Eltern und der
dass sie außerordentliche Risiken auf sich zeichnet, werden sie als Selbstmordattentäte- ursprünglichen Lebensgemeinschaft. Manche
nehmen. Oder um es mit den Worten des Kom- rinnen trainiert. Denn sie können die Sicher- Kinder werden gezwungen, ihre eigene Familie
mandanten einer bewaffneten Gruppe in der heitsmaßnahmen der Regierung besser unter- zu erschießen, damit sie keine Bindung zu ih-
Demokratischen Republik Kongo auszudrü- laufen. rem „früherem“ Leben mehr haben.
cken: „(Kinder) sind gute Kämpfer, weil sie jung Die Kinder werden oft geschlagen, misshan-
sind und sich beweisen wollen. Sie glauben, es delt und gezwungen, Grausamkeiten zu bege-
sei alles ein Spiel, daher sind sie so furchtlos.“ SEXUELLER MISSBRAUCH VON hen. Sie müssen zum Beispiel andere Kinder
Ein ehemaliger Armeeausbilder sagt: „Erwach- KINDERSOLDATINNEN töten, wenn diese fliehen wollten. Kindersol-
sene denken an ihre Familien. Sie haben Angst. daten können oft weder lesen noch schreiben
Die Kleinen denken allein ans Angreifen. Sie Mädchen fliehen oft vor häuslicher Gewalt, und haben keine Ausbildung. Sie erlernen so
sind die brutalsten Gegner“ (Global Report on Ausbeutung oder sexuellem Missbrauch. Ei- auch nicht die notwendigen Kulturtechniken,
Chield Soldiers 2001). nige finden Zuflucht und Bestärkung in den um in einer Zivilgesellschaft friedlich mitein-
In zahlreichen Ländern werden Kinder in Schu- bewaffneten Gruppen, andere hingegen er- ander leben zu können.
len und Jugendorganisationen militärisch trai- fahren, dass sie weiter ausgebeutet werden. Neben dem Risiko, getötet oder im Kampf ver-
niert und politisch indoktriniert. Damit sollen Weibliche Kindersoldaten werden oft verge- letzt zu werden, leiden Kindersoldaten unver-

207
PAUL RUSSMANN

hältnismäßig stark unter der Härte des Militär- 15 Jahre altes Mädchen enthaupteten und mit oder Sexsklavinnen angesehen werden, ob-
lebens. Das Leben als Kindersoldat ist hart. Sie dem Kopf „Fangen“ spielten. wohl zum Beispiel alle der in der Studie „Ju-
müssen schwere Lasten (Waffen, Verwundete, Der Einsatz von Kindersoldaten wirkt sich zu- gendliche – Warum sie Soldat werden“ (2004)
Lebensmittel, Hausrat, Zelte) über weite Stre- dem auf alle in den Konfliktzonen lebende Kin- interviewten Mädchen mitgekämpft haben.
cken schleppen. Essen, sauberes Wasser und der aus: Sie sind generell verdächtig und wer- Reintegrationsprogramme sind lebenswichtig
sonstige Versorgungsgüter (Medikamente) den von den kämpfenden Parteien angegrif- für friedensschaffende Anstrengungen, die
sind knapp. Jüngere Kinder brechen unter den fen. Selbst dann, wenn nur einige wenige Kin- langfristige Stabilität und Entwicklung von
schweren Traglasten zusammen. Unterernäh- der als Soldaten an einem Konflikt beteiligt Nachkriegsgesellschaften. Die Vereinten Na-
rung, Infektionen der Atemwege, Hautkrank- sind, geraten trotzdem alle Kinder der Gegend tionen haben auf die Wichtigkeit der Einbezie-
heiten und andere Beschwerden sind weit ver- unter Verdacht – ob sie Kombattanten oder Zi- hung von Entwaffnung, Demobilisierung und
breitet. vilisten sind, spielt dann keine Rolle mehr. Das Reintegration ehemaliger Kindersoldaten in
Wer sich durch Desertion dem brutalen Dienst UN-Kinderrechtskomitee und der UN-Sonder- Friedensverhandlungen und -vereinbarungen
entziehen will, muss, falls die Flucht scheitert, beauftragte mit dem Aufgabengebiet „Kinder hingewiesen.
mit der Todesstrafe rechnen. Kinder werden in bewaffneten Konflikten“ äußerten sich be- In vielen ehemaligen Kriegsgebieten arbeiten
von den Vorgesetzten als „weniger wertvolle“ sorgt über die außergerichtlichen Hinrichtun- heute Hilfsorganisationen wie terre des hom-
Soldaten angesehen. Dies bedeutet im Kampf, gen, Folterungen und das spurlose Verschwin- mes, um den Kindern bei der Wiedereingliede-
dass sie an besonders gefährlichen Stellen der den von Jugendlichen im Nordosten Indiens. rung in das zivile Leben zu helfen. Wichtig sind
Front eingesetzt werden, zum Beispiel als Sie wurden verdächtigt, mit bewaffneten Suchdienste und Programme zur Familienzu-
Spione, Minenleger und Minensucher. Ent- Gruppen zu kollaborieren. Am 15. August 2000 sammenführung. „Die Arbeit mit Kindersolda-
sprechend hoch ist das Risiko, verletzt oder verwechselte eine Armeeeinheit in Pueblo Rico ten gehört zu den schwierigsten und dankbar-
getötet zu werden. (Kolumbien) eine Klasse auf einem Schulaus- sten Aufgaben, die ein Entwicklungsexperte
Für die kämpfenden Truppen sind verwundete flug mit einer Guerillaeinheit und eröffnete heutzutage übernehmen kann. Ohne die Re-
Kinder eine Belastung. Deshalb werden sie oft das Feuer. Sechs Kinder im Alter zwischen konstruktion des Sozialen kann ihre soziale
verletzt zurückgelassen. Die häufigsten Verlet- sechs und zehn Jahren starben, sechs weitere Reintegration nicht gelingen“, konstatiert
zungen von Kindersoldaten sind Blindheit, wurden verwundet. Thomas Gebauer von der Hilfsorganisation
Taubheit durch Explosionslärm, Verlust von medico international (Grill/Virnich 2003).
Gliedmaßen. Kinder, die in Gefangenschaft ge-
raten, werden wie erwachsene Soldaten be- REHABILITATION UND REINTEGRATION DAMIT KINDER KEINE SOLDATEN WERDEN
handelt. Auf ihr Alter wird keine Rücksicht ge-
nommen. Beim Abschluss von Friedensverträ- In vielen Teilen der Erde wächst die Erfahrung Einige zur Rekrutierung führende Faktoren
gen neigen die Kriegsparteien dazu, die Kinder mit der körperlichen und psychologischen Re- sind bereits vor Ausbruch eines Krieges vor-
und Jugendlichen zu „vergessen“ und ihre habilitation von Kindersoldaten sowie ihrer er- handen, zum Beispiel Armut, häusliche Gewalt
Kriegsbeteiligung zu leugnen. folgreichen Wiedereingliederung in die Gesell- oder Diskriminierung in der Ausbildung. Junge
Kindersoldaten können zudem durch Drogen schaft. Psychologische Erkenntnisse werden Leute neigen dann nicht dazu, sich an einem
und Alkoholmissbrauch gefährdet werden ( sie bei diesen Programmen mit traditionellen Konflikt zu beteiligen, wenn sie in einer glück-
werden auch oft zur Abstumpfung gegen Ge- Bräuchen und Ritualen kombiniert: „Die Zere- lichen, unterstützenden und stabilen Umge-
walt benutzt). Weithin werden sie als billiger monie erreicht, dass die Leute keine Angst bung aufwachsen. Die Umgebung darf nicht
und entbehrlicher Gebrauchsgegenstand an- mehr vor dem Kindersoldaten haben und ihm so verarmt sein, dass den Kindern der Schul-
gesehen. Sie erhalten daher vor dem Frontein- nicht mehr misstrauen. Sie sehen ihn als Bru- besuch verwehrt wird oder sie gezwungen
satz nur wenig oder gar kein Training. In den der und Freund. Das ist möglich, weil der Ju- sind, auf den Schulbesuch zu verzichten, weil
frühen 1980er-Jahren wurden während des gendliche ‚gereinigt‘ wurde und dadurch die sie arbeiten oder den Haushalt führen müssen.
Krieges zwischen dem Iran und Irak Tausende ‚bösen Geister‘ verschwanden. Er wird sein Le- Wenn sie die Schule besuchen, muss diese eine
von iranischen Kinder direkt aus der Schule ben im Militärlager nicht fortsetzen. Die Ge- Ausbildung bieten, die sie interessiert, ihnen
zusammen mit den Revolutionsgarden in die meinschaft gibt ihm nicht mehr die Schuld für spätere Berufsaussichten eröffnet und in einer
Frontlinie geschickt, vielfach mit einem sym- Dinge, die er getan hat, weil man weiß, dass er Umgebung stattfindet, in denen sie weder von
bolischen Schlüssel für das den Märtyrern ver- dazu gezwungen wurde.“ Mit diesen Worten Lehrern noch Schülern erniedrigt, gedemütigt
heißene Paradies versehen. Während des umschreibt Laura, Priesterin einer traditionel- oder körperlich missbraucht werden. Sie müs-
Grenzkriegs zwischen Äthiopien und Eritrea len Kirche, die Ziele der Wiedereingliederung sen zudem in der Lage sein, ihren Lebensun-
wurden bei Massenaushebungen der äthiopi- von ehemaligen Kindersoldaten nach dem terhalt zu verdienen, ohne sich offiziellen oder
schen Regierungsarmee Tausende von Mittel- Ende des Bürgerkrieges in Mosambik (Steutd- irregulären bewaffneten Gruppen anzuschlie-
schülern auf Marktplätzen und in Dörfern ner 2003). ßen. Dies sollte man übrigens nicht nur als po-
zwangsrekrutiert, eine große Zahl wurde bei Der Übergang von einem hochmilitarisierten sitiv für die Kinder und jungen Leute ansehen,
Sturmangriffen in die feindlichen Minenfelder Umfeld in das Zivilleben kann extrem schwie- sondern genauso als wesentlichen Faktor beim
geschickt. rig sein. Besonders schwer ist er für diejenigen, Aufbau einer friedlichen Gesellschaft, weil
Das Verständnis für die psychologischen Aus- die ihre Familien verloren haben oder von ih- Kinder dann nicht mehr so anfällig sind für
wirkungen der Beteiligung von Kindern am nen abgelehnt werden und zudem in Gesell- Aufforderungen der bewaffneten Splitter-
bewaffneten Konflikt beginnt sich erst zu ent- schaften leben, deren soziale Infrastruktur gruppen.
wickeln, besonders für diejenigen Kinder, die durch den jahrelangen Krieg erschüttert wur- Die Zahlen der Rekrutierung von Kindersolda-
Zeuge von Grausamkeiten wurden oder sie de. Besondere Aufmerksamkeit muss in sol- ten würden drastisch sinken, so die oben ge-
selbst begangen haben. Die Zeugenaussage chen Programmen den Erfahrungen und spe- nannte Studie, wenn man die Verantwortli-
eines 14-jährigen Mädchens, das von der Re- ziellen Bedürfnissen der Mädchen gewidmet chen durch nationale und internationale
bellenbewegung Revolutionary United Front werden. Sie werden in Hilfsprogrammen oft- Gerichte zur Verantwortung ziehen würde.
(RUF) in Sierra Leone im Januar 1999 ver- mals übersehen und durch traditionelle pa- Derzeit glaubt keiner der Befehlshaber, dass er
schleppt wurde, verdeutlicht die enormen psy- triarchalische Werte benachteiligt. Denn weib- für die Rekrutierung und den Einsatz von Kin-
chischen Belastungen, denen Kindersoldaten liche Heranwachsende werden häufig in eine dern bestraft werden kann.
ausgesetzt sind: „Ich habe gesehen, wie Men- Gesellschaft „wiedereingegliedert“, die ihre Zum anderen: Nicht alle Jugendlichen, selbst
schen die Hände abgeschnitten wurden, wie Haltung zu Mädchen und ihrer Rolle in der Ge- wenn sie besonders gefährdet sind und unter
ein 10-jähriges Mädchen vergewaltigt wurde sellschaft nicht verändert hat, so dass Miss- „besonders risikoreichen“ Umständen leben
und dann starb, und wie so viele Menschen le- brauch und Ausbeutung weiterhin wahr- müssen, (arme Familien, Leben in einer Kriegs-
bendig verbrannt wurden (…). So oft habe ich scheinlich sind. Hinzu kommt, dass viele Mäd- zone, keine Schule oder Arbeit und ohne
still in mein Herz geweint, weil ich nicht laut chen von der Demobilisierung ausgeschlossen Familie, oder mit einer Familie, in der sie miss-
zu weinen wagte.“ Aus Algerien gibt es einen werden, weil sie nicht als „echte Soldaten“, braucht werden), schließen sich dem Kampf
Bericht über etwa 12-jährige Jungen, die ein sondern als Marketenderinnen, Ehefrauen an.

208
Kindersoldaten

AUF DEM WEG ZU EINEM dern in bewaffneten Konflikten verstoßen.“ Bis heute haben 115 Staaten das Zusatzproto-
WELTWEITEN VERBOT Angemahnt wird nachdrücklich, dass „diejeni- koll zur UN-Kinderrechtskonvention zum Ver-
gen, die für Völkermord, Verbrechen gegen die bot des Kriegseinsatzes von Kindern und Ju-
Auf internationaler Ebene gelang es in den Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und andere gendlichen unter 18 Jahren unterzeichnet. 67
letzten Jahren Fortschritte zu erzielen, um den abscheuliche Verbrechen an Kindern verant- Länder haben das Abkommen ratifiziert – da-
Einsatz von Kindersoldaten weltweit zu äch- wortlich sind, strafrechtlich zu verfolgen“ runter auch Afghanistan. Deutschland unter-
ten. Die 1989 verabschiedete und heute fast seien. Nach dem Statut des Internationalen zeichnete das Dokument am 6. September
weltweit ratifizierte UN-Kinderrechtskonven- Gerichtshofes in Den Haag kann als Kriegsver- 2000 – die Ratifizierung steht bis heute aus
tion definiert im ersten Artikel ein Kind als brecher verurteilt werden, wer unter 15-Jäh- (Ahlers 2004). Bisher ist eine Ratifizierung die-
„Mensch, der das Alter von 18 Jahren noch rige in den Krieg schickt. Die Resolution ent- ses Zusatzprotokolls zur UN-Kinderrechtskon-
nicht erreicht hat, so weit die Volljährigkeit hält eine Reihe konkreter Aufforderungen an vention in Deutschland gescheitert, weil das
nach dem für die Kinder anzuwendenden die betroffenen Regierungen bzw. Konfliktpar- Verteidigungsministerium darauf beharrt,
Recht nicht früher eintritt.“ Trotzdem setzt das teien, „die Einziehung oder den Einsatz von weiterhin jedes Jahr mehrere Hundert 17-jäh-
Übereinkommen für die militärische Rekrutie- Kindern sofort einzustellen“ und alles „zum rige Freiwillige aufzunehmen. Zwar erlaubt
rung und die Beteiligung an bewaffneten Kon- Schutz und zur Rehabilitation der von bewaff- auch das Zusatzprotokoll die Rekrutierung von
flikten das niedrigere Alter von 15 Jahren fest; neten Konflikten betroffenen Kinder“ zu tun. Minderjährigen, sofern sie nicht in Kampfein-
gleichzeitig appelliert sie an die Staaten, bei sätze geschickt werden. UNICEF und Nichtre-
Rekrutierungen unter 18 Jahren die Ältesten gierungsorganisationen setzen sich jedoch
vorrangig heranzuziehen (Artikel 38). SOLDATEN UNTER 18? dafür ein, die 18-Jahre-Grenze bedingungslos
Seit 1993 bemüht sich das UN-Kinderrechts- anzuerkennen und keine Minderjährigen mehr
komitee, die Bestimmungen zum Einsatz von Niemand unter 18 darf gezwungen werden, in zu rekrutieren.
Kindersoldaten zu verschärfen. Neuen Schub bewaffnete Streitkräfte oder bewaffnete Das Zusatzprotokoll ist ein wichtiges Instru-
bekam diese Debatte durch die bahnbre- Gruppen einzutreten (einschließlich der Wehr- ment zur politischen Ächtung des weltweiten
chende UN-Studie zu Kindern in bewaffneten pflicht in Regierungsarmeen) und niemand Missbrauchs von Kindern als Soldaten. Es ver-
Konflikten (1995). Der UN-Generalsekretär, das unter 18 Jahren darf in Kampfeinsätze ge- bietet den Kriegseinsatz von Kindern und Ju-
Kinderhilfswerk UNICEF, der UN-Hochkommis- schickt werden. Noch vor wenigen Jahren ver- gendlichen unter 18 Jahren. Bei der Verab-
sar für Menschenrechte, der Sonderbeauftrag- traten eine Reihe von Regierungen die An- schiedung des Dokuments im Jahr 2000 hat-
te des UN-Generalsekretärs für das Aufga- sicht, dass der Einsatz von unter 18-Jährigen ten sich die Regierungen jedoch leider nicht
bengebiet „Kinder und bewaffnete Konflikte“, im Kampf völlig in Ordnung sei. auf eine klar definierte Altersgrenze von 18
viele Regierungen, Regionalzusammenschlüs- Soll es Regierungen erlaubt sein, Freiwillige im Jahren einigen können und die Rekrutierung
se und Nichtregierungsorganisationen ver- Alter zwischen 16 und 18 für ihre Streitkräfte von „Freiwilligen“ ab 15 Jahren außerhalb von
langen, dass die militärische Rekrutierung und anzuwerben? In diesem Zusammenhang wur- Kampfeinsätzen erlaubt.
die Beteiligung von Kindern unter 18 Jahren den übrigens die „kulturellen Unterschiede“ Aus friedenspolitischer Sicht ist die wirksam-
an Feindseligkeiten verboten wird. zwischen Industriestaaten und dem Rest der ste Prävention gegen die Rekrutierung von
Die UN-Vollversammlung verabschiedete am Welt überstrapaziert, wenn man bedenkt, dass Kindersoldaten jedoch die Ächtung des Krie-
25. Mai 2000 das Fakultativprotokoll zum in erster Line solch „entwickelte“ Länder wie ges als Mittel der Politik und als Mittel zur Ver-
„Übereinkommen über die Rechte des Kindes“ das Vereinigte Königreich, die USA, Kanada, folgung wirtschaftlicher Interessen.
über die Beteiligung von Kindern in bewaffne- Neuseeland, die Niederlande (und die früheren
ten Konflikten. Das Zusatzprotokoll hebt das britischen Kolonien in Südasien) darauf be-
Mindestalter für die direkte Beteiligung an standen, unter 18-Jährige zu rekrutieren und
Kampfhandlungen, die Wehrpflicht und für auch überhaupt keinen Grund gesehen haben, LITERATUR
jede Form der Rekrutierung durch bewaffnete sie nicht in Kampfeinsätze zu schicken. In den Ahlers, S.: Kindersoldaten kehren ins Zivilleben zurück. In:
Gruppen von 15 auf 18 Jahre an. Außerdem industrialisierten Ländern nimmt die Tendenz Die Welt v. 20.01.2004
werden die Regierungen aufgefordert, das zu, zugunsten von Berufsarmeen aus Freiwilli- Bangert, K.: Kleinwaffen in Kinderhänden – kinderleicht
zu bedienen. In: Im Visier: Heckler & Koch, Freiburg
Mindestalter anzuheben und strikte Sicherun- gen die Wehrpflicht abzuschaffen bzw. auszu- 2004, S. 17
gen für jede Form der Rekrutierung von Frei- setzen. Dies führt zu Problemen bei der Auf- Brett, R./McCallin, M.: Kinder, die unsichtbaren Soldaten.
willigen unter 18 Jahren einzuführen. Kinder rechterhaltung der Truppenstärke und übt ei- Norderstedt 2001
Coalition to Stop the Use of Child Soldiers (Hrsg.): Global
als Kriegswaffen einzusetzen, ist unter allen nen erheblichen Druck auf die Senkung des Report on Child Soldiers 2001. London 2002 (vgl. auch
Umständen inakzeptabel. Viele Länder erhöh- Rekrutierungsalters aus. unter: www.child-soldiers.org)
ten das Mindestalter zur militärischen Rekru- Grill, B./Virnich, B.: Krieg der Kinder. In: Die Zeit, Nr.
36/2003
tierung auf mindestens 18 Jahre. Sogar einige
Keitetsi, C.: Sie nahmen mir die Mutter und gaben mir ein
der nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen Gewehr. Mein Leben als Kindersoldatin. München 2002
haben internationale Verpflichtungen zur Ein- Merk, H.: Ugandas gequälte Kinder. In: Frankfurter Rund-
haltung dieses Standards akzeptiert. schau v. 19.07.2004
Rühle, A.: Die Armee der Wegwerfmenschen. In: Süddeut-
Die UN selbst haben ein Mindestalter von 18 sche Zeitung v. 20.06.2003
Jahren für die Teilnahme von Zivilpolizei und Steudtner, P.: Die soziale Eingliederung von Kindersolda-
Militärbeobachtern an UN- Friedensmissionen UNSER AUTOR ten. In: Berghof Report Nr. 6/März 2001
festgelegt. Am 22. April 2004 verabschiedete Steudtner, P.: Von bösen Geistern befreit. In: Querbrief
3/2003
der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1539, in Paul Russmann, Voigt, J.: Willige, genügsame Killer. In: Freitag 22 – Die
der – zum wiederholten Mal – auf die unbe- Jahrgang 1955, Ost- und Westzeitung v. 26.05.2000
friedigende Situation von Kindern in Kriegs- lebt und arbeitet in terre des hommes/Quäker-Hilfe Stiftung (Hrsg.): Jugend-
liche – Warum sie Soldat werden. Osnabrück 2004
und Bürgerkriegsgebieten aufmerksam ge- Stuttgart. Der ge-
macht wird. Der Sicherheitsrat stellt darin fest, lernte Bankkauf-
„dass beim Schutz von Kindern, die von be- mann und Diplom- E-MAIL-ADRESSEN
waffneten Konflikten betroffen sind, zwar theologe arbeitet FÜR WEITERE INFORMATIONEN:
Fortschritte erzielt wurden, insbesondere im als Referent bei der Kinderrechte@tdh.de
Bereich des Einsatzes für ihre Interessen sowie ökumenischen Frie- www.Kindersoldaten.de
der Aufstellung von Normen und Standards“, densorganisation
dass jedoch „Fortschritte am Boden insgesamt „Ohne Rüstung Le-
ausgeblieben sind und Konfliktparteien nach ben“. Er ist Mitglied
wie vor straflos gegen die einschlägigen Be- im Vorstand des Dachverbandes der Kriti-
stimmungen des anwendbaren Völkerrechts in schen Aktionäre und Sprecher des Deut-
bezug auf die Rechte und den Schutz von Kin- schen Aktionsnetzes „Kleinwaffen Stoppen“.

209
HUMANITÄRE HILFE ZWISCHEN ALLEN FRONTEN

Humanitäre Hilfe – Das Dilemma


der Hilfsorganisationen
CATHERINE GÖTZE

nimmt somit der Mensch einen absoluten Platz im Sie ist bedingungslos, d.h. dass sie nicht nach der
Universum ein, seine Existenz wird zum Ausgang Gesinnung der Hilfsbedürftigen fragt. Bernard
Humanitäre Hilfe beruht auf dem Gedan-
weiteren menschlichen Handelns. Humanitäre Hilfe Kouchner, Mitbegründer der Hilfsorganisation
ken, dass jeder einzelne Mensch ein An-
kommt sowohl in gewalttätigen Auseinanderset- Ärzte ohne Grenzen, verglich daher die humanitäre
recht auf körperliche Unversehrtheit und
zungen zum Tragen als auch in Naturkatastrophen. Hilfe mit der Notfallmedizin. Ebenso wenig wie der
damit auf Schutz vor Schmerz und Ge-
In ihrer Grundidee ist sie eine Nothilfe, d.h. dass sie Chirurg keinen Einfluss darauf hat, ob der Motor-
walt hat. Als Nothilfe ist sie zunächst be-
direkt und prompt nach einer Katastrophe einsetzt, radfahrer nach der Operation wieder auf seine Ma-
dingungslos und fragt nicht nach der
egal ob eine solche natürlicher, technischer oder schine steigen wird, kann die humanitäre Hilfe da-
Gesinnung der Hilfsbedürftigen. Unab-
kriegerischer Art ist. Sie besteht meist in einer Le- rauf Einfluss nehmen, ob der soeben versorgte
hängigkeit vom politischen Kontext und
bensmittelhilfe und Notfallmedizin, umfasst aber Mensch nach der Operation wieder eine Kalaschni-
Neutralität gegenüber den Kriegspartei-
auch Tätigkeiten wie Aufbau und Leitung von kow in die Hand nehmen wird. Humanitäre Hilfsor-
en sind leitende Grundprinzipien ihrer
Flüchtlingslagern, Wasserversorgung oder Infra- ganisationen sehen sich weder als Friedens- noch
Arbeit. Humanitäre Hilfe beruht auf der
strukturprojekte. als Menschenrechtsorganisationen. Ihnen geht es
Existenz von einigen Grundregeln des
Völkerrechts und benötigt die Duldung
„humanitärer Räume“, innerhalb derer
Hilfe geleistet werden kann. Gerade
weil humanitäre Grundregeln des Völ-
kerrechts von den Gewaltakteuren der
neuen Kriege missachtet werden, ist die
Gefahr groß, dass humanitäre Hilfe zwi-
schen die Fronten gerät und zum Spiel-
ball der Kriegsparteien wird. Auch die
finanzielle Abhängigkeit der Hilfsorgani-
sationen lässt sie leicht zum Instrument
öffentlicher und staatlicher Geldgeber
werden. Auswege aus dieser Situation
sind nur schwer zu finden. Ein zentraler
Punkt scheint die Neudefinition des hu-
manitären Raumes zu sein. Dies gelingt
jedoch nur, wenn die Rolle der Staaten-
LANGE KANISTER-
gemeinschaft als Garant des Völker-
SCHLANGEN IN EINEM
rechts neu überdacht wird. Dies wird für
FLÜCHTLINGSLAGER IN
das sensible Verhältnis zwischen Hilfs-
DER PROVINZ SÜD-
organisationen und Geberinstitutionen
DARFUR DES SUDAN.
und damit für die schwierige Balance
ARABISCHE REITER-
zwischen Neutralität und Indienstnahme
MILIZEN TERRORISIEREN
der humanitären Hilfe wohl nicht ohne
IM SUDAN DIE AFRIKA-
Folgen bleiben. Red.
NISCHSTÄMMIGE BEVÖL-
KERUNG UND HABEN
HUNDERTTAUSENDE VER-
TRIEBEN. HUMANITÄRE
HILFE BERUHT AUF DEM
DIE GRUNDIDEE HUMANITÄRER HILFE GEDANKEN, DASS JEDER
EINZELNE MENSCH
Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der ALLEINE WEGEN SEINES
Kriege und unaussprechlicher Grausamkeit. Es war MENSCHSEINS EIN AN-
aber auch das Jahrhundert der globalen Solidarität RECHT AUF UNVERSEHRT-
und weltumspannenden humanitären Hilfe. 1901 HEIT UND SCHUTZ VOR
erhielt Henri Dunant, der Begründer des Roten GEWALT, SCHMERZ UND
Kreuzes, den ersten Friedensnobelpreis, 1999 die AGGRESSION HAT.
Hilfsorganisation Médecins sans Frontières/Ärzte picture alliance / dpa
ohne Grenzen. Beide Entwicklungen gehören – lei-
der – zusammen. Krieg und humanitäre Hilfe sind
eng miteinander verbunden und beide Phänomene
haben im 20. Jahrhundert einen fundamentalen Vornehmlich interessiert hier die humanitäre Hilfe nicht um Gerechtigkeit und ihnen geht es auch
Wandel durchgemacht. in kriegerischen Auseinandersetzungen, weil sie nicht um Frieden, sondern einzig um das Recht auf
Humanitäre Hilfe beruht auf dem Gedanken, dass je- am meisten mit Problemen und Dilemmata kon- Leben jedes einzelnen Menschen.
der einzelne Mensch alleine wegen seines Mensch- frontiert ist. Das Ziel humanitärer Hilfe in Kriegen
seins ein Anrecht auf physische Unversehrtheit und ist nicht die Veränderung des Kriegsgeschehens,
damit auf Schutz vor Gewalt, Schmerz und Aggres- gar die Beendigung von Kriegen, sondern alleine DER HEHRE GRUNDSATZ HÄLT DER
sion hat. Dieses Anrecht – das ist der Kern des hu- die Humanisierung von Kriegen. Sie ist auf den ein- REALITÄT NICHT STAND
manitären Hilfsgedankens – existiert per se, a priori zelnen Hilfsbedürftigen, ob verletzter Soldat oder
und vollkommen unabhängig von den äußeren hungernder Zivilist, gerichtet und blendet dement- Ganz nach dem englischen Sprichwort „The way to
Umständen, die das Menschenleben gefährden. sprechend den politischen Kontext, der die Notsi- hell is paved with good intentions“ ist aber der
Wie der französische Philosoph Luc Ferry schreibt, tuation hervorgebracht hat, aus. hehre Grundsatz der humanitären Hilfe mit einer

210
Humanitäre Hilfe – Das Dilemma der Hilfsorganisationen

sehr viel komplexeren Realität konfrontiert. Huma-


nitäre Hilfsorganisationen handeln nicht nur in po- GRUNDSÄTZE DER GENFER KONVENTION
litischen Kontexten, ihr eigenes Handeln ist eben-
falls, oftmals entgegen ihrem Willen, ein Politikum. Ziel der Genfer Konventionen ist die Begrenzung der Kriegsführung. Die Konvention besteht aus ei-
Ob die Organisationen dies wollen oder nicht – hu- nem komplexen Bündel an völkerrechtlichen Vorschriften, die in sechs Verträgen mit mehr als 600 Ar-
manitäre Hilfe ist in die vielschichtigen Abhängig- tikeln zusammengefasst sind. In ihrem Kern stehen einige fundamentale Prinzipien:
keits- und Machtverhältnisse heutiger globaler Po- ■ Personen, die nicht oder nicht mehr an Feindseligkeiten teilnehmen, haben Anrecht auf besonde-
litik eingebunden. Dies äußert sich nicht zuletzt ren Schutz und menschenwürdige Behandlung. Ihnen ist, ohne jegliche Diskriminierung, angemes-
darin, dass die rechtliche Grundlage, auf der huma- sene Hilfe zukommen zu lassen.
nitäre Hilfe international möglich ist, nämlich das ■ Kriegsgefangene oder andere Gefangene sind menschenwürdig zu behandeln. Sie müssen gegen
Völkerrecht, ein Recht der Staaten ist und diese in jegliche Gewalt, insbesondere gegen Folter geschützt werden. Sie haben Anrecht auf faire gericht-
letzter Instanz die Garanten seiner Existenz sind. liche Verfahren.
Die Verwebung der humanitären Hilfe mit den kon- ■ Die Wahl der Kriegsparteien, welche Mittel der Kriegsführung sie einsetzen, ist begrenzt. Die Mit-
kreten Machtverhältnissen in der Welt und die tel der Kriegsführung dürfen keinen überflüssigen Schaden oder unnötiges Leiden zufügen.
Schwierigkeit, in den „neuen Kriegen“ neutral, un- ■ Um die zivile Bevölkerung zu schützen, müssen die Streitkräfte zu jeder Zeit zwischen ziviler Be-
abhängig, unparteilich und bedingungslos zu han- völkerung und zivilen Zielen auf der einen sowie militärischem Personal und militärischen Zielen
deln, münden in eine Vielzahl von Dilemmata für auf der anderen Seite unterscheiden. Weder die Zivilbevölkerung noch zivile Einrichtungen dürfen
die Hilfsorganisationen. Ziele militärischer Angriffe sein.
Diese Prinzipien des humanitären Völkerrechts sind unter allen Umständen bindend und es sind keine
Ausnahmen zugelassen.
PREKÄRE ARBEITSTEILUNG ZWISCHEN
STAAT UND PRIVATER INITIATIVE

Im Juli 2004 verklagte der holländische Staat die In vielen bewaffneten Auseinandersetzungen der ten. Die Anerkennung und Dankbarkeit für die neu-
Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen auf Scha- heutigen Zeit existieren aber weder Lazarette noch trale und unparteiliche Arbeit durch lokale Autori-
densersatz. Der Staat hatte einen Mitarbeiter der eine Trennung von Zivilisten und Kombattanten. In täten ist wiederum der beste Schutz für die Mitar-
Organisation, der in Dagestan, einer Nachbarrepu- den Konflikten lassen sich häufig nicht mehr zwei beiter der Organisation.
blik der Kriegsregion Tschetschenien, entführt wor- Seiten eindeutig voneinander unterscheiden. Die Allerdings sind Dankbarkeit und Anerkennung aus-
den war, mit einem Lösegeld von einer Millionen Kämpfer sind nicht Teil regulärer Armeen mit gesprochen prekäre Garantien, denn sie beruhen je-
Euro freigekauft. Die Organisation hatte jedoch die klaren Entscheidungs- und Verantwortlichkeitshie- weils auf der Annahme, dass die Verletzung der Sol-
Hilfe des Staates zurückgewiesen und weigerte rarchien. Die Krieger unterstehen selten einer politi- daten und das Leid der Zivilisten nur Nebeneffekte
sich in Folge, das Lösegeld sowie die Ausgaben der schen Gewalt, die diese kontrollieren und gegebe- eines politischen Handelns sind – Mittel, um andere
Repatriierung zurückzuzahlen. Diese Anekdote nenfalls disziplinieren könnte. Loyalität zur krieg- politische Ziele zu erreichen. Der Krieg muss in die-
zeugt von der konfliktreichen Beziehung zwischen führenden Gruppe wird oft durch gemeinsames ser Logik die Fortsetzung der Politik sein, denn nur
humanitärer Hilfe und staatlicher Politik. Morden und Marodieren, durch Plündern und Aus- dann sind der „Wert“ (ihr moralischer und ihr mate-
Die humanitäre Hilfe beruht seit jeher auf einer beuten anstatt durch Fahneneide, Orden, monatli- rieller) der Krieger und der Bevölkerung auch wert-
prekären und paradoxen Arbeitsteilung zwischen chen Sold und Kriegsgerichte hergestellt. Kriegsziele volle Verhandlungsgegenstände, durch welche Zu-
Staat und privater Initiative. Der Großteil der hu- sind nicht mehr so eindeutig wie es im Falle territo- geständnisse und Kompromisse erzielt werden
manitären Hilfsorganisationen möchte von Staa- rialer Eroberungskriege der europäischen Moderne können.
ten unabhängig sein, und zwar nicht aus kapriziö- war. Individuelle Bereicherung und Gruppenberei-
ser Eitelkeit, sondern weil eine solche politische cherung stehen im Vordergrund, sodass Krieg und
Unabhängigkeit als notwendig für die Bewegungs- Kriminalität eng miteinander verwoben sind. HUMANITÄRE HILFE BENÖTIGT DULDUNG
freiheit der Organisation angesehen wird. Unab- In einer solchen Situation ist vor allem der Grund-
hängigkeit von der Politik des Ursprungsstaates, satz der Neutralität schwer zu befolgen. Wenn es Humanitäre Hilfe kann nur dort existieren, wo sie ge-
Unparteilichkeit gegenüber den Hilfsbedürftigen unklar ist, wer am Konflikt beteiligt ist, kann auch duldet wird. Dies war bereits im 19. Jahrhundert so.
und Neutralität gegenüber den Kriegsparteien – so nur schwer deutlich gemacht werden, dass man Der Ursprungsgedanke humanitärer Hilfe war auf
lauten drei Grundprinzipien des Internationalen keine Gruppe unterstützt. Wenn nun ein westlicher der Vorstellung einer Arbeitsteilung zwischen Staa-
Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), die von einem Staat seiner Verantwortung, die eigenen Bürger zu ten und humanitären Hilfsorganisationen aufge-
großen Teil der Hilfsorganisationen übernommen schützen, nachkommt, und sich so in den Konflikt baut, die deutlich an die wohlfahrtstaatliche Ar-
worden sind. Alle drei Prinzipien sollen vermeiden, einmischt, steigt die Verwirrung nochmals an. beitsteilung zwischen Staat und privatem Dritten
dass die Helfer und ihre Schutzbefohlenen, die Denn der holländische Staat wird zum Beispiel im Sektor erinnert. Eine solche Arbeitsteilung beruht
Hilfsbedürftigen, in die Konflikte einbezogen wer- tschetschenischen Konflikt nicht als neutral, son- auf der gegenseitigen Stützung der Tätigkeit und auf
den und es zu Ungerechtigkeiten und Diskriminie- dern als ein mit der Regierung Vladimir Putins be- der Existenz eines öffentlichen Raumes, in dem Pri-
rung in der Hilfsverteilung kommt. freundeter Staat wahrgenommen. Für die holländi- vatinitiative gesamtgesellschaftlich nutzbar ge-
sche Hilfsorganisation besteht dann die Gefahr, macht werden kann. Vor allem aber beruht diese Ar-
dass sie auch nicht mehr als neutral wahrgenom- beitsteilung auf der Bedingung, dass eine solche
HUMANITÄRE HILFE BERUHT men wird. Unter anderem aus diesem Grund hat Privatinitiative überhaupt möglich ist. Privatinitia-
AUF DEM VÖLKERRECHT sich die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen ge- tive ist immer abhängig davon, dass sie vom Staat
gen die Verhandlungen und die Lösegeldzahlung ermöglicht wird und dass dieser sein Gewaltmono-
Gleichzeitig beruht aber humanitäre Hilfe auf der holländischen Regierung verwahrt.1 Paradoxer- pol zu ihrem Schutz einsetzt. Eine eigene Verhand-
der Existenz von einigen Grundregeln des huma- weise muss die Organisation den Schutz ihrer eige- lungsmacht hat die Privatinitiative gegenüber dem
nitären Völkerrechts, dessen Garanten letztend- nen Regierung zurückweisen, um die Sicherheit ih- Staat kaum, außer wenn sie von diesem rechtlich er-
lich die Staaten dieser Welt sind. Eine dieser rer Mitarbeiter vor Ort garantieren zu können. mächtigt wurde, so wie dies für das Rote Kreuz im
Grundregeln ist eben diese, dass Hilfsorganisa- Kriegsfall durch die Genfer Konventionen gesche-
tionen und die Hilfsbedürftigen unter Schutz ste- hen ist.
hen – man schießt nicht auf Sanitäter! Humani- NEUTRALITÄT SCHÜTZT DIE HELFER Die Genfer Konventionen stellen den Versuch dar, die
täre Hilfe ist nur im Rahmen eines konkreten und Prinzipien der humanitären Hilfe und ihre Schutz-
virtuellen „humanitären Raumes“ möglich. Mate- Denn die Neutralität ist in den „neuen Konflikten“ bedürftigkeit in verbindliche Rechtsvorschriften zu
rialisiert hatte sich dieser humanitäre Raum in den oft das einzige Mittel, um die Sicherheit der Mitar- fassen. Doch selbst wenn sie mit ihren Zusatzproto-
Lazaretten und Sanitätskorridoren der europäi- beiter vor Ort zu gewähren. Sie ist ein zentrales Ele- kollen auch für Bürgerkriegssituationen gelten sol-
schen Kriege des 19. Jahrhunderts und in der kla- ment der Verhandlungen, die die Hilfsorganisatio- len, so sind sie nur für die Unterzeichnerstaaten
ren Trennung zwischen Zivilisten und Kombattan- nen mit den lokalen Warlords führen müssen, um wirklich verbindlich und nicht für Rebellenfraktio-
ten. Zugang zur hilfsbedürftigen Bevölkerung zu erhal- nen, Räuberbanden oder Warlords. Und wie fast alle

211
CATHERINE GÖTZE

EIN ROT-KREUZ-HELFER TRÄGT IN EINEM NOTHILFE-


LAGER IN DER NÄHE VON KISANGANI EIN KRANKES
FLÜCHTLINGSKIND AN ZAIRISCHEN REBELLENKÄMPFERN
VORBEI. DIE LAGE DER RUANDISCHEN FLÜCHTLINGE
SPITZTE SICH 1997 DRAMATISCH ZU. GERADE WEIL
HUMANITÄRE GRUNDREGELN DES VÖLKERRECHTS VON
DEN GEWALTAKTEUREN DER NEUEN KRIEGE MISSACHTET
WERDEN, IST DIE GEFAHR GROSS, DASS DIE HUMANITÄRE
HILFE ZWISCHEN DIE FRONTEN GERÄT.
picture alliance / dpa

Vorschriften des Völkerrechts ist auch das humani-


täre Völkerrecht faktisch (nicht de jure!) sanktions-
frei. Im Endeffekt können also die humanitären
Hilfsorganisationen den humanitären Raum nur im
Namen der Humanität einklagen, aber sie haben
weiter keine Rechts- oder anderweitig verbindli-
chen Ansprüche auf ihn. Erst mit den Strafgerichts-
höfen zum ehemaligen Jugoslawien, zu Ruanda
und jüngst mit dem Internationalen Strafgerichts-
hof sind internationale juristische Instrumente ent-
standen, um Verletzungen der Genfer Konventionen
zu ahnden.
Hilfsbedürftigen erneut Verhandlungssache zwi- nen ethnische Animosität ein wichtiges Konflikte-
schen der Organisation und den lokalen Machtha- lement ist, dieses Argument nicht sehr wirkungs-
DILEMMATA DER HUMANITÄREN HILFE bern. Médicins sans Frontièrs hat sich im Juli 2004 voll, da die existenzielle Schädigung der anderen
VOR ORT aus Afghanistan zurückgezogen, nachdem fünf ih- Volksgruppe erklärtes Kriegsziel ist. Humanitäre
rer Mitarbeiter getötet worden waren. Hilfe soll nicht zu ihrem Bestimmungsort gelangen
Das bereits bestehende Prekarium der Arbeitsvor- und diese Strategie ist oft erfolgreich. So berichtete
aussetzungen für humanitäre Hilfe wird dort ver- der UNHCR (United Nations High Commissioner for
stärkt, wo es keine Staaten mehr gibt – und das sind HILFSLIEFERUNGEN DIENEN DER Refugees/Der Hohe Flüchtlingskommissar der Ver-
heutzutage viele Einsatzgebiete der humanitären KRIEGSWIRTSCHAFT einten Nationen) im Falle des Krieges in Bosnien,
Hilfe. Anders als die Pauschalbezeichnung „neue dass im Jahr 1993 nur ungefähr die Hälfte sei-
Kriege“ vermuten lässt, ist festzuhalten, dass sich die Sehr viel problematischer stellt sich die Situation ner Hilfe wirklich geliefert werden konnte und das
Situationen bewaffneter Konflikte vielfach unter- dar, wenn die Hilfslieferungen der Organisationen Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK)
scheiden. Dementsprechend bestehen auch ver- zu regelmäßigen Einnahmequellen der Kriegsgrup- konnte nur ungefähr zehn Prozent seiner üblichen
schiedenartige Gefährdungen von Mitarbeitern und pen werden. Dies ist meist der Fall, wenn den Hilfsleistungen erbringen.
Dilemmata für humanitäre Hilfsorganisationen. Kriegsgruppen kaum andere Ressourcen zur Verfü- Die Mechanismen, die in „simplen“ Konfliktsitua-
Die simpelste Form der Gefährdung ist die des Rau- gung stehen, um ihre Kriegsanstrengung zu näh- tionen Wirkung entfalten, zum Beispiel die enge
bes oder der Entführung, um Lösegeld zu erpressen. ren und der Konflikt eine solche Intensität hat, dass Zusammenarbeit mit der einheimischen Bevölke-
Da diese Übergriffe auf humanitäre Hilfsorganisa- er großer Finanzierungsanstrengungen bedarf. So rung, können in diesem Fall nicht wirken. In Kon-
tionen durch Gier verursacht sind, stellen sie keine wurden zum Beispiel in Bosnien, wo den Kriegs- flikten wie in Bosnien kann der Rückgriff auf ein-
politischen Herausforderungen an die Organisa- gruppen keine Rohstoffe wie Diamanten, Rausch- heimische Mitarbeiter sogar eine zusätzliche Ge-
tionen. Meistens lässt sich das Risiko von Überfällen gifte oder Öl zur Verfügung standen und illegaler fährdung bedeuten. So berichtete ein IKRK-Mitar-
dieser Art erheblich reduzieren, wenn einheimische Handel nur in einem kleinen Ausmaß möglich war, beiter, dass das Komitee ab einem bestimmten
Mitarbeiter eingestellt werden, lokale Machtgleich- die internationalen Hilfslieferungen ein wichtiger Zeitpunkt im bosnischen Konflikt Chauffeure aus
gewichte zwischen Clans, Familien und politischen Bestandteil der Kriegswirtschaft. neutralen Ländern Westeuropas engagieren mus-
Autoritäten beachtet werden und die ausländischen In einer solchen Situation müssen die Hilfsorga- ste. Lokale Mitarbeiter wurden in den jeweils an-
Mitarbeiter der Hilfsorganisationen interkulturelles nisationen den Vorwurf ernst nehmen, dass ihre dersethnischen Gebieten attackiert und Mitarbei-
Feingefühl zeigen. Ein langfristiges und breites An- Hilfslieferungen die Weiterführung der Kriege erst ter aus NATO-Ländern wurden von Kroaten und
gebot an Hilfsleistungen, vor allem medizinischer ermöglichen. Sicherlich bedeutete ein Ende der Serben gleichermaßen mit Misstrauen beäugt und
Art, an die gesamte Bevölkerung wird meist von lo- Hilfslieferungen nicht ein Ende der Feindseligkeiten, ebenfalls tätlich angegriffen.
kalen Warlords und Kleptokraten höher geschätzt da diese wie in Bosnien nicht alleine auf das Motiv Viele Organisationen sehen sich gezwungen, auf die
als eine kurzfristige Bereicherung durch den Dieb- der Bereicherung zurück zu führen sind.2 Aber den- Forderungen der lokalen Warlords einzugehen und
stahl eines Toyota-Jeeps. Außerdem berechnen die noch bleibt das Dilemma bestehen, dass der Krieg die Wegzölle zu bezahlen sowie die von den Milizen-
meisten Hilfsorganisationen einen gewissen „Rei- durch Hilfslieferungen genährt wird, sich so verlän- führern bestimmten Gruppen der Bevölkerung zu
bungsverlust“ durch Unterschlagungen oder Dieb- gert und dann wiederum erst das Leid schafft, das versorgen. In Konflikten wie in Bosnien bedeutete
stahl bereits in ihre Bedarfsplanung ein. So ge- die humanitäre Hilfe notwendig macht. Die Hilfs- dies, dass die Hilfe nicht nach dem Kriterium der Be-
nannte Low Intensity Conflicts, die sich über Jahre leistungen werden so Teil der Kriegsspirale. dürftigkeit vergeben wird, sondern entsprechend
oder Jahrzehnte in einer Region hinziehen, ohne der territorialen Zugänglichkeit des Kriegsgebietes.
dass sich die Machtgleichgewichte entscheidend Solche Kompromisse werden in Kauf genommen,
ändern, stellen solche Arbeitssituationen mit einer IM SPANNUNGSFELD ETHNISCHER um auch die Not leidende Bevölkerung versorgen zu
„simplen“ Gefährdung dar. Auf diese Weise arbeitet ANIMOSITÄTEN können – die Frage, ob dies nicht ein falscher Kom-
zum Beispiel die deutsche Hilfsorganisation medico promiss ist, bleibt jedoch offen.
seit langem in der Westsahara und der französische Um ihren Auftrag zu erfüllen ohne Teil des Krieges
Zweig der Organisation Ärzte ohne Grenzen ver- zu werden, müssen die Hilfsorganisationen den
sorgte über ein Jahrzehnt lang die Bevölkerung im freien Zugang zu der Not leidenden Bevölkerung UNGEWOLLTE KOMPLIZENSCHAFT
Einflussbereich der Nordallianz in Afghanistan. von Fall zu Fall neu verhandeln. Ihre Verhandlungs-
Dennoch bleiben solche Situationen prekär, denn macht ist aber gering. Die Unterstützung durch die Solche Kompromisse sind nicht nur grundsätzlich
Änderungen im Kriegsgeschehen, wie zum Beispiel lokale Bevölkerung kann dem Grundsatz, dass Hilfe problematisch, weil nur solche Organisationen die-
die US-amerikanische Intervention in Afghanistan, gleichmäßig für alle Seiten geleistet werden soll sen gerecht werden können, die wie das IKRK oder
stellen die Position der Hilfsorganisationen in Frage. und deswegen Freizügigkeit notwendig ist, Ge- der UNHCR eine große Versorgungskapazität ha-
Dann ist die Sicherheitssituation der Helfer und der wicht verleihen. Allerdings ist in Konflikten, in de- ben (der UNHCR hatte 1993 ein Versorgungsziel

212
Humanitäre Hilfe – Das Dilemma der Hilfsorganisationen

von 8000 Tonnen pro Woche). Kleine Organisatio- dert und mit den humanitären Korridoren, die im schoben. Insbesondere bei ECHO, das inzwischen
nen mit zwei oder drei Mitarbeitern und ein paar Rahmen der französischen Militärintervention der größte Geldgeber für humanitäre Hilfe ist, sieht
Tonnen Hilfsgütern, die die Mehrzahl der Hilfsorga- Opération Turquoise eingerichtet wurden, ver- die Ausgabenkurve fast deckungsgleich mit der
nisationen stellen, können ein solches „auch“ nicht sucht. Diese Lösung aber versetzt die Hilfsorgani- Kurve der Medienaufmerksamkeit für bestimmte
verhandeln. Ihre Hilfsleistungen enden meist gänz- sationen ebenfalls in eine schwierige Lage, da Krisen aus. Privatspenden steigen ebenfalls in dem
lich in den Händen der lokalen Kriegsherren. durch die Intervention von Drittmächten in lokale Maße an, in dem die Medien über die Landstriche
Ethisch noch fragwürdiger wird die Tätigkeit der Konflikte die Grundsätze der Unabhängigkeit und und Krisen berichten. Auch die Nähe zum Ereignis
Hilfsorganisationen, wenn sie indirekt zu Kompli- der Neutralität gefährdet sind. Kein Staat der Welt spielt eine große Rolle. Die bis heute am stärksten
zen von Völkermord und Vertreibung werden. An- kann glaubwürdig vertreten, dass seine militäri- mediatisierte und in jeder Hinsicht überfinanzierte
gesichts des humanitären Imperativs sind Hilfs- sche Intervention ausschließlich humanitär moti- Krise war der Kosovokrieg 1999.
organisationen mehr oder weniger gezwungen, die viert sei. Angesichts geostrategischer Interessen Insgesamt bedeutet das, dass realiter das Leid in der
Folgen von Vertreibungen aufzufangen. Für die- erscheinen Hilfsorganisationen aber nicht mehr als Welt mit mehrerlei Maß gemessen wird. So hielt sich
ses Dilemma war der Krieg in Bosnien ebenfalls eigenständige Akteure, sondern als moralische 1999 hartnäckig das Gerücht, dass für jeden Dollar,
exemplarisch. Unter dem Druck der ethnischen, sys- Puffer für staatliche Politik. Für viele Kriegsherren der für einen Flüchtling in Ruanda ausgegeben
tematischen Vertreibungspolitik verlangten große ist es dabei unwichtig, ob die intervenierende mili- wurde, 30 Dollar für einen Kosovo-Flüchtling zur
Teile der Bevölkerung humanitäre Hilfe und den tärische Macht von einem Staat oder von der Staa- Verfügung standen. Auch wenn diese Zahlen nicht
Schutz der großen Organisationen wie UNHCR tengemeinschaft in Form von UN-Friedenstruppen genau überprüfbar sind, so zeigen sie doch in ekla-
oder IKRK, um vor den serbischen, kroatischen oder gebildet wird. Nicht umsonst verwahren sich die tanter Weise den verschiedenen „Wert“ eines afri-
bosniakischen Milizen fliehen zu können. Damit meisten Hilfsorganisationen dagegen, dass mili- kanischen und eines europäischen Opfers auf.
wurde aber der Strategie der „ethnischen Säube- tärische Feldzüge „humanitäre Intervention“ ge- Große humanitäre Hilfsorganisationen wie das
rung“ Vorschub geleistet. Die Hohe Kommissarin nannt werden. Rote Kreuz oder Ärzte ohne Grenzen verfügen über
für Flüchtlingsfragen dieser Zeit, Sadako Ogata, Dieser Streit um ihre Neutralität, den die Hilfsorga- die Kapazitäten, auch mit großzügigen Finanzie-
brachte dieses Dilemma auf den Punkt: „Wenn Sie nisationen mit den Staaten austragen, vertuscht rungsangeboten so umzugehen, dass Projekte in
diese Menschen rausholen, werden Sie zu einem aber die realen Gefahren der Instrumentalisierung anderen Weltregionen nicht gefährdet werden.
Komplizen ethnischer Säuberung. Wenn Sie sie humanitärer Hilfe durch die Politik ihrer Geldgeber. Manchmal können sie sich sogar den Luxus leisten,
nicht rausholen, werden Sie zu einem Komplizen Denn tatsächlich kann humanitäre Hilfe staatlich öffentliche Gelder abzulehnen, wenn sie sich zu
von Mord.“3 instrumentalisiert werden. Das Mittel hierzu ist die sehr instrumentalisiert fühlen. Das heißt aber
Im Falle des bosnischen Konfliktes konnte Ogata die Finanzierung der Hilfsorganisationen. Diese sind in nicht, dass die Bundesregierung oder ECHO oder
Flüchtlingsversorgung noch damit rechtfertigen, großem Maße von öffentlichen Geldern abhängig, andere Geberinstitutionen nicht ihr Geld loswer-
dass tatsächlich Menschenleben gerettet wurden. auch wenn sich viele Hilfsorganisationen bemü- den. Da wo viele Gelder sind, wird es auch viele
Leider gibt es aber auch die noch grausameren Fälle, hen, einen Teil ihres Budgets über private Spenden Nichtregierungsorganisationen geben, die bereit
dass gerade Flüchtlingslager zu Zielen militärischer einzutreiben. Laut Joanna Macrae vom Oversea De- sind, diese Gelder dort auszugeben, wo es ge-
Angriffe werden – so wie es in den Kriegen in Libe- velopment Institute in London gelingt es aber nur wünscht ist. Die Regionen der Welt, die von den
ria oder Sierra Leone immer wieder der Fall war. den großen Organisationen, die Hälfte ihres Bud- Geberinstitutionen ignoriert werden, sind dann auf
Hilfsorganisationen, die solche Flüchtlingslager un- gets über Spenden zu finanzieren. Kleinere Organi- die gesunde Haushaltsführung einiger großer Hilfs-
terhalten und durch ihre Tätigkeit die Vertriebenen sationen sind fast vollständig von öffentlichen organisationen angewiesen, die dort Projekte aus
anziehen und lokal konzentrieren, werden dann un- Geldern abhängig.4 Eigenmitteln durchführen können.
gewollt Komplizen von Vertreibung und Mord. Dementsprechend sind die meisten Organisationen
Ein weiteres Problem solcher Flüchtlingslager wur- nicht unbedingt dort, wo die Not am größten ist,
de insbesondere in Ruanda im Sommer 1994 deut- sondern dort, wo die Geldgeber ihnen finanzielle POLITISCHE INSTRUMENTALISIERUNG
lich. Die humanitären Korridore, die eigentlich die Mittel zur Verfügung stellen. Besonders eklatant HUMANITÄRER HILFE
verfolgte Tutsi-Bevölkerung schützen sollten, bo- war dies 1999 nach den Bombardierungen der
ten letztendlich den Kämpfern der Hutu im Laufe NATO in Jugoslawien zu beobachten. Der Großteil Aufgrund ihrer Finanzierungsmacht stehen den
des Vormarsches der Tutsi-Armee auf Kigali eine der Zerstörungen durch die Bombardierungen Staaten drei Möglichkeiten zur Verfügung, huma-
Rückzugsbasis. Die permanente Installation der La- hatte in Jugoslawien stattgefunden, dort waren nitäre Hilfe politisch einzusetzen. Zum ersten kann
ger, die Versorgung durch die Hilfsorganisationen auch große Teile der Bevölkerung durch eben diese humanitäre Hilfe dort zum Einsatz gebracht wer-
und die Kampfruhe auf dem Gebiet der Lager ha- Zerstörungen arbeitslos geworden und alle Sozial- den, wo militärisch nicht interveniert werden kann
ben diese in vielen Kriegsregionen zu Rekrutie- und Gesundheitsindikatoren zeigten bereits im oder soll. Humanitäre Hilfe hat einen Platzhalteref-
rungs- und Ausbildungszentren für die Kriegs- Herbst 1999 und im Winter 2000 eine alarmierende fekt. Sie beruhigt das öffentliche Gewissen. Denn
gruppen werden lassen. Sie dienen weiterhin oft als Situation an. Da aber nicht nur die Bomben, son- es wird ja etwas getan, um Not leidenden Men-
Versteck für Waffen und als Rückzugsbasis für dern auch die Finanzmittel für humanitäre Hilfe schen zu helfen – auch wenn nicht das wirklich
Kampftruppen. Der Schutz für die Zivilbevölkerung, aus den NATO-Ländern kamen, gab es im Herbst Notwendige unternommen wird, nämlich die Be-
der die Dauerhaftigkeit der Lager rechtfertigt, wird 1999 im Kosovo eine internationale Hilfsorganisa- endigung des bewaffneten Konfliktes.
somit zu einem Deckmantel für kriegerische Aktivi- tion pro 7000 Einwohner5 und in Jugoslawien im Manchmal entspringt die sicherheitspolitische
täten. In solchen Situationen verwischen nicht nur Frühjahr 2000, das damals noch von Milošević re- Enthaltsamkeit westlicher Staaten der Ratlosigkeit
die Grenzen zwischen Zivilisten und Kombattanten, giert wurde, noch immer keine zwanzig für acht darüber, wie diese kriegerischen Auseinanderset-
sondern auch zwischen Opfern und Verursachern Millionen Einwohner.6 zungen gelöst werden können. Die Bürgerkriege in
von Leid. Die Idee der humanitären Hilfe beruht Angola, in Liberia oder auch in Kambodscha und Sri
aber auf einer eindeutigen Zuschreibung des Op- Lanka dauerten (und dauern immer noch) mehrere
ferstatus – ein Verursacher von Leid hat per defini- MEDIEN, POLITISCH „RELEVANTE“ KRISEN Jahrzehnte, ehe schwierige Verhandlungen einen
tionem keine Hilfe nötig. Wenn diese Zuschreibung UND GELDFLUSS gewissen Zustand des „Nichtkrieges“ – von Frieden
nicht mehr klar ist, wer hat dann noch Anrecht auf kann oft keine Rede sein – ermöglichten.
humanitäre Hilfe? Öffentliche Geldgeber sind vor allem die Entwick- Wissenschaftliche Untersuchungen haben zwar
lungshilfe- und Außenministerien der OECD-Staa- gezeigt, dass von Dritten oktroyierte Friedensab-
ten, das Office for the Coordination of Humanita- kommen in Bürgerkriegen von größerer Dauer sind
FINANZIELLE ABHÄNGIGKEIT DER rian Assistance (OCHA) der UN sowie das in der Eu- als unter den Kriegsparteien verhandelte.7 Doch
HILFSORGANISATIONEN ropäischen Union 1994 eingerichtete European sind auch solche Friedensabkommen noch brüchig
Community Humanitarian Office (ECHO). In sol- und – und dies ist in der konkreten Politik der wich-
Militärischer Schutz für die Not leidende Bevölke- chen Krisen, die die nördlichen Staaten als politisch tigste Punkt – man weiß immer noch zu wenig dar-
rung durch eine externe Macht könnte eine Lösung relevant ansehen, wird den Hilfsorganisationen über, wie im jeweils konkreten Fall dem Töten ein
für diese Dilemmata darstellen. Im Falle des ruan- mehr zur Verfügung gestellt. Wenn das Aufsehen Ende gesetzt werden kann. Das Scheitern der Frie-
dischen Völkermordes wurde diese Lösung auch gar besonders groß ist, wie 1999, wird sogar noch densmission in Somalia 1993, die Brüchigkeit der
von Médecins Sans Frontières Frankreich eingefor- ein staatlicher Nachtragshaushalt hinterher ge- Friedensabkommen in Angola, in Sierra Leone, in

213
CATHERINE GÖTZE

Kongo/Zaire oder im Tschad sind nur einige Bei- Die dritte Möglichkeit, humanitäre Hilfe zu instru- Bosnien, Kosovo oder Afghanistan nicht möglich.
spiele für die Schwierigkeit, aktiv in „neue Kriege“ mentalisieren, besteht darin, sie als Konditionali- Ohne humanitäre Hilfe wäre auch die Akzeptanz
zu intervenieren. sierung für politisches Wohlbenehmen einzuset- von kriegerischem Verhalten demokratischer Staa-
zen. Humanitäre Hilfe wird zu einem Pfand für an- ten in der Öffentlichkeit kaum zu rechtfertigen. Die
dere Verhandlungsgegenstände. Der eklatanteste staatliche Politik braucht also die humanitäre Hilfe.
STAATLICHE PASSIVITÄT WEGEN Fall hierfür ist sicherlich der Nordkoreas. Der be- Der Schaden, der durch die Politisierung der huma-
MANGELNDEM INTERESSE ständigen Drohung des obskuren kommunisti- nitären Hilfe angerichtet wurde, hat aber die Vor-
schen Regimes, Nuklearwaffen herzustellen oder teile individueller Strategien noch nicht so redu-
Manchmal lässt sich die Passivität westlicher Staa- sogar zum Einsatz zu bringen, wird nicht nur mit ziert, dass die Organisationen einen Anreiz zum
ten auf ihr mangelndes Interesse an dem entspre- dem Stock der Sanktionen und Repression begeg- kollektiven Handeln hätten. Todesfälle von Mitar-
chenden Landstrich zurückführen. Der Sudan ist si- net, sondern auch mit der Karotte humanitärer beitern bleiben Einzelfälle und können der Nach-
cherlich ein gutes Beispiel hierfür. Das Land, das seit Hilfe. Beobachter wie Michael Schloms9 oder das lässigkeit der einzelnen Organisation angelastet
über 30 Jahren im Bürgerkrieg ist, kommt immer frühere Direktoriumsmitglied von Médecins sans werden. Skandale um das Versickern von Geldern
wieder, meist während des medialen Sommerlochs, Frontières Jean François sehen in der Erpressung oder um eklatante Missbräuche von Machtposi-
in die Schlagzeilen, so wie im Sommer 2004 mit den internationaler Hilfe sogar eines der ursprüngli- tionen wie der Skandal um sexuelle Nötigung in
Vertreibungen in der westlichen Region Darfur. Die chen Ziele des nordkoreanischen Nuklearwaffen- westafrikanischen Flüchtlingslagern, der 2001
Konfliktlage mit ihrer Vielzahl von Akteuren und In- programms.10 Humanitäre Hilfsorganisationen er- durch die Medien ging, werden meist schnell er-
teressenlagen ist für Außenstehende vollkommen halten große Teile der nordkoreanischen Bevölke- stickt oder ebenfalls einzelnen Organisationen, den
unüberschaubar. Da das Land wirtschaftlich seit sei- rung am Leben, die ansonsten einer gravierenden „schwarzen Schafen“, bzw. einzelnen Mitarbeitern
ner Unabhängigkeit an der Peripherie der Welt Hungersnot, die die Folge eines vollkommen un- angelastet.
dahin vegetiert, wenig Rohstoffe von großem In- produktiven und maroden Wirtschaftssystems ist,
teresse zu bieten hat, geostrategisch noch nie be- zum Opfer fallen würden. Andere Fälle, in denen
sonders relevant war und einzig als Hinterland des humanitäre Hilfe als Pfand fungierte, ist die groß- VEREINZELTE ANSÄTZE DER
Terroristennetzwerkes Al-Qaida Aufmerksamkeit zügige Hilfe für Albanien und Mazedonien im Früh- KOORDINIERUNG
auf sich zieht, besteht die Reaktion auf die kriegeri- jahr 1999 und danach, damit die Regierungen die-
schen Grausamkeiten vor allem in einer morali- ser Länder trotz innenpolitischer Schwierigkeiten Es wird zwar heutzutage in verschiedenen Kreisen
schen Empörung. So äußerte sich zwar der ehema- die große Zahl an Flüchtlingen aus dem Kosovo an gewissen Fragen der Koordinierung gearbeitet –
lige amerikanische Außenminister Colin Powell im empfangen konnten. so hat die Rotkreuzbewegung versucht, mit dem
September 2004 entsetzt über die Massaker und SPHERE-Projekt11 technische Qualitätsstandards zu
Vertreibungen in der westsudanesischen Provinz setzen; es gibt Selbstverpflichtungen und Codes of
Darfur und bezeichnete diese als einen Genozid. Er GERINGE KOORDINIERUNG ZWISCHEN Conduct12; auch über einen „Ombudsmann“ für die
lehnte aber jede Form der militärischen Intervention DEN ORGANISATIONEN Hilfsbedürftigen wurde nachgedacht. In Deutsch-
ab, obwohl die Charta gegen Genozid und Massen- land wurde ein gemeinsamer Studiengang für hu-
mord nach einer militärischen Intervention im Falle Entgegen ihrem eigenen Anspruch, unabhängig manitäre Hilfe eingerichtet. Weiterhin haben sich
von Völkermord verlangt. Dieser völkerrechtlichen und neutral zu sein, können sich also die humani- viele Organisationen im Humanitarian Practice
Vorschrift zum Trotz behauptete Colin Powell: „Die tären Hilfsorganisationen nicht dem Druck entzie- Network und im Active Learning Network for Ac-
Feststellung, dass es sich um einen Genozid handelt, hen, den die Geberinstitutionen über ihrer Finanz- countability and Performance zusammengeschlos-
diktiert keinen Handlungszwang. Bisher bezeichnen mittel auf sie ausüben. Humanitäre Hilfe verteilt sen, um Erfahrungen zu technischen Fragen auszu-
nur wir die Situation als Genozid, nicht aber die in- sich dementsprechend ungerecht über die Welt. Ein tauschen, Standards zu harmonisieren und ge-
ternationale Gemeinschaft.“8 nicht unerheblicher Teil der Schuld für die Instru- meinsame Kontrollinstrumente zu entwickeln.
Ein wieder anderes Szenario ist die militärische mentalisierung liegt bei den Hilfsorganisationen Doch bleibt festzuhalten, dass diese Koordinierun-
Enthaltsamkeit aus Furcht, sich bei der Einmi- selbst. Diese sind untereinander kaum koordiniert, gen sich hauptsächlich auf technische Fragen be-
schung in die Konflikte die Finger zu verbrennen. In denn das klassische Dilemma kollektiven Handelns ziehen und dass diese Netzwerke bei weitem nicht
diesen Fällen sind die internationalen Verknüpfun- kommt bei ihnen besonders stark zum Tragen. Jede alle Organisationen umfassen. Im Gesamtbild blei-
gen so eng und interdependent, haben sich so viele einzelne Hilfsorganisation sieht mehr Vorteil darin, ben diese Versuche vereinzelt, inkohärent und
verschiedene Interessengruppen gebildet und sind alleine zu handeln, alleine die Gelder der Geberins- manche verlaufen im Sande wie das Ombuds-
die Machtkonstellationen so beschaffen, dass die titutionen einzustreichen, alleine in ein Einsatz- mann-Projekt, da es zwischen den Organisationen
OECD-Staaten es vorziehen, nicht direkt zu interve- gebiet zu gehen und ihr Fähnlein in ihrem Flücht- und auch zwischen den Netzwerken nur eine sehr
nieren. Dies ist besonders der Fall, wenn einer der lingslager aufzustellen, vor dem dann ihre Mit- widerwillige und geringe Zusammenarbeit gibt.
ihren in den Konflikt direkt involviert ist. Der Scha- arbeiter Fernsehinterviews geben, als mit allen Aus diesem Grund sind auch alle diese Regelungen
den, der durch eine direkte militärische Interven- anderen Hilfsorganisationen Strategien zur Finan- weit entfernt davon, über nationale Gesetzestexte
tion begangen werden könnte, wird als sehr viel zierung und Projektplanung abzusprechen. Ge- eine legale Bindungskraft zu erhalten. Die Ver-
größer als irgendein Nutzen angesehen. Der Kon- meinsame Positionen sind schwer zu finden, da die pflichtungen sind damit auf allen Seiten gering: die
flikt in Tschetschenien ist hierfür ein gutes Beispiel, Organisationen oftmals unterschiedliche Weltbil- Hilfsorganisationen können, müssen sich aber
aber auch der israelisch-palästinensische Konflikt. der haben (manche haben einen religiösen Hinter- nicht an die verschiedenen Codes of Conduct hal-
In beiden Fällen wird humanitäre Hilfe geleistet, grund wie Caritas International, manche sind Ein- ten, die an sich schon vage und allgemein formu-
aber politisch wird eine Konfliktlösung nur mit al- mann-Betriebe wie Cap Anamur, wieder andere se- liert sind. Handlungsfähige Geberstaaten unterlie-
lergrößter Vorsicht angegangen. hen sich als professionelle Serviceleister wie Ox- gen fast gar keiner Verpflichtung, zu welchen Zwe-
fam), verschiedene Meinungen zu zentralen Fragen cken sie Gelder einsetzen oder ob und wie sie den
wie der zivil-militärischen Zusammenarbeit pfle- Wildwuchs der Hilfsorganisationen kontrollieren.
HILFE ALS „NACHSORGE“ UND gen und sie sich vor allem in Größe und Erfahrung
KONDITIONALISIERUNG erheblich unterscheiden. Kollektives Handeln wird
daher als zeitaufwändiger und kostspieliger ange- HUMANITÄRE HILFE SPIEGELT DIE
Die zweite Art und Weise, wie humanitäre Hilfe ins- sehen als individuelles, auch wenn das Ergebnis MACHTVERTEILUNG
trumentalisiert werden kann, stellt das Gegenteil kollektiven Handelns für alle Vorteile bringen
der soeben beschriebenen Form dar. Humanitäre würde. Humanitäre Hilfe ist in vielfacher Hinsicht in die re-
Hilfe kann auch als eine Art „Nachsorge“ nach ei- Gemeinsam hätten die Hilfsorganisationen gegen- alen Machtverhältnisse und Abhängigkeiten die-
ner militärischen Intervention großzügig finanziert über den Geberinstitutionen eine große Verhand- ser Welt eingewoben. Sie ist daher politisch nicht
werden. Dies war nach dem Krieg gegen den Irak im lungsmacht. Denn alle drei Formen der Politisie- so unschuldig wie es der rein humanistische An-
Jahr 1991 der Fall, ebenso nach den Bombardierun- rung humanitärer Hilfe durch die nördlichen Staa- spruch vermuten ließe. Zunächst ist sie eine Hilfe
gen Jugoslawiens 1999 oder den im Jahr 2002 er- ten verweisen darauf, dass diese die humanitären der Reichen für die Armen. Die Vorstellung er-
folgten Angriffen auf Afghanistan, die den Sturz Hilfsorganisationen brauchen. Ohne humanitäre scheint absurd, dass eine Hilfsorganisation aus
des Taliban-Regimes bezwecken sollten. Hilfe wären die internationalen Mandatschaften in Bangladesch eine Mission nach Florida, das von

214
Humanitäre Hilfe – Das Dilemma der Hilfsorganisationen

einem Wirbelsturm verwüstet wurde, schicken rung der westeuropäischen Territorialkriege zwi- chen sind. Ihr Einfluss ist daher, von spektakulären
würde. Internationale humanitäre Hilfe wird nur schen regulären Armeen gedacht. Sie sollte eine Fällen abgesehen (wie z.B. das Drängen von Méde-
dort geleistet, wo die Gesellschaft sich nicht selber Ergänzung staatlichen Handelns sein und die na- cins sans Frontières Frankreich auf eine militäri-
helfen kann und Menschenleben wegen einem tionalen Rotkreuzgesellschaften haben diese Er- sche Intervention in Ruanda), gering.
eklatanten Mangel an medizinischer Versorgung, gänzungsfunktion sogar in ihren Statuten festge- Aber selbst wenn eine Organisation die Konfliktsi-
Nahrungsmitteln und physischer Sicherheit ge- schrieben. In der Komplexität der Weltpolitik tuation, in der sie arbeitet, analysiert und diese
fährdet sind. Dies ist in Florida nicht der Fall, auch versuchte die neue Generation von Hilfsorganisa- Analyse sie dazu bringt, sich aus dem Einsatzgebiet
nicht nach einem Wirbelsturm, der einen hohen tionen wie Médecins sans Frontières ihre Bewe- zurückzuziehen, bleibt der Gesamteffekt einer sol-
Sachschaden anrichtet. Die amerikanische Gesell- gungsfreiheit zu wahren, indem sie sich von dieser chen Einzelaktion gering. Als Médecins sans Fron-
schaft und der amerikanische Staat sind nicht nur Ergänzungsfunktion radikal abwand und ihre voll- tières zuerst in Äthiopien 1982 und dann später in
reich genug, um medizinische Versorgung, Nah- kommene politische Neutralität und Unabhängig- Nordkorea feststellte, dass der äthiopische bzw.
rungsmittel und physische Sicherheit für ihre Bür- keit deklarierten. nordkoreanische Staat die humanitäre Hilfe zu po-
ger bereitzustellen, sondern sie verfügen auch über Doch zeigen die aktuellen Dilemmata der humani- litischen Zwecken missbrauchte, zog sich die Orga-
eine große Anzahl eigener Solidaritätsorganisatio- tären Hilfe, dass dies noch nicht ausreicht. Im Ge- nisation aus dem Land zurück – und ihr Platz wurde
nen wie dem Roten Kreuz oder den Kirchen, die na- genteil scheint es eher so, dass die humanitären in kürzester Zeit von einer konkurrierenden Nicht-
tional Hilfe leisten. Der Umstand, dass ein und der- Hilfsorganisationen sich ihre politische Unabhän- regierungsorganisation eingenommen.
selbe Wirbelsturm im September 2004 in Haiti über gigkeit nur dann werden wahren können, wenn sie Vielen Hilfsorganisationen fehlen die Kenntnisse
2000 Tote, in Florida aber keinen Todesfall verur- sich wieder mehr für den Staat interessieren. Die und Personalkapazitäten, um gründliche Analysen
sacht hat, sagt viel über das Verhältnis von Arm Schaffung staatlicher Autorität vor Ort kann nicht ihrer Einsatzgebiete und der Wirkung ihrer Hilfe
und Reich in der Welt. nur den Schutz für die Hilfsorganisationen erhö- vorzunehmen. Für Letzteres stehen generell nur
Humanitäre Hilfe ist weiterhin eine Hilfe der Mäch- hen, sondern vor allem die Situation der Hilfsbe- sehr schlechte Messinstrumente zur Verfügung
tigen für die Ohnmächtigen. Nicht die Bedürfnisse dürftigen verbessern. Gleichzeitig müssen sie ihren und oft sind sich die wissenschaftlichen Spezialis-
der Bevölkerung bestimmen, wer Hilfe nötig hat, Einfluss auf die Geberinstitutionen erhöhen, um ten selber nicht einig, welches die Ursachen der
sondern die Macht der lokalen Kriegsherren und mitbestimmen zu können, für welche Regionen un- Konflikte sind und wie in ihnen am besten zu inter-
die Interessen der Geberinstitutionen, die sich in ter welchen Umständen Gelder zur Verfügung ge- venieren sei.
ihrer Finanzierungspolitik widerspiegeln. Die hu- stellt werden.
manitären Hilfsorganisationen berufen sich in all
den daraus entstehenden Dilemmasituationen auf NEUDEFINITION DES HUMANITÄREN
ihren Anspruch der politischen Neutralität und HILFSORGANISATIONEN MÜSSEN RAUMES IST ZENTRAL
verwechseln dabei allzu oft „politisch neutral“ mit STELLUNG BEZIEHEN
„unpolitisch“. Das Handeln humanitärer Hilfsorga- Zentraler Punkt für die Tätigkeit der Hilfsorganisa-
nisationen in Drittländern ist aber per se politisch. Hierzu gehört aber zunächst, dass die humanitären tionen ist die Neudefinition des humanitären Rau-
Die Hilfsorganisationen sind Fahnenträger des rei- Hilfsorganisationen hinsichtlich der Situation in mes. Die Rolle der Staaten als Garanten des huma-
chen Nordens, Vertreters einer westlichen „Ideolo- vielen Kriegsregionen Stellung beziehen. Das Men- nitären Völkerrechts und als Schutz für humanitäre
gie der Hilfe“, sie symbolisieren Dominanz durch schenrecht auf Leben allein ist in der Komplexität Hilfe muss neu überdacht werden. Die Diskussio-
den simplen Fakt, dass sie helfen können und dass heutiger Konflikte eine immer dünnere Legitima- nen um das „Einmischungsrecht“, die nach dem
sie entscheiden, wer Opfer ist, das ihrer Hilfe bedarf tion für humanitäres Handeln. Vielmehr müssen Golfkrieg 1991 und der Hilfsaktionen für die kurdi-
und wer nicht. Die Verteilung der humanitären die allgemeinen Menschenrechte in den Konfliktsi- sche Bevölkerung im Norden des Landes unter-
Hilfe macht den „Wert“ verschiedener Regionen in tuationen eingeklagt, Garantien für ihre Wahrung nommen wurden, boten hierzu Gelegenheit. Sie
der Welt deutlich – so grausam es generell ist, gefordert und Sanktionen für ihre Verletzung an- werden allerdings erst jetzt mit den Überlegungen
Flüchtling zu sein, so ist es allemal besser, ein gedroht werden. Manche Organisationen gehen einer Reform der Vereinten Nationen wieder auf-
Flüchtling in Südosteuropa zu sein als in Zentrala- bereits diesen Weg, in dem sie Advocacy d.h. Lob- genommen und bleiben mit einer Vielzahl von Fra-
frika. byarbeit zugunsten gefährdeter Bevölkerungen be- gen hinsichtlich der Legitimierung von Interventio-
Humanitäre Hilfe ist weiterhin eine Hilfe der Star- treiben und öffentlich internationale Abkommen nen behaftet. Für die Hilfsorganisationen ist die
ken für die Schwachen. Die Kriege und Konflikte, in wie den Internationalen Strafgerichtshof oder das Zusammenarbeit mit dem Militär ein zweischneidi-
denen humanitäre Hilfe geleistet wird, meist aus Landminenabkommen unterstützen. Doch handelt ges Schwert und auch hier herrscht keine Einigkeit
Ermangelung politisch relevanter Alternativen, es sich hier um vereinzelte Organisationen, die zu- unter den Hilfsorganisationen, welche Stellung sie
sind zumeist Konflikte an der Randzone der sich sätzlich noch untereinander minimal abgespro- in der Diskussion um das „Einmischungsrecht“ ein-
globalisierenden Welt. Es handelt sich um Regio- nehmen sollen.
nen, in denen die staatliche Autorität zusammen- Manche Dilemmata lösen sich in einer längeren
gebrochen ist, in denen die Bevölkerungen wider- Zeitperspektive wieder auf. Das ist vor allem der
sprüchlichen und konfliktreichen Modernisie- Fall, wenn die Konflikt- oder Kriegssituation klar
rungsfolgen ausgesetzt sind wie Verstädterung, beendet werden kann. Wenn es eine klar abge-
Zerstörung traditioneller Wirtschaftszusammen- UNSERE AUTORIN grenzte Postkonfliktphase gibt, in der Flüchtlinge
hänge und starker wirtschaftlicher Ausbeutung – und Vertriebene wieder zurückkehren, in der Land-
vor allem in den Regionen, die über Rohstoffe ver- Dr. des. Catherine wirtschaft und andere ökonomische Tätigkeiten
fügen, und die einem rapidem sozialem Wandel Götze studierte Ge- wieder aufgenommen werden können und in der
unterliegen. Trotz des gerne zitierten Vergleichs der schichte und Poli- akute Not abnimmt, können sich die Kompromisse
humanitären Hilfe mit der Notfallmedizin ist diese tikwissenschaft an und Verhandlungen mit den Kriegsparteien ge-
Hilfe nur noch selten sporadisch und kurzfristig. Im der Universität lohnt haben, weil konkret Menschenleben gerettet
Gegenteit – die Provisorien der Flüchtlingslager, Hannover, der FU wurden. Die Region Kosovo-Mazedonien-Albanien
der fliegenden Gesundheitsstationen und der kurz- Berlin und am In- könnte ein solcher Fall der Rückkehr zur Normali-
fristig angelegten Nahrungsmittelhilfe werden zu stitut d’Etudes Poli- tät werden, wenn es gelingen sollte, die Region
Dauereinrichtungen. Sie werden somit zu Projek- tiques de Paris. Von schlussendlich zu befrieden.
ten des Social Engineering in den Schattenzonen 1997 bis 2002 war
des Globalisierungsprozesses. sie wissenschaftli-
che Mitarbeiterin ENTWICKLUNGSHILFE UND
am Wissenschaftszentrum Berlin und an ei- HUMANITÄRE HILFE
AUSWEGE SIND SCHWIERIG ZU FINDEN nem DFG-Projekt, das sich mit dem Themen-
feld Humanitäre Hilfe beschäftigte, beteiligt. Doch der Fall, dass die Kriegssituation eine Aus-
Humanitäre Hilfe findet heutzutage in einem ganz Seit 2002 ist Catherine Götze wissenschaft- nahme zu einem ansonsten nicht gewalttätigen, ja
anderen Kontext statt, als der, für den sie geschaf- liche Mitarbeiterin an der Hessischen Stif- sogar friedlichem Gesellschaftsleben darstellt, ist
fen wurde. Sie war als ein Element zur Humanisie- tung für Friedens- und Konfliktforschung. extrem selten. Vielmehr gelten die meisten Krisen

215
CATHERINE GÖTZE

als dauerhaft (protracted crisis) und stellen den ren Raum. Den Geberinstitutionen, die diesen macht der humanitären Hilfsorganisationen. Ein ko-
Normalfall im Land dar. Seit langem wird daher die neuen Ansatz vertreten, geht es nicht mehr nur um ordinierter Ansatz kann helfen, einige der Dilem-
Forderung erhoben, Entwicklungshilfe und huma- Armutsbekämpfung, sondern um umfassende In- mata vor Ort zu lösen, wenn zum Beispiel die eine
nitäre Hilfe in der Form zusammenzubringen, dass terventionen in Krisenregionen, in denen mit mili- Organisation nicht mehr einfach gegen eine andere
den Konflikten die Grundlagen entzogen werden, tärischen, entwicklungspolitischen und humanitä- ausgetauscht werden kann. Er kann auch dazu die-
indem politische Stabilität und wirtschaftliche Ent- ren Mitteln stabile Staaten hervorgebracht werden nen, dass auf die Realisierung der bereits schriftlich
wicklung in den Ländern etabliert werden. Lange sollen. Administrative Schritte zur Umsetzung des festgelegten Normen des internationalen Systems,
Zeit war diese Forderung des „Kontinuums“ an die Konzepts wurden bereits in mehreren OECD-Staa- wie die Genfer Konventionen oder die Menschen-
Hilfsorganisationen gerichtet und schien eher dem ten durch die Schaffung von ministeriumsüber- rechtscharta, gedrungen wird und internationale
Zweck zu dienen, die Entwicklungshilfe an die me- greifenden Abteilungen für humanitäre Hilfe und Institutionen wie der Internationale Strafgerichts-
dial und finanziell attraktive humanitäre Hilfe an- Human Security unternommen. hof auch wirklich funktionstüchtig werden. Huma-
zudocken. Ihr unterlag weiterhin die Vorstellung, Für humanitäre Hilfsorganisationen hat die Ver- nitäre Hilfe muss sich tatsächlich in ein Kontinuum
dass Kriege ähnlich wie Naturkatastrophen plötzli- stärkung dieses Konzeptes zwei Vorteile. Zum einen mit anderen internationalen Politikmaßnahmen
che, eruptive Ausnahmeerscheinungen einer Nor- besteht eine konkrete Hoffnung, dass humanitäre einordnen, allerdings müssen die Hilfsorganisatio-
malität seien, die es im Anschluss an die Nothilfe Hilfe in Zukunft eher unter Schutz gestellt sein nen ihren Platz selber wählen.
wieder herzustellen gelte. wird als bisher. Zum anderen enthebt die direkte
Doch der Anschlag vom 11. September 2001 hat Einmischung der OECD-Staaten in Krisen und Krie- ANMERKUNGEN
viele internationale Organisationen und die Regie- ge die Hilfsorganisationen des Dilemmas, wie ihr 1
Ein anderer Grund war die prinzipielle Ablehnung einer Löse-
rungen der OECD-Staaten daran erinnert, dass die Handeln, das immer auch eine Dominanz und so- geldzahlung.
2
Der Krieg ist aber auch nicht nur auf ethnische Animosität zu-
Konflikte der Peripherie und die sie nährende poli- mit politisch ist, legitimiert werden kann. Das Prob- rückzuführen. Die Komplexität seiner Ursachen und Dynamik kön-
tische Instabilität und wirtschaftliche Armut nicht lem, wie die eventuelle Favorisierung der einen nen hier nicht dargestellt werden. Interessierte Leserinnen und Le-
ser seien auf das ausgezeichnete Buch von Xavier Bougarei: Bos-
dauerhaft an der Peripherie bleiben werden. Die über die andere Kriegspartei, wie die Schaffung von nie – Anatomie d’un conflit. Paris 1996, La Découverte verwiesen.
Raffinesse des Anschlags, die weite Verbreitung des Abhängigkeitsstrukturen von der externen Hilfe Auf Englisch ist eine ausgewogene Darstellung nachzulesen bei
Al-Qaida-Netzwerkes und die Internationalität der oder wie die Komplizenschaft mit Menschenrechte Jasminka Udovicki/James Ridgeway (Hrsg.): Burn this House. The
Making and Unmaking of Yugoslavia. Durham and London 1997,
„Märtyrer“ machte schlagartig klar, dass Krieg, verletzenden Kriegsgruppen legitimiert werden Duke University Press.
3
Konflikt und Elend in vielen Teilen der Welt wie Af- kann, liegt nun nicht mehr bei den Hilfsorganisa- Zit. nach Kirsten Young: UNHCR and ICRC in the former Yugos-
lavia: Bosnia-Herzegovina. In: Revue Internationale de la Croix Ruge,
ghanistan oder Sudan eine Normalität ist, in der tionen, sondern bei den intervenierenden Staaten. 83 (843), S. 781-805.
extremistische Widerstände aus der ganzen Welt Mit der Unabhängigkeit, die die humanitären Hilfs- 4 Joanna Macrae/Adele Harmer (Hrsg.): Beyond the continuum:
the changing role of aid policy in protracted crisis. Overseas Deve-
gegen das westliche Modell herangezogen werden. organisationen gerne ihr eigen nennen, wird es al- lopment Institute, HPG Report 18.
Seitdem ist vor allem von Seiten der Geberinstitu- lerdings, wenn die Konzepte von Linking Relief and 5 UNHCR: The Kosovo Refugee Crisis. An Independent Evaluation
tionen, allen voran von der Weltbank und den USA, Human Security umgesetzt werden, ganz offiziell of UNHCR’s Emergency Prepardness and Response. 2000. Unter:
www.unhcr.ch
das Kontinuum erneut in den Vordergrund gerückt vorbei sein. Die bisher implizite Instrumentalisie- 6 Eigene Zählung im Frühjahr 2000.
worden, diesmal aber nicht, um eine virtuelle Nor- rung humanitärer Hilfe wäre dann Teil offizieller Si- 7 Roy Licklider (Hrsg.): Stopping the killing: how civil wars end.
New York 1993; Peter Waldmann: Zur Asymmetrie von Gewalt-
malität herzustellen, sondern um Sicherheit zu ga- cherheitspolitik. Die auf Eigeninitiative beruhende dynamik und Friedensdynamik am Beispiel von Bürgerkriegen und
rantieren. Es geht dabei nicht mehr um Rekon- organisierte Sicherung der humanitären Grund- bürgerkriegsähnlichen Konflikten. In: Wilhelm Heitmeyer/Hans-
struktion, sondern um Konstruktion an sich: State- prinzipien ist also weiterhin notwendig, wenn die Georg Soeffner (Hrsg.): Gewalt. Frankfurt am Main 2004
8 Le Monde v. 09.09.2004
Building, Civil-Society-Building, Democracy-Buil- humanitären Hilfsorganisationen an ihrer Autono- 9 Michael Schloms: North Korea and the Timeless Dilemma of
ding sind die Schlagwörter des neuen Konzeptes mie, die eine condition sine qua non für die Erfül- Aid. Berlin 2000.
10 Vgl. Jean François: Corée du Nord: un régime de famine. In:
zur Verknüpfung von Entwicklungs- und humani- lung ihrer Mission ist, hängen. Einen sicheren Aus- Esprit, Nr. 250/1999, S. 5–27.
tärer Hilfe. weg aus den hier skizzierten Problemen humanitärer 11 Das 1997 gegründete SPHERE-Projekt legt minimale qualitative

Dort, wo das neue Kontinuum-Konzept mit dem Hilfe bietet demnach nur die Überwindung des Di- Anforderungen für Nothilfe fest. Vgl unter: www.sphereproject.org
12 Der Code of Conduct ist ein Verhaltenskodex für Nichtregie-

Konzept „Recht der Einmischung“ verknüpft wird, lemmas kollektiven Handelns und die Etablierung rungsorganisationen. Vgl. unter: www.ifrc.org/publicat/conduct/
entstehen neue Perspektiven auf einen humanitä- einer effizienten und koordinierten Verhandlungs-

Landeszentrale trauert um Hans-Joachim Mann


Wir können die plötzliche und traurige Nachricht vom Tod unseres langjährigen Mitarbeiters und Kol-
legen Hans-Joachim Mann noch immer nicht begreifen. Um seine angeschlagene Gesundheit wussten
wir, aber seine Kraft hatte schon manche Krise überwunden. Mit 64 Jahren hat er uns verlassen.
Hajo Mann gehörte zu den Säulen der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg.
Schon als Student der Politischen Wissenschaften, der Soziologie und des Öffentlichen Rechts in
Tübingen arbeitete Hajo Mann als Referent und freier Mitarbeiter bei der Arbeitsgemeinschaft „Der
Bürger im Staat“, der Vorgängerorganisation der Landeszentrale. 1972 erhielt er eine feste Anstellung
und prägte seitdem die Arbeit der Landeszentrale nachhaltig. Ob als Leiter der Außenstelle Stuttgart
oder als Abteilungsleiter „Regionale Arbeit“ – Ziel seiner Bemühungen um die politische Bildung in der
Demokratie waren kritische, aber engagierte Bürgerinnen und Bürger. Seit Beginn seiner Tätigkeit
hat Hajo Mann immer versucht, Theorie und Praxis zusammenzubringen. Sein Motto hat er einmal
so formuliert: „Man kann andere nicht zum Engagement auffordern und sich selbst vornehm zurück-
halten“. Dieses Motto prägte auch sein partei- und kommunalpolitisches Engagement und seine viel-
fältigen ehrenamtlichen Tätigkeiten.
Hajo Mann war als Kollege beliebt und geschätzt. Auf seinen Rat und seine Offenheit konnte man
stets bauen. Sein Tod ist für uns ein schmerzlicher Verlust.
Lothar Frick Christine Kuntzsch
Direktor Personalratsvorsitzende

216
GENOZIDE UND UN-INTERVENTIONEN

Genozid: Lehren aus dem 20. Jahrhundert und


Herausforderungen für das 21. Jahrhundert
PETER I. TRUMMER

Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert


der Genozide. Erst auf der Folie zweier
Weltkriege und des nationalsozialisti-
schen Völkermordes an den Juden verab-
schiedeten die Vereinten Nationen im
Jahre 1951 die Genozidkonvention. Ge-
nozid ist jedoch kein historisches Phäno-
men. Mit Inkrafttreten der UN-Genozid-
konvention offenbarten sich Widersprü-
che zwischen der moralischen Glaub-
würdigkeit und der mangelnden Inter-
ventionsbereitschaft der internationa-
len Staatengemeinschaft. Vor allem die
zunehmenden UN-Blauhelmeinsätze in
der letzten Dekade zeigen die Grenzen
friedenserhaltender und auch friedens-
erzwingender Maßnahmen. Die von Pe-
ter Trummer vorgestellten Fallbeispiele
(Kambodscha und Ruanda) verdeutlichen
die letztlich unzureichende Handlungs-
fähigkeit der UN-Blauhelmeinsätze. Ef-
fektives internationales Handeln – so die
„Lehre“ aus diesen Fallbeispielen – kann
nur gelingen, wenn eine abgestimmte
Strategie, beginnend bei entsprechen-
den Frühwarnsystemen bis hin zur Pro-
jektion militärischer Macht, und ein po-
litischer Wille zur Durchsetzung dieser
Strategie existiert. Red.

DIE ERSTEN IDENTIFIZIERTEN 600 OPFER DES MASSAKERS VON SREBRENICA (1995) WERDEN AM 31.3.2003
The only thing necessary for the triumph of evil BESTATTET. IM EHEMALIGEN JUGOSLAWIEN ZEIGTE SICH, DASS DIE UN-BLAUHELME IN SITUATIONEN GERIETEN, DIE SIE
is for good men to do nothing. ZWISCHEN REGULÄRE UND IRREGULÄRE KOMBATTANTEN BRACHTEN. OHNE ÜBER ENTSPRECHENDE EINSATZGRUNDSÄTZE
Edmund Burke (1729-1797) ODER KRÄFTE ZU VERFÜGEN, GELANG ES IHNEN NICHT, ZIVILISTEN ZU SCHÜTZEN. picture alliance / dpa

GENOZID IST KEIN Als weitere gewichtige Perspektive ist mit den den Begriff „genocide“ in seiner Studie über
HISTORISCHES PHÄNOMEN zahlenmäßig und im Charakter stark erweiter- die Besatzung der Achsenmächte im besetzten
ten Auslandseinsätzen der Bundeswehr seit Europa.4 Lemkin, ein polnisch-jüdischer Jurist,
Eine Beschäftigung mit den Thema Genozid Beginn der 1990er-Jahre die Frage deutscher hatte bereits in den 1930er-Jahren dem Völ-
führt unmittelbar an die Abgründe menschli- Beteiligung an so genannten humanitären In- kerbund die Verankerung der Ächtung von
chen Handelns und wirft gerade in einer glo- terventionen hinzugekommen. Damit wird die rassischer oder ethnischer Ausrottung vorge-
balisierten Welt tief greifende Fragen auch für primär historisch, am Holocaust orientierte Be- schlagen. Er konnte dem Holocaust durch
den „unbeteiligten Zuschauer“ auf. Genozid ist trachtung um eine aktuelle Dimension erwei- Emigration in die USA entkommen, verlor je-
kein historisches Problem, sondern stellt im- tert, die sich mit Fragen konkreten politischen doch seine gesamte Familie im nationalsozia-
mer auch eine gegenwärtige Herausforderung Handelns befasst. Die Beschäftigung listischen Völkermord.5 Lemkin machte das
an staatliches und nicht-staatliches Handeln mit „Lehren aus dem Holocaust“ für deutsches Anliegen einer Konvention gegen Genozid zu
Dritter dar, wie aktuell die Situation in Darfur/ sicherheitspolitisches Handeln ist somit in seiner persönlichen Mission. Er prägte den
Sudan vor Augen führt. ein neues Stadium „handlungsleitender Lehren“ neuen Begriff genocide, der sich zusammen-
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem eingetreten.3 In der wissenschaftlichen Beschäf- setzt aus dem Altgriechischen genos (= Art,
Thema Völkermord/Genozid ist in Deutschland tigung mit dem Thema Genozid findet diese Spezie, Volk) und cide (= vom Lateinischen
durch drei hauptsächliche Perspektiven ge- praktische sicherheitspolitische Dimension in caedere = töten). Eine Kurzdefinition Lemkins
prägt1: Deutschland bisher jedoch wenig Beachtung. von Genozid lautet: „Ein aus verschiedenen
■ den Debatten um Singularität und Ver- Handlungen bestehender, koordinierter Plan
gleichbarkeit von Völkermorden, die sich zur Zerstörung wesentlicher Grundlagen des
an der Einzigartigkeit des Holocaust orien- URSPRÜNGE DES GENOZIDVERBOTES Lebens nationaler Gruppen, mit dem Ziel der
tieren;2 UND DEFINITIONEN Vernichtung dieser Gruppen selbst.“6
■ den Fragen nach Erklären und Verstehen Die Vereinten Nationen verabschiedeten am
von Völkermord(en); Als „das Verbrechen ohne Namen“ bezeichnete 9. Dezember 1948 die Genozidkonvention und
■ den Fragen von wissenschaftlicher Bearbei- Winston Churchill den Völkermord. Er tat dies sie trat nach der Ratifizierung durch eine aus-
tung und Erinnerung – vor allem des Holo- mit Blick auf die nationalsozialistischen Mas- reichende Zahl von Staaten am 12. Januar
caust. senverbrechen. 1944 prägte Raphael Lemkin 1951 in Kraft.

217
PETER I. TRUMMER

Nach Artikel II wird Völkermord/Genozid darin definiert als: Staaten in der gegenwärtigen Epoche keine
„… eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, Genozide an ihren Bevölkerungen begangen,
ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: auch wenn sie genozidale Regime in anderen
Regionen schützten und unterstützten. Kom-
(a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; munistische Einparteiensysteme hingegen ver-
(b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; übten Genozide mit statistisch nachvollzieh-
(c) Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, baren, deutlich höheren Häufigkeiten als an-
ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; dere autoritäre Staaten; und dass (4) Staaten,
die in Kriege verwickelt sind, mit einer viel-
(d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe fach höheren Wahrscheinlichkeit Genozide ver-
gerichtet sind; üben als andere Staaten.“13
(e) Gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.“7

DAS JAHRHUNDERT DER VÖLKERMORDE


Kritiker merken an, dass die Konvention als boten werden, wie sie im Statut von Rom des
Kompromiss ideologisch unterschiedlich aus- Internationalen Strafgerichtshofes (Interna- Das Studium historischer Fallbeispiele stellt
gerichteter Regime den politischen Massen- tional Criminal Court/ICC) definiert sind. Dort ein wichtiges Feld der wissenschaftlichen Be-
mord durch eine Regierung an eigenen Staats- heißt es: „Persecution against any identifiable schäftigung mit dem Genozid dar. Das Haupt-
bürgern – quasi als innere Angelegenheit des group or collectivity on political, racial, natio- augenmerk ist hierbei auf das 20. Jahrhundert
Staates – nicht erfasst.8 Die Begrenzung bzw. nal, ethnic, cultural, religious, gender (...) or ot- gerichtet, das Genozide in allen Kulturen und
Ausgrenzung zu schützender Gruppen, so her grounds that are universally recognized as auf allen Erdteilen sowie im Kontext unter-
beispielsweise Massenmord und Verfolgung impermissable under international law...“10 Ge- schiedlichster Entwicklungsstufen bis hin zu
wegen abweichender sexueller Orientierung, nozid ist in diesem Kontext als das gravierend- technisierten, „modernen“ Gesellschaften auf-
wurde in der wissenschaftlichen Diskussion ste Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu weist. Der Holocaust und die nationalsozialis-
ebenfalls kritisiert und hat zu einer Reihe dif- verstehen. Die Opfergruppen sind in der Defi- tischen Massenverbrechen sind dabei der am
ferenzierterer Definitionen geführt. Nach R. J. nition des ICC deutlich erweitert und eine Be- besten bearbeitete und dokumentierte Fall, es
Rummel sind dies: schränkung allein auf staatliche Täterschaft existieren aber eine Reihe weiterer Massen-
■ Demozid (als Überbegriff): Die Ermordung wird hier nicht mehr vorgenommen. morde, die im einzelnen Fall Hunderttausende
von Personen oder eines Volkes durch eine Es bleibt festzustellen, dass die Vielfalt von Be- bis Millionen Opfer verursacht haben.14 Allzu
Regierung einschließlich Genozid, Politizid griffsdefinitionen in der wissenschaftlichen oft fanden und finden Völkermorde nur ge-
und Massenmord. Diskussion eine Eingrenzung des Themas na- ringe Aufmerksamkeit in den Medien oder zu
■ Politizid: Die Ermordung von Personen oder hezu unmöglich macht und die klare Benen- spät. Auch die museale Repräsentation von
eines Volkes durch eine Regierung wegen nung von Massenverbrechen erschwert.11 Völkermorden – mit Ausnahme des Holocaust
ihrer Religion, Rasse, Sprache, Ethnie, na- Innerhalb der verschiedenen theoretischen – findet bisher erst in Ansätzen statt und be-
tionalen Herkunft, Klasse, politischen Ein- Eingrenzungen und Definitionen konnte die zieht sich dabei fast ausnahmslos auf natio-
stellungen oder zu politischen Zwecken. Genozid-Forschung jedoch wichtige Aussagen nale Perspektiven. Eine bemerkenswerte Aus-
■ Massenmord: Unterschiedsloses Töten von erarbeiten.12 So unter anderem die folgenden nahme ist die 2002 eröffnete Ausstellung „Cri-
Personen oder eines Volkes durch eine Re- Erkenntnisse: (1.) Die Tendenz totalitärer (und mes Against Humanity“ im Imperial War Mu-
gierung. anderer nicht-demokratischer) Staaten, Teile seum in London, die sich mit Verbrechen
Teilweise wird auch Staatsterror als eigene Ka- ihrer Bevölkerung zu ermorden und massive gegen die Menschlichkeit im globalen Maß-
tegorie genannt, wie beispielsweise die Sta- Menschenrechtsverletzungen zu begehen. (2.) stab beschäftigt.
linschen Säuberungen 1936–1938.9 Die Ta- Die Genozide direkt oder indirekt auslösende, Selbst die Thematisierung historischer Völker-
belle mit den von Rummel angeführten Bei- erleichternde, provozierende oder auch verde- morde bricht immer wieder auch nationale Ta-
spielen zeigt die Problematik klarer Zuordnun- ckende Rolle von Krieg. bus oder Tabus nationalistischer Gruppen und
gen deutlich (siehe Tabelle). Vergleichende Untersuchungen zu Genoziden führt nicht selten zu heftigen Abwehrreaktio-
Bemerkenswert ist dabei auch die Konzentra- zeigen, „dass (1.) die meisten Täter Wiederho- nen. Für die deutsche Diskussion über den Bei-
tion auf Massenmorde als Staatsverbrechen. lungstäter sind; (2.) große Ähnlichkeiten hin- tritt der Türkei zur Europäischen Union ist hier
Per Definitionem werden somit nicht-staatli- sichtlich der politischen Exklusion und Diskri- vor allem auf das Beispiel des türkischen Völ-
che Terrortaten ausgeklammert! minierung ethnischer Klassen vorliegen, wel- kermordes an den Armeniern von 1915 zu ver-
che wiederum Bewegungen hervorrufen, die weisen.15 Die Evangelische Kirche in Deutsch-
Genozide oder andere Formen staatlich sank- land (EKD) sah im November 2004 unter
UMFASSENDE DEFINITION: VERBRECHEN tionierter Massaker auslösen; (3.) wie erwar- anderem „in der bisherigen Leugnung des Ge-
GEGEN DIE MENSCHLICHKEIT tet am ehesten nicht-freiheitliche, autoritäre nozids an den Armeniern“ ein entscheidendes
und kommunistische Einparteienstaaten (in Beitrittshindernis der Türkei zur Europäischen
Als umfassendste Definition soll hier die der aufsteigender Ordnung) dazu bereit sind, Ge- Union.16 Für die Formulierung der Genozidkon-
„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ange- nozide zu verüben. So haben demokratische vention der Vereinten Nationen spielte neben
dem Holocaust – in nachgeordneter Bedeutung
– auch der Genozid an den Armeniern eine
Beispiele für Demozid laut R. J. Rummel (aus: I.W. Charry (Hrsg.): Encyclopedia Rolle.
of Genocide. Bd. I, S. 22. Demozid umfasst: Die Bandbreite wissenschaftlicher und öffent-
licher Beschäftigung mit Fällen von „Verbre-
Genozid: – NS-Morde an Juden und Sinti/Roma; chen gegen die Menschlichkeit“ reicht heute
– Morde der Roten Khmer an Vietnamesen in Kambodscha/Kampuchea; von Fragen des (historischen) Sklavenhandels
– Sowjetische Morde an Wolga-Deutschen. über die Behandlung der Ureinwohner in Ame-
Politizid: – Hitlers „Säuberung“ der SA im Jahr 1934; rika und Australien, von Massenverbrechen der
– Morde der Vietminh an nationalen Südvietnamesen; Kolonialzeit bis hin zum modernen Luftkrieg.
– Libysche Bombenattentate auf zivile Passagiermaschinen.
Massenmorde/Massaker: – NS-Vergeltungsmaßnahmen in Jugoslawien im Zweiten Weltkrieg;
– Japanische Besatzung Nankings (Japanisch-chinesischer Krieg 1936). WIE GLAUBWÜRDIG IST DIE
INTERNATIONALE STAATENGEMEINSCHAFT?
Terror: – Todesschwadrone in Guatemala (Bürgerkrieg);
– Stalinistische Säuberungen der KP 1936-1938; Eine offene Frage moralischer Glaubwürdig-
– Die „Verschwundenen“ in Argentinien. keit vor allem für die Vereinten Nationen und

218
Genozid: Lehren aus dem 20. Jahrhundert und Herausforderungen für das 21. Jahrhundert

für westliche Regierungen war spätestens mit und „Terroristen“ und wurden von der einen VI (Die friedliche Beilegung von Streitigkeiten)
dem Inkrafttreten der UN-Genozidkonvention Supermacht unterstützt, um im „indirekten“ und Kapitel VII (Maßnahmen bei Bedrohung
1951 die Frage nach dem Eingreifen im Falle Kampf die gegnerische Supermacht zu schwä- oder Bruch des Friedens und bei Angriffshand-
eines erkennbaren Genozids. In der prakti- chen oder deren Kräfte zu binden. Exempla- lungen) angesiedelt.19 Die Blauhelmeinsätze
schen Umsetzung erwiesen sich die „Lehren risch können hierfür die Kriege in Vietnam und der UNO basieren grundsätzlich auf Resolutio-
aus dem Holocaust“ als weit weniger eindeu- Afghanistan genannt werden. nen des Sicherheitsrates und setzen die Zu-
tig als es auf den ersten Blick erscheinen mag. stimmung der Konfliktparteien voraus. In Situ-
In Zeiten des sich verfestigenden Ost-West- ationen eines akut drohenden Völkermordes
Konfliktes waren allzu oft geostrategische In- DIE UNO ALS AKTEUR GEGEN GENOZID erschienen solche Einsätze als das bestmögli-
teressen der Supermächte Sowjetunion und che Mittel, das der UNO zur Verfügung stand.
USA gewichtiger als die Bereitschaft zur Dul- Bei ihrer Gründung 1945 wurden viele Hoff- Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes durch
dung der Intervention des geostrategischen nungen in die Vereinten Nationen gesetzt, vor das Zerbrechen des Ostblocks und der Sowjet-
Konkurrenten in einem Fall von Völkermord. allem in Hinblick auf eine internationale Frie- union ergaben sich Ende der 1980er-Jahre für
Das Prinzip der „Nichteinmischung in die inne- densordnung nach zwei verheerenden Welt- die Vereinten Nationen neue Spielräume für
ren Angelegenheiten eines Staates“ bildete kriegen und millionenfachen Massenmorden. friedenserhaltende und auch friedenserzwin-
damit das vorrangige Prinzip. Das geostrategische Ringen zwischen den gende Maßnahmen.20 Die Zahl der UN-Blau-
Zudem fand sich in der Nachkriegszeit mit Jo- USA, der Sowjetunion und ihren jeweiligen helmeinsätze vervielfachte sich Anfang der
sef Stalin ein Führer an der Spitze der Sowjet- Bündnissystemen spiegelte sich auch im wich- 1990er-Jahre und eine Reihe von Verbesse-
union, der selbst für millionenfache Massen- tigsten Organ der Vereinten Nationen, dem Si- rungsvorschlägen wurden initiiert, so bei-
morde verantwortlich war und wenig Neigung cherheitsrat, wider. Dort kam es immer wieder spielsweise durch den UN-Generalsekretär
zeigte, dieser Frage Vorrang vor machtpoliti- zu Blockaden mittels Veto, wenn bei Resolu- Boutros Ghali 1992/93 in der „Agenda für den
schen Interessen zu geben.17 Aber auch west- tionen des UN-Sicherheitsrates die jeweiligen Frieden“. Die jährlichen Ausgaben für UN-Pea-
liche Regierungen waren in Zeiten verstärkter nationalen Interessen gefährdet schienen. Das cekeeping erhöhten sich von 234,7 Millionen
Entkolonialisierungsbestrebungen und deren „Jahrhundert der Völkermorde“ erlebte somit US-Dollar im Jahr 1986 auf 3,6 Milliarden US-
gewaltsamer Unterdrückung durch Kolonial- bis in die späten 1980er-Jahre, dass die „Leh- Dollar im Jahr 1993. Die hohen Kosten, aber
regime wenig geneigt, das Prinzip der Nicht- ren aus dem Holocaust“ und auch die UN Ge- auch der Mangel an Blauhelmsoldaten, die
einmischung zu durchbrechen und dadurch nozidkonvention in der realen Umsetzung re- von den Mitgliedsstaaten der UNO freiwillig zu
mögliche Präzedenzfälle zu schaffen, die eige- lativ wenig bedeuteten für von Völkermord stellen sind, zeigten schon bald die Grenzen
nen Interessen schaden konnten. Vor allem die bedrohte Gruppen. der Blauhelmeinsätze auf. Zudem erfüllten ei-
blutigen sub-konventionellen Konflikte nach Selbst die so genannten UN-Blauhelmope- nige der großen UN-Missionen die in sie ge-
1945 in Afrika und Asien hatten nicht selten rationen als friedenssichernde Maßnahmen setzten Erwartungen nicht. Vor allem die Ein-
ihre Wurzeln in kolonialherrschaftlichen Struk- finden keine explizite Grundlage in der UN- sätze in Kambodscha/Kampuchea (ab 1991
turen und Beharrungsbestrebungen.18 Des ei- Charta. Sie sind ein Kompromiss aus Zeiten der UNTAC = United Nations Transitional Autho-
nen „Befreiungsbewegungen“ erwiesen sich Blockkonfrontation und werden als „Kapitel rity in Cambodia), die den Weg in eine stabile
dabei in der Regel als des anderen „Banden“ Sechseinhalb“ der UN-Charta zwischen Kapitel politische Zukunft Kambodschas ebnen sollten

FRANZÖSISCHE BLAUHELM-
SOLDATEN ARBEITEN AM
30. JULI 1992 AN DER
BEFESTIGUNG IHRES LAGERS
IN SARAJEVO.
picture alliance / dpa

219
PETER I. TRUMMER

VÖLLIG ZERFETZTE SCHUHSOHLEN EINES JUNGEN HUTUS,


DER AUF EINEM DREITAGEMARSCH NACH GASHOHO
(BURUNDI) FLOH (AUFGENOMMEN AM 1. APRIL 1995).
ZWEI MILLIONEN HUTUS FLÜCHTETEN VOR DER
TUTSI-GEFÜHRTEN PATRIOTISCHEN FRONT (RPF) NACH
ZAIRE/KONGO UND TANSANIA. NOCH JAHRE NACH DER
UNTERBLIEBENEN INTERVENTION ZUR VERHINDERUNG
DES GENOZIDS IN RUANDA WIRKT DAS VERSAGEN
DER INTERNATIONALEN STAATENGEMEINSCHAFT IN DER
REGION NACH. picture alliance / dpa

und das Versagen bei der Verhinderung des


Genozids in Ruanda 1994 sollen hier näher be-
leuchtet werden.

KAMBODSCHA 1992-1993 (UNTAC)

Kambodscha hatte unter den Roten Khmer zwi-


schen 1975 und 1979 einen der großen Völ-
kermorde des 20. Jahrhunderts durchlebt, der
zwischen ein und zwei Millionen Menschen das
Leben kostete. Die Weltgemeinschaft hatte
diesem Genozid nahezu tatenlos zugesehen
und sich auf verbale Verurteilungen be-
schränkt. 1979 intervenierte das benachbarte
Vietnam – bezog sich dabei in seiner Begrün-
dung für das Eingreifen jedoch explizit nicht
auf Nothilfe zur Beendigung des Völkermordes,
sondern auf bewaffnete Grenzübergriffe durch
Truppen der Roten Khmer. Die Roten Khmer
zogen sich in den Dschungel zurück und be-
gannen einen Guerillakrieg. Die Regierungsge-
schäfte übernahmen kambodschanische Kräf-
te, die von Vietnam massiv im Kampf gegen die
Roten Khmer unterstützt wurden. 1991 konnte
schließlich in Paris ein Friedensabkommen zwi-
schen den Konfliktparteien ausgehandelt wer-
den. Dies bedeutete jedoch auch, dass Vertreter
der Roten Khmer an der politischen Macht be-
teiligt wurden.21 Die UNTAC-Mission dauerte
von März 1992 bis September 1993 und sollte ERFAHRUNGEN AUF DEM BALKAN verfeindeter Clans von Warlords in Somalia
in der Folge unter ständigen Blockaden durch FÜHREN ZU NEUER QUALITÄT (UNOSOM II, 1993–1995) als gescheitert an-
die Roten Khmer leiden. Die internationale Kri- gesehen werden musste.25
tik bezog sich aber auch auf die geringen Ergeb- Die UN-Schutztruppe UNPROFOR (Februar Eine Reihe erfolgreicherer Missionen, wie bei-
nisse, die mit hohem finanziellen und personel- 1992 bis Dezember 1995)23 im ehemaligen Ju- spielsweise in Ost-Timor, traten dabei in den
len Aufwand erzielt wurden. UNTAC hatte in goslawien mit Schwerpunkt auf Kroatien und Hintergrund. Negative Erfahrungen mit UN-
seiner Hochphase über 22.000 UN-Mitarbeiter ab Juni 1992 Bosnien-Herzegowina war zu Missionen und die Verlustraten unter UN-Sol-
und Soldaten in Kambodscha und die geschätz- Beginn von klassischen Blauhelmansätzen ge- daten ebneten auch den Weg zu einer der
ten Kosten für das Programm beliefen sich auf prägt. Es zeigte sich bald, dass die Blauhelme dunkelsten Stunden der UNO: dem Nicht-
über 2 Milliarden US-Dollar. Die massive Kauf- damit in Situationen gerieten, die sie zwischen Handeln im Fall des Genozids in Ruanda 1994.
kraft der UN-Mitarbeiter führte im Land rasch reguläre und irreguläre Kombattanten brach-
zu einer galoppierenden Inflation mit all ihren ten ohne über die entsprechenden Einsatz-
Nachteilen für die arme Bevölkerung sowie zu grundsätze oder Kräfte zu verfügen, um bei- DER GENOZID IN RUANDA
einem Ansteigen der Prostitution und der Zahl spielsweise bedrohte Zivilisten zu schützen.
von AIDS-Erkrankungen. Mit 78 getöteten An- Blauhelme wurden sogar selbst als Geiseln ge- Innerhalb von 13 Wochen nach dem 6. April
gehörigen der UNTAC wies die Mission für ihre nommen. Den Tiefpunkt stellte jedoch im Juli 1994 wurden im Völkermord im zentralafri-
kurze Dauer zudem eine hohe Verlustzahl auf.22 1995 die Aufgabe der Schutzzone von Srebre- kanischen Ruanda zwischen 500.000 und
Bis heute streiten sich Experten, ob die UNTAC- nica durch niederländische Blauhelme dar, die 800.000 Menschen ermordet.26 Die herrschen-
Mission letztlich eine teure aber erfolgreiche ein Massaker serbischer Kräfte an Bosniern zur den Hutu-Extremisten töteten dabei systema-
Mission oder aber das Paradebeispiel einer ver- Folge hatte, dem schätzungsweise 7.000 Men- tisch Angehörige der Tutsi, Tutsi-Mischlinge
fehlten Mission ist. UNTAC stellte eine Mission schen zum Opfer fielen.24 und gemäßigte Hutu, die sich dem Morden
dar, die noch gemäß der klassischen Blauhelm- Die Forderungen nach so genannten „robusten entgegen stellten oder die Beteiligung verwei-
Prinzipien in einer Situation nach Ende eines Mandaten“, die den Waffeneinsatz für UN- gerten. In der ehemaligen belgischen Kolonie
Konfliktes (post-conflict-situation) operierte. Soldaten nicht nur zum Selbstschutz ermögli- stellten die Hutu mit rund 85 Prozent die
Die internationale Aufmerksamkeit hatte sich chen, wurden in der Folge umgesetzt. In Bos- Mehrheit im Land gegenüber den Tutsi (rund
zur Hochphase der UNTAC-Mission bereits auf nien-Herzegowina und dem Kosovo wurden 14 Prozent) und den Twa (ca. 1 Prozent).27 Die
die Krisen des Balkans verlagert. Nach 1992 ab Herbst 1995 diese Aufgaben von NATO- Zahl der getöteten Tutsi bedeutete den Verlust
führten nicht zuletzt die Erfahrungen auf dem Kräften übernommen. Die Vereinten Nationen von rund 75 Prozent ihrer Bevölkerungs-
Balkan und in Somalia zu Einsätzen einer neuen wurden in dieser Phase der Krise des UN-Pea- gruppe in Ruanda. Hintergrund war ein lang-
Qualität, die über die klassischen Blauhelm- cekeeping zeitweise marginalisiert. Dies nicht jähriger Bürgerkrieg der Regierung gegen die
Missionen hinausgingen. zuletzt, als auch die Mission im Bürgerkrieg von Tutsi dominierte Ruandische Patriotische

220
Genozid: Lehren aus dem 20. Jahrhundert und Herausforderungen für das 21. Jahrhundert

Front (RPF). Anlass bildete am 6. April 1994 der April 1994 – hatte die Ruandische Patriotische mel erklärte 2002 zum Thema „Lehren“ aus
bis heute ungeklärte Abschuss der Präsiden- Front (RPF) die Hauptstadt Kigali eingenom- Genoziden des 20. Jahrhunderts: „Statt des
tenmaschine bei der Rückkehr von einem men und die Hutu-Extremisten vertrieben. Im ‚Niemals Wieder‘ ist es eine Tatsache, dass Ge-
Staatsbesuch im Nachbarland, bei dem der ru- Zeitraum von April bis August 1994 wurden nozid in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-
andische Präsident Habyarimana und der Prä- von der RPF ihrerseits als Vergeltung zwischen derts wieder auftauchte und wieder und wie-
sident von Burundi getötet wurden. Präsident 25.000 und 45.000 Menschen getötet.34 Mit der und wieder.“37
Habyarimana hatte kurz zuvor dem Friedens- der drohenden Niederlage der Hutu-Regie- Abschließend soll der Versuch unternommen
abkommen von Arusha zugestimmt, das eine rung startete die französische Regierung die werden, drei mögliche Kriterien für ein effek-
Übergangsregierung auf breiter Basis vorsah. „Opération Turquoise“ mit Schwerpunkt auf tives internationales Handeln gegen Genozid
Im Land befand sich seit Oktober 1993 die UN den Südwesten Ruandas (23. Juni bis 21. Au- zu erarbeiten. Das Hauptaugenmerk liegt hier-
Assistance Mission For Ruanda (UNAMIR) un- gust 1994). Kritiker werfen der französischen bei auf konkreten Mitteln, die kurz- und mit-
ter Leitung des kanadischen Generals Dallaire. Operation vor, primär flüchtenden Hutu-Ex- telfristig wirksam werden.38
Mit 2.500 Soldaten, hauptsächlich aus Bel- tremisten eine Schutzzone vor der nachset-
gien, war die Mission unter ihrer Sollstärke. zenden RPF-Guerilla geschaffen zu haben. Die
Zudem fehlte es an grundsätzlichen Ausrüs- internationale Berichterstattung konzen- FRÜHWARNUNG
tungsgegenständen. trierte sich in dieser Phase auf die katastro-
Der Massenmord kam keinesfalls als unerwar- phalen Zustände und das massenhafte Ster- Eine Voraussetzung für frühzeitiges Handeln
teter, quasi naturmächtiger Ausbruch über ben von Hutu-Flüchtlingen in den Flüchtlings- gegen Genozid sind Instanzen, die Frühwarn-
Ruanda. Vielmehr hatte es zahlreiche Hinweise lagern in und um Goma im benachbarten aufgaben übernehmen. Die den Großmächten
und Warnungen beispielsweise über Todeslis- Zaire/Kongo. Völkermord und Bürgerkrieg in zur Verfügung stehenden technischen Aufklä-
ten und die Bewaffnung militanter Gruppie- Ruanda führten in der Folge zu einer Destabi- rungsmittel, wie beispielsweise hochfliegende
rungen gegeben. General Dallaires alarmie- lisierung der gesamten Region um die zentral- Luftaufklärung, Satelliten und elektronische
rende Berichte an den UN Sicherheitsrat blie- afrikanischen Seen mit weiteren Opferzahlen Abhörmaßnahmen sind hierfür in der Regel
ben jedoch unbeachtet oder wurden herunter- in Millionenhöhe. ohne „menschliche Quellen“ nur bedingt als
gespielt.28 Studien betonen immer wieder, dass Auch über zehn Jahre nach der unterbliebenen Frühwarnmittel nutzbar.
in dieser frühen Phase ein relativ kleines mili- Intervention zur Verhinderung des Genozids in Massenmorde, die sich nicht auf atomare, bi-
tärisches Kontingent mit einem aktiven Auf- Ruanda wirkt dieses gravierendste Beispiel für ologische oder chemische Waffen stützen, wie
trag ausgereicht hätte, um den Völkermord das strategische Versagen der Vereinten Na- im Falle Ruandas, bedürfen der organisa-
zu verhindern.29 Auch die nationalen Akteure tionen nach.35 Es wirft Fragen auf für zukünf- torischen Vorbereitung. Um flächendeckend
Frankreich, Belgien und die Vereinigten Staa- tiges Handeln bei drohendem oder bereits ein- innerhalb eines kurzen Zeitraumes von meist
ten waren über die Situation gut informiert, setzendem Genozid. wenigen Monaten Ausrottungspläne in die
unterließen jedoch mögliche Schritte. Statt- Tat umzusetzen, müssen potenzielle Mörder
dessen reduzierte Belgien nach der Ermordung indoktriniert, rekrutiert, trainiert und ausge-
belgischer Soldaten sein Kontingent weiter. „LEHREN“ FÜR HANDELN GEGEN GENOZID rüstet sowie informelle Gruppen strukturiert
Ausländische Truppenkontingente wurden zur IM 21. JAHRHUNDERT? werden. Prozesse, die auch in Flächenländern
Evakuierung von westlichen Staatsangehöri- wie Ruanda nicht unbemerkt bleiben. Nach
gen eingesetzt, zogen sich danach jedoch zu- Der Journalist David Rieff stellte 1996 bitter Ruanda wurden im Vorfeld der Massaker
rück und versagten dem verbleibenden UN- fest: „Das Versagen, entschieden in Bosnien zu beispielweise Tausende von Macheten impor-
Kontingent General Dallaires jegliche Unter- intervenieren, suggerierte, dass die rhetori- tiert. Kirchenvertreter und Hilfsorganisationen
stützung. Selbst eine öffentliche Aufforderung sche Feststellung des ‚Niemals Wieder‘, die mit (NGOs) berichteten von der Registrierung po-
der extremistischen Hutu-Führung zur Einstel- der Erinnerung an den Holocaust verbunden tenzieller Opfer. Es wurden „Selbstschutzver-
lung des Mordens unterblieb wochenlang.30 ist, nicht mehr bedeutet als ‚Niemals Wieder‘ bände“ organisiert, die als Grundstruktur für
Bis heute bleibt es schwierig, die exakten Dis- würden Deutsche die Juden im Europa der die späteren Mordaktionen dienten. Angehö-
kussionen in den geheimen Sitzungen des 1940er-Jahre töten.“36 Der Forscher R.J. Rum- rige der Streitkräfte und der Sicherheitsorgane
UN-Sicherheitsrats nachzuvollziehen. Am 29. bildeten die Speerspitze für den Massenmord,
April, der Genozid war in vollem Gange, ver- das Morden in der Fläche wurde jedoch von ir-
suchte der neue Vorsitzende des Sicherheits- regulären Verbänden verübt. Die Kombination
rates, der neuseeländische Botschafter Colin regulärer und irregulärer Verbände ist dabei
Keating, die Mitglieder davon zu überzeugen, ein immer wieder zu beobachtendes Phäno-
dass in Ruanda ein Völkermord vorlag. Die bri- UNSER AUTOR men. Die medial-propagandistische Schaffung
tischen, amerikanischen und chinesischen Re- eines Klimas für Völkermord erstreckt sich
präsentanten im Sicherheitsrat lehnten den Peter I. Trummer über einen längeren Zeitraum und kann somit
Begriff „Genozid“ jedoch entschieden ab! Die ist Politikwissen- nicht unbeobachtet bleiben. Sie sind Indizien
internationale Medienberichterstattung war schaftler und Refe- für geplante Aktionen.
ebenfalls gekennzeichnet durch verharmlo- rent bei der Lan-
sende Begriffe wie „anarchische Stammeskon- deszentrale für
flikte“, „traditionelle Feindschaften“, „ethni- politische Bildung FRÜHZEITIGE KOMMUNIKATION VON
sche Zusammenstöße“, die den wahren Gege- Baden-Württem- ABSICHTEN UND GRENZEN
benheiten in keiner Weise gerecht wurden.31 berg. Er hat Lehr-
Zur gleichen Zeit spielten Medien in Ruanda aufträge an der Bei Anzeichen von Vorbereitungen zum Geno-
für die Steuerung und die Beschleunigung des Universität Karls- zid müssen deutliche nationale und internatio-
Genozids eine wichtige Rolle. Vor allem die ruhe für Neueste nale „Grenzsetzungen“ erfolgen. In der Vergan-
Radiostation RTLMC (Radio Télévision Libre Geschichte sowie genheit hat sich kein noch so totalitäres Regime
des Milles Collines) forderte in Sprachbeiträ- für Internationale Politik an der Internatio- als immun gegenüber internationaler Kritik
gen und speziell getexteten „Schlachtgesän- nalen Universität in Bruchsal und der Uni- oder gar Ächtung gezeigt. Wie stark durch ver-
gen“ zum Morden auf.32 versität Mannheim. Seine Forschungs- und bale Verurteilung mörderische Regime zu be-
„Die Mörder hatten zu Recht auf die interna- Arbeitsschwerpunkte sind: Internationale einflussen sind, entscheidet sich im konkreten
tionale Passivität gezählt. Erst nach drei Wo- Beziehungen, Friedens- und Sicherheitspoli- Fall. Selbst das Regime in Ruanda reagierte
chen des Blutbades begann die internationale tik, Konfliktforschung sowie Erinnerungskul- Ende April 1994 auf internationale Missbilli-
Gemeinschaft den Völkermord als das zu se- tur und Holocaust-Forschung. Er ist Leiter gung und versuchte, das Morden durch eine
hen, was er war, und es dauerte drei Monate, eines Projektes der LpB zu Muslimen in Ba- geänderte Taktik zu vertuschen. Sie rief eine
bis Soldaten entsandt wurden, die ihm Einhalt den-Württemberg, das von der Landesstif- „Phase der Befriedung“ aus und schränkte un-
gebieten sollten.“33 Zu diesem Zeitpunkt – im tung gefördert wird. kontrolliertes Morden ein.39

221
PETER I. TRUMMER

Selbst ohne die Androhung militärischer Inter- ANMERKUNGEN 18 Zu „Befreiungsbewegungen“ und Entkolonialisierung
s. Krumwiede, H. W./ Trummer, P. I.: Befreiungsbewe-
vention kann nicht unerheblicher Druck auf 1 Siehe Dabag, M.: Genozidforschung. Leitfragen, Kon- gungen/ Guerilla. In: Bd. 4 Lexikon der Politik, hrsg. von
ein Regime ausgeübt werden, beispielsweise troversen, Überlieferung. In: Zeitschrift für Genozidfor- Nohlen,D./ Waldmann, P./ Ziemer, K., München 1997, S.
schung Jg. 1, H.1 (1999) S. 29. 75-84.
durch die Drohung mit internationaler Straf- 19
2
In zwei Vorworten zur Encyclopedia of Genocide wird Lewis, P.: A Short History of United Nations Peacekee-
verfolgung und der Verhängung internationa- diese Frage kompakt thematisiert. Bischof Desmond M. ping. In: Benton, B. (Hrsg.): Soldiers For Peace. Fifty Ye-
ler Reisebeschränkungen. Die Einrichtung des Tutu: Why is it important to Learn about the Holocaust ars of UN Peacekeeping. New York 1996, S. 25-41; Durch,
and the Genocides of All Peoples?“ (Hervorhebung im W. J. (Hrsg.): The Evolution of UN Peacekeeping. New
Internationalen Strafgerichtshofes und die Original), I. W. Charry (Hrsg.) a.a.O. S. Ivii und von Simon York 1993; Diehl, P. F.: International Peacekeeping. Bal-
Beispiele der Prozesse gegen Täter in den Bal- Wiesenthal unter identischem Titel a.a.O. S. Iix. timore u.a. 1993. Gareis, S./ Varwick, J.: Die Vereinten
kankriegen können als Verschärfung der Ab- 3 Die politische Diskussion hierzu fand ihren Höhepunkt Nationen. Opladen 3. Erw. Aufl. 2003.
20 Ein kompakterer Abriss der Veränderungen s. Blodgett,
in der Frage deutscher militärischer Beteiligung auf dem
schreckung gewertet werden. Eine weitere Balkan. Der erste bedeutende „Out of area“ Einsatz der J. Q.: Die Zukunft der Friedenssicherung durch die Verein-
Möglichkeit ist das Einfrieren internationaler Bundeswehr fand 1992/93 in Kambodscha statt, also in ten Nationen. A. d. Englischen 1991. In: Koch, E. (Hrsg.):
einem Land, dessen jüngste Geschichte durch einen der Die UN-Blauhelme. Im Einsatz für den Frieden. Frankfurt
Guthaben von Personen. Gerade erweiterte a.M. 1991, S. 285-307.
großen Genozide des 20. Jahrhunderts, den durch die Ro-
gesetzliche Regelungen zur Bekämpfung des ten Khmer, gekennzeichnet ist. 21 Für eine sehr kritische Bestandsaufnahme s. Shawcross,

internationalen Terrorismus haben hier schär- 4


Zur Geschichte des Begriffes s. Schabas, W. A.: Geno- W.: Deliver Us From Evil. Warlords And Peacekeepers In A
zid im Völkerrecht. A.d. Englischen von H. Fliessbach World Of Endless Conflict. London 2001, S. 30 ff.
fere Maßnahmen ermöglicht. (2000), Hamburg 2003. Die Originalstudie von Raphael 22
Zu Daten für die Mission s. Benton, B. (Hrsg.) a.a.O. S.
Ein Wirtschaftsembargo oder ein Embargo von Lemkin heißt: Axis Rule in Occupied Europe: Laws of Oc- 241 sowie Shawcross a.a.O. S. 56.
Waffenlieferungen sind dagegen eher Maß- cupation, Analysis of Government, Proposals for Redress. 23
Für Eckdaten der Einsätze s. Benton, B. a.a.O. S. 241-244.
Washington D.C. 1944.
nahmen mit mittel- und langfristiger Wir- 5
Charry, I. W. (Hrsg.): Encyclopedia of Genocide. Vol. I
24
Daten nach Melcic, D. (Hrsg.): Der Jugoslawien-Krieg.
Wiesbaden 1999, S. 559. Zu Srebrenica s. Power, S.: „A
kung. Wirtschaftsembargos treffen zudem die (A-H) S. Ixi. Zu Lemkins Person s. Schabas a.a.O. S. 43 – Problem From Hell“. America And The Age Of Genocide.
gesamte Bevölkerung und können sogar zu ei- 49. London 2003, S. 391-441.
6
Deutsch zit. nach Schabas a.a.O. S. 44. 25
Kritische Analyse bei Polman, L.: We Did Nothing.
ner Verschärfung des Klimas gegen eine vom 7
Zit. nach Schabas S. 721. Why the truth doesn’t always come out when the UN
Genozid bedrohte Gruppe zur Folge haben. 8
Charry a.a.O. S. 3. Zur Ausarbeitung der Konvention goes in. Übers. a. d. Niederländischen (1997), London 2003,
und den verschiedenen Entwürfen s. Schabas a.a.O. 75 – S. 1- 77.
138. 26 Die beste kompakte Darstellung der Ereignisse ist die

9 R. J. Rummel, ein ausgewiesener Experte zu diesen Einleitung bei Des Forges, A.: Kein Zeuge darf überleben.
ANDROHUNG MILITÄRISCHER AKTIONEN Themen bietet einen Überblick hierzu „The New Concept Der Genozid in Ruanda. A. d. Amerikanischen (1999),
of Democide“ in: Charry a.a.O. S. 18 – 23. Zur Diskussion Hamburg 2002, S. 15-53. Ausführlich dann die weiteren
auch Fein, H.: Genozid als Staatsverbrechen. In: Zeit- 850 Seiten des Berichtes.
Westliche Staaten, allen voran die USA, und
schrift für Genozidforschung Jg. 1, H.1 (1999) S. 37. 27 Eine Literaturauswahl bespricht Adelman, H.: Review
die Russische Föderation verfügen über die 10
Jones, A. (Hrsg.): Genocide, War Crimes and the West. Article: Bystanders to Genocide in Rwanda. In: The Inter-
Fähigkeit zur schnellen Projektion militäri- London 2004, S. 23. national History Review, 25 (Juni 2003), S. 357-374. Für
11 Die hier angeführten Begrifflichkeiten sind keinesfalls die Prozentzahlen S. 357.
scher Macht. Im regionalen Kontext haben 28 General Romeo Dallaires Buch zu den Ereignisse ist ein
komplett. So kann beispielsweise der Terminus „ethnische
jedoch oft auch eine Reihe kleinerer Staaten, Säuberungen“ hier nicht begrifflich behandelt werden. erschütterndes Dokument. Dallaire, R.: Shake Hands With
die nicht als unmittelbare Nachbarn Interes- Auch eine Abgrenzung zu „Kriegsverbrechen“ würde den The Devil. The Failure Of Humanity in Rwanda. Toronto:
Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Zu ethnischen Kon- 2003. Dallaire musste 2000 wegen posttraumatischer
sen verfolgen, ausreichendes Interventions- flikten s. Schetter, C.: Das Zeitalter der ethnischen Kon- Stresssymptome (PTSD) aus dem Dienst ausscheiden. Die
potenzial.40 flikte. In: Blätter für deutsche und internationale Politik Mitautorin Sian Cansfield ertrug die belastenden Details
Die Androhung militärischer Mittel gewinnt 4 (2002), S. 473-481. Stoett, P.: Shades of Complicity: nicht und beging Selbstmord!
Towards a Typology of Transnational Crimes Against Hu- 29
S. z.B. Dallaire; Adelman S. 359, Power S. 343.
an Wirksamkeit, wenn eine Legitimation durch manity. In: Jones, A. (Hrsg.): Genocide, War Crimes and 30 Deutlich Des Forges a.a.O. S. 16-17. Zum Sicherheits-
den UN-Sicherheitsrat besteht. Es ist jedoch the West. London u.a. 2004, S. 31-55. rat s. Melvern, L. R.: The Security Council: Behind the
12 Fein, H. a.a.O. S. 37-38. Dort auch weitere Literatur
zu diskutieren, unter welchen Umständen bei Scenes in the Rwanda Genocide. In: Jones, A. (Hrsg.) a.a.O.
und zusätzliche Punkte. S. 260-269.
„Gefahr in Verzug“ nationales, unilaterales 13
Fein, H.: Accounting for Genocide after 1945. In: In- 31
Melvern a.a.O. S. 263. Zu Pressearbeit in und über Ru-
Handeln legitimiert werden kann zum Schutz ternational Journal of Group Rights 1 (1993) S. 79. anda und Goma s. Steele, J.: War Junkie. London 2002;
von Menschen, die nicht eigene Staatsange- Deutsch zitiert nach Fein, H.: Genozid als Staatsverbre- Des Forges: a.a.O. S. 39-40.
chen (Anm. 9) S. 37-38. 32
Zur Rolle von RTLMC und bekannter ruandischer Mu-
hörige sind. Eine militärische Intervention be- 14
Interessante Überblicke in der gesamten Bandbreite sikstars s. McKinney, T.: Radio Jamming: The Disarma-
deutet immer auch die Verletzung des Gebotes von Demozid, „ethnischen Säuberungen“ bis zu Kriegs- ment of Radio Propaganda. In: Small Wars and Insurgen-
der Nichteinmischung in die inneren Angele- verbrechen bieten: Naimark, N. M.: Flammender Hass. cies Bd. 13, Nu. 3 (Herbst 2002) S. 111-144. Vor allem S.
Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert. A. d. Engl., 120-125. Zu Zeitungen s. Power a.a.O. S. 338-340.
genheiten eines Staates und kann somit nicht München 2004; Gallately, R./ Kierman, B. (Hrsg.): The 33 Des Forges a.a.O. S. 751.

leichtfertig toleriert werden. Spectre of Genocide. Mass Murder In Historical Perspec- 34


Des Forges a.a.O. S. 35.
tive. Cambridge 2003; Glover, J.: Humanity. A Moral His-
All diese Maßnahmen sind letztlich gebun- tory of the Twentieth Century. London 1999; Heinsohn,
35 Zu strategischen Lehren s. Campbell, K. J.: Clausewitz

den an den politischen Willen nationaler oder G.: Lexikon der Völkermorde. Reinbek 1998. and Genocide: Bosnia, Rwanda and Strategic Failure. In:
15 Dabag, M. a.a.O. vor allem S. 22 f. Ders.: Jungtürkische Civil Wars, Bd. 1, Nu. 2 (Sommer 1998) S. 26-37.
supranationaler Entscheidungsgremien. Leh- 36
Übersetzung durch PIT, zitiert in: Fowler, J.: Out of
Visionen und der Völkermord an den Armeniern. In: Ge-
ren aus den Genoziden des 20. Jahrhunderts nozid und Moderne. Bd. 1 , hrsg. v. Ders. und Platt, K., that Darkness: Responding to Genocide in the 21st
sind somit sicherlich möglich, die entschei- Opladen 1998, S. 152-205; Fein, H.: A Formula for Ge- Century. In: Totten, S./Parsons, W.S./Charny, I. W. (Hg.):
nocide: Comparisons of the Turkish Genocide (1915) and Century of Genocide. New York u.a. 2004 S. 457.
dende Frage bleibt jedoch, ob, wann und in- the German Holocaust (1939-45). In: Comparative Stu- 37 Übersetzung PIT nach dem Zitat bei Fowler a.a.O. S. 488.

wieweit der politische Wille existiert, sie um- dies in Sociology, d. 1 (1978), S. 271-293. Zur Geschichts- 38 Für einen weiteren Rahmen s. Campbell a.a.O. S. 34-35.

zusetzen. aneignung in der Einwanderungsgesellschaft s. Georgi, V. 39 Des Forges, A. a.a.O. S. 27 und ausführlich S. 407 ff.
B.: Entliehene Erinnerung. Hamburg 2003. 40 Für Afrika s. Böckmann, M.: Die Fähigkeit afrikanischer
Zur Zeit der Eröffnung des U.S. Holocaust Me- 16 „Beitrittshindernisse für die Türkei“ in: FAZ v. 8.11.
Streitkräfte zu humanitärer Intervention. In: Österreichi-
morial Museums in Washington D.C. im April 2004 S. 7. sche Militärische Zeitschrift 4/2004 S. 441-448.
1993 wurde besonders die Verantwortung zur 17 Als Studie zum Aspekt der GULAGS, den stalinschen
41 Fowler, J. a.a.O. S. 458-459. Webseite www.committe-
Lagern, in denen allein rund 4,5 Millionen Menschen um- eonconscience.org
Verhinderung zukünftiger Genozide beschwo- kamen s. Applebaum, A.: Der Gulag. A. d. Engl., Berlin
ren, die sich aus der Erinnerung an den Holo- 2003.
caust speist. Es wurde ein Committee on Cons-
cience (COC) gegründet, das im Mai 2000 ein
dreistufiges „Genozid-Warnsystem“ einrich-
tete. Die erste „Genozid-Warnung“ wurde
noch im selben Jahr ausgesprochen. Sie betraf
die Situation in Afrikas größtem Flächenstaat,
dem Sudan!41 Fünf Jahre später steht eine
deutliche Reaktion der Weltgemeinschaft auf
diesen aktuellen Genozid noch immer aus.

222
DIE MEDIALE DARSTELLUNG DES KRIEGES

Krieg und Medien – Zwischen Information,


Inszenierung und Zensur
CHRISTIAN BÜTTNER / MAGDALENA KLADZINSKI

ihre spezifische Weise (durch den Bildschirm) Militär heraus, ihre Absichten zu legitimieren
wahrnehmbar zu machen. Angesichts des gro- bzw. die Legitimation ständiger Kritik ausge-
Hat die Feststellung, dass die Wahrheit ßen Einflussspektrums medialer Darstellungen setzt zu sehen. Im Hinblick darauf bestehen
das erste Opfer eines Krieges ist, noch zum Thema Krieg in Nachrichten, Film oder zwischen diesen Kräften nicht nur zahlreiche
Gültigkeit? Können Medien den Krieg Computerspiel stellt sich die Frage nach dem Abhängigkeiten, sondern auch viele Interes-
überhaupt objektiv darstellen? Oder ist Verhältnis zwischen medial konstruierter senkonflikte.
es nicht vielmehr so, dass in allen medi- (Kriegs-)Wirklichkeit und den Interessen der Die Tatsache, dass in Demokratien die Politik
alen Darstellungen von Krieg die Grenze verschiedenen Akteuren im gesellschaftlich- Legitimation braucht, zwingt die Politiker
zwischen Information, Desinformation politischen Alltagsgeschäft, sich die Medien dazu, sich den Regeln der medialen Präsenta-
und Nicht-Information – also Zensur – nutzbar zu machen. Welche Logik steckt dahin- tion anzupassen. Dies bringt mediale politi-
nicht eindeutig gezogen werden kann? ter? Welche Rolle haben die Medien? Welche sche Argumentation leicht in die Nähe zur
Auch Kriegsberichterstatter sind in ihrer Rolle spielt die Politik? Welche das Militär? Wer Werbung für industrielle Produktion, die ja in
Arbeit an eine journalistische Ethik ge- ist dominant? Wer instrumentalisiert wen? gleicher Weise die Öffentlichkeit oder Teile von
bunden. Der Aktualitätsdruck allerdings
hindert Journalisten häufig daran, ver-
antwortungsvoll mit Informationen um-
zugehen. Unter dem Zwang der Ein-
schaltquoten folgt die Berichterstattung
häufig den Spielregeln der Selbstinsze-
nierung. Krieg wird nach dramaturgi-
schen Gesichtspunkten publikumswirk-
sam als “Abenteuer für das Auge” insze-
niert und bedient somit vorschnell Inter-
essen, weckt Emotionen. Unterliegt die
Berichterstattung noch einer politisch-
militärisch gewollten Lenkung oder gar
Zensur, geraten Kriegsdarstellung und
Berichterstattung in eine fatale Nähe
zur Propaganda. Red.

KRIEG UND MEDIEN – EIN


SPANNUNGSVOLLES BEGRIFFSPAAR

Krieg und Medien ist ein spannungsvolles Be- BERNARD S. WIESS, EIN
griffspaar, das nicht erst seit dem Golfkrieg JOURNALIST, DER MIT EINER
1991 zum Gegenstand intensiver wissen- US-EINHEIT UNTERWEGS IST,
schaftlicher Diskussionen geworden ist. Die GEHT MIT SEINER KAMERA SO
Darstellung des Krieges in den Medien gewinnt NAH WIE MÖGLICH AN EINE
heutzutage an Brisanz im Zusammenhang mit BRENNENDE ÖLQUELLE AUF DEN
den demokratietheoretischen Überlegungen, ÖLFELDERN BEI BASRA HERAN,
ob die Bürger ausreichend über politisch-mi- UM MÖGLICHST DETAILLIERTE
litärische Vorgänge informiert werden, um AUFNAHMEN ZU BEKOMMEN.
sich kompetent an politischen Entscheidungen UNTER DEM ZWANG DER EIN-
beteiligen zu können. Medien verfügen heute SCHALTQUOTEN FOLGT DIE BE-
über technologische Möglichkeiten (Rundfunk, RICHTERSTATTUNG HÄUFIG DEN
Fernsehen, Internet, Satellitenübertragung usw.), SPIELREGELN EINER MÖGLICHST
um ein breites Publikum mit den in einer ver- DRAMATISCHEN INSZENIERUNG.
ständlichen Form aufbereiteten Informationen picture alliance / dpa
über die Ereignisse in der Welt in „real-time“ zu
versorgen. Bedeutet dies aber auch, dass sich
die Adressaten medialer Produkte ein objek-
tives Bild von den Kriegsgeschehnissen in der WECHSELSEITIGE ABHÄNGIGKEITEN ODER ihr zu beeinflussen versucht. Um die ge-
Welt machen können? INTERESSENKONFLIKTE? wünschte Medienwirkung zu erreichen, enga-
Gängige Meinung ist, dass Nachrichten auf- gieren inzwischen Regierungen zum Beispiel
klärerische Wirkung haben und dass sie den In modernen Gesellschaften erfolgt der öf- Public-Relations-Agenturen.
Nachrichtenempfänger in die Lage versetzen, fentliche Diskurs über die Bildschirmmedien. Medien wiederum können nicht auf die Be-
ein der Wahrheit möglichst nahe kommendes Da eine Demokratie von der Beteiligung und richterstattung über politische und militäri-
Abbild einer aktuellen Begebenheit oder Lage Zustimmung ihrer Bürger zur Politik der de- sche Ereignisse verzichten, da sie im Zentrum
im Frieden zu entwickeln. Aber welcher Lage, mokratischen Institutionen lebt, ist die medi- des öffentlichen Interesses stehen und des-
welcher Begebenheit? ale politische Kommunikation von großer Be- halb den wirtschaftlichen Erfolg sichern hel-
Medien geben vor, den Menschen Wissen zu deutung. Besonders Krisen- und Kriegszeiten fen. So besteht das Interesse der Medien darin,
liefern, deuten die Welt und versuchen, sie auf fordern sowohl Medien als auch Politik und ihrer jeweiligen Konkurrenz zuvorzukommen

223
CHRISTIAN BÜTTNER /MAGDALENA KLADZINSKI

EIN SOLDAT HÄLT INTERNATIONALE PRESSEFOTOGRAFEN


ZURÜCK, DIE FOTOGRAFIEREN, WIE MITARBEITER EINER
HILFSORGANISATION IN EINER SÜDIRAKISCHEN STADT
HILFSGÜTER AN DIE BEDÜRFTIGE BEVÖLKERUNG VER-
TEILEN. AUCH KRIEGSBERICHTERSTATTER SIND IN IHRER
ARBEIT AN EINE JOURNALISTISCHE ETHIK GEBUNDEN.
TROTZDEM WIRD KRIEG ALLZU HÄUFIG ALS „ABENTEUER
FÜR DAS AUGE“ INSZENIERT.
picture alliance / dpa

und dem Publikum aktuellste Bilder aus Kri-


sen- und Kriegsgebieten zu liefern. Der Aktua-
litätsdruck hindert die Journalisten allerdings
häufig daran, verantwortungsvoll und kritisch
mit den Informationen umzugehen, wodurch
die Qualität ihres Produktes in Frage steht.
Hinzu kommt, dass den Journalisten in Kriegs-
zeiten der freie Zugang zu Informationen ver-
wehrt wird, so dass ihre Arbeit zwangsläufig
an Qualität verliert.
Die Vorbereitung eines Krieges setzt eine über-
legene Informationspolitik des Militärs voraus,
um einerseits die Öffentlichkeit von der Not-
wendigkeit der Anwendung militärischer Ge-
walt zu überzeugen, anderseits den Gegner
über die eigenen Absichten soweit und so-
lange wie möglich im Unklaren zu lassen. Das
hat den Wunsch des Militärs nach einer gewis-
sen gezielten Desinformation der eigenen Be-
völkerung zur Folge und zwingt die Politiker
wiederum zu Argumentationen, welche sie in
Friedenszeiten unter Umständen scharf kriti- jektivität? Werden Nachrichten nicht auch ge- formation, Desinformation und Nicht-Infor-
sieren würden. zielt eingesetzt oder gar gezielt weggelassen, mation (Zensur) nicht eindeutig gezogen wer-
Politik und Militär sind gerade in den letzten um spezielle Interessen durchzusetzen – und den kann.
Jahren in den Verdacht geraten, Medien für ih- seien dies ökonomische – oder Widerstand ge-
re Zwecke zu instrumentalisieren, und den Me- gen die Durchsetzung spezieller Interessen
dien wird Parteilichkeit und Selbstzensur vor- anderer zu verhindern? KRIEG ALS „ABENTEUER FÜR DAS AUGE“
geworfen. Ihr Interesse an politischen und mi- Medien liefern auf den Bildschirmen kein rei-
litärischen Themen scheint aber ebenso groß nes Abbild der Wirklichkeit, sie liefern ein be- Betrachtet man die Produktionsaspekte wie
zu sein wie das Interesse der Politik und des stimmtes und in vielfältiger Weise begrenztes zum Beispiel die Herstellung von Bildern, Ton,
Militärs, die kommunikativen und technologi- Bild der Realität in die Fernsehzimmer. Die Computeranimationen, Texten und Botschaf-
schen Möglichkeiten des Medienangebotes zu Konstruktion dieses Bildes wird von verschie- ten, wird schnell klar, dass sowohl fiktionale
nutzen. Bereits im Zweiten Weltkrieg wurden denen Faktoren beeinflusst wie zum Beispiel als auch nicht-fiktionale Produktionen mit
Informationen als Waffe in der psychologi- der Auswahl von Informationen nach Kriterien den gleichen Bild- und Tongestaltungsmög-
schen Kriegsführung (Propaganda) eingesetzt. etwa von Nachrichtenredaktionen, dem spezi- lichkeiten arbeiten. Die Gemeinsamkeiten be-
Heutzutage sind Begriffe wie „Informations- fischen Einsatz unterschiedlicher Ton- und Vi- stehen nicht nur in der medialen Inszenierung,
krieg“ und „Informationsoperationen“ aus sualisierungstechniken, der genrespezifischen sondern auch in der Formatverschränkung
dem militärischen Sprachgebrauch nicht mehr Gestaltung von Inhalten. Die Herstellung eines und in der Tatsache, dass mit allen Produktio-
wegzudenken, weder in Friedenszeiten noch anspruchvollen, gewinnorientierten und des- nen dasselbe Ziel verfolgt wird, nämlich so
im Krieg. Nach wie vor bedient sich sowohl die halb dem Geschmack des Publikums entspre- viele Zuschauer/Spieler so lange wie möglich
Politik als auch das Militär medialer Formate chenden Produktes ist dabei nicht das einzige vor dem Bildschirm zu halten, d.h. sie zu fes-
wie Filme, Computerspiel und vermehrt auch Interesse von Medienmachern. Sie haben seln.
der Reality-TV-Serien, um ihre Interessen an längst die Macht und die Wirkung der Medien Selbst bei Kriegsnachrichten kann man ver-
die Öffentlichkeit zu vermitteln. in der öffentlichen Meinungsbildung erkannt muten, dass das Interesse der Zuschauer unter
und transportieren bewusst oder unter- anderem auch einer offenen bzw. geheimen
schwellig bestimmte politischen Botschaften höchst individuellen voyeuristischen Lust
WIE WAHR UND OBJEKTIV SIND MEDIEN? und Ansichten mit Hilfe von rhetorischen und folgt. Je nachdem, wie nah oder fern die innere
audiovisuellen Mitteln. und äußere Teilnahme am Geschehen liegt,
Die Überprüfung des Wahrheitsgehalts von Eine offensichtliche oder unterschwellige Be- das durch die Nachricht aufgegriffen wird,
Nachrichten erweist sich für den Zuschauer einflussung durch mediale Botschaften kann desto mehr oder weniger wird es auch die
schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Man schon lange vor dem Krieg seitens der Politiker Identifikation mit der einen oder anderen
kann, ja man muss den Nachrichteninhalten oder der Militärs beginnen, also noch in Frie- Kriegspartei bei den Zuschauern hervorrufen.
zunächst einmal glauben, selbst dann, wenn denszeiten. Die politischen und militärischen Aber es ist nicht nur der nachvollziehbar ratio-
sie recht unwahrscheinlich anmuten. Aber Botschaften können sowohl durch harmlos er- nale Anteil, den Zuschauer an Kriegsnachrich-
geht es den Nachrichtenempfängern über- scheinende fiktionale Formate wie Filme und ten nehmen können. Es kann auch die Faszina-
haupt um den Wahrheitsgehalt von Nachrich- Computerspiele, aber auch durch nicht-fiktio- tion am Thema Krieg selbst sein, die eine
ten? Sollen ihm Nachrichten allein zur Über- nale Produktionen wie Nachrichten mit einer Kriegsnachricht wie ein Detail in einem Kriegs-
mittlung wahrheitsgemäßer Informationen auf einen zukünftigen militärischen Konflikt spiel erscheinen lässt, das fasziniert. Kriegs-
über nahe und ferne Ereignisse dienen? Und gerichteten Tendenz transportiert werden. Die nachrichten wirken in diesem Sinne wahr-
von der Seite der Nachrichtenproduzenten aus Konsequenz ist, dass in allen medialen Dar- scheinlich ähnlich attraktiv wie Kriegsfilme (in
gesehen: Geht es ihnen um Wahrheit und Ob- stellungen von Krieg die Grenze zwischen In- denen ja auch eine Identifikation mit den Gu-

224
Krieg und Medien – Zwischen Information, Inszenierung und Zensur

berichterstatter in ihrer Arbeit an eine journa- Im Allgemeinen hat die Berichterstattung über
listische Ethik gebunden, die sie verpflichtet, Kriege mit seriöser Informationsvermittlung
objektiv (unparteilich) und wahrheitsgetreu zu immer weniger zu tun und konzentriert sich,
berichten, was auch im Artikel 5 des Grundge- vom Geschmack des Publikums geleitet, auf
setzes geregelt ist. Doch im Kriegsfall, also in die eindrucksvolle, effektreiche Inszenierung
einer besonderen politisch-militärischen Situ- des Krieges. Die Live-Sendungen und die Be-
ation, werden sie in ihrem Recht auf Mei- richte von den so genannten „embedded jour-
nungs-, Informations- und Pressefreiheit nalists“ involvieren die Zuschauer in das
mehr oder weniger stark eingeschränkt. Kriegsgeschehen (durch Echtzeitberichte war
Unbestritten spielen Fernsehnachrichten eine schon das Publikum im Golfkrieg 1991 immer
wichtige Rolle für die Informationsvermitt- dabei) und übertragen auf sie via Bildschirm
lung und gelten als das glaubwürdigste Me- das Angstgefühl vor Ort. Damit ist das Opti-
dium und als zentraler Vermittler des aktuel- mum erreicht: Der Fernsehzuschauer oder
len Kriegsgeschehens. Sie stellen aber kein Bild Computerspieler sitzt in sicheren Verhältnis-
von der Welt des Krieges dar, sondern Resul- sen vor dem Bildschirm und kann sich mit den
tate einer von genrespezifischen Ausdrucks- von ihm ausgewählten Inhalten im Verhältnis
möglichkeiten, Selektionskriterien, journalisti- zu seiner Angstlust (bis zur Schmerzgrenze)
scher Selbstzensur geprägten und militärisch- konfrontieren – oder die Geräte ausschalten.
politischen Einflüssen unterworfenen Nach-
richtenwelt. All dies hat zur Folge, dass der
Krieg „zum Abenteuer fürs Auge“ wird, wie DIE SELBSTINSZENIERUNG DER MEDIEN
Freimut Duve, Beauftragter für die Freiheit der
Medien bei der Organisation für Sicherheit Es gehört zum Wesen der kapitalistischen Ge-
und Zusammenarbeit Europas (OSZE), in ei- sellschaft, dass sie im Kampf um Geld und
nem Interview mit ZDFonline konstatiert. Wel- Macht Gewinner und Verlierer kennt. Für
che Interessen stecken dahinter, Krieg als Film- und Spielindustrie hat die Schaffung ei-
„Abenteuer“ erscheinen zu lassen? Werden die nes marktgängigen, gewinnorientierten und
Medienschaffenden von den Interessen der künstlerisch anspruchsvollen Produkts oberste
Zuschauer an medialen Produktionen geleitet Priorität. Auch als Journalist muss man mög-
oder sind noch andere Akteure bei der Produk- lichst auf der Seite des Gewinners sein. Und
tion am Werk? In den folgenden Ausführun- gewinnen muss man – nicht zuletzt – auch ge-
gen versuchen wir, die verschiedenen Interes- gen die journalistische Konkurrenz, notfalls
sen bei der „Inszenierung vom Krieg in den mit erfundenen Inszenierungen. Neben den zi-
ten, den Bösen, den Aliens oder anderen Figu- Bildschirmmedien“ darzustellen. vilen Inszenierungen von Sensationsnachrich-
ren in dem Kriegsszenario nahegelegt wird). ten (das Geiseldrama von Gladbeck 1988 ist in
Und das Thema der Bedrohung von äußeren die Mediengeschichte als ein Beispiel von Sen-
Feinden war immer schon ein beliebter Topos KRIEG ALS AUDIOVISUELLES ERLEBNIS sationsjournalismus eingegangen), die ihrer-
in zahlreichen Kulturprodukten. seits einiges an Sensationen wieder hervorge-
Ein noch tiefer liegenderes Motiv kann die un- Kriegsfilme, Kriegsberichterstattung und Com- rufen haben, bieten sich hierfür auch und ge-
ersättliche Gier nach Phantasmen wie gran- puterspiele ähneln sich insofern, als sie den rade der Krieg oder die Krise an. Was könnte es
dioser Destruktivität und grenzenloser Macht Krieg zu audiovisuellem Ereignis und Erleb- Erfolgreicheres und Quotensicherndes geben,
darstellen, wie sie sich in den Bildern von Ex- nis werden lassen. Die Emotionalisierung des als seine Nachricht, seine Information oder
plosionen zeigen. Dies betrifft nicht nur Kino- Publikums erfolgt sowohl durch die optischen Botschaft vor der ganzen Welt zu verkünden?
filme, sondern auch Bilder in Nachrichten, die und akustischen Elemente als auch durch eine Angesichts von Nachrichtensperren im Krieg
sogar weltweit als Symbole verstanden wer- spannende Narration. Alle Bildschirmmedien ist die Verführung zu inszenierten Nachrich-
den wie zum Beispiel das Bild der explodieren- bemühen sich, dem Zuschauer das Gefühl des teninhalten besonders groß, vor allem wenn es
den Atombombe – ein beliebtes Motiv in der Dabei-Seins zu geben. Diese Illusion, stets da- von Politik und/oder Militärs verlockende An-
Zeit des Kalten Krieges – oder die immer wie- bei zu sein, mittendrin im Krieg, wird von Fil- gebote gibt.
der gezeigte Attacke gegen die Türme des men genauso stark vermittelt wie von Fern- Malte Olschewski, Auslandsredakteur des ös-
World Trade Centers. Im Medium Fernsehen sehnachrichten. Computerspiele gehen einen terreichischen Fernsehens, berichtet in seinem
bleiben solche Bilder Bilder, sie sind virtuell, Schritt weiter, weil sie nicht nur das Gefühl ge- Buch unter dem Titel „Krieg als Show” über In-
selbst wenn man weiß, dass es Menschen ge- ben, dabei zu sein. Sie ermöglichen dem Spie- szenierungsarbeiten der Medien während des
geben hat, die die Explosionen und Zerstörun- ler, in das kriegerische Geschehen (nach den Golfkrieges 1991:
gen live gesehen haben, die Zeitzeugen. im Programm vorgesehenen Handlungsoptio- „Es ist eine Liveschaltung. Es ist in den ersten
nen) selbst einzugreifen. Tagen des Krieges. Es ist das CNN-Büro in Je-
Normalerweise spricht man von Inszenierun- rusalem. Hier ist man mit der Produktion von
NACHRICHTEN INSZENIEREN DEN KRIEG gen bei Spielfilmen und Theateraufführungen Wirklichkeit beschäftigt. Am Vortag waren ira-
FÜR DAS PUBLIKUM und bezeichnet damit die spielerische Ebene kische Scud-Raketen auf Israel niedergegan-
medialen Erlebens. Der inszenierten Vorstel- gen. Sie hatten begrenzte Schäden und ein
Mit dem Beginn des Krieges konzentrieren sich lung gegenüber sitzt das Publikum. Wenn bei paar Verletzte gefordert. Nun hatte es soeben
die Medien in erster Linie auf die Berichter- Nachrichten und Magazinen immer wieder neuen Alarm gegeben, dem baldige Entwar-
stattung über die kriegerischen Handlungen, von dem Zuschauer-Publikum die Rede ist, nung folgte. CNN beginnt mit diesem Fehla-
da Krieg für sie „big news“, Aufmerksamkeit, kann man wohl auch bei Nachrichten wie bei larm eine typische Nachrichteninszenierung.
Quote und Auflage bedeutet. Mit Hilfe von Spielfilmen von Inszenierungen sprechen. Me- Vor den in Realzeit weltweit übertragenden
neuen Technologien (Digitalisierungs-, Kabel- dienproduzenten und Publikum ziehen hier Kameras wuseln ein gutes Dutzend Journalis-
und Satellitentechnik) eröffnen sich dem offenbar am gleichen Strang: Das Publikum ten und Techniker durchs Studio. Sie beginnen
Nachrichtenjournalismus gegenüber der Ver- will seine Show, und seien dies eben die Nach- ihre Gasmasken aufzusetzen. Israels Vize-Au-
gangenheit neue Wege bei der Informationsü- richten oder die Magazinsendungen. Diese ßenminister Netanjahu ist, weil es sich so
bertragung – der Weltöffentlichkeit werden müssen deshalb nur zu einem Teil den „journa- schön ergeben hat, zu einem Interview im Stu-
fast zeitgleich umfangreiche und technisch listischen Standards der journalistischen Ob- dio. Auch er zieht sich die Gasmaske aufs Ant-
perfekte Kriegsberichte geliefert. Die Qualität jektivitätskriterien einer verlässlichen journa- litz. Das Wort ,Live‘ ist ständig eingeblendet.
der Bilder steht aber nicht in Frage, sondern listischen Beschreibung von Wirklichkeit“ fol- Aus Atlanta führt die Stimme von Anchor-
deren Wahrheitsgehalt. Zwar sind die Kriegs- gen (Schanne 1995, 11 ff.). man Reid Collins überregionale Regie. Wie ein

225
CHRISTIAN BÜTTNER / MAGDALENA KLADZINSKI

Hohepriester zelebriert er das Wunder der individuell um Leben und Tod geht, sondern
Schaltung: ,Ich will sehen, ob ich Larry Regis- wenn eine gesellschaftliche Zukunft auf dem
ter hören kann, der jetzt mit Mikrofon und Spiel steht. Gerade darin kann ja der beson-
Gasmaske ausgerüstet ist. Larry, kannst du dere Wert journalistischer Arbeit liegen, gegen
mich hören?‘ ,Jawohl, alles o.k.’ Larry in Jerusa- die Lügen zu arbeiten oder mit den Gewinnern
lem hört Atlanta. Damit nicht genug. Die CNN- zu gewinnen.
Zentrale strebt eine Dreierschaltung mit Her- Hier liegt eine große Chance der Selbstverge-
einnahme von Tel Aviv an. Die Betonung gilt wisserung und der Selbstbestätigung: Ich bin
dem Wunder der Technik. ,Ich versuche, Ri- gut, wenn ich so objektiv wie möglich bin und
chard in Tel Aviv dazu zu bekommen.’ Bedeu- nicht zuletzt, wenn ich für eine gute oder
tungsschwere Sekunden. Ähnlich wie im Got- schlechte Nachricht mein Leben riskiere, am
tesdienst die Wandlung ist hier die Schaltung: besten aber, wenn mir die ganze Welt ihre Auf-
,Richard, kannst du mich hören?’ Sekunden merksamkeit schenkt: „Als in der Nacht zum
Pause. Dann die erlösende Botschaft in Form 17. Januar 1991 US-amerikanische Bomber
der Stimme des CNN-Reporters in Tel Aviv, Ri- Bagdad angriffen, standen die Fernsehjourna-
chard Bleystone. Er hat wenig zu sagen: ,Ja, ich listen John Hollima, Bernhard (Bernie) Shaw
bin hier. In Tel Aviv haben vor ungefähr drei und Peter Arnett am Fenster ihres Hotels in der
Minuten die Sirenen zu heulen begonnen. irakischen Hauptstadt und kommentierten –
Jetzt ist alles wieder still. Wenn ich aus dem live per Telefon –, wie der zweite Golfkrieg be-
Fenster schaue, sehe ich menschenleere Stra- gann. ,Es geht los, es geht los‘, rief Bernie
ßen. Nicht ganz. Ich sehe jetzt ein Auto. Nein, plötzlich ins Mikrophon. ,Riesige Blitze am
ich sehe zwei Autos (...), Nach dem Hochamt Himmel! (…) wie ein gewaltiges Feuerwerk‘,
der Schaltung folgt die Nullmeldung über zwei stammelte Peter. Da ging das Licht aus. ,Mist‘,
fahrende Autos. Mittlerweile hat sich die Kor- dachte er, ,die ganze Vorarbeit, die endlosen
respondentin Linda Scherzer im Jerusalemer Diskussionen, das viele Geld – alles umsonst‘.
Büro die Gasmaske übergestreift. Sie arbeitet Aber schon wenige Minuten später gab die
sich durch das Gewühl zielstrebig ins Bildzent- Zentrale des Cable News Network in Atlanta
rum vor. Sie beginnt dort mit einem sehr all- Entwarnung: ,Bleibt dran, Jungs. Die ganze
gemeinen Lagebericht. Sie tut es aber durch Welt hört euch zu‘“ (Löffelholz 1995, 171).
die Gasmaske, die sich damit als ungeeignetes Es ist von Journalisten oft beklagt worden,
Hindernis für flaches Realzeit-Geplapper her- dass nur dort eine journalistische Aufgabe die
ausstellt. Die ganze Bedrohung ist simuliert. nötige Beachtung erhält, wo die weltweite In-
Das beweist ein CNN-Techniker, der die ganze teressenlage der führenden Nationen berührt
Zeit im Hintergrund agierend ohne Maske ist und Nachrichten in ihre Politik passen. Der Chancen einer Friedensberichterstattung be-
bleibt“ (Olschewski 1993, 201f.). Krieg im Süd-Sudan, zum Beispiel, blieb vier trifft, also einer Berichterstattung, die den
Die Gesetze medialer Produktion sind mitun- Jahrzehnte hindurch mehr oder weniger un- Frieden fördert statt den Krieg zu unterstüt-
ter so dominant, dass der Inhalt nur noch eine beachtet, „weil die Kriterien des fehlenden zen – wenig Hoffnung. Eine plausible Erklä-
zweitrangige Rolle spielt. Ob es das Bühnen- Großmachtinteresses und der schweren Zu- rung dafür liefert der Kommunikationswissen-
bild und die Computeranimation oder die be- gänglichkeit einer Berichterstattung im Wege schaftler Michael Kunczik: „Objektive und ak-
sonders gute grafische Darstellung im Com- stehen (…). Ab und zu liest man eine Reportage tuelle Berichterstattung im Kriegsfall ist nicht
puterspiel ist – der Krieg selbst ist nur das Ve- über den ,vergessenen Krieg im Süd-Sudan‘, zu erwarten. Die Beeinflussung von Nachrich-
hikel professioneller Anstrengungen. und das war’s dann. Man kommt nicht hin ten ist eine Notwendigkeit, wenn man den
oder nur unter großen Schwierigkeiten, und Krieg gewinnen will. Entscheidend für die De-
man weiß nie, ob man wieder zurückkommt. mokratie ist, dass in der jeweiligen Nach-
DIE SELBSTINSZENIERUNG DER Wer mag sich schon solchen Strapazen aus- kriegszeit aufgearbeitet wird, wie Informatio-
JOURNALISTEN setzen, besonders für einen Krieg, der dem Be- nen manipuliert worden sind“ (Kunczik 1995,
richterstatter wenig soziales Prestige ein- 101).
Ein weiterer Aspekt ist das journalistische bringt?“ (Papendieck 1997, 23).
Selbstbild, oder das, was man eine persönlich-
berufliche Identität nennen könnte. Die pro- ALTE PROPAGANDA MIT NEUEN MITTELN
fessionelle Identität der Fernsehjournalisten VOM JOURNALIST ZUM SÖLDNER
verbindet sich wie bei anderen Berufen auch Manipulationen, Verbreitung von Lügen, Des-
mit den vielfältigen Aspekten der Persönlich- Solchermaßen im Schnittpunkt zwischen Poli- information seitens der Politik und des Mili-
keit, zu der man im Laufe seines Lebens wird. tik, eigenen moralischen Wertvorstellungen tärs sind nach wie vor ein fester Bestandteil der
Dazu gehören auch die ganz persönliche pro- und dem Druck der journalistischen Kollegen Informationspolitik in Kriegs- und Friedens-
fessionelle Moral, der persönliche Werthori- kann so mancher von einer professionellen zeiten.
zont und der persönliche Anspruch an Profes- Rolle in eine andere fallen. So etwa vom Jour- Die Feststellung von Thukydides, formuliert im
sionalität. Was macht aber einen guten Jour- nalisten zum Söldner. Wer sich in die Gefahr von 5. Jahrhundert v. Chr. – „Das erste Opfer eines
nalisten aus, besonders in seiner Eigenschaft Kriegen begibt, wer angesichts eines Kriegsge- Krieges ist die Wahrheit“– scheint sich immer
als Kriegsberichterstatter? schehens innerlich nicht parteilos und unbe- wieder zu bestätigen. Der Krieg im Fernsehen
Ein Krieg ist kein Picknick. Und so mag den rührt bleiben kann, der mag leicht selbst zur gehorcht nicht den Regeln einer wahrheitsge-
Kriegsberichterstatter vor Ort eine ganze Rei- Waffe greifen, sei es zu der des Wortes oder zur treuen Realitätsdarstellung, sondern folgt den
he von Aspekten zum guten Kriegsberichter- echten Knarre: „Der Krieg wurde immer wieder Vorstellungen der Machthabenden. Deren In-
statter machen, die man unter anderen Um- zu einem Tummelplatz von Abenteurern und teresse besteht im Wesentlichen darin, „die
ständen als Unerschrockenheit, Fähigkeit, mit Draufgängern, deren professionelle Qualifika- tatsächlichen Vorgänge im Fernsehen so dar-
persönlichen Krisensituationen umzugehen, tionen die eines journalistischen Anfängers zustellen, wie es die, die Kriege führen, gerne
aber vielleicht auch als eine gewisse Angstlust nicht überstiegen. So manch ein Kriegsreporter haben wollen“ (Mahr 1997, 105). Zweifelsohne
bezeichnen würde. Schließlich – und bestimmt hat dann auch schon mal lieber statt zur Feder liegt also das Interesse des Militärs und der
nicht zuletzt – die Selbstvergewisserung: zur Waffe gegriffen. Nicht nur, um sich zu ver- Politiker nicht in einer realitätsgetreuen Abbil-
Journalisten sind ja nicht nur von Beruf neu- teidigen, sondern um dem Feind ,eins drüber- dung des Krieges. Damit gerät mediale Kriegs-
gierig, sondern sie sind nicht mehr und auch zuziehen’“ (Beham 1996, 18). darstellung in eine fatale Nähe zu Propaganda.
nicht weniger neugierig als andere Menschen Die Resümees von Journalisten und Kommu- Auch wenn die Medien stets um ihre Unab-
auch, besonders aber dann, wenn es nicht nur nikationswissenschaftlern bieten – was die hängigkeit und um die Objektivität der Be-

226
Krieg und Medien

DAS SZENENFOTO AUS DEM FILM „BLACK HAWK DOWN“


IST NUR EIN BEISPIEL FÜR DIE GEKONNTE UND GEWOLLTE
INSZENIERUNG DES MILITÄRS. DAS US-MILITÄR UNTER-
STÜTZTE DIE PRODUKTION DES FILMES MIT DER BEREIT-
STELLUNG VON HUBSCHRAUBERN UND ELITESOLDATEN .
DAFÜR DURFTE DAS MILITÄR EINBLICKE IN DAS DREH-
BUCH NEHMEN UND KONNTE DIE EINE ODER ANDERE
VERÄNDERUNG IN SEINEM SINNE ERREICHEN.
picture alliance / dpa

politisch-militärische Entscheidungen zu legi-


timieren und die (Welt-)Öffentlichkeit für die
eigene Seite zu gewinnen. Nach wie vor folgt
die Darstellung des Krieges in den Medien den
üblichen Propagandaprinzipien – die „Guten“
kämpfen gegen die „Bösen“, nach wie vor blei-
ben sowohl ungeschminkte Kriegsbilder vom
Geschehen vor Ort als auch die Perspektive der
Soldaten dem Publikum vorenthalten. Ein Ver-
such hätte vielleicht der Embedded Journalism
sein können, doch das Konzept scheiterte an-
gesichts der politisch-militärischen Zensur.

INSZENIERUNG DER POLITIK

Die Tatsache, dass Massenmedien als wichtig-


ste Informationsquelle der Bevölkerung fun-
gieren, hat zur Folge, dass die politischen Ak-
teure ihre Abhängigkeit von den Medien sys-
richterstattung bemüht waren und sind, zu motivieren, muss man die Ziele des Krieges tematisch ins Kalkül ziehen. Zum Erfolg eines
konnten und können sie sich nicht von der als Verteidigung darstellen – die Abwehr einer Politikers trägt nicht nur sein politisches Pro-
staatlichen Kontrolle lösen. Im Gegenteil – die Bedrohung scheint immer wieder als stärkstes gramm bei, sondern vielmehr die Tatsache, wie
Politik hat die Macht der Medien als Mei- Argument für Kriegsbefürwortung zu funktio- gut die Inhalte und die Person kommuniziert
nungsmacher in den letzten einhundert Jah- nieren. werden können. Der Erfolg liegt schon seit
ren schätzen gelernt und sie sich durch ge- Kriegspropaganda liefert ein verzerrtes Reali- Jahren in den Händen von Public-Relations-
schickte Funktionalisierung weniger den je aus tätsbild, indem sie den Krieg in jedem Falle als Agenturen, die eine Art Werbung für die Poli-
der Hand nehmen lassen. Hervorragende Bei- legitim erscheinen lässt, die Größe der eigenen tik machen.
spiele für die Instrumentalisierung von Me- Seite betont und den Feind dämonisiert. Anne Zwischen den Medien und den Politikern
dien durch die Politik und das Militär sind in Morelli (2004) stellt fest, dass sich die Propa- herrscht allerdings ein Dauerkonflikt: Die Poli-
der Zeit des Zweiten Weltkrieges zu finden, in gandamethoden seit dem Ersten Weltkrieg tiker wollen freundliche Berichte, die Medien
der sowohl in Deutschland als auch im Aus- nicht geändert haben: „Wir schenken heute bevorzugen ihren Prinzipien gemäß dagegen
land Massenmedien in die Dienste der Regie- Lügenmärchen genauso Glauben wie die Ge- die schlechten Nachrichten („Only bad news
rungen gezwungen wurden. nerationen vor uns. Das Märchen von kuwai- are good news“). Möchten also die Politiker
Während bis zum Zweiten Weltkrieg Propa- tischen Babys, die von irakischen Soldaten aus Aufmerksamkeit der Medien für ein bestimm-
ganda vorrangig über Printmedien wie Flug- ihren Brutkästen gerissen wurden, steht dem tes Thema wecken, müssen sie der Produk-
blätter und Zeitungen betrieben wurde, bot die von belgischen Säuglingen, denen man an- tionslogik der Medien folgen. Der ehemalige
technologische Entwicklung neue Möglichkei- geblich die Hände abgehackt hat, in nichts amerikanische Präsident Ronald Reagan galt
ten, schnell bestimmte propagandistische nach. Beide haben ihren Zweck erfüllt, unser in diesem Sinne als Improvisations- und Insze-
Botschaften ans Ziel zu bringen. Heutzutage Mitgefühl zu wecken (...). Vielleicht im ersten nierungsmeister: „Reagan ist es in all diesen
werden die Informationen und Desinformatio- Golfkrieg noch bereitwilliger, hat sich doch die Jahren gelungen, die Politik in eine Kulissen-
nen nicht nur via Satellit und Internet schnel- Kommunikation inzwischen zu einer perfekten landschaft für ein über den Bildschirm flim-
ler als je zuvor verbreitet, es kommen auch Kunst entwickelt. (...) Die Schaffung eines ge- merndes Medienspektakel zu verwandeln, von
spezielle mit Fernseh- und Rundfunkgeräten radezu hypnotischen Zustands, in dem sich die dem die Massen sich so sehr haben faszinieren
ausgestattete Flugzeuge zum Einsatz. Solche gesamte Bevölkerung im tugendhaften Lager lassen, dass sie darüber die soziale und politi-
Flugzeuge wurden zum Beispiel 2002 in Af- des gekränkten Gutmenschen wähnt, ent- sche Wirklichkeit verleugnen und verdrängen
ghanistan von der US-amerikanischen Regie- spricht wahrscheinlich einem pathologischen konnten, die die Reagan-Administration fast
rung eingesetzt, um das Programm des ameri- Bedürfnis. Wie gerne reden wir uns selbst und ein Jahrzehnt lang geformt und mitgestaltet
kanischen Regierungssenders „Voice of Ame- anderen ein, wir würden uns an einer noblen hat“ (König 1990, 187).
rica“ zu senden. Operation beteiligen, das Gute gegen das Böse Das Politische wird häufig nicht in Form von
zu verteidigen“ (Morelli 2004, 133 f.). anspruchsvollem Journalismus angeboten,
Heutzutage versteht man unter Propaganda sondern in Form von Unterhaltungsformaten.
KRIEGSPROPAGANDA LIEFERT EIN weniger die „negative Zensur der Nachrich- Dörner (2001, 31) nennt diese Kopplung von
VERZERRTES BILD tenunterdrückung“, als vielmehr „eine positive Politik und Unterhaltung „Politainment“ und
Zensur der Nachrichtenlenkung“ (Weischen- definiert sie als „eine bestimmte Form der öf-
Laut Lasswell (1927) akzeptiert die Öffentlich- berg 1993, 13). Im Golfkrieg 1991, in den „hu- fentlichen, massenmedial vermittelten Kom-
keit den Krieg eher, wenn er als Verteidigungs- manitären“ Kriegen im Kosovo oder im Krieg munikation, in der politische Themen, Akteure,
krieg gegen einen bestialischen Gegner pro- gegen den Terrorismus in Afghanistan und im Prozesse, Deutungsmuster, Identitäten und
klamiert wird. Um die Zivilbevölkerung für den Irak wurden die Fernsehzuschauer immer wie- Sinnentwürfe im Modus der Unterhaltung zu
Krieg einzustimmen und die eigenen Soldaten der mit Propagandalügen konfrontiert, um einer neuen Realität des Politischen montiert

227
CHRISTIAN BÜTTNER / MAGDALENA KLADZINSKI

werden.“ Dies impliziert sowohl, dass sich po- Netzwerk Al-Qaida zu erfahren (13-teilige Re- LITERATUR
litische Akteure der Stilmittel der Unterhal- ality-TV-Serie „Profiles From the Front Line“). Beham, M.: Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik.
tungsindustrie bedienen als auch, dass die Un- Auch die Computer- und Software-Industrie München 1997
terhaltungsindustrie ihrerseits auf politische wird durch das Militär unterstützt. Spiele wie Der Derian, J.: Virtuous War: Mapping the Military-In-
dustrial-Media-Entertainment-Network. Colorado 2001
Themen und Personen zurückgreift. „America´s Army“ (Online-Spiel) und „Full Spec- Dörner, A.: Politainment. Politik in der medialen Erlebnis-
„Infotainment“ ist der Begriff für die unter- trum Warrior“ waren ursprünglich als reine Trai- gesellschaft. Frankfurt am Main 2001
haltsame Vermittlung von Bildungs- und In- ningssimulationen zur Schulung von Soldaten Krech, H.: „Krieg als Abenteuer“. Freimut Duve über
Kriegsberichterstattung. In: ZDFonline. 1.4.2003; URL.
formationsinhalten. Für die Berichterstattung entwickelt worden. Heutzutage gehören sie zu www.zdf.de/ZDFde/inhalt/14/0,1872,2040206,00.html
sei nicht mehr entscheidend, dass es sich um den beliebtesten Spielen auf dem Computer- (29.9.2004)
wichtige Informationen und Politik handelt, spielemarkt – wahrscheinlich, weil sie durch ih- König, H.-D.: High Noon im Mittelmeer. Die Reinszenie-
rung des Mythos des Westen auf der politischen Bühne.
die ihrem Charakter nach von Seriosität ge- ren interaktiven Charakter dem Spieler die Mög- In: Kempf, W. (Hrsg.): Medienkrieg oder „Der Fall Nicara-
prägt sind, sondern wichtig seien in erster Li- lichkeit geben, selbst – ungefährdet – ein Soldat gua“: politisch-psychologische Analysen über US-Propa-
nie der Unterhaltungswert, die Visualisie- zu werden, ein solches Training zu absolvieren ganda und psychologische Kriegsführung. Berlin/Ham-
burg 1990, S. 169–187
rungsmöglichkeiten und der Geschmack des und am (virtuellen) Krieg teilzuhaben. Kunczik, M.: Kriegsberichterstattung und Öffentlichkeits-
Publikums (vgl. Postman 1994). Die Verwi- arbeit in Kriegszeiten. In: Imhof, K./Schulz, P. (Hrsg.):
schung der Grenzen zwischen Information Medien und Krieg – Krieg in den Medien. Zürich 1995,
S. 87–104
und Unterhaltung, so die These von Postman, KRIEGSNACHRICHTEN: ALLES NUR Lasswell, H.D.: Propaganda Technique in the World War.
gefährde die Urteilsbildung der Bürger, da INSZENIERUNG? London 1927
diese nicht immer in der Lage seien, Nachricht Löffelholz, M.: Beobachtung ohne Reflexion? Strukturen
und Konzepte der Selbstbeobachtung des modernen
von Unterhaltung zu unterscheiden. Ansons- Um in einem internationalen Konflikt alle Op- Krisenjournalismus. In: Imhof, K./Schulz, P. (Hrsg.): Me-
ten führe der Zwang zur Bebilderung zu einer tionen kennen lernen zu können, muss man dien und Krieg – Krieg in den Medien. Zürich 1995,
S. 171–192
Entleerung der Inhalte von Politik. die Komplexität der Konfliktsituation ins Kal-
Mahr, H.: Der Zwang zu blutigen Bildern oder: Lässt sich
kül ziehen. Kann man als Bürger/Bürgerin ei- Frieden gut verkaufen? In: Calließ, J. (Hrsg.): „Das erste
nes demokratischen Staates überhaupt aus- Opfer eines Krieges ist die Wahrheit“ oder Die Medien
zwischen Kriegsberichterstattung und Friedensberichter-
INSZENIERUNG DES MILITÄRS reichend und objektiv informiert werden, um stattung. Loccum 1997, S. 105–111
politische Entscheidungen zu stützen oder Morelli A.: Prinzipien der Kriegspropaganda. Springe
Zwischen Medien und Militär herrscht ein treffen zu können? 2004
ebenso komplexes Verhältnis wie zwischen Me- In einer Demokratie können Medien genauso Neudeck, R.: Diskussionsanstoß. In: Calließ, J. (Hrsg.):
„Das erste Opfer eines Krieges ist die Wahrheit“ oder die
dien und Politik. Für das Militär zählt nicht, wel- wenig auf Inszenierung verzichten wie Politik Medien zwischen Kriegsberichterstattung und Friedens-
cher Sender das Rennen um die Information ge- und Militär auf die Medien. Information und berichterstattung. Loccum 1997, S. 342-347
winnt. Für das Militär ist von Bedeutung, wie Showgeschäft balancieren stets zwischen dem Olschewski, M.: Krieg als Show. Die neue Weltinforma-
tionsordnung. Wien 1992
man mit den Sendern die Informationspolitik zu Bedürfnis nach Selbstdarstellung (der Me- Postman, N.: Wir amüsieren uns zu Tode: Urteilsbildung
einem Teil der Kriegführung machen kann. Be- dienschaffenden wie der Politiker) und dem im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Gütersloh 1994
reits in Friedenszeiten rüstet das Militär medial Anspruch auf die Kontrolle von Information Schanne, M.: Der Beitrag journalistischer Objektivitätskri-
terien in Kriegszeiten. In: Imhof, K./Schulz, P. (Hrsg.): Me-
auf, um seine Stärke zu präsentieren. Durch (vor allem des Militärs). Dies hat zur Folge, dien und Krieg – Krieg in den Medien. Zürich 1995, S. 111-
die Zusammenarbeit mit Software-Unterneh- dass die Komplexität der gesellschaftspoliti- 120
men (Entwicklung von Computersimulatio- schen Verhältnisse auf ein grobes Abbild redu- Weischenberg, S.: Schöne neue Welt. Politik und Medien
in Krisensituationen. In: Schmitz, H.-J./Frech, S.: Politik
nen), Filmindustrie (Produktion von Kriegsfil- ziert wird, in das zahlreiche für den Zuschauer populär machen. Politische Bildung durch Massenme-
men und Militär-Soaps) und den Einsatz von kaum kontrollierbare Variablen eingehen. Und dien. Hohenheimer Medientage 1992. Stuttgart 1993, S.
11–28
Künstlern und Medienakteuren im Bereich der wenn nur nach einem groben Abbild oder nach
Truppenbetreuung versucht das Militär seine einer Inszenierung über mögliche militärische
Ziele zu propagieren, sein Image weiter zu ent- Interventionen geurteilt wird, kann ein Kon-
wickeln und Nachwuchs zu rekrutieren. Diese flikt einen gravierend destruktiven Verlauf
Art von Kooperation wird mit dem von James nehmen. Er könnte – mit der Zustimmung des
Der Derian (2002) geprägten Begriff „Mili- Publikums – in einem sinnlosen Krieg enden.
tärisch-Industrielles Medien-Unterhaltungs-
Netzwerk“ (Military-Industrial-Media-Enter-
tainment-Networks) oder kurz „Militainment“
bezeichnet. UNSER AUTOR
Die Bandbreite möglicher Kooperationen ist
groß und reicht von Kriegsfilmen, Propagan- Prof. Dr. Christian
dafilmen, Nachrichtenbeiträgen, Frontunter- Büttner studierte
haltung bis zu Computerspielen. Das amerika- UNSERE AUTORIN Psychologie an der
nische Militär stellt für die Produktion der Philipps-Universi-
Kriegsfilme immer wieder ihre Soldaten und Magdalena Klad- tät in Marburg.
Ausrüstung zur Verfügung. Die Produktion zinski studierte an Nach langjähriger
von „Black Hawk Down“ (von Ridley Scott, der Europa Univer- Supervisions-, Fort-
USA, 2001) unterstützte das Militär zum Bei- sität Viadrina in und Weiterbil-
spiel mit der Bereitstellung von Hubschrau- Frankfurt an der dungstätigkeit für
bern und Elitesoldaten. Dafür durfte das Mili- Oder und absol- pädagogische
tär Einblicke in das Drehbuch werfen und vierte 2001 ihr Dip- Fachkräfte in Kin-
konnte die eine oder andere Veränderung in lom in Kulturwis- dergärten, Schulen
seinem Sinne erreichen. senschaften. Seit und Einrichtungen der Erwachsenenbildung
Zunehmend hat auch das Militär für sich die August 2003 ist zu Aggression und interkulturellen Span-
Möglichkeiten des Reality-TV entdeckt. In re- sie Gastforscherin nungen ist er seit 1973 wissenschaftlicher
lativ kurzer Zeit sind mit Genehmigung des bei der Hessischen Mitarbeiter der Hessischen Stiftung für Frie-
Pentagons zahlreiche Reality-TV-Serien (kurze Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung dens- und Konfliktforschung. Als ausgewie-
dokumentarische Filme von der Front) produ- im Arbeitsbereich „Friedenspädagogik/Kon- sener Experte arbeitet er in verschiedenen
ziert worden. Soldaten wurden mit digitalen fliktpsychologie“. Zur Zeit absolviert sie ein Kuratorien und Gremien (z.B. in der Freiwil-
Kameras ausgerüstet, um Einblicke in ihren Promotionsstudium im Fachbereich Erzie- ligen Selbstkontrolle Fernsehen/FSK) mit.
Alltag zu bekommen (die Reihe „American hungswissenschaften an der Johann Wolf- Christian Büttner hat eine Honorarprofessur
Fighter Pilot“) oder aus der Perspektive einzel- gang Goethe-Universität in Frankfurt am an der Evangelischen Fachhochschule
ner Soldaten den Kampf gegen das Terror- Main. Darmstadt inne.

228
Aus unserer Arbeit
Lothar Frick – neuer Direktor der Landeszentrale
Von März 1995 bis September 2004 leitete Lo- Gesellschaft bei. Wenn einen das nicht her-
thar Frick das Referat Politische Planung im ausfordert, was dann?
Staatsministerium Baden-Württemberg; von
Mai 1997 bis September 2004 war er zudem Ihr Vorgänger Siegfried Schiele hat
stellvertretender Leiter der Abteilung Grund- durch seine lange Amtszeit und seine
satz und Planung im Staatsministerium. Persönlichkeit die politische Bildung
in Deutschland geprägt. Welches
Erbe von ihm nehmen Sie gerne an?
INTERVIEW MIT LOTHAR FRICK Ganz besonders seine fortwährende Mahnung
und den Grundsatz, dass politische Bildung
Auszüge aus einem Interview mit Direktor Lo- unabhängig und überparteilich sein muss.
thar Frick in der LpB-Kundenzeitschrift „Ein- Deswegen muss man seine persönliche politi-
blick“. Der volle Wortlaut erscheint im „Einblick sche Meinung ja nicht morgens an der Pforte
07“ (Erscheinungsdatum 15. Dezember 2004). abgeben.

Seit dem 1. Oktober 2004 sind Und wo setzen Sie andere


Sie Direktor der Landeszentrale für Schwerpunkte?
politische Bildung. Ist Ihnen damit Über eigene Akzente will ich wenige Wochen
ein Traum in Erfüllung gegangen? nach meinem Start noch nicht viel sagen, nur
Ich freue mich natürlich riesig über meine vielleicht soviel: Die politische Bildung muss
neue Aufgabe als Direktor dieser wichtigen sich noch stärker auf Dienstleistungen ausrich-
Einrichtung. Ich hoffe, dass ich gemeinsam ten, ein modernes Erscheinungsbild aufbauen
mit den Kolleginnen und Kollegen die politi- und pflegen und nach außen wirken. Selbstbe-
Seit dem 1. Oktober 2004 heißt der neue Direk- sche Bildung im Land und darüber hinaus vor- wusstsein ist gefragt: Nur wer sich selber im-
tor der Landeszentrale für politische Bildung anbringen kann. Notwendig ist das sicher. Die poniert, imponiert auch anderen; tue Gutes –
(LpB) Lothar Frick. Er wurde 1961 in Maul- Aussage des früheren Bundesverfassungsrich- und rede darüber. Da gibt es in der politischen
bronn (Enzkreis) geboren und hat 1980 am ters Ernst-Wilhelm Böckenförde, wonach der Bildung Nachholbedarf, und das nicht wenig.
Melanchthon-Gymnasium in Bretten sein freiheitliche Rechtsstaat von Voraussetzungen
Abitur gemacht. Danach studierte Lothar Frick lebe, die er selbst nicht garantieren könne, ist Die politische Bildung muss ihre
von 1981 bis 1987 Politische Wissenschaften, sicher schon häufig zitiert worden. Er hat ja Notwendigkeit in Zeiten leerer Kassen
Soziologie und Volkswirtschaftslehre an der auch recht: Garantieren kann das der demo- neu bestätigen. Wie sichern Sie auch
Universität Heidelberg und beendete sein Stu- kratische Rechtsstaat nicht. Aber: Natürlich in Zukunft den Bestand?
dium als Magister Artium (M.A.). Von 1983 bis kann der demokratische Rechtsstaat etwas Zunächst einmal: Diejenigen, die gegen politi-
1987 war er Stipendiat des Instituts für Be- dafür tun, seine eigenen Voraussetzungen zu sche Bildung argumentieren und teilweise po-
gabtenförderung der Konrad-Adenauer-Stif- erhalten. Die Unterstützung und Förderung lemisieren, sind in der Beweispflicht und müs-
tung. Von August 1985 bis August 1986 stu- der politischen Bildung trägt dazu sicher sehr sen begründen, warum die politische Bildung
dierte er Politische Wissenschaft an der Uni- wesentlich bei. Als Demokrat kann nur han- ausgerechnet in einer Zeit verzichtbar sein
versity of Southern California in Los Angeles deln, wer die Demokratie und ihre vielfältigen soll, in der alle nach mehr Bildung und mehr
(USA) und schloss dort mit dem „Master of Vorteile auch versteht. Weiterbildung rufen und zudem gleichzeitig
Arts in Political Science“ ab. eine wachsende Kluft zwischen den Bürgern
Was reizt Sie am meisten an und den Politikern beklagt wird. Mehr Natur-
Beruflich war Lothar Frick wissenschaftlicher der neuen Aufgabe? wissenschaften, mehr Technik, mehr Musi-
Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung, da- Persönlich reizt mich der eigene Gestaltungs- sches, mehr berufliche Bildung – aber weniger
nach Referent in der Grundsatz- und Planungs- spielraum im Rahmen der Zielsetzungen der oder keine politische Bildung? Dafür habe ich
abteilung der CDU-Bundesgeschäftsstelle. Von Landeszentrale. Der inhaltliche Reiz liegt in der noch keinen einzigen gescheiten Grund ge-
Januar 1991 bis Februar 1995 arbeitete er als Faszination der Demokratie, der demokrati- hört. Möglichst viel Sparen mit Verstand heißt
wissenschaftlicher Mitarbeiter der CDU/CSU- schen Teilhabe, der Vermittlung der grundle- möglichst wenig Sparen am Verstand. Das än-
Bundestagsfraktion und Büroleiter des stell- genden Werte des Grundgesetzes und unserer dert nichts daran, dass heutzutage jede öf-
vertretenden Fraktionsvorsitzenden Dr. Heiner freien Gesellschaft. Politische Bildung trägt in fentliche Einrichtung ihre Effizienz und Leis-
Geißler, MdB. hohem Maß zum Zusammenhalt in unserer tungsfähigkeit unter Beweis stellen muss.

Die Zeitschrift „Der Bürger im Staat“ wird herausgegeben von der LANDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Baden-Württemberg.
Direktor der Landeszentrale: Lothar Frick
Redaktion: Siegfried Frech, Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Telefax (07 11) 16 40 99-77.
Herstellung: Schwabenverlag media gmbh, Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern (Ruit),
Telefon (07 11) 44 06-0, Telefax (07 11) 44 23 49
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Die namentlich gezeichneten Artikel stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion dar. Für unaufgefordert eingesandte
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Genehmigung der Redaktion.

229
Buchbesprechungen
Der Gestaltwandel des Krieges (1.) Die zunehmende Entstaatlichung und Pri- regulärer Armeen über das Kriegsgeschehen
vatisierung kriegerischer Gewalt: Während in zieht eine zunehmende Verselbstständigung
HERFRIED MÜNKLER den klassischen Kriegen die Staaten als Mono- der Gewalthandlungen nach sich. Als Mo-
polisten des Krieges agieren, treten in den tive für die neuen Kriege sieht er eine schwer
Die neuen Kriege neuen Kriegen immer häufiger parastaatliche durchschaubare Gemengelage aus persönli-
oder sogar private Akteure – lokale Warlords, chem Machtstreben, ideologischer Überzeu-
Rowohlt Berlin Verlag,
Guerillagruppen, global operierende Söldner- gung, ethnisch-kulturellen Gegensätzen sowie
Reinbek bei Hamburg 2002
firmen bis hin zu internationalen Terrornetz- Habgier und Korruption an. Diese Gemengelage
288 Seiten, 19,80 Euro
werken – als kriegsführende Parteien auf. Diese und die damit einhergehende Vermischung
Die mit dem Ende des Kalten Krieges verbun- Entwicklung beruht auf den geringen Kosten kriegerischer Gewalt und organisierter Krimi-
dene Friedensillusion hat sich als trügerisch er- der Kriegführung durch günstig zu beschaf- nalität behindert die Beendigung der neuen
wiesen. Der Krieg ist nicht verschwunden, er hat fende leichte Waffen, deren Handhabung keine Kriege und die Herstellung eines stabilen Frie-
lediglich seine Erscheinungsform geändert. Der langen Ausbildungszeiten erfordert. In den un- dens.
Politikwissenschaftler Herfried Münkler unter- terschiedlichen Kriegsökonomien erkennt Münkler stellt dem in der allgemeinen Verwen-
sucht die Unterschiede zwischen den Kriegen Münkler die wesentlichen Unterschiede zwi- dung schwammigen Begriff des Terrorismus
der letzten fünfzehn Jahre und den klassischen schen den zum Auslaufmodell gewordenen eine griffige Definition entgegen. Hiernach
Staatenkriegen. klassischen und den neuen Kriegen. Den unmit- setzt Terrorismus als kriegerische Aktivität ei-
Nach Münklers Beobachtung entzündeten sich telbaren Anstieg der Gewalt gegen die Zivilbe- nen erkennbaren politischen Willen voraus, wie
alle Kriegen der letzten zehn bis 15 Jahre an den völkerung sieht der Autor darin begründet, dass er nur bei einigen der im Verborgenen operie-
Rändern und Bruchstellen einstiger Imperien. sich die Bewaffneten die zur Kriegsführung be- renden terroristischen Netzwerken, zum Bei-
In Westeuropa und Nordamerika, Gebieten mit nötigten Mittel durch Raub und Plünderung spiel bei Al Qaida, erkennbar sei. Die Entschei-
einer stabilen Staatsbildung, hätten sich hinge- beschaffen. Hinzu treten finanzielle Unterstüt- dung für eine bewaffnete Auseinandersetzung
gen Zonen des Friedens entwickelt. Der Pazifis- zung durch reiche Privatpersonen, interessierte mit terroristischen Mitteln beruhe auf einer ra-
mus dieser kapitalistisch strukturierten Natio- Staaten und Emigrantengruppen, durch den tionalen Einschätzung der Kräfteverhältnisse
nen sei u.a. auf ein Kosten-Nutzen-Kalkül Verkauf von Bohr- und Schürfrechten in den durch militärisch schwache Akteure und die
zurückzuführen, wonach sich Kriege zwischen kontrollierten Gebieten, aber auch Lösegelder- verfolgten Strategien zielten nicht auf die un-
hoch entwickelten Industrienationen nicht pressung, Menschen- und Drogenhandel im mittelbaren physischen, sondern die psychi-
mehr lohnen. Die neuen Kriege aber sind für Zusammenwirken mit der international agie- schen Folgen der Gewaltanwendung. Insbe-
viele der Beteiligten lukrativ, die durch sie ver- renden organisierten Kriminalität. In der Mög- sondere sei die terroristische Strategie auf die
ursachten immensen langfristigen Kosten von lichkeit persönlicher Bereicherung sieht der Verbindung von Gewaltanwendung mit der
anderen zu tragen. Unter den Bedingungen der Autor die wesentliche Ursache dafür, dass sich Mediendichte und dem offenen Medienzugang
sich staatlicher Steuerung entziehenden Glo- die neuen Kriege oftmals über Jahre hinziehen. in den attackierten Ländern gerichtet: Wer
balisierung greifen die Kriegsparteien ungehin- Ethnisch-kulturelle Spannungen und religiöse nicht in der Lage ist, konventionelle Streitkräfte
dert auf die Ressourcen der Weltwirtschaft Überzeugungen seien zumeist nicht die Ursa- einer Macht mit militärischen Mitteln erfolg-
zurück, so dass die Fortsetzung der Kriegshand- chen eines Konfliktes, sondern wirkten als ver- reich anzugreifen, sorgt für die Verbreitung von
lungen nicht von der Durchsetzung politischer stärkende Motivations- und Legitimations- Bildern, in denen die Folgen der Gewaltanwen-
Ziele, sondern von der weiteren Verfügbarkeit quellen. Auch erteilt Münkler der weithin dung sinnlich erfahrbar werden. Terroristische
kriegswichtiger Ressourcen abhängt. verbreiteten Annahme eine Absage, wonach Handlungen sind deshalb regelmäßig als dop-
In einem historischen Vergleich grenzt Münk- Armut und Elend die Hauptursachen dieser pelte Botschaften zu verstehen: Zunächst wen-
ler die neuen Kriege gegen klassische Staaten- Kriege seien. Mit dieser Feststellung tritt der den sie sich an den Angegriffenen, um ihm seine
kriege ab. Staatenkriege wurden nach Regeln Autor der irrigen Vorstellung entgegen, in den Verwundbarkeit zu demonstrieren und zu sig-
erklärt und beendet sowie mit dem Ziel geführt, von den neuen Kriegen geschüttelten Regionen nalisieren, dass er bei Fortsetzung seines poli-
strittige Angelegenheiten in einer Entschei- gingen – wie in den OECD-Staaten – Rationali- tischen Willens mit politischen Schäden zu
dungsschlacht zu klären. Die neuen Kriege hin- sierung und Pazifizierung Hand in Hand. rechnen habe. Die weitere Botschaft richte sich
gegen weisen weder einen klaren Anfang noch (2.) Die Asymmetrierung kriegerischer Gewalt: an „den zu interessierenden Dritten“, der den
ein bestimmbares Ende auf. An die Stelle von Unter Asymmetrierung der neuen Kriege ver- terroristischen Gruppen zugleich als Legitima-
Friedensschlüsse treten Friedensprozesse, die steht der Autor, dass hier in der Regel nicht tionsspender dient; seine tatsächliche oder ver-
in der Regel nur erfolgreich sind, wenn sie von gleichartige Gegner miteinander kämpfen, son- meintliche Unterdrückung wird regelmäßig als
einem Dritten moderiert werden, der sowohl die dern die Gewalt sich gegen die Zivilbevölkerung Ursache des Kampfes herausgestellt. Nach der
Gewalt der örtlichen Parteien unterdrücken als richtet. Die Verstaatlichung des Militärwesens Beobachtung von Herfried Münkler hat die Ver-
auch erhebliche Geldmittel investieren kann. und der Aufstieg des Staates zum Monopolis- bindung von religiöser Motivation und terroris-
Wegen des Fehlens einer zeitlichen und räum- ten habe ein auf Symmetrie beruhendes Ver- tischer Strategie zu einer Beschleunigung der
lichen Begrenzung der Gewaltanwendung ten- hältnis zwischen den Staaten begründet und Eskalation terroristischer Gewalt geführt. Bei
dieren innergesellschaftlicher Kriege dazu, sich eine Verrechtlichung des Krieges ermöglicht. den modernen Formen des Terrorismus – ins-
zu transnationalen Konflikten auszuweiten. Die auf Ungleichheit basierende Vorstellung besondere den Angriffen auf das World Trade
Als Grundlage militärisch entscheidbarer Staa- des Gerechten Krieges, die unter den Bedingun- Center – unterstellt Münkler, dass ihre Planer
tenkriege arbeitet Münkler sechs Unterschei- gen der Symmetrie der Staatenkriege ihre Be- eher auf die ökonomischen als die unmittelba-
dungen und Grenzziehungen heraus: Im Unter- deutung verloren habe, hat nach Auffassung ren Folgen der Anschläge spekulierten.
schied zu Reichen, deren Herrschaftsanspruch Münklers unter den asymmetrischen Bedin- Münkler stellt heraus, dass primär die Bedro-
vom Zentrum zur Peripherie hin abnimmt, sind gungen der neuen Kriege in der ihr auf das hung der Friedensökonomien benachbarter
Staaten durch die Festlegung anerkannter ter- Engste verwandten Idee des Heiligen Krieges und sogar weiter entfernter Länder durch die
ritorialer Grenzen gekennzeichnet. Auf der ter- ihren Nachfolger gefunden. Gewaltformen wie neuen Kriege, nicht aber menschenrechtliche
ritorialen Grenzziehung beruht die klare Un- Vergewaltigungen, die in Staatenkriegen eine Erwägungen andere Staaten, Bündnissysteme
terscheidbarkeit zwischen Krieg und Frieden. Begleiterscheinung des Krieges darstellten, oder die Vereinten Nationen zu militärischen
Allein dem Staat obliegt die Entscheidung zwi- sind in den asymmetrisch geführten neuen Interventionen bewegen. Vor einer militäri-
schen Freund und Feind. Auf dieser Festlegung Kriegen oft zum eigentlichen Kriegszweck ge- schen Intervention werden in einem politisch-
beruht die Differenzierung zwischen Kombat- worden. Die medial hergestellte Weltöffent- ökonomischen Kalkül die Kosten der Fortdauer
tanten und Nicht-Kombattanten, die eine klare lichkeit sieht Münkler als eine Ressource der des Krieges für die Friedensökonomien mit de-
Grenzziehung zwischen Kriegshandlungen und neuen Kriege, so dass die Medien unfreiwillig in nen einer solchen Intervention gegeneinander
Gewaltkriminalität ermöglicht. die der Rolle einer kriegsbeteiligten Partei ge- abgewogen. Dem Einfluss der Medien misst
Diesen modellhaft skizzierten Grenzziehungen drängt werden. Münkler entscheidende Bedeutung auf die po-
und Unterscheidungen stellt Münkler drei Ent- (3.) Die Autonomisierung militärisch eingebun- litischen Entscheidungsprozesse zu: Berichte
wicklungen bei den neuen Kriegen gegenüber: dener Gewaltformen: Die fehlende Kontrolle von massiven Menschenrechtsverletzungen

230
Buchbesprechungen

förderten die Bereitschaft der Gesellschaften in tatsächliche oder vermeintliche Ungerechtig- westlichen Staaten stürzte das Land ins Chaos
den Interventionsländern, die Kosten und Risi- keit gibt nach seiner Einschätzung dem Leben und wurde in Kämpfen zwischen Warlords,
ken eines Militäreinsatzes zu tragen. Da die der Terroristen Aufgabe und Sinn. Mudjaheddin-Führern, Stammesfürsten und
Mentalität westlicher Gesellschaften jedoch Dieses Psychogramm sieht Todenhöfer in der Drogenbaronen zerrieben. In dieser Situation
empfindlich auf derartige Kosten und Risiken Person Osama Bin Ladens bestätigt: Die Präsenz marschierten 1994 die – zumeist afghanischen
reagiert, wird zunächst eine Politik des Zuwar- amerikanischer Truppen auf der arabischen Flüchtlingslagern in Pakistan entstammenden
tens in der Hoffnung verfolgt, dass die Folgen Halbinsel und die heutige Bedeutungslosigkeit – radikal-islamischen Taliban mit Unterstüt-
eines innergesellschaftlichen Krieges geringer der früher weltbeherrschenden arabischen zung der USA, Pakistans und Saudi-Arabiens ein
sein würden als die einer Militärintervention. Staaten begründeten eine tiefe Demütigung und kamen an die Regierung.
Vor diesem Hintergrund beurteilt Münkler die des Multimillionärs saudischen Ursprungs. Bin Schon bald nach den von Todenhöfer mit gro-
Vorstellung eines Zeitalters globaler Men- Laden sehe sich als Werkzeug der Vorhersehung ßer persönlicher Anteilnahme verfolgten Ereig-
schenrechtspolitik, in dem größere Menschen- dazu auserkoren, die verhasste westliche Welt nissen des 11. September 2001 fürchtete er, dass
rechtsverstöße durch Interventionen geahndet zu überwinden. Bei der Verfolgung dieser selbst das afghanische Volk zum Hauptleidtragenden
werden, als unrealistisch. Nach seinem Befund gewählten Mission verfolge er die allen Terro- des Kampfes der USA gegen Al Qaida werden
stehen sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine risten gemeinsame Strategie, den Gegner durch würde. Als Kenner dieses Volkes betont er, dass
schnell wachsende Anzahl von Krisengebieten demütigende Anschläge zu Überreaktionen sich die Afghanen mit unglaublichem Mut den
und eine eng begrenzte Menge interventions- herauszufordern. größten Armeen der Welt – Mongolen, Englän-
fähiger und zudem aufgrund ihrer spezifischen Der Autor weiß aus eigener Erfahrung, dass Ter- dern und Sowjets – entgegengestellt, nie jedoch
Interessenlage sowie ihrer politischen Verfas- ror nicht mit Gegenterror zu überwinden ist. gegen unschuldige Zivilpersonen gekämpft
sung nur selten interventionsbereiter Mächte Engagiert tritt er dafür ein, den Terrorismus mit hätten. Obwohl das feige, auf Zivilisten keine
gegenüber. aller gebotenen Härte zu verfolgen, fordert je- Rücksicht nehmende Agieren des internationa-
Abschließend stellt Münkler die unterschiedli- doch gleichzeitig Gerechtigkeit gegenüber der len Terrorismus dem afghanischen Volkscha-
chen Reaktionen der Europäer und der Ameri- muslimischen Welt. Insbesondere den USA rakter fremd sei, wurden unterschiedslos Terro-
kaner auf die Herausforderungen des inter- wirft er vor, bei der Verfolgung von Al Qaida ristencamps im Hindukusch und afghanische
nationalen Terrorismus dar: Die Europäer ver- unbeteiligte Zivilisten zu Opfern eines sie nicht Städte bombardiert. Die Inkaufnahme zahlloser
folgen die Strategie, die in Kriegen zerfallene betreffenden Kampf gemacht zu haben. Ange- Opfer unter der Zivilbevölkerung als „unver-
Staatlichkeit wiederherzustellen, um so die sichts dessen stellt er die Frage nach der mora- meidliche Kollateralschäden“ und den von Le-
Existenz- und Operationsbedingungen der Ter- lischen Überlegenheit der Verfolger gegenüber bensmittelpaketen begleiteten Bombenabwurf
roristen zu beschränken. Die USA hingegen set- einem Terroristen, der mitleidlos Unschuldige brandmarkt Todenhöfer als zynische Verhöh-
zen auf einen langen, womöglich permanenten für seine terroristischen Ziele opfert. Überzeu- nung des afghanischen Volkes. Er schildert die
Krieg gegen terroristische Organisationen. Bei gend legt der Autor da, dass mit der Bombar- politische Situation Afghanistans und belegt
der Beurteilung beider Wege macht der Verfas- dierung afghanischer Städte Bin Ladens Stra- damit seine Überzeugung, dass nach dem 11.
ser deutlich, dass territorial gebundene Staat- tegie aufgegangen ist und ihm neue Anhänger September 2001 die Auslieferung Bin Ladens
lichkeit die Grundlage der Sanktionierbarkeit zutrieb, statt ihn und sein Netzwerk zu schwä- ohne Krieg erreichbar gewesen sei. Die gegebe-
der Verletzung zwischenstaatlicher Regeln und chen. nen Möglichkeiten seien von der Bush-Regie-
internationalen Rechts darstellt. Die Erfahrun- Todenhöfer glaubt nicht, dass aktive Terroristen rung nicht genutzt worden, weil diese keine po-
gen hätten jedoch gezeigt, dass Netzwerke wie bekämpft werden können. Das einzige Mittel litische Lösung angestrebt, sondern ein Exempel
Al Qaida nicht mit üblichen Sanktionen zu tref- sieht er darin, den Zulauf von Sympathisanten habe statuieren wollen. Den der Weltöffentlich-
fen seien und selbst herkömmliche Militär- zu unterbinden. Dies sei jedoch nicht mit der keit als Erfolg dargestellten Afghanistankrieg
schläge das Netzwerk nicht völlig zerreißen Demonstration größerer Stärke, sondern grö- beurteilt Todenhöfer als eindeutigen Fehlschlag
könnten. Dorothee Kallenberg-Laade ßerer Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu der Terrorismusbekämpfung und Untergang der
erreichen. Hierzu fordert er konkrete Maßnah- moralischen Glaubwürdigkeit des Westens in
men ein: Erforderlich sei zunächst ein partner- der arabischen Welt. Zahlreiche Zivilisten wur-
Internationaler Terrorismus schaftlicher Dialog mit der muslimischen Welt. den getötet, während Bin Laden nebst seiner
und Terrorismusbekämpfung Die Politik einer doppelten Moral müsse been- Führungsriege die Flucht gelang. Mehr noch:
det werden, fordert er in Hinblick auf die Inter- Bin Laden erwarb damit den Nimbus eines ara-
JÜRGEN TODENHÖFER ventionen der USA gegenüber Afghanistan und bischen Helden. Als Fazit dieses Krieges rechnet
Irak, während andere Unrechtsregime wie Tad- Todenhöfer mit einem weltweiten Anstieg ter-
Wer weint schon um Abdul und Tanaya? schikistan und Usbekistan wegen ihrer Erdöl- roristischer Anschläge.
vorkommen verschont blieben. Anti-Terror- Todenhöfer erinnert an den weiteren Ablauf der
Herder Verlag Freiburg 2003
Feldzügen mit Mitteln des konventionellen Ereignisse, wobei seine Schilderung vor dem
224 Seiten, 19,90 Euro (Gebunden),
Krieges erklärt er eine klare Absage und fordert Ausbruch des Irakkrieges endet. Der Autor stellt
9,90 Euro (Taschenbuchausgabe)
stattdessen eine Verstärkung der Entwick- dar, dass Saddam Hussein zum „Staatsfeind Nr.
Jürgen Todenhöfer, früherer Politiker und Ma- lungshilfe für gemäßigte muslimische Staaten. 1“ der amerikanischen Außenpolitik hochstili-
nager, befasst sich in seinem menschlich bewe- Als Methoden zum Kampf gegen den Terroris- siert wurde, nachdem erkennbar war, dass Bin
genden, auf persönlichen Erfahrungen und tie- mus verweist er neben harten wirtschaftlichen Laden sich dem amerikanischen Zugriff entzo-
fem Engagement beruhenden Buch mit dem und politischen Strafmaßnahmen gegen un- gen hatte. Er stellt heraus, dass es keinerlei An-
internationalen Terrorismus und seinen Aus- terstützende Staaten auf nachrichtendienstli- haltspunkte für eine Allianz zwischen der iraki-
wirkungen. Terrorismus prägte Todenhöfers che Aufklärung, Unterwanderung des terroris- schen Führung und der Al Qaida gab. Der Ty-
privates und berufliches Leben: Als Richter war tischen Umfeldes und den Einsatz von rann Saddam Hussein, von den USA jahrelang
er an Strafprozessen gegen Mitglieder der RAF Spezialkommandos. mit Geld und Waffen als Bollwerk gegen den
beteiligt. Hanns Martin Schleyer, von der RAF Eindringlich schildert Todenhöfer das Leiden iranischen Revolutionsführer Khomeini unter-
entführter und getöteter Arbeitgeberpräsident, des afghanischen Volkes durch fortwährende stützt, mutierte in Erklärungen der Bush-Re-
war sein enger persönlicher Freund und auch er Kriege mit der Sowjetunion, den anschließen- gierung zur konkreten Bedrohung der westli-
selbst stand auf der Abschussliste der Terroris- den Bürgerkrieg und die Angriffe der USA. chen Welt im Allgemeinen und der Vereinigten
ten. Auf diesen Erfahrungen beruht Todenhö- Durch unter persönlicher Gefahr unternom- Staaten im Besonderen. Diese Gefährdung
fers psychologische Einschätzung terroristisch mene Reisen nach Afghanistan und Pakistan wurde mit dem Verdacht auf den Besitz von
agierender Persönlichkeiten als zumeist hoch- weiß Todenhöfer um die Zerstörung des Landes atomaren, chemischen und biologischen Waf-
intelligenten, sensiblen und hypermoralischen und das Elend in den Flüchtlingslagern Pakis- fen begründet, ohne dass dieser Annahme ge-
Menschen mit verwundetem Ego. Bei allen Ter- tans. Der dreijährige Bürgerkrieg bis zum Sturz sicherte Erkenntnisse zugrunde lagen. Toden-
roristen konstatiert der Autor ungeachtet ihres Nadjibullahs 1992 führte zum Zusammen- höfer stellt unmissverständlich klar, dass die
Anspruchs hoher Moralität das völlige Fehlen bruch aller staatlichen Strukturen. Durch den offiziell für den Krieg ins Feld geführten Argu-
von Mitleid mit ihren Opfern. Der Kampf gegen Rückzug der die Mudjahhedin unterstützenden mente völkerrechtlich selbst dann keinen An-

231
Buchbesprechungen

griffskrieg rechtfertigten, wenn die ihnen zu- trag „Frieden durch Krieg“ die außenpolitischen Beachtung verdient jedoch nicht allein Webers
grundeliegenden Annahmen erwiesene Fakten Leitlinien der Bush-Regierung. Auf die Rolle der inhaltliche Pionierarbeit, sondern auch die
wären. Damit drängt sich die Frage auf, aus wel- EU in Bezug auf die Rüstungs- bzw. Abrüs- Konzeption seiner Studie. Im Gegensatz zur
chen Gründen die amerikanische Führung – wie tungsproblematik wird gleich in zwei Untersu- landläufig chronologischen Darstellungsweise
zuvor in Afghanistan – statt einer politische Lö- chungen eingegangen. Des Weiteren wird die in der historischen Parteienforschung wird eine
sung einen Krieg anstrebte. Für letztlich ent- sich wandelnde Funktion der Bundeswehr systematisch angelegte Analyse präsentiert,
scheidend hält Todenhöfer, dass die USA die kommentiert und es wird aufgezeigt, die sich den beiden untersuchten Parteien -
Kontrolle über die irakischen Erdölvorkommen welche Widersprüche zwischen dem ursprüng- Bürgerpartei (bis 1918 Deutschkonservative
anstrebten. Todenhöfer stellt die Frage, ob der lichen Verteidigungsauftrag unserer Streit- Partei) und Bauernbund (seit 1919 Bauern- und
Tod von über 3000 unschuldigen Menschen kräfte und den immer häufiger werdenden Aus- Weingärtnerbund) - in einem horizontalen
beim Angriff auf das World Trade Center eine landseinsätzen bestehen. Vergleich nähert. Weber stellt sich dabei der
ebenso große oder sogar höhere Zahl unschul- Darüber hinaus werden aber auch Nichtregie- Herausforderung, die Dichotomie von rein in-
diger afghanischer oder irakischer Kriegstoter rungsorganisationen (NGOs) und weltweit ope- nerparteilich orientierten Strukturuntersu-
rechtfertigen könne. rierende Konzerne in die Analysen miteinbezo- chungen und ausschließlich wahlsoziologisch
Die weitere Entwicklung hat gezeigt, dass die gen. Hierbei wird unter anderem die Rolle der ausgerichteten Funktionsanalysen zu überwin-
Warnungen Todenhöfers ungehört verhallten. Privatwirtschaft in bewaffneten Konflikten kri- den. Sein Ziel ist die Analyse der wechselseiti-
Auch der Krieg gegen den Irak hat unschuldige tisch unter die Lupe genommen. In diesem Zu- gen Verflechtung endogener und exogener
Menschenleben gekostet, den Terror jedoch sammenhang ist auch unbedingt die Untersu- Einflussfaktoren. Der viel beschworenen kul-
nicht besiegt. Die den Abschluss des Buches chung von Ulrich Ratsch zu den Folgen der turalistischen Wende der Geschichtswissen-
bildende Mahnung von John F. Kennedys („Die Privatisierung der Wasservorsorgung in Ent- schaft Rechnung tragend, rückt vor allem die
Menschheit muss den Krieg beenden, sonst wicklungsländern zu erwähnen, welche anhand „subkulturelle Einbindung“ der Parteien in We-
setzt der Krieg der Menschheit ein Ende“) ist verschiedener Beispiele aufgezeigt werden. bers Blickfeld.
nach dem Irakkrieg ebenso aktuell geblieben, Insgesamt liefert das Friedensgutachten 2004 Während in Preußen und auf Reichsebene die
wie Todenhöfers Auseinandersetzung mit der einen hervorragenden Überblick über die ak- konservativen Parteien auf den Preußischen
Rolle der USA in der Welt. tuellen weltweiten Konflikte und Krisensitua- Volksverein von 1861 und die 1867 gegründete
Dorothee Kallenberg-Laade tionen. Weiterhin werden Konfliktlösungsstra- Freikonservative Partei zurückgingen, verlief
tegien und Krisenpräventionsmöglichkeiten die Formierung des parteipolitischen Konserva-
untersucht und konkrete Vorschläge zur Beile- tivismus im liberalen Stammland Württemberg
Analysen zur Friedens- und gung konfliktbehafteter und kriegerischer Aus- zögerlicher. Das erste - und zunächst einzige -
Konfliktforschung einandersetzungen angeboten. An der Thema- dem Konservativismus zuzuordnende Parla-
tik interessierten Leserinnen und Lesern kann mentsmandat wurde in Württemberg 1895 ge-
CHRISTOPH WELLER, ULRICH RATSCH, die Anschaffung daher nur empfohlen werden. wonnen. Charakteristisch für die regionale Ent-
REINHARDT MUTZ, BRUNO SCHOCH, Alexander Fleischauer wicklung war, so Weber, ein Konglomerat
CORINNA HAUSWEDELL „organisatorischer Fehlschläge und program-
matischer Disparatheit“. Erst mit deutlicher zu
Friedensgutachten 2004 Konservatismus im Tage tretenden gesellschaftlichen Spannungs-
LIT Verlag, Münster 2004
„liberalen Musterländle“: linien und den Wahlerfolgen von Sozialde-
326 Seiten, 12,90 Euro
Bürgerpartei und Bauernbund mokraten und Zentrum einerseits sowie der
in Württemberg 1895–1933 Zunahme antiliberaler bzw. antimoderner Strö-
In ihrem diesjährigen Friedensgutachten prä- mungen aufgrund der sozialen Abstiegssorgen
sentieren die fünf deutschen Institute für Frie- REINHOLD WEBER des Handwerks und Kleinhandels andererseits,
dens- und Konfliktforschung (Institut für Ent- kam es zur Verfestigung der Organisations-
wicklung und Frieden; Forschungsstätte der Bürgerpartei und Bauernbund in Würt- strukturen im württembergischen Deutsch-
Evangelischen Studiengemeinschaft; Institut temberg. Konservative Parteien im Kaiser- konservativismus.
für Friedensforschung und Sicherheitspolitik reich und in Weimar (1895–1933) Wesentliche Impulse der parteiorganisatori-
an der Universität Hamburg; Hessische Stiftung schen Formierung des Bauernbundes rührten
Düsseldorf 2004. 606 Seiten mit einer
Friedens- und Konfliktforschung; Bonn Inter- hingegen von der Mobilisierung der ländlichen
CD-ROM-Beilage (= Beiträge zur Geschichte
national Center for Conversion) in 29 Einzelbei- Bevölkerung während der Agrarkrise. Zwi-
des Parlamentarismus und der politischen
tragen ihre Einschätzungen zu akuten weltwei- schen 1893 und 1895 entstand aus landwirt-
Parteien Bd. 141, hrsg. von der Kommission
ten Krisen- und Konfliktsituationen. Ergänzt schaftlichen Interessengruppen eine eigene
für Geschichte des Parlamentarismus und
werden diese wissenschaftlichen Untersu- Organisation, die zunächst als „württembergi-
der politischen Parteien), 84,80 EUR.
chungen durch einen ausführlichen Anhang, in sche Sektion des Bundes der Landwirte“ fir-
dem der Leser/die Leserin anhand von Zeitta- Untersuchungen, die sich mit politischen Par- mierte und sich dann, im Gegensatz zur Ent-
feln die Dynamik einzelner Konflikte und poli- teien im wilhelminischen Kaiserreich und in der wicklung auf Reichsebene, als eigenständige
tischer Entwicklungen nachvollziehen kann. Weimarer Republik beschäftigen, bilden unver- Partei konstituierte. Katalysatorische Wirkung
Der Schwerpunkt der Ausgabe des Jahres 2004 mindert einen zentralen Forschungsgegen- beim Aufbau eigener Parteistrukturen entfal-
liegt neben Analysen und Berichten über Kri- stand der deutschen Geschichtswissenschaft. tete vor allem das Spannungsverhältnis zwi-
senregionen wie dem Irak oder Afghanistan auf Mit Blick auf das Parteiensystem dieser Zeit- schen den preußisch geprägten Honoratioren-
der Suche nach Erfolg versprechenden Konzep- spanne gelten für Württemberg wie für die interessen des „Bundes der Landwirte“ und
ten der Krisenprävention und der Frage, ob mi- Reichsebene vor allem das liberale, mittlerweile den antietatistischen Zielen der württember-
litärische Mittel überhaupt geeignet sind, mehr aber auch das konfessionell gebundene und das gischen Agrarier. Im Kaiserreich präsentierten
Frieden und Sicherheit in der Welt zu erreichen. sozialdemokratische Parteienspektrum als gut sich Bauernbund und Deutschkonservative
Ferner liefern die Autoren ihre Beurteilungen erforscht. Demgegenüber stellen Studien, in fortan gemeinsam als Alternative zum domi-
und Einschätzungen zur Gefährdung des Welt- denen der Weg des Konservativismus von der nanten württembergischen Bipolarismus von
friedens durch Probleme wie den Zerfall von politischen Idee zur organisierten Partei - ins- Liberalen und Demokraten, orientierten sich
Staaten, die Verbreitung von Massenvernich- besondere unter Berücksichtigung regionaler aber mit bürgerlicher Stadtbevölkerung und
tungswaffen und den internationalen Terroris- Vorzeichen - beleuchtet wird, ein dringendes klein- und mittelbäuerlicher Landbevölkerung
mus. Desiderat dar. Infolgedessen schließt Reinhold an unterschiedlichen sozialstrukturellen Trä-
In vielen Beiträgen wird zudem die Rolle von Webers Tübinger Dissertation über „Bürgerpar- ger- und Wählerklientelen.
globalen Akteuren wie den USA, der Europäi- tei und Bauernbund in Württemberg“ sowohl Ebenso divergent wie die Entstehungsge-
schen Union (EU) oder auch der Bundesrepublik für die Parteienforschung als auch für die würt- schichte entwickelte sich auch die Organisation
Deutschland untersucht und analysiert. So hin- tembergische Regionalgeschichte eine For- beider konservativer Parteien: Der flächende-
terfragen die Autoren zum Beispiel in dem Bei- schungslücke. ckende und professionelle Parteiapparat des

232
Buchbesprechungen

Bauernbundes war sowohl im Kaiserreich als nalsozialismus im Land zurückzuführen. Erst sich Geschichts- und Politikwissenschaft dabei
auch in der Republik „streng hierarchisiert“ und zum Ende der Weimarer Republik gelang es dem gemeinsame Instrumentarien sinnvoll zu Nutze
„lokal verankert“. Demgegenüber blieben die Bauernbund nicht mehr, die Landbevölkerung machen können, wenngleich mancher Histori-
württembergischen Deutschkonservativen im zu binden. Die Bürgerpartei hatte hingegen in ker Begriffen wie „politischer Massenmarkt“
Kaiserreich eine exklusive, kaum professionali- Weimar stets größere Schwierigkeiten, ihr oder „Meinungsmanager“ mit Skepsis begeg-
sierte Partei mehrheitlich auf Stuttgart bezoge- städtisches Stammklientel zu mobilisieren, vor nen mag. Dies sollte jedoch keinen Parteienfor-
ner Notabeln. Erst in der Weimarer Republik ge- allem, als zum Ende der 1920er-Jahre mit dem scher abhalten, sich mit Reinhold Webers gut
langen unter neuem Namen die Sammlung des Christlich-Sozialen Volksdienst eine protestan- lesbarer, anregender und an Detailergebnissen
nationalen und protestantischen Bürgertums tisch orientierte Partei weitere Wählerstimmen überbordender Untersuchung zu beschäftigen.
und ein Professionalisierungsschub. Zugute absorbierte. Jürgen Mittag
kam der Bürgerpartei dabei vor allem die späte Diese anhand von Kartenmaterial illustrierten
Gründung der DVP in Württemberg. Personelle Ergebnisse schlagen sich auch in der Schluss-
und inhaltliche Spannungen in der deutsch- betrachtung nieder. Weber bilanziert, dass die Der Entspannungspolitiker
nationalen „Mutterpartei“ auf Reichsebene so- Entwicklung beider konservativer Parteien Willy Brandt
wie der Aufstieg Hugenbergs führten jedoch hauptsächlich durch ihre Milieuverankerung
zum Ende der 1920er-Jahre auch in der würt- beeinflusst wurde. Während die organisatori- WILLY BRANDT
tembergischen Bürgerpartei zu tief greifenden sche und elektorale Stabilität des Bauernbunds
Fragmentierungs- und Erosionserscheinun- auf ihre dauerhafte Einbindung in die klein- Die Entspannung unzerstörbar machen.
gen. und mittelbäuerliche „Lebenswelt“ zurückzu- Internationale Beziehungen
Zurückzuführen ist die organisatorische Ent- führen ist, mangelte es der Bürgerpartei an die- und deutsche Frage 1974-1982
wicklung beider konservativer Parteien Würt- ser festen Verankerung - vor allem, weil das re-
Band 9 der Berliner Ausgabe. Bearbeitet von
tembergs wesentlich auf ihre unterschiedliche ligiös-protestantische Klientel nicht dauerhaft
Frank Fischer. Im Auftrag der Bundeskanzler-
Milieuverankerung. Der Bauernbund war auf- gewonnen werden konnte und die Existenz ei-
Willy-Brandt-Stiftung herausgegeben
grund seiner vielfältigen Dienstleistungsange- nes manifesten nationalen Milieus in Württem-
von Helga Grebing, Gregor Schöllgen und
bote als „kollektive Selbsthilfe- und Solidarge- berg in Frage gestellt werden muss.
Heinrich-August Winkler.
meinschaft“ und der Verwurzelung in seiner Mit diesen hier knapp skizzierten Befunden ist
Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2003
sozialstrukturell homogenen Trägerschaft eng lediglich der Kern der Ergebnisse von Reinhold
499 S. , 27,60 Euro
in das Netzwerk des agrarischen Milieus einge- Weber umrissen. Unterhalb dieser Makroebene
bunden. Die Milieustützung der heterogeneren entfaltet die Studie ein ausgesprochen dichtes Dem Rücktritt Willy Brandts als Bundeskanzler
Deutschkonservativen Partei war hingegen Panorama an quellengestützten Detailerkennt- am 6. Mai 1974 – dem schlimmsten Tiefpunkt
weitaus schwächer. Im Kaiserreich gelang ihr nissen und differenzierten Thesen, die der his- seiner Karriere – folgte ein verblüffendes Co-
lediglich im Mittelstand einiger Groß- und Mit- torischen Parteienforschung zahlreiche Im- meback. Ohne staatliches Amt zwar blieb
telzentren eine dauerhafte soziale Veranke- pulse und Anknüpfungspunkte bieten, so etwa, Brandt als Vorsitzender der SPD dennoch in Be-
rung. In der Weimarer Republik blieb die Bür- um nur zwei Beispiele aufzugreifen, die statis- rührung mit den Zentren der Macht. Und in der
gerpartei individualistisch geprägt, nicht tisch untermauerte Analyse der Wahlenthal- Tat wurde der Parteivorsitz zum wichtigsten
zuletzt, weil die nationalen Verbände und Ver- tung, insbesondere des politischen (National-) Aktivposten für die Bewältigung der Krise. Um-
eine in Württemberg nur begrenzt Identifika- Liberalismus, zum Ende der Weimarer Republik gekehrt hat die Zuwendung Brandts der Partei
tionspotenzial boten. sowie die Skizzierung der mit Übernahme neuen Auftrieb verliehen. Von 1976 bis 1992
Die Rekrutierungsmuster der Abgeordneten völkischen Gedankenguts einhergehenden war er überdies noch Präsident der Sozialisti-
und die Wahlkampfpraxis bilden weitere Unter- Werteverluste und Erosionserscheinungen im schen Internationale, die er gemeinsam mit
suchungsfelder der Studie Webers, in denen städtisch-protestantischen Konservativismus. Bruno Kreisky und Olof Palme 100 Jahre nach
erneut deutliche Unterschiede zwischen bei- Reinhold Webers Befunde laden aber auch zur ihrer Gründung in eine unerwartete Renais-
den konservativen Parteien aufgezeigt werden. Diskussion ein. So stellt sich die Frage, ob ge- sance führte. Außerdem wurde er in hohe und
Während die Kandidaten des Bauernbundes, rade in Württemberg, mit seinen fließenden höchste internationale Ehrenämter berufen,
ungeachtet der zentralistischen Organisations- Übergängen zwischen Kleinstädten mit agrari- zum Beispiel war er von 1977 bis 1983 Vorsit-
struktur ihrer Partei, durchweg lokal verwurzelt scher Subsistenzwirtschaft und Dörfern, die zender der Nord-Süd-Kommission. Auch ge-
waren, blieben die Deutschkonservativen auch Grenze zwischen städtischem und dörflichem hörte er dem Club of Rome an. – Brandts inter-
in der Weimarer Republik eine Honoratioren- Milieu eindeutig zu markieren ist. Und es ließe nationales Renommee litt nicht im Geringsten
partei. Ihre Mandatsträger rekrutierten sich aus sich ebenfalls kontrovers erörtern, ob der ge- unter dem Verlust des Kanzleramtes. Im Gegen-
„der Oberschicht“ sowie dem „Bildungs- und Be- mäßigte Flügel der Bürgerpartei angesichts ei- teil, sein Charisma ließ sich nunmehr leichter
sitzbürgertum“. Der Mittelstand, der die eigent- nes aggressiven - wenngleich auch regional ge- auf andere Länder übertragen. Als moralische
liche Wählerklientel darstellte, war unter den brochenen - Nationalismus und der latenten Instanz blieb er nicht nur präsent, sondern ge-
Parlamentariern unterrepräsentiert. Systemopposition seines Führers Bazille wirk- wann noch an Gewicht. In der Weltöffentlich-
Auf Wahlergebnisse und Parteiensystem rekur- lich als „ernsthaft kooperationswillig“ charak- keit bekannt geworden als Protagonist der Ost-
rierend, betont Reinhold Weber in einem wei- terisiert werden kann. politik, profilierter Entspannungspolitiker und
teren Untersuchungsabschnitt die Frontstel- Methodisch unterstreicht Weber mit seiner Friedensnobelpreisträger, war ihm gelungen,
lung zwischen den konservativen Parteien und Arbeit die ungebrochene Relevanz des erst- was bislang als inkompatibel galt, nämlich die
der Sozialdemokratie, die in der Regel auf die Li- mals 1966 von Rainer M. Lepsius vorgestellten Begriffe Deutschland, Détente und Frieden zur
beralen der Volkspartei bzw. der DDP ausge- Milieuansatzes für die historische Parteienfor- Deckung zu bringen. Was Wunder – die Mäch-
dehnt wurde. Den gleichsam „natürlichen“ Ko- schung, der sich auch im kulturalistischen Ge- tigen dieser Welt suchten den Rat des Elder
operationspartner fanden die Konservativen im wand anhaltender - bzw. neuer - Wertschät- Statesman.
Zentrum, das in Württemberg „rechtsgerichte- zung erfreuen kann. Indem Weber zahlreiche Der von Frank Fischer bearbeitete Band doku-
ter“ als auf Reichsebene war. In Weimar spie- Ecken und Winkel der sozialmoralischen Mi- mentiert für die Jahre 1974 bis 1982 die Bemü-
gelte sich dieses Allianzmuster in der so ge- lieus und der überformenden politiknahen Kul- hungen Brandts, die Entspannungspolitik wäh-
nannten schwarz-blauen Regierungskoalition tur ausleuchtet, betont er stärker als es die his- rend einer Phase wachsender internationaler
wider, die von 1924 bis 1933 Zentrum, Bürger- torische Parteienforschung bisher getan hat die Spannungen „unzerstörbar“ zu machen. Nach
partei und Bauernbund in der Regierung ver- Bedeutung einer unterstützenden, kommu- 1975 wurde es zu seinem Hauptanliegen, durch
einte. Insbesondere auf den Bauernbund, der nikativ vernetzten, kulturellen Lebenswelt in vielfältige Kontakte und öffentliche Erklärun-
mit Erfolg die Klaviatur des Stadt-Land-Kon- Form von Vereinen und Interessengruppen so- gen den Entspannungsprozess neu zu beleben.
fliktes spielte und durch seine antiurbane und wie den Einfluss von regionalen Eliten und Brandts gesamte Aktivitäten auf dem Feld der
antisozialdemokratische Agitation das ländli- erfahrungsgeschichtlichen Dimensionen. Der Außen- und der internationalen Politik standen
che Wählerklientel dauerhaft band, ist nach Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Metho- im Zeichen von Versöhnung, Frieden und Ver-
Weber auch der verspätete Aufstieg des Natio- den und Begrifflichkeiten unterstreicht, dass trauen. „Selbst in den schwierigsten Zeiten re-

233
Buchbesprechungen

signierte er nicht, sondern kämpfte für die Fort- Konflikt Krieg und Entspannung keinesfalls als nungspolitik; unter der neuen Konstellation in
setzung der Entspannungspolitik. Es ist ein Teil Zwangsalternative zu gelten habe, waren Ame- den internationalen Beziehungen war Ent-
des historischen Verdienstes von Willy Brandt, rikaner und Russen zu einer weiteren Macht- spannung nicht nur unnötig, sondern sogar un-
hierdurch zum dauerhaften Abbau von Span- probe entschlossen. Es sollte ihre letzte sein! möglich geworden. Hier drängt sich im Nach-
nungen in Europa und in der Welt beigetragen Interessant und aufschlussreich ist auch zu le- hinein der Verdacht auf, dass möglicherweise
zu haben“ (S. 74). – Zu diesem Urteil gelangt der sen, wie Brandt ein Schlüsselproblem seiner die ideologische Überfrachtung und morali-
Bearbeiter in seiner informativen Einleitung auf Friedenssicherungspolitik zu lösen versuchte. sche Überhöhung eines politischen Konzepts
der Basis von 79 Dokumenten, die in dem vor- Sollte er zur Erhaltung des gefährdeten Frie- im Falle der Entspannungspolitik ihren Prota-
liegenden Band abgedruckt sind, und deren Ori- dens sich an die Machthaber in den Diktaturen gonisten im Westen den Blick auf die Brüchig-
ginale sich großenteils im Willy-Brandt-Archiv halten, oder sollte er sich offen auf die Seite der keit und innere Schwäche der Volksdemokra-
der Friedrich-Ebert-Stiftung befinden. überall im Ostblock aufbegehrenden Men- tien verstellt hat. Daraus ist jedoch weniger den
Die Edition wendet sich an eine breite histo- schenrechtsbewegungen stellen? „Der Adres- Entspannungspolitikern ein Vorwurf zu ma-
risch-politisch interessierte Öffentlichkeit, sie satenkonflikt – Machthaber oder Regimekriti- chen als vielmehr den hochbezahlten Ostexper-
umfasst ganz unterschiedliche Quellenkatego- ker? – sollte nicht das einzige Dilemma der ten in Forschung, Medien und Geheimdiensten,
rien: eine umfangreiche Korrespondenz – und Entspannungspolitik Willy Brandts bleiben, von denen keiner den Zusammenbruch des
zwar sowohl Briefe von als auch an Brandt, das nach einem ‚Entweder-Oder‘ anstatt eines Ostblocks voraussagen konnte.
Reden, Zeitungsartikel, (vom Autor sorgsam re- ‚Sowohl-als-auch‘ zu verlangen schien“ (Einlei- Caspar Ferenczi
digierte) Interviews in Presse und Rundfunk so- tung, S. 43). Als Beispiel für diesen Zwiespalt sei
wie Aufzeichnungen über Gespräche mit Spit- auf die Ausbürgerung des Schriftstellers und
zenpolitikern in Ost und West, zum Beispiel mit Germanisten Lew Kopelew aus der Sowjetunion Charta der Grundrechte
Tito, Ceausescu, Kádár, Gierek, Jaruselski auf der hingewiesen. Obwohl hochrangige Sowjet-
einen sowie mit Kissinger, Haig oder Mitterand offizielle Brandt gegenüber den Eindruck ver- JÜRGEN MEYER
auf der anderen Seite, daneben aber auch mit mittelt hatten, dass Kopelew nach einem
Dissidenten wie Lew Kopelew oder Jiri Hájek. Forschungsaufenthalt in der Bundesrepublik Kommentar zur Charta der Grundrechte
Das „Rückgrat“ der Dokumentation bildet je- wieder heimkehren könne, verhinderten mäch- der Europäischen Union
doch – wie der Bearbeiter zu Recht anmerkt – tige „Apparatschiki“ in Moskau eben dies. Un-
Nomos Verlagsgesellschaft,
zweifellos der erstmals zugänglich gemachte ter Verweis auf seine eigene Lebenserfahrung
Baden-Baden 2003
Schriftwechsel Willy Brandts mit dem sowjeti- blieb Brandt schließlich nur noch, Kopelew sei-
634 Seiten, 98,00 Euro
schen Generalsekretär Leonid Breschnew bis zu nes Mitgefühls zu versichern. Brandt fühlte sich
dessen Tod am 10. November 1982; er ist um- schmerzlich berührt, er war erzürnt, sah sich Vor kurzem hat der Nomos Verlag die erste
fangreicher als der Briefwechsel mit Ford, Car- getäuscht und in der Öffentlichkeit bloßge- Kommentierung zur Charta der Grundrechte
ter, Thatcher oder Giscard d’Estaing zusammen. stellt. Zur Nagelprobe im „Adressatenkonflikt“ der Europäischen Union veröffentlicht. Im Vor-
Nicht allein für den Zeitgenossen, der bislang kam es schließlich in der polnischen Dauerkrise. wort stellt der Herausgeber Jürgen Meyer fest,
nur die Außenseite der Entspannungspolitik Brandt „kommunizierte“ zwar mit General Ja- dass sich unsere nationale Rechtsordnung
kannte, bietet die Brandt-Breschnew-Korres- ruselski, weigerte sich aber – gestützt auf einen schon jetzt auf Änderungen im Gefüge der Ver-
pondenz eine spannende Lektüre, sie stellt Parteibeschluss – , mit dem Solidarnosc-Führer fassung und der Interpretationen durch das
überdies für jeden Interessierten aus Wissen- Lech Walesa zusammenzutreffen. Das Fallbei- Bundesverfassungsgericht einstellen müsse.
schaft, Politik und Öffentlichkeit eine einzigar- spiel Polen zeigt im Übrigen auch, welche Ver- Das ist zunächst missverständlich – dieser Satz
tige Fundgrube dar. renkungen nötig waren, um an der Entspan- könnte die Furcht bei einzelnen Bürgerinnen
Rufen wir uns nochmals in Erinnerung: Auch nungspolitik festhalten zu können. Hinzu kam, und Bürgern vergrößern, durch die Erweiterung
Brandt konnte Mitte der 1970er-Jahre nicht dass diese Politik zunehmend in Widerspruch der Europäischen Union in ihren politischen
mehr ignorieren, dass die Entspannungspolitik zur Bündnisloyalität mit den USA geriet. Die Gestaltungsspielräumen immer mehr einge-
in Stagnation geraten war. Angesichts der ge- Mehrheit der SPD-Führung brachte die Partei schränkt und gegängelt zu werden. Die natio-
gen Westeuropa gerichteten sowjetischen Ra- auf Gegenkurs zur Bundesregierung unter Hel- nalen Grundrechtsordnungen und Verfassun-
ketenrüstung (SS 20), des Vormarsches der mut Schmidt. In der Innen- wie der Außenpoli- gen bleiben jedoch die alten. In den „Allgemei-
Sowjetunion in der Dritten Welt (z. B. Angola), tik schienen dramatische Zuspitzungen unmit- nen Bestimmungen“ sind Anwendungsbereich,
des Tauziehens um die „Neutronenbombe“, des telbar bevorzustehen. Tragweite, Schutzniveau und das Verbot des
NATO-Doppelbeschlusses, der sowjetischen In- Obgleich die Erhaltung des Status quo als zent- Missbrauchs der Rechte der Charta festgelegt.
tervention in Afghanistan und der Dauerkrise rales Merkmal der Entspannungspolitik galt, Der Rechtsexperte Martin Borowsky, der für das
des kommunistischen Systems in Polen schien war es doch gerade die Entspannung, die indi- Kapitel über die „Allgemeinen Schutzbestim-
ein neuer Kalter Krieg zumindest nicht unwahr- rekt den Zusammenbruch des Sowjetsozia- mungen“ (Kapitel VII) verantwortlich zeichnet,
scheinlich. Als Mentor der Entspannungspolitik lismus und der von ihm etablierten Regimes kommentiert: „Die Charta steht in der Paralleli-
setzte der ehemalige Bundeskanzler sein gan- einleitete. Damit hatten weder Willy Brandt tät der Grundrechtsordnungen. Nach dem Wil-
zes Prestige ein, um von „seiner“ Entspan- noch Leonid Iljitsch Breschnew noch einer der len des Konvents soll sie sich in das bestehende
nungspolitik zu retten, was noch zu retten war. anderen prominenten Briefschreiber gerechnet Geflecht aus nationalen, europäischen und in-
Dabei war sich Brandt – wie er in einem Schrei- – und ebenso wenig der „Cheftheoretiker der ternationalen Grundrechten schonend einfü-
ben an den Chefredakteur des „Stern“ Henri Entspannung“ Egon Bahr. Darüber hinaus wird gen, ohne Schaden anzurichten, ohne zu einer
Nannen offen einräumte – der Widersprüch- hier deutlich, dass insbesondere die Sowjet- Anpassung nach unten zu führen.“ In den Dis-
lichkeit dieses Konzepts durchaus bewusst; er führung mit der Unterzeichnung der Entspan- kussionen und Debatten über die Charta sei
sah aber zur Entspannungspolitik keine Alter- nungsakte ein weitaus größeres Risiko auf gerade dieser Bestimmung große Aufmerk-
native. Das mag erklären, weshalb er dennoch sich nahm als die westlichen Regierungen. Die samkeit zu teil geworden, weil sich „an ihr Be-
den wenig aussichtsreichen Kampf gegen die nachhaltigste Wirkung ging hier von der fürchtungen wie Hoffnungen festmachen las-
neuen geschichtsmächtigen Strömungen in Schlussakte der KSZE-Konferenz von Helsinki sen“, weil es hier um das heikle und komplizierte
den USA und in der UdSSR aufnahm. Über seine von 1975 aus. Verhältnis zwischen den Grundrechten der
Politik der „aktiven Friedenssicherung“ – so lau- Die Geschichte der Entspannungspolitik zeigt, Union und den nationalen Grundrechten geht.
tete nunmehr die Parole, selbst Brandt mied wie rasch vermeintlich unveränderbare Grund- Das vorrangige politische Ziel der Vorschrift ist
jetzt das Wort „Entspannung“ – kam es zum bit- überzeugungen von der Realität widerlegt wer- es, zu „dokumentieren, dass die Charta juris-
teren Konflikt mit Helmut Schmidt, und er ris- den. Mit dem Zusammenbruch des sozialisti- tisch zu keiner Änderung oder Anpassung der
kierte damit die Spaltung der Partei, deren Vor- schen Systems in der Sowjetunion binnen nationalen Verfassung oder anderer Instru-
sitzender er war. Ohne Zwang zu Verhandlung weniger Jahre fand auch der Ost-West-Gegen- mente zwingen wird“ (Hervorhebung im Origi-
und Verständigung, aber wohl auch im Vorge- satz ein jähes Ende. Das Verschwinden dieses nal, S. 596). Hier soll zum Beispiel den skan-
fühl militärischer Überlegenheit, nicht zuletzt das 20. Jahrhundert dominierenden Säkular- dinavischen Mitgliedstaaten mit ihrem hoch
aufgrund der Erfahrung, dass im Ost-West- trends bedeutete auch das Ende der Entspan- entwickelten Grundrechtsschutz die Sorge ge-

234
Buchbesprechungen

nommen werden, der eigene hohe Grund- berlieferungen), (3.) die Wiedergabe der statt- Lag dieses Mittel 1960 noch bei rund 35 Jah-
rechtsstandard könnte durch die Charta in ir- gefundenen Diskussion im Konvent sowie (4.) ren, so stieg es bis heute auf 40,1 an und wird
gendeiner Weise gemindert werden. Um kein die Kommentierung und schließlich noch ein bis 2035 bei 50 Jahren liegen; dann werden die
anderes Kapitel habe der Konvent so lange und Literaturverzeichnis. Jürgen Meyer hat seinen Deutschen wahrscheinlich das älteste Volk der
so intensiv gerungen, wie um das der „Allge- Ausführungen mit denen das Buch beginnt, Welt sein. Der deutsche Medianwähler ist heu-
meinen Bestimmungen“, die vor allem für den den vollständigen Text der Präambel vorange- te 47, in 20 Jahren wird er 54 Jahre alt sein.
Fall der Rechtsverbindlichkeit entworfen wur- stellt: „Die Völker Europas sind entschlossen, Deutschland wandelt sich in eine „Geronto-
den. „Von Anfang an war unbestritten, dass die auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine kratie“, in der die Alten maßgebend sein wer-
Charta gerade die europäische Hoheitsgewalt friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu den.
binden, bändigen, begrenzen soll“ (Hervorhe- einer immer engeren Union verbinden (...). In Dafür sprechen zwei Projektionen: Während
bung im Original, S.566) heißt es in der Kom- dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und die Zahl der 65-Jährigen und älter im Jahre
mentierung zu Artikel 51, Absatz 1. sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die 2000 mit 13 Millionen bis 2040 auf rund 21
Die Charta schützt mithin vor Grundrechts- unteilbaren und universellen Werte der Würde Millionen zunehmen wird, sinkt die Gesamtbe-
verletzungen seitens der „Organe und Einrich- des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und völkerung in Deutschland von derzeit 82 Mil-
tungen der Union“, also dem Europäischen der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsät- lionen auf 70 Millionen und das bei einer an-
Parlament, dem Rat der Europäischen Union, zen der Demokratie und der Rechtsstaatlich- genommenen Zuwanderung von 200.000
der Kommission, dem Gerichtshof und dem keit (...).“ Menschen im Jahr.
Rechnungshof. Dies war das alles überragende Die Charta der Grundrechte stellt einen wich- Die demographische Alterung ist eine Folge
Ziel des Konvents. tigen Schritt auf dem Weg zu einer erweiter- der Bevölkerungsschrumpfung – wie der
Der vorliegende Kommentar zur Charta der ten und geeinten Europäischen Union dar. Der gleichfalls lesenswerte Beitrag von Herwig
Grundrechte der Europäischen Union erläutert „Kommentar zur Charta der Grundrechte der Birg ausführt – , die sich durch den Altenquo-
alle Artikel entlang ihrer Entstehungsgeschich- Europäischen Union“ ist somit eine zentrale tienten – in anderen Beiträgen Altersquotient
te und interpretiert sie für ihre Anwendung in Quelle und wichtiges Dokument über den not- genannt - und seiner Veränderung beschrei-
der Praxis. Sie besteht aus sieben römisch ge- wendigen Verständigungsprozess in und zwi- ben lässt. Dieser Quotienten ist zur Beschrei-
kennzeichneten Kapiteln: (I) Die Würde des schen den derzeitigen und zukünftigen Mit- bung der demographischen Alterung gut ge-
Menschen, (II) Freiheiten, (III) Gleichheit, (IV) gliedstaaten der Europäischen Union. eignet. Die Intensität dieser Alterung korreliert
Solidarität, (V) Bürgerrechte, (VI) Justizielle Sabine Rumpf dagegen negativ mit der Zahl der Lebendge-
Rechte und dem letzten Kapitel (VII) „Allge- burten je Frau. Während heute die „Lastquo-
meine Bestimmungen“. Schon die Wortwahl der ten“ der Menschen im aktiven Alter (20-60
Kapitelüberschriften offenbart die Schlüssel- Die demographische Zeitenwende Jahre) bei einem Altenquotienten bei 0,23 lie-
begriffe, um die es geht. Und das ist nicht nur gen, erhöht sich dieser binnen des überschau-
die wirtschaftliche, politische und soziale euro- CHRISTIAN LEIPERT (HRSG.) baren Zeitraums von 40 Jahren auf fast 0,5.
päische Gemeinschaft, sondern es geht um eine Dies bedeutet, dass je zwei Berufstätige den
gemeinschaftliche Werteorientierung für die Demographie und Wohlstand. Unterhalt für einen nicht mehr Erwerbstätigen
Zukunft. Neuer Stellenwert für Familie in tragen.
Wie sehr ein solcher Entwurf der Verständi- Wirtschaft und Gesellschaft Für den Nichtfachmann sind die nahezu über-
gung bedarf, wird vor allem durch die Ab- einstimmenden Darlegungen zur Auswirkung
Leske + Buderich, Opladen 2003
schnitte „Diskussion im Konvent“ in jedem ein- der Zuwanderung die größte Überraschung.
304 Seiten, 24,90 Euro
zelnen Kapitel sehr deutlich. Aber auch durch Stillschweigend hat die Gesellschaft geglaubt,
den Hinweis auf die besondere Berücksichti- und die Geburtslücken durch Zu- oder Einwande-
gung spezifischer Übersetzungsprobleme, die rung füllen zu können. Das gelang auch – aber
sich bei elf unterschiedlichen Amtssprachen nur kurzfristig. Denn entgegen der landläu-
selbstverständlich ergeben und die es zu be- HERWIG BIRG figen Meinung vom fiskalischen Nutzen der
wältigen gilt – ein Kunststück internationaler Zuwanderung, überstiegen die finanziellen
Verständigung. Streit hatte sich – wie sollte es Die demographische Zeitenwende. staatlichen Zuwendungen für die Einwanderer
auch anders sein – vor allem an der „religiösen Der Bevölkerungsrückgang in diesen Nutzen. Danach war und ist die Zuwan-
Frage“ entzündet. Die emotionalen Auseinan- Deutschland und Europa derung – so die Autoren einzelner Beiträge –
dersetzungen drohten für einen Moment das nach Deutschland seit langem eine „Zuwande-
Beck’sche Reihe, 3. Auflage, München 2003
ganze Projekt zum Scheitern zu bringen. Es rung in die Sozialsysteme“, die eine „Umvertei-
226 Seiten, 12,90 Euro
ging um religiös-philosophisch divergierende lung von den Deutschen zu den Zugewander-
Auffassungen, die sich an den Konnotationen ten“ bewirkt. – Der Liberale Gary S. Becker ver-
und Wertigkeiten der Begriffe „spiritual heri- Demographie und Wohlstand tritt dazu als einziger im Rahmen seiner These
tage“ (England), „patrimonio espiritual“, (Spa- Das im Auftrag des Deutschen Arbeitskreises von der Humankapitalbildung dazu eine ab-
nien), „heritage culturel, humaniste, et reli- für Familienhilfe e.V. von Christian Leipert her- weichende Meinung.
gieux“ (Frankreich) und dem Begriff „geistig- ausgegebene Buch enthält die überarbeiteten Auch die Zuwanderer, die sich in das deutsche
religiöses Erbe“ (Deutschland) festmachten. Zu Vorträge und Diskussionsbeiträge eines gleich- Gesellschaftssystem integrieren, passen sich
bedenken gilt es in diesem Zusammenhang, namigen internationalen Kongresses, der am schon in der zweiten und noch stärker in der
dass jeder einzelne Delegierte in dem Gre- 12. und 13. Juni 2003 in Berlin stattfand. Die dritten Generation in ihrer Familienplanung
mium eine Begründung und eine Haltung ein- insgesamt über 30 Beiträge sind, wie es in ei- mehr und mehr den Einheimischen an. Diese
zubringen hatte, mit der er gleichzeitig die na- nem solchen Sammelband kaum anders sein aber ist in Deutschland durch einen seit 1970
tionale Auffassungen seines eigenen Landes, kann, wissenschaftlich von höchst unter- anhaltenden, progressiven Geburtenschwund
das er zu vertreten hatte, transportiert und re- schiedlicher Qualität. Im Rahmen einer Bespre- gekennzeichnet. Zur Bestandserhaltung müs-
präsentiert. chung ist es unmöglich, alle Beiträge vorzustel- ste jede Frau im Durchschnitt 2,1 Kinder gebä-
Das Buch hat insgesamt 635 Seiten. Als Hilfe- len; es seien deshalb nur die wichtigsten, ren, tatsächlich sind es gegenwärtig knapp 1,4.
stellung für die Erschließung der Materie, die zumeist übereinstimmenden Erkenntnisse her- Oder anders formuliert: Da die künftige Bevöl-
so oder so komplex und schwierig genug ist, vorgehoben. kerungsentwicklung von der Zahl der weibli-
sind alle Kapitel nach einem einheitlichen Die deutsche Gesellschaft altert. Diese Ver- chen Geburten abhängt, müssten je Frau 1,05
Schema aufgebaut: (1.) Vorbemerkungen, (2.) greisung wird durch das Medianalter in Zah- Mädchen in die Welt gesetzt werden, tatsäch-
bereits bestehende Vorgaben des internatio- len verdeutlicht. Unter Medianalter – im Grun- lich sind es 0,7.
nalen Rechts (die Schlussfolgerungen des Eu- de nichts anderes als ein arithmetisches Mittel Die Autoren des Buches arbeiten mit unter-
ropäischen Rates von Köln, die Europäische – verstehen die Demographen ein Alter, das schiedlichen Einwanderungsszenarien zwi-
Menschenrechtskonvention, die Europäische die Bevölkerung in zwei gleich große Gruppen schen 100.000 bis 300.000 Zuwanderern pro
Sozialcharta und die jeweiligen Verfassungsü- von älteren und jüngeren Personen einteilt. Jahr als Saldo, also nach Abzug der in ihr Hei-

235
Buchbesprechungen

matland Zurückkehrenden und der deutschen bildern, deren Aussagen sich mangels Farb- derlos. Ein Grund für die Beschränkung auf
Auswanderer. Je nachdem, welche Annahme druck und schwacher graphischer Gestaltung zwei Kinder liegt auch darin, dass Frauen –
zu Grunde gelegt wird, verlangsamt sich die nicht immer sofort erschließen. Das aber min- eine Folge ihrer langen Ausbildungszeit – bei
Schrumpfung der Bevölkerung. Selbst bei ei- dert keineswegs den Wert näheren Studiums. der Geburt ihres ersten Kindes wesentlich äl-
ner Annahme von 1,6 Geburten je Frau und ei- Abgerundet wird das Werk durch einige Bei- ter sind als früher.
nem Wanderungssaldo von 300.000 pro Jahr, träge über unsere Nachbarländer, wobei Mit Hilfe einer einfachen mathematischen
würde nach der Projektion von Birg die Bevöl- Frankreich mit einer vergleichsweise hohen Gleichung berechnet Birg die optimale Netto-
kerung in Deutschland bis 2025 leicht wach- Fertilitätsrate von 1,9 beispielgebend sein reproduktionsrate. Sie ist gegeben, wenn jede
sen von derzeit 82 Millionen auf knapp 86, um könnte. Frau im Durchschnitt ein Mädchen zur Welt
aber danach abzufallen auf unter 78 Millionen Das Buch vermittelt einen Blick in ein Di- bringt. Er spricht in diesem Zusammenhang
im Jahre 2100. lemma, das nur deshalb noch erträglich ist, von einem Drei-Generationen-Vertrag. Ein
Selbst wenn alle familienpolitischen Maßnah- weil dieser Kollaps vom größten Teil der jetzt Mädchen pro Frau entspricht zwei Kindern;
men zur Geburtenförderung greifen und ab Lebenden nicht mehr erlebt wird. Ohne sich in und der Verfasser wirft die Frage auf, warum
sofort die Geburtenquote auf die magische einer billigen Kritik an den Reformen und Re- der reale demographische Zustand von diesem
Zahl von 2,1 Kinder steigen würde, so wirkte formvorhaben der jetzigen Bundesregierung Optimum so weit entfernt ist, obwohl doch die
sich, einmal abgesehen von der Utopie einer zu ergehen, muss, wenn man die Annahmen Mehrzahl der Kinderwilligen zwei Kinder als
solchen Hypothese, dies frühestens und nur des Buches zu Gunde liegt, lapidar konstatiert Idealzustand ansieht. Einen Grund sieht er
sehr langsam nach rund 25 Jahren positiv aus. werden, dass diese „Reförmchen“ allenfalls al- darin, dass keine politische Kraft in Deutsch-
Aber die Alterung der Gesellschaft ginge zu- lererste Ansätze sein können und den Beginn land dieses Ideal zum Ziel einer „Bevölke-
nächst – wenn auch leicht abgeschwächt – eines langen und schmerzhaften Weges mar- rungspolitik“ machen will, weil dieser Begriff
weiter, und die Sterbefälle lägen noch bis 2080 kieren. aus der Geschichte rassistisch und totalitär
über der Geburtenzahl. Der Grund ist ebenso Ob der demographische Wandel auch als belastet ist.
verblüffend wie einsehbar: Generationen von Chance zu begreifen ist, wird sich noch erwei- Wer sich vertieft in diese Materie einarbeiten
Nichtgeborenen haben nun einmal keine Kin- sen müssen. Und alle familienpolitischen will, greife zu diesem Buch. Die heranwach-
der. Der Geburtenrückgang seit 1970 zieht so- Maßnahmen, so ausgefeilt sie im Einzelnen sende Generation wird den demographischen
zusagen automatisch weitere Geburtenrück- auch sein mögen – auch das wird in diesem Kollaps, der für die heute schon Älteren nur
gänge nach sich. Buch deutlich –, werden die Geburtenrate eine Projektion ohne stärkere persönliche Aus-
Die Gründe für den „demographischen Win- nicht erhöhen, solange nicht „die Lust am wirkungen ist, zum Teil schmerzhaft erleben.
ter“ sind vielfältiger Art. Auf eine eingehende Kinde“ (Altbundespräsident Roman Herzog) Die Folgen für das politische System sind noch
Darstellung der Diagnosen und vorgeschlage- wieder wächst. gar nicht bedacht. Welche Präferenzen werden
nen Therapien, an denen es in dem Buch nicht zum Beispiel politische Parteien im Wettkampf
mangelt, muss hier verzichtet werden. Doch Die demographische Zeitenwende offerieren, wenn sie wissen, dass mehr als die
auf einen Faktor soll hingewiesen werden. Die Dieses Buch von Herwig Birg kann als eine Hälfte der Wahlberechtigten im sechsten
Demographen nennen ihn das demogra- wesentlich erweiterte und vor allem wissen- Jahrzehnt in Erwartung eines ökonomisch ab-
phisch-ökonomische Paradoxon. Rund ein schaftlich vertiefte Analyse seines Beitrages gesicherten Lebensabends steht?
Drittel aller in Deutschland im Fertilitätsalter im oben besprochenen Sammelband gesehen Peter Schade
befindlichen Frauen hat kein Kind oder will werden. Herwig Birg, Präsident der Gesell-
keines. Bei den Frauen mit akademischem Ab- schaft für Demographie, hat in Bielefeld einen
schluss liegt die Quote sogar bei über 40 Pro- Lehrstuhl für Demographie inne. Er kann als Zeitzeugen der politischen Bildung
zent. der Nestor der deutschen Demographiewis-
Der Grund liegt in den Opportunitätskosten. senschaft gelten. KLAUS-PETER HUFER, KERSTIN POHL,
Darunter versteht man den wegen der Kinder Seine Schrift beginnt mit der zustimmenden IMKE SCHEURICH (HRSG.)
entgangenen Nutzen aus Karriere und Ein- Kommentierung zu Publikationen, in denen
kommen. Je besser nun die Ausbildung der das massive Gerechtigkeitsdefizit dieser kin- Positionen der politischen Bildung 2.
Frauen ist – im Prinzip gilt dies auch für Män- derarmen Gesellschaft angeprangert wird, Ein Interviewbuch zur außerschulischen
ner –, je höher ihre potenziellen Einkommens- wenn etwa der ehemalige Bundesverfas- Jugend- und Erwachsenenbildung
chancen liegen, je verlockender die Karriere- sungsrichter Paul Kirchhof konstatiert: „Den
aussichten sind, desto größer ist das Opfer, das Generationenvertrag des Sozialstaates halten Wochenschau Verlag,
sie bringen müssen, wenn sie zu Gunsten von nur die Eltern ein. Dass gerade sie an diesem Schwalbach/Taunus 2004
Kindern mindestens zeitweise auf diese Op- Vertrag kaum beteiligt werden, ist ein rechts- 399 Seiten, 19,80 Euro
portunitäten verzichten müssen. Eine Hebung staatlicher Skandal.“
des Lebensstandards hat also nicht, wie man Auch diese Schrift ist voll von graphischen In einem außergewöhnlichen Publikationspro-
zunächst vermuten möchte, einen Geburten- Darstellungen, Tabellen, minutiösen Projektio- jekt unternehmen die drei Herausgeber den Ver-
reichtum zur Folge, weil man sich Kinder jetzt nen und detaillierter Differenzierung des sta- such, die aktuellen Positionen der außerschuli-
leisten kann, sondern das Gegenteil. Darin tistischen Materials. So gelangt Birg zu der Er- schen politischen Bildung über Interviews mit
liegt das Paradoxe. kenntnis, dass die entscheidende und irrever- 17 zeitgenössischen Autoren und Autorinnen
Die heutige Rentenversicherung mit ihrem sible Weichenstellung der Lebensplanung die zu dokumentieren und zu analysieren. Zur zent-
Umlageverfahren ist in ihren ökonomischen von der Kinderlosigkeit zum Kind ist. Wenn ralen Methode werden dabei standardisierte
Auswirkungen eine Versicherung gegen Kin- erst ein Kind da ist, wünschen sich Eltern zu- und schriftlich gestellte Fragen zu folgenden
derlosigkeit und die dadurch mögliche Alters- meist noch ein zweites. Doppelt so viele Eltern Aspekten: Zur Situation der außerschulischen
armut. Lapidar formuliert: Die Kosten für Er- haben zwei Kinder als solche mit nur einem politischen Bildung, zum Bildungs- und Politik-
ziehung und Ausbildung eines Kindes sind pri- Kind. Die Ein-Kind-Familie als typisch mo- begriff, zu den Zielen und Methoden, zur Bedeu-
vatisiert, die Leistungen – der „fiskalische Bar- derne Familienform sei ein „Mythos“. Die tung didaktischer Prinzipien, zum Verhältnis
wert“ (Welch schrecklicher Begriff!) eines Wahrscheinlichkeit, dass sich die Kinderzahl von Theorie und Praxis und zu aktuellen Kontro-
Neugeborenen in Höhe von 90.000 Euro für auf drei oder gar noch mehr erhöht ist aller- versen und Forschungsfragen.
das Rentensystem – werden sozialisiert. Hans- dings sehr gering. Mit diesen Vorgaben gelingt es, einen ausge-
Werner Sinn, einer der Autoren, bezeichnet ihn Der Hauptgrund für geringe Geburtenzahl sprochen spannend und interessant zu lesen-
als eine Art Kindersteuer, die der Staat den El- liegt also in der gewollten Kinderlosigkeit – den Band zu gestalten. Eine vergleichbare
tern auferlegt. Das heutige Rentensicherungs- nicht aber in dem Wunsch nach einer Ein- Publikation gibt es derzeit nicht auf dem For-
system verursacht Kinderarmut, indem sie Kind-Familie. Der Anteil der zeitlebens kinder- schungs- und Buchmarkt.
diese für die Kinderlosen folgenlos macht. losen Frauen stieg von 12,6 Prozent beim Jahr- Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die
Einige der Beiträge sind leicht überladen mit gang 1940 auf 32,1 Prozent für den Jahrgang Praxis der außerschulischen politischen Bil-
einer Vielzahl Tabellen, Graphiken und Schau- 1965; rund ein Drittel bleibt also immer kin- dung ebenso heterogen ist wie ihre Theorie

236
Buchbesprechungen

und Forschung, dass der wissenschaftliche tativer Demokratiesysteme. „Glaubenskriege“ puppt sich nicht selten als bewusstloser Reflex
Diskurs darüber noch nicht weit fortgeschrit- über die „beste aller Welten“ gibt es nicht der Zeitumstände“ (S.7).
ten ist und dass sie eine große Dynamik auf- mehr. Man ist sich einig über das, was die Welt Vielleicht kann der aktuelle Zustand der politi-
weist. und die Gesellschaft im Innersten zusammen- schen Bildung auch in Anlehnung an Horkhei-
Außerschulische politische Bildung hat jedoch hält. Differenzen sind fachspezifischer und mer und Adorno mit einer „Dialektik der Auf-
momentan die Energie und Souveränität – andragogischer Natur hinsichtlich Methodik, klärung“ beschrieben werden: Emanzipatori-
und dies zeigen die 17 Positionen –, einer un- Didaktik und systematischen Fragestellungen. sche Bildung ist im Dickicht der Moderne ste-
gewissen Zukunft kraftvoll entgegenzutreten. Der Band ist ein lesenswertes Zeitzeugendo- ckengeblieben und zu einem zahnlosen Tiger
Die drei herausgebenden politischen Bildner kument aktueller Positionen in der Erwachse- geworden, dem zwar die Aufmerksamkeit si-
bzw. Bildnerinnen sprechen in ihrer Einleitung nenbildung und gibt einen Einblick in die Hu- cher ist, da er zum Programm dazu gehört, von
in diesem Zusammenhang auch von einer manressourcen der Disziplin. Hier wird der dem aber alle wissen, dass er ungefährlich ist.
„pluralen Vitalität“ (S.10). Band, der mehr ist als ein Interviewbuch, auch Und zu diesem Schluss kommen mehr oder
Vor diesem Hintergrund geht es dem Inter- zu einer wichtigen Quelle, von der ebenso weniger – so mein Eindruck – die Mehrzahl der
viewband auch um eine aktuelle Grundlegung nachfolgende Generationen der außerschuli- befragten Vertreter und Vertreterinnen und
der Disziplin. Hier sind Hufer/Pohl/Scheurich schen Bildung profitieren können. Wer wird sehen die Notwendigkeit einer Neuorientie-
jedoch etwas zu optimistisch. Auch wenn das wann und wie zu einem politischen Erwachse- rung.
Bemühen um eine analytische Grundlegung nenbildner bzw. zu einer Erwachsenenbildne- Man kann aus diesen 17 Interviews viel he-
und eine damit angestrebte Reflexionstiefe rin und wie entwickelt sich das Selbstver- rauslesen. Sie verleiten zum Nach- und Weiter-
deutlich wird, setzt die Interview-Methode ständnis? Diese Fragen auf dem Weg zur Pro- denken, verführen zu Thesen, regen zum Wi-
klare Grenzen für eine systematische Analyse. fessionalisierung und Institutionalisierung der derspruch an und ermöglichen neue Zugänge
Es sind 17 subjektive Positionen, welche die politischen Erwachsenenbildung werden bei- zur politischen Bildung. Wissenschaftliche
Pluralität spiegeln – und hier liegt der große spielhaft beantwortet. Positionen sind nicht nur empirischer Natur,
Verdienst. Die befragten Wissenschaftlerinnen Die Perspektiven, die die Vertreter und Vertre- sie entstehen subjektiv in Köpfen, verfestigen
und Wissenschaftler verfügen dabei über un- terinnen der politischen Bildung in diesem sich, sind vergänglich – und relativ.
terschiedlich lang dauernde und zurücklie- Buch aufzeigen, sind abwägend, vorsichtig Hufer/Pohl/Scheurich ergänzen mit ihrem
gende Erfahrungen in der konkreten politi- und bewegen sich eher im Bereich realisti- Werk nicht nur inhaltlich gesehen die drei In-
schen Bildungsarbeit. Gemeinsam ist dagegen scher Erfahrungswerte. „Feuer“, Leidenschaft terviewbände zur politischen Erwachsenenbil-
eine über Jahrzehnte andauernde akademi- und Aufbruchsstimmung sind nur am Rande dung von Sabine Hering und Hans-Georg Lüt-
sche berufliche Tätigkeit an Universitäten und bei einigen Autoren herauszulesen. Ein „Ruck“ zenkirchen, die die Zeit der 1950er- und
Institutionen. Dominant sind vor allem Vertre- durch die Disziplin, der zu ganz neuen Pers- 1960er-Jahre (Bonn 1992), die Anfänge in der
ter und Vertreterinnen der außerschulischen pektiven führen und provozieren könnte, wird DDR (Berlin 1995) und zuletzt die 68er-Zeit
Erwachsenenbildung. Die Auswahl erfolgt da- nur undeutlich sichtbar. Dafür werden aber (Frankfurt/M. 1996) in Gesprächsform bear-
bei über die Kriterien Präsenz und Rezeptions- immer wieder die Gefahren benannt, die der beiteten, sondern bieten vor allem mit ihrer
dichte im Fachdiskurs. Bei einem solchen per- politischen Bildung derzeit durch die „absolute Systematik auch ein strukturiertes methodi-
sonenorientierten Ansatz ist Vollständigkeit Dominanz des ökonomisch Nützlichen und sches Vorgehen, das diesen Band auszeichnet
nicht möglich. Folgende Fachvertreter werden beruflich unmittelbar Verwertbaren“ (Ahlheim, und beispielhaft macht. Er ist ein wertvoller
vorgestellt: Klaus Ahlheim, Wolfgang Beer, S. 23) drohen. Hier zeichnen sich bei einer gan- Spiegel zur Selbst- und Außenreflexion einer
Heidi Behrens, Peter Faulstich, Martha Frie- zen Reihe von Vertretern wie zum Beispiel zunehmend marginalisierten Disziplin und als
denthal-Haase, Wiltrud Giesecke, Benno Hafe- Klaus Ahlheim, Peter Faulstich, Klaus-Peter Plattform geeignet, um von dort aus zu neuen
neger, Klaus-Peter Hufer, Erhard Meueler, Os- Hufer, Oskar Negt, Gerhard Strunk, Bodo Zeu- Ufern aufzubrechen. In diesem Sinne: ‚pace et
kar Negt, Ekkehard Nuissl von Rein, Albert ner Gemeinsamkeiten in der Wahrnehmung salute’ an Klaus-Peter Hufer, Kerstin Pohl und
Scherr, Horst Siebert, Gerhard Strunk, Johan- und Analyse ab, die eine identische Einschät- Imke Scheurich.
nes Weinberg, Bodo Zeuner und Christine zung des Status quo ergeben. Ulrich Klemm
Zeuner. Politische Bildung ist derzeit wieder sehr stark
Der Band ist damit nicht nur ein hochwertiges mit sich selbst beschäftigt – die schulische
„Who is Who“ der außerschulischen politi- ebenso wie die außerschulische. Ihr fehlt, und Die neu aufgeflammte Debatte:
schen Bildung, sondern bietet im Sinne einer dies wird zwischen den Zeilen erkennbar, ein Wie „europäisch“ ist die Türkei?
„Ermöglichungsdidaktik“ auch einen vielfälti- anschlussfähiges Portal an die Gesellschaft.
gen und breiten Zugang zu Grundpositionen Mit dieser – ketzerisch gesagt – Profilschwä- CLAUS LEGGEWIE (HRSG.)
gegenwärtiger politischer Bildung. Er hilft au- che wird sie aber zur „leichten Beute“ für
ßerdem dabei, Perspektiven für die politische Dritte: Die Diskussion um politische Bildung Die Türkei und Europa
Bildung zu entwickeln. Im besten Sinne des als „Dienstleistung“ ist beispielsweise ein Dis-
Beutelsbacher Konsenses dient die Interview- kurs in diese Richtung und zeigt sich mit der Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main
sammlung einer Bewusstseinserweiterung, aktuellen Studie (2004) von Karsten Rudolf 342 Seiten; 12,00 Euro
regt zum Weiterdenken an und bietet einen und Melanie Zeller-Rudolf „Politische Bildung
aktuellen Überblick. Von ihr profitieren ebenso – gefragte Dienstleisterin für Bürger und Un- Seit dem Abschluss des Assoziierungsabkom-
„alte Hasen“ wie „Einsteiger“. Die Interviews ternehmen“ (Bertelsmann Verlag). Die Bemü- mens zwischen der Türkei und der EWG zu Be-
bringen eine systematisierte Selbstdarstellung hungen, hier gegenzusteuern, werden bei ginn der 1960er-Jahre werden sowohl in der
auf hohem Niveau, die in der Summe ein vor- zahlreichen Autorinnen und Autoren des Ban- Europäischen Union als auch beim potenziel-
zügliches Lesebuch ergeben, obgleich eine et- des deutlich. Exemplarisch sei hier Klaus-Peter len Beitrittskandidaten selbst wechselnde und
was ausführlichere Beachtung der außerschu- Hufer genannt, der bereits 2001 mit seinem divergierende Positionen zu der „Europa-Kom-
lischen Jugendbildung wünschenswert gewe- Plädoyer „für eine emanzipatorische politische patibilität“ der Türkei vertreten. Bedingt durch
sen wäre. Bildung“ (Wochenschau Verlag) die Eckpunkte die Entscheidung über eine Vollmitgliedschaft
So heterogen die Positionen hinsichtlich des einer aktuellen kritischen Reflexion der Theo- ist die Diskussion neu aufgeflammt und wird
fachspezifischen Diskurses auch sind, so ho- rie und Praxis politischer Bildung setzte. Die- in der Öffentlichkeit sowohl sachlich als mit-
mogen ist der politische Ausgangspunkt der sen kritischen Blick auf die momentane Er- unter leidenschaftlich geführt. Ein breites
Autoren und Autorinnen. Ausreißer nach wachsenenbildung brachte auch sehr poin- Spektrum von Aspekten wird ins Feld geführt
„links“ oder „rechts“ im politischen Bewusst- tiert 2003 der Erziehungswissenschaftler und und kontrovers beurteilt: Diskutiert wird ei-
sein gibt es nicht – vor dreißig Jahre sah es Andragoge Ludwig A. Pongratz – der leider nerseits die Frage der geografischen und kul-
diesbezüglich deutlich heterogener aus. Die nicht in dem Interviewbuch befragt wird – mit turellen Ausdehnung Europas sowie seiner po-
Befragten bewegen sich alle im Kontext eines seinem Essayband „Zeitgeistsurfer“ (Beltz Ver- litischen Kultur, in welcher der Wahrung der
aufgeklärten Humanismus und einer frei- lag) auf den Punkt. Er schreibt: „Der selbstbe- Menschen- und Bürgerrechte zentrale Bedeu-
heitlich-republikanischen Ordnung repräsen- wusste Gleichschritt mit dem Zeitgeist ent- tung beikommt. Andererseits wird ein Beitritt

237
Buchbesprechungen

des NATO-Mitgliedes Türkei auch nach seiner führt werden können und unterscheidet zwei Islamismus. Wehler befürchtet, nicht verkraft-
geostrategischen Bedeutung sowie seiner öko- Argumentationsstränge. Der erste Argumen- bare Migrantenströme würden die Integration
nomischen Situation beurteilt. tationsstrang beruht auf der an Prinzipien der bereits in den Mitgliedsstaaten lebenden
Das von Claus Leggewie herausgegebene Buch ausgerichteten Selbstfindung Europas und rund drei Millionen Muslime zusätzlich er-
lässt politische Akteure und Wissenschaftler, umfasst verschiedene Identitätskonzepte: Eu- schweren. Auch geostrategische Argumente
Schriftsteller und Unternehmer, Journalisten ropa als geografischer Raum, als Schicksalsge- sprechen aus seiner Sicht nicht für den Beitritt.
und Korrespondenten sowie Sprecher der tür- meinschaft, als Erbe des christlichen Abend- Auf den Beitrag Wehlers antworten ausgewie-
kischen Migranten zu Wort kommen. Die teil- landes, als kapitalistische Marktwirtschaft und sene Kenner des Nahen Ostens und seiner Ge-
weise aufeinander bezogenen Beiträge rei- als Hort von Demokratie und Menschenrech- schichte: Günter Seufert, Institutsleiter der
chen von neutralen Problemdarstellungen bis ten. Der zweite Argumentationsstrang be- Deutschen Morgenländischen Gesellschaft,
hin zu flammenden, mitunter auch polemisch schäftigt sich damit, ob und wann die Türkei Seyla Benhabib, in den USA tätige Politikprofes-
gehaltenen Plädoyers. Das Buch lässt sich in die im Jahre 2002 auf dem EU-Gipfel in Hel- sorin, und der Historiker Wolfgang Burgdorf.
zwei Hauptabschnitte unterteilen: Der erste ist sinki aufgestellten Beitrittskriterien erfüllt. Seufert weist darauf hin, dass die türkische Va-
dem Selbstverständnis Europas und dessen Hiernach beurteile sich die Beitrittsfähigkeit riante des Islam keine Tradition der Gewalt auf-
Beurteilung von außen gewidmet. Der zweite der Türkei zunächst nach dem Grad der Um- weise. Kernaussage des Beitrags von Benhabib
Abschnitt beleuchtet den Umstand, dass das setzung demokratischer Prinzipien und ihrer ist die Warnung, die Verweigerung des Beitritts
bilaterale Verhältnis zwischen der Europäi- wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Ferner werde zu einer Annäherung der Türkei an die is-
schen Union und dem Beitrittskandidaten fließen sicherheitspolitische Überlegungen in lamische Welt führen. Burgdorf vertritt die Auf-
längst transnationale, ja sogar weltweite Be- die Debatte ein, die sowohl die innenpolitische fassung, dass über den Beitritt ausschließlich
deutung erlangt hat. Situation des Landes selbst als auch seiner An- politisch zu entscheiden sei. Unter Hinweis auf
Einer Einleitung folgen sieben Kapitel, denen rainerstaaten zum Gegenstand hätten. die weltweite Globalisierung widerspricht er
jeweils wiederum eine Einführung vorange- Das erste Kapitel „Wo Europa endet“ legt den dem Argument, die EU laufe Gefahr, durch den
stellt ist, und ein Ausblick des Herausgebers Hauptakzent auf die kulturelle Basis von Mit- Beitritt der Türkei geografisch oder kulturell
schließt die Darstellungen ab. Ein Anhang mit gliedschaften. Hier reicht das Meinungsspek- überdehnt zu werden.
statistischem Material und Dokumenten über trum von kultureller Vereinbarkeit der Türkei Das Kapitel „Demokratie und Religion“ geht
die Beitrittsverhandlungen bietet umfassende mit den bisherigen Mitgliedern bis hin zu der zunächst der Frage nach, ob eine „christliche
Hintergrundinformationen. Auffassung, die Türkei liege „auf allen denkba- Identität“ Europas einem Beitritt der Türkei
In der Einleitung zeichnet Claus Leggewie den ren kulturellen Karten abseits“ von Europa. entgegensteht. Zwei Verfasser sprechen sich –
Ablauf der Annäherung der Türkei an Europa Zwei Beiträge verneinen die Frage, ob sich aus mit unterschiedlichen Begründungen – dage-
innerhalb der letzten vierzig Jahre nach. Wal- der Geografie und Geschichte Argumente für gen aus, auf das Christentum als Argument
ter Hallstein, der damalige Präsident der EWG- die Beurteilung eines Türkeibeitritts gewinnen zur Beurteilung der Beitrittsfähigkeit der mus-
Kommission, sah bei Abschluss des Assoziie- ließen. limisch geprägten Türkei zurückzugreifen. Ein
rungsabkommens im September 1963 in der Den ersten Beitrag des zweiten Kapitels „Euro- Beitrag untersucht, ob es in der Türkei einen
Türkei bereits ein späteres vollberechtigtes päische Identität“ bildet ein ZEIT-Essay des Bie- demokratisch geprägten Islam geben könne.
Mitglied. Valéry Giscard d´ Estaing hingegen lefelder Geschichtsemeritus Hans-Ulrich Weh- Yasar Nuri Öztürk, Hochschullehrer der Theo-
erklärte in jüngerer Zeit als Präsident des EU- ler aus dem Jahr 2002. Dieser hatte einem logie in Istanbul, erläutert die Unterschiede
Konvents, die Türkei gehöre nicht zu Europa Beitritt der Türkei eine klare Absage erteilt und des Politikverständnisses, wie sie sich im „tra-
und ihr Beitritt zur EU bedeute faktisch deren die Verleihung des Status eines Beitrittskandi- ditionellen“ und „wahren“ Islam darstellen.
Ende. Den Grund für diese Entwicklung sieht daten als korrekturbedürftigen Fehler beurteilt. Rainer Hermann, Türkeikorrespondent der
Leggewie darin, dass aus der EWG mittlerweile Die Aufnahme der Türkei laufe den Interessen FAZ, stellt den Status nicht-muslimischer
eine politische Union geworden sei, während der EU und ihrer Mitglieder zuwider – so argu- Minderheiten in der Türkei dar.
die Türkei den Weg in Richtung auf eine isla- mentiert Wehler. Er verweist auf Demokratie- Das Kapitel „Wirtschaft und Menschenrechte“
mische Republik eingeschlagen habe. Er er- defizite und die ökonomische Situation der Tür- beginnt mit einem Artikel aus dem „Econo-
kennt an, dass sowohl für als auch gegen den kei sowie ihre Zugehörigkeit zu einem anderen mist“ aus dem Jahre 2002. Diesem Artikel
Beitritt der Türkei gewichtige Gründe ange- Kulturkreis und betont das Wiedererstarken des kommt ungeachtet seiner in der verkürzten

MICHAEL EILFORT (HRSG.):

Parteien in Baden-Württemberg
Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs, Band 31
Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2004

Parteien sind – aller vielbeschworenen Parteienverdrossenheit zum Trotz – die wichtigsten


Akteure im politischen Willensbildungsprozess. Das von Michael Eilfort herausgegebene
Buch bietet einen bilanzierenden Rückblick auf die organisatorische, inhaltliche und per-
sonelle Entwicklung der vier im Landtag von Baden-Württemberg vertretenen Parteien.
Gefragt wird dabei auch nach ihrer Standortbestimmung zwischen landespolitischer Eigen-
ständigkeit und bundespolitischen Zusammenhängen.
Erstmals werden zudem in vergleichender Perspektive die Jugendorganisationen der Par-
teien behandelt. Das Verhältnis von Jugend und Politik ist ein besonders spannendes Thema,
weil es ein „Dauerbrenner“ der politischen Bildung ist und hohes zukunftsrelevantes Gewicht
hat. Und weil Parteien in der parlamentarischen Demokratie ohne Wählerinnen und Wähler
nicht zu denken sind, blickt der Band auch über den parteipolitischen Rahmen hinaus und
fragt nach politischer Kultur und Wahlverhalten in Baden-Württemberg und in seinen Teil-
regionen.
Bezug gegen eine Schutzgebühr von 5 Euro (zzgl. Versandkosten): Landeszentrale
für politische Bildung Baden-Württemberg, Marketing, Stafflenbergstraße 38,
70184 Stuttgart; oder per Fax: 0711/164099-77; oder per E-Mail: www.lpb.bwue.de

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Buchbesprechungen

Argumentation begründeten Schwäche ein benswert, die „binäre Kodierung“ des „drinnen gen sowie künstlerische Hervorbringungen und
Verdienst zu: Er stellt die nicht geklärte Frage oder draußen“, die eine EU-Mitgliedschaft mit Formen des Alltagslebens. Er stellt heraus, dass
nach der Finalität der EU als Grund für die sich bringe, durch eine netzwerkartige Kon- sich heute die interessantesten und politisch
Schwierigkeit heraus, eindeutige Kriterien zur stellation zu überwinden. Allerdings relativiert folgenreichsten Unterschiede innerhalb einer
Beurteilung der Beitrittsfähigkeit aufzustellen. er die Bedeutung seines Lösungsansatzes mit jeden Kultur und Gesellschaft entwickeln, so
Rainer Hermann, Korrespondent der FAZ in der Einschätzung, diese Alternative werde so- dass die Vorstellung einheitlicher sozio-kultu-
Istanbul, berichtet über die Bemühungen der wohl in Brüssel als auch in Ankara als zweit- reller Identitäten entlang traditioneller Kultur-
türkischen Wirtschaft, den Anschluss an die klassig eingeschätzt werden. zonen der Realität entbehrt. Politische Identi-
EU zu finden. Da sowohl in der Wirtschaft der Abschließend ließe sich der Gewinn der Lek- tät definiert Meyer als das Bewusstsein der
Türkei als auch bei der Ausgabenpolitik der EU türe des vorgestellten Buches auf folgende Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, für die
mit nicht vorhersehbaren Wechseln gerechnet Formel bringen: Wer eine eindeutige Antwort die gleichen Verbindlichkeiten unbedingt gel-
werden müsse, beurteilt er aktuelle Aussagen auf die Frage erwartet, ob die Türkei in die EU ten, verbunden mit der Bereitschaft, die sich
über die voraussichtlichen Kosten eines Tür- aufgenommen werden soll oder nicht, wird si- hieraus ergebenden Konsequenzen zu über-
keibeitritts als Zahlenspiele. Amnesty Interna- cherlich enttäuscht werden. Leserinnen und nehmen. Meyer tritt dem Glauben entgegen,
tional berichtet über die Menschenrechtssitu- Leser, die sich jedoch über die Problematik und politische Identität setze kulturelle Identität
ation in der Türkei im Jahr 2002. Hiernach wa- den Diskussionsstand informieren wollen und voraus. Vielmehr verweist er auf Befunde, wo-
ren im Berichtszeitraum trotz geänderter an Anregungen für eigene Überlegungen und nach sich kulturelle Unterschiede mit der ge-
Rechtsvorschriften Folterungen und Miss- Diskussionen interessiert sind, werden die Lek- meinsamen Akzeptanz derjenigen elementaren
handlungen zu beklagen. Weder das Recht der türe als Bereicherung empfinden. politisch-kulturellen Grundlagen reibungslos
freien Meinungsäußerung, noch grundle- Dorothee Kallenberg-Laade verbinden lassen, die das Zusammenleben un-
gende Rechte Inhaftierter seien durchgängig terschiedlicher kultureller Identitäten in dersel-
gewährleistet. Heinz Kramer, Türkeiexperte, ben Gesellschaft und demselben politischen
kommt nach der Abwägung der für und gegen Welche Identität(en) Gemeinwesen ermöglichen. Er fordert, die an
den Beitritt sprechenden Argumente zu dem braucht Europa? politische Identität als Bedingung demokrati-
Ergebnis, dass für keine Alternative zwingende scher Legitimität zu stellenden Anforderungen
Gründe gegeben seien. Somit obliege es den THOMAS MEYER auf eine Übereinstimmung in den Grundsätzen
Entscheidungsträgern, im politischen Prozess und Regeln der Demokratie sowie der großen
zu einer Entscheidung zu gelangen und diese Die Identität Europas Entwicklungsrichtung des Gemeinwesens zu
politisch zu rechtfertigen. beschränken. Weiter gehende Voraussetzun-
Das fünfte Kapitel hat die deutsche Debatte Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004 gen hingegen bewertet er als im demokrati-
über den Türkeibeitritt zum Gegenstand. Pub- 239 Seiten; 10,00 Euro schen Sinne illegitim. Die Identifizierung der
lizisten und Hochschullehrer, unter ihnen auch Bürger mit dem politischen Gemeinwesen bil-
der Herausgeber, sowie Altbundeskanzler Hel- Die Erweiterung der Europäischen Union (EU) det nach Meyers Verständnis die Grundlage
mut Schmidt äußern sich zu der Frage, ob die beschäftigt nicht nur die Diskussion der politi- für die Sicherung seiner Legitimität. Voraus-
Türkei die Voraussetzungen zur Aufnahme in schen Entscheidungsträger, sondern auch die setzung für diese Identifizierung sind nach sei-
die EU erfüllt. Die Beurteilungen reichen von Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten ner Einschätzung praktische Teilhabe an den
engagierten Plädoyers für den Beitritt über die und der zukünftigen Beitrittskandidaten. Ins- Entscheidungsprozessen und ihrer Beratung,
Feststellung, die Voraussetzungen seien zu- besondere an der Frage eines Beitritts der Tür- zumindest jedoch die Schaffung der Voraus-
mindest derzeit oder auf absehbare Zeit nicht kei entzünden sich heftige Debatten über die setzungen hierfür. Anhand vergleichender Un-
gegeben, bis hin zu entschiedener Ablehnung. Grundlagen der EU. Die Frage nach den geogra- tersuchungen weist Meyer nach, dass das Maß
In die Beurteilungen einbezogen werden die fischen Grenzen der Gemeinschaft, aber auch des Vertrauens der EU-Bürger in die Institutio-
Geschichte, regional- und geostrategische so- der kulturellen, ethnischen und religiösen Vor- nen mit dem Grad ihrer Offenheit und Politisie-
wie ökonomische Überlegungen, die innen- aussetzungen für eine EU-Mitgliedschaft sind rung korrespondiert und fordert zu größerer
politische Situation des Beitrittskandidaten Gegenstand kontroverser öffentlicher Diskus- Transparenz auf.
sowie prognostizierte Auswirkungen des Bei- sionen. Bereits derzeit bestehen aufgrund der Meyer macht deutlich, dass der National-
tritts bzw. der Nichtaufnahme auf die EU Organisations- und Entscheidungsstruktur Be- staat trotz der Einbettung in die transnatio-
selbst, ihre Mitgliedsstaaten, die Türkei und denken an der Handlungsfähigkeit der Gemein- nale Politik auf absehbare Zeit von erstrangi-
auch die Region des Nahen Ostens. schaft. Da braucht es nicht zu verwundern, dass ger Bedeutung bleiben wird. In einem Natio-
Das sechste Kapitel spiegelt die Sicht der Tür- Kritiker in der Ost-Erweiterung der EU die Ge- nalbewusstsein, das auf den Grundsätzen von
ken und Deutsch-Türken wider. Die zentrale fahr einer Überforderung sehen. Demokratie, Gerechtigkeit, Toleranz und Soli-
aus diesem Kapitel zu ziehende Erkenntnis fin- Thomas Meyer, Politikprofessor an der Univer- darität beruht, erkennt er eine politische Pro-
det in der bundesdeutschen Debatte – wenn sität Dortmund, untersucht anhand histori- duktivkraft. Dagegen stellen chauvinistischer
überhaupt – nur am Rande Beachtung: Wenn scher und aktueller Problemanalysen mögli- Nationalismus und kultureller Fundamentalis-
auch zwei Drittel der Türken pro-europäisch che Grundlagen einer Identität Europas und mus, gleich von welcher Religion, Kultur oder
eingestellt sind, so besteht dennoch in breiten ihre Bedeutung für den Erfolg der EU nach in- Gesellschaft ausgehend, stets ein Risiko für
nationalistischen und islamistischen Kreisen nen und außen. Der Autor stellt aktuelle Prob- menschliches Zusammenleben dar.
ein nachhaltiger Widerstand gegen den EU- lemstellungen der EU dar und eröffnet einen Für die Legitimität der EU sieht Thomas Meyer
Beitritt. Die Ablehnung wird verbunden mit Ausblick auf die mögliche Entwicklung dieser den postmodernen Identifikationstyp als an-
der Befürchtung des Verlustes von Identität politischen Gemeinschaft und ihrer Aufgaben. gemessen an, der die Zugehörigkeit zu einem
und Integrität und dem Hinweis auf andere Der besondere Wert des Buches besteht in der bestimmten politischen Gemeinwesen als kon-
Bündnisalternativen, nämlich mit der islami- Bereicherung der öffentlichen Diskussion um tingenten Ausgangspunkt seiner Orientierung
schen Welt oder den Turkvölkern der zentral- eine nüchterne und überzeugende Argumen- und Verantwortung gelten lässt, jedoch seine
asiatischen Republiken. Einhellig fordern die tation zu Fragen, deren Beantwortung nicht eigentliche politische Identifikation weit darü-
Verfasser Europa auf, eine definitive und klare nur für das Schicksal dieses Kontinents und ber hinaus auf die regionale und globale Ver-
Entscheidung über die Aufnahme der Türkei in seiner Bewohner entscheidend, sondern von antwortungsgemeinschaft erstreckt.
das Bündnis zu treffen. weltweiter Relevanz sein wird. Zur Bestimmung der Bedeutung der Religion
Das siebte Kapitel behandelt die Stellung der Nach Meyers Urteil bildet die politische Iden- kommt es nach Meyer nicht auf die Intensität
Türkei in der Weltpolitik. Die Beiträge beschäf- tität Europas die Basis für den Legitimitätsan- ihrer Entfaltung in ihrer kulturellen Umwelt an,
tigen sich mit der Position des Landes zwischen spruch und die Handlungsfähigkeit der EU als sondern vielmehr darauf, auf welcher Ebene sie
Europa und den USA einerseits und zwischen politisches Gemeinwesen. Er erläutert den ins Spiel gebracht werde. Hierbei unterscheidet
den Konfliktstaaten Georgien, Aserbaidschan, Unterschied zwischen kultureller und politi- er drei Ebenen: die der metaphysischen Sinnge-
Armenien, Iran, Irak und Israel andererseits. scher Identität. Unter kultureller Identität ver- bung, die der individuellen und kollektiven Le-
In einem Ausblick hält Leggewie es für erstre- steht er Werte, Überlieferungen, Orientierun- bensführung und zuletzt jene der sozialen und

239
Buchbesprechungen

politischen Grundwerte des Zusammenlebens felt werde. Ausschlaggebend sei vielmehr die vom Selbstverständnis der USA unterscheidet.
mit anderen. In allen Kulturkreisen der Gegen- politisch-pragmatische Überlegung, dass kein Ungeachtet der erforderlichen Wahrung der
wart, auch im Islam, beobachtet er eine Ent- föderales Gleichgewicht in einer politischen europäischen politischen Identität, die er am
koppelung dieser drei kulturellen Ebenen. Diese Gemeinschaft möglich wäre, in der ein Partner Beispiel des Irakkrieges beleuchtet, sieht
ermögliche es Menschen, die durch keine Ge- eine Vielzahl der anderen an Kraft und Größe Meyer für die europäische Politik keine Alter-
meinsamkeiten auf den ersten beiden Ebenen überwiegt. native zur transatlantischen Kooperation.
verbunden seien, dennoch die Normen der drit- Auch in Hinblick auf die Türkei dürften in einer Nach dem Verständnis Meyers kann sich der
ten Ebene zu teilen. zeitgemäßen politischen Debatte kulturelle Verlauf der Außengrenzen der EU nicht an der
Eine entschiedene Absage erteilt Meyer der Gel- Differenzierungen nicht ausschlaggebend sein. Geografie orientieren, vielmehr sieht er die
tung einer Leitkultur: Die Festlegung aller Bür- Dennoch sei zu konstatieren, dass hier eher die Grenzziehung als einen Akt von politischem
ger auf Regeln, die über das für die gemeinsame kulturellen als die politischen Argumente öf- Pragmatismus. Meyer betont, dass ein Aus-
politische Kultur Unerlässliche hinausgehen, fentliche Beachtung finden. Der Islam bietet schluss von der EU weder Werturteil, noch Dis-
bedeutet nach seinem Verständnis eine Verlet- für ihn kein wirksames Abgrenzungskriterium, tanzierung bedeute und keine Hierarchie der
zung fundamentaler demokratischer Werte. denn längst sei die Entscheidung gefallen, dass Identitäten errichte, weder in kultureller noch
Die Berufung auf eine Leitkultur beurteilt er Muslime in den Ländern der EU ein Bürgerrecht politischer Hinsicht. Er gibt zu bedenken, dass
als einen fundamentalistischen Übergriff der finden könnten. Dieses werde ermöglicht durch der Eindruck der EU als kultureller Ausschluss-
Mehrheitskultur auf die Rechte und anerken- eine politische Kultur, zu der die Fähigkeit ge- gemeinschaft nach außen umso weniger ent-
nungsfähigen Identitäten anderer. Fundamen- höre, politische Gemeinsamkeit zu wahren, stehen werde, desto heterogener sich ihre kul-
talistische Formen kultureller Identität sind für ohne Unterschiede des Glaubens, der Konfes- turelle Identität im Inneren entwickelt.
Meyer mit einer rechtsstaatlichen Demokratie sion oder der Lebensweise zu verwischen. Zu Ein Ausblick auf die mögliche Entwicklung der
unvereinbar. Sie könnten nicht für sich bean- Recht jedoch stünden die Schwächen der poli- EU und ihrer Aufgaben schließt die umfassen-
spruchen, die authentische oder gar einzig le- tischen Kultur der Türkei im Mittelpunkt bei- den Betrachtungen ab. In den Funktionen Eu-
gitime Form der kulturellen Selbstbehauptung trittsskeptischer Beurteilungen. Meyer gibt zu ropas als partizipativer regionaler Demokra-
derjenigen Tradition zu sein, als deren Sprecher bedenken, dass ein EU-Beitritt sowohl die Ent- tie, Sozialregion und ziviler Weltmacht sieht
sie auftreten. Im religiösen Fundamentalismus wicklung des Rechts- und Demokratiebewusst- Meyer die Konturen der künftigen Entwick-
sieht Meyer keine neue Form der Religion, son- seins in der Türkei als auch die Verbreitung ei- lung. Er betrachtet die Bedeutung der EU auch
dern nur eine Form der Macht. nes Euro-Islam fördern würde. Ein dauerhafter unter dem Gesichtspunkt der Globalisierung.
Die Bildung ethno-kultureller Parallelgesell- Ausschluss hingegen werde den traditionellen Nach seiner Beobachtung bringt die derzeit
schaften in Europa begründet aus seiner Sicht und erst recht den fundamentalistischen Grup- herrschende „negative“ Globalisierung fort-
sowohl eine Gefahr für die politische Integra- pen in die Hände spielen. Nach Auffassung des während politische Probleme hervor, die alle
tion des betreffenden Landes und der EU ins- Autors dürfte die Mitgliedschaft der Türkei in Erdenbürger betreffen. Politische Regionali-
gesamt als auch für die effektive Geltung der der EU keine weiteren Fragen mehr aufwerfen, sierung, wie in der EU, könne diese Betroffen-
Grundrechte. sofern sie politischen und ökonomischen Bei- heit abmildern, jedoch nicht aufheben. Meyer
Nach der Beobachtung des Autors spitzt sich trittskriterien erfülle. vertritt jedoch die Hoffnung, dass im europäi-
das Problem der Identität Europas in den ta- Im Verhältnis zu den USA verdeutlicht Meyer, schen Maßstab die politischen Regelungs-
gespolitischen Debatten auf das Verhältnis zu dass die forcierte unilaterale Machtpolitik der kompetenzen der kapitalistischen Wirtschaft
Russland, der Türkei und den USA zu. Die Ab- Regierung unter George W. Bush Europa vor zurückgewonnen werden könnten, die im
grenzung zu Russland sieht Meyer nicht als die Frage der Vereinbarkeit von Gefolgschaft Zuge der Globalisierung zunächst verloren
durch kulturelle Unterschiede begründet an. In und der Identität Europas stelle. Sein Vergleich gingen. Die Aufgabe Europas als Zivilmacht
Bezug auf sein Modernisierungspotenzial un- der politischen Systeme in Europa und den sieht der Autor in der Bewältigung eingetrete-
terscheide sich Russland nicht wesentlich von USA kommt zu dem Ergebnis, dass sich euro- ner Krisen und der Arbeit für eine faire und
Bulgarien und Rumänien, deren Zugehörig- päische Identität in fast allen wichtigen politi- multilaterale Weltordnung.
keitsanspruch nicht grundsätzlich angezwei- schen Belangen der Innen- und Außenpolitik Dorothee Kallenberg-Laade

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